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German Pages 554 [556] Year 2020
Christian Rebert Lebenssinn Familie
Schleiermacher-Archiv
Herausgegeben von Notger Slenczka und Andreas Arndt, Jörg Dierken, Lutz Käppel, André Munzinger
Band 31
Christian Rebert
Lebenssinn Familie Bedeutungsdimensionen von Geschlechterund Generationenverhältnissen im Anschluss an F. D. E. Schleiermacher
ISBN 978-3-11-067471-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-068209-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-068217-5 ISSN 1861-6038 Library of Congress Control Number: 2019957127 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Danksagung Die vorliegende Studie wurde im Sommersemester 2019 von der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg als Dissertation angenommen. Für die Veröffentlichung habe ich sie geringfügig überarbeitet. Ich möchte mich herzlich bei allen bedanken, die zum Gelingen dieses Projekts beigetragen haben. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Jörg Dierken für die anregenden Gespräche und immer konstruktiven Hinweise, die verlässliche Unterstützung auch in allen organisatorischen Belangen und die stetige Ermutigung, inhaltlich wie konzeptionell meinen Weg zu gehen. Auch danken möchte ich Prof. Dr. Dirk Evers für manche Hinweise und die Erstellung des Zweitgutachtens sowie Prof. Dr. Arnulf von Scheliha für die Erstellung des Drittgutachtens. Bei meiner Suche nach einem interessanten Promotionsprojekt hat mich Prof. Dr. Michael Domsgen auf die Fährte des Familienthemas gebracht. Dafür bin ich ihm sehr dankbar. Prof. Dr. Ulrich Barth gab mir guten Rat in der schwierigen Anfangsphase der Themenzuspitzung. Dafür, vor allem aber für seine Förderung, die ich seit meinen ersten Studiensemestern von ihm in vielen Seminaren und Gesprächen erfahren habe, bin ich ihm sehr verbunden. Gern denke ich zurück an die vielen anregenden Abende in Jörg Dierkens Hallenser Kolloquien und Oberseminaren. Das Erwägen und Diskutieren im Seminarraum unterm Dach und die anschließende Geselligkeit haben einen nicht unwesentlichen Teil dazu beigetragen, dass meine Promotionszeit eine so schöne und wertvolle Lebensphase sein konnte. Dafür danke ich den Kommilitonen. Ganz andere Perspektiven eröffnete mir darüber hinaus der Soziologe, Paar- und Psychotherapeut Walter Haag in unserem Brief- und Email-Verkehr. Auch ihm möchte ich an dieser Stelle für die Begleitung meiner Arbeit danken. Erkenntlich zeigen möchte ich mich auch für das Stipendium im Rahmen der Graduiertenförderung des Landes Sachsen-Anhalt, das es mir ermöglicht hat, mich ohne anderweitige berufliche Verpflichtungen voll auf mein Projekt konzentrieren zu können. Vor allem aber danke ich jenen, denen dieses Buch auch gewidmet ist: meinen Eltern, die mich stets unterstützt haben und denen ich mich verdanke, meinen Großeltern und besonders meiner Frau Anneliese, die mir den Rücken freigehalten hat, mich ermutigt und mir drei wundervolle Söhne geschenkt hat, Johann, Ansgar und Georg. Ihnen allen verdanke ich, dass das Thema dieser Studie mir selbst zum Lebensthema geworden ist. Schließlich danke ich den Herausgebern des Schleiermacher-Archivs für die Aufnahme in die Reihe und dem Verlag de Gruyter für die Betreuung dieser Publikation. Alfeld (Leine), September 2019 https://doi.org/10.1515/9783110682090-001
Christian Rebert
Inhalt I
1 Einleitung und Hinführung 1 Der Sinn dieser Studie . Die Motivation der Studie 1 . Dimensionen des Sinnbegriffs 6 17 Schleiermacher – ein reichhaltiger Autor zum Thema 18 . Die zeitgeschichtliche Situation . Die private Situation 24 35 . Der Quellenbestand Programmatische Grundentscheidungen Schleiermachers 41 42 . Die normative Kraft deskriptiver Ethik 43 .. Seinsethik zwischen Pflichtenethik und Eudämonismus .. Religion in der Ethik 51 55 . Die Bedeutung des lebendigen Vollzugs .. Ethische Ebene 55 60 .. Psychologische Ebene 62 .. Transzendentalphilosophische Ebene Kategoriale Grundfiguren Schleiermachers 63 67 . Individualität und Sozialität .. ‚Apologie‘ 68 .. ‚Über das Wesen der Individualität‘: Die 74 Mischungstheorie .. ‚Über die Bildung zur Individualität‘: Selbstanschauung und 78 Kommunikation 88 .. ‚Über das Gesellige der Individualität‘: Gruppenidentität .. ‚Über die Religion‘: Individuum und Absolutes 93 . Natur und Geist 101 .. ‚Die Reflexion‘: Das System der Wissenschaften 101 .. ‚Prüfungen‘: Die Leiblichkeit menschlichen Seins – Fluch oder 106 Segen? .. ‚Weltansicht‘: Ethische Konfigurationen 110 .. ‚Aussicht‘: Das Ideal der Vereinigungen 114 116 Der Aufbau des materialen Teils der Studie
II
Geschlechtsverhältnis 119 119 Naturbasiert: Geschlechtlichkeit . Das Attraktivitätsspiel 119 .. Triebregung und Triebregulation 123 .. Passivität und Aktivität 134 .. Chancen und Gefahren von Gunsterweisen
142
VIII
Inhalt
. Sexualität und Erotik 147 .. Die Begründungsfunktion des Koitus für die Ehetheorie .. Formen der Sexualität 158 .. Die Sakralität des Eros 170 Natur- und sozialbasiert: Die Konstruktion der Geschlechterrollen 181 . Frauen- und Männerbilder . Aufgaben- und Arbeitsteilung 200 . Das Prinzip der Symmetrie 214 Geistbasiert: Paarbeziehung 227 227 . Selbsterweiterung und Selbstbegrenzung .. Liebe als Konstitutivum der Vollkommenheit 233 259 .. Selbstliebe und Nächstenliebe .. Persönliche Entwicklungschancen und Anerkennung von 272 Grenzen 288 .. Stabilisierung und Irritation .. Phantasie und Scherz – Artikulationsgestalten des 307 Unsagbaren . Institutionalisierungstendenzen 320 327 .. Zusammengehören und Zusammenfinden .. Erfüllung im Augenblick und dauerhafter Statuswechsel .. Selbstzweckliche Gemeinschaft und Zweckgemeinschaft 361 . Exklusivität und Öffnung .. Öffentlichkeit des Privaten 369 375 .. Beständigkeit und Scheitern .. Eifersucht – zwischen Liebesindikation und Besitzanspruch 390 398 .. Familie und Gesellschaft
III Generationenverhältnis 411 411 Naturbasiert: Fortpflanzung . Fortpflanzung und Fürsorge 411 . Blutsverwandtschaft und Wahlverwandtschaften 425 431 Geistbasiert: inter- und intragenerationelle Beziehungen . Selbstverbreitung und Selbstrelativierung 431 434 .. Selbsttranszendierung im Kind .. Dynamiken der Erziehung 445 465 .. Erwachsene Generationenbeziehungen 470 . Spezifika der Geschwisterlichkeit . Erfüllungsmomente im Lebensvollzug 476 IV Familientheologische Bündelung 488 Gotteslehre – Von der Allheit der Familie 488 Schöpfungslehre – Kreatürlichkeit und Kreativität
489
147
180
337 349
Inhalt
Christologie – Die Göttlichkeit im geliebten Menschen 492 493 Hamartiologie – Schuldigwerden am Geliebten 494 Soteriologie – Die erlösende Kraft der Liebe Pneumatologie – Vorherbestimmtes Glück und familialer ‚Gemeingeist‘ 496 Heilige Schrift und Sakramente – Familiale Erinnerungskultur und Rituale 498 Eschatologie – Familiale Selbsttranszendierung 500 Trinitätslehre – Die religiös-symbolische Deutungskraft der 502 Familie Anmerkung zum Schluss: Protestantische Nüchternheit und die Un503 spektakularität der Familie
Literatur- und Abkürzungsverzeichnis 505 Schleiermacher Sekundärliteratur 508 Personenregister Sachregister
528 533
505
IX
I Einleitung und Hinführung 1 Der Sinn dieser Studie 1.1 Die Motivation der Studie Die Religion in der Moderne hat vornehmlich die Aufgabe, das Bedürfnis des Menschen nach Sinn zu bearbeiten und zu befriedigen. Angesichts dieses prominent von Paul Tillich ergangenen – und phänomenologisch grundierten – Auftrags¹ macht es hellhörig, wenn man die Ergebnisse aktueller empirischer Untersuchungen vernimmt, welche ergebnisoffen die Frage gestellt haben: ‚Was gibt Ihrem Leben Richtung, Halt und Sinn?‘ Denn an die Religion denken bei dieser Frage faktisch die wenigsten Menschen. Vielmehr rangiert die Familie zumeist ganz vorn, dicht gefolgt von Freundschaft sowie ferner Beruf und Freizeitleben.² Selbst bei den Jugendlichen genießen Familie und familiale Werte eine hohe Achtung. Sie sind mit ihrer familialen Situation zumeist sehr zufrieden,³ hegen in der Mehrzahl selbst den Wunsch, später einmal eine Familie zu gründen⁴ und schätzen Treue und partnerschaftliches bzw.
Zur Debattenlage im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zum Thema Sinn (und Religion) und zur Einbettung Paul Tillichs in selbige vgl. Barth, Religion und Sinn sowie mit stärkerem Fokus auf Tillichs Referenzautoren die frühere Studie Barth, Grundlagen. Vgl. Prognos, Zukunftsreport Familie 2030, 3: Die Aussage ‚Die Familie ist für mich der wichtigste Lebensbereich‘ fand Zustimmung bei 79 % der Bevölkerung insgesamt, bei 93 % der Eltern mit Kindern unter 18 Jahren, bei 88 % der Eltern mit ausschließlich erwachsenen Kindern und immerhin sogar bei 58 % der Kinderlosen. Vgl. ergänzend dazu ebd., 14: Auf Platz 2, weit nach der Familie rangieren als wichtigster (!) Lebensbereich der Freundeskreis für 10 % der Befragten, der Beruf (6 %) und Hobbys und Interessen (4 %). Sind mehrere Antworten möglich, so ergibt sich eine weniger eindeutige prozentuale Verteilung der Antworten. Vgl. dazu paradigmatisch Nave-Herz, Familiensoziologie, 72– 76 sowie Domsgen, Familie, 245 f. Gemein ist allen Erhebungen, dass die Familie stets führend oder zumindest weit vorn liegt, die Religion hingegen deutlich abgeschlagen ist.Von den Lebensdimensionen der Freundschaft, des Berufs, der Freizeitgestaltung usw. ließen sich freilich ebenfalls Linien zu bestimmten Erlebens- und Deutungsmustern der Religion ziehen. Hier müssen wir uns auf die Sphäre der Familie beschränken; sie ist ergiebig genug. Vgl. Shell, Jugend 2015, 51– 53: Im Vergleich zu früheren Jahrgängen ist das Verhältnis der Jugendlichen zu ihren Eltern in der Gegenwart sehr entspannt. 92 % der Befragten gab an, mit seinen Eltern gut oder bestens auszukommen. Schlechtere Verhältnisse zwischen Jugendlichen und ihren Eltern finden sich v. a. in der Unterschicht. Vgl. Shell, Jugend 2015, 56 – 64: 63 % der Jugendlichen ist überzeugt, man brauche eine Familie, um glücklich zu sein. Zwar ist der Wert damit gegenüber der Befragung von 2010 deutlich gesunken, wo noch 74 % dieser Meinung waren, jedoch ist er immer noch hoch. V. a. junge Männer sind davon überzeugt, auch ohne Familie glücklich sein zu können. Für den Rückgang der Überzeugung, man brauche Kinder, um glücklich zu sein, auf 41 %, machen die Forscher der Jugendstudie v. a. die pessimistische Sicht auf eine gelingende Vereinbarkeit von Familie und Beruf verantwortlich (zu diesen Erwartungen vgl. auch Prognos, Zukunftsreport Familie 2030, 40 f). Gleichwohl hegen 64 % der kinderlosen Jugendlich den Wunsch, später einmal Kinder zu haben. https://doi.org/10.1515/9783110682090-002
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I Einleitung und Hinführung
familiales Vertrauen sehr hoch.⁵ Eine solche Entwicklung war für nicht geringe Teile ihrer Eltern- und z.T. bereits Großelterngeneration kaum erwartbar.⁶ Wie auch immer die Prozentzahlen in den einzelnen Kohorten verteilt seien; wir können konstatieren, dass die Familie nicht bloß Adressat von externen Sinndeutungsangeboten ist, sei es von der Religion oder anderen Kultursphären, sondern dass sie selbst einen suisuffizienten Sinnspender darstellt.⁷ Fragen wir danach, woher ihr dieses Sinnpotential zuwächst, können uns empirische Studien allerdings nur ansatzweise Antworten liefern. Denn die Selbstauskunft der Befragten ist oft unterreflektiert. Um bekennen zu können, dass einem etwas wichtig ist, bedarf es eben kaum einer detaillierten Rechtfertigung. Das subjektive Erleben im Strom der Tradition – wie alt diese im Einzelnen auch sei – verbunden mit einigen eigenen Gedanken, die man sich selbstverständlich macht, genügt gemeinhin zur Orientierung. So bedarf es einer ethischen Perspektive, die von etwas höherer Abstraktions- und Konstruktionswarte aus die Verhältnisse ordnet, beschreibt und bewertet. Ein solcher Versuch soll in dieser Studie unternommen werden. Die Forschungsliteratur zur Familie ist freilich uferlos. Die These von der Religionsähnlichkeit der Familie wurde allerdings, soweit ich sehe, bislang noch nicht detailliert ausbuchstabiert. Allenfalls zu Aspekten der Partnerschaft liegen Studien vor.⁸ Mit dem vergleichsweise weitesten Fokus – und dazu wohl am prominentesten – schreibt Ulrich Beck von der ‚irdischen Religion der Liebe‘.⁹ Eine kurze kritische Würdigung seiner Gedanken und Ausführungen soll an dieser Stelle bereits erste Konturlinien unseres Ansatzes kenntlich machen. In seiner Generalthese, die Liebe als Quasi-Religion zu begreifen, hat Beck meines Erachtens Richtiges gesehen, jedoch halte ich fast keine seiner konkreten Spitzen-
Vgl. dazu Shell, Jugend 2015, 62 f. Vgl. weiterhin ebd., 239: Die Wertorientierung Jugendlicher wird angeführt von den Überzeugungen: ‚Gute Freunde haben, die einen anerkennen‘ (97 %), ‚Einen Partner haben, dem man vertrauen kann‘ (93 %) und ‚Ein gutes Familienleben führen‘ (90 %), womit bei ihnen zumeist die Herkunftsfamilie gemeint ist. Interessant angesichts der voranschreitenden digitalen Vernetzung des Soziallebens erscheint der Rückgang des Wertes ‚Viele Kontakte zu anderen Menschen zu haben‘ seit 2010 von 64 % auf 53 %, d. h. vom fünften auf den elften Platz der Werteorientierungen (ebd., 241). Offensichtlich ist der von David Cooper im Geiste der 1968er Bewegung erhoffte „Tod der Familie“ nicht eingetreten. Gegenüber ihren Idealen und Utopien hat sich die Familie als die dem Menschen angemessenere Sozialgestalt erwiesen und so beobachten wir seit einer Generation geradezu eine Renaissance familialer Werte. Michael Ebertz bezeichnet die Familie als „autonomen, sinnproduzierenden Lebenszusammenhang, der keine anderen Sinnspender benötigt“ (ders., Heilige Familie, 406). Den Fokus auf die Sexualität legt Walter Schubart (ders., Religion). Detaillierter dazu s.u. II.1.2. Eher thetisch problematisierend als analytisch detailliert und argumentativ ausführlich verfährt Hans Jellouschek (ders., Wenn der Partner zur Religion wird). Auf die Geschlechterdifferenz im engeren Sinne konzentriert sich Elisabeth Hartlieb (dies., Geschlechterdifferenz). Ihre These zielt primär auf die Feminisierung der Religion bei Schleiermacher, zeigt allerdings auch im Umkehrschluss einige religiöse Valenzen der Geschlechterorientierung auf. Detaillierter dazu s.u. II.2. Beck/Beck-Gernsheim, Chaos, 222– 266.
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thesen für stimmig.¹⁰ Auch sein unterhaltsamer, blumig-assoziativer Schreibstil kann über die Schieflagen, die sich in seinen Analysen ergeben, nicht hinwegtäuschen. Grundsätzlich halte ich seine These, die ‚Liebe‘ als Religionsäquivalent zu begreifen, für zu eng. Wird die Religion erst an ihren Symbolen, Vollzügen und Sozialgestalten erkennbar, so kann kaum ein abstraktes Ideal der Liebe ihr Pendant sein; vielmehr gilt es, Leben und Gestalt von Partnerschaft und Familie in den Blick zu nehmen. Gewiss richtig ist, dass Liebe und Religion gleichermaßen einen Verheißungscharakter bergen.¹¹ Dass dieser im einen Fall nachprüfbar sein soll im anderen hingegen nicht, erscheint jedoch fraglich.¹² Religion wird in der Moderne nicht bestehen, wenn sie bloße Vertröstung auf ein Jenseits ist. Selbst wenn sie es wäre, müsste sich dieser Trost im gegenwärtigen Leben als wirksam erweisen und wäre in seinen Wohltaten mithin schon nicht mehr bloß aufgeschoben.¹³ In der Liebe hingegen zeigt sich das Paradox, dass ihr Ideal ganz unabhängig von dessen Deckung sein kann. So kann ein Mensch sein Leben lang einem Traum von erfüllter Partnerschaft nachhängen, dabei allerdings zugleich lediglich eine Mängelgestalt nach der anderen leben – stets auf der Suche nach dem großen Glück.¹⁴
Ein Grund dafür liegt in seiner Überbietungsthese, die er in der Bezeichnung der ‚Liebe als Nachreligion‘ (Beck/Beck-Gernsheim, Chaos, 231) prägnant zum Ausdruck bringt, welche ich für überzogen halte. Die Liebe ist doch vielmehr auch seit alters her mit der Religion eng verbunden. Sie findet nicht nur in archaischen und antiken Religionsformen göttliche Symbolisierungsgestalten, sondern prägt auch das christliche Gottesbild; siehe 1. Joh 4,16: „Gott ist die Liebe.“ Vgl. Beck/Beck-Gernsheim, Chaos, 231: „Religion und Liebe beinhalten das Schema einer analog gebauten Utopie. Sie sind jede für sich ein Schlüssel aus dem Käfig der Normalität. Sie öffnen die Normalität auf einen anderen Zustand hin.“ Ob die Verheißungen wirklich im strengen Sinne u-topisch sind, oder nur (fallweise) kontrafaktisch, sei an dieser Stelle einmal dahingestellt. Vgl. auch ebd., 235: „Je abstrakter die Wirklichkeit, desto attraktiver die Liebe. Liebe ist ein Götterbad der Erfahrung. Was für den Büromenschen der Waldlauf, ist für den Zahlenmenschen die Beziehungskiste: Jogging für die Sinne.“ Detaillierter zum Thema s.u. II.3.1 und III.2.1.1. Vgl. Beck/Beck-Gernsheim, Chaos, 237 f: „Die irdische Religion der Liebe steht unter dem Diktat der Diesseitigkeit, der Duhaftigkeit, der Konkretheit und Nachprüfbarkeit der Erfüllung, die verheißen wird. Aufschub ist letzten Endes ebensowenig möglich wie die Vermittlung über Gott oder die Vertagung des Ausgleichs auf das Leben nach dem Tode. Es fehlt das Erbarmen des Jenseits, mit dem die Religionen die Konflikte und das Überbordende der Ansprüche zugleich entladen und erfüllen konnten – ohne ihre Versprechen bar, sozusagen in der Münze nachprüfbarer Erfahrungen, ‚bezahlen‘ zu müssen.“ Vgl. auch Beck/Beck-Gernsheim, Chaos, 238: „Bei allen Parallelen sind die Unterschiede zwischen Liebe und Religion groß: hier ein privater, dort ein die Herrschafts- und Weltordnung umgreifender Kosmos.“ Impliziert wird von ihm hierbei, dass die Religion etwas weit abständigeres ist als die Liebe. Dagegen ist einzuwenden, dass Liebe zwar im privaten Kosmos gelebt wird, als Konstrukt aber übergreifend ist und im ganzen Kosmos als wirksam vorausgesetzt wird. Im Gegenzug ist Religion nicht bloß ein abständiges Kosmos-Konzept, sondern gewinnt ihre Bedeutung und Evidenz aus der Einbettung in das jeweilige Leben. S.u. II.3.1.1 und II.3.3.2.
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I Einleitung und Hinführung
Beck stellt gegenüber: „In der Religion gilt der Satz: es gibt ein Leben nach dem Tod; in der Liebe gilt der Satz: es gibt ein Leben vor dem Tod.“¹⁵ So schmissig die Formulierung auch ist, so kurz greift sie doch in Bezug auf seine These. Schleiermachers Figuren von der ‚Unsterblichkeit im Augenblick‘¹⁶ und von der sozial vermittelten Unsterblichkeit über den Tod hinaus, werden sich hier als deutlich weitreichender erweisen, insofern sie beide – Liebe und Religion – zu integrieren vermögen.¹⁷ Zwar erkennt Beck an, dass die Liebe deutungsabhängig ist, vertritt allerdings trotzdem die These, sie sei eine „traditionslose ‚Religion‘“. Liebesglaube ist die Nichttradition, die Nachtradition, weil er die klassischen Merkmale unterläuft, weder der Institutionalisierung noch der Kodifizierung noch der Legitimation bedarf, um zugleich subjektiv und kulturell wirksam zu bleiben und zu werden. Er entsteht vielmehr im Zusammenwirken mit und aus der enttabuisierten, freigelassenen Sexualität mit der tiefenkulturellen Erosion ihrer Rollenselbstverständlichkeiten. Für die Liebe zuständig ist – gemäß der modernen Sozialstruktur – keine externe Moralinstanz, sondern nur noch das Einverständnis der Liebemachenden selbst. | Während Glaube, der nicht mehr gelehrt wird, zerfällt, ist Liebe eine kirchenlose und priesterlose ‚Religion‘ […].¹⁸
Meines Erachtens ist Becks Charakterisierung nach beiden Seiten hin schief. Während er die Verbindlichkeiten in der Religion überschätzt, unterschätzt er sie in der Liebe. Was er als Liebe bezeichnet ist zudem keine Liebe in der Bedeutungstiefe ihres Gehalts, sondern, wie er selbst zu erkennen gibt, ‚enttabuisierte, freigelassene Sexualität‘, ein bloßes ‚Liebemachen‘. Schon allein die menschliche Sexualität an sich ist, wie wir im Anschluss an Schleiermacher herausstellen werden, nie ein bloß tierisches und bedeutungsloses Übereinanderherfallen¹⁹ – selbst Einrichtungen größter Enthemmung kennen Regeln oder sind schon an sich Institutionen.²⁰ Dass das, was dort geschieht, Liebe ist, werden darüber hinaus hingegen die meisten bezweifeln. Erst recht kennt die Liebe, die Beck im gleichen Zusammenhang als neue Wirklichkeiten erschließende Kraft charakterisiert, mit ihren vielfältigen und verschlungenen Codes Regeln, ob diese nun erkannt oder bloß intuitiv befolgt werden.²¹ Sie ist mitnichten ‚priesterlos‘, sondern bedarf der Aktualisierungseinrichtungen in Film, Musik, Theater, Dichtung, Restaurantambiente usw. Während die Religion in der Moderne kein bloß verkrustetes Institionengehäuse der Lehrmeinung ist, wie Beck offensichtlich annimmt, birgt die Liebe, auch wo sie sich staatlicher und kirchlicher Institutionalisierbarkeit entzieht, indem sie etwa den Stand der Ehe meidet, eine Vielzahl von Vgl. Beck/Beck-Gernsheim, Chaos, 232. Vgl. R 247. S.u. I.4.1.5; II.3.1.Einleitung; III.2.1 und III.2.3. Beck/Beck-Gernsheim, Chaos, 233. S.u. II.1.2. Bei der käuflichen Liebe gelten die Regeln des Vertrags von Leistung und Gegenleistung und auch bei freien Datingportalen oder -einrichtungen gibt es gewisse Verhaltensstandards. Vgl. dazu eindrücklich Luhmann, Liebe.
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Institutionalisierungstendenzen, die sehr wohl eigene Kodifizierungen und Legitimationen kennen.²² Selbst das bloß ‚wechselseitige Einverständnis‘, auf welchem Beck die Liebe in der Moderne allein gründen sieht, – was viel zu kurz gedacht ist, weil es die Bedeutung der Anerkenntnis durch Freunde, Familie usw. ausblendet, die auch nach dem Ende der ‚arrangierten Ehe‘ besteht – ist mitnichten ein unmittelbares, unvermitteltes Geschehen.²³ Auch mit seinem Zielbegriff der ‚Gegenindividualisierung‘,²⁴ der den Mehrwert von Religion (in der Geschichte) und Liebe (in der Gegenwart) bezeichnen soll, greift Beck zu kurz. Hier überzeugt die dialektische Figur Schleiermachers von Selbststeigerung durch Selbstübersteigung meines Erachtens weit mehr. In der Liebe sucht der Mensch schließlich nicht seine Individualität zu überwinden, sondern zu erfüllen.²⁵ Bereits anhand dieser wenigen Problematisierungen wird anschaulich, dass die Identifikation und Beschreibung der Bedeutungsdimensionen des familialen Lebens eine Definition der Familie einschließt.²⁶ Unsere gesamte Studie kann mithin auch als ein Definitionsversuch der Familie gelten. Viele der hier genannten Aspekte treffen auch auf ‚neuere‘ Formen der Familie zu, wie ‚Patchworkfamilien‘, reine Versorgungsgemeinschaften oder homosexuelle Partnerschaften.²⁷ Einige Aspekte wie Sexualität, Ausschließlichkeit oder Intergenerativität mögen nicht in all diesen Formen zu finden sein, sind interessanterweise jedoch bei diesen, wenn sie sich als familiale Lebensformen verstehen, zumindest im Negativ präsent. Es existiert mithin eine gesellschaftliche Normvorstellung von Familie mit der sich auch die meisten anderen Formen von Familie, sei es im Modus der Rechtfertigung oder der Polemik, auseinandersetzen. Generell soll es hier um Grundorientierungsmuster und deren Spannungslagen zu tun sein. Genauere Ausgestaltungen dieser werden zum Teil zwar angeschnitten, sollen aber weitestgehend als Adiaphora gelten. Die Ethik soll Grundorientierungen, Strukturprinzipien, Deutungsmuster und Grenzlinien beschreiben. Wie im Rahmen S.u. II.3.2. S.u. II.3.3.1 und II. 3.3.4. Beck/Beck-Gernsheim, Chaos, 241. Wahrscheinlich versteht Beck unter ‚Individualisierung‘ nur soviel wie ‚Vereinzelung‘; an späterer Stelle beschreibt Beck Liebe als ‚Gegeneinsamkeit‘ (Beck/Beck-Gernsheim, Chaos, 253). Zu einem deutlich elaborierteren Individualitätsverständnis s.u. I.4.1. Zur Problematik der Definition von ‚Familie‘ und zur Strategie,verschiedene Aspekte des familialen Lebens und Deutens zusammenzutragen vgl. auch König, Materialien, 88 – 105. Diese werden hier nicht eigens bedacht, weil hier, anders als in vielen anderen gegenwärtigen Erwägungen, Studien und Diskursen zum Thema Familie, nicht eine quantitative Marginalie zum Maß für die Mehrheit gemacht werden soll, sondern umgekehrt: die weit häufiger anzutreffende Gestalt familialen Lebens – im Bewusstsein um mögliche Abweichungen – im Fokus stehen soll, gemäß der Devise: Die Ethik hat von dem auszugehen, was der Normalfall ist, weil sie andernfalls Kategorisierungen und Orientierungen vornimmt, die an der Mehrheit tendenziell vorbeigehen. Vgl. dazu auch Prognos, Zukunftsreport Familie 2030, 15 [Hervorhebungen getilgt – CR]: „Die Paarfamilie ist und bleibt die dominierende Familienform. Acht von zehn minderjährigen Kindern wachsen in Paarfamilien auf, bei sieben von zehn sind die Eltern verheiratet.“
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I Einleitung und Hinführung
dessen Partnerschaft und Familie konkret gelebt wird, geht den Ethiker nichts an, sondern sei allein der Aushandlung der entsprechenden Beteiligten anheimgestellt. Warum nun gerade Schleiermacher als aussagekräftig in der Frage nach der hohen Bedeutung der Familie in der Moderne erscheint, wollen wir im zweiten Unterkapitel dieses ersten Hauptteils rechtfertigen. Zunächst aber gilt es, den für unsere Überlegungen grundlegenden Begriff des ‚Sinns‘ zu präzisieren.
1.2 Dimensionen des Sinnbegriffs Alle großen sinntheoretischen Entwürfe des 20. Jahrhunderts stellen auf Integrationsund Orientierungsfunktionen ab. Sie tun dies allerdings in unterschiedlicher Weise, die einander zum Teil ausschließen, in vielen Fällen aber auch ergänzen. Anhand einer Vergegenwärtigung wichtiger Pointen bei Alfred Schütz, Pierre Bourdieu, George Herbert Mead, Thomas Luckmann, Eduard Spranger, Niklas Luhmann u. a. sollen im Folgenden verschiedene Dimensionen des ‚Sinns‘ gekennzeichnet und bereits erste Anschlussstellen zur Sozialform ‚Familie‘ angedeutet werden.²⁸ Hierbei gilt es, aufzuzeigen, dass der ‚soziale Sinn‘, an dem diese Autoren vorrangig interessiert sind, gegenüber den Sinnsphären der Sinnlichkeit, der Psyche und v. a. der Religion zwar ein spezifischer ist, sich jedoch auch als anschlussfähig für diese erweist. Für die These der Religionsähnlichkeit der Sozialform ‚Familie‘ ist dieser Aufweis entscheidend, hinge ihre Beweislast ansonsten doch allein an der landläufigen Intuition, Familie, Freundschaft, Beruf, Freizeitkultur und Religion als Sinn- und Wertträger nebeneinanderstellen zu können.
Die Vorgegebenheit von Sinn – Alfred Schütz Alfred Schütz geht in seinem soziologischen Erstlingswerk, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, das Thema des sozialen Sinns bewusstseinsphänomenologisch an. Seine Zentralthese, die er einem Max Weber unterstellten Zweckrationalismus entgegenbringt, lautet, dass sich Sinn im praktischen Weltumgang von selbst einstellt.²⁹ Sinn ist gegeben, weil ein jedes echtes Handeln den Entwurf einer Handlung voraussetzt, der seinerseits in einem Sinnzusammenhang steht. Gleichwohl steht dieser Sinn dem Handelnden selten vor Augen.³⁰ Er entbirgt sich erst der reflexiven Hin-
Die Reihenfolge ihrer Darstellung folgt nicht der Chronologie ihres Wirkens oder den z.T. zwischen ihnen bestehenden Filiationsverhältnissen, sondern einem systematisch-thematischen Bogen. Vgl. Schütz, Aufbau, 114. Vgl. dazu auch Bolz, Leben, 142: „Freud hat einmal alle Lebensweisheitsratgeber mit der Bemerkung verstört, wer nach dem Sinn des Lebens frage, sei krank. Gemeint war aber nicht, das Leben habe keinen Sinn, sondern: Die Frage nach dem Sinn des Lebens stellt sich nicht, wenn man gesund ist. Genau so hat es auch Max Weber gesehen. Wer sich von den Institutionen konsumieren lässt; wer den Forderungen des Tages genügt; wer einfach sachlich seinen Beruf ausübt, der ist mit einer Art von
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sichtnahme. Als immer schon in ein vielschichtiges Geflecht aus Sinnmustern eingestellt, gestaltet das Subjekt seine Sinnproduktivität im Modus der Aktualisierung von gleichsam objektiv Gegebenem. Die Betonung des Alltäglichen und Selbstverständlichen mag ein wichtiges Moment für die Analyse der Sozialform Familie sein.³¹ Sucht man nun nach der genaueren Stelle, die sich der Familie im Schütz’schen System des sozialen Sinns zuweisen lässt, so ergeben sich mehrere Kandidaten, die einander eher ergänzen als ausschließen. Zu nennen wäre zunächst die Motivation von Handlungen.³² Max Weber hatte ihrer Analyse eine entscheidende Bedeutung für die verstehende Soziologie beigemessen.³³ Alfred Schütz unterzieht sie einer Binnenklärung mit der Unterscheidung von ‚Um-zu-Motiv‘ und ‚(echtem) Weil-Motiv‘. „Indessen das Um-zu-Motiv, ausgehend vom Entwurf, die Konstituierung der Handlung erklärt, erklärt das echte Weil-Motiv aus vorvergangenen Erlebnissen die Konstituierung des Entwurfes selbst.“³⁴ Setzen wir die Familie in diese Doppelbestimmung ein, so kommt sie einmal als direkte Handlungsmotivation in den Blick, etwa in Gestalt dessen, dass man die Belastungen seiner Arbeitsstelle in Kauf nimmt, um seine Familie zu versorgen. Das andere Mal stellt sie – grundlegender – den Erlebniszusammenhang dar, der allererst die Entwicklung bestimmter Handlungsentwürfe zu begründen im Stande ist. Jene Weil-Motive kommen nur durch eine „neuerliche Zuwendung sui generis“³⁵ in den Blick.³⁶ Auf Grundlage der Husserl’schen Zeittheorie setzt Schütz sie als in „modo plusquamperfecti“³⁷ befindlich vom meist wenig selbstreflexiven Dauerablauf, in dem sich der Handelnde befindet, ab und charakterisiert sie in dieser Weise auch stärker als konstruktivistische Momente der „Selbstauslegung des Ich“³⁸. Alltägliche Fraglosigkeit und weitreichende Letztbegründungsfiguren werden in einer solchen Weise verschränkt, dass sie hier als le-
glücklicher Borniertheit für jede Frage nach einem ‚Sinn‘ der Welt geschlagen. Man wird sich erst selbst zum Problem, wenn man keine Aufgaben hat, die einen von sich selbst ablenken.“ Vgl. ähnlich Gerhardt, Sinn, 135: Auch Wittgenstein und Adorno vertraten die Ansicht, „die Frage nach dem Sinn des Lebens sei beantwortet, sobald man sie vergesse“. Das Moment der Selbstverständlichkeit ist bei der Familie sogar in doppelter Weise gegeben. Sie wird nicht nur in aktuellen Lebensvollzügen als selbstverständlich gesetzt, sondern auch auf ihre Konstitution (zumindest, was die Richtung des Stammbaumes gen Krone angeht) hat das Subjekt keinen Einfluss und muss sie als gegeben hinnehmen. Dass Lebenssinn v. a. Handlungssinn bedeutet, ist letztlich eine aufklärerische Figur. Die Bestimmung des Menschen liege in seiner praktischen Vernunft lesen wir in unterschiedlicher Ausgestaltung prominent bei Kant und Fichte. Unter diesem Eindruck hat sich auch Schleiermacher Zeit seines Lebens, profiliert anhebend mit den Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre mit der Ethik befasst. Vgl. dazu auch Scholtz, Ethik, 126 f. Vgl. dazu Neugebauer, Religionshermeneutik, 48 – 56. Schütz, Aufbau, 203 [Hervorhebung getilgt – CR]. Schütz, Aufbau, 207 [Hervorhebung getilgt – CR]. Zur Unterscheidung von Um-zu- und Weil-Motivation vgl. auch Schütz/Luckmann, Strukturen, 286 – 304. Schütz, Aufbau, 205 [Hervorhebung getilgt – CR]. Schütz, Aufbau, 207.
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I Einleitung und Hinführung
diglich verschiedene Stufen ein und demselben Bewusstsein zukommen und auch prinzipiell von diesem erfasst werden können. Banalität und hohe Bedeutsamkeit müssen einander insofern nicht ausschließen, sondern können im Lichte eines Pragmatismus des Alltagshandelns zusammenstimmen. Die Stimmigkeit dieser Koordination ist in Bezug auf die Familie evident. „Schütz‘ weiteres Forschungsinteresse gilt der Aufklärung der Zusammenhänge zwischen menschlichem Handeln und den intersubjektiv geteilten Sinnstrukturen der Wirklichkeit“³⁹. Im Aufbau seines Werkes vollzieht er den Dreischritt vom 1) Selbstverstehen über das 2) Fremdverstehen zu 3) sozialen intersubjektiv geteilten Erfahrungs- und Deutungsschemata.⁴⁰ Dieser ist nicht nur explikationslogisch begründet, sondern stellt ihm auch eine reale Stufung im Aufbau des menschlichen Verstehens dar.⁴¹ Für das Fremdverstehen sei insbesondere zu beachten, dass es „verschiedene[…] Grade[…] von Intimität“⁴² zwischen ‚ego‘ und ‚alter ego‘ gebe. So hat der Mensch nicht nur ‚Mitmenschen‘, die ihm in seiner ‚Umwelt‘ begegnen, sondern auch ‚Nebenmenschen‘, die als Bewohner seiner ‚Mitwelt‘ nur potentiell mit ihm zusammentreffen sowie ‚Vorfahren‘ aus seiner ‚Vorwelt‘ und ‚Nachfahren‘, die er als Bewohner seiner ‚Folgewelt‘ antizipieren kann.⁴³ Die Familie kann sicherlich als ein Rahmen gelten, innerhalb dessen jene Kategorisierung von vielen Menschen am ehesten bewusst erfahren wird – freilich weniger formal als vielmehr material. Zu den bereits angesprochenen ‚Deutungsschemata‘, welche als Systeme ‚objektiver Sinngehalte‘von allem reflektierendem Selbstverstehen und allem Fremdverstehen vorausgesetzt werden, zählt Schütz z. B. „Sprache, Kunst, Wissenschaft, Mythos“⁴⁴. Es wird in unserer Studie zu fragen sein, inwiefern die ‚Familie‘ nicht bloß durch solche Deutungsschemata beeinflusst wird, sondern auch selbst als ein solches zu stehen kommt. Zu denken ist hierbei beispielsweise an Geschlechtlichkeit oder Generativität und Alter, die in besonderer Weise familial erfahren und bearbeitet werden.
Martin Endreß, Einleitung zu Schütz, Aufbau, 21. Vgl. Martin Endreß, Einleitung zu Schütz, Aufbau, 22. Bernhard Waldenfels kritisiert Alfred Schütz‘ Zuspitzung des sozialen Sinns auf das ‚Verstehen‘, weil er darin einen Egozentrismus wittert und bringt stattdessen den Begriff der ‚Verständigung‘ ein, der den Sinnaufbau in ein produktiveres Verhältnis mit dem Sozialkontext bringen soll. Nicht mehr die zu erbringende Deutungsleistung des Subjekts, sondern die Sinnkreativität des polyzentrischen sozialen Zusammenhangs, in das es eingestellt ist, wird zum Hauptgenerator sozialen Sinns erhoben (vgl. Waldenfels, Verständigung). Wir werden im Zusammenhang unserer Referenzen auf George Herbert Mead und Niklas Luhmann jeweils auf die Thematik zurückkommen. Schütz, Aufbau, 289. Vgl. Schütz, Aufbau, 289 f. Die Begriffe ‚Vorwelt‘, ‚Mitwelt‘ und ‚Nachwelt‘ verwendet übrigens bereits Friedrich Schlegel. Vgl. ders., Lucinde, 24 f. Schütz, Aufbau, 119.
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Persistenz und Wandelbarkeit des Sinns – Pierre Bourdieu Was es bedeutet, wenn ein Deutungsschema angesichts gesellschaftlicher Wandlungen prekär geworden ist, lässt sich im Anschluss an Pierre Bourdieu näher beschreiben. Er, der sich selbst mit den Schriften Schütz‘ befasst hat, geht in seinem Werk, Sozialer Sinn das Problem in kantischer Manier an, in dessen aufklärerische Tradition er sich mit dem Untertitel des Buches, Kritik der theoretischen Vernunft offensichtlich stellt. Wie Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft dem Empirismus das Konstitutivum des Verstandes zu aller Erkenntnis entgegensetzte bzw. beigesellte, betont Bourdieu die Vorstrukturiertheit der sozialen Welt, die sowohl für ihre Akteure als auch ihre wissenschaftlichen Beobachter bei deren empirischer Arbeit gilt.⁴⁵ War Kant bei seiner Kritik an der Deduktion der Verstandeskategorien interessiert, so stellt Bourdieu ‚Habitusformen‘ und ‚Einstellungsschemata‘ als soziologische Kategorien heraus.⁴⁶ Anders als bei Kants Kategorien, die sich unmittelbar und übergeschichtlich aus der strukturellen Verfasstheit des Verstandes ergeben sollen, handelt es sich bei den Habitusformen allerdings um geschichtlich bedingte und wandelbare Strukturen.⁴⁷ Der „Habitus als praktischer Sinn“ pflegt, „Institutionen zu bewohnen“, sie im Sinne einer „Einverleibung […] in Funktion, am Leben, in Kraft zu halten“.⁴⁸ Das Moment von relativer Konstanz und Traditionsbestimmtheit auf der einen Seite und dennoch gegebener Wandelbarkeit auf der anderen Seite ist auch für die Betrachtung von Familie als urgeschichtlicher und zugleich stets großen Wandlungen unterworfener Sozialform einschlägig.
Die soziale, vollzugsdynamische Bedingtheit von Sinnstrukturen – George Herbert Mead Bereits George Herbert Mead betonte die soziale Vollzugsstruktur in seiner Beschreibung des Aufbaus von Sinn. ‚Bedeutung‘ bzw. ‚Sinn‘ wären für ihn unterbestimmt, wenn sie als Handlungsintention des Einzelnen beschrieben würden.⁴⁹ Nicht das Subjekt, sondern der Kommunikationszusammenhang sei der eigentliche Generator von Sinn. Ähnlich der Reziprozitätsstruktur, die Niklas Luhmann anhand seines Be-
Zu Bourdieus Kritik eines soziologischen ungebrochenen Objektivismus vgl. ders., Sozialer Sinn, 57– 78. 97. Vgl. Bourdieu, Sozialer Sinn, 97– 121. Vgl. Bourdieu, Sozialer Sinn, 101. Bourdieu, Sozialer Sinn, 107. Die im Begriff der ‚Einverleibung‘ anklingende materiale Rückbindung der Sinnproduktion betont Günter Dux (ders., Geschlecht, 289 f). Das Leben an sich ist sinnfrei. Sinnhaft, d. h. intentional orientiert, wird es erst durch handelnde Gestaltung. Diese bleibt allerdings immer rückgebunden auf ihre naturalen Grundlagen, die im (an sich sinnfreien) Leben liegen. Hieran knüpft Dux seine Kritik, in Subjektivierung und einem Verlust von Körperlichkeit, d. h. der Rückbindung an das natural grundierte Leben, gründe der Sinnverlust der Moderne (ebd., 300 – 309). Vgl. Mead, Geist, 115: „Sinn ist […] die Entwicklung einer objektiv gegebenen Beziehung zwischen bestimmten Phasen der gesellschaftlichen Handlung; er ist nicht ein psychisches Anhängsel zu dieser Handlung und keine ‚Idee‘ im traditionellen Sinne.“
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griffs der ‚Erwartungserwartung‘ beschreiben wird,⁵⁰ spricht Mead von einer ‚gegenseitigen Anpassung‘: […] die Beziehung zwischen einem gegebenen Reiz – als einer Geste [oder höherstufig, einem ‚signifikanten Symbol‘ – CR] – und den späteren Phasen der gesellschaftlichen Handlung […] ist der Bereich, in dem Sinn oder Bedeutung entsteht und existiert.⁵¹
Sinn liegt in der intersubjektiv geteilten Handlungsintention und ist daher ‚objektiv‘. Der ‚Mechanismus des Sinnes‘ stellt Mead geradezu ein soziales Apriori dar.⁵² Dies bedeutet allerdings nicht, dass Sinn einen von aller Erfahrung unabhängigen Geltungsbereich hätte: Sinn sollte daher nicht als Bewußtseinszustand oder als eine Reihe organisierter Beziehungen gesehen werden, die geistig außerhalb des Erfahrungsbereiches, in den sie eintreten, existieren oder fortbestehen. Ganz im Gegenteil, man sollte sich Sinn objektiv, als völlig innerhalb dieses Bereiches bestehend vorstellen.⁵³
Zwei Aspekte erscheinen für die Betrachtung der Familie als Sinnstifter hierbei besonders interessant. Der eine liegt in der Vollzugsdimension. Sinn ist kein psychisches Gut, das sich für sich gewinnen und erhalten ließe, sondern entsteht nur im gelebten Leben. So hängt auch die Bedeutung Familie nicht an einem bloßen Abstammungsverhältnis, sondern an der alltäglichen Interaktion. In jüngerer Vergangenheit ist im Sinne dessen vielfach vom ‚doing family‘ die Rede. Der zweite Aspekt bietet hierzu den notwendigen Gegenpol. So sehr der Sinn vom kommunikativen Vollzug abhängig ist, so dependent sind die Kommunikationsformen wiederum von Artikulationsgestalten und -typen, die in bedeutungsverleihenden und sinnvollen Akten vorgebildet und zugeeignet wurden, einem objektiven Rahmen.⁵⁴ Sehr schön auf den Punkt gebracht wird dieser Sachverhalt in den von Alfred Schütz konzipierten und Thomas Luckmann ausgearbeiteten Strukturen der Lebenswelt:
Zum Begriff vgl. Luhmann, Systeme, 411– 417. Mead, Geist, 115. Vgl. Mead, Geist, 117: „Der Mechanismus des Sinnes ist also in der gesellschaftlichen Handlung vor dem Auftreten des Bewußtseins des Sinnes gegeben.“ Mead, Geist, 118. Der Begriff des Rahmens ist Erving Goffman entlehnt (vgl. Goffman, Rahmen-Analyse). Im Anschluss an William James, Alfred Schütz, Gregory Bateson u. a. untersucht Goffman die ‚Rahmen‘, die das Welterleben und soziale Handeln orientieren. Handlungsmotive, praktische und soziale Konventionen und deren vielfältige, lebensweltliche Modulationen werden von Goffman mit großer Lust am konkreten Phänomen beschrieben. Dabei kommt allerdings, soweit ich sehe, letztlich keine systematisch gegliederte Handlungstheorie heraus, sondern eine – in ihrer Reichhaltigkeit sehr zu würdigende – bloße Addition sozialer Phänomene. Zu ähnlichen Kritiken vgl. Knoblauch, Interaktion, 26.
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Der einzelne lernt Lebenspläne und Tagespläne zur Verwirklichung von Lebensplänen in einer bestimmten Auswahl, die wesentlich dadurch bedingt ist, daß sie ihm, und zwar von bestimmten Anderen im Rahmen der Unmittelbarkeits- und Anonymitätsstruktur der für ihn zeitgenössischen Sozialwelt, vermittelt werden. | Typische Biographien bieten sich jedermann in jeder Gesellschaft an. Es ist eine unabänderliche Bedingung eines jeden Lebenslaufs, daß er sich in sozialen Kategorien artikulieren muß.⁵⁵
Die Familie als primäre Sphäre der Sozialisation und als Bündelungsgestalt einer Vielfalt von Erwartungsanmutungen und Rollenzuschreibungen hat an diesem Prozess freilich einen großen Anteil.
Stufen der Transzendenz und Ebenen des Sinns – Thomas Luckmann Sinn reicht über das Bestehende hinaus, um es zu orientieren. Er ist mithin eng mit der Erfahrung von Transzendenz verbunden. Prominent hat Thomas Luckmann diesen Gedanken ausbuchstabiert. Seinen Ausgangspunkt bildet das Phänomen, dass schon im alltäglichen Erleben die ‚Welt‘ als etwas erfahren wird, das zwar in Teilen anverwandelt und bearbeitet werden kann, jedoch immer zugleich über das Subjekt hinausweist. Sobald man etwas auf sich bezieht, erfährt man, dass es nicht mit einem identisch ist: „Der Erfahrungskern verweist automatisch auf noch nicht und nicht mehr Erfahrenes. Diesem Umstand entstammt eine ursprüngliche ‚Miterfahrung‘ von Transzendenz.“⁵⁶ Sie kann von unterschiedlicher Qualität sein.⁵⁷ Als ‚kleine Transzendenz-Erfahrungen‘ bezeichnet Luckmann solche, die Gegenstände betreffen, welche zwar aktuell nicht realisiert sind, jedoch grundsätzlich unmittelbar aktualisiert und entsprechend erfahren werden können. ‚Mittlere Transzendenzen‘ betreffen Erfahrungsgegenstände, die nur mittelbar erfahrbar sind, aber dennoch der eigenen Alltagswirklichkeit angehören. Hierbei ist v. a. an die Sphäre des Sozialen zu denken. Innere Zustände, Einsichten, Stimmungen und Motivationen eines Menschen kann ein anderer nicht unmittelbar aufnehmen, er kann sie jedoch nach- und mitempfinden; je näher seine Lebenswelt der des anderen ist, umso mehr. Bei größter Vertrautheit kann geradezu der Eindruck entstehen, die
Schütz/Luckmann, Strukturen, 146. Hartmut Rosa verfolgt in seinem programmatischen Werk Resonanz eine ebensolche Zentralsetzung der Sphäre des Sozialen und weitet ihre Bedeutung geradezu universal aus (ders., Resonanz, 70): „Wie ich zeigen möchte, beeinflussen, formen und prägen die sozialen Verhältnisse – die Institutionen und Praxisformen, die Organisationsweisen, Zeitstrukturen und Machtverhältnisse usw. – nicht erst und nicht nur die kognitiven und konzeptuellen Aspekte der Weltbeziehung, sondern alle ihre Momente, auch und gerade die leiblichen und existentiellen, und natürlich die intentionalen und evaluativen.“ Luckmann, Religion, 167. Zum Folgenden vgl. Luckmann, Religion, 167 f sowie detaillierter Schütz/Luckmann, Strukturen, 589 – 633.
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I Einleitung und Hinführung
Erfahrungsgrenze wäre aufgehoben.⁵⁸ Erfahrungsraum dessen sind v. a. Partnerschaft und Familie. ‚Große Transzendenzen‘ verweisen schließlich auf die Sphäre des Außeralltäglichen. Sie haben zwar ihren Haft- und Konkretionspunkt in der Alltagserfahrung bzw. deren Umhof, bezeichnen dabei allerdings das prinzipiell nicht alltäglich Erfahrbare. Traum und Ekstase sind hierbei ebenso gemeint, wie Krisen und Tod. Wir können mit Andreas Kött zusammenfassen: „Luckmann denkt die Transzendenz nicht als Negation von Immanenz, sondern als Negation von Aktualität (kleine), Subjektivität (mittlere) und Alltag (große).“⁵⁹ Ulrich Barth bemerkt kritisch, „daß es Luckmann bislang noch nicht gelungen ist, den identischen Kern und die spezifischen Modifikationen des zugrundegelegten Transzendenzbegriffs im Sinne seiner eigenen Voraussetzungen bewußtseinsphänomenologisch verständlich zu machen.“⁶⁰ In der Tat haftet Luckmanns Stufung, bei aller intuitiven Anschlussfähigkeit eine gewisse Willkürlichkeit der Konstruktion an. Illustrieren lässt sich dies anhand der „Stufenleiter des Sinns“⁶¹, die Volker Gerhardt in ähnlicher Weise wie Luckmann aufbaut, allerdings mit z.T. ganz anderen Gehalten füllen kann, nämlich Sinnlichkeit, Sozialität und Rationalität.⁶² Verbindendes Element der drei Ebenen ist bei Gerhardt ihre Leistung der Einheitsstiftung und Stabilisation. Dieses Integrationsmoment beschreibt Thomas Luckmann zusammen mit Peter Berger unter dem Begriff der ‚Legitimierung‘ – der allerdings oberhalb seines Stufenschemas firmiert.⁶³ […] Legitimierung […] läßt sich als ‚sekundäre‘ Objektivation von Sinn bezeichnen. Sie produziert neue Sinnhaftigkeit, die dazu dient, Bedeutungen, die ungleichartigen Institutionen schon anhaften, zu Sinnhaftigkeit zu integrieren. Die Funktion dieses Vorganges ist, ‚primäre‘ Objektiva-
Vgl. Luckmann, Religion, 168 f: „Die Grenze, an die man in der Erfahrung der ‚mittleren‘ Transzendenzen stößt, kann nicht überschritten werden, so ‚undicht‘ sie auch manchmal, z. B. in der Ekstase einer großen Liebe, erscheinen mag. Das ‚Außen‘ des anderen verkörpert ein ‚Innen‘, das als solches nicht unmittelbar erfahren werden kann. Aber es verkörpert es so vertraut, daß wir meinen können, das Innen sei unmittelbar im Äußeren erlebbar.“ Kött, Systemtheorie, 276. Barth, Was ist Religion, 16. Gerhardt, Sinn, 147. Vgl. Gerhardt, Sinn, 141: „Im Sinn, so können wir zusammenfassen, geht der Leib ursprünglich über sich hinaus: Er vermittelt dem Körper seine empfundene Einheit, indem er ihm Eindrücke von außen verschafft. Der Sinn ermöglicht die einheitliche Orientierung in der ‚Umwelt‘; über ihn wird die zunehmend bewusste soziale Kooperation der Menschen miteinander reguliert; im Sinn der Sinne präsentieren sich die als solche begriffenen Objekte seiner Umgebung, mit deren Hilfe er sich eigenständig mitteilen kann. Spätestens das stimuliert den Rückzug in die Subjektivität, die den affektiven, emotionalen und reflexiven Kräften freien Lauf lassen kann, sich in der Regel aber genötigt sieht, sich durch den Bezug auf den sozialen Kontext und in der Kalkulation ihres personalen Interesses zu disziplinieren. Dabei hilft ihr die semantische Verselbstständigung rein sachhaltiger Bedeutungen im logisch-rationalen Sinn. Erst in dieser Disziplinierung kann sich der Mensch seiner eigenen Besonderheit vergewissern und sich in ein intelligibles, das heißt: für ihn und andere möglichst einsichtiges Verhältnis zu sich selbst und zur Welt als ganzer setzen.“ Vgl. Berger/Luckmann, Konstruktion, 98 – 112.
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tionen, die bereits institutionalisiert sind, objektiv zugänglich und subjektiv ersichtlich zu machen.⁶⁴
Orientierung wird in den unterschiedlichsten Lebenskontexten, in die man hineingeboren wird und hineinwächst, immer schon gegeben. Soziale Rollen und entsprechende Verhaltensanmutungen und Erwartungshorizonte sind dem einzelnen vorgegeben und werden auf basalster sozialer Ebene vermittelt. Die Evidenzen der jeweiligen Sozialsphären können allerdings durch Erfahrungen der Inkompatibilität dieser bzw. durch Grenzerfahrungen des Lebens irritiert werden. An dieser Stelle bedarf es einer übergeordneten Integrationssphäre: Symbolische Sinnwelten konstituieren die vierte Ebene der Legitimation. Wir meinen damit synoptische Traditionsgesamtheiten, die verschiedene Sinnprovinzen integrieren und die institutionale Ordnung als symbolische Totalität überhöhen […].⁶⁵
Die traditionelle Kultursphäre einer solchen Gesamtintegrationsleistung ist die Religion.⁶⁶ Allerdings ist sie nicht konkurrenzlos.⁶⁷ Auch politische Ideologien und psychologische Großkonzepte können laut Berger und Luckmann diese Funktion übernehmen.⁶⁸ Wir wollen hinzufügen, dass sich ebenso die Familie als ein Lebens- und Berger/Luckmann, Konstruktion, 98 f. Genau diese produktive Integrationskraft vermisst Ulrich Barth in den Konzepten der ‚Kontingenzreduktion‘ (Luhmann) bzw. ‚Kontingenzbewältigung‘ (Gehlen/ Lübbe): „Kontingenzbewältigung vollzieht sich ja nicht in der Weise, daß Handlungssinn gefährdende Kontingenzerfahrungen abgeschwächt oder verdrängt würden, sondern dadurch, daß die betreffenden individuellen Erlebnisse samt den von ihnen ausgehenden Sinnverwerfungen eine Umwertung erfahren, indem sie in eine übergeordnete Perspektive gerückt werden, im Lichte dieses neuen Deutungsrahmens nach ihren nicht-kontingenten Hintergründen transparent und damit subjektiv hinnehmbar werden […].“ (Barth, Was ist Religion, 17). Berger/Luckmann, Konstruktion, 102. Vgl. dazu auch Barth, Was ist Religion, 14: Religion wird von Ulrich Barth bestimmt als eine „spezifische Form menschlicher Deutungsleistung, nämlich als Deutung der Wirklichkeit im Horizont ihrer Unendlichkeits-, Ganzheits-, Ewigkeits- und Notwendigkeitsdimension.“ Sie erfüllt damit „eine universelle Fundierungsfunktion, allerdings nicht von der Art des reellen oder ideellen Bedingens (extensionale Ebene), sondern vielmehr in Form einer Sinnanreicherungs- oder Sinnstiftungsfunktion (intensionale Ebene).“ Zu dieser Einschätzung vgl. auch Barth, Theoriedimensionen, 39: „Die Religion der Gegenwart besitzt kein Deutungsmonopol mehr für Weltanschauungen, Werteinstellungen und Lebensfragen, sondern ist dem offenen Markt der Sinnstiftungsangebote eingeordnet und muß sich hier bewähren wie jeder andere Anbieter auch.“ Berger/Luckmann, Konstruktion, 107 f: „Die Legitimation durch die symbolische Sinnwelt erstreckt sich auch auf die Wirklichkeit und Richtigkeit der eigenen Identität des Einzelnen. […] Noch wenn sein Nachbar nicht weiß, wer er ist, ja, sogar wenn er selbst ‚sich‘ in den Qualen der Alpträume vergessen haben sollte, kann er sich vergewissern, daß sein ‚wahres Selbst‘ ein absolut wirkliches Wesen in einer absolut wirklichen Sinnwelt ist. Die Götter wissen für ihn – oder die Psychiatrie – | oder die Partei. Mit anderen Worten, das Realissimum der Identität braucht nicht dadurch legitimiert zu werden, daß es jederzeit vom Menschen gewußt wird. Für die Legitimation genügt es, daß es wißbar ist. […] Das heißt: der Einzelne kann in der Gesellschaft mit einiger Gewißheit darüber leben, daß er wirklich der ist, als
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Deutungsrahmen beschreiben lässt, der dies vermag – allerdings mit anderen Gewichten, was soziale Rückbindung und intelligiblen Gehalt angeht.⁶⁹ So ist die Religion vorrangig eine Deutungskultur, die gleichwohl stets sozial artikuliert und aktualisiert wird; während die Familie zu aller erst eine Sozialform darstellt, deren Strukturmerkmale jedoch zu einer weiterreichenden Deutung motivieren, die ihrerseits sodann auch andere Lebenssphären zu interpretieren, zu verorten und zu gewichten erlaubt.
Spezifik und Verwickeltheit des ‚Totalsinns‘ – Eduard Spranger und Ulrich Barth Voraussetzung für die Koordination und Subsumtion von Sinnverhältnissen ist, dass diese zusammenbestehen können. In geradezu programmatischer Weise hat Eduard Spranger dies behauptet. Anders als eine theoretisch zergliedernde Beschreibung suggerieren mag, prozediert das menschliche Bewusstsein nicht trennscharf fragmentiert. Alltägliches Verstehen und Deuten ist stets eingebunden in ein breites Spektrum vorreflexiver Stimmungen, Eindrücke und Vorstellungen. In jedem sinngebenden Gesamtakt sind alle Grundformen sinngebender Akte zugleich enthalten; in jedem geistigen Akt waltet die Totalität des Geistes. […] Man hat übersehen, daß alles theoretische Verhalten zugleich ein ästhetisches, ein utilitarisches und ein religiöses Moment enthält, und so entsprechend in drei weiteren Kombinationen.⁷⁰
Zwar erfüllt jede der vier Perspektivierungen eine selbständige und von den anderen nicht kompensierbare Funktion; das schließt ihr Ineinandergreifen jedoch nicht aus – im Gegenteil.⁷¹ Rationales Verstehen und Einordnen, ästhetisches Erleben, zweckgerichtetes Abwägen und geistige Gesamtwürdigung spielen bei jedem Erfahrungsgegenstand ineinander, auch wenn meist eine der Dimensionen überwiegt.⁷² So muss auch die Bedeutung der Familie in ebenjener Breite erhoben werden. Sie verdankt sich eben nicht allein ästhetisch-emotionaler Wertschätzung bzw. Überhöhung, sondern bezieht ihr Sinnpotential ebenso von den anderen Momenten her. Wie in vielen anderen funktionalen Würdigungen der Religion hat auch für Spranger der religiöse Sinn sowohl eine nebengeordnet-spezifische Funktion als auch
den er sich ansieht, sofern er seine gesellschaftlichen Routinerollen bei hellem Tageslicht und unter den Augen signifikanter Anderer abspult.“ Der sozial-pointierenden Wendung, die der in der vorigen Fußnote zitierte Passus nimmt, ist sie vielleicht sogar der angemessenste Kandidat. Nach Luckmanns Stufenschema wird die Familie wohl eher im Zusammenhang der ‚mittleren Transzendenzen‘ zu beschreiben sein, sie birgt meines Erachtens allerdings durchaus Potentiale ‚großer Transzendenz‘. Spranger, Lebensformen, 38 [Hervorhebungen getilgt, andere Hervorhebungen von mir – CR]. Vgl. Spranger, Lebensformen, 42– 47. Hinzu treten die soziale Dimension (Symmetrie – Liebe) und die politische Dimension (Asymmetrie – Macht), die die anderen Dimensionen integrieren bzw. färben können, aber in starker Ausprägung auch neben ihnen zu stehen kommen können. Vgl. dazu Spranger, Lebensformen, 60 – 69. 193 – 235.
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eine übergeordnet-letztintegrative, welche er mit dem Begriff des ‚Totalsinns‘ versieht. Exemplifiziert finden wir dies bei ihm anhand eines ästhetischen Erlebnisses: Nichts, auch nicht die kleinste Erregung, ist für den Totalsinn oder Totalwert meines Lebens ohne Bedeutung. Ich kann bei dem Tautropfen auf dem Grase, wenn ich ihn erkannt und ästhetisch aufgefasst habe, auch noch in stiller Bewegung weilen, in der etwas von der Trauer der Vergänglichkeit und dem Schauer der Ewigkeit selbst anklingt, ohne daß ich diesen Zustand in Worte fassen könnte.⁷³
Zu bemerken ist, dass der ‚Totalsinn‘ jedoch niemals rein für sich präsent werden kann. So konstatiert auch Ulrich Barth: Die Unbedingtheitsdimension von Sinn ist das eigentliche Lebenselement der Religion. Diese Unbedingtheitsdimension läßt sich jedoch niemals für sich allein thematisieren. Das religiöse Bewußtsein hat seinen Standpunkt weder im Absoluten noch im Kontingenten, sondern im applikativen Bedeutungstransfer zwischen beiden.
Religiöser Sinn ist „als unbedingter zugleich auf bedingten Sinn bezogen“⁷⁴. Bereits Schleiermacher weist im berühmten Paragraph 5 seiner Prolegomena zur Glaubenslehre auf diesen Punkt hin.⁷⁵ Die Religion verwickelt sich zwangsläufig in die Welt. Dies kann die Spezifik des religiösen Sinns gegenüber anderen Formen des Sinns im subjektiven Erleben durchaus verwischen.⁷⁶ Eduard Spranger zeichnet die Grenzen zwischen den Sinnsphären – wie bereits erwähnt – bewusst weich. So kann ihm der familiale Sinn geradezu zur Vorstufe bzw. beschränkten Gestalt des religiösen werden: Man kann nicht leugnen, daß in der Blickrichtung, die das fremde Leben als einen möglichen Wertträger ehrt, etwas Religiöses liegt. Denn wer den anderen so auffaßt, der gibt damit dem ganzen Leben schon einen Sinn, nämlich die Richtung auf den Wert überhaupt. Aber dieser religiöse Zug tritt erst dann in höchster Ausprägung hervor, wenn alle Menschen in diesem Lichte gesehen werden. Der soziale Typus kann auch in engerer Gestalt auftreten: eine Frau kann ihrem Gatten, eine Mutter ihren Kindern, ein Diener seinem Herrn in diesem hingebenden Sinne leben.⁷⁷
Spranger, Lebensformen, 40. Barth, Was ist Religion, 14. CG², § 5, 40 – 53. Ulrich Barth betont zwar wie Spranger, dass sich die „Unbedingtheitsdimension von Sinn […] immer nur an den endlichen Sinnbezügen humaner Weltauslegung [manifestiert], ohne je mit ihnen zusammenzufallen.“ (Barth, Theoriedimensionen, 70 [Hervorhebung – CR]). Er räumt jedoch ein, dass die religiöse Praxis diese Klarheit nicht selten vermissen lässt. Er spricht in diesem Zusammenhang vom ‚Sinn-Basteln‘ (im religiösen Hobbykeller): „Gemeint ist das subjektive Ausloten eigener Lebenshorizonte und Lebensperspektiven und ihrer Kombination zu einem individuellen Sinnganzen.“ (Barth, Religion und Sinn, 433). Die Verwicklung des religiösen Sinns in Gestalt einer konkretisierenden Soziologie der Lebensformen finden wir bei Ulrich Barth nicht durchgeführt. Spranger, Lebensformen, 195.
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Auch vom ästhetischen Erlebnis lässt sich eine Linie zum familialen Leben ziehen. Zur Sinnerfüllung angesichts des Eindrucks von Schönheit bestimmt Ulrich Barth im Anschluss an Kant und Adorno: Als schön wird das in sich Stimmige erlebt. Stimmigkeitswahrnehmung ist immer auch Sinnerfahrung. Denn daß eine Gesamtkonfiguration als in sich stimmig erscheint, besagt nichts anderes, als daß deren Elemente als untereinander sinnvoll verbunden erlebt werden.⁷⁸
Wir wollen hinzufügen, dass nicht allein Kunst, sondern auch Natur und Sozialverhältnisse Gegenstände ästhetischer Erfahrung sind. Ist schon das Schöne an sich sinnproduktiv, so gilt dies auch für die schöne Gestalt und den angenehm stimmigen Charakter einer geliebten Person oder Momente der Harmonie im familialen Leben.
Sinn zwischen Komplexitätsreduktion und Komplexitätssteigerung – Niklas Luhmann Wenngleich sich Niklas Luhmanns systemtheoretischer Ansatz nur schwer mit den oben referierten subjekt- und handlungstheoretisch ausgerichteten Konzepten vermitteln lässt, sei doch abschließend noch ein Aspekt markiert, der durchaus übertragbar scheint.⁷⁹ Gemeint ist seine Strukturbeschreibung der wechselseitigen Verwiesenheit von ‚Aktualität und Potentialität‘, die Luhmann auf Grundlage der Husserl’schen Termini des ‚Horizontes‘ und des ‚Verweisungszusammenhangs‘ expliziert.⁸⁰ Die Mannigfaltigkeit von Potentialitäten drängt das Subjekt in einen Selektionszwang, der es aufgrund des ‚Verweisungsüberschusses‘ seines Orientierungsfeldes zu lähmen drohte, wenn dieses nicht zur Strategie der ‚Komplexitätsreduktion‘ griffe.⁸¹ Hier kommen nun soziale Institutionen wie die Familie, aber auch die Religion ins Spiel: sie helfen durch Selektionsmechanismen und die Bildung von ‚Redundanzen‘, Komplexität zu reduzieren und zu bewältigen.⁸²
Barth, Religion und ästhetische Erfahrung, 244. Den Versuch einer kritischen Vermittlung von Bewusstseinstheorie und luhmannscher Systemtheorie v. a. über den Begriff der Negation(sfähigkeit) macht Falk Wagner in: ders., Systemtheorie. Luhmann selbst schließt einen Rückschluss vom Subjekt auf das System im Sinne einer Begründung allerdings explizit aus. Vgl. Luhmann, Systeme, 92: „Personen können nicht ohne soziale Systeme entstehen und bestehen, und das gleiche gilt umgekehrt. [Fn:] Daraus folgt allerdings nicht der Schluß, […] daß der Mensch als animal sociale Teil der Gesellschaft sei, die Gesellschaft also ‚aus Menschen bestehe‘. Von dieser Prämisse aus hätte die […] Systemtheorie nicht entwickelt werden können.“ „Sinn ist das Medium, das mit der Differenz von Aktualität und Potentialität arbeitet, und zwar mit der Differenz, mit der Unterscheidung in dem Sinne, dass die Einheit der Unterscheidung immer mitspielt, dass man also immer in dem, was man aktuell sieht, Möglichkeitsperspektiven hat und umgekehrt Möglichkeiten nicht thematisieren kann, nicht denken kann, auch gar nicht kommunikativ benutzen kann, wenn man dies nicht aktuell tut.“ (Luhmann, Einführung, 233). Vgl. Luhmann, Einführung, 236. Vgl. Luhmann, Systeme, 93 f. Einen Überblick über die Aufnahme des Theorems der Komplexitätsreduktion in der Familiensoziologie gibt Nave-Herz, Familiensoziologie, 152– 154.
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Sie tun dies allerdings unter Rückgriff auf Sinnmuster, die selbst wiederum sehr komplex sind: „Mit jedem Sinn, mit beliebigem Sinn wird unfaßbar hohe Komplexität (Weltkomplexität) appräsentiert und für die Operationen psychischer bzw. sozialer Systeme verfügbar gehalten.“⁸³ Sinn orientiert das konkrete Handeln und weist es zugleich in seiner Begrenztheit aus.⁸⁴ Sinnerleben ist eine Form der Platzanweisung. Ein Sinnstifter verhilft dem Subjekt zu Bestimmtheit, die seinen Möglichkeitshorizont nicht verschwinden lässt, diesem jedoch den Schrecken der Überforderung nimmt.
2 Schleiermacher – ein reichhaltiger Autor zum Thema Es ist nicht selbstverständlich, sich in der Bearbeitung eines Themas, das in den letzten Jahrzehnten viele ‚turns‘ erlebt hat, auf einen Autor zu beziehen, dessen Wirken zweihundert Jahre zurückliegt; schon gar, wenn es nicht nur darum gehen soll, aus historischem Interesse einen Klassiker zu referieren, sondern auch gegenwärtig geltungsvalente Orientierungsfiguren zu gewinnen. Deshalb gilt es, bevor wir uns den grundlagentheoretischen und materialen Erwägungen zuwenden, hier zunächst zu plausibilisieren, warum es überhaupt lohnend erscheint, Schleiermacher mit Blick auf das weite Feld der Familienethik zu Rate zu ziehen. Dies wollen wir in drei Hinsichten versuchen. Als bedeutender Denker der ‚Sattelzeit‘⁸⁵ war Schleiermacher einer der Federführer der Ideale der anbrechenden Moderne (1.), die auch die gegenwärtige Zeit, so viele ‚Posts‘ man ihr auch begrifflich voranstellen mag, entscheidend prägen. Hierbei nimmt Schleiermacher zudem eine interessante Mittelposition ein, insofern er aus einem intensiven Platon- und Kantstudium herkommend die idealistische Debatte bereicherte und zugleich in seiner Person die Verinnerlichungstendenzen des Herrnhutertums mit jenen der Frühromantik verband ohne jedoch seinen Kritizismus abzustreifen. Über seine intellektuellen Beziehungen hinaus verheißt die private Seite seiner Biographie (2.) für unser Thema einen weiten Horizont. Auch die Textgattungen (3.), in denen Schleiermacher sich mit der Geschlechter- und Generationenfrage befasst hat, sind von einer großen Bandbreite. Neben ethischen, pädagogischen und psychologischen Vorlesungsskripten stehen uns Gelegenheitsschriften, Briefe – darunter auch der Briefwechsel mit seiner Braut – und Predigten zur Verfügung. In den folgenden Kapiteln kann es weder darum gehen, eine geistesgeschichtlich umfassende Beschreibung Preußens, des Idealismus oder der Frühromantik zu geben, noch eine detaillierte Biographie Schleiermachers vorzulegen, noch sein Œuvre quellenkritisch zu sondieren; sondern alle drei Unterkapitel haben lediglich die
Luhmann, Systeme, 94. Vgl. Luhmann, Systeme, 94 f. Geprägt ist dieser Begriff bekanntlich von Reinhart Koselleck.
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Aufgabe, mittels einiger Striche eine Skizze zu geben, die der hier gestellten apologetischen Funktion genügt.⁸⁶
2.1 Die zeitgeschichtliche Situation Die ‚Schleiermacherzeit‘ ist keine einheitliche Epoche, sondern grob gesprochen vollzog seine Biographie den Bogen von der Aufklärung über die Romantik zum Biedermeier. Die Schnittmengen dieser Programme, Orientierungsstrukturen und Mentalitäten markieren Problemlagen, deren Dynamiken aktuellen Anforderungen nicht ganz fern sind, handelt es sich doch heute wie seinerzeit um Paradoxien von Sinnmustern, die sich sehr ähnlich sind und zugleich fortwährende Bearbeitung fordern. Deshalb wollen wir im Folgenden nicht nur nach Kontinuitätslinien zwischen Früh- und Postmoderne suchen, sondern auch nach Analogien in ihren Anforderungssituationen.⁸⁷ Die bedeutendste Kontinuität zur Romantik liegt sicherlich in der gegenwärtigen Adaption ihres Liebesideals. In literarischer Reinform, wie es in Friedrich Schlegels Lucinde begegnet, beinhaltet es die Verbindung von sexueller und emotionaler Zuneigung, die Gleichsetzung von Liebe und Ehe, die Dauerhaftigkeit der Liebe und Treue, die Integration der Elternschaft als emotionale Vertiefung der Paarbeziehung, die wechselseitige Steigerung der Individualität, überhaupt die Betonung der Wechselseitigkeit der Gefühle anstelle einer minneartigen einseitigen Verehrung und das Überstrahlen aller anderen Lebensbezüge durch die exklusive Liebesbeziehung.⁸⁸ In dieser Ausschließlichkeit wird jenes Ideal wohl kaum jemals zur praktischen Darstellung gekommen sein, aber auch seine Umsetzung in weicheren Abschattungen war nicht ohne weiteres gegeben. Zentrale Voraussetzung dafür war ein Aufschwung in der Wirtschaft, denn solange nicht allein der Grad des Lebensstandards, sondern die Existenz überhaupt an einer ‚guten Partie‘ hing, war an den Luxus einer Liebesheirat nicht zu denken.⁸⁹ Hinzu kommt die Notwendigkeit eines Bewusstseins für Individualität, welches allein durch eine Verbreitung der Bildung gewährleistet ist, denn erscheinen potentielle Partner austauschbar, weil der Grad ihrer persönlichen Bildung gering ist, kann jenes Ideal kaum Fuß fassen. Außerdem ist die Trennung von Arbeits- und Privatsphäre anzuführen, ohne die die Eigentümlichkeit der intimen
Außerdem wollen wir unser werkübergreifendes Vorgehen rechtfertigen, welches Schriften der Frühzeit mit jenen der Reife korreliert. ‚Schleiermachers Modernität‘ zu betonen, sieht sich vor einem anderen Debattenzusammenhang auch Hermann Ringeling berufen (ders., Sexualität, 60 – 64). Zusammenfassung nach Lenz, Liebe, 241– 244. Ausführlicher zum Thema s.u. II.3.1.1 bis II.3.1.3. Vgl. auch Lenz, Zweierbeziehung, 226 f. Zum Anwachsen von Freizeit im 20. Jahrhundert und der Verwendung derselben für das Familienleben vgl. Nave-Herz, Familiensoziologie, 96 – 100.
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Beziehung weniger plastisch wird, weil die Definition des Häuslichen als Ort des Gemeinschaftsgenusses und der Gemütlichkeit nicht statthat.⁹⁰ All die genannten Voraussetzungen waren v. a. im entstehenden Bürgertum gegeben, welches daher als frühester Träger des romantischen Liebesideals zu benennen ist.⁹¹ Worin seine Motivation zur Aufnahme desselben lag, ist damit allerdings noch nicht geklärt. Hier erscheint besonders die soziale Isolierung des Bürgertums einschlägig.⁹² Die Neuentstehung dieser Bevölkerungsschicht brachte es mit sich, dass sie zunächst ein ‚standesloser Stand‘ war. Die Kommunikations- und Anerkennungsmechanismen von Zunftgemeinschaften u. ä. griffen hier nicht, weil das freie Bürgertum weder organisiert war, noch lokal konzentriert lebte.⁹³ Auf dieser Grundlage wird die Wendung nach innen verständlich. In Freundschaft und Familie wurde die Stabilisierung gesucht, die der soziale Makrokontext nicht mehr bot. Die Differenz zum ‚Proletariat‘ im weiteren Sinne und zum Adel, in denen die Familiengründung je auf ihre Weise eine soziale Notwendigkeit war, stellte für die bürgerlich-romantische Vorstellung einen Identifikationsrahmen dar, in dem sich Ehe und Familie nunmehr als von subjektiver Bedeutungsaufladung getragener Lebensentwurf profilierte.⁹⁴ Ein ritueller Ausdruck dafür wurde das Weihnachtsfest als Kinder-, Familien- und Bescherfest, dessen Beschreibung in Schleiermachers Weihnachtsfeier mitnichten überflüssiges Beiwerk zu einem ‚platonischen‘ Dialog über die Christologie ist. In der vom Bürgertum durchdrungenen Gesellschaft unserer Gegenwart hat sich das romantische Liebesideal weitgehend durchgesetzt, jedoch auch bedeutende Mo-
Vgl. zu diesen Aspekten Rosenbaum, Formen, 271– 284 sowie Weber-Kellermann, Familie, 98 – 102. So auch Rosenbaum, Formen, 251 f u. ö. Lenz, Zweierbeziehung, 222 f. Bei dieser Zuordnung dürfen wir allerdings nicht den Fehler machen, von dem allzu holzschnittartige Sozialgeschichtsentwürfe (wie Weber-Kellermann, Familie, 38 – 98.127– 158) nicht frei sind, ‚Kulturmuster‘ und Lebensvollzug zu vermengen. Nur weil im vormodernen ‚Oikos‘ und den in der Frühmoderne lebenden Familien des Proletariats und Bauernstandes das Ideal der romantischen Liebe kaum Raum hatte, heißt das nicht, dass hier faktisch nicht geliebt wurde, dass Ehepaare nur Zweckgemeinschaften und Kinder bloße Arbeitskräfte waren. Kulturmuster und Alltagsorientierung hängen zwar eng zusammen, müssen um der historischen und soziologischen Angemessenheit der Beschreibung willen jedoch unterschieden werden. Auf diese methodische Differenz aufmerksam macht Lenz, Liebe, 238 – 240 und ders., Zweierbeziehung, 223 f. Er bezieht sie jedoch weniger auf die Vorzeit, denn auf die Ausbreitung des romantischen Liebesideals. Vgl. dazu Rosenbaum, Formen, 274– 276. Das Studium, das Eintreten in den Staatsdienst oder den Handel und die Flexibilitätsbereitschaft bei Karrierebemühungen brachten einige Wohnortwechsel mit sich, die neben der generell geringen Quantität an Bürgern deren lokale Vernetzung erschwerte. Zur Absetzung vom Adel vgl. Rosenbaum, Formen, 283 f. Die Zurückdrängung der Frau auf den häuslichen Bereich, der nunmehr konsumierende Privatsphäre und nicht mehr produktiver Betrieb ist, führt zu einer Patriarchalisierung. Durch den Ausbau des Schulwesens geht zugleich die Bildung und Sozialisation der Kinder auf den öffentlichen Bereich über. So verliert die Familie in ökonomischer und sozialer Hinsicht faktisch an Bedeutung, was allerdings durch die romantisch-emotionale Aufladung kompensiert wird. Vgl. zu dieser Dynamik Weber-Kellermann, Familie, 102– 108.
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difikationen und Einklammerungen erfahren.⁹⁵ Durchsetzung und Selbstaufhebung werden besonders deutlich am Element der Individualisierung.⁹⁶ Sie hat heute gegenüber der Zeit der Romantik eine deutliche Steigerung erfahren. Selbstverwirklichung und Selbstbildung sind nicht nur Rechte von Männern und Frauen gleichermaßen,⁹⁷ sondern geradezu Pflicht. In dieser Linie sind Partnerschaft und Familiengründung zu Elementen der Selbstdefinition geworden. Das Individualitätsideal fordert ein hohes Maß an Selbstreflexion und Kommunikation zwischen den Partnern. Wo diese gelingt, vertieft sie die Beziehung. Zugleich birgt das Selbstverwirklichungsideal allerdings eine Auflösungsgefahr, die heute sichtbarer wird als zu einer Zeit, in der Scheidung und ‚wilde Ehe‘ noch weitgehend als Makel wahrgenommen wurden.⁹⁸ Das romantische Element der Aufopferung für die Liebe um deren Dauerhaftigkeit willen gerät tendenziell ins Hintertreffen gegenüber den Momenten von Selbstbehauptung und dem Anspruch auf fortwährende Intensität der Beziehung.⁹⁹ Romantische Eheratgeber suchten dem mit der Adelung der ersten Liebe als der einzig wahren und einer entsprechenden Verortung der Leidenschaften in der Phase der Werbung zu begegnen.¹⁰⁰ Während ersteres Moment weitestgehend Schmonzetten übergeben wurde, konnte sich letzteres empirisch durchsetzen.¹⁰¹ Eine ähnliche Steigerung und damit einhergehende Auflösungspotenz für die ‚romantische‘ Gesamtbeziehung hat die Sexualität gewonnen.¹⁰² Durch die Entwicklung und Verbreitung von Kontrazeptiva hat sich mit ihr die Paarbeziehung zudem von der (potentiellen) Elternschaft emanzipiert und mittels IVF und ähnlicher Verfahren auch letztere von ersterer. Die romantische Zusammenbindung von partnerschaftlicher Liebe und Elternschaft ist damit gegenwärtig auch für Sozialverhältnisse, die sich als romantisch verstehen, fraglich geworden, was für Schlegel und Schleiermacher noch undenkbar war.¹⁰³ Zugleich aber ist die Hoffnung, dass ‚Eins und Eins nicht nur
Vgl. zum Folgenden auch Lenz, Zweierbeziehung, 227– 237. Vgl. dazu Lenz, Liebe, 253 f. Die Gleichberechtigung und Betonung der Partnerschaftlichkeit zwischen den Geschlechtern beschreibt Thomas Mann als die „Idee der Androgyne, von der die Romantiker träumten“ (ders., Übergang, 215). Mit seiner These, dass die wahre Ehe in der Liebe liege und keines Trauscheins bedürfe, war Friedrich Schlegel seinerzeit noch ein einsamer Rufer (ders., Lucinde, 11. 21. bes. 61 f). Eingehender zum Thema s.u. II.3.3.1. Vgl. Lenz, Liebe, 256 f sowie Huch, Ehe, 165 f. Weiterführend dazu s.u. II.3.3.2. Lenz, Liebe, 245 f. Ebenso äußert sich auch Schleiermacher zum Thema. Der ersten These musste er schon allein aus Gründen biographischer Selbstrechtfertigung widersprechen, explizit in L 186 f. Dazu s.u. I.2.2 und II.3.1.1. Der zweiten These gab er mit steigenden eigenen Ehejahren Recht. Entgegen Karl Lenz, der die Enttabuisierung außerehelicher und vorehelicher sexueller Praxis und die Betonung des sexuellen Eigeninteresses der Frau erst für die nähere Vergangenheit in Anschlag bringt (ders., Liebe, 254 f) beschreibt Wilhelm Dilthey solche Tendenzen bereits in Bezug auf das Berlin des späten 18. Jahrhunderts (ders., Leben I, 188 f). Ausführlicher zum Thema s.u. II.1.2. Vgl. Lenz, Liebe, 257 f.
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Zwei ist‘, sondern aus der Beziehung ein Überschuss entsteht, der die Liebe der Partner symbolisiert, wohl nicht gebrochen.¹⁰⁴ Eine Spannungslage, die sich unmittelbar mit der Familiengründung ergibt, liegt in ihrem Verhältnis zum Berufsleben der Eltern. Blicken wir auf das frühe 19. Jahrhundert, so erscheint die gegenwärtige Debatte um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wenig Futter zu haben. Dieser Eindruck ergibt sich allerdings nur, weil die geschichtliche Lage jener Zeit die äußersten Extreme abbildete, die ihre Scheidung in der Standesgrenze zwischen Bürgertum und Proletariat erfuhr. Letzteres kannte kaum ein Familienleben, weil beide Eltern und oft auch die Kinder arbeiten mussten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten: eine 6-Tage-Woche mit 12- bis 14-stündigen Schichten war hier üblich.¹⁰⁵ Die Verhältnisse der Heimarbeiterfamilien waren dagegen sogar noch schlechter, weil sie wirtschaftlich deutlich gefährdeter waren und die Kinder zur Arbeit unter widrigen Bedingungen in noch jüngeren Jahren herangezogen werden mussten.¹⁰⁶ Das andere Extrem zeigte sich im Bürgertum. So angespannt die finanzielle Lage einer Familie hier auch gewesen sein mag: für die Frau gehörte es sich, keiner Erwerbsarbeit nachzugehen, sondern sich ganz auf die Sphäre des Hauses, die ihre ökonomische Bedeutung verloren hatte, zu beschränken; ihr Soziotop war die Familie.¹⁰⁷ Dass das Arbeitsleben nicht allein materielle Güter, sondern auch gesellschaftliche Partizipation vermittelt, wurde bei ihnen zuerst spürbar.¹⁰⁸ Wenngleich sich die meisten Familien der Gegenwart wohl zwischen diesen Polen bewegen, so werden doch auch hier ähnliche Probleme kenntlich. Auch mit Blick auf die Kinder hat sich eine Problemstellung durchgehalten, die die Anerkennung der Kindheit als einer spezifischen Lebensphase betrifft. Die „Entdeckung der Kindheit“¹⁰⁹ hatte es von Anfang an schwer, sich gegen ökonomische Zweckrationalismen zu behaupten. War es bis ins 20. Jahrhundert hinein noch die Kinderarbeit,¹¹⁰ der das neue Ideal zu trotzen hatte, so stellt sich ihm gegenwärtig eine professionalisierte und entsprechend entfamiliarisierte Vollbeschulung quer, die von der Kinderkrippe über die Ganztagsschule bis zur verschulten Hochschule eine Konditionierungskette bildet in der Perspektive eines effektiven Einsatzes des ‚Humankapitals‘ am Arbeitsmarkt. Die Selbstzwecklichkeit von Bildung und Gemeinschaft zu betonen, war eines der Anliegen Schleiermachers und seiner Zeitgenossen. Einen selbstperformativen Aus-
Zu dieser Gedankenfigur, die das ‚Dritte‘ allein in einem Kind erblickt, das sich als Subjekt der Verfügungsgewalt seiner ‚Symbolstifter‘ zugleich entzieht, s.u. III.2.1.Einleitung und III.2.1.1. Vgl. Weber-Kellermann, Familie, 129. 134. Das romantische Bild vom Schnitzfigürchen fertigenden Vater und den zu seinen Füßen spielenden Kindern hat keinerlei geschichtlichen Anhalt. Vgl. dazu Weber-Kellermann, Familie, 141– 146. Vgl. Rosenbaum, Formen, 277– 279. Auch Schleiermacher setzt sich mit diesem Problem auseinander. Ausführlich dazu s.u. II.2.2. Ariès, Geschichte, 92. Vgl. Rosenbaum, Formen, 410 – 412.
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druck fand dieses Programm in der Bildung und partizipativen Gestaltung von Salons, die der oben genannten Isolation des Bürgertums zu trotzen suchte.¹¹¹ Hier wurde der Lust an der wechselseitigen Kommunikation und Vervollkommnung von Individualität gefrönt und Stabilität durch Anerkennungsgewinn angestrebt.¹¹² Das Voranschreiten einer Privatisierung des persönlichen Lebens und einer Anonymisierung des öffentlichen Raumes hält dieses Grundanliegen auch gegenwärtig präsent. In psychosoziale Funktionsäquivalenz zu den damaligen Salons treten heute – freilich in ungleich weitreichenderer Verbreitung – mediale soziale Netzwerke. Die sich im Rahmen derer immer wieder auftuenden Versuche einer Verexklusivierung, die allerdings meist in die Demotisierung eines neuen Portals münden, beschreibt dabei ganz ähnlich auch Schleiermacher, der sich insbesondere an den renommierten Berliner Salon seiner Freundin Henriette Herz hielt.¹¹³ Ein letztes historisches Element, das hier als bedeutsam für den stets auch politisch denkenden Schleiermacher in der Fluchtlinie seiner Familientheoriebildung benannt werden soll, betrifft die politische Großwetterlage um die Jahrhundertwende, in der im Namen der Freiheit dieselbe massiv gefährdet wurde – ebenfalls ein sich zumeist in Schüben artikulierendes Dauerproblem, das auch der Gegenwart nicht fern ist. In den Reden hatte Schleiermacher noch von der Französischen Revolution als der „erhabensten That des Universums“ und einer „hohe[n] Nemesis“ gesprochen.¹¹⁴ Mit diesem emphatischen Urteil, das in Paris die Realisierung dessen, was bislang nur sehnsüchtiger philosophischer Gedanke war, erblickte, stand Schleiermacher im europäischen Ausland keineswegs allein. Wenngleich er auch die „frivole Gleichgültigkeit“ des Volkes und den „wizige[n] Leichtsinn“¹¹⁵ der Revolution gegenüber rügte und – wohl den Jakobinern – einen „Taumel der Verblendung“ nachsagte;¹¹⁶ so sah er doch weltgeschichtlich Richtungsweisendes vor sich gehen. Diese Sichtweise änderte sich, als Schleiermacher beobachten musste, wie das aufgeklärte Frankreich um Napoleon ganz Europa mit Krieg überzog. Die Niederlage von Preußen in Jena/Au Ob es sich dabei um ein Minderheitenphänomen handelte, wie Germaine de Staël in Entgegensetzung zur französisch-bürgerlichen Kultur behauptet oder um eine verbreitete Sozialform, wie Eberhard Straub suggeriert, kann und muss hier nicht entschieden werden. Vgl. Staël, Deutschland, 128 f und Straub, Preußen, 96 f. Vgl. M 45: „[…] die schönste Aussicht breitet sich vor mir aus.Wie viele edle Naturen, die ganz von mir verschieden die Menschheit in sich bilden, kann ich in der Nähe betrachten! Von wieviel kenntnißreichen Menschen bin ich umgeben, die gastfrei oder eitel in schönen Gefäßen mir ihres Lebens goldne Früchte bieten, und die Gewächse ferner Zeiten und Zonen durch ihre Treue ins Vaterland verpflanzt.“ Vgl. Brief 496, 370: „Mit Herzens und Veits ist das eine ganz andere Sache. Die ersten sehen zwar auch viele Fremde und es kommt nicht leicht ein merkwürdiger Mensch nach Berlin der sie nicht besuchte und auch hier sind sie in den ausgebreitetsten Verbindungen, aber sie halten doch nicht, was man ein ofnes Haus nennt, und ich besonders bin meistentheils en famille bei ihnen und vermeide es große Gesellschaft dort zu sehn weil mir wirklich zu wenig daran liegt.“ R 196. Hier bezieht sich Schleiermacher wahrscheinlich auf den Sarkasmus Voltaires. R 196.
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erstedt 1806 hatte auch für ihn persönlich bittere Folgen, insofern nun die Hallesche Universität geschlossen wurde, die ihn erst kurz zuvor berufen hatte und sogar – obwohl reformierter Theologe – zum Ordinarius der lutherischen Fakultät erhob.¹¹⁷ Eine Zeit der Unsicherheit stand dem zudem frisch Verlobten bevor, der sich sodann wieder nach Berlin wandte, um dort am Wiederaufbau Preußens und Neuaufbau der Universität mitzuwirken.¹¹⁸ Die Wende vom – trotz aller absolutistischen Pressalien – freigeistigen Liberalismus des friderizianischen Preußens hin zu einer konservativtraditionaleren Orientierung, für die nun das Konstruktive, Praktikable und Gemeinschaftsbildende im Vordergrund stand, gab auch der Schleiermacherschen Eheund Familientheorie einen Perspektivwechsel ein.¹¹⁹ Differenzen in der Ehetheorie, Vgl. Nowak, Schleiermacher Leben, 174– 181. Dazu, dass ein Leben unter französischer Besatzung im ‚Königreich Westphalen‘ für ihn nicht in Frage kam vgl. Nowak, Schleiermacher Leben, 180 f. Zu den politischen Wirrungen der Zeit vgl. bündig: Stamm-Kuhlmann, Friedrich Wilhelm III., 210 – 216. An den kurzen politischen Bezugnahmen seiner Brautbriefe lässt sich die zeitgeschichtliche wie persönliche Ungewissheit ablesen, die jene Zeit prägte. So schreibt Schleiermacher am 26. Januar 1809 von einem „dumpfen Zustande des Brütens und der Erwartung“ (BB 310). Knapp drei Wochen später schreibt er: „Es steht klar vor mir, daß in wenigen Monaten entweder alles gewonnen ist oder alles verloren, je nachdem die Regierung sich entschließen wird“ (BB 336). Am 12. März 1809: „Er [sc. Friz zu Dohna – CR] erinnerte mich zuerst an Deine Besorgnisse wegen Krieges. Diese scheinen sehr gegründet zu sein, und es ist einige, wiewohl wieder nur unsichere Hoffnung da, daß die Sache so allgemein wird, wie wir wünschen. Das sage ich aber nur Dir und unserer großen Jette. Indeß hoffe ich, daß nichts mich hindern soll zur bestimmten Zeit zu Dir zu kommen und Dich zu holen, ja ich werde es nur desto ernster und ohne weit in die Zukunft zu sehn betreiben, eben weil es unaushaltbar wäre, in solchem Zustande der Dinge getrennt zu sein, und durchaus nothwendig, daß wir nun alles zusammen erleben.“ (BB 367 f). Zwei Wochen später: „Auf diese [sc. alle Weltbegebenheiten – CR] sind wir übrigens sehr gespannt. Der Boden brennt allen, die es gut meinen, unter den Füßen. Niemand begrüßt die unselige Zögerung, mit jedem Tage, der noch friedlich hingeht, geht eine Hoffnung verloren – doch kann noch alles gut gehn und wird auch, hoffe ich.“ (BB 385). Am 2. April kommt Schleiermacher zu der pessimistischen Prognose: „Laß nur alle Sorgen dieser Art fahren. Alle überhaupt, kann ich nicht sagen, denn mich selbst ergreifen sie jezt oft. Es kann sehr schweres, sehr trübes kommen, die Zögerungen lassen nichts Gutes ahnden, die Veränderung in Schweden ist auch ein sehr nachtheiliges Ereigniß, und es wird fast mit jedem Tage wahrscheinlicher, daß alles schlecht gehn wird.“ (BB 390). Auch die Universitätsgründung in Berlin rückte kurz vor Schleiermachers Abreise nach Rügen zur Trauung und dem folgenden gemeinsamen Umzug mit seiner Braut nach Berlin noch einmal sehr ins Ungewisse. (Vgl. BB 397). Am 16. April 1809 konnte er schließlich schreiben: „Der Krieg ist nun ausgebrochen. Gott sei Dank, aber bei uns wird leider alles ruhiger bleiben, als zu wünschen wäre, und an eine Störung in unserer Reihe ist wol gar nicht zu denken.“ (BB 405). Der schmale Verwaltungsstaat hatte sich als zu anfällig für Gesinnungstäter wie das französische Heer erwiesen und so wurde der Ruf nach einem stärkeren Gemeinwesen in preußischen Landen laut. Germaine de Staël beschreibt das Problem anhand Friedrichs II. Die Festigkeit seiner Regierung sah sie gründen in militärischer Kraft und ziviler Gerechtigkeit; an der Kultivierung einer verbindenden öffentlichen Meinung aber mangelte es und so widersprachen sich seine Ideale: „Friedrich wollte, daß seine Soldaten blindlings gehorchende Maschinen und seine Untertanen aufgeklärte, der Vaterlandsliebe fähige Bürger wären.“ (Staël, Deutschland, 124). Die Schleiermachersche Position paraphrasiert Kurt Nowak nach einem Brief an Reimer als den Ruf nach der „Bildung eines wirklichen Staates, in der Gemeinschaft des Monarchen mit seinen Bürgern, der Verschmelzung von Öffentlichkeit
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die wir noch zwischen den früheren Schriften und der Christlichen Sitte und den Hausstandspredigten ausmachen werden, haben auch hierin einen Grund.¹²⁰ Die Betonung der Familie erscheint in diesem Lichte ganz in der Funktion einer gesellschaftlichen Restauration.¹²¹ Dennoch werden wir sehen, dass die Familie auch beim reifen Schleiermacher nicht kalt funktionalisiert wird und der Liebesgedanke seine Bedeutung bleibend behauptet. So ergibt sich aus der genannten Umakzentuierung kein Bruch, sondern eine begrüßenswerte perspektivische Aufweitung.¹²²
2.2 Die private Situation Ob man so weit gehen muss, zu behaupten, die Ethik des ‚sittlichen Genius‘¹²³ Schleiermacher, erschließe sich nur aus dem Zusammenhang seiner Biographie, mag mit einem Fragezeichen behaftet werden.¹²⁴ Dass die Befassung eines derart von privaten Erfahrungen beeinflussten Theoriefeldes, wie die Geschlechter- und Generationenethik, gleichwohl gut daran tut, einschlägige Konstellationen im Leben des Autors zu vergegenwärtigen, ist damit nicht in Abrede gestellt. Im Folgenden wollen wir vier Stationen skizzieren, die für die Entwicklung in Schleiermachers Ehe- und Familienverständnis besonders einschlägig erscheinen:¹²⁵ 1. Schleiermachers frühe Einflüsse und Schwärmereien, 2. seine Freundschaftsbeziehung zu Friedrich Schlegel, 3. die Liebe zu und der Kampf um Eleonore Grunow und 4. die Ehe mit Henriette v. Willich.
und Privatheit, von Macht und Kultur.“ (Nowak, Schleiermacher Leben, 178). In beiden Fällen geht es um die identifikatorische Verbindung von Einzelnem und Gemeinwesen. Zu dieser These vgl. Kluckhohn, Liebe, 456. Wilhelm Heinrich Riehl sprach in diesem Sinne (und in Anlehnung an das aristotelische Diktum) von der Familie als ‚Keimzelle der Gesellschaft‘. In kritischer Weiterführung und mit Rückbezug auf die Mitte des 20. Jahrhunderts beschreibt Heidi Rosenbaum die Familie als „Gegenstruktur“: die Familie ist sowohl die grundlegende Stütze des Einzelnen in einer zerschlagenen Gesellschaft als auch ein liberalisierendes, weil dezentralisierendes Element in einem gesellschaftlichen Totalitarismus. Vgl. Rosenbaum, Familie als Gegenstruktur. Generell zu einer stärker die Kohärenz als den Bruch im Schleiermacherschen Werk suchenden Interpretation vgl. die kenntnisreiche Interpretation seines Schülers August Twesten. (Twesten, Vorrede). Dilthey, Leben I, 238. Anwandlungen eines entsprechenden Genie-Kults zeigt Franz Vorländer, der den „Ausgangspunkt der Ethik Schleiermachers in seiner Persönlichkeit und Selbstbetrachtung“ erblickt (ders., Sittenlehre, 65 sowie weitergehend 66. 77 f). So urteilen im Anschluss an Wilhelm Dilthey auch Kurt Nowak (ders., Schleiermacher Leben, 7) und Elisabeth Hartlieb (dies., Geschlechterdifferenz, 67 f). Zur kritischen Anfrage dessen vgl. auch Frank, Selbstentfaltung, 55 f. Zu einem weitergehenden biographischen Überblick, der die Werkgeschichte integriert, vgl. klassisch Dilthey, Leben I.II. Nowak, Schleiermacher Leben. Sehr bündig: Birkner, SchleiermacherStudien, 113 – 123.193 – 206.251– 283. Zu weiteren Darstellungen siehe ebd., 206. 282 f.
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Schleiermachers frühe Einflüsse und Schwärmereien Während seiner schulischen Ausbildung in Niesky und Barby dürfte der Kontakt zu Mädchen und Frauen recht dürftig gewesen sein.¹²⁶ Das pietistische Misstrauen in die sexuelle Sittlichkeit des Menschen blieb als Fragehorizont Schleiermachers bestehen, wenn er sich später damit auseinandersetzte, ob ‚platonische‘ Freundschaft zwischen den Geschlechtern möglich sei und diese entgegen vielen zeitgenössischen Stimmen bejahte.¹²⁷ Als positiver Impuls aus der herrnhutischen Erziehung kann hingegen deren Frauenbild gelten. Dass Frauen nicht nur Feinfühligkeit, sondern auch Intelligenz besitzen, bekam der junge Schleiermacher hier gepredigt, bevor er es in persönlichen Beziehungen vielfältig erfahren sollte.¹²⁸ Dem darin liegenden Gedanken der Symmetrie der Geschlechter trug Schleiermacher sowohl unter vertragsrechtlicher als auch später unter romantischer Perspektive auf die Ehe Rechnung.¹²⁹ Als erste Frau, die sich anhand der Quellen ausmachen lässt, Schleiermacher stark beeindruckt zu haben, ist eine seiner Cousinen mütterlicherseits zu nennen.¹³⁰ Sie war die Ehefrau des Justizbürgermeisters von Landsberg an der Warthe Gottlob Wilhelm Benike.¹³¹ Im August 1789 schwärmte Schleiermacher Brinckmann von ihr vor¹³² und noch ein Dutzend Jahre später erinnerte er sich in einem Brief an Ehrenfried v. Willich an sie: „Bei einer artigen und sehr einnehmenden Gestalt hatte sie soviel Bildung und Welt als sie sich selbst in der sogenannten guten Gesellschaft einer kleinen Stadt hatte geben können“.¹³³ Was Schleiermacher neben ersten äußerlichen Vorzügen anzog, waren Belesenheit, Witz und Souveränität im geselligen Umgang. Ebendies fand er auch in den Jahren 1790 – 1793 während seiner Zeit als Hauslehrer in Schlobitten bei der Komtesse Friederike Gräfin zu Dohna. Verbot in jenem Fall die
Hartlieb, Geschlechterdifferenz, 69. 71. Vgl. L 196 f. 207– 209. Vgl. – auch zu weiterführenden Literaturhinweisen zum Frauenbild im Pietismus – Hartlieb, Geschlechterdifferenz, 69 – 71. In einem Fragment vom 11. Januar 1797 nimmt Schleiermacher positiv auf die Institution des Konkubinats Bezug, insofern die Frauen hier wirtschaftlich unabhängiger von den Männern blieben. „Wenn die Ehen nur Konkubinate wären könnte das weibliche Geschlecht weit mehr Verdienste haben, und eine Frau würde nie mehr gelten als sie werth wäre. Sie hätte Gelegenheit sich emporzuschwingen.“ (G I, 6., 7). Kurt Nowak sieht zwischen diesem Gedanken und den Monologen und Lucindebriefen einen „denkerische[n] und emotionale[n] Wechsel, der sich bei ihm in diesem Themenfeld innerhalb kurzer Zeit vollzog“ (Nowak, Schleiermacher und die Frühromantik, 286). Elisabeth Hartlieb macht dagegen zu Recht geltend, dass das romantische Liebesideal in jenem Fragment überhaupt nicht berührt ist, sondern es allein auf der Grundlage der Sexualitätsregulation operiert (dies., Geschlechterdifferenz, 110 – 112). D. h. es steht auf einem ganz anderen Blatt, dass vollkommene Symmetrie allein auf Grundlage einer individualitätsgeschwängerten und durchgeistigten, also der romantischen Ehekonzeption realisierbar ist. So Dilthey, Leben I, 70 im Ausgang vom Briefbefund. Ihr Vorname lässt sich wohl nicht mehr ermitteln, weshalb sie in der Forschung nur als ‚Frau Benike‘ auftaucht. Vgl. KGA V.5, XLI. Vgl. Brief 121, 143 f. Brief 1082, 181.
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bestehende Ehe eine Annäherung, so war es in diesem der beachtliche Standesunterschied.¹³⁴ Gleichwohl zog Schleiermacher großen Gewinn aus seiner Zeit im ostpreußischen Adelshaus, folgt man seiner späteren Auskunft gegenüber Eleonore Grunow: Die Kunst und die Frauen kannte ich noch gar nicht. Für die lezteren ging mir der Sinn erst in dem häuslichen Cirkel in Preußen auf. Dieses Verdienst um mich hat Friederike mit in die Ewigkeit genommen, und es wird, hoffe ich, nicht das geringste sein, was ihr schönes Dasein gewirkt hat. Und nur durch die Kenntniß des weiblichen Gemüthes habe ich die des wahren menschlichen Werthes gewonnen.¹³⁵
Neben dem einnehmenden Wesen der jungen Frau war es auch der Geist des Hauses, der Schleiermacher nachhaltig beeindruckte.¹³⁶ Nicht zufällig kommt er im Briefzitat wohl auf den Begriff des ‚Wertes‘ zu sprechen, entstand in jener Zeit doch die Abhandlung Über den Wert des Lebens, die Wilhelm Dilthey als den „erste[n] Entwurf der Monologen“¹³⁷ charakterisiert.¹³⁸ Die persönlichen Beziehungen zum Adel und gehobenen Bürgertum, wo der Kandidat Schleiermacher unbemühte Größe, die häusliche Tüchtigkeit mit gelehrter Weltläufigkeit zu verbinden vermag, erblickte, bereitete den Boden für dessen Lust an der Entdeckung des Individuellen. Hier begegneten ihm beeindruckende Frauen, die des romantischen Eheideals mit all seinen geistigen Komponenten würdig erschienen. Zugleich stand Schleiermacher stets in einem pädagogischen Verhältnis zu ihnen, was Wilhelm Dilthey zu der These führt, dass jene Verhältnisse bereits Schleiermachers spätere Frauenbeziehungen „zu Henriette Herz, zu Dorothea Veit, zu Louise Reichardt, ja in gewissem Sinne zu Eleonore Grunow“¹³⁹ – man wird auch seine deutlich jüngere Frau hier einreihen können – vorbildeten.¹⁴⁰
Trotz der gebührenden Distanz, die Schleiermacher wahrte, gab ihm sein Onkel Stubenrauch, den er brieflich von seiner Schwärmerei in Kenntnis gesetzt hatte, zu bedenken, „Er fürchte[…] nur das Eine, daß die Erinnerung solcher Anmuth ihn künftig des Glücks der Ehe berauben könne, da er in seinem bürgerlichen Stande schwerlich ihresgleichen finden werde.“ (Dilthey, Leben I, 52). Brief 1311, 88. Letzteren Aspekt betont Kurt Nowak besonders (ders., Schleiermacher Leben, 50 f). Dilthey, Leben I, 141. Passend dazu heißt es in den Monologen: „Im fremden Hause ging der Sinn mir auf für schönes gemeinschaftliches Dasein, ich sah, wie Freiheit erst veredelt und recht gestaltet die zarten Geheimniße der Menschheit […].“ (M 44). Dilthey, Leben I, 70. Dilthey, Leben I, 71: „Nicht Leidenschaften sind es, nicht was man Freundschaften nennt, sondern eine pädagogische Natur von einziger Größe giebt sich in Einwirkung und Mittheilung hin, vom innersten Sein anderer Menschen hindurchdringend bis zu den äußerlichsten Verhältnissen, überall sorgend und fragend und durch ihr bloßes Dasein und Mittheilen fremdem Streben eine höhere Form gebend […].“
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Die Freundschaft mit Friedrich Schlegel Mit Henriette Herz, geb. de Lemos, ist eine Freundin Schleiermachers benannt, die ihm die nächste Vertraute wurde.¹⁴¹ Gleichwohl mischte sich in ihre enge Freundschaft nie etwas von Liebe.¹⁴² Neben dieser Entwicklung einer wertvollen Seelenpartnerschaft öffnete ihre Bekanntschaft Schleiermacher die Tür zur Gesellschaft der geistigen Elite Berlins. In Herzens Salon verkehrten u. a. von Brinckmann, der ihn hier einführte, die Gebrüder von Humboldt, Tieck, Novalis, von Kleist, die MendelssohnTöchter Dorothea und Henriette sowie August Wilhelm und Friedrich Schlegel.¹⁴³ Letzterer muss an Charakter und Mentalität geradezu ein Antipode Schleiermachers gewesen sein.¹⁴⁴ Dieser Sachverhalt, verbunden mit der Genialität des jungen Denkers
Dilthey, Leben I, 202: „Wenn er scherzend sagt, sie sei doch eigentlich seine nächste verwandte Substanz und keine andere Wahlverwandtschaft könne sie je voneinander trennen, ja wenn er ausspricht, daß er sich sein Leben ohne sie nicht mehr denken möge: so ist diese tiefe Empfindung ganz so wahr […].“ Oben genannte Überzeugung Schleiermachers, dass es gegengeschlechtliche Freundschaften geben könne ohne eine Tendenz auf Liebe, hat wohl in dieser biographischen Erfahrung ihren Haftpunkt. (So auch Dilthey, Leben I, 202). Gegen Heinrich Meisner, der die Beziehung beider viel mehr als Spiel mit dem Feuer beschreibt (ders., BB, Einleitung, 6 f). Vgl. Nowak, Schleiermacher Leben, 82. Brief 424, 219 f: „Was seinen Geist anbetrift so ist er mir durchaus superieur […]. Aber nach seinem Gemüth wirst Du unstreitig mehr fragen als nach seinem Geist und Genie. Es ist äußerst kindlich, das ist gewiß der Hauptzug darin; offen und froh, naiv in allen seinen Aeußerungen, etwas leichtfertig, ein tödtlicher Feind aller Formen und Plakereien, heftig in seinen Wünschen und Neigungen, allgemein wolwollend aber auch, wie Kinder oft zu seyn pflegen, etwas ergwöhnisch und voll mancherlei Antipathien. […] Was ich aber doch vermisse ist das zarte Gefühl und der feine Sinn für die lieblichen Kleinigkeiten des Lebens und für die feinen Aeußerungen schöner Gesinnungen die oft in kleinen Dingen unwillkührlich das ganze Gemüth enthüllen. So wie er Bücher am liebsten mit großer Schrift mag, so auch an den Menschen große und starke Züge; das bloß sanfte und schöne fesselt ihn nicht sehr, weil er zu sehr nach der Analogie seines eignen Gemüths alles für schwach hält, was nicht feurig und stark erscheint. So wenig dieser eigenthümliche Mangel meine Liebe zu ihm mindert, so macht er es mir doch unmöglich ihm manche Seite meines Gemüths ganz zu enthüllen und verständlich zu machen. Er wird immer mehr seyn als ich, aber ich werde ihn vollständiger faßen und kennen lernen, als er mich.“ An diese Einschätzung schließt sich wohl das Urteil Rudolf Hayms an: „Von einem solchen Manne hätte Schlegel Ordnung, Ruhe, Geduld, bedachtsam fortschreitendes, stetig entwickelndes Denken lernen können. Allein, was er von Fichte nicht gelernt, er lernte es auch von Schleiermacher nicht. Der Bildungsfähigere war der letztere, und der Gewinn der neuen Freundschaft war daher durchaus auf des letzteren Seite.“ (Haym, Romantische Schule, 276). Ähnlich vernichtend über Schlegels Denk- und Produktionsweise äußert sich bereits Wilhelm Dilthey: „Kommt man von diesen merkwürdigen Blättern [seines Tagebuchs – CR] zu der in denselben Monaten, wohl ebenfalls in Jena, geschriebenen Rezension des philosophischen Journals, des Organs der jungen Fichte’schen Schule: so zeigt sein vorsichtiges Umhertasten am Aeußerlichsten, an der Form, an individuellen Ansichten, wie er seine Einfälle nicht zu entwickeln vermag. Er gleicht hier jemandem der ohne Licht durch ein ganz dunkles Zimmer sich mit großer Geschicklichkeit hindurchwindet, ohne irgend eins der vielen zerbrechlichen Möbel die umherstehen zu berühren. Eine unklare Gährung ward in seinem Geiste permanent; für jede neue Arbeit war ein neues Mittel zu finden, sie wenigstens – zu verbergen. Er hat nie auf festen Ergebnissen weiterbauen können.“ (Dilthey, Leben I, 230).
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erklärt die Anziehungskraft, die beide aufeinander ausübten.¹⁴⁵ Auf das Kennenlernen folgte ihre ‚Ehe‘,¹⁴⁶ eine ebenso kurze wie anregende Zeit der Wohngemeinschaft, deren Erwähnung wohl in keinem Anekdotenpotpourri zur Gelehrtenwelt der Romantik fehlen darf.¹⁴⁷ Die hier gefestigte freundschaftliche Verbundenheit beider Denker liefert einen Hauptgrund für Schleiermachers mutige Schützenhilfe, mit der er seinem Freund zur Seite trat. Schlegel hatte sich trotz der Warnungen seiner Weggefährten¹⁴⁸ mit der Veröffentlichung seines allzu autobiographisch geratenen Romans Lucinde sexualmoralisch ins Aus manövriert.¹⁴⁹ Schleiermacher unterstützte zwar im Grunde das darin geschilderte ganzheitliche Liebesideal,¹⁵⁰ bedurfte allerdings noch mancher Bekräftigung seitens des in Diskredit geratenen Freundes, um sich mit einer würdigenden Rezension in die Öffentlichkeit zu wagen.¹⁵¹ Damit hatte er sich festgelegt und musste sonach manche Rüge mittragen, die er allerdings schon im Vorhinein mit seiner ‚Zueignung an die Unverständigen‘ im Modus des Angriffs zu pa-
Vgl. Dilthey, Leben I, 234 f: „Friedrich [Schlegel – CR] war der erste geniale Mensch, der Schleiermacher gegenübertrat, der ihm darum das eigne Wesen erst in seinen Tiefen aufschloß durch seine Verwandtschaft wie durch seinen Gegensatz, und welcher andrerseits mit seiner Richtung auf das Große, auf Wirkung in der Welt, schöpferische Ausbreitung gerade da Schleiermacher zu Hilfe kam wo seine beschauliche Natur der Hilfe bedurfte, gerade in dem Augenblick da sein Anstoß nützen konnte. […] Es war eine glückliche Zeit voll froher Aussichten, in welcher sie sich gegenseitig in ihre Ideen einlebten und zu eingreifender Thätigkeit anspornten.“ Schleiermacher selbst schreibt über Schlegel (Brief 402, 177): „Er ist ein junger Mann von 25 Jahren, von so ausgebreiteten Kenntnißen, daß man nicht begreifen kann, wie es möglich ist bei solcher Jugend soviel zu wißen, von einem originellen Geist, der hier wo es doch viel Geist und Talente giebt alles sehr weit überragt […]. Er ist überall wo er hinkommt wegen seines Wizes sowol als wegen seiner Unbefangenheit der angenehmste Gesellschafter. Mir aber ist er mehr als das, er ist mir von sehr großem wesentlichen Nuzen […] fehlte es mir gänzlich an einem, dem ich meine philosophischen Ideen so recht mittheilen konnte und der in die tiefsten Abstraktionen mit mir hineinging. Diese große Lüke füllt er nun aufs herrlichste aus; ich kann ihm nicht nur was schon in mir ist ausschütten sondern durch den unversiegbaren Strom neuer Ansichten und Ideen der ihm unaufhörlich zufließt wird auch in mir manches in Bewegung gesezt was geschlummert hatte. Kurz für mein Daseyn in der philosophischen und litterarischen Welt geht seit meiner nähern Bekanntschaft mit ihm gleichsam eine neue Periode an.“ Brief 424, 219. Vgl. zu ihrem Zusammenleben Schleiermachers eigene Schilderungen im Brief an die Schwester: Brief 424, 217– 219. Vgl. Eichner, Einleitung, XLVIIf. Vgl. Eichner, Einleitung, XLIX-LIV Gegen Wilhelm Dilthey, der eine Grenzlinie zwischen Schleiermacher und dem verruchten Roman einzuziehen sucht, indem er die Verfassung der Lucindebriefe und Schleiermachers Haltung in denselben der Freundschaft zu Schlegel allein zuschreibt, wenn er fragt, „wie ein Buch entstehen konnte, das trotz einiger außerordentlich schöner und tiefer Ausführungen Schleiermachers nicht würdig ist. Man nehme alles zusammen. Er schrieb für den bedrohten Freund. […] Selten ist jemand dem Fluch der Uebertreibung und Sophistik entgangen, der unter ähnlichen Umständen, mit halbem Herzen eine verlorene Sache zu vertheidigen die Verpflichtung fühlte“ (Dilthey, Leben I, 506 f). Vgl. zur Abfassung seiner Kritik: Brief 696, 183. Brief 743, 281. Brief 751, 292. Brief 791, 377 f. Zur Würdigung der Lucindebriefe: Brief 830, 454. Brief 861, 19 f. Zum Drängen zur nicht anonymen Veröffentlichung derselben: Brief 771, 339 f.
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rieren suchte.¹⁵² Trotz der bleibenden hohen Wertschätzung, die Schleiermacher dem Freunde entgegenbrachte, trieben sie ihre Differenzen und die Übersiedlung Schlegels nach Jena auseinander.¹⁵³ Anders als dieser, der hernach in der römischen Kirche seinen Frieden suchte, hatte Schleiermacher sich vom ‚romantischen Feuer‘ nicht überhitzen lassen, sondern vermochte dessen Glut bis in die Zeit der Reife zu hüten.
Der Kampf um die geliebte Eleonore Grunow Einen Knick hatte das romantische Liebesideal gleichwohl auch bei Schleiermacher erfahren – bezeichnender Weise weder durch das Abkühlen einer heißen Affäre noch durch das Eingeständnis der Unerreichbarkeit eines Schwarms, sondern durch die jahrelange Unentschlossenheit der Eleonore Grunow. Sie war die Frau seines Pfarrkollegen am Invalidenhaus, August Christian Wilhelm Grunow.¹⁵⁴ Er muss ihre frühe Jugendliebe gewesen sein, was sie wohl innerlich verpflichtete, ihn auch zu ehelichen, obwohl er sie schon zum Zeitpunkt der Hochzeit „mit seiner Lieblosigkeit, seinen unausstehlichen Launen und seinem gänzlichen Mangel an Charakter und sogar an Ordnung und Regelmäßigkeit in den äußeren Dingen quälte“.¹⁵⁵ In Schleiermachers erster Berliner Zeit lernten er und Eleonore sich kennen und erkannten recht schnell, wie anregend und erhebend sie aufeinander zu wirken im Stande waren.¹⁵⁶ Im Zusammenhang ihrer Erwägungen, welche Folgen eine Scheidung für sie hätte, machte Schleiermacher ihr einen Antrag.¹⁵⁷ Es folgten Jahre der Ungewissheit, Sehnsucht und L 146 f. Vgl. dazu Dilthey, Leben I, 476 – 478. 532– 535. Arndt, Philosoph, 35 f.Wie schwer ihm der Abschied vom Freund fiel, drückt er in einer Notiz im fünften Gedankenheft aus: „Noch nie bin ich mit einem solchen Widerwillen durch die todte Stadt gefahren als bei Friedrichs Abreise. Es war als wäre ich allein, alle Träume gaukelten mir mit höchste gemeinen Gesichtern entgegen, und es war als wenn alle schlechten Gesinnungen der Schlafenden in mich den einzigen Lebendigen hineinfahren wollten. – Als ich auf dem Rükwege noch Menschen aus der Redoute kommen sah, das war mir noch unerträglicher.“ (G V, 69., 299). Virmond, Liebe, 47. So legt es Schleiermacher seiner Schwester dar, zit. n. Dilthey, Leben I, 479. Vgl. auch Brief 1119, 236. Schleiermachers Absage an die Verbindlichkeit der ersten Liebe (vgl. L 186 f) wird in Beobachtungen dieser Art ihren biographischen Hintergrund haben. „Sie gestand, daß das Schönste, was sie besitze, ihre innere Ruhe, sein Werk sei“ und er bekannte: „‚unter allen Seelen, die mich angeregt und zu meiner Entwicklung beigetragen, ist doch niemand mit Ihnen, mit Ihrem Einfluß auf mein Gemüth, auf die reine Darstellung meines Inneren zu vergleichen.‘“ (Dilthey, Leben I, 480). Nach einer Auskunft Schleiermachers entstammen tatsächlich sogar der Siebente und Achte der Vertrauten Briefe (L 195 – 212) ihrem Austausch, die mithin ein beredtes Zeugnis ihrer Liebe ablegen. (Dilthey, Leben I, 481). Vgl. auch Brief 1120, 244– 246. An die Schwester schreibt Schleiermacher: „Sie hatte tausend von der äußeren Welt und den Verhältnissen darin hergenommene Bedenklichkeiten die ich ihr denn aus unsern gemeinschaftlichen Grundsäzen widerlegte. Endlich sagte sie: Aber was würde ich denn gewinnen wenn ich ihn aufgäbe? Er würde, wenigstens auf lange Zeit noch unglüklicher sein; ich würde zu meiner Mutter aus tausend Gründen die Sie wohl fühlen nicht zurükkehren; ich würde allein leben von meiner Hände Arbeit, und dabei würden meine Kräfte sich auch nicht besser entwikeln können, und mein inneres Leben würde
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Enttäuschung. August Grunow erfuhr von der Liebe beider und suchte seine Frau unbeholfen an sich zu binden.¹⁵⁸ Dennoch fasste sie den freien Entschluss, sich von ihm scheiden zu lassen, was bis zu Schleiermachers Geburtstag im Jahr 1802 geschehen sein sollte.¹⁵⁹ Um Gerede zu vermeiden, nahm Schleiermacher die Empfehlung an, während dieser Zeit Berlin zu verlassen und trat eine Stelle als Hofprediger in Stolp an, dies allerdings nicht ohne Zweifel,¹⁶⁰ welche sich sodann zu seinem Leid bewahrheiteten. Grunow gab das Feld nicht kampflos auf.¹⁶¹ Hinzu kam, dass Eleonores Mutter starb und ihr mit einem kleinen Erbe die Hypothek des Anscheins hinterließ, nun vermögend den zuvor treu sorgenden Ehemann kaltherzig zu verlassen.¹⁶² Mehr verzagt als zielstrebig suchte sie nach einer kleinen Wohnung.¹⁶³ Reimer sollte in Erfahrung bringen, welche rechtlichen Konsequenzen genau mit ihrer Scheidung auf
eben auch nicht mehr gewinnen als daß ich des beständigen Widerspruchs zwischen dem innern und äußern endlich los wäre. Ach sagte ich, Sie könnten etwas weit besseres thun, Sie könnten meine Frau werden und wir würden sehr glüklich sein. Ich erschrak mich als ich es gesagt hatte, und sie auch. Es war der unwillkührliche Ausbruch eines Wunsches der sich erst mit den Worten zugleich gebildet hatte. […] Nach einer kleinen Pause sagte ich zu ihr: Liebe Freundin verzeihen Sie, das war eine entsezliche Uebereilung die uns beide in die peinlichste Lage sezen kann.“ (Brief 1072, 148 f). Bereits in einem Brief vom 20. November 1799 berichtet Schleiermacher von einer „im reinsten Eifer begangene[n] Unvorsichtigkeit“, die Eleonores „allerlei bittre Unannehmlichkeiten […] vielleicht vermehrt und verlängert habe“ (Brief 726, 248). Dies deutet darauf hin, dass er ihr den Antrag – gegen Dilthey, der ihn 1801 datiert (ders., Leben I, 483 f) – bereits im Herbst 1799 gemacht hat. Vgl. Brief 1113, 222 f. Vgl. Brief 1119, 236. Schleiermacher fühlte sich durch seine Liebe und diese Aussicht so sehr gebunden, dass er die ihm von einigen angeratene Möglichkeit ausschlug, die ihm geneigte, karrieregünstige und wohl auch feingeistige und schöne Tochter seines Mentors Friedrich Samuel Gottfried Sack, Henriette, zur Braut zu gewinnen. (Virmond, Liebe, 51 f). Vgl. Brief 1194, 361 f: „In weltlicher Rüksicht habt ihr auch recht; aber – nie wird die Arme es aushalten wenn sie grade in diesen schweren Tagen Niemanden hat an den sie sich anschließen kann. […] Wie mir während dieser Zeit in Stolpe zu Muthe sein wird, das weiß ich am Besten.“ Nicht ganz zufällig kamen ihm wohl in dieser Zeit folgende Ideen zu Novellen: „1. Der Arzt, gezwungen seinem (vermeinten?) Nebenbuhler das Leben zu retten. 2. Die Putzmacherin, welche die Braut ihres Geliebten schmücken soll.“ (Zit. n. Dilthey, Leben I, 293). Ebenfalls aus dieser Zeit finden sich zwei Tragödienideen, in denen sich Vater und (Schwieger‐)Sohn feindlich gegenüberstehen müssen. Vgl. Dilthey, Leben I, 293. Vgl. Brief 1233, 424: „Seit meiner Rükkunft lebe ich nun hier in der Confusion, meine nächste Umgebung die schreklichste Oede, und die Aussicht auf das, was nun kommen wird wo möglich noch öder! Doch bedaure ich mich nicht so als die gute Eleonore bei Allem was ihr bevorsteht. […] Grunow ist jezt von einer mir höchst fatalen Freundlichkeit gegen Leonoren nicht nur, sondern auch gegen mich, grade als bildete er sich ein, nun gewonnenes Spiel zu haben.“ Vgl. auch Brief 1304, 80: „Grunow hat ihr gesagt er wolle, wenn sie sich von ihm trenne, das seinige thun, damit sie nicht mit mir solle leben dürfen. Ich freue mich, daß er die ganze Schlechtigkeit so gerade herauskehrt: aber seine elende Feigherzigkeit wird doch über diesen schlechten Troz gewiß wieder siegen.“ Vgl. Brief 1408, 241. Henriette Herz behauptet, dass das Gegenteil der Fall war, nämlich, „daß er sie um all das Ihre brachte, und daß er sie nicht ernähren konnte.“ (KGA V.8, XXVIII). Vgl. Brief 1435, 284.
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sie zukämen.¹⁶⁴ Doch bevor alles anlaufen konnte, ließ Eleonore ihren Entschluss fallen und brach den Kontakt zu Schleiermacher Ende März 1803 ab,¹⁶⁵ dessen langes vormaliges Hoffen seine Enttäuschung umso größer machte.¹⁶⁶ Im August nahm Schleiermacher den Kontakt zu ihr wieder auf, zunächst allerdings in resigniertem Ton.¹⁶⁷ Um den Jahreswechsel erneuerte sie ihr Vorhaben der Scheidung,¹⁶⁸ was ihn bewog, nun stärker auf dessen Umsetzung hinzuwirken, notfalls auch gegen ihren zagenden Willen.¹⁶⁹ Am 11. März 1805 war vieles auf den Weg gebracht¹⁷⁰ und Ende des Monats verließ sie unter dem Vorsatz der Endgültigkeit das Haus ihres Mannes, sollte dort allerdings noch zwei Wochen ausharren, bevor sie zu ihrem Bruder ziehen könnte, der die rechtlichen Schritte der Scheidung vorantreiben wollte.¹⁷¹ Erst Ende September 1805 war es endlich so weit; die Scheidungspapiere waren aufgesetzt, ein Zimmer für Eleonore angemietet und ihr der Druck der Verhandlung genommen, die der Bruder für sie mit dem Ehemann führte.¹⁷² In einem Brief Schleiermachers an Henriette v. Willich können wir die seelische Dramatik der Ereignisse nachvollziehen, die dann folgen sollten. Am 9. Oktober 1805 spekulierte er noch über Zeit und Ort der bevorstehenden Hochzeit mit Eleonore, was von der Kooperationsbereitschaft ihres Noch-Ehemanns im Prozess abhinge¹⁷³ und neun Tage später schreibt er fassungslos: Eleonore ist plözlich, unmittelbar vor der Bekanntmachung des TrennungsUrtheils von ihren alten Zweifeln und GewissensScrupeln überfallen worden, ist sogleich zu Grunow zurükgegangen und hat jede Gemeinschaft mit mir aufgehoben. Ich weiß nicht ob sich irgend Jemand meinen Zustand denken kann, es ist das tiefste ungeheuerste Unglük.¹⁷⁴
Vgl. Brief 1456, 317. Vgl. Brief 1468, 333. Vgl. Brief 1465, 330 f: „Gestern Abend stand ich ganz ausgekleidet im Begriff schlafen zu gehen mit den Armen auf den Tisch gestützt zwei Stunden lang; da überfiel es mich in seiner ganzen Bitterkeit und Herbe. Aber die Unglückliche, sie wird doch auch das hören müssen. Sie fühlt schon, daß es ihr das Leben kostet, und sie wird auch bald sterben. Ich kann ordentlich wünschen daß sie eher stürbe als ich, denn wenn sie meinen Tod erlebte würde sie wieder eine andre Reue anfallen. Sie mag sich sputen, denn Gram und Anstrengung werden auch mir bald zu Gift werden. Noch habe ich wenig an mich gedacht, aber wenn es kommt überfällt mich ein kaltes Grausen.“ Vgl. Brief 1534, 450 f. Vgl. Brief 1632, 188. Vgl. Brief 1695, 282 f. Vgl. auch Brief 1834, 7. Vgl. Brief 1931, 150. Vgl. Brief 1951, 182. Vgl. Brief 2040, 325 f. Vgl. Brief 2046, 335. Brief 2046, 335 f. An Gaß, dem er einen Monat später von den Ereignissen berichtet, fügt er hinzu: „Die Unglükselige warum mußte sie so lange sich selbst und mich täuschen. Wol mir daß ich mir das Zeugniß geben kann ich habe nie gesucht ihre Ueberzeugung über diesen Punkt zu bestechen. Daß sie nun alle Gemeinschaft zwischen uns aufhebt, daran thut sie vollkommen recht. Es ist nothwendig wenn sie auf ihrem Entschluß beharren will. Wie hofnungslos mein Leben ist, und wie zerstört mein ganzes Inneres davon können Sie Sich kaum eine Vorstellung machen.“ (Brief 2072, 368).
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Was von der langen Episode blieb, war eine Ernüchterung – keine Vernichtung (!) – seines Geistes und seines Liebesideals.¹⁷⁵ Mancher Schmerz hatte sich Ausdruck verschafft in Gedichten und Notizen.¹⁷⁶ Bald aber fasste sich Schleiermacher wieder, sagte der Zweisamkeit ab¹⁷⁷ und fand sie kurz darauf wieder, diesmal allerdings unter gänzlich neuen Vorzeichen.
Die Ehe mit Henriette v. Willich Johann Ehrenfried Theodor v.Willich, langjähriger Freund Schleiermachers starb 1807 und hinterließ seine junge Frau Henriette, geb. v. Mühlenfels,¹⁷⁸ mit einer Tochter und dem noch ungeborenen Sohn.¹⁷⁹ Mit dem Ehepaar, v. a. mit ihm, hatte Schleiermacher schon während der Verstrickungen mit Eleonore einen intensiven Austausch gepflegt. Nun war sie es besonders, die des Rates und Beistandes bedurfte und Schleiermacher nahm sich ihrer väterlich an.¹⁸⁰ Doch bald dämmerte beiden die Möglichkeit, dass aus
Vgl. Meisner, BB, Einleitung, 11 f. Vgl. die Gedichte aus seiner Stolper Zeit. Einige Verse seien hier exemplarisch zitiert: „Ein heilges Bild schwebt Jedem Bessern vor | In dessen Züg‘ er strebt sich zu gestalten. | Wem sich die Kräfte so bestimmt entfalten | Nur der hebt sich zur Sittlichkeit empor. || […] || So hofft ich nach dem schönen Ziel zu kommen | Ergriff in kühnem Muth der Liebe Hand | In seltne Höhen mich mit ihr zu schwingen. || Jezt ist durch herbe Pein das Herz beklommen | In liebeleere Wüste streng verbannt | Wird unter Thränen wenig mir gelingen.“ (Endfassung eines Gedichts, das er seiner Sendung der Monologen an Charlotte Kathen am 10. August 1803 beigab, zit. nach Gedichte 5). „Lebensüberdruß || Ohne der Wemuth Schmerz und die liebenden Thränen verschmäht | Nüchternes Lebens Genuß willig ein kräftiger Geist. | Doch zu häufig gemischt, und es steht vom verbitterten Mahl | Unauslöschlichen Dursts auf der betrogene Gast.“ (Gedichte 9). „‚Wo mag die Braut doch bleiben? ich sehne mich so sehr!‘ – | Ach sie kann mit Dir nicht leben | Mußt sich Deinem Feinde geben | Jammre weine nur sehr | Siehst sie nimmermehr.“ (Aus ‚Der Verlassene‘, Gedichte 14). Es folgen Strophen zu Freudverlust und Todessehnsucht. Vgl. auch G V, 199., 332 f. Hugo Weizsäcker sieht Schleiermacher persönlich am Ende der Weihnachtsfeier das Wort ergreifen (ders., Eheproblem, 26), wenn Josef spricht: „Wie ein Kind den kindischen Schmerz erstickt, und die Seufzer zurückdrängt und die Tränen einsaugt, wenn ihm eine kindische Freude gemacht wird: so ist mir heute der lange, tiefe, unvergängliche schmerz besänftigt, wie noch nie. Ich fühle mich einheimisch und wie neugeboren in der besseren Welt, in der Schmerz und Klage keinen Sinn hat und keinen Raum. Mit frohem Auge schaue ich auf alles, auch auf das Tiefverwundende.Wie Christus keine Braut hatte als die Kirche, keine Kinder als seine Freunde, kein Haus als den Tempel und die Welt, und doch das Herz voll himmlischer Liebe und Freude: so scheine ich mir geboren, auch darnach zu trachten.“ (W 531 f). Am 13. März 1807 übermittelt sie ihm diese Nachricht. Vgl. Brief 2432, 370 – 372. Vgl. Brief 2435, 380. Noch bis in die frühe Verlobungszeit hinein reden sie einander in ihren Briefen als Vater und Kind an. Erst später betonen sie den Generationenunterschied nicht mehr in dieser Weise und finden andere Koseformen. Vgl. BB 1– 105.
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ihrer ungleichen Freundschaft auch mehr erwachsen könnte.¹⁸¹ Zwar brauchte die junge Witwe noch einige Zeit, sich innerlich von Ehrenfried zu lösen,¹⁸² der Unterschied an Alter und Intellekt zwischen ihnen war nicht unerheblich¹⁸³ und die Kinder aus erster Ehe, besonders die größere Tochter, waren nicht leicht zu nehmen;¹⁸⁴ doch im Vergleich zur Grunow-Geschichte waren diese Verhältnisse klar und unbeschwert und dies spürt man den Brautbriefen, besonders den späteren, auf jeder Seite ab.¹⁸⁵ Am 18. Juli 1808 verlobten sie sich auf Rügen.¹⁸⁶ Um Familie und Bekannte nicht zu irritieren und in jener politisch wie beruflich unklaren Zeit wieder festen Tritt zu bekommen, veranschlagte Schleiermacher eine relativ lange Verlobungszeit. Am 18. Mai 1809 segnete der Schwager der Braut, Heinrich Christoph v. Willich ihre Ehe in Sagard auf Rügen ein und Schleiermacher konnte Henriette mit ihren zwei Kindern in das frisch bezogene Pfarrhaus der Dreifaltigkeitsgemeinde in Berlin heimführen.¹⁸⁷ Am Anfang konnte er sich noch ganz unbeschwert geben im Sinne seines Brautbriefes vom 29. Oktober 1808:
Schon am 17. Dezember 1807 äußerte Schleiermacher den Wunsch: „Ob es mir wird beschieden sein, dann auch mit Dir nahe zusammen zu leben, das mag Gott leiten. Ich kann es so innig wünschen und es mir als die größte reinste Freude denken […].“ (Brief 2592, 608). Anfangs beteuert Schleiermacher immer wieder, er wolle Ehrenfried nicht ersetzen, würde sich auch mit seinen geschlechtlichen Ansprüchen ganz zurückhalten (vgl. BB 111), doch noch während der Verlobungszeit gelang ihm der Balanceakt zwischen einer bleibenden Würdigung des Verstorbenen und dessen Beziehung mit seiner Braut (vgl. BB 107. 111. 123. 144. 256. 329 f) und der Überbietungen des Gewesenen durch die eigene bevorstehende Ehe (vgl. BB 134 f. 157. 252. 259 f), mit allen Aspekten, die dazugehören (vgl. BB 177). Ein wenig irritierend erscheint dagegen die spätere These (ChS 352 Fn (Vl 1826/27)): „Sie [sc. die Deuterogamie] wird von selbst aufhören, wenn universell und individuell, sittlich alle so durchgebildet sein werden, daß es gleich unmöglich sein wird, nach dem Tode des Ehegatten Ersaz zu suchen und zu finden.“ Vgl. BB 113. 322. Vgl. BB 263. 305 f. Vgl. auch Nowak, Schleiermacher Leben, 374. Schleiermachers vormalige Liebe zur Grunow war auch in den Briefen mit der Braut Thema. Schon im Januar 1806 schrieb Schleiermacher ihr über seinen Schmerz in Bezug auf Eleonore und die Freude an Henriette und ihrer jungen Familie (Brief 2128, 445 – 447); auf Kinder konnte er sich mit Eleonore ohnehin nur wenig Hoffnung machen (Brief 1082, 178 f). Später kann dann der Verlobte seine Braut gänzlich beruhigen, indem er schreibt: „Daß Du Dich so in die traurigste Zeit meines Lebens hineingelesen hast und so innigen Theil daran genommen, hat mich recht erfreut. […] Du glaubst auch nicht, was für eine Ruhe über diese ganze Zeit in mir ist, nur daß ich freilich nicht begreife, wie sie wesentlich in mein Leben gehört hat, wenn es nicht ist, daß ich gerade dadurch über manches, was zur Ehe gehört, habe richtiger denken gelernt, und so kommt sie auch Dir zu gute, meine theure Geliebte.“ (BB 311). Und schon vorher schrieb er: „die erste, doch nur leise Schuld abgerechnet, die ich hart genug gebüßt habe, fühle ich mich rein“ (BB 106). Auch eine weitere Frau, um die sich Schleiermacher wohl in der Zwischenzeit bemühte (vgl. die Briefnotiz von Louise Reichardt am 3. März 1807 in: KGA V.9, XXXII) wird angesprochen: Caroline Wucherer (vgl. BB 296). Diese zog es aber nicht so sehr zu Schleiermacher und so kann er Entwarnung geben (vgl. BB 252). Voller Frohsinn darüber, in seinem reiferen Alter von knapp 40 Jahren noch eine Braut gefreit zu haben, zählt er in seinen Briefen an sie die Tage, Wochen und Monate seit dem denkwürdigen Ereignis auf der Brunnenaue. Vgl. BB 110. 169. 204. 255. 305. 363. Vgl. Nowak, Schleiermacher Leben, 208.
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Das sind alles Züge aus meinem [sic] tiefsten Anschauungen von Liebe und Ehe, aber ich habe das alles doch nie so klar gesehen als jezt, da ich sie selbst als mein Eigenthum ansehe und der schönsten seligsten Hoffnungen lebe.¹⁸⁸
Noch Heinrich Meisner bewertet – vielleicht im Anschluss an Dilthey und Haym – Schleiermachers frühe Positionierungen zu Liebe und Ehe als ‚böses Kapitel in seinem Leben‘, von dem ihn die Wirren um Eleonore geläutert und die Ehe mit Henriette erlöst hätten.¹⁸⁹ Sein Pathos, in Henriette „ein wahres Frauenbild ihrer Zeit“ zu preisen, fällt hingegen schwer, wenn man sich vor Augen hält, dass ihre „Herzensinnigkeit, Sehnsucht und Schwärmerei“¹⁹⁰ bedeutete, und dass Schleiermacher es ertragen musste, das Medium Karoline Fischer in seinem Haus zu beherbergen, der Henriette bedingungslos ergeben war.¹⁹¹ In Stickigkeit, Schweiß und dunklen Tönen malt Klaas Huizing so eindrücklich wie quellenstimmig das Heim der Schleiermachers und lässt Jette resümieren: „Ernst hatte es ausgehalten. […] Ja. Er war ein Märtyrer der Ehe gewesen.“¹⁹² Obwohl seit 1817 in ‚Sackens Palais‘ wohnhaft, das sein Verleger Georg Reimer erworben hatte, war mit dieser asozialen Seherin im Haus, die noch dazu die Kinder für sich vereinnahmte, kaum ein Leben in der großbürgerlichen Geselligkeit, Gastlichkeit und Unbeschwertheit möglich, derer Schleiermacher so sehr bedurfte.¹⁹³ Auch mit Nebenbuhlern hatte er sich auseinanderzusetzen. Der deutlich jüngere Offizier Alexander von der Marwitz hatte um das Jahr 1813 seiner Frau den Kopf verdreht, doch Schleiermacher gelang es, diese schwere Belastungsprobe seiner Ehe zu überwinden und seine Frau in Liebe und Geduld zu sich zurückzuführen.¹⁹⁴ Paul Kluckhohn erblickt in jenen ehelichen Schwierigkeiten sicherlich nicht zu Unrecht den Grund für manch schärfere Konturierung der Geschlechtsunterschiede und manch nüchternere Fassung der Aufgaben der Ehe in den Werken der Reife,¹⁹⁵ wenngleich gilt: Das Ziel möglichst tiefer Erfüllung des Begriffes der Ehe auf Grund seiner Auffassung der Individualität bleibt der Leitstern für Schleiermachers Stellung zu den Problemen der Liebe und der Geschlechter zu allen Zeiten seines Lebens und Schaffens.¹⁹⁶
BB 182. BB, Einleitung, 7– 15. BB, Einleitung, 15. Der Fluch der Esoterik lag wohl schon länger auf der Familie Schleiermacher. Bereits sein Großvater Daniel hatte Probleme mit einer prophetischen Sekte, der er zunächst anhing, die er aber dann ablehnte und die ihn daraufhin wiederum der Hexerei verklagte. (Vgl. Dilthey, Leben I, 4– 8). Schleiermachers Vater, der unter diesen Querelen aufwuchs, tendierte sodann zum Kirchenglauben. (Dilthey, Leben I, 8 – 10). Huizing, Jette, 306. Vgl. dazu auch Nowak, Schleiermacher Leben, 374– 376. Vgl. Weizsäcker, Eheproblem, 35 f. Kluckhohn, Liebe, 461– 463. Kluckhohn, Liebe, 463.
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Trotz mancher Beschwerungen bescherte seine Frau ihm doch den Segen eines Familienlebens. In den Jahren 1810 – 1820 gebar sie ihm drei ‚Grazien‘ und einen Sohn.¹⁹⁷ Letzterer mit Namen Nathanael, dem Schleiermacher besondere pädagogische Pflege angedeihen ließ, starb nach kurzer schwerer Krankheit neunjährig am 29. Oktober 1829. Der Schmerz darüber legte sich in Schleiermachers Gemüt bis zu seinem Tod.¹⁹⁸ Die kurze Ansprache, die er an seinem Grab hielt, gehört zu den rührendsten Texten aus seiner Feder.¹⁹⁹
2.3 Der Quellenbestand Der Themenkreis von Ehe und Familie entfaltet seine Bedeutung in verschiedensten Hinsichten. Er ist verankert in Ethik, Kulturtheorie, Psychologie und Pädagogik, aber auch in Naturphilosophie, Jurisprudenz und Religion. Diese Polyvalenz macht es verständlich, dass wir im Werk Schleiermachers in Abhandlungen und Textgattungen unterschiedlichster Art auf das Thema stoßen. Im Umkehrschluss bringen es die große Breite des geistigen Schaffens Schleiermachers und seine Fähigkeit zur systematischen Korrelation der verschiedenen Theoriedimensionen mit sich, dass er das Familiale sehr vielgestaltig, aber ohne Verzicht auf innere Konsistenz behandelt. Bevor er selbst dazu in der Lage war, sein komplexes ethisches System auszuarbeiten, hatte sich Schleiermacher an Klassikern geschult. So verdanken sich viele seiner späteren Thesen immer auch einer Auseinandersetzung mit diesen. Schon den jungen Herrnhuter in Barby trieb es zur Lektüre der antiken Philosophen und der dort verbotenen zeitgenössischen Dichter sowie Kants.²⁰⁰ Nachdem der entsetzte Vater seinem Drängen nachgab, freier studieren zu dürfen, begab sich Schleiermacher nach Halle in die Lehre Johann August Eberhards.²⁰¹ Der Philosoph und Philologe begleitete ihn in seinen sehr autodidaktisch angelegten Studien.²⁰² Ein erster Niederschlag dieser Betreuung, die nicht ein bloßes Lehrer-SchülerVerhältnis bildete, sondern durchaus dialogische Qualitäten besaß, sind die Anmerkungen zu Aristoteles von 1788, denen Schleiermacher ein Jahr später – allerdings zu spät für eine Veröffentlichung – noch eine Übersetzung des 8. und 9. Buches der Nikomachischen Ethik beigesellte.²⁰³ Hierbei hatte er nicht nur philologische Erfahrungen für sein späteres Platon-Projekt gesammelt, sondern er hatte aus jener Beschäf-
Nowak, Schleiermacher Leben, 371 f. So beschreibt es der Zeitgenosse Karl Gutzkow in seinem Nachruf auf den Verstorbenen: Gutzkow, Schleiermacher, 305. P 11, 507– 512. Vgl. Nowak, Schleiermacher Leben, 26 – 30. Den großen Johann Salomo Semler, der zu jener Zeit noch in Halle lehrte, fand der junge Student nicht den Weg, rezipierte ihn aber in seinen Schriften. (Vgl. Nowak, Schleiermacher Leben, 33). Vgl. Nowak, Schleiermacher Leben, 35 f. Vgl. Meckenstock, KGA I.1, Einleitung, XXXVIIIf.
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tigung auch inhaltlich für seine eigenen geselligkeitstheoretischen und familienethischen Konfigurationen einigen Gewinn gezogen. Zu nennen wären paradigmatisch die Einordnung der Ehe in den Rahmen von Freundschaft und Geselligkeit und die Bestimmung der Familie zur gesellschaftlichen Grundkonstante. Dennoch zählte er Aristoteles nie unter seine Favoriten antiker Autoren,²⁰⁴ sondern hatte formale²⁰⁵ und erkenntnistheoretische²⁰⁶ Gründe, ihn abzulehnen. Weit mehr konnte er sich für dessen Lehrer Platon erwärmen,²⁰⁷ den er gewiss bereits am Pädagogium kennengelernt hatte und zu dem auch sein Lehrer Eberhard geforscht hatte.²⁰⁸ Die Bedeutung Platons für die zeitgenössische Philosophie ging Schleiermacher jedoch erst in der ‚Symphilosophie‘ mit Friedrich Schlegel auf,²⁰⁹ der es anregte, Platon nicht bloß in rekonstruierender Systematik – wie es lange üblich war – zu rezipieren, sondern seine Werke im Original zu lesen und einem breiteren Publikum in Übersetzungen vollständig zugänglich zu machen, um ihn sowohl werkgenetisch als auch stilistisch zu interpretieren.²¹⁰ Die Übersetzungs- und Forschungsarbeit blieb letztlich an Schleiermacher hängen, dem daher mit Recht der Ruhm als Begründer der modernen Platonforschung zukommt.²¹¹ Für unsere Fragestellung nicht unerheblich ist, dass Schleiermacher Platons Dialog über die Liebe, das Symposion, unter dessen Hauptwerke rechnete.²¹² Ein weiterer für unser Thema besonders einschlägiger Dialog ist der ebenfalls in einer Übersetzung Schleiermachers vorliegende Phaidros. Wie bereits angedeutet, war Schleiermachers Interesse an Platon nicht allein historischer und philosophisch-inhaltlicher Art. Auch in seiner Darstellungsform machte Platon eine große Wirkung auf ihn und so versuchte Schleiermacher sich auch selbst in diesem Stil 1800 mit seiner Abhandlung Über das
BB 307: „wenn ich nur drei Bücher, die Bibel ungerechnet, aus dem Alterthum retten sollte, so würden es doch keine anderen sein als der Homer, der Herodot und der Platon.“ Einige Briefe zuvor schreibt er (BB 251): „Ueberhaupt wollen wir noch recht viel im Alterthum leben, das ja uns Deutschen näher getreten ist, als irgend einem andern Volke.“ Vgl. Herms, Menschsein, 170 f. Vgl. Dilthey, Leben I, 85. Vgl. Brief 883, 82: „Es giebt gar keinen Schriftsteller der so auf mich gewürkt und mich in das Allerheiligste nicht nur der Philosophie sondern der Menschen überhaupt so eingeweiht hätte, als dieser göttliche Mann“. Vgl. Eberhard, Neue Apologie des Sokrates. Vgl. Brief 1294, 70: „Wie wenig habe ich den Plato, als ich ihn zuerst auf Universitäten las im Ganzen verstanden daß mir oft wohl nur ein dunkler Schimmer vorschwebte, und wie habe ich ihn dennoch schon damals geliebt und bewundert“. Vgl. Arndt, Philosoph, 266 f. 284. Wie ein hochstaplerischer Bengel, der lieber Heldentaten ankündigt, als sie in Mühen zu vollbringen, schreibt Schlegel an den schon oft versetzten Freund und Projektkollegen: „Wegen des Plato ist mir am wenigsten bange. Du wirst schon für ihn sorgen, und ich will auch noch mein Scherflein an ihn abtragen, mag es gehn wie es will. […] so würde ich 1) sogleich eine Kritik des Plato als einzelne Schrift herausgeben […] das Uebersetzen ist wohl eigentlich nicht sehr meine Stärke. Ich habe keine rechte Neigung dazu“ (Brief 1490, 363). Vgl. EP 273 – 286. Vgl. dazu Arndt, Philosoph, 275 f.
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Anständige, in der Sophron und Kallikles die moralische Dignität des Anstands diskutieren,²¹³ und sechs Jahre später mit seiner Weihnachtsfeier. ²¹⁴ Beiden philosophischen Gesprächen lässt sich ablesen, was Schleiermacher auch bei Platon in dieser Hinsicht beeindruckt hatte: Die Gestalt des Dialogs bietet nicht allein ein Erfrischungspotential, durch das sich der Leser neben einer argumentativen Belehrung auch unterhalten sieht.²¹⁵ Sie ermöglicht es zudem, Thesen und Argumente elegant nebeneinanderzustellen. Auf diese Weise lassen sie sich in ihrem jeweiligen Geltungsanspruch würdigen, ohne dass auf eine Differenzierung und Lozierung ihrer Geltungsreichweite verzichtet werden müsste. Gerade für Fragen, die in die Sphäre des Geschmacks und der subjektiven Stimmigkeit zielen, erweist sich diese relativierende Gestalt des Philosophierens als äußerst fruchtbar.²¹⁶ Neben den antiken Klassikern, die Schleiermacher von Eberhard vorgeführt bekam, ermutigte dieser ihn zur Kritik am Stern des zeitgenössischen Philosophenhimmels, der in Königsberg aufgegangen war.²¹⁷ Frühen Studien und Abhandlungen, wie jener Über das höchste Gut und dem Freiheitsgespräch folgte 1803 die größer angelegte Kritik der bisherigen Sittenlehre, in der er sich an den bedeutendsten ethischen Systemen von der Antike bis zu Kant und Fichte abarbeitete. Auch in Schleiermachers Ablehnung der Indienstnahme der Religion für die Moral haben wir uns Kant als Widerpart vorzustellen, sodass die Frage des Redners gar nicht so sehr ins Ungefähr geht, wie sie anmuten mag, wenn er seine Hörer anruft:
Zu einer bündigen kritischen Würdigung des Dialogs vgl. Dilthey, Leben I, 504 f. Etwas ausführlicher: Oberdorfer, Geselligkeit, 510 – 517. Zwar gibt er im fünften Gedankenheft direkte Hinweise darauf, dass ihm Platon für seinen Stil im Dialog Über das Anständige Pate stand (G V, 44 f, 293), den Ruhm einer vollwertigen Adaption des platonischen Stils wollte Schleiermacher sich (für seine Weihnachtsfeier) dennoch nicht gefallen lassen und so schrieb er nach einem entsprechenden würdigenden Urteil des Historikers Johannes von Müller an Henriette Herz: „Der Platon ist wahrlich zu viel der Ehre für das kleine Büchlein. Damit mag er warten bis zu meinen philosophischen Dialogen.“ (Zit. n. Nowak, Schleiermacher Leben, 166). Tatsächlich sahen viele andere seiner Zeitgenossen, wie Friedrich Schlegel, Achim von Arnim und Clemens Brentano in diesem Büchlein einen unheimlichen stilistischen Dilettantismus am Werk. Vgl. Nowak, Schleiermacher Leben, 172 f. Dem Gespräch geht immer auch eine Hinführung voraus. Die Ortsangabe ist nicht unerheblich. So handelt der Dialog über die Unsterblichkeit (Phaidon) im Kerker vor der Hinrichtung des Sokrates und das Gespräch über die Liebe und das Schöne (Phaidros) im sommerlichen Schatten einer prächtigen Platane, wo ein Bächlein fließt und blühende Büsche duften. Die Bedeutung des Christfestes lässt Schleiermacher entsprechend im Rahmen einer bürgerlich intimen Weihnachtsfeier diskutieren. Mit der Bedeutung des Weihnachtsfestes und der damit verbundenen Frage nach der subjektiven Einholung christologischer Lehrsätze hat Schleiermacher einen Paradefall für die Anwendung jenes Typs des Philosophierens ausgemacht. Auch bei Platon selbst sehen wir, dass der Dialog sich in der Sphäre des Wähnens – etwa in Gestalt der Erwägungen zur Unsterblichkeit im Phaidon – als deutlich wirkungsvoller erweist, als etwa in der Politeia. Bei Eberhard war die Kritik v. a. darin begründet, dass er an der leibniz-wolffschen Philosophie festhielt. Trotz mancher Unzeitgemäßheit, die sich daraus bei ihm ergab, eröffnete ihm diese Grundeinstellung zugleich das Potential, manche Unschärfe und Schieflage im kantischen System aufzudecken. Vgl. Nowak, Schleiermacher Leben, 37 f.
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Die Furcht vor einem ewigen Wesen und das Rechnen auf eine andere Welt, das, meint Ihr, seien die Angel aller Religion […]. Sagt mir doch also, Ihr Theuersten, woher habt Ihr diese Begriffe von der Religion, die der Gegenstand Eurer Verachtung sind?²¹⁸
Ebenso werden wir Kants Geschlechterethik von Schleiermacher einer deutlichen Kritik unterzogen sehen. Dabei wollen wir freilich nicht außer Acht lassen, dass Kant bei aller Kritik zugleich zu den Fundamenten des Schleiermacherschen Denkens zählt. Schon in seinen frühen Studien und Kritiken offenbarte sich die konstruktive Kraft Schleiermachers, die er in seiner frühromantischen Phase ganz hervortreten ließ. Dem Fragment gebliebenen Versuch einer Theorie des geselligen Betragens aus dem Jahre 1799, dessen Verfasserschaft aufgrund der anonymen Veröffentlichung jedoch lange im Dunkeln geblieben war,²¹⁹ folgte noch im selben Jahr sein erster publikatorischer Paukenschlag: die Reden über die Religion. Dem leichtfüßigen wie gedankenschweren Programmbüchlein seiner Religionstheorie schickte er ein halbes Jahr später mit den Monologen einen sich in seiner Publikumsausrichtung ganz ähnlich ausnehmenden Aufriss seiner Ethiktheorie nach. Anlass zu einer ersten Konkretion seiner ethischen Auffassungen bot ihm Friedrich Schlegel mit seinem Drängen auf eine öffentliche Stellungnahme zu seinem Skandalroman. Im Juni 1800 veröffentlichte Schleiermacher seine Rezension der Lucinde in Briefform – er bediente sich also wieder einer leichteren Schriftgattung, in der er es sich mit dem Buch des Freundes jedoch ganz und gar nicht leicht machte, sondern in seiner zwar freundlichen aber zugleich differenzierten Würdigung bereits tief blicken ließ in seine eigenen Anschauungen zur Sexual- und Geschlechterethik. In diesem thematischen Zusammenhang ist auch das ältere Athenäumsfragment der Idee zu einem Katechismus der Vernunft für edle Frauen zu nennen. Alle genannten Werke jener Zeit sind geprägt von einer Betonung der Individualität und persönlichen Authentizität, einer Verinnerlichungstendenz und emotionalen Sprachaufladung. Zugleich aber halten sie die Bedeutung von Sozialität, Sitte und äußerlichen Formen im Horizont. Damit legen sie Grund, was auch Schleiermachers spätere Ausarbeitungen der entsprechenden Theoriesphären bestimmen sollte.²²⁰ An jener Kontinuität war ihm selbst sehr gelegen. Wenn es dem sich Zeit seines Lebens als Herrnhuter verstehenden Denker, der die Impulse der Frühromantik bis ins Werk der Reife trug, ein Anliegen war, Umgestaltungen nicht als Brüche erscheinen zu lassen, sondern lediglich als Neuinterpretation bzw. Schärfung von bereits Vorhan-
R 198. Selbst Wilhelm Dilthey hatte sie nicht erkannt. Vgl. Meckenstock, KGA I.2, Einleitung, L-LIII. Jene Einschätzung teilen auch Hugo Weizsäcker (ders., Eheproblem, 14. 46. 54 f) und Elisabeth Hartlieb (dies., Geschlechterdifferenz, 15). Wilhelm Dilthey, Rudolf Haym und Epigonen betonten hingegen einen Bruch zwischen dem Frühromantiker und dem reifen Kirchenlehrer.Vgl. dazu pointiert Frank, Selbstentfaltung, 17 f.
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denem,²²¹ dann ist es nicht abwegig, dem auch hier Rechnung zu tragen. So wollen wir in unserer thematisch gegliederten Studie zwar die werkgenetischen Differenzen nicht verschweigen, sondern im Gegenteil, als auch sachlich aufschlussreiche Modifikationen herausarbeiten, jedoch zugleich an einer grundlegenden Konstanz des Werkes festhalten, die es allererst ermöglicht, die unterschiedlichen Texte als Hinweisgeber auf verschiedene Aspekte derselben Sache zu begreifen. Mit den für unsere Frage einschlägigen wissenschaftlichen Werken der Reife sind Schleiermachers Vorlesungen zur Philosophischen und Christlichen Ethik, zur Pädagogik, zur Psychologie und die Glaubenslehre gemeint. In seinen philosophisch-ethischen Kollegs, die er von der frühen Hallenser Zeit bis in die späten Berliner Jahre hielt,²²² entfaltete er die allgemeinen Handlungsweisen und Kulturformen menschlichen Lebens – nicht jedoch, ohne sich seines Konstruktionsstandpunktes bewusst zu sein.²²³ Die Familie nimmt hierin eine zentrale Position ein.²²⁴ In seiner insgesamt zwölfmal gelesenen²²⁵ Christlichen Sittenlehre konkretisierte er jenes Ordnungsgefüge in der Perspektive des christlichen – preußisch-protestantischen – Lebens.²²⁶ Der Darstellungsanlass, der Adressatenkreis, die systematische Darlegungsform sowie die weitblickende Einordnung der Einzelbestimmungen in ein anthropologisch-kulturelles Universaltableau bzw. den Horizont christlicher Lehrbildung verleihen den geschlechter- und generationenethischen Ausführungen jener Abhandlungen ein ganz anderes Gepräge, als es die frühromantischen Texte besitzen. Die Emotion hat der Distinktion den Vorrang zu geben. Die dreimal gehaltene Pädagogikvorlesung, für die er noch 1813 nur neun Hörer gewinnen konnte, die er 1826 aber vor 121 Interessierten hielt,²²⁷ repräsentiert eine Disziplin, in der sich Schleiermacher ebenfalls den Rang eines Klassikers erwarb.²²⁸ Es
Für die vier Auflagen der Reden hat dies Friedrich Wilhelm Graf nachgewiesen.Vgl. ders., Gefühl, bes. 160 f. 184 f. Zu einem entsprechenden Vorgehen Schleiermachers in den Monologen vgl. Meckenstock, Wandlungen. Schleiermacher las achtmal philosophische Ethik: 1804/05, 1805/06, 1808, 1812/13, 1816, 1824, 1827, 1832. Zur Charakteristik und den Entstehungsbedingungen der erhaltenen Manuskripte und Nachschriften vgl. Birkner, Schleiermacher-Studien, 215 – 236. Vgl. ChS 27: „Aber die Differenz der philosophischen Sittenlehren unter sich ist auch nicht zu leugnen […].“ S.u. I.4.Einleitung. Zu Genauerem, die Jahrgänge 1804– 1831 betreffend, vgl. Birkner, Schleiermachers Christliche Sittenlehre, 11– 20. Gegenwärtig zugängliche Hauptquelle ist eine Kompilation, die Ludwig Jonas auf Grundlage von Nachschriften aus den 20er Jahren erstellt hat und die von ihm beigegeben Manuskripte Schleiermachers von 1809 (ChS Beil A) und 1822 (ChS Beil B). ChS Beil C und D bieten spätere Randnotizen Schleiermachers. Eingehender und zugleich bündig zum Verhältnis von PhE und ChS vgl. Birkner, Schleiermachers Christliche Sittenlehre, 81– 87. Vgl. Nowak, Schleiermacher Leben, 319. In unserer Interpretation werden wir den Fokus auf die reife, umfangreichste und rezeptionsgeschichtlich bedeutsamste Vorlesung von 1826 legen und ergänzend einige Aphorismen von 1813/14 hinzuziehen.
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ist nicht zuletzt sein Verdienst, dass die Erziehungslehre aus ihrem Nischendasein eines puren Erfahrungswissens heraustrat und sich in der Bewusstwerdung ihrer eminent politischen Bedeutung einen belastbaren theoretischen Unterbau erarbeitete. Für diesen zentral erscheint Schleiermachers Einsicht in die Selbstreferentialität von Bildung, die Notwendigkeit der Unterscheidung und Verschränkung der Lernorte sowie die Einordnung der Bildung zwischen Sublimation von bestehenden Veranlagungen und Konfrontation mit sozialen Anmutungen. All diese Aspekte sind freilich, wenngleich dort selten in dieser Weise reflektiert, auch hoch bedeutsam für das intergenerationelle Handeln und Selbstverstehen im Rahmen von Familie. Die Psychologievorlesung, in die sich Schleiermacher 1818 ohne eingehende vorauslaufende Vorbereitung – aber mit großem Erfolg bei den Hörern – stürzte und die er bis 1834 noch drei weitere Male hielt,²²⁹ erlaubt uns v. a. einen genaueren Einblick in seine Konstruktion der Geschlechterrollen. Auch hinsichtlich der Frage nach der Koordination von Sozialformen und Religion über den Gefühlsbegriff werden wir hier fündig werden. Zentrale Quelle für Schleiermachers Religions- und Christentumstheorie im engeren Sinne wird sodann freilich die Glaubenslehre sein.²³⁰ Bei seinem immensen akademischen Aktionsradius, von dem hier nur ein Teil benannt wurde, verstand Schleiermacher stets auch die Kanzel als seine Wirkungsstätte. Die zahlreichen erhaltenen Predigten zeugen von der fortwährenden Aufmerksamkeit, die er ihr zuteilwerden ließ. Trotz des merklichen wissenschaftlichen Unterbaus, auf dem seine Gemeindereden aufruhten, begriff Schleiermacher sie nie als bloße Verlängerung seiner akademischen Arbeit – weder belastete er seine Hörer mit wissenschaftlichen Begrifflichkeiten, noch gab er einen vulgarisierten Aufguss aktueller Forschungsgegenstände zum Besten. Schleiermachers konsequente Beachtung der Anforderungen, die sich mit diesem Genus verbinden, verleiht seinen Predigten eine ganz eigene Bedeutung als Quelle für die Erhellung seines Denkens. Von besonderem Interesse ist für uns eine Predigtsammlung zum Themenkreis des Hausstandes von 1818.²³¹ Die Kommunikationsform der volkstümlichen Darlegung²³² und ihr Gegenstand, der unmittelbare Lebenskontext Familie, erscheinen geradezu in einer Wahlverwandtschaft. Noch mehr gilt dies für private Dokumente wie Briefe. Hier verstattet uns Schleiermacher – oder vielmehr seine Nachlassverwalter – den unmittelbarsten Einblick in sein Verständnis von Liebe, Ehe und Familie. Am konzentriertesten finden wir das Thema in seinen Brautbriefen behandelt. Obwohl er darin nicht bloß in ein
Vgl. Nowak, Schleiermacher Leben, 304. Hier empfiehlt sich die Verwendung der Zweitauflage von 1830/31, weil sie – auch gliederungstechnisch – von größerer Klarheit ist, als die zehn Jahre ältere Erstauflage. Von seinen zahlreichen weiteren Predigten zu Taufe und Trauung sind leider kaum welche erhalten. Gleichwohl werfen auch diese wenigen Dokumente durch ihren direkten Kasualbezug interessante Schlaglichter auf manche Aspekte von Schleiermachers Familientheorie. Gemeint ist eine Adressatenorientierung am zumeist mittelmäßig gebildeten Bürgertum (und z.T. Adel).
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süßliches Säuseln verfällt, sondern seiner Liebsten auch manch emotional wie gedanklich schwerere Kost bietet, sind diese Texte in der Interpretation stets mit besonderer Vorsicht zu genießen. Auch wenn wir sie im Folgenden immer wieder zur Bebilderung und Konkretisierung oder auch zur Irritation einbeziehen wollen, sind sie hinsichtlich ihres epistemischen Status‘ anderen Quellen deutlich nachgeordnet, denn Unmittelbarkeit trägt stets auch den Aspekt der Unklarheit an sich. Eine letzte Schriftgattung, die die Breite der Texte, die wir von Schleiermacher zum Thema zur Verfügung haben, komplettiert, sind Notizen in seinen Gedankenheften. Mittels ihrer lassen sich manche interpretatorischen Fragen in Haupttexten klären, Erarbeitungsschritte nachvollziehen und Hintergedanken²³³ aufspüren.
3 Programmatische Grundentscheidungen Schleiermachers Systembildungen entwickeln stets eine Eigendynamik. Auf der Suche nach innerer Stimmigkeit muss manche Folgebestimmung in Kauf genommen werden, die in ihrer Aussage nicht der primären Intention des Theoretikers entspricht. Im Falle von Schleiermachers Religionspsychologie ist diese Aporiegefährdung sattsam bekannt. Dort treten bei den Versuchen einer reinen Gefühlsbegründung der Religion und ihrer Vorstellungsgehalte hoch vermittelte Reflexions- und Deutungsprozesse in den Aufbau, die ihrerseits die Grundthese höchst fraglich werden lassen. Auch im kritischen Nachvollzug seiner ethischen Figurationen werden wir an Punkte stoßen, die solche Schwächen offenbaren, aber die – das sei hier auch explizit eingeräumt – wahrscheinlich jeder pointierte Theorieansatz mit sich bringt. Fragen wir nun nach Grundannahmen, die es wohl Schleiermacher wert erscheinen ließen, sich der Verstrickung in jene Folgeprobleme auszusetzen, so ist meines Erachtens zunächst (1.) seine Umstellung auf eine deskriptive Gestalt von Ethik zu nennen, die allerdings nicht, wie wir noch sehen werden, normativer Implikationen entbehrt. Eng damit verbunden ist (2.) seine Würdigung der Dynamik, die allem Lebendigen innewohnt und der er auch in seiner Ethik zu ihrem Recht verhelfen wollte. Diese beiden Aspekte wollen wir im Folgenden näher betrachten. An sie schließen sich sodann Schleiermachers kategoriale Grundfiguren organisch an.²³⁴
Zur Illustration sei auf einen Eintrag aus dem dritten Gedankenheft verwiesen, der Schleiermachers Konzeption der Lucindebriefe betrifft. Während er in deren veröffentlichter Form die höhere Sittlichkeit des Romans preist, schreibt er in sein Gedankenheft die private Einschätzung: „Parallelisirung der Form in der Lucinde mit dem Stoff. Die Form ist nemlich auch unzüchtig. Gnade und die Freundschaft sind Nuditäten.“ (G III, 60.a., 134 [Hervorhebung – CR]). S.u. I.4.
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3.1 Die normative Kraft deskriptiver Ethik Ob es in früheren Zeiten gravierend anders war, mag als bleibendes Großdesiderat der Geschichtsforschung anheimgestellt sein; für viele Lebenssphären der Menschen in der europäischen Moderne gilt in jedem Fall, was Schleiermacher in verschiedenen Nuancen festgehalten hat, wenn er etwa in den Vertrauten Briefen schreibt: „Wer kehrt sich denn an Theorie, wer nimmt sie ernsthaft heut zu Tage, und sucht eine Beziehung aufs Leben darin?“²³⁵ Im ersten Gedankenheft notiert er: „In der Poesie und Moral hat man Ursach sich zu freuen daß die Praxis nicht auf die Theorie zu warten braucht in der Gesellschaft darüber daß die Theorie nicht auf die Praxis zu warten braucht.“²³⁶ Lebensorientierung, ethische Maximenbildung und religiöse Positionen übernimmt das selbstbewusste Individuum der Moderne weder aus der Feder eines Theoretikers noch von den Lippen einer Lehrinstanz. Individualisierung und Pluralisierung, Säkularisierung und staatliche Freiheitsgewährleistung stellen das Subjekt auf die eigenen Füße.²³⁷ Orientierungsangebote und gesellschaftliche Anmutungen und Tabus sind deshalb zwar nicht passé, aber sie haben sich am Prüfstein subjektiver Evidenz zu bewähren. Die althergebrachte Form, die Ethik „in der Form der Pflichtenlehre, also zusammengesezt aus Geboten, zu behandeln“,²³⁸ hatte für Schleiermacher daher ausgedient. Er war sich dessen bewusst, dass er auch mit seinen ethischen Figurationen in kein Herz hineinregieren konnte und war dennoch überzeugt, mit seinen lebenslänglichen Erwägungen zu ethischen Fragen, einen nicht fruchtlosen Beitrag zur praktischen Ausrichtung seiner Gesellschaft und der ethischen Orientierung ihrer Glieder zu leisten.²³⁹
L 193. G I, 104., 28. Bernd Oberdorfer interpretiert das Zitat im Sinne der Theorie des geselligen Betragens, eine Verbesserung der Geselligkeit könne nur durch einen Neuaufbruch gelingen, dessen Programm theoretisch grundgelegt sein muss bzw. noch schärfer, dass „bei der Geselligkeit die Theorie die Praxis allererst ermögliche“ (ders., Geselligkeit, 503). Meines Erachtens entspricht diese Spitzenthese allerdings weder der Theorie des geselligen Betragens, die doch immer schon eine faktische Geselligkeit voraussetzt, noch dem Zitat, das ich ironischer verstehe als einen Hinweis auf den unüberwindlich utopischen Charakter mancher Gesellschaftstheorien. Während Oberdorfer „keine Verbesserung ohne Theorie“ (ThG 166. Oberdorfer, Geselligkeit, 503) zitiert, unterschlägt er den Satzanfang: „Ich bin weit entfernt zu wähnen, daß dies [sc. eine Verbesserung des geselligen Lebens – CR] durch Theorie bewerkstelligt werden könne“ (ThG 166). Diese Prozesse haben besonders in der Zeit nach Schleiermacher an Rasanz gewonnen, sodass Schleiermacher eher als Protagonist, denn als Rezipient ihrer zu gelten hat. ChS 33. Vgl. PhE 518: „da die Sittenlehre zum Gutwerden nichts hilft, so kann sie nur zum Verstehen helfen.“ Zum Zusammenhang von Wissen und Handeln vgl. Peiter, Handlungstheorie, 129 f. Zwar ist die Einsicht in die Richtigkeit einer Maxime nicht der Garant für die Befolgung derselben. Die sich zwischen der Bejahung eines ethischen Grundsatzes und der diesen betreffenden vollzogenen Handlung aufspannende Konvergenz bzw. Diskrepanz ist ja gerade der Phänomenbereich des Gewissens. Im Umkehrschluss kann allerdings auch nicht behauptet werden, ethische Einsicht sei unwirksam.
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Um zu erhellen, was Schleiermacher sich von seinem ethischen Ansatz versprach, wollen wir uns zwei Fragen vorlegen: 1. Worin unterscheidet sich sein Konzept vom prominenten Widersacher der Pflicht, aber auch jenem der Neigung? Und 2. Welchen Stellenwert nimmt die Religion in diesem holistischen Entwurf einer Seinsethik ein?
3.1.1 Seinsethik zwischen Pflichtenethik und Eudämonismus Die Kritik der Sollensethik „Die Sittlichkeit, nachdem der Begriff derselben lange genug bloß negativ gewesen, in ihren positiven Formen zu offenbaren, wird ein Werk der Philosophie seyn.“²⁴⁰ Die Forderung Schellings, die Ethik nicht mehr bloß als Restriktion zu befassen, sondern in ihr nach den konstruktiven Kräften des Handelns zu fragen, hat auch Schleiermacher umgetrieben. Die primäre Abgrenzungsfolie für seine innovative Ausgestaltung jenes ethischen Neuansatzes bildete die Pflichtenethik Kants. Sein logischer Haupteinwand gegen den großen Königsberger bestand im Aufzeigen der Aporetik, dass ein unbedingt Gesolltes niemals ein Seiendes sein kann, was den Sinn des Sollens fraglich werden lässt. Hatte Kant der Moral den Platz zu sichern gesucht, indem er für ihre höchsten Grundsätze – die Ableitungsformen des kategorischen Imperativs – eine von deren faktischer Berücksichtigung unabhängige Geltung behauptete, so legte Schleiermacher den Finger in die Wunde, dass diese Geltung mit der Fraglichkeit ihrer Realisierbarkeit erkauft war. Eine imperativische Ethik also geht von dem Nichtgewordenen aus und drückt jedes Glied der Reihe nur aus in seiner Differenz von dem unendlichen lezten. Indem sie also weder den positiven Factor noch das allmählige Verschwinden des negativen ausdrückt, so drückt sie in der That kein wirkliches Sein aus, und ist also auch kein reales Wissen.²⁴¹
Im letzten Halbsatz dieses Zitats liegt noch einmal eine besondere Spitze, insofern er sachlich Kants Prinzip von der Zweistämmigkeit der Erkenntnis gegen Kant selbst richtet. Hatte er in seiner Kritik der reinen Vernunft für sachhaltige Erkenntnis eine Verbindung aus der konstruktiven Kraft des Verstandes und der Deckung durch die Empirie gefordert,²⁴² so fordert Schleiermacher nun auch eine solche für die Kategorien der praktischen Vernunft. Schleiermachers erkenntnistheoretischer These, dass Wissen nur dann ein echtes ist, wenn ihm auch ein Sein entspricht, bedeutet für die Ethik, dass ihre Figurationen nur dann Orientierung leisten, wenn sie durch Verwirklichungsgestalten bestätigt sind.
Manche Wissensbestände drängen geradezu in die Praxis oder rücken die Faktizität in ein gänzlich neues Licht, was für die Handlungsorientierung nicht bedeutungslos sein kann. Schelling, Methode, 147. PhE 502. Vgl. Kant, KrV, B 29. 75.
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Zwar seien die kantischen Imperative auch nicht unwirksam – Schleiermacher spricht ihnen durchaus die Potenz zu „berichtigen oder vollenden“ zu –, aber sie könnten eben nicht eine Handlung „von vorn construiren“,²⁴³ zu ihr ‚treiben‘.²⁴⁴ Sie haben nur eine regulative und keine impulsgebende, schöpferische Kraft.²⁴⁵ Das für alles Handeln konstitutive „Ineinander von Vernunft und Natur“,²⁴⁶ welches uns unten noch beschäftigen wird,²⁴⁷ vermögen sie nicht abzubilden, sondern setzen es in wechselseitige Opposition.²⁴⁸ Für Schleiermacher muss dagegen gelten: „Die Wirklichkeit der sittlichen Welt wird von der Ethik nicht postuliert sondern vorausgesetzt.“²⁴⁹ Von daher ist es auch kein Zufall, dass er gerade auf den Begriff der ‚Sitte‘ für seine Christliche Ethik zurückgreift und ihn kennzeichnet als Übersetzung von ἦθος, womit sodann auch seine Philosophische Ethik einbegriffen ist; beides sei „nur Darstellung dessen, was in der Regel in einem bestimmten Umfange geschieht oder zu geschehen pflegt“ und ist damit deutlich unterschieden vom ‚Gesetz‘.²⁵⁰
Normative Potentiale des Deskriptiven Nun könnte man mit Poul Jørgensen einwenden, dass Schleiermacher „die Dialektik […] übersehen hat zwischen Sein und Sollen, Indikativ und Imperativ. […] Der Imperativ wird rein faktisch aufgelöst in den Indikativ“.²⁵¹ Damit wirft Jørgensen Schleiermacher im Grunde das vor, was dieser selbst in Form der ‚konsultativen Ethik‘ abgelehnt hatte. „Diese Ethik entsteht, wenn die Form von technischen Disziplinen auf die Sittenlehre angewandt wird […].“²⁵² Es handelt sich also um eine Form der Ethik,
PhE 246. Vgl. PhE 633: „Wenn das Gesez bloßer Gedanke wäre ohne zu treiben, so wäre die sittliche Welt eine bloß eingebildete.“ Vgl. G I, 27., 13: „Nach Kant besteht die ganze Tugendprocedur darin daß man sich in eine permanente Jury constituirt und immerfort über die Maximen die sich präsentiren Gericht hält oder noch besser wie ein Tourniergericht wo die Ritter ihre Wappenprobe ablegen müßen. Komt ein Turnierfähiger so wird er in die Schranken gelaßen und in die Trompete gestoßen gar weidlich. Komt aber keiner – ja die Turnierrichter können keinen machen.“ PhE 545. S.u. I.4.2. Vgl. PhE 502: „Nur inwiefern die Vernunft noch nicht Natur und die Natur noch nicht Vernunft geworden ist, kann das Ethische als ein zu Construirendes unter der Form des Gebotes ausgedrückt werden.“ Birkner, Schleiermachers Christliche Sittenlehre, 49. Vgl. dazu PhE 635: „Wenn die Verhältnisse, welche in der angewandten Ethik den Anfang bilden, nicht sittlich geworden sind, kann auch von ihnen aus keine Sittenlehre aufgestellt werden.“ ChS Beil 160. Jørgensen, Ethik, 166 f. Ähnliches wirft Germaine de Staël der deutschen Philosophie als ganzer vor, wenn sie schreibt: „Die Schärfe des philosophischen Geistes hat sie nur gelehrt, unter allen Umständen die Ursache und die Folge dessen zu erkennen, was geschieht, und ein Faktum scheint ihnen gerechtfertigt, sobald sie eine Theorie dafür gefunden haben.“ (Staël, Deutschland, 349). Dilthey, Leben II, 264.
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die nicht nach letzten Zielen und Prinzipien fragt, sondern sich – nach Kants Unterscheidung – mit hypothetischen Imperativen bescheidet; eine Ethik, die nur auf ‚Gewordenes‘ blickt, ‚guten Rat‘ gibt und so jedwede kritische Potenz einbüßt.²⁵³ Jørgensen führt seine Kritik mit theologischen Vorbehalten ein.²⁵⁴ Auch von daher liegt es nicht fern, ihre Stichhaltigkeit anhand der Christlichen Sitte zu überprüfen. In der Einleitung zu seiner Christlichen Ethik bestimmt Schleiermacher diese als die „Beschreibung derjenigen Handlungsweise, welche aus der Herrschaft des christlich bestimmten religiösen Selbstbewußtseins entsteht.“²⁵⁵ Nach jener Definition gibt er sogleich Rechenschaft über seine Einführung der ‚Beschreibung‘ als der bestimmenden Form, indem er sie charakterisiert als die Angabe der „Regel […], wonach etwas geschieht“.²⁵⁶ Diese Begriffsparallelisierung ermöglicht es ihm sodann, den ethischen Indikativ und Imperativ zu verschränken, weil ‚Regel‘ eben eine Bivalenz aufweist.²⁵⁷ Sie gibt an, wonach etwas zu geschehen pflegt und stellt damit zugleich die Forderung auf, dass es so geschehe.²⁵⁸ Hinzutritt, was bei Schleiermacher mit dem Gedanken der ‚Vernunft im Werden‘ bezeichnet ist: Regeln schreiben zwar Abläufe fest, sind selbst allerdings wandelbar. Im lebendigen Vollzug werden sie aufgestellt, fortgebildet und variiert, weil sie, schon gar wenn es sich um soziale Regeln handelt, ihre Wirklichkeit nur in der tätigen Aktualisierung haben. Sie tragen die Signatur selbsttätiger Emergenz.²⁵⁹ Wie der beschriebene Konnex von Beschreibung und Forderung funktioniert, wird plastisch, wenn wir Schleiermacher in seiner soziologischen Konkretion desselben PhE 502. Vgl. auch PhE 250. 545. Tritt bei dieser Form von Ethik eine konsequente Neigungsbestimmtheit hinzu, so kann sie als eudämonistische Ethik par excellence gelten (vgl. dazu PhE 246). Jørgensen, Ethik, 165. ChS 33 [Hervorhebung getilgt – CR]. In der Einleitung zum ‚verbreitenden Handeln‘ fasst er es weniger bewusstseinstheoretisch und stärker theologisch, drückt damit aber dasselbe aus: „so ist deutlich, daß wenngleich das verbreitende Handeln als allgemeine sittliche Aufgabe gefaßt werden muß, es doch immer zugleich nur als göttliche Gnadenwirkung zu begreifen ist. […] so rechtfertigt es sich auch hier, daß wir nicht die imperativische, sondern die beschreibende Form für unsere Darstellung wählen; denn die imperativische Form eignet wohl der allgemeinen sittlichen Aufgabe, aber dem, was als Wirksamkeit des göttlichen Geistes gefaßt werden soll, ist sie weniger angemessen.“ (ChS 317 [Hervorhebungen getilgt – CR]). ChS 33. Vgl. auch ChS Beil 12, wo Schleiermacher die „zwei Formen für die Säze der Sittenlehre, Gebot und bloß factische Aussage“ benennt, um hernach festzuhalten: „Die bloß assertorische Aussage ist vorzuziehen.“ Eine entsprechende Auslegungstradition des Prohibitivs, der im Hebräischen dem verneinten Indikativ gleicht, in den Zehn Geboten ist bekannt. Dies gilt sowohl für die Sphäre der Natur als auch für jene des Geistes: „das Sollen ist auch ein Sein, nämlich in der Natur, und das Sein ist auch ein Sollen. […] Nun also wenn das Gesollte auch nur gewollt oder angestrebt wird, so ist es auch, und man kann nur sagen, es ist in keinem Augenblick ganz. Sollen und Sein sind daher auf beiden Gebieten [der Natur- und der Geisteswissenschaften – CR] Asymptoten und auf dem sittlichen Gebiet vielleicht der Approximations-Exponent größer.“ (PhE 633). Vgl. auch PhE 455: „Das höchste Gut ist dieses zwiefache Ineinander sämtlicher Gemeinschaften und sämtlicher Persönlichkeiten in jeder Gemeinschaft. Es ist und es wird.“ [Hervorhebung – CR.] Weiterführend zu diesem Aspekt s.u. I.3.2.
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folgen. Voraussetzung ist die präzise Abgrenzung des Geltungsraumes. Das Heilsversprechen einer Gemeinschaft und das gleichzeitige Bestehen eines Außerhalb derselben verbürgt die Sanktionierbarkeit des Imperativs. Nun war Schleiermacher nicht so rigoristisch, den Bann über jeden zu sprechen, in dem ‚das christliche Bewußtsein‘ einmal nicht der ‚herrschende Impuls‘ ist. „Die christliche Kirche ist der Ort, wo das christlich religiöse Bewußtsein dominirender Impuls immer erst wird, und insofern noch nicht ist“.²⁶⁰ Dies schließt jedoch nicht aus, dass in der Kirche „wirklich so gehandelt“²⁶¹ wird, sondern markiert nur den Vorbehalt der Unvollkommenheit. Und so bleibt es dabei, dass die Wesensbestimmung des Christen, die mit der Beschreibung dessen, was in der Kirche in Geltung steht, mitvollzogen wird, zugleich dessen kritische Richtschnur ist. Wer sich in seiner prinzipiellen Ausrichtung von dieser dispensiert, stellt sich außerhalb der Kirche. Für andere Gesellschaftssphären gilt dasselbe Ausschlussprinzip gemäß den darin aufgestellten Maximen.²⁶² Unter den Bedingungen des In-der-Welt-Seins – und nur für diese bedarf es ja einer Ethik – kann für Schleiermacher also mitnichten davon die Rede sein, dass Imperative aufgelöst würden. Sie werden eingebunden, aber nicht getilgt. In seinen Folgerungen für den Stil der Ethik hat sich Schleiermacher nicht allein mit dem Gegensatz zwischen Indikativ und Imperativ beschieden. Im Brouillon heißt es: „Der Stil der Ethik ist der historische. Denn nur wo Erscheinung und Gesez als dasselbe gegeben ist, ist eine wissenschaftliche Anschauung. […] Daher ist auch die Form der Ethik die Entwickelung einer Anschauung.“²⁶³ Im Ethikkolleg von 1812/13 präzisiert er den ‚historischen Stil‘ als die „Form […] der Darstellung oder Erzählung“.²⁶⁴ Was ‚Darstellung‘ heißt, illustriert Schleiermacher selbst mit seinen Vorlesungen zur philosophischen und christlichen Ethik. Aber auch die ethische Form der ‚Erzählung‘ hat er selbst gebraucht. Sie steht meines Erachtens für das, was er 1805/06 ‚Entwicklung einer Anschauung‘ nannte. In den Lucindebriefen verteidigte er die ethische Qualität des Romans seines Freundes auch auf dieser Ebene, indem er behauptete, was wir bereits zitierten: „Wer kehrt sich denn an Theorie […]?“, um fortzufahren mit der These: „eine Anschauung, von dieser muß am Ende alles ausgehn,“ und sie wird dargestellt im ‚Kunstwerk‘.²⁶⁵ Moralische Bildung geschieht nicht durch
ChS 34. ChS 33. In prominenter Weise hat unter neueren Entwürfen der kritischen Gesellschaftstheorie Michel Foucault sachlich diesen Gedanken aufgenommen. Er fokussiert ihn allerdings nicht auf das Subjekt, sondern auf sein Äquivalent zum Weltbegriff, den ‚Diskurs‘. Dieser bestimme, was dem einzelnen erlaubt sei. Wer in ihm die Deutungshoheit behaupten kann, habe entsprechend die größte ‚Macht‘, welche sich darin erweist, dass er seine Gegner in völligen Diskredit durch Ausschluss aus dem Diskurs bringen kann. Es fällt sofort ins Auge, dass dieser kulturtheoretische Entwurf sich vom Schleiermacherschen durch deutlich mehr Härten unterscheidet, was wohl aus seinem dezidiert politischen Interesse herrührt. Vgl. Foucault, Macht. PhE 87. Vgl. auch bereits G I, 89., 25: „Auch ist die Moral historisch.“ PhE 250. L 193.
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kalte Doktrin, sondern bedarf auch emotiver Anschlussfähigkeit. Nicht Gesetze, sondern mitreißende Darbietungen von Gedanken sieht Schleiermacher als die richtungsweisende Kommunikationsgestalt. Mit seinen Monologen hat er sich in ihr versucht und der nachhaltige Erfolg dieser Schrift im Verhältnis zur wenige Jahre später veröffentlichen, im Stil deutlich spröderen Kritik der bisherigen Sittenlehre gibt seiner These Recht.²⁶⁶ Die Herausstellung der Kunstform ethischer Vermittlung soll uns aber nicht zu weit ins Artifizielle abführen. Der Begriff der ‚Erzählung‘ bzw. – gegenwärtig prominenter – des ‚Narrativs‘ lässt nämlich noch auf etwas viel Basaleres schließen. Die Erzählung hat ihren primären Ort nicht in der Literatur, sondern – man verzeihe das romantisierende Bild – am heimischen Ofen und als solche ist sie ein wichtiger Sozialisationsfaktor. Hat Schleiermacher als bedeutendsten Multiplikator für religiöse Vorstellungsgehalte die Familie benannt,²⁶⁷ so muss dies auch für moralische Maximen gelten, die eben Sitte und Brauch sind, in die man hineinwächst. Sprachen wir oben davon, dass sich ethische Orientierungsfiguren an der Hürde subjektiver Aneignung zu bewähren haben, so haben wir in der Familie einen zentralen Ort für deren Vorprägung gefunden. Dass die familial erworbenen Positionen auch negiert werden können, ist selbstverständlich; eine gänzliche Tilgung werden sie allerdings kaum erfahren.
Die Kritik des Eudämonismus Mit Schleiermachers Ablehnung der Sollensethik haben wir die eine Seite benannt, gegen die er sich konzeptionell abzusetzen sucht. Auf die Kategorien, die wir im folgenden Kapitel fokussieren wollen, bezogen handelt es sich bei ihr um eine Vereinseitigung zum Allgemeinen bzw. zum Geistigen hin, die blind für das Konkrete ist. Schleiermacher benennt aber auch das andere Extrem, welches den Einzelnen und dessen Naturbestimmtheit in den Mittelpunkt stellt: den Eudämonismus. Der zentrale Einwand gegen ihn als einem ethischen Fundament besteht entsprechend in der fehlendenden Verallgemeinerbarkeit seines Prinzips: Der Eudämonismus bezieht sich auf die niedere Persönlichkeit, die, weil alles in ihr zufällig ist, unter der Würde der Philosophie steht. Wenn einer sagt, er ist anders organisirt, so ist nichts gegen ihn aufzubringen.²⁶⁸
Auch für die Gegenwart können wir wohl diagnostizieren, dass die Werke John Ronald Reuel Tolkiens oder George Lucas‘ die Vorstellungen vieler über Tugend in weit größerem Maße beeinflussen als die Entwürfe Aristoteles‘ oder Kants. Mit dem Fokus auf religiöse Dimensionen der Lebensdeutung unterstreicht diese These die empirische Studie: Gräb, Medienreligion. Vgl. ChS 347. Vgl. auch ChS 217 f, wo Schleiermacher „das Haus als ein Product des christlichen Lebens, und die Hauszucht als einen Theil des christlichen wiederherstellenden Handelns“ beschreibt. Ähnlich: ChS 336 f. Beil 134. 143 sowie H 338 – 362. 369. 378. 397 f. PhE 79. Byung-Ok Lee behauptet: „Gleiches ließe sich gegen die Sollensethik geltend machen.“ (Ders., Individualität, 124). Diese Folgerung ist allerdings schief, weil das kantische Sollen, gegen
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Im Freiheitsgespräch nennt Schleiermacher als weitere Herausforderung, die sich mit der ethischen Einholung der Sinnlichkeit ergibt, deren Unersättlichkeit: Die Sinnlichkeit gibt der Vernunft unaufhörlich das Problem auf die größtmögliche beständige Befriedigung aller gesamten Neigungen in einem Subjekt zu bewerkstelligen, welches die Vernunft niemals zu lösen im Stande seyn wird.²⁶⁹
Mit der Einordnung der ethischen Bedeutung von Lust und Glück hat es sich Schleiermacher dennoch nicht leicht gemacht. Durch sein Ziel einer deskriptiven Ethik, die den Blick in die Welt wagt, konnte er auch gar nicht umhin, das subjektive Streben nach Glück als einen bedeutenden Faktor für die Lebensführung anzuerkennen. Am Anfang seiner literarischen Befassung des Problems aber vermochte er es noch nicht, den ‚Punkt der schönen Ökonomie‘ zu überwinden, „vermöge welcher der fromme Pilger nach langen Leiden auf dornenvollen Irrwegen von Zeit zu Zeit in ein schönes Gefild kommt deßen Anmuth ihn labt und erquikt und ihn durch eine süße Täuschung ‚als ob er schon am Ziel seines Weges wäre‘ zu neuen Wanderungen und neuen Mühseligkeiten stärkt.“²⁷⁰ Gemeint ist Kants Koordination von ‚Glückswürdigkeit‘ und ‚Glückseligkeit‘ im Gottesgedanken, die Schleiermacher in seinen fiktiven Briefen An Cecilie referiert.²⁷¹ Für Kant galt, dass es keine ‚Triebfeder‘ als allein die ‚Achtung gegen das Sittengesetz‘ für moralisches Handeln geben kann. Da der Mensch aber eben als Naturwesen und als Selbst sich seines Glücksstrebens nicht entledigen kann, stellte Kant ihm in Aussicht, sich durch sein ethisches Handeln der Seligkeit würdig zu erweisen, die ihm das höchste Wesen sodann zuteilen werde. Einheitspunkt für Natur- und Geistbestimmtheit des Menschen war für Kant also der Gottesgedanke, in dessen Funktion als Schöpfer und Richter, verbunden mit dem Postulat der Unsterblichkeit als Möglichkeitsbedingung jenes transzendenten Ausgleichs. In seiner Frühschrift Über das höchste Gut würdigte Schleiermacher den reinen Tugendbegriff, der Kants Pflichtenlehre korrelierte, als „verehrungswürdigste[…] und keuscheste[…] aller keuschen Lukretien“,²⁷² rügte aber, dass Kant sie in Gestalt der Postulatenlehre in die Gesellschaft einer „Dirne“²⁷³ gebracht habe.²⁷⁴ Wenn die Moral
welches sich Schleiermacher wendet, ja gerade nicht an einem kontingenten inneren Zumute-Sein hängt, sondern von streng formaler Allgemeinheit ist. Vgl. auch PhE 122 f: „Die Eudämonisten bilden ein Aggregat von Empfindungen. Hier scheint freilich ein inneres Princip der Differenz zu sein; aber man sieht es nicht als eine Einheit an […]. Das eigentliche Gebiet solcher Ethik ist […] die Gemeinschaft, auch nicht die individualisirte, sondern die vage.“ F 164. AC 212. Vgl. AC 211 f. Ausführlicher zu dieser Miniatur vgl. Meckenstock, Ethik, 132– 147. ÜhG 95. ÜhG 96. Gegen die Paraphrase Kurt Nowaks, Schleiermacher werfe Kant vor, er habe die reine Tugend selbst zur Dirne ‚erniedrigt‘ (Nowak, Schleiermacher und die Frühromantik, 73), weil sie Schleierma-
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keine Untermischung sinnlicher Triebe verstattet, dann solle dem ethisch auch konsequent Rechnung getragen werden, so Schleiermachers Einwand.²⁷⁵ Es erscheint beachtlich, dass der in vielen Teilen seiner Ethik so gemäßigt auftretende Schleiermacher in dieser Grundlegungsfrage den ‚Alleszermalmer‘ an Kritizismus noch weit übertrifft und dessen eudämonistische Hypothek zusammen mit dem ‚moralischen Gottesbeweis‘ auskehrt. Wie aber sieht nun die konstruktive Seite von Schleiermachers Angang des Problems aus? Mit Bezug auf die Monologen legt Hermann Süskind nahe, dass sich Schleiermacher in ihrer Folgezeit des Eudämonismusproblems durch ethische Dispension entledigt hätte.²⁷⁶ Meines Erachtens ist seine Strategie damit allerdings nicht getroffen; sie liegt vielmehr in der Sublimation des Eudämonismus. Diese Form der Lusteinhegung wird in seinen Frühschriften programmatisch vorbereitet. So treibt Schleiermacher in der Abhandlung Über das höchste Gut einen Keil zwischen den Eudämonismus und sein Ideal des ‚höchsten Gutes‘. Die Glückseligkeitsidee könne zwar als ‚Hebamme‘ jenes Ideals gelten, habe sich sodann aber zu Unrecht seiner bemächtigt, seien sie beide doch grundlegend verschieden.²⁷⁷ Während der klassische Glückseligkeitsgedanke allein im niederen Begehrungsvermögen wurzele,²⁷⁸ über welches keine seiner Entwicklungsstufen hinauskomme,²⁷⁹ sei das ‚höchste Gut‘ zu Höherem berufen. Dass es Schleiermacher mit dieser Abhandlung weniger um die ethische Disqualifikation der Lust an sich ging als vielmehr um den Abweis von deren reiner Bezogenheit auf niedere Lebenssphären, zeigt die wenige Jahre später erschienene Schrift Über den Wert des Lebens. Ihre Hauptthese ist, dass die wahre Glückseligkeit nicht in der kontingenten Übereinstimmung von Begehren und Ein-
chers bleibende Würdigung der kantischen Tugendfassung verstellt. Vgl. z. B. ChS 234: „denn der Charakter unseres Handelns duldet kein anderes Motiv als die reine Freude an der Selbstbeherrschung ohne allen fremden Reiz“. Zu weiteren kritischen Aspekten, die sich gegen Kants ethische Einordnung des Glücksgedankens vorbringen lassen vgl. pointiert: Thomä, Glück, 25 – 28. Vgl. Süskind, System, 39: „Auf dem neuen Standpunkt hat das letztere [sc. das Streben nach Glück – CR] jede selbstständige Bedeutung verloren.“ ÜhG 84. Im Brouillon bezeichnet Schleiermacher den Eudämonismus als ‚in der Reflexion eingestandenen Egoismus‘ (PhE 177). Schleiermacher erzählt die Evolutionsgeschichte der Glückseligkeit folgendermaßen (ÜhG 84– 87): Auf der niedersten Stufe steht der Mensch, der allein mit dem Überleben zu kämpfen hat, noch gänzlich ab von ihr. Gelangt er zu einem Mindestmaß von Selbstreflexion so ‚lehrt ihn sein Gefühl‘ „die Unterscheidung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen“ (ÜhG 85). Erstere wird er bald zu verstetigen und zu steigern suchen – Schleiermacher spricht von „Verlängerung“ und „Erhöhung“ (ebd). Sesshaftigkeit und Ausbau von Handel und Kultur sind Bedingungen der Erweiterung des Spektrums lustvalenter Gegenstände und Sphären. Die höchste Stufe, „den eben so vollständigen als ungeheuern eben so unvermeidlichen als unmöglichen Begrif der Glükseligkeit“ erreicht sie sodann durch ihre „größtmögliche extensive Ausbreitung“, die Übertragung ins Jenseits (ÜhG 86). In diesem „Zauberreich der sonderbarsten Widersprüche“ muss sich der Geist aber unvermeidlich ‚verirren‘ (ÜhG 87).
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zelgegenstand liegt, sondern in der regelhaften Ordnung des Gesamtzusammenhangs der Dinge.²⁸⁰ Dieser allein verbürgt die begehrte Beständigkeit und breite Ausdifferenziertheit des Glückserlebens. Im Systemgedanken, der hier noch nicht ausgearbeitet aber durchaus anvisiert ist,²⁸¹ wie Wilhelm Dilthey bereits mit Bezug auf die Abhandlung Über das höchste Gut konstatiert hat,²⁸² verknüpft Schleiermacher den für jede Ethik notwendigen Objektivismus mit einer subjekts- und naturgebundenen Handlungstheorie. Mit den Monologen und den Werken der Reife, wird es dann sehr deutlich: Die Bedeutung von Lust und Unlust wird dem Telos der Selbstwerdung und der religiösen Entwicklung, der Moral und der Religion nicht geopfert, sondern darauf übertragen.²⁸³ Nicht allein der Esstisch und das Ehebett, sondern auch die Selbstreflexion und der Gottesdienst können Schleiermacher nun Orte der Lust sein. Unten werden wir sehen, dass er es gewagt hat, nicht einmal eine strenge Grenze zwischen Natur und Geist und damit zwischen ‚niederer‘ und ‚höherer Lust‘ zu ziehen,²⁸⁴ was äußerst bedeutsam für unser Thema ist, insofern die menschliche Liebe nun nicht mehr nur uneigentlicher Abglanz der göttlichen Liebe ist und das natürliche Lustempfinden nicht mehr in prinzipieller Opposition zum moralischen und religiösen Erleben steht.
Die Kontextualität der Ethik Treten wir noch einmal zurück und fragen, welche Reichweite die von Schleiermacher inaugurierte Gestalt von Ethik hat, so finden wir in ihr wahrlich kein voraussetzungsloses Universalkonzept. Ebenso wie die Pädagogik oder die theologische Dogmatik verstand er auch die Ethik als notwendig zeit- und ortsgebunden. Selbst die strengsten Pole von Gut und Böse könne man nicht ‚vor der Ethik‘ bestimmen,²⁸⁵ sondern nur im ‚kritischen Verfahren‘ innerhalb ihrer, wobei sie sodann im „fließende[n] Gegensaz des Vollkommenen und Unvollkommenen“ erschienen.²⁸⁶ Harte Differenzen sucht man hier vergeblich. Der Darstellungsmodus in Relationsfiguren, dessen sich Schleiermacher, wie wir noch oft sehen werden, vorrangig bedient, steht unter dem Dauerverdikt unambitionierter Beliebigkeit. Im zweiten Gedankenheft gibt sich Schleiermacher selbst in einer – wenn es das gibt – optimistisch gestimmten Resignation:
Vgl. besonders WL 410 – 418. Zu seiner Ausgestaltung s.u. I.4. Dilthey, Leben I, 132. Siehe den lustvollen Auftritt der Monologen, dieser ‚köstlichsten Gabe‘ mit ‚erfrischendem Reiz‘ (M 5); die Gliederungsvalenz von Lust und Unlust für den zweiten Teil der Glaubenslehre; und Formulierungen wie „Lust an der Herrschaft des Geistes“ und „Unlust an der Ohnmacht Geistes“ in der Christliche Sitte (ChS 231). Vgl. auch bereits WL 412: „Lust an Wahrheit“, „Lust an Regeln“. S.u. I.4.2. PhE 502. PhE 635.
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Die Welt kennen heißt wissen daß man nicht viel auf derselben bedeutet, glauben daß kein philosophischer Traum darin realisirt werden kann und hoffen daß sie nie anders werden wird, höchstens nur etwas dünner.²⁸⁷
Und dennoch entbehrt Schleiermachers ethischer Ansatz keineswegs eines normativen Zugzwangs. An der Verschränkung von Indikativ und Imperativ haben wir dies ebenso gesehen, wie an der systemischen Sublimation der Glückseligkeitsidee.²⁸⁸
3.1.2 Religion in der Ethik Normative Kraft durch das Postulat eines höchsten Gesetzgebers zu mobilisieren, war nicht in Schleiermacher Sinn. So lehnte er es ausdrücklich ab, „daß es 1. kein Sittengesez geben könne, wenn es nicht einen Gesezgeber außer uns gäbe, und 2. keine Verbindlichkeit desselben ohne Belohnungen und Strafen“.²⁸⁹ Am bekanntermaßen deutlichsten hat er die Scheidung zwischen Religion und Moral in den Reden vollzogen. Dem Versuch der aufklärerischen Ethikotheologie, der fraglich werdenden Religion im Rahmen der hoch in Geltung stehenden Ethik einen sicheren Stand zu geben, setzt Schleiermacher seine apologetische Strategie von der Herausarbeitung der Inkommensurabilität religiösen Erlebens entgegen.²⁹⁰ Diese impliziert eine Selbstbegrenzung der Religion.²⁹¹ Die schiedliche Trennung von Religion und Moral hat die Stärke, beide neu auf ihr Wesen befragen zu können und in ihrer Eigenbedeutung zu würdigen. Sie hat allerdings auch große Schwächen, die es Schleiermacher verboten, an der Strenge seiner Unterscheidung festzuhalten. Zu nennen wären Widersprüche auf verschiedenen Ebenen: bewusstseinstheoretisch, die Diskrepanz zwischen der Universalperspektive der religiösen Anschauung und ihrer Provinzialisierung; vermögenstheoretisch, die Isolation des (religiös qualifizierten) Gefühls; theologisch, die Abkoppelung eines bedeutsamen Teils des Weltgeschehens vom Symbol der es grundierenden Totalität; kulturtheoretisch, die nicht zu leugnende Verwobenheit der Kirche mit anderen (sittlichen) Institutionen sowie ethisch-psychologisch, der faktisch große Einfluss des G II, 13., 110. Beides findet sich zusammengefasst in den Thesen: „Die Ethik muß also alles wahrhaft menschliche Handeln umfassen und verzeichnen.“ (PhE 246 [Hervorhebung – CR]). Und „In dieser Steigerung verschwindet auch der Gegensaz zwischen Vernunftmäßigkeit und Glückseligkeit.“ (PhE 247). Brief 326, 427. Vgl. dazu auch R 246: „Auch kann er [sc. Gott – CR] uns zur Sittlichkeit nicht reizen, denn er wird nicht anders betrachtet als handelnd, und auf unsre Sittlichkeit kann nicht gehandelt und kein Handeln auf sie kann gedacht werden.“ Die Moral sei nur dort recht gefasst, wo sie keiner externen Hilfe, wie etwa durch die Religion bedürfe (vgl. R 202 f. 237 f) und die Religion nur dort, wo sie nicht als Dienerin einer anderen auftrete, sondern in ihrer eigensten Spezifik als „Sinn und Geschmak fürs Unendliche“ (R 212), „Anschauen des Universums“ (R 213) usw. zur Geltung kommt. Ausgedrückt ist diese in der vielzitierten These von der „eigne[n] Provinz im Gemüthe“, in welcher die Religion dafür aber „unumschränkt herrscht“ (R 204).
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religiösen Selbstverständnisses auf die praktische Lebensorientierung. Im Werk der Reife hat Schleiermacher all diese Aspekte mit Hinweisen auf ihre Interdependenzen selbst zur Geltung gebracht.²⁹² Wenn Hermann Süskind behauptet, dass Schleiermacher erst im Zusammenhang der Dialektik anerkannt habe, „dass die Realisierbarkeit der sittlichen Zwecke im ganzen Weltzusammenhang grundsätzlich verbürgt sein müsse“,²⁹³ so hat dies sicherlich für die Ausgestaltung des Gedankens sein Recht; das Problem stand Schleiermacher hingegen schon früher vor Augen. Darauf verweist die Notiz im ersten Gedankenheft: Man kann völlig rechtlich seyn ohne Religion aber vielleicht nicht ganz moralisch, denn das entindividualisiren deutet doch zulezt auf ein höchstes Individuum.²⁹⁴
Noch klarer ist ein etwas späterer Eintrag, in dem Schleiermacher festhält, dass alle sittlich zu nennenden Handlungen dadurch qualifiziert sind, dass sie „aufs Universum gehn“.²⁹⁵ Im auch in den Reden prominenten Universumsbegriff verschränkt der jüngere Schleiermacher im Anschluss an Spinoza Gottes- und Weltgedanken; d. h. auch unmittelbar vor der Niederschrift seiner Reden erkannte Schleiermacher die ethische Valenz des Religiösen an, die besonders dann von Bedeutung ist, wenn eine deskriptive Gestalt von Ethik anvisiert wird. Bereits in den Ausführungen zum bekannten dritten Paragraphen der Glaubenslehre (und nicht erst im fünften) – „Die Frömmigkeit […] ist rein für sich betrachtet weder ein Wissen noch ein Thun, sondern eine Bestimmtheit des Gefühls“²⁹⁶ – macht Schleiermacher deutlich, dass diese ‚reine Betrachtung‘ eigentlich gar keine solche ist, sondern eine Abstraktion. Denn das ungegenständliche, höchste der Gefühle entbehrt zwar nicht jedweder Bestimmtheit,²⁹⁷ aber zu wirklicher, lebensweltlicher Präsenz kommt es doch nur anhand von Gedanken und Handlungen.²⁹⁸ Die Abhängigkeit zwischen dem Gefühl bzw. Begehrungsvermögen und den beiden anderen Vermögen ist jedoch keine einseitige: verhelfen jene ihm zu Konkretheit, so gibt dieses
Eine erste Öffnung hat Schleiermacher allerdings schon in den Reden selbst vorgenommen, wenn er sagt, die Religion sei zwar „der Sittlichkeit und allem andern was ein Gegenstand des menschlichen Thuns ist, nicht Dienerin, aber unentbehrliche Freundin und ihre vollgültige Fürsprecherin und Vermitlerin bei der Menschheit.“ (R 238). Süskind, System, 33. G I, 89., 25. G I, 184., 41 f. CG2, §3, 19 f. Jörg Dierken spricht in seiner Rekonstruktion des Schleiermacherschen Gefühlsbegriffs von einer „unbestimmten Bestimmtheit“ (ders., Glaube, 362). So heißt es CG2, §3.4, 29: „daß es Wissen und Thun giebt zur Frömmigkeit gehörig, daß aber keines von beiden das Wesen derselben ausmacht, sondern nur sofern gehören sie ihr an, als das erregte Gefühl dann in einem es fixirenden Denken zur Ruhe kommt, dann in ein es aussprechendes Handeln sich ergießt.“ Zum diesen Sachverhalt ausdrückenden Begriff der ‚teleologischen Frömmigkeit‘ vgl. Burbach, Bewußtsein, 30 – 33.
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jenen Dynamik.²⁹⁹ Im Begriff der ‚Indifferenz‘ drückt Schleiermacher dieses Wechselverhältnis treffend aus.³⁰⁰ Als deren Antriebskraft ist das Gefühl der Indifferenzpunkt, d. h. die Gemeinsamkeit von Wissen und Handeln;³⁰¹ in Bezug auf das Gefühl selbst bedeutet das Charakteristikum der Indifferenz dessen Einheit, mit der seine Unbestimmtheit per definitionem einhergeht. Die Religion im Vermögen von Gefühl und Willen zu verorten, birgt die Evidenz, dass man die Frömmigkeit eines Menschen gemeinhin nicht an dessen Wissensstand in religiösen Dingen oder am Erfolg seines diakonischen, kybernetischen und liturgischen Handelns bemessen wird, sondern an dem ‚Interesse‘, das ihn zu den religiösen Gehalten treibt und dem ‚Antrieb‘, der seinem Handeln zugrunde liegt.³⁰² Gleichwohl lassen sich nicht alle beliebigen mentalen und praktischen Gehalte als religiöse Ausdrucksgestalten einführen. In der Glaubens- und Sittenlehre trägt Schleiermacher dem dadurch Rechnung, dass er den Versuch unternimmt, seine Lehrgehalte aus dem religiösen Grundgefühl abzuleiten. Soll dieses Deduktionsverfahren die wahre Religiosität seiner Lehren verbürgen, so bedeutet es im Umkehrschluss die Eigentlichkeit des Religiösen, die sich in diesen Abhandlungen ausspricht. Ihrer gemeinsamen Quelle wegen gelten ihm Dogmen und „Handlungsweisen […] unter der Form von Lehrsäzen“ gleichermaßen als „Aussagen über christlich fromme Gemüthszustände.“³⁰³ In der Einleitung zur Christlichen Sittenlehre geht Schleiermacher sogar so weit, auf dieser Grundlage beide wechselseitig miteinander zu identi-
Vgl. ChS 309 f: „und daher sagen wir, die Frömmigkeit, d. i. die Gesinnung vom Standpunkte der religiösen Sittenlehre aus gefaßt, hat ihre erste Basis im Gefühl. Wie nun die Frömmigkeit als Bestimmtheit des Gefühls nicht ist ohne die ihr entsprechende Willensrichtung: so ist auch die Bestimmtheit des Willens nicht ohne daß Fertigkeiten und Handlungsweisen daraus hervorgehen.“ Vgl. ChS 18: „Steht es nun so, daß die Grundvoraussezung, das, was den Menschen zum Christen macht, mit gleichem Rechte ursprünglich als Erkenntniß und als Handlungsweise kann aufgefaßt werden: so folgt, daß sie wesentlich die Indifferenz von beiden sein muß.“ [Hervorhebung – CR] Schleiermacher kann statt ‚Indifferenz‘ auch von ‚Übergang‘ sprechen.Vgl. CG2, §3.4, 26 f: Wenn wir also behaupten, dass „die Frömmigkeit dem Gefühl angehöre, so soll sie dadurch wie schon aus dem obigen folgt, keineswegs von aller Verbindung mit dem Wissen und Thun ausgeschlossen werden. Vielmehr wenn überhaupt das unmittelbare Selbstbewußtsein überall den Uebergang vermittelt zwischen Momenten worin das Wissen und solchen worin das Thun vorherrscht, […] so wird auch der Frömmigkeit zukommen, Wissen und Thun aufzuregen“. [Hervorhebung – CR] Zur Doppelstellung des Gefühls, die ihm daraus erwächst, dass es einerseits ein Vermögen neben und Wissen und Tun ist und andererseits deren Identität verbürgt, vgl. Graf, Gefühl, 167 f. Vgl. ChS 22: „Beide Elemente in ihrer reinen Identität sind das eigentlich ursprüngliche, was den Zustand der Frömmigkeit ausmacht“: „einerseits das Interesse an dem Gegenstande des religiösen Gebietes […] und andrerseits der impetus, die ὁρμή, der Antrieb, der […] in ein Handeln übergehen muß“. Vgl. auch CG2, §3.4, 29: Handeln ist als fromm qualifiziert, „sofern die Bestimmtheit des Selbstbewußtseins, das Gefühl welches Affect geworden und in den Antrieb übergegangen war, ein frommes ist.“ CG2, §26.1, 173.
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fizieren.³⁰⁴ Dennoch erschien ihm eine Unterscheidung der Disziplinen, die in der Theologiegeschichte lange auf sich warten ließ, angemessen.³⁰⁵ Der Begriff der Sitte wäre nun aber ganz verfehlt, wenn Schleiermacher in seiner Christlichen Ethik allein aus seinem Konstruktionsprinzip geschöpft hätte. Ihm tritt faktisch, aber auch programmatisch der Aspekt der Geschichtlichkeit zur Seite, den Schleiermacher auf jenen der Zeitgeschichte pointiert, wobei jedoch auch ältere und ‚ursprüngliche‘ Traditionen berücksichtigt werden.³⁰⁶ Oben sahen wir, dass der historischen Gestalt der Ethik ihre deskriptive Darstellung entspricht. Dieser Konnex gilt nicht nur auf der sozialen Großebene der Kirche, sondern auch auf jener des Individuums. Dogmatischer Ankerpunkt hierfür ist die Lehre von der ‚Wiedergeburt‘, die Schleiermachers eigener konfessioneller Tradition zwischen Reformiertentum und Pietismus in herausragender Weise eingeschrieben ist.³⁰⁷ Bildet sie den Keim, so erscheint das ganze christliche Leben unter der ‚Heiligung‘ nicht bloß als Schlachtfeld von Gesetzen und Maximen, sondern auch als Beschreibung der Auswicklung und Verbreitung desselben.³⁰⁸ Im Zusammenhang von Wiedergeburt und Heiligung spricht sich die ethische Verschränkung von Indikativ und Imperativ unmittelbar aus.³⁰⁹ Wir haben uns vor Augen geführt, dass auch der Indikativ von ethischer Impulskraft ist. Im Sinne des Naturgesetzes kann das deskriptiv verfasste Sittengesetz den äußerlich bleibenden Imperativ einer Gebotsethik sogar an Zugzwang übersteigen. Ihre eigentliche Stärke spielt diese Ethikform allerdings auf dem sittlich gemäßigten Felde aus. Hier kann sie Wissensgehalte bilden, die ihre Orientierungskraft im
ChS 12 f: „Die christliche Sittenlehre ist auch Glaubenslehre. Denn das Sein in der christlichen Kirche, auf welches die christliche Sittenlehre immer zurükkgeht, ist durchaus eine Glaubenssache, und die Darstellung der christlichen Lebensregeln ist überall nichts, als die weitere Entwikkelung dessen, was in dem ursprünglichen Glauben der Christen liegt. Und ist nicht die christliche Glaubenslehre auch Sittenlehre? Allerdings; denn wie ließe sich der christliche Glaube wol darstellen ohne daß die Idee des Reiches Gottes auf Erden dargestellt würde! Das Reich Gottes auf Erden aber ist nichts anderes als die Art und Weise des Christen zu sein, die sich immer durch Handeln muß zu erkennen geben, […] und das [sc. die Darstellung dessen – CR] ist christliche Sittenlehre.“ Vgl. ChS 12– 14. 24. In der Christlichen Sitte werden Glaubens- und Sittenlehre unter dem Begriff der ‚systematischen Theologie‘ zwar von den anderen Großdisziplinen der ‚historischen‘ und ‚praktischen Theologie‘ abgesetzt (vgl. ChS 3), aber über die Dogmatik heißt es in CG2, §19, 143: „Dogmatische Theologie ist die Wissenschaft von dem Zusammenhange der in einer christlichen Kirchengesellschaft zu einer gegebenen Zeit geltenden Lehre [Hervorhebung – CR].“ Vgl. auch: KD, § 195, 393 f: „dogmatische Theologie, als der Kenntniß der jezt in der evangelischen Kirche geltenden Lehre“. Entsprechendes muss für die Ethik gelten. Mit der pietistischen Datierungswut des Bekehrungserlebnisses setzt sich Schleiermacher in ChS 312 (Fn) kritisch auseinander. Vgl. ChS 312 f (Fn). Zur Ausgestaltung beider Lehren vgl. CG2, § 107– 112, 168 – 228. Poul Jørgensen blendet in seiner Interpretation den unauflöslichen Konnex von Wiedergeburt und Heiligung aus und spricht stattdessen bei Schleiermacher allein von einer „Ethik für den wiedergeborenen Menschen“. Diese erschöpft sich freilich im Indikativischen, was er sodann rügt (ders., Ethik, 146 – 149, Zitat: 146).
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Einzelnen durch ein Evidenzerleben entfalten. Der Hoffnung, dass mit Differenzierung und Beschreibung eine Orientierung geleistet werden kann, die über ein unbeteiligtes Zur-Kenntnis-Nehmen hinausreicht, gibt sich auch die vorliegende Studie hin. Ein imperativischeres Verfahren wäre bei einem derart stark selbstreferentiellen und von Alltagspragmatismen bestimmten Gebilde wie der Familie ohnehin weder angebracht noch sinnvoll.
3.2 Die Bedeutung des lebendigen Vollzugs Im Rahmen der Ethik kann es nach Schleiermacher ohne Sein kein Sollen geben. Diese Einsicht wiederholt er in Bezug auf die Rechtfertigung ethischer Theoriebildung überhaupt. Daraus ergibt sich die schlichte, wie geniale, aber auch an Komplikationen folgenschwere These: Ohne Leben keine Ethik. Diese Formel deutet (1.) sowohl die Scharnierstellung des Organischen zwischen Naturphilosophie und Ethik als auch die pragmatische Dimension, dass es ohne Vollzüge keiner Regulationen bedarf, als auch die ethische Bedeutung des Dynamischen überhaupt an. Psychologisch interessant ist (2.) die daraus erwachsende Betonung des Gefühls als prozessuale Integrationsfigur. In seinen transzendentalphilosophischen Erwägungen macht Schleiermacher sodann (3.) aus der Not, dass sich nicht hinter das aspektreiche Ineinander der Kulturphänomene und bei der Bestimmung ihrer Ideale hinter deren funktionale Lozierung kommen lässt, die Tugend, dass die Vollzugsdimension zur alles Wissen und Sein zentrierenden Struktur wird. Allen drei Momenten wollen wir im Folgenden nachgehen und zwar, wie hier bereits angedeutet, in der umgekehrten Reihenfolge ihrer wissensarchitektonischen Begründungstiefe.
3.2.1 Ethische Ebene Als wesentlichen Schwachpunkt kantischer und fichtescher Ethik arbeitet Schleiermacher in seiner Kritik der bisherigen Sittenlehre deren Unfähigkeit zur Integration bedeutender Gebiete menschlichen Lebens heraus.³¹⁰ Den Ansätzen mangelt es zum einen an der Klärung der Frage nach dem Funktionszusammenhang von Handlungsimpulsen. In ihrer Betonung der restriktiven Potenz der Vernunft unterbelichten sie die Bedeutung der produktiven Kraft der Phantasie und der naturalen Bestimmtheit des Menschen.³¹¹ Schleiermacher hebt sogar bereits im Sinne des ‚Alltagssinns‘ die Bedeutung von Gewöhnung für die Lebens- und Handlungsorientierung heraus, die jenseits einer sich in dauerhafter Anspannung befindlichen praktischen Vernunft
Vgl. G III, 35., 127: „Es ist die Beschränktheit der Philosophie beides zu trennen ihr Leben ist todt ohne Reflexion und ihre Philosophie ist ein lebloses Gemälde wenn sie erst das Licht des Lebens verlöschen müßen um durch den engen Raum der Abstraktion ihr inneres abzubilden.“ Vgl. Hartlieb, Geschlechterdifferenz, 132– 138.
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liegt.³¹² Es mangelt den kritisierten Konzepten zum anderen aber auch materialiter an entscheidenden Sphären. Eine Ethik, die sich gegenüber ‚Geselligkeit‘ und ‚Liebe‘ gleichgültig verhält, hat mit der Lebenswelt des Frühromantikers Schleiermacher wenig zu tun.³¹³ Wollen wir den Eintrag, den die Betonung der Lebendigkeit der Ethik tut, auf den Begriff bringen, so liegt dieser zum einen in der Kategorie des Organischen – dazu unten mehr³¹⁴ – und zum anderen im Dynamischen.³¹⁵ Beides bedingt sich zwar wechselseitig, hier wollen wir den Blick nun allerdings v. a. auf letzteres Moment richten. Im letzten seiner fünf Monologe spricht der junge Schleiermacher: Der Jugend Beweglichkeit, meinen sie, sei das Treiben deßen der noch sucht, und Suchen zieme nicht mehr dem, der am Ende des Lebens ist; er müße sich schmücken mit träger Ruhe […]. Nur wer Schlechtes und Gemeines sucht, dem sei es ein Ruhm Alles gefunden zu haben! Unendlich ist was ich erkennen und besizen will […]. Das ist des Menschen Ruhm, zu wißen, daß unendlich sein Ziel ist, und doch nie still zu stehn im Lauf […]. Darum ziemt es dem Menschen immer in der sorglosen Heiterkeit der Jugend zu wandeln.³¹⁶
In seinem emphatischen Plädoyer für das lebenslange Streben klingt es fast, als wolle Schleiermacher die Agilität zum Selbstzweck erheben. Dies ist allerdings nicht der Fall, denn kann der Mensch seines Telos auch immer nur approximativ habhaft werden, so ist es mitnichten unbedeutend, wie weit er es auf dem Wege bringt. Gleichwohl gibt sich der junge Schleiermacher, was die Bestimmung moralischer Leitvorstellungen angeht, ausgesprochen liberal.³¹⁷ In der Zueignung seiner Lucindebriefe ist die Rede von ‚unruhiger Reizbarkeit‘, ‚fortschreitendem Geist‘, ‚tätiger Weisheit‘ und ‚beweglichem Leben‘. Diesem stehen die ‚Unverständigen‘ gegenüber, die in ihrem starren Konservativismus ‚ertötend und fesselnd‘ die Werte, auf die sie Vgl. KdS 289: „offenbar beschäftiget […] bei den meisten Menschen ihr eigentliches Handeln gar nicht die ganze Kraft des Gemüthes; sondern wo die mechanische Ausführung angeht, da macht Übung und Gewöhnung selbst einen hohen Grad von Vollkommenheit möglich, ohne die Aufmerksamkeit mehr als in einzelnen Augenbliken für den Gegenstand zu binden. Und eine solche Reihe von Gedanken und Gefühlen, welche mit der Handlung gar nicht anders als durch die Identität der Zeit verbunden sind, wird mit Recht als ein eigner Gegenstand der sittlichen Bestimmung und Beurtheilung angesehn. […] Gewiß auch möchte es nicht angehn, dieses etwa unter dem Vorwande des Unwillkührlichen oder Geringfügigen auszuschließen aus dem Gebiete der Sittlichkeit.“ Vgl. auch G V, 160., 323: „Sollte nicht auch die fantastische indische Ansicht der Moral dargestellt werden welche mehr auf das Leben sieht als auf die Vernunft und also Thiere und Menschen mehr zusammen rückt? Vielleicht im Roman?“ Vgl. Viëtor, Liebe, 21– 23. S.u. I.4.Einleitung und I.4.2. Zu weiteren Aspekten des Lebendigen, die auch im materialen Teil dieser Studie von Bedeutung sind, wie Entwicklung und Reproduktion vgl. Thompson, Leben, hier besonders 46 – 65. M 57 f. Vgl. G V, 105., 310: „Nichts darf für den ethischen Menschen als ein Unveränderliches gesezt werden […].“
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sich beziehen ‚zu einer ewig dauernden Mumie bereiten‘ und gemäß ihren ‚ehernen Formeln‘ alles verurteilen und verfolgen, was sich außerhalb dieser Grenzen bewegt.³¹⁸ Stand Schleiermacher durchaus eine bestimmte Vorstellung von Liebe vor Augen, wenn er sich auf die Seite der Fortschrittlichen schlägt, so hält er den ethischen Prozess generell in dieser Einleitung doch sehr offen.³¹⁹ Im reiferen Werk zollt er dieser Überzeugung mit der Betonung der prinzipiellen Zeit- und Ortsgebundenheit konkreter Ethiken Tribut.³²⁰ Von einem Generaltelos und einem diesem verpflichteten Fortschrittsoptimismus kann sich Schleiermacher allerdings ebenso wenig wie Kant oder Hegel freimachen.³²¹ Die geschichtsteleologisch-diachrone Gestalt des Perfektibilitätsglaubens mag unserer Tage nur noch wenig Evidenz behaupten können. Die ‚synchrone‘ Fassung des Gedankens als der allem Leben notwendig inhärenten Strebestruktur besteht dagegen unangefochten. Schleiermacher expliziert sie in Bezug auf die Gattung, das Individuum und – letzterem äquivalent – das endliche Sein überhaupt. In Gestalt der Generationen erneuert sich das menschliche Leben stetig. In jedem Kleinkind beginnt der sittliche Prozess von neuem und die ethische Theoriebildung ist schon allein dieses Sachverhalts wegen unabschließbar.³²² Jenem Konnex trägt Schleiermacher umgekehrt Rechnung, indem er in der Christlichen Sitte die Fortpflanzung als die Urgestalt des ‚verbreitenden Handelns‘ bestimmt.³²³ Das individuelle und gesellschaftliche Leben trägt ebenso die Signatur der Prozessualität und Vorläufigkeit. „Wer eine Gesellschaft unterhaelt macht sie auch, denn von selbst zerfällt sie in jedem Augenblick […]“,³²⁴ schreibt Schleiermacher ins erste Gedankenheft. Ist allem ethisch Qualifizierten die Vollzugsdimension unverzichtbar eingeschrieben, so ist dies auch zu beachten, wenn wir uns Schleiermachers Güterlehre zuwenden,³²⁵ deren Kreuztabelliertechnik dazu verleitet, ein statisches Institu-
L 146. Vgl. auch G III, 39., 128: „Die Blüthe ist die wahre Reife. Die Frucht ist nur die chaotische Hülle dessen was dem organischen Gewächs nicht mehr angehört.“ In einem Brief jener Zeit über die Liebe als Grund der Ehe spiegelt Schleiermacher zeitliche Relativierung und Geltungsbehauptung in eins: „Das fortschreitende revolutionirende Princip unseres Zeitalters [an anderer Stelle ist vom „Geist des Zeitalters“ die Rede – CR] ist der romantische Geist“ (Brief 1082, 179). S.o. I.3.1.1. Vgl. L 209: „Die innige Gemeinschaft wächst ununterbrochen […].“ Vgl. ChS 317– 319. Vgl. ChS 338. Vgl. auch ChS Beil 69: „§. 193. Die Geschlechtsgemeinschaft als verbreitendes Handeln angesehen geht auf die Erzeugung vernunftfähiger Individuen. Deshalb ist sie eben Basis alles verbreitenden Handelns. […]“ G I, 169., 38. Vgl. weiterführend dazu ThG 168. In der Christlichen Sitte führt Schleiermacher sodann diese Beobachtung spekulativ dahingehend fort, dass er das Gemeinschaft Stiften und das auf sie als Kommunikationszusammenhang in jedweder Tätigkeit – also auch der Stiftung derselben – Zurückgreifen in eins fallen lässt. Vgl. ChS 305. 322. S.u. I.4.Einleitung.
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tionengerüst zu assoziieren, was mitnichten in Schleiermachers Sinn ist.³²⁶ Mit der These: „Das Universum gleicht darin dem Menschen daß die Thätigkeit die Hauptsache ist, die Begebenheit nur das vergängliche Resultat. […]“³²⁷ deutet Schleiermacher selbst die Anschlussfähigkeit der Theologie an jene sozialphilosophischen und handlungstheoretischen Bestimmungen an. In der Glaubenslehre verfährt er sodann konsequenter Weise ganz in dieser Linie, wenn er etwa Schöpfung und Erhaltung als Ausdruck für ein und dasselbe bezeichnet, aber der Erhaltung den Vorzug gibt, weil sie die Prozessualität deutlicher ausspricht als die einen Abschluss suggerierende Vorstellung von der Schöpfung.³²⁸ Mit der Einholung der Religion in das sittliche Bestimmungsgefüge stellt sich zugleich die Frage nach deren Koordination. Widersprechen sich sittliche Aktivität und religiöse Passivität nicht? Schon prinzipiell lässt sich diese Frage sogleich verneinen. Ist Sittlichkeit in großem Maße durch die Vollzugsdimension bestimmt, so ist die Religion davon nicht ausgeschlossen, denn auch die rezeptive Hingabe an das ‚Universum‘ und die Selbstbetrachtung in Muße sind Vollzüge. Sittliche Aktivität erschöpft sich dagegen auch nicht in reiner Spontaneität. Schleiermacher wird in dieser Frage noch konkreter. Im Rahmen seines Erweises der größeren Sittlichkeit des Christentums gegenüber den anderen monotheistischen Religionen korreliert er die Zuordnung des ‚Tätigen‘ und ‚Leidentlichen‘ mit dem Gegensatz des ‚Sittlichen‘ und ‚Fatalistischen‘.³²⁹ Werde im Islam das Passivitätsmoment dahingehend überreizt, dass alles auf den Grund ‚unabänderlicher göttlicher Schickungen‘ zurückgeführt wird, so sei im Christentum erkannt, dass die ethische Freiheit, die wie die Religion
Bei seiner Sortierung der drei von Schleiermacher aufgeführten Ethikformen paraphrasiert Poul Jørgensen Tugend als ‚Kraft‘ bzw. ethisch vorausgesetzte Eigenschaft des Handelnden, Pflicht als Beschaffenheit der ‚Handlung des Hervorbringens‘ und das Gut(e) als ‚das Hervorgebrachte‘ (Jørgensen, Ethik, 76). Dies darf allerdings nicht dahingehend missverstanden werden, dass sich in Güterund Pflichtenlehre Produkt und Produzieren gegenüberstünden, weil sonst ein Gegensatz in die Ethik einrückte, den Schleiermacher für das äußerliche Verhältnis von Ethik und Naturwissenschaft reserviert hat. Vgl. PhE 79: „Alles erscheint in ihr [sc. der Ethik – CR] als Produciren, wie in der Naturwissenschaft als Product.“ In jeder Sphäre der Ethik geht es um Vollzugsformen, seien sie teleologisch (organisieren / bilden / wirksames Handeln) oder selbstperformativ (symbolisieren / darstellen). Auch die Schematik der Güter ist nur recht verstanden, wenn sie nicht als steinernes Institutionengerüst, wie es der Begriff des abgeschlossenen Produkts nahelegt, sondern als Gliederung eines lebendigen und gleichermaßen bestimmten wie verwobenen Handelns verstanden wird. Mit dem Zitat „‚Jedes ethisch gewordene für sich, welches zugleich ethisch erzeugend ist, ist ein Gut‘“ weist auch Jørgensen später darauf hin (ders., Ethik, 77). G III, 30., 126. Im dortigen argumentativen Zusammenhang stellt Schleiermacher v. a. auf die Passung der Lehre zur je aktuellen Zuständlichkeit des religiösen Erlebens ab. Vgl. CG2, § 3 f. 32– 34. 36 – 40. 46, S. 19 – 40. 201– 215. 218 – 234. 264– 276. Vgl. CG2, § 9, 74– 80. Im Leitsatz lautet das Relationspaar Sittlichkeit und Natürlichkeit, das aber sodann auf oben genannten Gegensatz zugespitzt wird.
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einen unmittelbarem Bezug auf die menschliche Subjektivität hat,³³⁰ nicht im Gegensatz zum religiösen Abhängigkeitsbewusstsein steht.³³¹ Für die Christliche Sittenlehre ist der Gedanke ohnehin unentbehrlich, dass moralisches Aktivwerden unmittelbarer Ausfluss religiöser Bestimmtheit ist; ein Gegenbild liefert hier die ‚sittliche Nullität‘ quietistischer Passivität.³³² Mit der Würdigung der Lebendigkeit stimmt Schleiermacher in die protestantische Anerkenntnis des In-der-Welt-Seins ein, die bei ihm bis zur ethischen Satisfaktion der Naturalität an sich reicht.³³³ Zum Auftakt seiner Hausstandspredigten greift er die dennoch in frommen Kreisen verbreitete These auf, das (all‐)tägliche Leben ziehe den Menschen von der Religion ab. In hohen Festzeiten blühe die ‚Erhebung zu Gott‘ auf, aber in der festlosen Zeit sinke das Gemüt nieder.³³⁴ Dieser Diastase will er mit seinen Predigten begegnen, in denen er neben ethischen Orientierungen auch die religiöse Tiefendimension des häuslichen Lebens herauszuarbeiten sucht. In einem Brief an die Schwester spricht er das Problem in seiner ‚räumlichen‘ Dimension an, also dem Verhältnis von ‚Gemeine‘ und ‚Welt‘.³³⁵ Beide würden gleichermaßen in der Lage sein, auf den Menschen anregend und bildend zu wirken. Ob der Einzelne nun sein Soziotop in der kleinen Gemeinde oder in der bürgerlichen Gesellschaft zu finden vermag, stellt Schleiermacher der Passung zu dessen Mentalität, Charakter und Reizbarkeit anheim. Es wird deutlich, dass Schleiermacher bei allem Verständnis für Charlottes Wahl, welches er auch darin zum Ausdruck bringt, seine eigene Feinfühligkeit dem geschützten Rahmen der Herrnhuter zu verdanken, für letztere votiert.³³⁶
G V, 89., 307: „Der Unterschied zwischen Legalität und Moralität ist noch gar nicht der zwischen Rechtlichkeit und Sittlichkeit, sondern er deutet nur das Dasein oder Nichtdasein des subjektiven, das Lebende oder Todte der Handlung an.“ In der Subjektivität liegt mit der Religion und der Moral auch die Schätzung des Wertes des Lebens begründet. Vgl. Dilthey, Leben I, 141: „wie die verschiedenen Lebenslagen für die Entwicklung von Glücksempfindungen gleich günstige Bedingungen enthalten;“ so „giebt [es] kein wissenschaftliches Urtheil über den Werth des Lebens, sondern nur subjektive Gemüthsurteile.“ Vgl. CG2, § 9.2, 79 f. ChS 321. S.u. I.4.2. Vgl. H 227 f. Brief 587, 47– 49. Zu seiner Meinung von den Herrnhutern vgl. auch Brief 1224, 397, wo er seine Gedanken im Blick auf den Gottesacker in Gnadenfrei schildert: „Auf der einen Seite liegen die Schwestern, auf der anderen die Brüder, eben wie sie im Betsaal sitzen. Jedes Grab hat einen Leichenstein, der aber keine Recension enthält, sondern nur eine Anzeige. Lächeln mußt‘ ich über die größeren adlichen Steine. Ich idealisirte mir die Menschen nicht, die es nun bis hierher gebracht hatten, ungebildet, beschränkt, vom Universum wenig wissend und bei dem Aufsuchen des Göttlichen und Ungöttlichen nur in das kleinste Detail der menschlichen Seele hineingehend. So sind gewiß die Meisten gewesen, aber sie trugen doch das Ewige im Herzen, sie hatten doch den Sinn der die Welt zusammenhält, und wenn sie auch viel Gutes nicht kannten, und es vielleicht schüchtern verworfen hätten, so würden sie doch kein Böses geliebt haben. Friede mit ihnen, dachte ich, sie mögen jetzt mehr wissen und besser sein, und so ging ich zwischen den Gräbern hindurch.“
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Im bürgerlichen Leben fand er die ‚gute Lebensart‘, die wert erschien, die Würde der Selbstzwecklichkeit zugeschrieben zu bekommen.³³⁷
3.2.2 Psychologische Ebene Fragen wir nach dem vermögenstheoretischen Ort, an dem die Vollzugsdimension des Lebendigen primär lokalisiert ist, so werden wir von Schleiermacher an das Gefühl gewiesen. Dies hat eine Kette von Gründen. Oben haben wir uns vor Augen geführt, dass das Gefühl als motivationaler Indifferenzpunkt von Handeln und Wissen gelten kann.³³⁸ Seine damit einhergehende relative Unbestimmtheit ist nun die Bedingung der Möglichkeit seiner Integration unterschiedlichster Lebensbezüge, deren Vollzugsdimension es repräsentiert, was zugleich seine einzige Möglichkeit zur Vergegenwärtigung dieser ist, weil Gefühl ohne Vollzug keine Wirklichkeit hat.³³⁹ Zwar sind auch Denken und Handeln Vollzüge, aber sie sind doch deutlich näher an der Objektivierbarkeit, weil sie Produkte und intersubjektive Zueignungsmechanismen kennen, derer das Gefühl entbehrt. Es bleibt trotz seiner sozialen Kommunizierbarkeit als Erlebnisdimension zutiefst an die Subjektivität gebunden, transzendiert diese jedoch wiederum in unterschiedlichster Weise. Schleiermacher identifiziert das Gefühl bekanntlich mit dem ‚unmittelbaren Selbstbewusstsein‘.³⁴⁰ In ihrer sublimsten Gestalt repräsentieren diese den Absolutheitsbezug des Subjekts,³⁴¹ der als intersubjektive Konstante zugleich an seine momentane Realisation gebunden bleibt. Zwischen letzterem und dem unmittelbaren niederen Selbsterleben, etwa in Form von Schmerz, spannen sich viele sozial bestimmte Ebenen auf, die hinsichtlich ihrer Quantität und Intensität differieren.³⁴² Überwiegt beim Gefühl auch der Aspekt der unverfügbaren Rezeptivität, der besonders für das ‚höchste der Gefühle‘ bedeutsam ist, so eignen ihm doch auch spontane Momente. Hat Schleiermacher noch in der Erstauflage seiner Reden den
Vgl. G I, 156., 36: „Die gute Lebensart soll nicht eine interimistische Anstalt seyn die sich selbst vernichtet wenn die Menschen klug genug oder bekannt genug sind, sondern sie soll durchgehn: ihr Ziel ist eigentlich der häußliche und bürgerliche Zustand.“ G I, 164., 37: „Die gute Lebensart muß lebendig seyn.“ Inwieweit Schleiermacher in der ‚guten Lebensart‘ seinen elaborierten Güterbegriff vorwegnimmt deutet auch der süffisante Gedanke G I, 149., 35 an: „Ich beweise eigentlich daß es gar keine schlechte Lebensart giebt, sondern daß alles nur ein Theil der guten ist, und darin liegt viel gute Lebensart.“ Und G I, 166., 38: „Der Begrif des Schiklichen muß jedesmal aufs neue produzirt werden; der Glaube an seine Praeexistenz ist der Aristocratismus der guten Lebensart.“ S.o. I.3.1.2. Vgl. auch zum Folgenden Dierken, Glaube, 355 – 357. Vgl. CG2 § 3, 19 – 32. Vgl. CG2 § 4, 32– 40.Vgl. dazu die präzise Paraphrase von Friedrich Wilhelm Graf: „Religion ist das unmittelbar-momentane Haben des Ganzen der Wirklichkeit in der anschauend-fühlenden Einheit des Selbst.“ (Graf, Gefühl, 178 [Hervorhebung getilgt – CR]). Letztere kann von einem individuellen Erleben, das sich jedweder sozialer Erwartung bzw. Stimmungslage sperrt bis zur ‚gleichgeschalteten‘ Euphorie eines Massenerlebnisses reichen.
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Anschauungsbegriff in unmittelbare Nähe zum Gefühl gebracht, so trägt er diesem Sachverhalt damit Rechnung.³⁴³ Beide Aspekte zusammengenommen führen zu der These, dass Gefühl nicht bloße Innerlichkeit ist, sondern Vergegenwärtigung der Gemeinschaft im Innerlichen, bei der immer das Sperrigkeitsmoment der subjektiven Aneignung bestehen bleibt. D. h. Gemeinschaft teilt sich dem Einzelnen nicht unmittelbar mit, sondern will von diesem angenommen und selbst vollzogen sein.³⁴⁴ Ein weiteres entscheidendes Moment für die Integrationskraft des Gefühlsbegriffs ist dessen Offenheit für die Natur- und Geistbestimmtheit des Menschen gleichermaßen. So werden vermittelst jenes Vermögens sowohl niedere Triebe, wie Hunger und Geschlechtslust, als auch mittlere, wie der Fürsorgeinstinkt, als auch höchste Erlebnisdimensionen, wie die Liebe oder die Erhebung präsent. Diese lassen sich zwar differenzieren, wie es auch Schleiermacher in den Begriffen des niederen und höheren Selbstbewusstseins tut, aber streng qualitativ trennen will und kann er sie nicht,³⁴⁵ was als eine der ergiebigsten Grundentscheidungen jenes Denkansatzes für unsere Studie gelten kann. Zuletzt sei auf das Entsprechungsverhältnis von Subjektivität und Kulturalität verwiesen, das uns unten noch eingehender beschäftigen wird.³⁴⁶ Das Gefühl ist der Ort, an dem die äußerlich soziale Architektonik in die personale Binnenstruktur gespiegelt wird. Interessant erscheint dabei die funktionale Äquivalenz von ‚Gefühl‘ und ‚Familie‘. Wie ersteres zugleich die anderen Seelenvermögen umgreift und vervollständigt, so werden wir auch letztere in Schleiermachers güterethischem Konzept als Bestandteil und zugleich integrative Mitte finden. Der Grund für beide Doppellozierungen ist der gleiche: ihre ‚unbestimmte Bestimmtheit‘³⁴⁷. Beide sind gedanklich und definitorisch ebenso schwer zu greifen, wie sie sich einer im Vorverständnis ruhenden breiten Evidenz sicher sein können. Ein Ziel dieser Studie ist es, die Äquivalenz beider als eine stimmige Wahlverwandtschaft herauszuarbeiten, d. h. die emotionale Aufladung der Familie als in ihrer lebensweltlichen Polyvalenz begründet zu erweisen. Zugleich nehmen wir von hier die Sensibilisierung mit, dass in unseren materialen Erwägungen nur dasjenige einen Platz finden kann, was einen lebendigen Vollzug beschreibt oder unmittelbar in einen solchen zu überführen ist. So können etwa Abstammungsverhältnisse an sich nicht von Interesse sein, sondern nur unter der Ägide ihrer orientierenden Funktion für das gelebte Leben.
Vgl. dazu Graf, Gefühl. Dieser These entspricht die Bestimmung der Christlichen Sitte, dass die religiöse Kernhandlungsform des ‚Darstellens‘, als der ‚Manifestation der Seligkeit‘ (ChS 508) ein Gemeinschaftshandeln ist. ChS 513: „Das darstellende Handeln ist das In die Erscheinung treten der Gemeinschaft selbst“ [Hervorhebung getilgt – CR]. Vgl. CG2 § 5, 40 – 53. S.u. I.4.Einleitung. Dierken, Glaube, 362.
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3.2.3 Transzendentalphilosophische Ebene Haben wir die Vollzugdimension in unterschiedlichsten Bezügen, wie der Kultur-, Sozial-, Vermögens-, Handlungs- und Subjektivitätstheorie als entscheidenden Faktor herausgestellt, so kann es kaum verwundern, wenn Schleiermacher ihr auch in seinen metaphysischen Erwägungen einen zentralen Platz anweist. Auch hier ist ihre Funktion integrativer Art, insofern sie das ‚zwiefältige Absolute‘³⁴⁸ zusammenhält. Diese These bedarf einer Erklärung, denn anders als etwa Hegel hat Schleiermacher nur ein Ideal, bzw. genauer: während Hegel die höchste Idee als binnendifferenzierte Einheit denkt, setzt Schleiermacher hier eine monistische.³⁴⁹ Diese bleibt allerdings vollkommen farblos und ist auch gänzlich dysfunktional, wenn sie nicht lebensweltlich vermittelt wird, denn die Welt ist durchweg von Differenzen bestimmt und nur durch Differenzsetzung bestimmbar. Von ebenjener Potenz – als dem geheimen ‚zweiten Absoluten‘ – macht Schleiermacher selbst durchgängig Gebrauch, jedoch ohne sie transzendentaltheoretisch grundzulegen und mit seinem Ideal der Einheit zu korrelieren.³⁵⁰ Anstelle dessen bescheidet er sich damit, Differenz und Einheit als für die faktische Selbstverständigung immer schon vorausgesetzt zu beschreiben. Weil der Mensch keinen Standpunkt außerhalb seines Bezugsystems einnehmen kann, sondern dessen Struktur und Grenzen nur aus der Eingebundenheit in jenes entwerfen kann, geriert der Vollzug zum Horizont, der die unüberwindliche Vorläufigkeit menschlicher Selbstverständigung anzeigt und zugleich – positiv ausgedrückt – deren Auffindungszusammenhang und kritische Richtschnur abgibt.³⁵¹ Blumiger ausgedrückt in den Monologen – hier mit Zuspitzung auf die Selbstbetrachtung, die schon überleitet zum folgenden Kapitel: Durch sein bloßes Sein erhält sich der Geist die Welt, und durch Freiheit giebt er sich die Thätigkeit, die immer ein und dieselbe sein wechselndes Handeln hervorbringt: aber unverrükt schaut er zugleich jene Thätigkeit an in seinem Handeln immer neu und immer dieselbe, und dies Anschaun ist Unsterblichkeit und ewiges Leben, denn es vergeht nicht die Betrachtung dem zurükbleibenden Gegenstand, noch stirbt der Gegenstand vor der überlebenden Betrachtung.³⁵²
Bei dieser kurzen Skizze können wir es hier bewenden lassen und nun auf das ethische Feld im engeren Sinne zurückkehren, um uns dessen Parameter vor Augen zu führen.
Diesen Interpretationsbegriff prägt Jörg Dierken im Anschluss an Dietrich Korsch in: Dierken, Glaube, 415. Stichwort aus der Dialektik: ‚Gott‘ als Absolutheit unter Ausschluss von Differenz. Dierken, Glaube, 414 f. Vgl. Dierken, Glaube, 414: „Schleiermachers Denken [ist] darin der kritischen Transzendentalphilosophie analog, eine letztbegründende Selbstkontextualisierung in der Rückbindung an den unhintergehbaren Vollzug des endlichen humanen Lebens [vorzunehmen]“. M 14.
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4 Kategoriale Grundfiguren Schleiermachers Wer sich auf dem Felde der Ethik Schleiermachers umtut, kommt um die Explikation des bekannten ‚Viererschemas‘, das seine Güterlehre gliedert, kaum herum. Auch wir können uns dessen Vergegenwärtigung nicht ersparen, weil die Familie eine interessante Doppelstellung in ihm einnimmt. Zum einen lässt sie sich einer der Sphären zuordnen; dazu sogleich mehr. Zum anderen aber heißt es im Ethikkolleg von 1812/13: „Die Familie enthält die Keime aller vier relativen Sphären, welche erst in der weiteren Verbreitung aus einandergehen.“³⁵³ Die Familie erscheint hier als die basalste Sozialgestalt, die eine Zueignung der unterschiedlichen Kulturgüter zwar nicht fortwährend und exklusiv vermittelt, – dies wäre eine der bürgerlichen Moderne unangemessene Beschreibungsweise – aber doch in diese einführt, erste Berührungen bietet und einen bleibenden Horizont bereitstellt. Evolutionär leuchtet die Metapher von der keimhaften Anlage ebenso ein, geht man von einer Komplexitätssteigerung aus, die von einer Sippen- über eine Stämme- zur Staatengemeinschaft mit entsprechender gesellschaftlicher Binnendifferenzierung führte; denn Vollzüge von sittlich-rechtlicher Regulation, Ökonomie, Wissensvermittlung und Religion gehören bereits zu den primitiven Formen der Gemeinschaftsbildung. Auch in der Christlichen Sitte kommt der Familie eine integrative Sonderstellung zu, insofern sie sowohl Anteil an der inneren (kirchlichen) Sphäre des christlichen Handelns hat, als auch an der äußeren (bürgerlich mitbestimmten).³⁵⁴ Es sind bereits unvermeidlich einige Aspekte der Güterlehre angeklungen, die es nun zu ordnen gilt. Ihr Ideal ist das ‚höchste Gut‘, welches „Alles ist und Alles in sich enthält, was durch jene Funktion [des Sittengesetzes – CR] möglich ist“.³⁵⁵ Schleiermacher bescheidet sich allerdings nicht damit, jenes in transzendenter Unbestimmtheit zu belassen, sondern er unterteilt es in Güter, die er sodann nicht hierarchisiert sondern koordiniert und in dieser Komplexgestalt als Ausdruck des höchsten Gutes proklamiert.³⁵⁶ Ein solcher Weg der Durchklärung jenes Begriffs muss
PhE 273. Noch radikaler formuliert es Schleiermacher im Brouillon: „Die Familie wird auf diese Art eine Totalität alles dessen, was sonst nur zerspalten vorhanden ist, der Geschlechter sowol als der Alter. Und eben durch diese Totalität wird nun die Zeit und der Raum gleichsam aufgehoben und die Familie eine vollständige Repräsentation der Idee der Menschheit. Daher ist sie auch selbst ein völliges Individuum und gewinnt eine eigene Seele […].“ (PhE 134). Vgl. dazu übersichtlich Birkner, Schleiermachers Christliche Sittenlehre, 108. 111. Dilthey, Leben I, Denkmale, 9. Dies schließt nicht aus, dass eine der Sphären stärker in den Fokus genommen wird und die anderen sodann nur mit Bezug auf diese zur Darstellung kommen. Beispiele dafür führt Schleiermacher im Ethikkolleg von 1812/13 an (PhE 262): „Daher läßt sich die ganze Sittlichkeit unter jedem dieser einzelnen Punkte darstellen, wobei zwar alles andere mit in die Darstellung kommen muß, aber das Entgegengesezte nur verkürzt, welches eben die Einseitigkeit bildet. Sittlichkeit als Kultur, politische Ansicht; Sittlichkeit als Wissen, als Theorie, antike Ansicht; Sittlichkeit als Genialität, künstlerische Ansicht; Sittlichkeit als Gesezmäßigkeit, rechtliche Ansicht; Sittlichkeit als Vollkommenheit und Glückseligkeit, französische Ansicht; als Geselligkeit und Sympathie, englische Ansicht.“
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freilich sehr aufwendig sein.³⁵⁷ Diese Komplexität bedeutet aber auch eine große Stärke, weil sie es ermöglicht, die aufgefundene bzw. aufgestellte leitende Struktur sowohl als objektive Kultur-³⁵⁸ bzw. Sozialphilosophie³⁵⁹ als auch als subjektive Handlungstheorie auszubuchstabieren und damit eine echte Verschränkung dieser Perspektiven zu leisten.³⁶⁰ Mindestens letztere Perspektive setzt voraus, dass es sich in der vorgelegten Differenzierung nicht um eine ständische, sondern allein um eine funktionale Unterscheidung handeln kann, die der zunehmenden Professionalisierung einer aufgaben- und arbeitsteiligen Gesellschaft Rechnung trägt und zugleich begründet behaupten kann, dass sich erst in der Partizipation des Einzelnen an allen Sphären dessen Bestimmung als Mensch realisiert.³⁶¹ Die Kultur- und Handlungsgebiete gliedert Schleiermacher zum einen nach dem jeweiligen Dominieren des ‚Individuellen‘ oder ‚Identischen‘ bzw. ‚Allgemeinen‘.³⁶² Zum anderen wird dies gekreuzt durch die Handlungsformen des ‚Organisierens‘ und ‚Symbolisierens‘. Ihnen wollen wir uns an dieser Stelle kurz zuwenden. Eine menschliche Handlung ist ein intentional geleiteter Vollzug, in dem sich ein Bewusstseinsgehalt mit einem Aspekt der dinglichen Welt verbindet. Dafür sieht Schleiermacher zwei Möglichkeiten, nach der Paraphrase Diltheys: „entweder wird das Sein dem Bewußtsein eingegliedert oder das Bewußtsein dem Sein.“³⁶³ Letzteres meint das ‚Organisieren‘; die Gestaltung der Natur durch die Vernunft. Man kann es mit einigem Recht nahe an die Technik heranrücken, wie es Gunter Scholtz tut, wenn er im ‚Organisieren‘ die Vernunft „die Natur als Werkzeug benutzen [sieht] im Hinblick auf praktische Zwecke“.³⁶⁴ Man kann es auch in ein wärmeres Licht der Moral tauchen, wie Dilthey, wenn er darüber schreibt: „Die Gattungen werden erhalten und veredelt.“³⁶⁵ Schleiermacher selbst changiert zwischen diesen Tönen,³⁶⁶ die sich nicht
In Bezug auf die Grundprogrammatik konnte Schleiermacher bei seinem Lehre Johann August Eberhard anknüpfen. Schon dieser visierte mit seiner ‚Sittenlehre der Vernunft‘ unter dem Zentralgedanken des Vollkommenheitsstrebens eine dynamische Strukturbeschreibung der Sphäre des Ethischen an. So bestimmt er: Der „Begriff der menschlichen Glückseligkeit […] kann nichts anders seyn, als die Empfindung eines ungehinderten Fortgangs zu immer grösserer Vollkommenheit. Diese ersten und hinreichenden Gründe der Glückseligkeit des Menschen nannten die Philosophen des Alterthums das höchste Gut.“ (Eberhard, Sittenlehre, § 15, 17 f). Auf der Ebene der Pflichtenlehre gilt ebenso: „Das höchste moralische Gesetz ist daher das Gesetz: mache dich und deinen Zustand vollkommener […].“ (Eberhard, Sittenlehre, § 60, 62). Vgl. Reble, Kulturphilosophie. Scholtz, Ethik, 37. Damit kann Schleiermacher als ein Vorfahre systemtheoretischer Ansätze des 20. Jahrhunderts, wie jener Talcott Parsons‘ oder Niklas Luhmanns gelten. Vgl. Parsons, system. Luhmann, Systeme. Vgl. Scholtz, Ethik, 37 f. Vgl. PhE 260 – 262. Ausführlich s.u. I.4.1. Dilthey, Leben II, 291. Gegen Scholtz, Ethik, 129. Dilthey, Leben II, 308. Er bezieht sich hier wohl auf eine Textstelle im Sinne von PhE 277, wo Schleiermacher den Naturprozess als Ganzen in eine entsprechende Teleologie bzw. Hierarchie bringt: „§13. Der Heiligkeit der organischen Natur ist nicht zuwider die Zerstörung der einzelnen Wesen, wenn
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ausschließen müssen, weil auch das reine technische Handeln eine ethische Valenz hat. Ohne einem blinden technischen Fortschrittsoptimismus das Wort zu reden, weist Schleiermacher auf die allgemeine Wohlfahrtssteigerung durch (verantwortungsvoll eingesetzte) technische Errungenschaften hin.³⁶⁷ Das gleiche gilt für die Sphären des Handels, des Rechts und der Eigentumsbildung, die allesamt sowohl von kühler Rationalität als auch von moralischer Dignität sind. Schwerer zu greifen ist der Begriff des ‚Symbolisierens‘, weil er mindestens zwei Seiten hat, die Dilthey mit der Begriffsparaphrase des ‚Bezeichnens‘³⁶⁸ meines Erachtens treffend umgreift. Die eine ist mit der ‚Eingliederung des Seins ins Bewusstsein‘ bereits benannt worden. Es ist die Erkenntnisfunktion. Sie hat eine Schlagseite zur Rezeptivität.³⁶⁹ Die andere ist durch größere Selbsttätigkeit geprägt. Sie geht auf Mitteilung als Darstellung von Vernunft im Medium der Natur. Präziser ausgedrückt, bezeichnet sie den Versuch, einen mentalen Gehalt anhand eines Gegenstandes zu konkretisieren, sei es mittels eines intelligiblen oder eines materialen Symbols, um diesen inter- aber auch intrapersonell kommunikabel zu machen. Das Ziel hierbei ist nicht, wie im Falle des Organisierens ein externes Telos, sondern es liegt in der Vollzugsform selbst. Darstellung trägt die Signatur der Selbstperformanz.³⁷⁰ Es ist hier nicht der Ort, das Verhältnis von Philosophischer Ethik und Christlicher Sittenlehre zu bestimmen.³⁷¹ Nur grundlegend wollen wir festhalten, dass beide Ethikgestalten ineinandergreifen und entsprechend auch Nähen aufweisen.³⁷² Wurde im Viererschema das Ineinander der Kultursphären festgestellt, so wird dies in der
sie nur verbunden ist mit thätigem Antheil an Erhaltung und Veredelung der Gattungen.“ Das beinhaltet auf der einen Seite die Ermächtigung über niederere Lebensformen und auf der anderen Seite die Anerkenntnis des individuellen Lebensanspruchs von Mitmenschen. Die Faustformel von ‚Leben und leben lassen‘ gilt für Schleiermacher – wie für die meisten Ethiker – mithin in Bezug auf Mitmenschen absolut und in Bezug auf die Pflanzen- und Tierwelt nur relativ über den Gedanken der Gattungserhaltung. Vgl. PhE 259: Organisieren ist „eine aus der Thätigkeit der Vernunft hervorgehende Erweiterung und Steigerung der ursprünglichen Einigung“ von Natur und Vernunft. Dazu ausführlicher s.u. I.4.2. R 290: „Es giebt kein größeres Hinderniß der Religion als dieses, daß wir unsere eignen Sklaven sein müßen, denn ein Sklave ist Jeder, der etwas verrichten muß, was durch todte Kräfte sollte bewirkt werden können. Das hoffen wir von der Vollendung der Wißenschaften und Künste daß sie uns diese todten Kräfte werden dienstbar machen, daß sie die körperliche Welt, und alles von der geistigen was sich regieren läßt in einen Feenpallast verwandeln werde, wo der Gott der Erde nur ein Zauberwort auszusprechen nur eine Feder zu drüken braucht, wenn geschehen soll was er gebeut. dann erst wird jeder Mensch ein Freigeborner sein […].“ Dilthey, Leben II, 312. Kai Horstmann ist in seiner Identifikation der ‚Organisation‘ mit Selbsttätigkeit und ‚Symbolisation‘ mit Empfänglichkeit dennoch nicht Recht zu geben (ders., Natur, 42). Denn Schleiermacher macht diesen Gegensatz innerhalb des Symbolisierens auf (PhE 259). Eingehender zum Begriff vgl. Greifenstein, Ausdruck und Darstellung. Vgl. dazu pointiert Birkner, Schleiermachers Christliche Sittenlehre, 36 – 50. 81– 87. Zur Begründung der Ähnlichkeiten in ihrem Systemcharakter vgl. Birkner, Schleiermachers Christliche Sittenlehre 103 f.
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Sittenlehre der Kirche mit Bezug auf jene konkret dargestellt.³⁷³ Am augenfälligsten ist sicherlich die Parallelität der Handlungsformen des ‚Organisierens‘ und ‚Symbolisierens‘ zum (‚verbreitenden‘) ‚wirksamen‘ und ‚darstellenden Handeln‘.³⁷⁴ Aus der Kreuzung der genannten Aspekte ergibt sich folgendes Bild, bei dem wir in jedem Bereich versucht haben, die zentrale Handlungsform, das entsprechende kulturelle Gut und die inaugurierte Sozialsphäre anzugeben.³⁷⁵ Organisieren
Symbolisieren
identisch
Tausch/Verkehr | Recht | Staat
Wissen/Sprache | Wissenschaft | Akademie
individuell
Eigentumsbildung | Geselligkeit | Haus
Gefühl | Kunst und Religion | Kirche
Die beiden Hauptfunctionen der Vernunft, die organisirende und die erkennende, sind in der Realität nicht getrennt, […] denn […] durch jedes Erkennen ist ein neues Organ gesezt, […] und jedes Organ ist zugleich ein Symbol.³⁷⁶
Die Tabelle und das zitierte Verschränkungstheorem wollen wir kurz anhand des individuellen Organisierens erläutern.³⁷⁷ Die Eigentumsbildung ist freilich primär eine Aneignung und Nutzbarmachung von Gegenständen. In jeder Form von Gesellschaft ist sie aber auf einen rechtlichen Rahmen angewiesen, also auf die allgemeine soziale Anerkenntnis des erhobenen Besitzanspruchs.³⁷⁸ In einer arbeitsteiligen Gesellschaft kommt außerdem noch die Notwendigkeit des Handels – also von Verkehr und Tausch – hinzu.³⁷⁹ All dies setzt eine Form von Sprache und gemeinsame Wissensbestände voraus, mittels derer Einigkeit über die fraglichen Prozesse und Bestimmungen erzielt wird.³⁸⁰ Mit der Eigentumsbildung werden Grundbedürfnisse des Lebens befriedigt. In der Einleitung bestimmt sie ihr Verhältnis zur Wissenschaft, d. h. zur christlichen Lehre überhaupt, zur Glaubenslehre und zur philosophischen Ethik (ChS 1– 81); und in der Durchführung setzt sie sich ins Verhältnis zur bürgerlichen Gesellschaft bzw. zum Staat (ChS 241– 290. 440 – 501. (620 – 674)) und zur privaten Sphäre des Hauses (ChS 219 – 241. 336 – 365). Vgl. ChS Beil 63: „§ 182. Das Resultat des verbreitenden Handelns verhält sich zu dem des darstellenden wie Organ zu Symbol.“ ChS 293 wird diese Parallelität anhand des Fleisch-Geist-Gegensatzes illustriert. Im Versuch begriffen, Schleiermachers Gütertafel binnendifferenzierter als üblich darzustellen, kommt Kai Horstmann zu mehreren Schieflagen, wie etwa die Rubrizierung der Geselligkeit unter das identische Organisieren (ders., Natur, 44). Seine Darstellung ist daher wenig empfehlenswert. PhE 259. Wo diese Verschränkung nicht gesetzt wird, kommt es zu defizitären Formen wie der ‚kynischen‘ und der ‚ökonomischen‘. „Die kynische giebt die Herrschaft über die Natur auf und hält nur für nothwendig, was der Mensch braucht, um im betrachtenden Zustand z[u] bleiben“, wobei die Betrachtung allerdings „verkümmert“; und die „ökonomische Maxime will das Erkennen nur üben um des Bildens willen“ und verfällt dabei in unwürdigen Utilitarismus (Vorländer, Sittenlehre, 173). Grundlegend zur wechselseitigen Bedingung von ‚Organisieren‘ und ‚Symbolisieren‘ vgl. Dilthey, Leben II, 284 f. Vgl. Dilthey, Leben II, 301. Vgl. Dilthey, Leben II, 309 f. Vgl. Dilthey, Leben II, 301 f.
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Zugleich sind allerdings der Bau eines Hauses und der Erwerb von Kleidung und Nahrung nicht nur notwendige Sicherungsmaßnahmen des eigenen (Über‐)Lebens, sondern auch Ausdruck von individueller Neigung und identifikatorischer Valenz.³⁸¹ Mit der Überleitung vom Eigentum über dessen große Bedeutung für die Eigentümlichkeit zur Kommunikation und Bildung derselben im privaten Rahmen freier Geselligkeit, nähert Schleiermacher das Haus dem individuellen Symbolisieren, also der Sphäre von Kunst und Religion, merklich an.³⁸² Die Familie und ihr engerer Rahmen kann geradezu zur den Leib erweiternden Ausdruckssphäre des inneren Selbst geraten, was wir in dieser Studie in unterschiedlichste Hinsichten ausziehen wollen. Zunächst aber gilt es, (1.) das für jede sittliche Gestalt einschlägige Doppelverhältnis von Individualität und Sozialität aufzuhellen und (2.) die den beiden ethischen Grundhandlungsformen zugrundeliegende Relation von Natur und Geist zu beschreiben.
4.1 Individualität und Sozialität Schleiermacher „ward der Verkündiger der großen Lehre von der Individualität.“³⁸³ Mit diesem emphatischen Diktum hat Wilhelm Dilthey eine interpretatorische Fokussierung vorgenommen, der sich ein breiter Forschungsstrom angeschlossen hat.³⁸⁴ Dagegen hält Bernd Oberdorfer: nicht, daß eine Theorie der Individualität oder der Subjektivität das Zentrum oder das Prinzip von Schleiermachers Theoriebildung darstellt, […]. Umgekehrt läßt sich zeigen, daß der Individualitätsgedanke sich als Moment in der Explikation des sozialtheoretischen Ausgangsinteresses ergibt und auch seine innere Bestimmtheit nur in diesem Bezug gewinnt.³⁸⁵
Vgl. die steile These dazu in PhE 121: „Ein Mensch, der sich kein festes Eigenthum bildet, hat auch keine persönliche Individualität. Und umgekehrt je weniger Individualität, desto weniger Anhänglichkeit an festes Eigenthum, sondern nur an Geld.“ Vgl. auch PhE 125: „[…] die Kenntniß jedes Individuums [ist] ein eignes Organ für die Kenntniß des Universums […] Das allgemeine Medium derselben ist nun die Sphäre des Eigenthums.“ Vgl. Scholtz, Ethik, 47– 49. Dilthey, Leben I, 239. Beispielhaft genannt seien Frohne, Eigentümlichkeit, 85: „Man nennt Schleiermacher wohl den Philosophen des eigentümlichen Bewusstseins, und in der That dürfte man in seinen Arbeiten kaum einen zweiten Begriff finden, den er mit gleicher Konsequenz immer wieder hervorgeholt, mit gleichem Interesse behandelt und mit gleichem Erfolg verwertet hätte, […].“ Nowak, Schleiermacher und die Frühromantik, 254: „Das principium individuationis war für Schleiermacher seit seinen Studien zu Spinoza zum vordringlichsten philosophischen Problem aufgerückt.“ Frank, Selbstentfaltung, 76: „‚Die fundamentale Bedeutung der Individualität‘ für Schleiermacher […] ist Konsens der Schleiermacherforschung.“ Arndt, Philosoph, 11: „Die Individualisierung des Allgemeinen und das Zusammenbestehen von Allgemeinheit und Individualität sind die zentralen Themen des ethischen Denkens Schleiermachers.“ Oberdorfer, Freundschaft, 419.
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Meines Erachtens geht schon allein die Frage, ob nun der Individualitäts- oder der Sozialitätsaspekt den Primat in Schleiermachers Denken erhält, tendenziell an der Hauptpointe jener ethischen Grundkonfiguration vorbei: die unvertretbare wechselseitige Verwiesenheit beider Momente aufeinander.Wird ihr nicht Rechnung getragen, muss geradezu der Vorwurf der Einseitigkeit folgen, der jedoch weniger den Autor trifft, als vielmehr auf den Interpreten zurückfällt. So kommt etwa Dilthey im Zusammenhang seiner kritischen Würdigung der Lucindebriefe – sicherlich nicht ganz unabhängig von seinen eigenen Vorbehalten der darin präsentierten Sexualmoral gegenüber – zu dem Urteil von dem „Unvermögen des Gedankens der Individualität, die realen Verhältnisse der Gesellschaft richtig zu gestalten.“³⁸⁶ Von einer weniger engführenden Interpretation Schleiermachers wird man ihm den Ball zurückspielen können, wenn er im Folgenden feststellt: „aus Voraussetzungen, welche wahr, aber nicht umfassend und vollständig sind, folgen in der Anwendung auf die realen Verhältnisse falsche Ideale.“³⁸⁷ Dadurch sensibilisiert wollen wir nun den Versuch unternehmen, zentrale Aspekte der Individualitäts- und Geselligkeitstheorie Schleiermachers in ihrer Verschränkung zu skizzieren. Als Gliederungsprinzip mag sich hierbei der Aufbau der Schrift eignen, die vielleicht am prominentesten mit jenem Programm verknüpft ist.³⁸⁸
4.1.1 ‚Apologie‘ Mit Recht kann man die Frage stellen, warum man sich im 21. Jahrhundert einer Bewusstseins- und Sozialtheorie zuwenden soll, die von den schwülstigen und – zumindest in ihrer Aufgeregtheit – überlebten Idealen einer vergangenen Zeit getragen ist. Die Betonung der Individualität erscheint wie eine Demotisierung des in der Aufklärung anhebenden Geniekults und das Geselligkeitspathos hat eine Salonkultur im Rücken, deren sozialtheoretische Verallgemeinerungsfähigkeit mehr als fraglich ist.³⁸⁹ Sind es nicht nur träumerische Eigentümelei und aufgeblasene Freundschaftsemphase, die uns aus den matt geschminkten Augen jenes Theoriearrangements anblicken? Dieser schwere Vorverdacht mag uns im Folgenden antreiben bei der kritischen Sichtung und der Frage nach der Haltbarkeit und Erschließungskraft des von Schleiermacher Inaugurierten.
Dilthey, Leben I, 497. Vgl. dazu auch ebd., 502 f. Dilthey, Leben I, 497. Sehr deutlich hat Schleiermacher selbst eine Überpointierung des Einzelnen kritisiert, wenn er Aristoteles vorwirft, „daß er den Wald vor Bäumen nicht sieht, – das Allgemeine nicht vor dem Besonderen, das Absolute nicht vor dem Einzelnen, das Innere nicht vor dem Äußeren. […] So ist Er der Anfang des Verderbens der Philosophie.“ (G V, 205., 335). Die Überschriften lehnen sich an die Titel der fünf Reden an. Zum herrnhutischen Kontext, der gewiss auch seine Anteile an beiden Figuren hat, vgl. Frank, Selbstentfaltung, 76 – 87.
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Als ersten Zugang wählen wir eine logische Verhältnisbestimmung, die nahezu selbstevident daherkommt: „nur in Entgegensezung wird das Einzelne erkannt.“³⁹⁰ Die Spezifik des Einzelnen wird in Korrelation zu anderem Einzelnen sichtbar und das Einzelne verdankt sich als Einzelnes seinem Verhältnis zum Allgemeinen. Klassiker, wie die spinozanische Formel ‚omnis determinatio est negatio‘ und die aristotelische Definitionslogik von ‚genus proximum et differentia specifica‘ operieren mit ebendieser relationalen Grundannahme und auch Friedrich Schlegels ‚Wechselerweis‘ folgt dieser Logik.³⁹¹ Kommt die aristotelische Figur recht statisch daher, so weisen Spinoza und Schlegel bereits in eine Richtung, die auch in Schleiermachers Hermeneutik bedeutsam werden sollte: das Annäherungsverfahren.³⁹² Zwar hebelt es das der Scholastik zugeschriebene Diktum ‚individuum est ineffabile‘ nicht aus, es gibt sich ihm jedoch nicht voreilig geschlagen.³⁹³ Die Zuversicht auf die wenigstens näherungsweise bestehende Erkennbarkeit des Individuums ist schließlich notwendig, wenn ihm in der ethischen Konzeption Rechnung getragen werden und es nicht vor dem Allgemeinen vergehen soll, wie es Schleiermacher Kants Ansatz vorwirft.³⁹⁴ Ob es Schleiermacher selbst gelingt, sein Programm durchzuhalten, werden wir noch zu prüfen haben. Diese Frage negativ zu beantworten, wird man geneigt sein, wenn man Einzelnes und Individuelles gleichsetzt,³⁹⁵ welches auch wir im ersten Annäherungsschritt noch nicht hinreichend geschieden haben. „Es ist […] nicht jede beliebige Einzelheit geistig-vernünftigen Seins, die als individuelle angesprochen wird.“³⁹⁶ Schleiermachers ethische Bemühungen um das Vereinzelte an sich sind in der Tat gering. Seine Aufmerksamkeit gilt – wie wir oben bereits festhielten – dem Einzelnen in seiner innerlichen Bezogenheit auf das Gesamte.³⁹⁷ Allein diese Komplexstruktur verdiene es als Individualität bezeichnet zu werden; so heißt es im
M 22. Letzteren vermutet Andreas Arndt (ders., Philosoph, 11) als Quelle der Schleiermacherschen Figur, was meines Erachtens jedoch nicht zwingend ist und sich auch kaum beweisen lässt. Vgl. Herm 56.115.129.156 u. ö. Vgl. dazu Eckert, Identität, 351 f. Dass Kant das Eigenrecht des Individuellen übergehe, spricht Schleiermacher bündig im fünften Gedankenheft aus: „Kants Moral ist englisch weil sie dem Geselligen Alles unterordnet, und Eudaimonistisch weil sie keinen andern Gegensaz gegen das Gesellige kennt als das Sinnliche.“ (G V, 122., 313). Vgl. dazu PhE 122 f. Darauf, dass dies auch in der soziologischen Debatte immer wieder geschieht und Individualisierung verstanden wird als Vereinzelung machen aufmerksam: Hondrich, Dialektik, 298. Reese, Singlefrauen, 37 f. Neubauer, Individualität, 38. Zum Verhältnis der Begriffe des Besonderen und Allgemeinen, des Eigentümlichen bzw. Individuellen und des Identischen und Universellen vgl. die präzisen Ausführungen bei Frohne, Eigentümlichkeit, 7– 21. Zu Nähen und Differenzen zum Fichteschen Konzept der Individualisierung vgl. in groben Strichen Barth, Individualitätskonzept, 304 f.
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Brouillon: „Die Individualität des Einzelnen ist ein wahres In-eins-bilden des Allgemeinen und Besonderen […].“³⁹⁸ Der Begriff des ‚In-eins-Bildens‘ zeigt zugleich eine Kautele an, die den Geltungsbereich aller im Folgenden noch zu explizierenden Verhältnissetzungen einschränkt. Ein Individuum ist, wie der Begriff schon sagt, eine unteilbare Einheit.³⁹⁹ Soll diese via Reflexion weiter zergliedert werden, so sind die Ergebnisse reine Abstraktionen, die im Blick auf die Wirklichkeit vielleicht erhellend sein mögen, in ihrer Reinheit jedoch nie vorkommen können. Dies gilt sowohl für den Menschen, dessen Lebendigkeit⁴⁰⁰ endet, wenn man ihn zerteilt – was nicht nur im physischen Sinne gilt – und für den reine Vereinzelung oder reines Allgemeinheitsstreben logisch, psychisch und biologisch Optionen der Unmöglichkeit sind. Es gilt aber auch im Blick auf Sozialformen, die Schleiermacher – wie wir unten noch sehen werden⁴⁰¹ – ebenfalls als Individuen anspricht. Geselligkeit existiert nur in konkreten Realisationsgestalten von Familie, Gemeinschaft, Religion usw. und sie hört auf zu sein, wenn der Einzelne den Sinn für das Allgemeine verliert,⁴⁰² oder das Allgemeine ohne die Beschränkungen des Konkreten angestrebt wird.⁴⁰³ In performativer Weise hat Schleiermacher dieser Einsicht Rechnung getragen, indem er für die erste breitenwirksame Darstellung jener Gedanken die Form des Monologs wählte. Mit den Selbstgesprächen eines Individuums richtet er sich an die Allgemeinheit.⁴⁰⁴ Dass ein jedes solches Vermitt-
PhE 122.Vgl. dazu auch das Zitat aus einem Brief Schleiermachers an Brinkmann: „Das Ausgehen von der Individualität bleibt gewiß der höchste Standpunkt, da er zugleich den der Allgemeinheit und Identität in sich schließt.“ (Zit. nach Eckert, Identität, 351). Von dieser Bestimmung ausgehend, wird noch verständlicher, warum Schleiermacher behaupten kann, „der Gegensaz zwischen universell und individuell [ist] nur ein relativer“ (PhE 414), steht doch beides nicht nur in einem äußerlichen Verweisungszusammenhang, sondern schließt bereits im Begriff an sich beide Aspekte ein. In der neueren Debatte wird dem ‚heilen Individuum‘ gern ein Konvolut vielgestaltiger ‚TeilSelbste‘ entgegengestellt. Vgl. z. B. Bilden, Teil-Selbste. Diese Figuren sind allerdings nur (oder immerhin) alter Wein in neuen Schläuchen. Denn was nun als ‚Rolle‘, ‚Fragment‘ und ‚mögliche Selbste‘ angesprochen wird, verhandelt Schleiermacher im Rahmen der Fragen nach der Bedeutung unterschiedlicher sozialer Bezüge für das Agieren und Selbstverständnis des Individuums, und den Begriffen der ‚Selbstanschauung‘, der ‚Mitteilung‘ und ‚Entwicklung‘. Auf einen letzten Einheitsgrund – bei Schleiermacher in eigentümlichen Stoßrichtungen unter den Begriffen des ‚Individuums‘, des ‚Lebens‘ und der ‚Person‘ bedacht – kann auch ein Konzept vieler ‚Teil-Selbste‘ nicht verzichten, sind jene als solche doch nur verständlich in Bezug auf eine spekulative Gesamtentität von Selbst. Dieser Begriff bedarf noch einer Erläuterung, der wir uns unten annehmen. S.u. I.4.1.4. Dieser Zersetzungsgefahr begegnet Schleiermacher z. B. mit dem Gebot der Schicklichkeit: „deine gesellige Thätigkeit soll sich immer innerhalb der Schranken halten, in denen allein eine bestimmte Gesellschaft als ein Ganzes bestehen kann.“ (ThG 171 [Hervorhebung getilgt]). Die Haltlosigkeit dieses Versuchs weist Schleiermacher z. B. an der Natürlichen Religion auf und stellt ihr sein Plädoyer für die positive Religion entgegen. Vgl. dazu die Fünfte Rede (R 293 – 326) und den fünften Paragraphen der Glaubenslehre (CG2 §5, 40 – 53). Das Ineinander biographischer Hinweise (vgl. M 21.26.44.46 – 51.53) und selbstapplikativer Darstellungen hoher Ideale (vgl. M 9 – 11.13.17 u. ö.) brachte Schleiermacher rasch den Vorwurf arroganter Selbststilisierung ein. Diesem versuchte er in den folgenden Auflagen der Schrift durch Korrekturen zu
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lungsgeschehen prinzipiell nur näherungsweise gelingen kann und dennoch notwendig ist, werden wir unten noch befassen.⁴⁰⁵ Nun mag man einwenden, dass es doch ein Taschenspielertrick sei, auf die Frage nach dem ethischen Eigenrecht des Besonderen mit einer Integrationsfigur zu antworten, die den Begriff des Individuellen schon auf halbem Weg in Richtung des Allgemeinen schiebt. Ein solcher Einwand zieht allerdings die Rückfrage auf sich: Was wäre die ethische Konsequenz einer Verweigerung dieser Operation? Es wäre die vollständige Vereinzelung, die z. B. die Folgefrage drängend macht, „ob in Wirklichkeit nicht eine eigene Sittenlehre für jedes Individuum notwendig wäre“.⁴⁰⁶ Die Abwegigkeit dessen liegt auf der Hand.⁴⁰⁷ Erscheint die Wechselverweisstruktur auch unvermeidlich und kommt in ihrer ersten Beschreibung so glatt und charmant daher, so birgt sie doch viel Konfliktpotential. Die Ausgeglichenheit von Eigen- und Allgemeininteresse ist keine Selbstverständlichkeit, sondern will fortwährend errungen sein. Entsprechend weiß Schleiermacher ihr auch im Rahmen seiner ethischen Pflichtenlehre einen Platz anzuweisen.⁴⁰⁸ So benennt er die Gefahren sowohl der egozentrischen Selbstdar-
begegnen, wobei er manche Stelle bescheidener formulierte und sich nicht als genialen Pionier der Individualität, sondern bewusst inter pares zeigte. Vgl. dazu Meckenstock, Wandlungen, 413 – 415. S.u. I.4.1.3. Bereits an dieser Stelle sei allerdings Poul Jørgensen widersprochen, der Schleiermacher vorwirft, er opfere seinen Individualitätsgedanken letztlich doch wieder einem noch größeren Allgemeinheitsprinzip, mit der Begründung (im Referat Carstensens), „daß für Schleiermacher die Individualität nicht gleich Individuum ist […] – darum können wir das keinesfalls als einen wirklichen Individualitätsgedanken anerkennen, da für uns Individualität wirklich gleich Individuum ist“ (Jørgensen, Ethik, 102 f). Dagegen sei dreierlei erwidert: Erstens sei Kants KrV empfohlen, die uns darauf aufmerksam macht, dass die Vorstellung von Talern (oder in diesem Fall die noch abstraktere Vorstellung eines Zahlungsmittels überhaupt) und ein wirklicher voller Geldbeutel eben nicht das Gleiche ist – dies gilt auch für das Abstraktum Individualität und das wirkliche Individuum. (Nur in Klammern sei bemerkt, dass auch das Individuum für Schleiermacher nicht in substantialer Unmittelbarkeit zu haben ist, sondern – trotz aller (scheinbar) unmittelbarer Selbsthabe im Gefühl – dem Phänomenbereich angehört. Vgl. dazu „Schleiermachers Kritik an Jacobis Metaphysik der Individualität“ bei Herms, Herkunft, 141– 144). Zweitens gibt es darstellungstechnische Einschränkungen, die eine Abstraktion und mithin ein Abrücken vom Individuum bei dessen Selbstvorstellung notwendig machen, wie Schleiermacher dies etwa in Bezug auf die Gefühlskundgabe beschreibt, weil sonst eben gar nichts Deutbares vermittelt werden könnte: „Das Gefühl als die ganze Individualität in sich enthaltend kann nicht wieder individuell dargestellt werden, nur in der ganzen Reihe mit dem Charakter der Gemeinschaftlichkeit.“ (PhE 131). Und drittens sei noch einmal zurückverwiesen auf den Stil der Monologen: hier ist doch der Versuch gemacht, Individualität anhand eines Individuums plastisch werden zu lassen. Wenn ein wissenschaftlicher Kantkommentar oder eine Ethikvorlesung dies nicht in gleicher vollbringen kann, nimmt das meines Erachtens wenig Wunder. Jørgensen, Ethik, 105. So kommt es auch, dass das Balanceverhältnis zwischen Selbst- und Außenbeziehung in neueren identitätstheoretischen Ansätzen eine unumgängliche Grundfigur darstellt. Vgl. Keupp/Höfer, Identitätsarbeit. Zu diesem Zusammenhang in der KdS vgl. Viëtor, Liebe, 60 – 62.
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stellung⁴⁰⁹ und des Egoismus⁴¹⁰ als auch der Selbstaufgabe;⁴¹¹ sowohl der Herkunftsund Standortvergessenheit, als auch der Traditions- und Standeshörigkeit;⁴¹² sowohl der Selbstgerechtigkeit, als auch der (Autoritäts‐) Hörigkeit.⁴¹³ Jedes Individuum steht vor der Aufgabe, einen Balanceakt zu leisten, aber auch das Gemeinwesen wird darauf verpflichtet, eine Struktur auszubilden, welche seinen Gliedern Spielräume für Besonderheit und das Ausleben von Eigeninteressen ermöglicht. Aber treten wir noch einmal einen Schritt zurück: Woher kommt eigentlich das Interesse für das Individuelle? Ergibt es sich mit Notwendigkeit aus der ethischen Reflexion oder handelt es sich um ein anderweitig gewonnenes Axiom, das jener eingeschrieben wird? Und wenn dem so ist, was bedeutet dies dann für die Geltung jenes Paradigmas. Poul Jørgensen kann „nicht die geringste Begründung dafür sehen, daß das Individuelle einen irgendwie notwendigen Platz in Schleiermachers System haben soll.“⁴¹⁴ Jürgen Frank vertritt die These, dass „die Theorie der Individualität die Anschauung konkreter Frauen zu ihren geschichtlichen Voraussetzungen zählt.“⁴¹⁵ Und Wilhelm Loew betont, dass Schleiermacher seinen Individualitätsgedanken nicht aus der ethischen Reflexion gewann, sondern dass der Auffindungszusammenhang jener Zentralkategorie im religiösen Erleben zu suchen sei.⁴¹⁶ Dazu seien fünf Punkte angemerkt: 1. Die Individualitätsemphase ist gewiss eine historisch kontingente Bildung. Es gab und gibt Gesellschaftsentwürfe, die ohne jenes Paradigma auskommen.⁴¹⁷ Die Diktatur eines Einheitsstaates – schon gar wenn sich diese nicht allein mit Rechtskontrolle bescheidet, sondern ideologisch die Gesinnungen regieren will – mag das schärfste Beispiel dafür sein, aber auch Standes- und Sippengesellschaften, die zumindest eine Stufung kollektiver Individualitäten kennen, sind davon noch weit entfernt.⁴¹⁸
„Tritt in jede Gemeinschaft so, daß dein Eintreten zugleich ein Aneignen sei; […].“ (PhE 413). „Eigne überall so an, daß dein Aneignen zugleich ein in-Gemeinschaft-Treten sei.“ (PhE 417). „Tritt in jede Gemeinschaft mit Vorbehalt deiner ganzen Individualität, […].“ (PhE 414). „Betreibe alles universelle Aneignen mit Vorbehalt deiner Individualität; […].“ (PhE 417). „Tritt so in die Gemeinschaft, daß du dich schon darin findest, und: Finde dich so darin, daß du hineintrittst.“ (PhE 415). Vgl. auch § 12 PhE 418. „Handle in jeder Gemeinschaft so, daß innere Anregung und äußere Aufforderung zusammentreffen.“ (PhE 416). Vgl. auch § 16 PhE 419. Jørgensen, Ethik, 104. Frank, Selbstentfaltung, 66. Loew, Ethik, 111– 113. Auch das zeitgenössische Frankreich wird im Gegenüber zu ‚Deutschland‘ von Germaine de Staël als deutlich weniger dem Ideal der Eigentümlichkeit, denn vielmehr jenem der ständischen Einförmigkeit verpflichtet dargestellt (Staël, Deutschland, 102 f). Dies bedeutet nicht, dass nicht in jedem Gesellschaftsentwurf Eigen- und Allgemeininteresse ausbalanciert werden müsste. (ChS 117: „Ein Einfluß der Gesammtheit auf die einzelnen als individuelle muß von diesen immer auch gewollt sein.“) Allein die Lösungen sind sehr verschieden. So wird in totalitären Systemen versucht, das gesetzte Gemeininteresse dem Eigeninteresse der Einzelnen als höchste Maxime zu implementieren und mithin das Eigeninteresse umzucodieren, meist verbunden
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2. Nur hoch entwickelte Gesellschaften sind in der Lage, dem Individualitätsideal Rechnung zu tragen. Vergesellschaftungen, deren Hauptaufgabe die natürliche Existenzsicherung ist, können auf Fragen der Neigung und Selbstentfaltung keine Rücksicht nehmen und selbst das Überleben des Einzelnen wird hier oft dem Erhalt der Gruppe nachgestellt sein. 3. Das Individualitätsideal ist nicht nur einer unter vielen und mithin ein verzichtbarer Indikator für eine Hochkultur, sondern deren inkommensurables Integral. Dass Schleiermacher in der Salonkultur der bürgerlichen Gesellschaft und der Muße religiöser Betrachtungen auf diese Kategorie gestoßen sei, legt den Eindruck nahe, er hätte darin ein bloßes Luxusgut aufgetan. Vielmehr gilt aber, dass dem Menschen als Geistwesen erst Rechnung getragen ist, wenn auch dessen subjektive Implikate ihr Recht erhalten.⁴¹⁹ 4. Schleiermachers Empirismus und Liberalismus wirkt sich nicht allein auf seine Religionstheorie, sondern auch auf seine Ethik aus. Gilt für die religiöse Dogmatik, dass sie als historische⁴²⁰ – genauer gesagt zeitgeschichtliche⁴²¹ – Wissenschaft ortsund zeitgebunden ist, so gilt auch für die Ethik als ‚Formelbuch‘ zum ‚Bilderbuch‘ der Geschichte,⁴²² dass sie eminent situationsgebunden ist.⁴²³ Die Bemühung um eine deskriptive Ethik, die zugleich kategoriale Tiefe sucht, ist somit jeder Gesellschaft zu jeder Zeit aufgegeben.⁴²⁴ Diese Kontextbetonung bedeutet jedoch nicht, dass es innerhalb dieser Arrangements keine Notwendigkeiten und Verbindlichkeiten gäbe, denn bloß weil eine soziale Gestalt historisch kontingent ist, bedeutet das nicht, dass ihre Binnenstruktur beliebig und die Orientierungsleistung, die sie für ihre Glieder
mit Androhung weitreichender Gewalt, die auf das basalste Eigeninteresse der Selbsterhaltung zielt. (Noch genereller konstatiert Schleiermacher ChS 117: „Dieses Wollen aber des einzelnen […] können wir uns in ihm nicht getheilt denken zwischen dem, was der Charkter der Gesammtheit, und dem, was seine persönliche Eigenthümlichkeit ist, sondern sie wurzelt in seiner innersten Lebenseinheit.“) Schleiermacher macht in der Christlichen Sitte deutlich, dass der Staat sich angesichts der Selbstbestimmung des Einzelnen nicht nur zurückzunehmen hat, sondern in seiner Verfassung selbst fortwährend vom Einzelnen abhängig ist, der zum ‚reinigenden Handeln‘ an demselben aufgerufen ist. Die Güte eines Staates hängt mithin an seinem Reformpotential, welches wiederum seine Wirklichkeit in Akten einzelner Handlungsträger hat.Vgl. ChS 264– 273. Umgekehrt gilt für jede Gesamtheit in ihrem Verhältnis zum Einzelnen: „Will das ganze reinigend wirken auf den einzelnen […] ohne daß sich der Charakter der Gesammtheit in dem einzelnen individualisiert: so will es etwas, was nicht zu rechtfertigen ist.“ (ChS 118). Vgl. ihre Verortung in der KD: II. Teil: Historische Theologie, Dritter Abschnitt. Die geschichtliche Kenntniß von dem gegenwärtigen Zustande des Christenthums, 393 – 407. Vgl. CG2, §19, 143: „Dogmatische Theologie ist die Wissenschaft von dem Zusammenhange der in einer christlichen Kirchengesellschaft zu einer gegebenen Zeit geltenden Lehre [Hervorhebung – CR].“ Vgl. auch: KD, § 195, 393 f: „dogmatische Theologie, als der Kenntniß der jezt in der evangelischen Kirche geltenden Lehre“. PhE 549. Zu dieser Interpretation der bekannten Formulierung gegen ein Verständnis von ewiger Wahrheit vs. akzidenteller Illustration vgl. Birkner, Schleiermachers Christliche Sittenlehre, 37. Vgl. zu diesem Sachverhalt Birkner, Schleiermachers Christliche Sittenlehre, 97 f.
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leistet, nichtig wäre.⁴²⁵ Mag man also auch Schleiermachers sozialen und konfessionellen Einheitsoptimismus für fragwürdig halten, so wird man den Aspekt der gemeinsamen Lebenswelt, innerhalb derer es zu Wertungen und Plausibilitätsabwägungen kommt, nicht von der Hand weisen können und im Rahmen dessen nimmt das Individualitätsparadigma durchaus eine prominente Rolle ein. 5. Die Beschreibungsrichtung von den Monologen auf der einen und der philosophischen Güterlehre und christlichen Sittenlehre auf der anderen Seite mag eine verschiedene sein. Dies kann zu dem Urteil verleiten, Schleiermacher hätte sein individual-romantisches Programm nicht durchgehalten bzw. einem schönen Gedanken der Jugend keinen Platz im System der Reife anzuweisen vermocht.⁴²⁶ Ausgehend von unserer Zugangsinterpretation, die als den Kern des Individualitätsgedankens ein Balanceverhältnis herausgestellt hat, erscheint dieser Einwand jedoch zumindest präzisierungsbedürftig, denn ein genau solches Verhältnis bestimmt den Aufriss seiner Ethiken.⁴²⁷
4.1.2 ‚Über das Wesen der Individualität‘: Die Mischungstheorie Die gefundene anthropologische Bestimmung bringt die Aufgabe einer genaueren Koordination ihrer Relate mit sich, die mit Einzelnem und Gattung bezeichnet sind. Der Gattungsbegriff hat die Besonderheit, dass er ein Allgemeines beschreibt, dem der Einzelne nicht nur äußerlich gegenübersteht bzw. mit dem der Einzelne nur bestimmungslogisch verbunden wäre; sondern die Gattung schließt den Einzelnen ein – und zwar nicht nur als Sonderfall ihrer, sondern als Repräsentant. Schleiermacher wendet diese Bestimmung in den ethischen Imperativ, „daß jeder Mensch auf eigne Art die Menschheit darstellen soll“.⁴²⁸ In der Christlichen Sitte wird das ‚Darstellen‘ sodann als handlungstheoretischer Primärort der Verschränkung von Individualität und Sozialität in der ‚Gemeinschaft‘ herausgestellt.⁴²⁹ Menschliche Individualität zeichnet sich dem Repräsentationsgedanken nach nicht dadurch aus, dass der Einzelne einige der Merkmale (der Gattung) vereinigt, während ihm andere nicht zukommen, die vielleicht ein Anderer hat. Schleiermacher ist kein Denker qualitativer, sondern quantitativer Differenzen. D. h. jeder Mensch
Entsprechend reklamiert Schleiermacher sowohl für seine Glaubenslehre als auch für seine Christliche Sittenlehre in der Kirche des Preußens seiner Zeit Geltung. Vgl. CG2 §2, 13 – 18. Zur Bedeutung der Einheit Kirche für Schleiermacher in diesem Zusammenhang vgl. Birkner, Schleiermachers Christliche Sittenlehre, 114– 127. Formulierungen wie jene in ChS 322 spielen diesem Einwand durchaus in die Karten: „so folgt, daß für den ganzen Prozeß, von welchem wir reden, die Gesammtheit der eigentliche Träger, und der einzelne immer nur Durchgangspukt ist;“ [Hervorhebungen getilgt – CR]. Zur PhE vgl. in diesem Zusammenhang bündig Nowak, Schleiermacher Leben, 298 f. Zur ChS vgl. Birkner, Schleiermachers Christliche Sittenlehre, 93 – 97.106 f. M 18. Zur darin gesetzten Front gegen Kants äußerlich bleibendes, weil objektivitätstheoretisch gefasstes, Individuationsprinzip vgl. Barth, Individualitätskonzept, 303 f. Vgl. ChS 509 – 515.
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vereint alle Merkmale der Menschheit; Differenzen ergeben sich allein aus dem unterschiedlichen Verhältnis dieser zueinander.⁴³⁰ In den blumigeren Worten der Monologen, die gar noch mit einer biologischen Metapher enden, lautet das bereits angeführte Zitat weiter: So ist mir aufgegangen, was jezt meine höchste Anschauung ist, es ist mir klar geworden, daß jeder Mensch auf eigne Art die Menschheit darstellen soll, in einer eignen Mischung ihrer Elemente, damit auf jede Weise sie sich offenbare, und wirklich werde in der Fülle der Unendlichkeit Alles was aus ihrem Schooße hervorgehen kann.⁴³¹
Hat man die religionsanthropologische Konsequenz dieser Denkfigur, die Schleiermacher in den Reden ⁴³² zieht und die auch für die Prolegomena der Glaubenslehre ⁴³³ entscheidend ist, immer wieder als unbotmäßige Vereinnahmung kritisiert, so hat er in allgemeinanthropologischer Perspektive doch einen Nerv getroffen.⁴³⁴ Denn Konzepte allgemeiner Menschenwürde und unveräußerlichen Menschenrechts mit ihren materialethischen Konsequenzen setzen stets voraus, dass alle Menschen, so unterschiedlich ihr Gesundheitsstand, ihr Vermögen und ihre soziale Stellung auch seien, Menschen im Vollsinne sind und das bedeutet dass jedes Individuum an allem partizipiert, was Menschsein ausmacht. Die Emphase, mit der Schleiermacher seine ‚höchste Anschauung‘ vorträgt, führt ihn gleichsam von selbst in eine religiöse Semantik. So ist vom ‚Offenbaren‘ die Rede, einem ‚Wirklichwerden aus der Fülle der Unendlichkeit‘ und deren ‚Schoß‘. Wüsste man nicht, dass dieses Zitat in einen Kontext anthropologischer Erwägungen gehört, so läge die Vermutung näher, es sei einer Reflexion über Inkarnationschristologie entnommen. Diese Nähe wird uns im Folgenden immer wieder begegnen. Der Umkehrschluss, den die Mischungstheorie eröffnet, ist vielleicht noch interessanter, weil er ein Paradox enthält. In den Reden heißt es, dass das Endliche nur unendlich sein kann, wenn es klar vom Unendlichen getrennt wird.⁴³⁵ Für unseren Zusammenhang bedeutet dies: je schärfer die Konturen eines Individuums werden,
Vgl. R 232: „Ihr selbst seid ein Compendium der Menschheit, Eure Persönlichkeit umfaßt in einem gewißen Sinn die ganze menschliche Natur und diese ist in allen ihren Darstellungen nichts als Euer eigenes vervielfältigtes, deutlicher ausgezeichnetes, und in allen seinen Veränderungen verewigtes Ich.“ Zur stärkeren Betonung der Verschiedenartigkeit in der früheren Freiheitsschrift vgl. Nowak, Schleiermacher und die Frühromantik, 183. Zur Quelle der Mischungstheorie bei Spinoza vgl. Barth, Individualitätskonzept, 307 f. M 18. Vgl. z. B. die berühmte Formulierung von der „eigne[n] Provinz im Gemüthe“ (R 204). Vgl. insbesondere, CG2 §3+4, 19 – 40. Zu einer Kritik, die auf die Unbestimmtheit der von Schleiermacher selbst explizit in Anschlag gebrachten Unterscheidungskriterien abhebt, vgl. Frohne, Eigentümlichkeit, 30 – 35. R 213: „Alles Endliche besteht nur durch die Bestimmung seiner Gränzen, die aus dem Unendlichen gleichsam herausgeschnitten werden müßen. Nur so kann es innerhalb dieser Gränzen selbst unendlich sein […].“
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desto geeigneter ist es, die Gattung darzustellen.⁴³⁶ Denn ist eine jede Eigenschaft, die ein Mensch haben kann, zutiefst menschlich, so trägt auch und besonders das Hervorstechende und Absonderliche zur Anreicherung des Gattungsgesamtbildes bei.⁴³⁷ Wird nur durch Entgegensetzung etwas erkannt, so folgt daraus hier, dass zwischen den Bestimmungsmerkmalen des Menschen Kontraritäten bis hin zu Kontradiktionen selbstverständlich dazugehören; d. h. wo etwas klar wird, ist der Widerstreit Normalfall. Ist dem aber so, so stellt sich die Frage, wie dann immer noch vom In-dividuum gesprochen werden kann. Worin besteht der Gravitationspunkt, der die Mannigfaltigkeit und Disparatheit zentriert?⁴³⁸ Zwei Kandidaten seien genannt: der Lebensbegriff und der Personbegriff.⁴³⁹ Der weitere Begriff ist das ‚Leben‘. Es integriert Einheit und Teilung, Geist und Leib, Sozialität und Absolutheitsbezug, Selbstheit und Gattungsbezug.⁴⁴⁰ Schleiermacher gibt dem Begriff in seinem Psychologiekolleg eine tragende Rolle und bestimmt ihn mithin durchgängig unter den Bedingungen des Bewusstseins. Üblicherweise jedoch erstreckt sich die Qualität des Lebens auch auf unbewusste Formen der Selbstorganisation und das verunklart den Begriff. Aber auch unabhängig von diesem Einwand gilt, dass die positiv zu würdigende integrative Weite des Begriffs zugleich die Gefahr mit sich bringt, ihn gänzlich seiner Bestimmtheit zu berauben und ihn als ‚Containerbegriff‘ zu entleeren.⁴⁴¹ So stellt sich denn auch in den jeweiligen Begriffsapplikationen die Frage, ob noch vom Selben die Rede ist.Was bedeutet Leben in seinen oben angegebenen Zusammenhängen? Stehen das Geistesleben und das Ge-
Vgl. dazu auch Nowak, Schleiermacher und die Frühromantik, 183 f.187. Menschheitsgeschichtliche Tiefpunkte wie Genozide machen uns darauf aufmerksam, dass selbst Unmenschlichkeit zu den Bestimmungsmerkmalen der Menschheit gehört. Zum Verhältnis des Zugleich von ursprünglicher Sündhaftigkeit und ursprünglicher Sündlosigkeit des Menschen in Schleiermachers Glaubenslehre vgl. Hasler, Natur, 152– 153. Gleichwohl ist zu bemerken, dass die Anerkenntnis der Faktizität von Bosheit nicht die Anerkenntnis ihrer Geltung beinhaltet, sondern dass letztere abgewiesen wird. So kann Schleiermacher zwar sogar die „Verschiedenheit der moralischen Vollkommenheit“ als Auffindungszusammenhang moralischer Idealität würdigen, nicht aber ohne sie in eine Teleologie zu bringen. Vgl. Dilthey, Leben I, Denkmale, 35. Lukas Viëtor wählt als Metapher für die gemeinte Konkretion und Zusammenbindung nicht jene des Gravitationspunktes, sondern die der Hülle. So wird bei ihm die Personalität als das Äußere beschrieben, deren „geistiger Kern“ die Individualität ist. Vgl. Viëtor, Liebe, 37. Ausgehend von der unten angeführten Definition erscheint diese zunächst einleuchtende Interpretation jedoch fragwürdig, insofern hier als der geistige Kern gerade nicht die Individualität, sondern die identische Vernunft angeführt wird. Dem Begriff des Organischen gehen wir an dieser Stelle nicht nach. Es sei lediglich darauf hingewiesen, dass Viktor von Weizsäcker ihn im Ausgang von Hans Driesch und in Nähe zur kantischen Vernunftkritik als Schema zur Kategorie der Individualität einführt.Vgl.Weizsäcker, Neovitalismus, 217. Zur Integrationsfunktion des Lebensbegriffs in der Psychologievorlesung von 1818 vgl. Nowak, Schleiermacher Leben, 306 f. Zur Integrationskraft seiner für die gegenwärtige Wissenschaftslandschaft und gleichweisen Unbestimmtheitsproblematik vgl. bündig Toepfer, Leben. Ebd., 164 f findet sich zudem eine umfangreiche Zusammenstellung von Definitionsversuchen des Lebens.
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schlechtsleben in intensionaler oder extensionaler Äquivalenz oder handelt es letztlich vielleicht gar nur um eine Äquivokation? Wir werden letzteres im Folgenden noch auszuschließen wissen, aber das angezeigte Problem besteht dennoch. Gegenüber dem Lebensbegriff ist der Personbegriff insofern enger, als er von vornherein Bewusstsein einschließt.⁴⁴² Schleiermacher definiert ihn als: Das Geseztsein der sich selbst gleichen und selbigen Vernunft zu einer Besonderheit des Daseins in einem bestimmten und gemessenen, also beziehungsweise für sich bestehenden Naturganzen, welches daher zugleich anbildend ist und bezeichnend, zugleich Mittelpunkt einer eignen Sphäre und angeknüpft an Gemeinschaft […].⁴⁴³
An der Definition fällt auf, dass sie im Grunde die gleichen Elemente wie der Lebensbegriff enthält, diese aber nicht nur summiert, sondern in besonderer Weise zentriert. Die Vernunft wird ganz kantisch als überindividuell charakterisiert. Sie gehört zum Identischen – denn genau so wird man ‚sich selbst gleich und selbig‘ zu übersetzen haben –, d. h. sie gehört zum Allgemeinen in der menschlichen Wesenheit. Ihre Besonderung kann mithin nicht intrinsisch motiviert sein, sondern kommt ihr qua ihrer Einbettung in einen Körper – ‚ein bestimmtes und gemessenes Naturganzes‘ – zu, welcher noch genauer mit der Formulierung des ‚beziehungsweise für sich‘-Seins als Leib bestimmt wird.⁴⁴⁴ Allein diese Einheit ist es nun, der die Vermögen zur ‚Anbildung und Bezeichnung‘ zugeschrieben werden, welche die Aspekte von Rezeptivität und Spontaneität, aber auch von ‚Organisieren und Symbolisieren‘ bzw. ‚Bilden und Darstellen‘ andeuten. Ebenso finden Selbstheit und Sozialität hier ihren Kulminationspunkt.⁴⁴⁵ Ausgehend von der Leibbezogenheit der Individualität erscheint es
Gegen Andreas Arndts missverständliche Formulierung, die besagt, dass bei Schleiermacher „Person nicht auf der Ebene des Bewusstseins allein […] verstanden wird.“ (Arndt, Philosoph, 172). Zwar beinhaltet der Begriff in zentraler Weise den Aspekt der Naturhaftigkeit; dieser kommt allerdings nur bewusstseinsvermittelt zur Darstellung, sodass Arndt (ebd., 174) dann auch wieder zutreffend die Bestimmung hervorhebt, dass die „Begriffe Person und Persönlichkeit […] ganz auf das sittliche Gebiet angewiesen“ sind (PhE 604). Vgl. auch Birkner, Schleiermachers Christliche Sittenlehre, 47. PhE 604. Vgl. auch die Formulierung vom „Vereinzeltsein der Vernunft in der Persönlichkeit.“ (PhE 213). Die aufgezeigte Stufung im Personbegriff macht es für mich schwer nachvollziehbar, wie Poul Jørgensen ihn im Anschluss an Julius Richter zum bloßen ‚Formbegriff‘ disqualifizieren kann. Vgl. Jørgensen, Ethik, 107. Dies gilt schon gar, wenn man Schleiermachers entsprechende Ausführungen in der Philosophischen Ethik in Rechnung stellt, in denen er den Begriff der Eigentümlichkeit geradezu zum Formalbegriff der Einzelheit herabsinken lässt, um an seiner Stelle den Begriff der Person zu etablieren. Vgl. PhE 604: „Ein eigenthümliches Dasein ist ein qualitativ von anderen unterschiedenes, ein persönliches ist ein sich selbst von anderen unterscheidendes und andere neben sich sezendes, welches also eben deshalb auch innerlich unterschieden sein muß.“ An anderer Stelle bestimmt Schleiermacher das Verhältnis beider Begriffe geradezu in Kontradiktion dazu, wenn er von der Notwendigkeit der „Bildung der Persönlichkeit zur Eigenthümlichkeit“ (PhE 260) spricht. Das Verhältnis dieser Aussagen zueinander können wir an dieser Stelle nicht näher befassen; was wir allerdings festhalten können, ist der Sachverhalt, dass etwas, dem Bildbarkeit zugesprochen wird, kaum bloße
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nur folgerichtig, diese nicht über die biologische Lebendigkeit hinaus zu postulieren.⁴⁴⁶
4.1.3 ‚Über die Bildung zur Individualität‘: Selbstanschauung und Kommunikation Ein Komplex von der oben beschriebenen Vielschichtigkeit und internen Dynamik kann keine feststehend-substanzhafte Größe sein.⁴⁴⁷ Vielmehr lässt sich seine epistemische Erschließung als ‚Bestimmung‘ im doppelten Sinne beschreiben: zum einen als gedankliche Eingrenzung im Gefolge der Anschauung und zum anderen als Festlegung in Akten der Spontaneität. Beide Aspekte stehen in Wechselwirkung und haben zudem noch eine introvertierte und eine extrovertierte Seite. Anhand der Begriffe der ‚Selbstanschauung‘, der ‚Mitteilung‘ und ‚Darstellung‘ und der ‚Entwicklung‘ wollen wir in dieses Koordinatensystem einige Linien einzeichnen. Die ‚Selbstbetrachtung‘ an sich ist das erste, was Schleiermacher in seinen Monologen programmatisch vorstellt. Die „äußere Welt […] strahlt […] das Höchste und Innerste unsers Wesens auf uns zurük“,⁴⁴⁸ heißt es im ersten Satz der ‚Reflexion‘, aber zunächst interessiert ihn nicht der Spiegel, sondern der Betrachter und seine ‚Brille‘. Warum Schleiermacher gegen die üblichen ‚Fassungen‘ der zeitlichen Aufgliederung des eigenen Lebens in biographische Etappen,⁴⁴⁹ Rückschau auf Höhepunkte des Lebens, Hinsichtnahme auf das eigen vollbrachte Werk und Freude über die errungenen Kenntnisse und Geisteskräfte⁴⁵⁰ so scharf wettert,⁴⁵¹ wird nur verständlich, wenn wir uns vor Augen führen, was die innere Anschauung in seinem Programm leisten soll. Sie ist nicht allein ein Medium der Selbstvergewisserung, sondern v. a. der religiösen Erfahrung. Spricht der ‚Redner‘ vom „ewig sein in einem Augenblik“ als der „Unsterblichkeit der Religion“,⁴⁵² so mahnt der ‚Monologisierende‘: „Sie wollen doch auch einen Punkt haben, den sie nicht ansehen als flüchtige Gegenwart, nur daß sie nicht verstehn ihn als Ewigkeit zu behandeln.“⁴⁵³ Schleiermachers emphatischer Form sein kann, ist Bildung für Schleiermacher doch ein hochartifizielles, selbstreferenzielles Geschehen. „Das Seele-sein ist nichts anderes als das Leib-haben, […]“ (Psy 20). Ausführlicher dazu s.u. I.4.1.5. Byung-Ok Lee zieht die obige Konsequenz nicht, sondern meint, ausgehend von seiner Interpretation der Reden und Monologen den Personbegriff ganz auf das ethische Gebiet beschränken und den Individualitätsbegriff exklusiv der Religion zuweisen zu können, um im Referat Schlegels die Personalität fahren lassen zu können und dennoch die Ewigkeit der Individualität zu behaupten. Vgl. Lee, Individualität, 96 f. Zur in diesem Zusammenhang stehenden Jacobi-Kritik Schleiermachers vgl. Herms, Herkunft, 141– 144. M 6. Vgl. M 6 f. M 8. M 8: „wie tief verwundets mich, daß Menschen denken mögen, dies sei Selbstbetrachtung, dies heiße sich erkennen. Wie elend endet das hochgepriesene Geschäft!“ R 247. M 7.
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Ausdruck mag zunächst befremden, daher sei eine etwas schlichtere Paraphrase versucht: worum es ihm geht, ist die Erlebnisqualität der Selbstreflexion. Es gibt Momente, in denen dem Menschen bewusst wird, dass er mehr ist als seine von Kontingenzen durchzogene Biographie und sein Werk. All jenes tritt als Äußerlichkeit zurück oder wird zum bloßen Aufhänger für das Gefühl des mit sich selbst im Reinen Seins. Im Grunde haben wir es hier mit dem lutherischen Abweis der Werkgerechtigkeit im Gedanken der Rechtfertigung des Menschen als Mensch zu tun, der aller theologischen Forensik entkleidet der allgemein-anthropologischen Psychologie übergeben wird.⁴⁵⁴ Nun ist der Moment unmittelbarer Selbsthabe gedanklich, wie sprachlich ebenso ungreifbar, wie der religiöse „geheimnißvolle Augenblik […] ehe noch Anschauung und Gefühl sich trennen“⁴⁵⁵ und hier wie dort hat der gängige Einwand sein Recht, dass es schwer einsichtig ist, wie hoch vermittelte Konstrukte wie das religiöse Bewusstsein und das Identitätsbewusstsein unmittelbar zugänglich sein sollen. Doch ebenso, wie Schleiermachers Religionstheorie trotz jener Generalkritik meines Erachtens eine hohe Erschließungskraft hat, erscheint auch der weitere Blick auf die Individualitätstheorie lohnend, die ja trotz ihrer Spitzenthese nicht auf die Explikation verschiedener Aufbaumomente und Verhältnissetzungen verzichtet. Als Subjekt der Selbstanschauung führt Schleiermacher den ‚Geist‘ ein,⁴⁵⁶ den wir im Verhältnis auf das bisher Dargelegte definieren können als die im Leibbezug der Personalität gegebene Individuierung der Vernunft.⁴⁵⁷ Als Medium der Selbstreflexion haben wir oben bereits die Metapher des Spiegels genannt. Als ein solcher wird die ‚Welt‘ angegeben, allerdings nicht ohne eine Spezifikation. Wie Schleiermacher gut platonisch den Leib dem Geist subordiniert,⁴⁵⁸ so sind auch „die unendlich großen und schweren Maßen des körperlichen Stoffes […] nur der große gemeinschaftliche Leib der Menschheit“.⁴⁵⁹ Schleiermacher suggeriert hier, dass die Sinnenwelt also ein
Emphatisch referiert Perle den Abweis Schleiermachers aller Glückseligkeitsvorstellungen zugunsten der Selbstanschauung, die sowohl Freude als auch Leid als Anlass zur Steigerung ihrer Konkretion willkommen heißt (Perle, Individualität, 12 f.Vgl. dazu M 11). Darin lässt sich wiederum eine Aktualisierung einer klassischen theologischen Figur erblicken. Diesmal ist es Augustins ‚uti et frui‘. Soll man laut ihm die Welt ‚gebrauchen‘, aber Gott allein ‚genießen‘, so ist es hier der religionstheoretisch sublimierte Selbstgenuss, der gegenüber aller kontingenzbehafteten Eudämonie gepriesen wird. R 221. M 9: „Mir ist der Geist das erste und das einzige: denn was ich als Welt erkenne, ist sein schönstes Werk, sein selbstgeschaffener Spiegel.“ Diese Begriffsdefinition ist als Umkehrschluss gewonnen aus: „Giebts einen Leib wohl ohne Geist? […] Mein freies Thun ist jegliches Gefühl, das aus der Körperwelt hervorzudringen scheint, […] sie ist nicht etwas von mir verschiedenes, mir entgegengesetztes.“ (M 10). M 10: „ist nicht der Leib nur, weil und wann der Geist ihn braucht und seiner sich bewußt ist?“ M 10.
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bloßes Instrument des Geistes ist.⁴⁶⁰ Mit dem Herabdimmen alles nicht Geistigen zur reinen Ausdrucksfläche, kommt dieses letztlich auch nicht mehr als Spiegel des Geistes infrage, weil es bloße Negativfolie ist.Wie Adam im Mythos bis zur Erschaffung Evas etwas vermisst, das ihm entspricht, so kann auch der Geist seinen angemessenen Spiegel nur im Reich der Geister erwarten. In Konsequenz dessen hält Schleiermacher fest: „Was Welt zu nennen ich würdige, ist nur die ewige Gemeinschaft der Geister, ihr Einfluß aufeinander, ihr gegenseitig Bilden, die hohe Harmonie der Freiheit.“⁴⁶¹ Mit dieser Bestimmung kommt die Spiegelmetapher nun an ihre Grenzen, denn der wahre Spiegel des Menschen ist kein bloßes Utensil, sondern selbst ein der Spiegelung würdiges Subjekt. Die darin gesetzte Struktur der Reziprozität ist nicht spannungslos, was zugleich die ‚hohe Harmonie der Freiheit‘ als Ideal entlarvt. Der Blick in die Realität offenbart: „Es stößt die Freiheit an der Freiheit sich“, aber es heißt auch weiter: „und was geschieht, trägt der Beschränkung und Gemeinschaft Zeichen.“⁴⁶² Mit der gegebenen Verhältnisbestimmung verbindet sich der ethische Imperativ zur Empathie; in den idealisierenden Monologen als Indikativ ausgesprochen: „ich denke mich in tausend Bildungen hinein, um desto deutlicher die eigne zu erbliken.“⁴⁶³ Hierbei spielt wiederum die In-dividuumsbestimmung eine wichtige Rolle: Ein jedes Thun stellt mir mein ganzes Wesen dar, nichts ist getheilt, […]. Mein ganzes Wesen kann ich wieder nicht vernehmen ohne die Menschheit anzuschauen, und meinen Ort und Stand in ihrem Reich mir zu bestimmen […].⁴⁶⁴
Dieses Zitat führt uns zugleich auf unseren nächsten Punkt: Wird in den Reden die ‚Anschauung des Universums‘ programmatisch vom Denken und Tun geschieden,⁴⁶⁵ so haben wir es bei der Selbstanschauung dezidiert mit Reflexion – also Denken – zu tun⁴⁶⁶ und ebenso wird das Handeln integriert. In den Monologen wird jenes Aus-sichheraus-Treten im Verbund mit dem In-sich-Gehen als untrennbarer Konnex der künstlerischen Selbstmitteilung⁴⁶⁷ und Lebensphilosophie⁴⁶⁸ dargestellt.⁴⁶⁹ Im Psy-
Dass ohne die Konkretion der Sinnenwelt, die laut Schleiermacher letztlich das einzige Abgrenzungsmittel des Geistigen ist, sich jenes in der Unbestimmtheit verliert, soll uns unten noch beschäftigen. (S.u. I.4.1.5) M 10. M 10. M 19. M 12. R 211: „Ihr [der Religion – CR] Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl.“ Dies sagt schon allein der Begriff, aber Schleiermacher trägt dem auch mit dem Titel des ersten Teils der Monologen Rechnung (M 6). „Es sagen die Künstler, indem du bildest und dichtest müße die Seele ganz verloren sein in das Werk, und dürfe nicht wißen was sie beginnt. […] Ist das Schauen des Geistes in sich selbst die göttliche Quelle alles Bildens und Dichtens, und findet er nur in sich, was er darstellt im unsterblichen Werk: warum soll nicht bei allem Bilden und Dichten, das immer nur ihn darstellt, er auch zurükschauen in
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chologiekolleg macht Schleiermacher deutlich, dass dieser allerdings nicht auf das Intellektuellen- und Künstlerdasein beschränkt ist, sondern zur allgemeinanthropologischen Ausstattung gehört. Unter dem Begriff der ‚Selbstmanifestation‘ beschreibt er hier die vielerlei Spielarten kennende Grundfigur des „Sich-selbst-jedem-andernzur-Anerkennung-darbieten[s]“.⁴⁷⁰ Im Anerkennungsbegriff steckt das Wort ‚Erkennen‘, welches wir mit der Spiegelmetapher bereits bedacht haben. Er geht aber mit seinem zweiten und bedeutenderen Aspekt der Würdigung des Erkannten noch deutlich über ersteres hinaus, was ihm zu bleibender Bedeutung in der Identitätsphilosophie verholfen hat. Der Andere ist nun nicht mehr nur ein Instrument meiner Selbsterkenntnis, dessen ich mich – in hoffentlich ethisch angemessener Weise – bediene, sondern er steigt zur evaluativen Instanz meines Selbst auf.⁴⁷¹ War oben das Moment der Rezeptivität noch das bestimmende, so wird es nun jenes der Spontaneität, denn es reicht unter diesen Vorzeichen nicht mehr aus, anzuschauen, sondern man muss sich zu erkennen geben. „Das Symbolisieren steht im Zenit der Individualitätskonzeption“⁴⁷² und so schildert Schleiermacher unbändig seinen eigenen Mitteilungs- und Vergemeinschaftungstrieb.⁴⁷³ Er ist neben dem rezeptiven Erkenntnisstreben die Triebfeder, die das Subjekt zur Sozialität treibt und anzeigt, dass die Verschränkung von Individuum und Gemeinschaft auch im Begehrungsvermögen gegründet ist.⁴⁷⁴ An dieser Stelle rückt nun ein Begriff in den Aufbau der Konstellation
sich selbst? Theile nicht was ewig vereint ist, dein Wesen, das weder das Thun noch das Wißen um sein Thun entbehren mag, ohne sich zu zerstören!“ (M 13). „Es sagen zwar die Weisen selbst, mäßig sollest du dich mit einem begnügen; Leben sei Eins, und im ursprünglichen und höchsten Denken sich verlieren ein Anderes; […] Kann das heiligste innerste Denken des Weisen [nicht – CR] zugleich ein äußeres Handeln sein, hinaus in die Welt zur Mittheilung und Belehrung […]?“ (M 13). Wir haben es hier im Grunde mit einer Schleiermacherschen Aktualisierung der urprotestantischen Ablehnung einer Zwei-Klassen-Ethik zu tun. Interessanterweise gibt der junge Schleiermacher zu erkennen, dass seine Figur des Ineinander von Mitteilung und Verstehen auch neigungsbestimmt ist. So zeigt er sich als kreativer Geist, der fortwährend vorwärts strebt und dabei keine Muße hat, stehen zu bleiben, um eine gewonnene Erkenntnis noch einmal eigens zu referieren. Vgl. M 21. Dass er durch seine stilbewussten Monologen damit in einen selbstperformativen Widerspruch gerät, lässt sich allerdings kaum leugnen. Psy 8. Damit ist die hohe Bedeutung der innerlichen Selbstreflexion nicht geleugnet. Sie selbst ist schließlich ein virtuell sozialer Akt insofern sich in ihr das prozedurale Selbst von seinem Selbstbild unterscheidet, um sich zu jenem in Beziehung zu setzen, sei es in kritischer, affirmativer, apologetischer, ironischer oder sonstiger Art. Dierken, Individualität, 193. In der Einleitung zum relativen Äquivalent des ‚Symbolisierens‘ in der Christlichen Sitte, dem ‚darstellenden Handeln‘ heißt es: „der einzelne Mensch könnte kein Individuum der Gattung sein ohne ein Aeußerlichwerden des inneren; denn nur unter dieser Bedingung kann die menschliche Natur an eine Totalität von Einzelwesen vertheilt sein.“ (ChS 510.) D. h. die repräsentative Vergegenwärtigung des Mensch- und als Mensch Selbstseins ist für selbiges konstitutiv. Vgl. M 20 f. Vgl. dazu auch Oberdorfer, Geselligkeit, 159 f sowie Perle, Individualität, 20 – 22. Byung-Ok Lee sieht in den Monologen und Reden noch den Drang zur Selbstentwicklung jenen zur Vergemeinschaftung deutlich überwiegen (ders., Individualität, 114– 116). Diesem Urteil korrespondiert jenes Birkners, der für Christliche Sitte und Philosophische Ethik ein Zurücktreten der Person
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ein, der wie kein anderer mit der Romantik assoziiert wird: die Liebe. Sie ist der Garant dafür, dass das beschriebene Sozialgefüge mit seinen Kontrastfiguren⁴⁷⁵ – metaphorisch gesprochen – weder zum Kampfplatz der Selbstbehauptung noch im Gegenzug zum Einheitssumpf der Selbstverleugnung wird, sondern zur Spielwiese wechselseitiger Anregung und Vergewisserung.⁴⁷⁶ Schleiermacher theoretisiert in diesen Zusammenhängen nicht nur, sondern er zieht auch praktische Schlüsse, nach welchen er auch erfahren muss, wie sich eine Kommunikation anfühlt, in der nicht nur die Liebe regiert. Friedrich Schlegel offenbarte sich und sein Liebesideal in der Lucinde und erntete dafür reichlich Spott.⁴⁷⁷ Dies hielt Schleiermacher jedoch nicht davon ab, sich selbst auf andere Weise in seinen Monologen ‚darzubieten‘.⁴⁷⁸ Stellen diese auch keine ‚unmittelbare Selbstexpression‘ dar⁴⁷⁹ – den Versuch, sich vollständig zu erklären kennzeichnet Schleiermacher nämlich als unbotmäßige Zergliederung des Selbst⁴⁸⁰ –, so ist der Begriff der ‚Selbstpreisgabe‘⁴⁸¹ für das sich zur Anschauung Hingeben Schleiermachers doch nicht ganz unpassend. Der Mensch gebe sich selbst, wie ein Kunstwerk, welches im Freyen ausgestellt Jedem den Zutritt verstattet, und doch nur von denen genossen und verstanden wird, die Sinn und Studium mitbringen.⁴⁸²
Nun mag man ironisch einwenden: in dieser Unbekümmertheit öffentliches Kunstwerk kann nur sein wollen, wer in einem Zeitalter lebt, das Graffiti-Vandalismus noch nicht kennt. Schleiermacher offenbart sich hier zweifelsohne als Optimist und doch bringt er – um im Bilde zu bleiben – Imprägnierungen auf: sich als Individuum zu erkennen Geben, bedeutet nicht eine Preisgabe des Intimen, die er allein der Liebe
zugunsten eines sozialethischen Konzepts feststellt (ders., Sittenlehre, 93 f). Mag sich der Fokus des Interesses auch verschoben haben, so hat Schleiermacher seiner Figur des wechselseitigen Verweises entsprechend doch jeweils immer beide Aspekte mitgeführt. Vgl. M 22: „[…] nur durch Entgegensezung wird das Einzelne erkannt.“ Eingehender zu der Doppelthese: „Keine Bildung ohne Liebe, und ohne eigne Bildung keine Vollendung in der Liebe;“ (M 22) s.u. II.3.1.1 und II.3.1.3. Vgl. zu den Reaktionen auf den Lucinderoman: Eichner, Einleitung, XLVI-LV. Zu den Reaktionen auf Schleiermachers apologetischen Versuch der Lucindebriefe vgl. Meckenstock, Einleitung, KGA I.3, LX-LXVIII. Vgl. die ‚Darbietung‘ M 5. Für das darin liegende Moment der darstellerischen Selbstperformanz hatte Schleiermacher auch einen klassischen Paten. In seiner Einleitung zu Platons Gastmahl hält Schleiermacher fest, dass der Thematisierung der Liebe die Liebesrede des Alkibiades über Sokrates genauestens entspricht. Vgl. EP 278. Vgl. Oberdorfer, Geselligkeit, 492– 494. Vgl. Schleiermacher, Fragment 336, in KGA I.2, 146 – 148, hier 146. Nowak, Schleiermacher Leben, 115. Schleiermacher, Fragment 336, in KGA I.2, 146 – 148, hier 146.
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und Freundschaft anweist.⁴⁸³ Außerdem gilt, dass nur innerlich verletzen kann, wer ins Eigentümliche eingedrungen ist; wem dies aber gelingt, der hat Sinn für den Anderen bewiesen und ist mithin durch seine Empathie schon so sehr mit ihm verbunden, dass es ihn wahrscheinlich selbst schmerzen würde, den anderen zu verletzen. Das Thema der Verletzungen, die Trennungen intimer Beziehungen mit sich bringen, wird uns unten noch genauer beschäftigen.⁴⁸⁴ Doch Schleiermacher ist überzeugt, dass der Gewinn, den die Offenheit verspricht, die Gefahr des Scheiterns überwiegt und so beweist er den Mut, mit seinen Monologen voranzugehen.⁴⁸⁵ Für seinen mit ethischen Apellen gespickten kommunikativen Ansatz weiß Schleiermacher gedankenreich und phänomengesättigt zu argumentieren; er verheimlicht jedoch auch nicht die Spezialprobleme. Das erste ist die prinzipielle Unübertragbarkeit von allem Individuellen und mithin auch von Gefühlen.⁴⁸⁶ Hier könnten wir nun resigniert fragen, was das zuvor Gesagte dann eigentlich soll. Ist ‚Selbstmitteilung‘ hiernach nicht ein leerer Begriff und das Vergemeinschaftungsstreben des religiösen Menschen, von dem der Redner sagt: „was seine Gefühle aufregt, darüber will er Zeugen, daran will er Theilnehmer haben“,⁴⁸⁷ nicht ein Haschen nach Wind? Und was soll der Bildungsbegriff oder überhaupt eine Selbstidentitätsvorstellung, wenn die Unübertragbarkeit nicht nur für das interpersonelle Verhältnis gilt, sondern auch für das intrapersonelle?⁴⁸⁸ Dieses Problem hat Schleiermacher gesehen und er begegnet ihm mit dem Begriff des ‚Darstellens‘ bzw. der „beständigen Oscillation zwischen dem Erkennen und Darstellen.“⁴⁸⁹ Unübertragbarkeit schließe Kommunizierbarkeit nicht aus. Hierzu aber bedarf es – und dies sei als zweites Spezialproblem herausgestellt – eines Mediums. Es muss Differenzierungen erlauben und zugleich im Allgemeinen gründen, um von den verschiedenen Standpunkten aus deutbar zu sein. Die wohl differenzierteste Mitteilungsoption des Menschen, die Sprache, wird konsequenterund doch überraschenderweise im Brouillon ausgeschlossen. Denn Denken und Sprache sind aufs engste verknüpft⁴⁹⁰ und so scheint sie Schleiermacher für die Ge-
Vgl. Schleiermacher, Fragment 336, in KGA I.2, 146 – 148, hier 147 f. Es muss gleichwohl eingewandt werden, dass die Trennlinie zwischen dem Intimen und Individuellen nicht immer klar zu definieren ist. S.u. II.3.3.2. Vgl. M 5. Zum dem entsprechenden literarischen Stil der einschlägigen Schriften vgl. Nowak, Schleiermacher und die Frühromantik, 258 – 263. „Dem Individuellen schreiben wir nemlich den Charakter der Unübertragbarkeit zu.“ (PhE 92). „Das Erkennen […] mit dem Charakter der Eigenthümlichkeit d. h. der Unübertragbarkeit […] nennen wir nun im eigentlichen Sinne Gefühl.“ (PhE 97). R 267. „Diese Unübertragbarkeit gilt aber nicht nur zwischen mehreren Personen, sondern auch zwischen mehreren Momenten desselben Lebens.“ (PhE 98). PhE 98. PhE 97 heißt es, „[…] daß Denken und Sprechen identisch sein muß. Und so finden wir auch alles Denken als ein inneres Sprechen und alles innere Sprechen als Tendenz zum Aeußern.Wir vernehmen
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fühlskommunikation kaum geeignet.⁴⁹¹ Dass sowohl die Kommunikationsformen der Geselligkeit als auch der Religion zu großen Teilen Sprache einschließen, widerspricht freilich jener These. Dieser Einwand lässt sich auch nicht mit der Unterscheidung von Individualität und Religion an sich und ihren positiven Mischungsformen entkräften – insbesondere nicht in Sachen der Individualität –, haben wir doch bereits in ihren basalsten Aufbauprinzipien den Aspekt der Mitteilung gesetzt gefunden. So kommt es, dass Schleiermacher an anderen Stellen die Sprache durchaus für die Selbstverständigung in Anschlag bringt.⁴⁹² Als weiterer Kandidat wird die Kunst eingeführt in ihren Gestalten der bildenden Künste, der Musik, des Darstellenden Spiels und der Poesie.⁴⁹³ Der Individualität entspricht die Darstellungsform der Kunst insofern, als auch sie an sich eine letzte Opakheit behauptet.⁴⁹⁴ Indem sich ein Kunstwerk der vollständigen rationalen Durchdringung sperrt, schafft es einen Wirkungsspielraum, den Schleiermacher mit dem merkwürdigen Begriff einer ‚gewissen Unendlichkeit‘ ausdrückt.⁴⁹⁵ Als – um es in einem Paradox zu sagen – unmittelbarstes Medium der Individualität aber führt Schleiermacher den Leib ein. Er ist zugleich bestimmendes Element menschlicher Individuation⁴⁹⁶ und allgemeinheitsbezogen qua Gattungsbestimmtheit. Als die Gestalten seines Ausdrucks nennt Schleiermacher die spontanen und daher weitgehend reflexiv ungebrochenen Formen der Mimik, Gestik und Exklamation.⁴⁹⁷ Das Gattungsbewusstsein, welches er im unmittelbaren Selbstbewusstsein loziert,⁴⁹⁸ stellt die Möglichkeitsbedingung eines direkten Verstehens dieser
unsere Gedanken selbst nur als Worte.“ Zu weiteren sprachphilosophischen Erwägungen, wie die „Unübertragbarkeit der ganzen Sphäre eines Wortes durch irgend eines in einer anderen Sprache“ vgl. PhE 100. Vgl. auch Frohne, Eigentümlichkeit 80 f. PhE 98: „Dieses Aeußerlichwerden des Gefühls hat aber nicht den Charakter der Sprache.“ So erscheint sie in der Christliche Sitte als das ‚reichste Darstellungsmittel‘, dessen sich das (kultische) Gemeinschaftshandeln zu bemächtigen vermag (ChS 528). Vgl. weiterführend zum Thema beim jungen Schleiermacher Oberdorfer, Geselligkeit, 161 f. Auf letztere, die er an anderer Stelle als die Kunstform der Moderne herausstellt (PhE 192) kommt er im Zusammenhang von PhE 98 f nicht sogleich zu sprechen – wohl wegen dem unmittelbar vorausgehenden Abweis der Sprache als Medium der Individualität. So heißt es auch PhE 99: „Auch soll in jedem Kunstwerk durch Sprache das musikalische Element vornemlich hervortreten.“ Entscheidend ist letztlich, dass Poesie ihre Aussage nicht durch definitorisch eingehegte Begriffe trifft, sondern durch der Wörter „freie Combination durch Fantasie“ (PhE 99). In dieser liegt die bleibende Gültigkeit der These ‚individuum est ineffabile‘. Sie ist der Garant für die innerlich gewendete Transzendenzqualität der Individualität. Vgl. Dierken, Individualität, 206. Vgl. PhE 98 f, Zitat ebd., 99. Die eigentliche Sphäre des Unendlichkeitsbewusstseins ist für Schleiermacher freilich die Religion. So führt er diese auch als „eigentliche Sphäre des Gefühls im sittlichen Sein“ (PhE 99) ein. Dazu s.u. I.4.1.5. S.o. I.4.1.2. „Bezeichnung der Organe für die Individualität: Ton, Geberde, vorzüglich Antliz, Auge.“ (PhE 98. Vgl. auch Psy 5). Und ChS 528: „Die Gestalt des Menschen ist ausdrukksvoll ihrer Natur nach, und vornämlich ist die Gesichtsbildung ein Ausdruck der Intelligenz.“ Vgl. CG2, § 34.1, 212– 214.
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Äußerungen dar,⁴⁹⁹ welches gleichwohl nicht selbstverständlich gelingen muss.⁵⁰⁰ Es sind also auch die ganz basalen Formen der Sozialität und nicht nur die sublimen Gestalten ‚freier Geselligkeit‘, die Schleiermacher als für das Selbst- und Fremdverstehen einschlägig kennzeichnet. Dies ist in unserem Zusammenhang sowohl für das Alltagshandeln als auch für das Interagieren mit Kleinkindern besonders wichtig. Mit Selbstanschauung und Mitteilung haben wir die beiden Grundoperationen des Selbst- und Gemeinschaftsverstehens und -bildens charakterisiert. In obigem Titel der ‚Bildung zur Individualität‘ aber steckt nicht nur ein gleichmäßiges Prozedieren, sondern ihm ist eine Teleologie eingeschrieben, der wir uns nun anhand des Entwicklungsbegriffs zuwenden wollen.⁵⁰¹ Seine Bivalenz kennzeichnet die Grundproblematik, die es aufzuhellen gilt. Im umgangssprachlichen Sinn bedeutet ‚Entwicklung‘ Fortbildung im Sinne von Weiterentwicklung. Wer sich gut entwickelt hat, hat nach diesem Verständnis neue Kenntnisse und Fähigkeiten hinzugewonnen; er hat seinen Horizont erweitert, sich voran bewegt und ist u.U. ein anderer geworden. Demgegenüber betont die Entwicklung im Sinne einer Auswicklung⁵⁰² das Moment der Konstanz. Gleich einer Knospe ist nach dieser Lesart bereits alles angelegt und harrt lediglich seiner Entfaltung.⁵⁰³ Nach dem, was wir über Selbstanschauung als Selbstentdeckung herausgearbeitet haben, ist klar, dass Schleiermacher zum zweiten Verständnis tendiert.⁵⁰⁴ Was die Thematik allerdings so kompliziert macht, ist, dass er damit das erste nicht dispensiert, sondern zu integrieren sucht.⁵⁰⁵ Grundlegend gilt ihm: Nur die äußerliche bildende und schaffende Kraft des Menschen ist veränderlich und hat ihre Jahreszeiten. Veränderung ist nur ein Wort für die physische Welt. Das Ich verliert nichts und in ihm geht nichts unter, es wohnt mit allem was ihm zugehört, seinen Gedanken und Gefühlen
Psy 5 leitet Schleiermacher die ‚Selbstmanifestation‘ ab „aus dem Gattungsbewußtsein, weil der einzelne sich nur kundgibt für andere, indem er sich ihnen gleichsetzt.“ Vgl. auch PhE 125 f: „Durch die vorausgesezte Identität des Organischen sind wir im Stande die Differenz in den Aeußerungen der Individuen von den unsrigen zu verstehen.“ Wir werden unten noch öfter sehen, dass Schleiermacher den Frauen stärker Rezeptivität und Konkretion anweist, den Männern dagegen Spontaneität und Abstraktion. Diese Zuweisung wirkt sich auf unseren Zusammenhang folgendermaßen aus: „etwas fehlt mir […], nemlich die Fertigkeit, den eigentlichen Gehalt einzelner Bewegungen zu errathen, auch wenn sie sich auf etwas beziehn, was man nicht weiß. Ihr Weiber seit [sic] stark darin, solche Momente zu haben, aber auch sie bei andern zu errathen.“ (BB 368). Ernst Neubauer würdigt ihn als „das Neue, das die Individualitätsempfindung Schleiermachers hier so weit hinaushebt über seinen Ausgangspunkt“ (Neubauer, Individualität, 9). Schleiermacher kann auch vom ‚Zusammengewickelten‘ sprechen. Vgl. beispielhaft G IV, 7., 133: „Ueber meine Anhänglichkeit an die Mädchen: Sie beruht auf dem zusammengewikelten Leben in ihnen. Darum würde eine vollkommen ausgebildete keinen Theil dran haben.“ Diese Metapher gebraucht Schleiermacher für die Beschreibung der Entwicklung des Mädchens zur Frau, die er primär als Schärfung der Eigentümlichkeit versteht (L 184 f). Gegen Frohne, Eigentümlichkeit, 42. Zur nochmals eigenen Frage des Entwicklungsgedankens in Bezug auf die Gattungsgeschichte, die wir hier nicht diskutieren können, vgl. Nowak, Schleiermacher und die Frühromantik, 185 – 189.
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seiner Willkühr und seiner Seele in der Burgfreiheit der Unvergänglichkeit. Verloren gehen kann nur das, was bald hier bald dorthin gelegt wird. Im Ich bildet sich alles organisch und alles hat seine Stelle.Was du verlieren kannst das gilt bis auf einzelne Gedanken hat dir noch nie gehört.⁵⁰⁶
Nehmen wir dieses Zitat allein für sich, so mutet das Individuum hier an wie ein Monolith. Die zuvor dargestellten Dynamiken scheinen ihm äußerlich zu bleiben und es fragt sich, welchen Sinn der Appell zur sozial vermittelten Selbstbetrachtung und Mitteilung angesichts dessen eigentlich haben soll. Blicken wir aber genauer hin, dann entdecken wir, dass die infrage stehende Instanz hier das ‚Ich‘ ist. Ziehen wir noch die frühe Spinoza-Studie hinzu, so finden wir das ‚Ich‘ dort definiert als Ausdruck für die Einheit des Selbstbewusstseins, welche in allen Bewusstseinsakten immer schon vorausgesetzt ist.⁵⁰⁷ Was zunächst als unwandelbar beschrieben wird, ist also das Phänomen, dass jeder Bewusstseinsakt in Reihe mit und Beziehung auf andere Bewusstseinsakte steht. Der letzte Einheitspunkt, den das Selbstbewusstsein in dieser Verknüpfung setzt, ist das ‚Ich‘ und die darauf bezogene mentale Aktuosität nennen wir Identitätsbewusstsein. Dieses schließt zwar ein Veränderlichkeitsbewusstsein ein, dadurch, dass es aber zentriert bleibt auf das ‚Ich‘, dessen wechselnde Zustände jenes anzeigt, neigt es dazu, die Umwelt und Geschichtlichkeit nicht zum Aufbaumoment des Selbst zu erheben, sondern lediglich als Indikator für Bestehendes zu würdigen. Haben wir es bei Schleiermacher mit einer echten Verschränkung von Selbst und Anderem zu tun und soll Perles Urteil gelten, dass mit dem Entwicklungsgedanken bei ihm der Mensch erstmals in seiner Geschichtlichkeit gewürdigt ist,⁵⁰⁸ dann kann jedoch das Außen nicht bloße Folie für das unwandelbare Selbst sein, sondern muss diesem auch etwas eintragen können. So mag man einwenden; doch worum es Schleiermacher geht, ist nicht die Asozialität des Selbst – dagegen haben wir oben schon reichlich Gegenbeweise gefunden – sondern die allgemeine Annahme, seine Eigentümlichkeit nicht durch beliebige Einflüsse sofort gefährdet zu sehen⁵⁰⁹ und auch das Alltagsphänomen, dass wir auf die relative Konstanz der Persönlichkeit anderer rechnen.⁵¹⁰ Ähnlich beharrlich, wie sich die Individualität in Bezug auf äußere Einflüsse zeigt, ist sie auch gegenüber den Willensbestimmungen des Subjekts. „Immer mehr zu
G II, 7., 108.Vgl. auch M 13: „so oft ich aber ins innere Selbst den Blik zurükwende, bin ich zugleich im Reich der Ewigkeit; ich schaue des Geistes Handeln an, das keine Welt verwandeln, und keine Zeit zerstören kann, das selbst erst Welt und Zeit erschaft.“ Vgl. Schleiermacher, Spinozismus (Vermutlich 1793/94), KGA I.1, 511– 558, hier 540. Oder im Anschluss an die Prolegomena zur Glaubenslehre: Das ‚Ich‘ ist eine „mit Hilfe der Substanzkategorie“ gebildete „gegenständlich[e]“ (CG2, §4.1, 33) Vorstellung des Selbst (Barth, Bewußtsein, 43). Perle, Individualität, 17 f. Zur Bedeutung von Distanzierungs- und Integrationsleistungen für die personale Identität vgl. Bialas, Kommunitarismus, 47.50 – 52. Vgl. Frohne über Schleiermachers Psychologie in: ders., Eigentümlichkeit, 67 f.
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werden was ich bin, das ist mein einziger Wille;“⁵¹¹ klingt zwar ambitioniert, ist aber ein deutlich bescheideneres Programm, als Selbstverwirklichung im Sinne von Selbsterfindung und Selbstkreation.⁵¹² Eine solche würde voraussetzen, dass sich der Wille aus den übrigen Formen der Selbsttätigkeit losreißen und ihnen gegenübertreten könnte.⁵¹³ Dies ist aber nicht möglich, weil er selbst seine Bestimmtheit aus ihnen erhält und durch Vorverständnisse und bestehende Tatsachen geprägt ist. Hinzu kommt die Beobachtung, die schon ganz nah an den Begriff des Alltagssinns heranreicht: In den seltensten Fällen tritt der Wille in eine harte Entscheidung, die sich Optionen setzt und auf tiefere Kriterien rekurriert. Zumeist ergeben sich die Dinge im Laufe der Zeit und der Wille korrigiert nur leicht den Kurs. Es lässt sich folgern, dass mithin auch „das Werden der Eigentümlichkeit und die Stetigkeit der freien Lebendigkeit wesentlich ein und dasselbe“⁵¹⁴ sind. Versuchen wir einen Schluss: Der Entwicklungsgang und die Gestalt der eigenen Persönlichkeit wird weder von anderen noch von einem selbst in einem Akt der Entscheidung bestimmt. Das schließt nicht aus, dass Sozialität und Selbstbestimmung Wirkungen darauf haben. Diese aber sind in ein solch komplexes Bestimmungsgefüge eingebettet, dass die Extraktion und Erhebung von einem dieser Elemente zu dem entscheidenden eine Überinterpretation bedeuteten würde. So wird sich das gelebte Leben (zumeist) in Entsprechung zur gebildeten Persönlichkeit darstellen und jeder Entwicklungsschritt in solch enger Verknüpfung mit vorangehenden Bestimmungen zeigen, dass die persönliche Entwicklung als ganze wie eine Auswicklung von im Keim Grundgelegtem erscheint.⁵¹⁵ Kann man sich auch – um noch einmal zum Bild der Knospe zurückzukehren – die eigene Blütenart nicht aussuchen, so kann man doch durch gute Pflege dafür Sorge tragen, dass sie sich bestmöglich entfaltet. Schleiermacher machte in seiner Psychologie die Beobachtung, dass Personen von höherer Bildung und höherem Stand eine klarer konturierte Eigentümlichkeit aufwiesen als Vertreter niederer Schichten.⁵¹⁶ Auch über die Lebensalter stellte er eine Steigerung derselben fest, was
M 42. Zu einer Kritik am Begriff der ‚Selbstverwirklichung‘, die gegen diesen sowohl hinsichtlich seiner internen Kohärenz als auch hinsichtlich des problematischen Selbst- und Weltverständnisses, das er impliziert, polemisiert vgl. Thomä, Glück, 275 – 277. Vgl. Frohne über Schleiermachers Psychologie in: ders., Eigentümlichkeit, 69. Psych. 234 zit. nach Frohne, Eigentümlichkeit, 69. Vgl. auch M 44: „Ich weiß worin mein Wesen schon fest in seiner Eigenthümlichkeit gebildet und abgeschloßen ist; durch gleichförmiges Handeln nach allen Seiten mit der ganzen Einheit und Fülle meiner Kraft werd ich mir dies erhalten.Wie sollt ich nicht des Neuen und Mannigfachen mich erfreun, wodurch sich neu und immer anders die Wahrheit meines Bewußtseins mir bestätigt.“ In Bezug auf die Betonung von Krisen und Diskontinuitäten in neueren Identitätskonzepten (vgl. z. B. Haußer, Identitätsentwicklung) gilt es festzuhalten, dass die Kontinuität der Jemeinigkeit der jeweiligen Identitäten und die vielstufigen Übergangsvermittlungen zwischen den einzelnen Phasen bestehen bleiben. Vgl. Frohne, Eigentümlichkeit, 45.
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er bis in die Physiognomie auszog.⁵¹⁷ Entsprechend hoch schätzt er die Bedeutung der Pädagogik, der er die Aufgabe der persönlichen Entwicklungshilfe aufträgt. Nicht das Brechen und Neuaufbauen des (sündigen) Zöglings ist seine Devise, sondern die Erziehung im Relationengefüge von Individualitätssublimation und Sozialitätsbefähigung.⁵¹⁸ Der Möglichkeit zur Steigerung der Selbstbewusstwerdung⁵¹⁹ unter Einschluss einer ‚Bekehrung zum Selbstbewusstsein‘⁵²⁰ entspricht auf der anderen Seite die Gefahr des Abfalls.⁵²¹ Beide Seiten wird man allerdings nur als quantitative Differenzen – wenngleich auch mit größtmöglicher Spannweite – zu werten haben.⁵²²
4.1.4 ‚Über das Gesellige der Individualität‘: Gruppenidentität In unterschiedlichsten Zusammenhängen haben wir von der Dialektik zwischen Individualität und Sozialität gehandelt und dabei zumeist den Einzelnen in Beziehung auf einen anderen Einzelnen oder seine Umwelt als Ganze beschrieben. Nun gilt es, diese Verhältnisse zu konkretisieren: Schleiermacher nennt ‚Freundschaft‘, ‚Ehe‘, ‚Familie‘ und ‚Volk‘ bzw. ‚Staat‘ und die mit diesen zum Teil konvergierende ‚freie Geselligkeit‘ und ‚bürgerliche Gesellschaft‘. Jene positiven Gestalten gelebter Sozialität lassen sich in eine gewisse Stufung bringen. So setzt die Familiengründung für Schleiermacher die Ehe – heute zumeist eine Paarbeziehung – voraus; und der Staat
Vgl. Frohne, Eigentümlichkeit, 44 f. Vgl. dazu im Überblick Nowak, Schleiermacher Leben, 321– 323. Detaillierter dazu s.u. III.2.1.2. Wie im Sinne seiner subjektivitätstheoretisch begründeten Religionstheorie die Katechese die Zentralaufgabe haben muss, auf eine ‚Verstetigung des Gottesbewusstseins‘ im Einzelnen hinzuwirken, so rufen die Monologen zur Verstetigung der Selbstbetrachtung und Selbstentsprechung auf. Im ersten Gedankenheft konstatiert Schleiermacher missverständlich scharf: „Die meisten Menschen gleichen den vorweltlichen Naturprodukten denen es an der Kraft fehlte sich wieder zu erzeugen.“ (G I, 47., 17). Im zweiten Gedankenheft konkretisiert er den Gedanken aber dahingehend, dass er die Selbsterzeugung als Selbstbewusstwerdung beschreibt und schließt mit der herben Zeitdiagnose: „Der Tod ist ihr gewöhnlicher Zustand und wenn sie einmal leben glauben sie in eine andere Welt entzükt zu seyn.“ (G II, 10., 109). „Die Menschheit in sich zu betrachten, und, wenn man einmal sie gefunden, nie den Blik von ihr zu verwenden, ist das einzige sichere Mittel, von ihrem heilgen Boden nie sich zu verirren. […] Ein einziger freier Entschluß gehört dazu ein Mensch zu sein: wer den einmal gefaßt, wirds immer bleiben; wer aufhört es zu sein, ists nie gewesen.“ (M 16). Vgl. dazu auch die ‚Revolution der Denkungsart‘ bei Kant, Religion, B 52– 59. Gegen Johannes Perle, der besonders darauf abhebt, dass die „Selbstanschauung keine Fähigkeit des Menschen“ ist und „nicht angelehrt“ werden kann (ders., Individualität, 11). Mag die Selbstreflexivität als solche auch nicht erlernbar sein, weil sie dem Menschen in Gestalt seiner Geistbegabtheit immer schon gegeben ist, so kann sie doch geweckt, sublimiert, gestärkt und befestigt werden. Dazu beizutragen ist schließlich das Hauptanliegen der Monologen. Für diese Interpretation spricht auch der hypothetische Charakter der schärfsten Formulierung, die sich in diesem Zusammenhang finden lässt: „Den Faden des Selbstbewußtseins hat er einmal zerrißen, hat sich einmal nur der Vorstellung und dem Gefühl ergeben, das er mit dem Thiere theilt: wie kann er wißen, ob er nicht in plumpe Thierheit ist hinabgestürzt?“ (M 16).
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setzt sich zusammen aus einer Vielzahl von Familien. Diese quantitative Ordnung bedeutet für Schleiermacher und seine Zeit z.T. auch eine Vermittlungshierarchie. So hat die Frau nur über die Beziehung zu ihrem Mann Anteil und durch die Erziehung ihrer Söhne Einfluss auf den Staat und die bürgerliche Gesellschaft.⁵²³ Für den Mann dagegen verlieren im preußischen Beamtenstaat die Herkunftsfamilie und der eigene familiale Stand zunehmend an Bedeutung. Das Besondere der schleiermacherschen Einführung der Sozialformen besteht nun aber nicht darin, dass sie die Sphäre des Sozialen gliedern, sondern darin, dass sie den Begriffen des Individuums und der Person weitere Aspekte eintragen – und zwar ganz unmittelbar, denn sie sind nicht nur der Rahmen für Einzelpersonen, sondern werden selbst als ‚Individuen‘⁵²⁴ bzw. ‚Personen‘⁵²⁵ angesprochen.⁵²⁶ Julius Richter paraphrasiert präzise: […] genau wie die Einzelperson neben ihrem universellen Charakter den der Individualität hat, so hat auch die Person der Familie ihre Individualität, durch welche sie sich unterscheidet von jeder anderen Familie, während die einzelnen Glieder der Familie darin als in einem Identischen übereinstimmen.⁵²⁷
Der Besitz von Individualität ist die Voraussetzung für eine Identifikationsvalenz und jene ermöglicht wiederum allererst eine Bezugnahme des Gefühls, die eine Bandbreite von Liebe über Geneigtheit, Distanz bis hin zu Hass aufweist.⁵²⁸ Schleiermacher stellt meines Erachtens so sehr auf die Individualitätsbestimmtheit der Sozialformen ab, weil er die Möglichkeit fundieren will, sie zu lieben. Das Besondere daran, eine Gemeinschaft zu lieben – und nicht nur in ihr zu lieben – ist, dass damit zugleich ein starkes Reflexivitätsmoment aufleuchtet. So bedeutet, die Familie zu lieben, nicht nur, die anderen Familienmitglieder zu lieben, sondern auch die Gemeinschaft mit ihnen,
Vgl. Psy 50 – 52. Detaillierter und selbstverständlich kritisch dazu s.u. II.2.1 und II.2.3. Vgl. PhE 327: „Mann und Frau bilden eine gemeinschaftliche Eigenthümlichkeit […] Diese gemeinschaftliche Eigenthümlichkeit ist der Familiencharakter […].“ PhE 95 f: „Die absolute Gemeinschaftlichkeit des Organisirens wieder individualisirt gibt die Idee des Staates. Denn es heißt: eine Masse davon soll eine Unübertragbarkeit an das Uebrige annehmen und eine besondere Bestimmtheit in sich.“ Vgl. PhE 604 f: „Keineswegs aber ist der Begriff so beschränkt auf den einzelnen Menschen, daß er auf anderes nur in uneigentlichem Sinne könnte angewendet werden, sondern ganz auf dieselbe Weise ist eine Familie eine Person und ein Volk eine Person.“ Ebenso wie der Mensch sind auch seine freien Vergesellschaftungsformen selbstzwecklich. Vgl. ThG 169. Richter, Das Princip der Individualität in der Moralphilosophie Schleiermachers, 54, zit. nach Lee, Individualität, 191. Dieser Bogen ist ohne die angegebene Vermittlungsstufe als Bekenntnis ausgedrückt in M 25 f: „Wo ich Anlage merke zur Eigenthümlichkeit, […] da ist auch für mich ein Gegenstand der Liebe. Jedes eigne Wesen möcht ich mit Liebe umfaßen […].“
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bzw. noch pointierter: sich in ihrer Gemeinschaft zu lieben.⁵²⁹ Diese Selbstapplikation erweist sich als ausgesprochen fruchtbar, wenn eine Sozialform als subjektiver Lebenssinn plausibilisiert werden soll. Übertragen auf die Ebene der Staatlichkeit fällt sogleich ins Auge, wer die Paten jenes Gedankens der Gruppenindividualität sind: Es ist Johann Gottfried Herder mit seinem Begriff des ‚Nationalgeistes‘⁵³⁰ und die ‚historische Rechtsschule‘ mit dem Konzept eines sich zur Entfaltung bringenden ‚Volksgeistes‘.⁵³¹ Diese Figurationen haben freilich eine andere Stoßrichtung als das beschriebene Reflexivitätsmoment und gaben geschichtlich Anlass jenes gar zu übergehen. Wohin die emotionale Aufladung von Gruppenindividuen umschlagen kann, hat die Geschichte des 20. Jahrhunderts gezeigt. Dass das Einzelindividuum bei Kleingruppen wie der Familie in demselben Maße aus dem Blick gerät, ist zwar weniger wahrscheinlich, jedoch als Gefahr mitgegeben. Daher gilt es zu betonen, dass bei aller gemeinschaftlichen Identifikation die Einzelpersonen bestehen bleiben; d. h. sie gehen nicht nur in der Gemeinschaft auf, sondern stehen ihr auch bleibend gegenüber.⁵³² Schleiermacher ist allerdings darauf bedacht, dass unter der Flagge des Eigenrechts des Einzelindividuums nicht auch dessen Eigensinn als gerechtfertigt mitsegelt. So ist sein Ideal die ‚freie Gemeinschaft der Geister‘,⁵³³ in welcher die Kanten der Individuen bis ins unmerkliche verflüchtigt sind. Diese hingegen in all ihren Härten zu beobachten, ist leidiges Geschäft des Gegenwartsdiagnosten.⁵³⁴ Als Ethiker sucht er den Ausgleich. So zeichnet er das eheliche Ideal freiheitlicher Harmonie und wechselseitiger Vervollkommnung⁵³⁵ und den Staat als von der Moral durchdrungenes – dem ‚Viererschema‘ nach in sich gestuftes – Kulturganzes.⁵³⁶
Zur Besonderheit jenes Reflexivitätsmoments bezogen auf die Paarliebe vgl. Luhmann, Liebe, 174 f. Zu einer genaueren Auseinandersetzung damit s.u. II.3.1.2. Vgl. Stephan, Herder, 2125. Vgl. Titius, Recht, 2066 f. In Bezug auf den Charakter der wohl engsten Gemeinschaft, der Ehe, schreibt Schleiermacher: „er ist, da die Eigenthümlichkeit beider nicht streng identisch ist, auch nicht eine strenge Einheit, sondern eine die Vielheit in sich tragende und aus sich entwickelnde.“ (PhE 327). Entsprechendes gilt selbstverständlich sodann auch für die anderen Sozialformen. Zu diesem Problem s.u. I.4.1.5 und zur weiteren Diskussion I.4.2.4. So beschreibt Schleiermacher viele Ehen seiner Zeit folgendermaßen (M 33): „Jeder hat und macht sich seinen Willen nach wie vor, abwechselnd herrscht der Eine und der Andere, und traurig rechnet in der Stille jeder, ob der Gewinn wohl aufwiegt was er an baarer Freiheit gekostet hat“. Vgl. auch den weiteren Kontext M 32– 35. S.u. passim. Gruppenindividualitäten greifen immer auch auf Einzelindividualitäten aus und prägen deren Selbstdeutung und emotionale Verfassung. Gemeinhin nimmt die Akzeptanz gegenüber dieser Übergriffigkeit mit der Größe der Gruppe ab, was auch Schleiermacher beobachtet, wenn er konstatiert, „daß Alle glauben, der sei der beste Staat, den man am wenigsten empfindet, und der auch das Bedürfniß, daß er da sein müße, am wenigsten empfinden laße.“ (M 33). Schleiermacher würdigt den Staat dagegen als „das erhabenste“ (R 203) bzw. „schönste Kunstwerk des Menschen“ (M 33). „Dieser Staat ist weder Polizei- noch Rechtsstaat, weder Wirtschafts-, Handels- oder Erwerbsstaat, er ist
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Interessant erscheint dabei die Beobachtung, dass die notwendige Verwiesenheit des Einzelindividuums auf das Soziale ebenso exklusiv für dessen positive Gestalten gilt, von denen es sich nie dispensieren kann, sondern die es nur in ihrem Verhältnis – nach Maßgabe weiterer Einflüsse – auf sein Selbstverständnis umgewichten kann.⁵³⁷ In Anwendung dieses Gedankens bedeutet z. B. das emanzipatorische Programm der Selbstverwirklichung der Frau in den meisten Fällen zwar eine Absetzung von Ansprüchen der Familie, die aber nicht in einen unbestimmten Raum der Freiheit führt, sondern zugleich gefüllt wird durch Orientierungsgehalte aus der Berufswelt und zwar wiederum ganz bestimmte einer jeweils gegebenen Stelle mit all ihren Möglichkeiten aber auch Zwängen.⁵³⁸ Gerade weil die sozialen Bestimmungsfaktoren so unausweichlich sind, sucht Schleiermacher sie in ein möglichst ausgeglichenes Verhältnis zum Einzelindividuum zu setzen. Anhand unterschiedlicher Staatsverfassungen illustriert er die verschiedenen Zuordnungsmöglichkeiten: Allgemeine Formel des Rechten ist Vereinigung des speciellen [sc. gruppenspezifischen – CR] und individuellen. Dagegen sind nun: 1.) wenn das Individuelle zum bloßen Mittel gemacht wird für das Specielle. Despotismus. Hierher gehört auch die bloße Rechtlichkeit die despotischer Natur ist. 2.) Umgekehrt Egoismus oder Anarchie, welches einerlei ist. 3.) Nicht-Anerkennung des Gegensazes Barbarei. 4.) Gegenseitige Zerstörung beider: Sittenlosigkeit oder Corruption. Das rechte ist von Seiten des Speciellen angesehen Liberalität von Seiten des Individuellen Sittlichkeit.⁵³⁹
Für die Orientierung des alltäglichen Handelns erscheint zudem sein unvollendet gebliebener Versuch einer Theorie des geselligen Betragens einschlägig. Hier stellt
vielmehr der neue Kulturstaat, die ‚Verkörperung des idealen Wollens und Strebens eines Volkes, die machtvolle Zusammenfassung seiner besten Kräfte‘ [Wehrung]. […] darum [ist] auch der Staat in eine Reihe zu setzen mit den anderen beiden Lebensformen Ehe und Freundschaft“ (Perle, Individualität, 35 f). Eine solche Emphase für eine politische Vereinigung, schon gar mit nationalem Profil, wird in Deutschland seit 1945 – sei es triumphierend, anklagend, gleichmütig oder bedauernd – der Vergangenheit übergeben und auch quantitative Äquivalente, wie etwa die Gemeinschaft eines Kulturkreises, stehen der notwendig mit ihnen mitgesetzten Abgrenzung gegenüber anderen wegen unter Verdacht. PhE 178: „Allein die Persönlichkeit existirt für die sittliche Potenz nirgends isolirt; sie ist mit jedem organischen System in ein größeres Ganze eingewurzelt, es sei Familie, Staat, freie Geselligkeit, Akademie. Also jede Beziehung auf die Persönlichkeit ist auch eine Beziehung auf diese […].“ Gegenwärtig wird der Sachverhalt, den Schleiermacher mit dem Begriff der ‚Gruppenindividualität‘ oder ‚Massenidentität‘ anspricht, zumeist mit dem stärker auf das Einzelwesen zielenden Begriff der ‚Rolle‘ bzw. ‚Rollen‘ angezeigt, der allerdings meines Erachtens die Schwäche hat, eine Uneigentlichkeit zwischen dem Individuum und seinem sozialen Auftreten zu suggerieren. Zum Konflikt zwischen Berufs- und Familienleben und –arbeit s.u. II.2.2. G V, 175., 326. Zur letzten Bestimmung vgl. auch G V, 101., 309: „Sittlichkeit ist die Identität oder Synthesis von Individualität und Rechtlichkeit.“
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Schleiermacher drei ‚Gesetze der geselligen Thätigkeit‘ auf:⁵⁴⁰ 1) Das formelle Gesetz: „Alles soll Wechselwirkung seyn;“⁵⁴¹ 2) Das materielle Gesetz: „Alle sollen zu einem freien Gedankenspiel angeregt werden durch die Mittheilung des meinigen.“⁵⁴² Und 3) das quantitative Gesetz bzw. Gebot der Schicklichkeit: „deine gesellige Thätigkeit soll sich immer innerhalb der Schranken halten, in denen allein eine bestimmte Gesellschaft als ein Ganzes bestehen kann.“⁵⁴³ Das erste Gesetz zeigt das Ideal der Vergemeinschaftung an: wechselseitige Erweiterung. Das dritte macht auf die Grenzen aufmerksam, die das Prinzip der Reziprozität mit sich bringt, und die orientierende Bestimmtheit, die die verschiedenen Sozialformen dem Handeln der Einzelnen vorgeben.⁵⁴⁴ Das zweite Gesetz markiert das Kerngeschäft, welches – so sei es hier interpretiert – das Recht auf die Würde der Selbstzwecklichkeit der jeweiligen Gemeinschaft begründet. An anderer Stelle vergleicht Schleiermacher die Vergemeinschaftungsformen mit Körpern, die ihr Leben nur durch das Agieren der Glieder erhalten.⁵⁴⁵ Diese Metapher muss man meines Erachtens dahingehend deuten, dass die Selbstzwecklichkeit der Gruppenindividuen daran gebunden ist, der Selbstzwecklichkeit der Einzelnen Rechnung zu tragen.⁵⁴⁶ Missachtet eine bestimmte Sozialform dies konsequent, sei es eine Ehe, eine Religion oder die bürgerliche Gesellschaft,⁵⁴⁷ so wird ihr der Einzelne mit Recht durch seinen persönlichen Rückzug das Leben entziehen und sie als bloße Hülle dem Tode preisgeben. Diesen Sachver-
Zu einer ausführlicheren Diskussion der ‚drei Gesetze‘, die hier nicht statthat vgl. Nowak, Schleiermacher und die Frühromantik, 264– 277. Arndt, Philosoph, 54– 56.61 f. Frank, Selbstentfaltung, 239 – 288, bes. 266 – 284. ThG 170. ThG 170. ThG 171 [Hervorhebung getilgt]. Die Nähen zum Religionskonzept der Reden sind hierbei unverkennbar: die ersten beiden Gesetze verweisen auf die notwendig freie wechselseitige Kommunikation in der lebendigen Religionsgemeinschaft, während das dritte Gesetz einem überzogenen Freiheitspathos – religionstheoretisch mit dem Theorem der ‚natürlichen Religion‘ ausgesprochen – in der Betonung ihrer ‚Positivität‘ wehrt. Vgl. ThG 168: „Die ursprüngliche Idee der Gesellschaft muß nämlich vorangehn; denn nur durch diese können die Gesetze des Betragens bedingt und bestimmt werden;“ die wiederum – so ließe sich der Gedanke fortsetzen – Garant für ein Gelingen der Kommunikation sind. Vgl. ThG 168: „Denn die Gegenwart mehrerer Menschen in einem Raum um des geselligen Zwecks ist nur der Körper der Gesellschaft. Dieser muß erst durch die Thätigkeit jedes Einzelnen belebt werden, und weil es eine durchaus freie Thätigkeit ist, kann dies Leben nur durch eine ununterbrochene Fortsetzung derselben erhalten werden.“ Denn oben haben wir gesehen, dass Schleiermacher M 9 f auch eine Unterordnung des Körpers bzw. Leibes unter den belebenden Geist vornimmt: „Mir ist der Geist das erste und das einzige: […] die […] Maßen des körperlichen Stoffes, […] mir ist das alles nur der große gemeinschaftliche Leib der Menschheit.“ Bernd Oberdorfer sieht im Frühwerk Schleiermachers eine „Gewichtsverlagerung von der Intimität hin auf Öffentlichkeit […] von der Leitkonfiguration der Freundschaft hin auf die komplexere, integrativere Konfiguration der freien Geselligkeit.“ (Ders., Freundschaft, 416). Wir stimmen aber mit Jürgen Frank darin überein, dass sich die Regeln der freien Geselligkeit mit Recht und Gewinn auch auf die ‚spezielleren Formen der Geselligkeit‘ übertragen lassen (ders., Selbstentfaltung, 287).
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halt, den wir im Folgenden noch in Bezug auf Schleiermachers Bild von der Ehe näher erläutern werden, gilt es zumindest als Gegengewicht ins Spiel zu bringen gegen Jørgensen, der der Sache nach Schleiermachers Kritik „Die Alten streben wohl vorzüglich nur nach der gemeinschaftlichen politischen Individualität.“⁵⁴⁸ auf jenen selbst wendet, wenn er behauptet, Schleiermacher gehe es gar nicht um das Einzelindividuum, sondern letztlich nur um Individuen höherer Stufe, wie Familie, Staat usw., in denen der Einzelne nur Statist sei.⁵⁴⁹ Das sich hiermit ergebende Menschenbild, welches Jørgensen Schleiermacher vorwirft, entspricht meines Erachtens eher dessen Bild vom Tier, wenn er notiert: „Die Idee daß alle Thiere einer Art nur Eine Seele haben kann als Mythos in einem Dialog gebraucht werden.“⁵⁵⁰
4.1.5 ‚Über die Religion‘: Individuum und Absolutes „Selbstanschauung und Anschauung des Universums sind Wechselbegriffe; darum ist jede Reflexion unendlich.“⁵⁵¹ So einfach und schmissig diese These daherkommt, so voraussetzungsreich ist sie doch im schleiermacherschen Theoriehorizont; und so provokant und steil sie auf den ersten Blick anmutet, so präzise bezeichnet sie doch Zentralaspekte seiner Ethik und Religionstheorie. Um ihre Pointen herauszuarbeiten, wollen wir uns im Folgenden drei schlichte Fragen vorlegen: 1.Was bedeutet es für den Gottesgedanken auf das menschliche Selbst verwiesen zu sein? 2. Was bedeutet es für das Selbst, das Universum zu bergen? Und 3.Welcher Gedanke von Unendlichkeit liegt in diesem Doppelverhältnis? Gern wird darauf hingewiesen, dass Schleiermacher in seinen beiden bekanntesten Frühschriften die Relation jeweils nach einer Seite bestimmt hat: so liegt der Fokus der Reden auf der Anschauung des Universums und jener der Monologen auf der Selbstanschauung.⁵⁵² Für unsere Darstellung wollen wir uns allerdings nicht mit einer Paraphrase dieser beiden bescheiden, sondern für die erste Frage auch auf die reifere Ausgestaltung des Gedankens zurückgreifen. „Gott ist nicht Alles in der Religion sondern Eins, und das Universum ist mehr;“⁵⁵³ Für die spinozanisch geprägten Reden mag man diesen Satz noch mit dem Hinweis darauf erklären, dass Schleiermacher hier Gottes- und Weltgedanke noch nicht trennt, sondern unter den Sammelbegriff ‚Universum‘ fasst, der eben deshalb ‚mehr‘ ist. Spätestens in der Glaubenslehre hingegen wird deutlich, dass es Schleiermacher darum geht, die Theologie in einer Theorie des menschlichen Bewusstseins zu fundieren, weshalb er auf den Zentralbegriff der ‚Re-
G V, 117., 312. Vgl. Jørgensen, Ethik, 107 f. G V, 128., 315. Anders als der Mensch, der zu Selbstbestimmung fähig ist und dessen Individualität durch die Vorstellung der Seelenbegabtheit ausgedrückt wird, sind Tiere nämlich vollständig ihrer Gattungsbestimmtheit unterworfen, die ihre Eigentümlichkeit ausmacht. G III, 34., 127. Vgl. Nowak, Schleiermacher Leben, 113. Jørgensen, Ethik, 88 f. R 247.
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ligion‘ umstellt.⁵⁵⁴ Der Gottesgedanke wird damit zum bloßen Symbol für eine ihm vorausgehende Bewusstseinsaktivität.⁵⁵⁵ Meint ‚Welt‘ der prägnanten Definition der Dialektik nach ‚Absolutheit unter Einschluss von Mannigfaltigkeit‘, ‚Gott‘ hingegen ‚Absolutheit unter Ausschluss von Differenz‘,⁵⁵⁶ so kann nicht das notwendigerweise zergliedernde Denken bzw. mittelbare Selbstbewusstsein und Objektbewusstsein der angemessene Repräsentant jenes Inhaltes sein, sondern allein das ungegenständliche Gefühl, welches Schleiermacher näherbestimmt als unmittelbares Selbstbewusstsein.⁵⁵⁷ Hier wird Religion erfahren, bevor sie in Gedanken expliziert wird und auf dieses Grundvermögen bzw. Selbsterleben muss sich jedes religiöse Symbol zurückbinden lassen.⁵⁵⁸ Die These, dass Gott auf das menschliche Bewusstsein angewiesen ist, mag eingefleischte Theisten düpieren, stimmt aber recht gut mit der Beobachtung zusammen, dass allein Menschen Religion haben und selbst die Vorstellung, dass auch die nichtmenschliche Natur von Gott geschaffen ist, ein menschlicher Gedanke ist.
Diesen Schritt ging Schleiermacher zwar bereitwillig, aber auch notgedrungen. Nach Kants Destruktion der klassischen Gottesbeweise in der KrV verloren diese evidentermaßen ihre Beweiskraft. Die Notwendigkeit ihrer Funktion, die sie vormals ausfüllten, war damit allerdings nicht hinfällig. Die ‚theologia revelata‘ bedurfte weiterhin einer sie begründenden ‚theologia rationalis‘ bzw. ‚naturalis‘. Diese Stelle suchte Schleiermacher nun mit seiner Bewusstseinstheorie zu füllen. Vgl. CG2, §33, 205 – 212. Jener Umbau hatte zugleich Folgen für die Offenbarungstheologie: was sich in den dogmatischen Lehrgehalten offenbart, ist nun nicht mehr Gott an sich, sondern die Verfasstheit des menschlichen Bewusstseins in seinem Bezug zum Absoluten. Darum ist die gängige Paraphrase der schleiermacherschen Religionsbestimmung als ‚Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit von Gott‘ nicht nur schief, sondern verstellt eine der wichtigsten Pointen. In der Erstauflage der Glaubenslehre ist zwar noch die Rede davon, dass die Religion darin bestünde, „daß wir uns unsrer selbst als schlechthin abhängig bewußt sind, das heißt, daß wir uns abhängig fühlen von Gott.“ (CG1, §9, 31). Allerdings ist die Formulierung der ‚Abhängigkeit von Gott‘ hier bereits durch ein explikatives ‚das heißt‘ abgesetzt und als zweitrangig gekennzeichnet gegenüber der Grundbestimmung des schlechthinnigen Abhängigkeitsbewusstseins, die auf ein intentionales Korrelat verzichtet. Konrad Cramer betont, dass ohnehin die Schlechthinnigkeit jener Abhängigkeit eine „objektivierende[…] Deutung“ geradezu verbiete (ders., Prämissen, 136). Zu einer Gottesvorstellung komme es nur, weil sich im lebensweltlichen, d. h. reflektierenden, Umgang doch stets die Frage nach einem ‚Woher‘ der Abhängigkeit stellt – Schleiermacher spricht vom „zurückschieben“ „unser[es] Sosein[s]“ (CG2, §4.4, 40. Vgl. auch §4.1, 34). Dem Gottesgedanken kommt also nur der „Modus einer notwendig angenommenen Größe ohne Eigensein außerhalb seiner funktionalen Bedeutung für den Aufbau von Subjektivität“ zu (Dierken, Glaube, 365). Vgl. weiterführend zu einigen Implikaten dieser Formel Hasler, Natur, 109 – 111. Inwiefern diese Exklusivverortung – trotz der Zugeständnisse in §5 der Glaubenslehre – nicht haltbar ist, weil schon auf den basalsten Ebenen des religiösen Bewusstseins reflexive Vermittlungen notwendig sind, kann hier nicht dargelegt werden, sondern muss als kritischer Einwand mit zwei weiterführenden Literaturhinweisen sein Bewenden haben: Cramer, Prämissen. Barth, Bewußtsein. Diese eigene Ausgestaltung des protestantischen ‚pro me‘ findet bei Schleiermacher eine derart stringente Beachtung, dass er sogar dogmatische Klassiker, wie die Trinitätslehre und die Angelologie und Dämonologie letztlich fallen lässt, weil sie für den von ihm zugrunde gelegten Religionsbegriff nichts austragen. Vgl. CG2, §42– 45.170 – 173, 241– 264.514– 532.
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Das menschliche Subjekt ist aber nicht nur Ort der Bewusstwerdung Gottes, sondern auch Repräsentant des Absoluten. Schleiermacher verschiebt ganz aufklärerisch die Christologie – zu einem Großteil – in die Anthropologie. Nun ist ihm Christus zwar nicht bloß Vorbild, sondern auch ideales Urbild, aber es bleibt doch bei einer lediglich quantitativen Differenz zwischen Mensch und Christus; denn letzterer zeichnet sich allein dadurch aus, dass er das allen Menschen gegebene Gottesbewusstsein zu ‚steter Kräftigkeit‘ gebracht hat,⁵⁵⁹ bzw. ihm die individuelle Repräsentation des Allgemeinen vollständig gelungen ist.⁵⁶⁰ Infrage stehende Verhältnissetzung zwischen Individuum und Absolutem ist mit diesen Hinweisen erst angebahnt. Um sie zu klären, müssen wir einen Begriff einführen, den wir oben bereits als den Horizont des Sozialitätsaspekts herausgestellt haben: die ‚Menschheit‘. Entscheidend ist nämlich, dass Schleiermacher das Ideal ihrer Einheit mit der Gottheit gleichsetzt, was sozialethische,⁵⁶¹ vermögenstheoretische⁵⁶² und theologische Implikate hat.⁵⁶³ Letztere illustriert die Rede Eduards in der Weihnachtsfeier, der ausgehend vom Johannesprolog folgert: „Was wir sonach feiern, ist nichts anders als wir selbst, wie wir insgesamt sind, oder die menschliche Natur, oder wie ihr es sonst nennen wollt, angesehen und erkannt aus dem göttlichen Prinzip.“⁵⁶⁴ Das ‚wechselnde und wiederkehrende Werden‘, welches die Menschheit ausmacht und in das auch das einzelne Leben eingestellt ist, als ‚einerlei‘ mit dem ‚ewigen Sein‘ zu erkennen, wird daran anschließend als Erlösungsbewusstsein herausgestellt.⁵⁶⁵ Was diese ‚Einerleiheit‘ für den Individualitätsgedanken bedeutet, interessiert uns im Rahmen der zweiten Frage. Für den Gottesgedanken können wir an dieser Stelle festhalten, dass das Postulat seiner internen Differenzlosigkeit mit einem großen Fragezeichen versehen wird. Schlechthinnige Einheit Gottes mag man sich an ihm selber denken können. Soll das Einigungs- und Einheitsprinzip, welches für Schleiermacher in sozialethischen, wissenschaftstheoretischen, politischen und konfessionellen Hinsichten so bedeutsam war, nun aber mit dem göttlichen Ideal identifiziert werden, wird dessen Differenzlosigkeit in Frage gestellt, denn jene und
CG2, §94, 52. Vgl. weiterführend Hasler, Natur, 157– 163, der in seiner Interpretation auf die Differenz von allen gegebener Möglichkeit und bei Christus vollendeter Wirklichkeit der menschlichen Gattungebestimmtheit abzielt. Zum entsprechenden, von Dorner geprägten Begriff des ‚Zentralindividuums‘ vgl. Dierken, Individualität, 197 f. Vgl. M 13: „Der Gedanke, mit dem sie die Gottheit zu denken meinen, welche sie nimmer erreichen, hat doch für dich die Wahrheit einer schönen Allegorie auf das was der Mensch sein soll.“ „Erkennen und Begehren soll nicht zwei in mir seyn, sondern Eins. […] Einheit beider in Zwek und Gegenstand, das ist Humanität, das ist das schöne Ziel welches dem menschlichen Wesen gestekt ist, […]“ (WL 410). R 228: „Zur Menschheit also laßt uns hintreten, da finden wir Stoff für die Religion. […] Die Menschheit selbst ist Euch eigentlich das Universum, […].“ W 528. W 528 f. Vgl. auch PhE 100, wo sich „in seiner Identität mit dem Absoluten bewußt“ Sein als der religiöse Aspekt des sittlichen Lebens bezeichnet wird.
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‚ewiges Sein und Werden des Erdgeistes‘,⁵⁶⁶ der noch dazu seine Wirklichkeit nur in Individuen erhält, widersprechen sich schlicht. Wir schließen den Bogen: Als Symbol des religiösen Bewusstseins, welches immer nur ein bestimmtes – zu einem bestimmten Augenblick in einem bestimmten Subjekt⁵⁶⁷ – sein kann, ist der Gottesgedanke an die Individualität des Menschen gewiesen. Dies ist die äußere Seite des Verhältnisses von Individualität und Absolutheit. Innerlich durchbestimmt ist sie durch folgenden Auffindungszusammenhang: Gott als die ungeteilte Einheit steht für das Ideal der Menschheit, die wiederum an ihren Repräsentanten erkannt wird, und zwar Stück für Stück an den Elementen, die das jeweils individuelle Mischungsverhältnis vorstellt. Als Überschritt zur zweiten Frage stellen wir die Zwischenfrage: Spricht aus diesem Konzept nicht menschliche Anmaßung? Schleiermacher antwortet darauf mit einem philosophie(zeit‐)geschichtlichen Rundumblick: In der Fichteschen Philosophie ist das Ich stolz, in der Kantischen ist es eitel, in einer echt skeptischen würde es ironisch seyn, in der spinozistischen ist es liberal, wenn man sie verachten wollte könnte man sagen höflich. Zu einem anmaßenden Ich, worüber so viel Geschrei ist hat man es noch gar nicht gebracht.⁵⁶⁸
Sei es „das schlechthin gesezte, und auf sich selbst gegründete“ Ich;⁵⁶⁹ das „Ich denke“, das „alle meine Vorstellungen begleiten können“ muss;⁵⁷⁰ das Paradox von „Selbstschöpfung und Selbstvernichtung“⁵⁷¹ oder „das individuierte Substantielle[, das] ein Teil der allgemeinen Substanz“⁵⁷² bleibt – überall sieht Schleiermacher offensichtlich Relationsfiguren mitgesetzt, die eine Selbstverabsolutierung des Subjekts verhindern.⁵⁷³ Ist auch in seinem Konzept das menschliche Bewusstsein der Angel-
W 529. Zum Individuum als ‚Erlebnissubjekt‘ des Absoluten vgl. Neubauer, Individualität, 52– 54. G I, 18., 10 f. Fichte, Wissenschaftslehre, 9 Kant, KrV, B 131. Schlegels Ironiekonzept auf die Person bezogen nach Arndt, Philosoph, 171. Spinozas Individuenbegriff nach Lee, Individualität, 36. August Frohne weist darauf hin, dass der junge Schleiermacher in der Verhältnissetzung von Selbstmächtigkeit und Abhängigkeit noch nicht ganz klar erscheint. So betont er, dass nach der Darstellung der Reden dem Menschen die Individualität von außen zukomme, während sie laut der Monologen als ‚ursprünglichste Tat seiner Freiheit‘ gewürdigt werde (ders., Eigentümlichkeit, 21 f). Meines Erachtens ist die Diastase nicht so groß, wie Frohne sie zeichnet. Um dies zu begründen, muss man nicht einmal die Prolegomena der Glaubenslehre bemühen, die einen Zusammenhang von (relativer) Freiheit und (unbedingter) Abhängigkeit herstellen (CG2, § 4.3, 37 f), sondern kann sich bereits vom Begriff der ‚ursprünglichsten Tat‘ und von der auch in den Monologen prominenten Figur der Selbstentsprechung leiten lassen. Beide erinnern an Kant: letztere an seinen Autonomiebegriff, der auch keine vollkommen freie Selbstmächtigkeit bezeichnet, ersterer an das spekulative Konstrukt der Maximenvertauschung, in dem Kant den menschlichen ‚Hang zum Bösen‘ sowohl als angeborenes Verhängnis als auch als freie, ‚eigene Tat‘ plausibilisiert. Ebenso, wie die menschliche Verderbnis ihrer
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punkt, so bleibt es doch bei der inhaltlichen Betonung der vielgestaltigen Angewiesenheit und wechselseitigen Verwiesenheit des Menschen.⁵⁷⁴ Dies gilt für den Schicksalsbegriff seiner frühen Studie Über den Wert des Lebens ⁵⁷⁵ bis zum ‚Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit‘ in der Glaubenslehre. Im Blick auf unsere zweite Frage, was es für das Individuum bedeutet, das Universum zu bergen, können wir zunächst die darin liegende Dialektik von Beschränkung und Entgrenzung festhalten. Das Endlichkeitsbewusstsein ist heuristische Voraussetzung für das Bewusstsein der Unendlichkeit, welch letzteres allerdings in partizipativer Aneignung über ersteres hinausweist. Die größte Stärke dieser Figur ist zugleich das Verwundbarste an ihr: das Individuum trägt seine Transzendierung in sich; es hat eine Selbsterweiterungstendenz, aber genau diese Tendenz lässt den bleibenden Stellenwert der Individualitätsqualität fraglich werden, ausgedrückt in der Forderung, „daß die scharf abgeschnittnen Umriße unsrer Persönlichkeit sich erweitern und sich allmählich verlieren sollen ins Unendliche“.⁵⁷⁶ Es drängt sich der Eindruck auf, dass es um das Individualitätsideal – „Immer mehr zu werden was ich bin, das ist mein einziger Wille;“⁵⁷⁷ – bei Schleiermacher nicht sonderlich ideal bestellt ist, wenn es in den Reden heißt: „Strebt darnach schon hier Eure Individualität zu vernichten, und im Einen und Allen zu leben, strebt darnach mehr zu sein als Ihr selbst, damit Ihr wenig verliert, wenn Ihr Euch verliert;“⁵⁷⁸ Um zu erheben, worum es Schleiermacher eigentlich geht, wenn er solch widersprüchliche Aussagen macht, erscheint es meines Erachtens am aufschlussreichsten, seine Stellung zur Mystik einzubeziehen. Meine These ist hierbei, dass diejenigen Interpreten, welche das Selbstvernichtungstheorem gegen die Figur der Selbstwerdung bei ihm ausspielen, Schleiermacher gegen seine eigene Intention als Mystiker lesen.
moralischen Qualität wegen selbst verschuldet sein muss und doch als Tat ‚vor jeder Tat‘ vom Gesamthandeln in einen spekulativen Ursprung abgesetzt wird (vgl. Kant, Religion, B 24– 26), hängt auch die Individualität an Habitūs, die sich aus freien Taten fügen, welche ihrerseits jedoch wiederum an frühere Zusammenhänge und ein vorausgehendes Selbstsein gebunden sind. Zum etwas anders gelagerten Aspekt der generellen Unhintergehbarkeit spontaner Selbstvollzüge, der den Schleiermacher der Monologen und Fichte verbindet und Selbstmächtigkeit und Abhängigkeit als die zwei Seiten ein und desselben Sachverhalts freiheitlichen Selbstseins aufzeigt vgl. Dierken, Individualität, 189 f.ferner 205. Vgl. auch G V, 163., 323 f: „Ist es nicht anmaßend daß der Mensch glaubt auch nur als Modification mit Gott unmittelbar zusammenzuhängen? Er ist wol nur Modification des Erdgeistes, und wir sollten unsere absoluten Triebe und Schranken aus den Verhältnissen der Erde zu verstehen suchen.“ Vgl. dazu auch den Hinweis auf den Schöpfungsmythos Gen 1: „Laß uns ein Bild nun schaffen, uns gleich sprach Gott zu der Erde | Darum ist irdischer Gott, göttliche Erde der Mensch.“ (G V, 174., 326). Sowohl als Bezeichnung der Verwiesenheit des Subjekts auf seine Umgebung als auch als Ursprungsmetapher interpretiert Evamaria Bohle den Schicksalsbegriff in der benannten Schrift und zeichnet mit Recht Linien zu seinen späteren Konzepten der Wechselwirkung und der Abhängigkeit (dies., Schicksalsbegriff). R 246. M 42. R 246.
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Mystik ist der Versuch einer weitestgehend unmittelbaren Versenkung des Einzelnen in das Absolute. In ihrer Ausrichtung an sich würdigt Schleiermacher sie als grundreligiösen Vollzug: „Wer also ein religiöser Mensch ist, der ist gewiß in sich gekehrt mit seinem Sinn, in der Anschauung seiner selbst begriffen, […].“⁵⁷⁹ Er wendet jedoch kritisch ein: „deren Sinn aber immer in sich gekehrt bleibt, […] gebricht es zu bald an Stoff um Virtuosen oder Helden der Religion zu werden.“⁵⁸⁰ D. h. die Absehung von der Welthaftigkeit und sozialen Eingebundenheit aller religiösen Selbstvollzüge ist im Wortsinne idiotisch.⁵⁸¹ So formuliert er auch im fünften Gedankenheft: Das höhere Leben ist ununterbrochen fortgehende Beziehung des Endlichen aufs Unendliche. Dieses in Verbindung gesezt mit dem Beziehen des Endlichen auf einander ist das wahre Philosophiren: Diese lezten Beziehungen um jener willen aufheben, das ist was man im schlechten Sinne Mystik nenen kann.⁵⁸²
Selbst zum ‚schlechten Mystiker‘ wird Schleiermacher, wenn man bei ihm eine einlinige Teleologie vom ‚Individuum‘ über die ‚Menschheit‘ zur ‚allgemeinen Vernunft‘ zeichnet,⁵⁸³ die da bedeuten würde, dass sich das Individualitäts- und Gattungsbewusstsein als bloße Durchgangsformen zum höheren Selbstbewusstsein (dauerhaft) abstreifen ließen und es letztlich einen der unio mystica gleichen Zustand des reinen Allgemeinbewusstseins gäbe. Unter dieser Ägide wären die Monologen ein schlechtes Einsteigerbuch für Exerzitien Treibende, weil sie doch zu viel Gewicht auf die Zwischenstufen legen. Ein ähnliches Bild muss sich für jene ergeben, die bei der Individualität den Fokus auf den Charakter der Beschränktheit legen.⁵⁸⁴ All diese Kritiken treffen den wahren Punkt, dass es eine Schwäche des Schleiermacherschen Gottesgedankens ist, Differenz nicht als solche integrieren zu können.⁵⁸⁵ Es erscheint mir jedoch kurzschlüssig, allein von diesem systemischen Schlusspunkt aus, Schleiermacher vorzuwerfen, dass ihn seine Kritik der bisherigen Sittenlehre letztlich selbst im vollen Sinne träfe.⁵⁸⁶ Zweierlei wird dabei nämlich unterbelichtet: Zum einen der Prozesscharakter, der all die genannten Ebenen in ihrer durchgängigen Bedeutsamkeit festhält; handelt es sich bei ‚Individualität‘, ‚Menschheit‘ und ‚Absolutem‘ doch nicht um einander nivellierende, ontologische Größen, sondern um (komplexe) Be-
R 257. Noch emphatischer zur „große[n] kräftige[n] Mystik, die auch der frivolste Mensch nicht ohne Ehrerbietung und Andacht betrachten kann“ vgl. R 258. R 258. Vgl. auch G IV, 14., 136: „Der Mysticismus ist intellectuelle Onanie.“ G V, 154., 322. Zu dieser Kritik vgl. Jørgensen, Ethik, 89 f. Vgl. dazu die Kritik Rothes, referiert bei Heesch, Individualität, 262 f. Zu einer werkgenetischen Variante dieser Kritik vgl. Loew, Ethik, 109 f. Jørgensen spricht von einem ‚Sieg der Nichtdifferenz über die Differenz‘ (ders., Ethik, 105). In konsequenter Weise wurde der angemahnte Weg bekanntlich von seinem Berliner Kollegen aus der Philosophie beschritten. So Jørgensen, Ethik, 108 f.
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wusstseinsgehalte mit wechselseitiger Bedeutung füreinander. Zum anderen sei der im ersten Punkt bereits anklingende Sachverhalt der Innerweltlichkeit genannt. Zeichnet Schleiermacher auch ein Jenseits der All-Einheit, in dem sich Persönlichkeit und Individualität verlieren, so muss dies doch nicht deren Bedeutungslosigkeit für eine Ethik und Bewusstseinstheorie im Diesseits implizieren. Im Gegenteil: Es erscheint mir nur redlich, die leibbezogene Individualität auch auf diesen Geltungsbereich zu beschränken.⁵⁸⁷ Mit einem Gedanken aus der Weihnachtsfeier können wir zu den ersten beiden Fragen abschließend festhalten, dass den Auflösungstendenzen von Allheits- und Individualgedanken in ihrer bewusstseinstheoretischen Fassung nur gewehrt wird, wenn sie aufeinander bezogen bleiben und der Sozialität Rechnung tragen: „Nur wenn der einzelne die Menschheit […], ihren Geist und Bewußtsein in sich trägt, und in ihr das abgesonderte Dasein verliert und wiederfindet, nur dann hat er das höhere Leben und den Frieden Gottes in sich.“⁵⁸⁸ Gehört der ‚Frieden Gottes‘ in den Bereich des gegenwärtigen Bewusstseins und wird die hochbedeutsame Individualität an das leibhafte Leben gebunden, so hat das Folgen für den Ewigkeits- und Unsterblichkeitsgedanken – damit sind wir bei der dritten Frage, die wir des breiten Vorlaufs wegen mit wenigen Strichen abhandeln können. Sie findet ihre Generalantwort im bekannten Schlusssatz der zweiten Rede: „ewig sein in einem Augenblik, das ist die Unsterblichkeit der Religion.“⁵⁸⁹ Vermittelt wird die Ewigkeit, wie wir oben sahen, durch die Selbstanschauung,⁵⁹⁰ weil diese zum Bewusstsein der allgemeinen Menschheit führt, welches die Individualität entschränkt.⁵⁹¹ Die momentane Absehung von aller Beschränkung – aber eben auch Bestimmtheit – des Selbst werde entlohnt durch ein religiöses Allheitsbewusstsein – welches als ungegenständliches
Soweit ich sehe, hat sich Schleiermacher selbst in seinen Predigten nicht dazu hinreißen lassen, über ein persönliches Leben im Jenseits zu spekulieren. Das paulinische Auferstehungskapitel 1Kor 15 mit der zur Leibthematik zentralen These 1Kor 15,44: „Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib.“ hätte dazu Anlass geboten; aber so oft er auch auf andere Verse des Kapitels rekurriert, blendet er diesen Gedanken konsequent aus. W 529 [Hervorhebung – CR]. Zu dieser Relationsfigur vgl. auch G III, 33., 127: „Die Idee Gottes hat in diesem Sinn die schöne Wahrheit einer Allegorie. Das reelle Thun ist nur Moment und Alles ist eigentlich Anschauung der eignen Thätigkeit. | Wer sich selbst nicht anschaut wird nie das Ganze begreifen | Wer nicht das Ganze gesucht findet auch nimmer sich selbst.“ R 247. David Friedrich Strauß hat diesen Satz bezeichnet als „Alles, was die moderne Wissenschaft über Unsterblichkeit zu sagen weiß.“ (Ders., Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft II, 1841, 738 f, zit. nach Trowitzsch, Unsterblichkeit, 434). Vgl. M 14: „Beginne darum schon jezt dein ewiges Leben in steter Selbstbetrachtung […].“ „Sie ist es also die hohe Selbstbetrachtung, und sie ist es allein, was mich in Stand sezt, die erhabene Forderung zu erfüllen, daß der Mensch nicht sterblich nur im Reich der Zeit, auch im Gebiet der Ewigkeit unsterblich, nicht irdisch nur, auch göttlich soll sein Leben führen. Es fließt mein irdisch Thun im Strom der Zeit, […] so oft ich aber ins innere Selbst den Blik zurükwende bin ich zugleich im Reich der Ewigkeit; […] jegliches Thun soll begleiten der Blik in die Mysterien des Geistes, jeden Augenblick kann der Mensch außer der Zeit leben, zugleich in der höheren Welt.“ (M 12 f).
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seinen Ort nur im Gefühl haben kann.⁵⁹² Schleiermacher erteilt dem Unsterblichkeitsgedanken in der Form eines spekulativen Ausgriffs des Selbsterhaltungstriebes über die Schranke des Todes hinaus eine konsequente Absage.⁵⁹³ Einer Verjenseitigung des Diesseits begegnet er mit seinem Programm einer Verdiesseitigung des Jenseits.⁵⁹⁴ Die Mystik erfährt dabei eine rationalisierende Richtungsinversion: die Aufhebung des Endlichen im Unendlichen kehrt Schleiermacher um in eine Integration des Unendlichen im Endlichen. Den Himmel hängt er in das Herz des Menschen.⁵⁹⁵ Dabei werden nicht nur das Selbstbewusstsein, sondern auch intime Sozialgestalten religiös aufgewertet.⁵⁹⁶ Wem ein anderer das Gefühl von Einheit und Bedeutsamkeit gibt, das über die eigene Persönlichkeit hinausgeht, der steht an der
„Schaut Euch selbst an […] und je mehr ihr Euch selbst verschwindet, desto klarer wird das Universum vor Euch dastehn, desto herrlicher werdet Ihr belohnt werden für den Schrek der Selbstvernichtung durch das Gefühl des Unendlichen in Euch.“ (R 261). Vgl. R 246 f. Dabei betont er, dass nicht nur besondere Situationen, sondern jeder Moment des Lebens zu einer solchen Sublimation fähig ist. Vgl. M 7: „[…] deiner unmittelbaren Beziehungen mit dem Ewigen und Unendlichen dich bewußt werden; und überall wo du willst, kannst du einen solchen Moment haben.“ M 9: „Auf mich selbst muß mein Auge gekehrt sein, um jeden Moment nicht nur verstreichen zu laßen als einen Theil der Zeit, sondern als Element der Ewigkeit ihn heraus zu greifen, und in ein höheres freieres Leben zu verwandeln.“ Vgl. auch die Änderung von ‚ewig sein in einem Augenblik‘ in ‚ewig sein in jedem Augenblikk‘ seit der Zweitauflage der Reden (Trowitzsch, Unsterblichkeit, 430). In seinen Predigten hält er diese Grundentscheidung der Verinnerlichung und Vergegenwärtigung in Fragen der Auferstehung, Unsterblichkeit und Ewigkeit konsequent durch. So versagt er in seiner Exegese des lukanischen Wortes zum Schächer am Kreuz ‚heute wirst du mit mir im Paradiese sein‘ jedwedes Rechnen auf ein bestimmtes Jenseits und den Weg dorthin und hebt allein auf den gegenwärtigen Trost ab. Vgl. P 2, 121– 134. Zum lukanischen Bericht von der leiblichen Auferstehung Christi bemerkt er, „daß das Ende seines irdischen Lebens ebenso in ein geheimnißvolles Dunkel für das menschliche Auge gehüllt ist, wie der erste Anfang desselben, nur in ein hoffnungsvolles, erfreuliches, erhebendes Dunkel.“ (P 2, 605). Und er zielt auf den Appell: „so laßt auch uns das Bild des Todes verlassen […] und uns das Bild ihres [sc. der Jünger – CR] Lebens und ihrer Wirksamkeit zurükkrufen!“ (P 2, 614). Der leibliche Wandel des Auferstandenen wird gedeutet als das lebendige Bild, welches die Hinterbliebenen von einem Verschiedenen noch eine Zeit lang haben (P 2, 614 f) und den Johannesepilog „viele andre Zeichen that Jesus vor seinen Jüngern, die nicht geschrieben sind in diesem Buche“ deutet er als Ausdruck für die ‚Gleichgültigkeit‘ des Evangelisten gegenüber den äußerlichen Begebenheiten, die nur die ‚Wißbegierde‘ reizten, um sodann zur ‚fleischlosen‘ Wesensfrage der Osterberichte vorzudringen (P 12, 168 – 170). In einer Osterpredigt aus dem Jahre 1815 über Röm 6,3 – 5 hält Schleiermacher gleich nach der Textlesung fest: „Es ist auch nichts Zukünftiges und Fernes, worauf uns der Apostel in diesen Worten verweiset, sondern auch die unmittelbare Gegenwart.“ (P 4, 653). Eine Ausnahme bildet die frühe Osterpredigt von 1794, in der er ganz platonisch vom Tod als dem Abstreifen der Unvollkommenheit spricht und das „Vermögen zu lieben, die Fähigkeit zu allen den schönen und vorzüglichen Empfindungen des vernünftigen und geselligen Wesens“ in ‚erhöhter‘ Weise postuliert, was freilich den Gedanken einer Seele ohne Leib bzw. eines aller Naturhaftigkeit entledigten und dennoch bestimmten und zentrierten Bewusstseins voraussetzt. Vgl. P 3, 123 f. Gegen Michael Trowitzsch, der letztere nicht in dieser Bedeutung anerkennt. Vgl. ders., Unsterblichkeit, 420.
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Schwelle zur Unendlichkeit.⁵⁹⁷ Die religiöse Valenz von Familie hat hierin einen ihrer systematischen Ankerpunkte.
4.2 Natur und Geist Schleiermachers Vermittlungsdenken, das sich nicht scheut, die Stärken der jeweiligen Relate zu betonen, reizt auch in der Frage nach Natur und Geist die Interpreten zu Vereinseitigungen. So sieht Poul Jørgensen in „Schleiermachers Ethik nichts anderes […] als eine naturalistische Ethik“⁵⁹⁸ während Wilhelm Dilthey ihn als eigentlich reinen Idealisten zu stilisieren sucht, wenn er ihm empfiehlt: Die herrschende, bildende Macht der Gesinnung gegenüber den sinnlichen Affekten wären [sic] klarer herausgetreten, hätte Schleiermacher an die Stelle der unklaren Identität den klaren teleologischen Grundgedanken von einer Durchdringung, Beseelung und Gestaltung der Natur durch die Vernunft gestellt.⁵⁹⁹
Ob die Identität wirklich so unklar geblieben ist und letztere Aspekte nicht vielleicht im Rahmen ihrer sehr wohl von Bedeutung sind, werden wir noch zu erwägen haben. Jedoch macht diese Kritik ganz treffend darauf aufmerksam, dass auch, wenn man – der Programmatik nach – die Einbindung naturaler Bestimmungsgründe in die Ethik für schlüssig erachtet, die Durchführung ihrer stark aporiegefährdet bleibt. Um möglichst sicher durch die Untiefen der Fragestellung zu gelangen, wollen wir uns auch in dieser Rekonstruktion von Schleiermachers Talent der Stoffanordnung frei inspirieren lassen.⁶⁰⁰
4.2.1 ‚Die Reflexion‘: Das System der Wissenschaften Den Einstieg nehmen wir über die abstrakte – aber eben deshalb auch relativ klare⁶⁰¹ – Ebene der Wissenschaftssystematik. Weil Schleiermacher einen Zusammenhang von
Vgl. M 27: „Wo ist das schöne Ideal vollkommener Vereinigung? die Freundschaft, die gleich vollendet auf beiden Seiten ist? Nur wenn in gleichem Maaße Beiden Sinn und Liebe fast über alles Maaß hinaus gewachsen sind. Dann aber sind mit der Liebe zugleich auch sie vollendet, und es schlägt die Stunde – o Allen hat sie früher schon geschlagen! – der Unendlichkeit sich wieder zu geben, und in ihren Schooß zurükzukehren aus der Welt.“ Jørgensen, Ethik, 156. Dilthey, Leben I, 502. In diesem Fall lehnen wir uns an die Überschriften der Monologen an. Dieses Urteil wollen wir uns lediglich für die Grundanlage erlauben. Im Einzelnen gehört die Wissenschaftstheorie mit Sicherheit zu den komplexesten Feldern der Schleiermacherforschung.
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Wissen und Sein postuliert,⁶⁰² verweisen uns seine wissenschaftstheoretischen Grunddifferenzierungen zugleich auf sachhaltige Bestimmungen. Das zeigt sich bereits an seinem Basisaxiom: Genau genommen gibt es für Schleiermacher nämlich nur eine Wissenschaft. Sie bezeichnet die Bemühung um die epistemische Erschließung der einen Wirklichkeit⁶⁰³ des endlichen Seins, d. h. der Welt.⁶⁰⁴ Ihr Ideal ist das ‚höchste Wissen‘⁶⁰⁵ bzw. die ‚Weltweisheit‘.⁶⁰⁶ Dieses bzw. diese stehen unter dem Vorbehalt der Approximation,⁶⁰⁷ und gewinnen nur Gestalt, „wenn das besondere untergeordnete verstanden ist“.⁶⁰⁸ Verstehen und Denken aber sind in ihrem Kern Differenzierung. So muss auch die dem höchsten Wissensideal der Einheit verpflichtete Dialektik differenzieren und wählt als Kardinalgegensatz jenen zwischen Natur und Geist, dem die Wissenschaftsgattungen der Physik und der Ethik entsprechen,⁶⁰⁹ die wir in unserem Zusammenhang auch paraphrasieren können als Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft.⁶¹⁰ Beide werden ihrer Aufgabe wiederum nur gerecht, wenn sie sich nicht isolieren. Eilert Herms hebt in seiner Interpretation darauf ab, dass diese Forderung die Wissenschaftszweige weniger aufeinander als vielmehr auf ihr Einheitsideal verweise, welches seine Konkretion in einer wissenschaftlichen Gesinnung erfahre.⁶¹¹ Meines Erachtens klingt die Pointierung des Schleiermacherschen Wissenschaftssystems auf Parallelität der Einzelwissenschaften allerdings weniger nach dem Autor selbst,⁶¹² als vielmehr nach dem Programm des Interpreten; denn aus jener These geht doch gedanklich die Folgerung einer jeweiligen Deutungshoheit der Einzelwissenschaften hervor, deren Partikularität dann für eine Wissenschaft endet, wenn es gelingt, eine Geltungsstufung der Disziplinen zu suggerieren.
PhE 524– 527. Vgl. auch zur Identität der Ideale des ‚absoluten Wissens‘ und des ‚absoluten Seins‘ PhE 247. Zur kritischen Diskussion des von Schleiermacher hierzu angestrengten Beweisverfahrens vgl. Dierken, Das Absolute, 323 – 327. Zu Schleiermachers Anschluss an den frühen Schelling in Sachen dieses Axioms vgl. Hasler, Natur, 71 f. Vgl. PhE 534: „Die vollständige Einheit des endlichen Seins als Ineinander von Natur und Vernunft in einem alles in sich schließenden Organismus ist die Welt.“ PhE 517– 523. PhE 536. PhE 524. PhE 520. Vgl. dazu pointiert Dierken, Das Absolute, 321. Als Disziplinen des Wissens sind freilich beide gleichermaßen Geschäfte des Geistes. Auch die methodisch kontrollierte Naturwissenschaft operiert nicht mit dem Dinglichen an sich sondern mit der gewussten, d. h. erfahrenen und gedeuteten, Natur. Vgl. unter Bezug auf PhE 87 Herms, Menschsein, 55. Zum Begriff des ‚Parallelismus‘ der Wissenschaften bei Schleiermacher vgl. PhE 499. Entgegen ersten Assoziationen mit dem Begriff, auf die auch Herms setzt, wird er bei Schleiermacher gerade nicht eingeführt, um das schiedliche Nebeneinander der Wissenschaftsgattungen zu beschreiben, sondern deren enge Verwobenheit. Schleiermacher zielt mit ihm auf die These, dass „die Ethik zu keiner Zeit besser als die Physik“ und „als die Geschichte“ ist (PhE 499).
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An der Parallelitätsthese ist sicherlich der Aspekt relativ autonomer Binnenverfahren der Einzelwissenschaften richtig. Dennoch müssen wir die These, dass sie ‚nicht direkt voneinander abhängig‘ wären,⁶¹³ stark einklammern, denn die Beziehung der Disziplinen auf die Einheit des höchsten Wissens⁶¹⁴ kann doch wegen dessen prinzipieller Unbestimmtheit nur Ausdruck für ihre wechselseitige Bezogenheit sein. Der letzte Einheitsgrund der Wissenschaften ist mithin für Schleiermacher nur Symbol für deren wechselseitige Verwiesenheit.⁶¹⁵ So können wir – wissenschaftspolitisch hoch aktuell – mit Schleiermacher bekennen: Nur grundlegende und weitreichende Interdisziplinarität schützt vor dem Absinken der Einzelwissenschaften in ‚willkührliche‘ Binnenlogik und ‚Meinung‘.⁶¹⁶ Dieser Grundsatz hat bei Schleiermacher nicht nur institutionelle Bedeutung, sondern reicht weit tiefer – ironisch könnte man sagen: ‚Ring des Wissens statt Ringvorlesung.‘ Was mit der Zirkularität der Wissenschaftssystematik gemeint ist, führt Jörg Dierken auch graphisch vor Augen.⁶¹⁷ Grundlegend gilt, Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft bedingen sich gegenseitig, insofern auch ihre Gegenstandsbereiche⁶¹⁸ ohne einander undenkbar und zugleich nicht aufeinander reduzierbar sind. Dem Dinglichen mangelt es ohne geistige Aneignung an Bestimmtheit und dem Geistigen ohne dingliche Sättigung an Sachhaltigkeit.⁶¹⁹ Schleiermachers Doppelthese von der ‚Naturwerdung der Vernunft‘ und der ‚Vernunftwerdung der Natur‘ wird uns unten noch eingehender beschäftigen.⁶²⁰ Für die Sphäre des Wissens bedeutet sie zunächst, dass zum einen jedweder epistemische Gehalt bereits ein qua Objektivation geronnener Gegenstand ist und zum anderen jedwede affizierende Entität auf mentale Aneignung drängt. Die Verschränkung beider Wissenschaftsgattungen wird von Schleiermacher allerdings noch differenzierter beschrieben. Oben haben wir das bekannte ‚Viererschema‘ referiert und die Wissenschaft in der Sphäre des ‚identischen Symbolisierens‘ vorgefunden. Die bloß quantitative Differenz der vier Bereiche haben wir dort als das Ineinandergreifen der Kultursphären her Herms, Menschsein, 55. Vgl. PhE 517: „Soll irgend eine besondere Wissenschaft vollkommen dargestellt werden, so darf sie nicht rein für sich anfangen, sondern muss sich auf eine höhere, und zulezt auf ein höchstes Wissen beziehen, von welchem alles einzelne ausgehen muß.“ Vgl. PhE 538: „Was in der vollendeten Weltweisheit einander völlig durchdringt und also als entgegengesezt nicht mehr ist, das ist im besondern Wissen durch einander bedingt.“ Zur materialen Bedeutung dessen im Verhältnis von Ethik und Naturwissenschaft vgl. PhE 539. PhE 520. Dierken, Das Absolute, 322. Mit dieser Darstellungsweise folgt er sachlich David Friedrich Strauß, der bei Schleiermachers Denken von einem ‚geistigen Linienziehen‘ sprach, welchem er in seiner Rekonstruktion mit einem ‚Kupfer zu Schleiermachers Werken‘ entsprach. Vgl. dazu Birkner, Schleiermachers Christliche Sittenlehre, 102 f. Um die folgenden Korrelationsfiguren zu begreifen, müssen wir uns vor Augen führen, dass ‚Natur‘ in diesem Zusammenhang das Dingliche und Gegenständliche einschließt, während ‚Vernunft‘ das Geistige, zum Bewusstsein Erhobene umfasst. Zum Wechselspiel von Idealismus und Realismus bei Schleiermacher vgl. Hasler, Natur, 104– 106. PhE 542.
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I Einleitung und Hinführung
ausgestellt. Hier nun wollen wir den Versuch wagen, sie nach innen zu wenden, d. h. das ‚Viererschema‘ nochmals auf der Ebene der Wissenschaft selbst als Gliederungsprinzip einzuführen, was natürlich nur näherungsweise Stimmigkeit beanspruchen kann. Zu dieser Darstellung verleitet zum einen die Aufhängung der Individuation an der Naturbestimmtheit, während Schleiermacher die Vernunft als das Allgemein-Identische beschreibt;⁶²¹ und zum anderen Schleiermachers Unterteilung der beiden Wissenschaftsgattungen nach empirischer und spekulativer Methode. Geht die empirische auf die beschreibende Darstellung von Gegebenem, so geht die spekulative auf die ordnungsstiftende und geltungsvalente Behandlung der Wesensfrage desselben.⁶²² Daraus ergibt sich folgendes Bild:
Individuell
Symbolisieren
Organisieren
Naturkunde
Physik technische Disziplinen ↑ kritische Disziplinen →
Identisch
Geschichtskunde
Ethik
Wie in der Tabelle schon zu sehen, fügen sich meines Erachtens auch die ‚kritischen‘ und ‚technischen‘ Disziplinen, die Schleiermacher als nicht zu den ‚realen Wissenschaften‘ gehörige Verfahrensweisen bezeichnet,⁶²³ recht gut in das Schema ein. Sie haben vermittelnde Funktionen für die Ethik, denn es „giebt […] keinen stetigen Uebergang“ zwischen den Disziplinen.⁶²⁴ Die ‚kritischen‘ sind dem ‚Symbolisieren‘ nahe, noch näher aber dem ‚reinigenden Handeln‘ der Christlichen Sitte, denn ihre Aufgabe „besteht darin, das geschichtlich Gegebene zu beziehen auf die spekulativ entfaltete Formenwelt.“⁶²⁵ Ihr Ziel dabei ist die „vergleichende Näherbestimmung“⁶²⁶ letzterer, die sowohl deren Bebilderung als auch deren Rechtfertigung bedeutet. Die ‚technischen Verfahren‘ sind dem ‚Organisieren‘ und dem ‚verbreitenden Handeln‘ der Christlichen Sitte nahe. Sie müssen die Bedingungen ausmitteln, unter denen „die Vernunft sich der Natur am vollständigsten und leichtesten bemächtigt.“⁶²⁷ Von diesen Grundkoordinaten ausgehend können wir nun Schleiermachers Näherbestimmung des Verhältnisses der Ethik zu den anderen Wissenschaftssphären nachzeichnen.⁶²⁸ Die Ethik ist inhaltlich abhängig von den Naturwissenschaften ins-
S.o. I.4.1.2. Vgl. PhE 535 f. PhE 549. PhE 549. Birkner, Schleiermachers Christliche Sittenlehre, 34. Vgl. dazu PhE 549 f. Dierken, Das Absolute, 321. PhE 550. Diese Beschreibungsrichtung ist die einzige, die in der Philosophischen Ethik dargestellt wird. Dass Schleiermacher nicht zu einer Ausarbeitung der Physik gekommen ist und die Verhältnisse
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gesamt, weil diese (idealiter) „die Gesammtheit alles Dinglichen“ befassen, auf dessen Bereitstellung auch sie angewiesen ist.⁶²⁹ Kurz zusammengefasst und weitergeführt: ohne Material kann es keine materiale Ethik geben und ohne materiale Ethik fehlt das Bedürfnis nach kategorialen Grundlegungen derselben. Auch methodisch sei die Ethik von der Naturwissenschaft – wir können präzisieren: der spekulativen Physik – abhängig,⁶³⁰ denn angemessene Kategorien des Geistigen kann nur finden, wer auch über angemessene Kategorien des Dinglichen verfügt, an das jenes stets gebunden ist.⁶³¹ Von der Geschichtskunde sei die Ethik ebenso inhaltlich und – der Vollständigkeit halber – auch methodisch abhängig. Haben wir der inhaltlichen Bedingtheit durch die Naturkunde stattgegeben, so werden wir umso mehr jener durch die Geschichtskunde zustimmen, die neuere Disziplinen wie Soziologie, Kulturwissenschaft, Politikwissenschaft und Ethnologie sachlich einschließt.⁶³² Die methodische Abhängigkeit der Ethik von den deskriptiven Geisteswissenschaften ist weniger selbstverständlich, weil Schleiermacher an dieser Stelle nicht die Ethik selbst als deskriptive profiliert, sondern indirekt über die Abgrenzung zur Naturwissenschaft argumentiert, die allein die Bezugnahme auf die Geisteswissenschaft als Ganze verbürge.⁶³³ Die kurze Ausführung zum entsprechenden Paragraphen bringt ein wenig Licht in die dunkle Stelle. Bei allen Wechselverweisen, die Schleiermacher zwischen den Wissenschaftssphären aufgemacht hat, wird hier nun nämlich deutlich, wie sehr ihm dabei an einer Scheidung derer gelegen ist, mündend in den Spitzensatz:
entsprechend nicht für die Naturwissenschaft beschrieben hat, behindert unsere Darstellung nicht, weil dieser Aspekt für uns ohnehin nicht so sehr von Belang ist. Für apologetische Bemühungen um die Bedeutung der Ethik reichen Hinweise aus Schleiermachers Ausführungen zu den Paragraphen aus, wie PhE 538: „[…] wo mehr in der Physik gesezt ist, als in der Ethik, da ist entweder kein wissenschaftliches Ganzes gesezt, sondern nur ein Theil eines solchen, zu dem der andere die Ergänzung ist, oder noch kein Werden der Weltweisheit, sondern erst zerstreute Elemente.“ PhE 538. Schleiermacher spricht von einer Bedingtheit „ihrer Gestalt nach“ (PhE 538). Schleiermacher ist in dieser Verhältnissetzung nicht ganz so klar, sondern spricht lediglich von der Notwendigkeit der „beschauliche[n] [sc. spekulativen – CR] Richtung überhaupt‘, die auch den Blick auf die Natur einschließe (PhE 538 f). Bei Schleiermacher gibt es auch Hinweise auf einen weitreichenderen Geschichtsbegriff. Ihn wollen wir hier allerdings ausklammern, weil er sachlich weniger austrägt als er darstellungstechnisch verunklart. So heißt es PhE 251: „Die Ethik als Darstellung des Zusammenseins der Vernunft mit der Natur ist die Wissenschaft der Geschichte.“ Wilhelm Loew interpretiert ihn dahingehend, dass er die Geschichte als „die Fortsetzung des natürlichen Werdens auf höherer Stufe“ bezeichnet (ders., Ethik, 28). Die darin liegende Ausweitung des Evolutionsgedankens wird uns noch beschäftigen. (S.u. I.4.2.3) Vgl. PhE 539: „70. Die Sittenlehre ist bedingt durch die Geschichtskunde der Gestalt nach; denn in ihrem von der Naturwissenschaft gesonderten Dasein hat sie nur sicheren Bestand, wenn in dem Erkennenden die Verwandtschaft zu dem Gegenstande ganz, und also auch die Neigung zur Geschichtskunde gesezt ist.“
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Wo […] keine stetige Sonderung im beschaulichen [sc. spekulativen – CR] Geschäft [ist]; […] ist entweder gar nichts Ethisches im Wissen, oder es ist unter das Physische gemischt und verschwindet in diesem. Dies ist aber nicht das weltweisheitliche Ineinander beider.⁶³⁴
Wir können folgern, dass für Schleiermacher die Liberalität und Modernität einer Ethik mithin nicht darin liegt, ihrem System neue Fakten anzugliedern. Ein solches Verfahren würde sie nämlich um die kritische Potenz des Geschichtlichen für ihre eigene Bildung bringen. Ihre Anerkenntnis dessen wäre eine geheuchelte. Stattdessen wird die Ethik ihrer Aufgabe nur gerecht, wenn sie sich die Mühe macht, die Anmutungen der Empirie nicht einfach zu bejahen, sondern auf die eigene Struktur – bis auf basalste Grundsätze – anzuwenden, um diese im Abgleich mit der Gesamtheit der anderen bestehenden Beschreibungen und Interessen zu formieren.⁶³⁵
4.2.2 ‚Prüfungen‘: Die Leiblichkeit menschlichen Seins – Fluch oder Segen? Das Programm engster Bezugsetzung bei gleichzeitigem Festhalten an Differenzen begegnet uns wie im System der Wissenschaften so auch in der Anthropologie Schleiermachers.⁶³⁶ In ihm liegt der Versuch, zwei Extremen zu wehren. Das eine ist ein schlichter Dualismus zwischen Fleisch und Geist, von dem eine breite vulgärplatonisch beeinflusste Tradition christlicher Ethik von Paulus bis zu Zeitgenossen Schleiermachers und über ihn hinaus geprägt ist. Welche Wertung der Naturbestimmtheit mit ihm einhergeht, liegt auf der Hand: er sieht den Leib als Kerker des Geistes, der allenfalls sein uneigentliches Organ sein kann. Das andere Extrem resultiert aus einer unzureichenden Unterscheidung von Natur und Geist. Hier besteht die Gefahr, dass partikulare Triebe in den Katalog ethischer Maximen einrücken und die Allgemeinheitsdimension des Geistigen verdrängen.⁶³⁷
PhE 539. Die Kritiken an der familienethischen Orientierungshilfe der EKD „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ von 2013 haben meines Erachtens darin ihren zentralen Punkt, dass sie dies nicht geleistet sehen. In Anlehnung an die christologische Kompromissformel von Chalcedon spricht Kurt Nowak bei Schleiermachers anthropologisch-philosophischem Konzept von „paradoxaler Unvermischtheit und Ungeschiedenheit“ (Nowak, Schleiermacher und die Frühromantik, 253). Bei Dilthey ist es ausgesprochen in seinen Vorbehalten gegenüber einem individualethischen Ansatz, wobei er offensichtlich das prinicipium individuationis, also die Naturhaftigkeit, als durchbestimmenden Wesenskern des Individuellen überinterpretiert: „Dann aber heißt es ganz die Macht menschlicher Leidenschaften verkennen, wenn man die Strenge der Sitten und die heilige Unantastbarkeit der Institutionen, den festen Damm gegen sie, abbrechen möchte, um den ethischen Individualitäten freies Spiel zu gewähren. Der Raum, den der ideale Ethiker diesen hat schaffen wollen, würde vor seinen Augen bald von den entfesselten Leidenschaften überfluthet worden sein, deren reale Macht unvergleichlich größer ist als die individuellen geistigen Unterschiede.“ (Dilthey, Leben I, 502 f).
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Schleiermachers Mittelweg in dieser Frage liegt in einem ‚zwiefachen Ineinander des Dinglichen und Geistigen‘.⁶³⁸ Faktisch kennen wir die Wirkungen des Geistes, seien es gewonnene Eindrücke,Vollzüge oder Kulturgüter, nur aus der Verbindung mit naturhaften Wesen. So gilt für die Ethik, dass wir vom Geist an sich gar nicht zu handeln brauchen, weil es ihn für uns nicht gibt.⁶³⁹ Ebenso kann die Naturbestimmtheit des Menschen nur ein Teilaspekt dessen sein, weshalb es auch nur folgerichtig ist, dass Schleiermacher nicht vom Körper, sondern stets vom Leib, als dem immer schon mit Bewusstsein ausgestatteten Organismus spricht. So ergibt sich die Definition: das Ineinander alles dinglichen und geistigen Seins als Dingliches d. h. Gewußtes ist die Natur. Und das Ineinander alles Dinglichen und Geistigen als Geistiges d. h. Wissendes ist die Vernunft. […] Im Einzelnen […] ist das Ineinander des Dinglichen und Geistigen ausgedrückt im Zusammensein und Gegensaze von Seele und Leib. […] was wir Leib nennen, ist als solcher überall schon ein Ineinander des Dinglichen und Geistigen, und was Seele als solche eben so.⁶⁴⁰
Es legt sich der Eindruck nahe, Schleiermacher wolle ‚Leib‘ und ‚Geist‘ als Ausdrücke einer bloßen Perspektivendifferenz im Blick auf das eine Leben einführen. Damit stünde er allerdings in der Gefahr, der oben angezeigten Widerständigkeit des Natürlichen nicht hinreichend Rechnung zu tragen. Daher müssen wir noch weitere Bestimmungen hinzuziehen. Schleiermacher stellt „die vollständige Durchdringung und Einheit von Natur und Vernunft“ als Ideal heraus⁶⁴¹ und spricht in ontologisierender Weise von einem faktisch jeweiligen ‚Uebergewicht‘ eines der Relate.⁶⁴² Beides zeigt bereits an, dass er die Differenzen durchaus im Blick zu halten sucht. Auch von der „äußere[n] Natur als entgegenstrebend, also feindselig“⁶⁴³ kann die Rede sein. Im Blick auf das innere Außen⁶⁴⁴ dominiert allerdings doch der Verschränkungsgedanke. Über die phänomenologische Konstatierung des ‚Immer-schon‘ der Verbindung von Geist und Leib
PhE 533. Vgl. PhE 271, wo es heißt, dass „der ganze sittliche Prozeß nicht mit dem Eintreten der Vernunft in die Natur ursprünglich beginnt, sondern die Vernunft schon in der Natur seiend gefunden wird […].“ Vgl. auch PhE 500: „Die Ethik ist also Ausdruck eines immer schon angefangenen und nie vollendeten Handelns der Vernunft auf die Natur […].“ PhE 532.Vgl. auch die Ausführung bereits im Brouillon: „Doch Vernunft und Natur „sind auf keine Weise absolut getrennt, denn […] im […] Gegensaz ist auch nur ein relatives Hervortreten, weil es keine absolut von Einem Punkte aus zu beseelende Natur giebt, nicht einmal der Leib selbst.“ (PhE 214). PhE 532. PhE 495. PhE 431. Mit dieser Charakterisierung des Leibbegriffs lehne ich mich an Kurt Nowak an, der den Leib als das ‚eigene Außen‘ des inneren Selbst beschreibt (ders., Schleiermacher und die Frühromantik, 253).
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hinaus,⁶⁴⁵ seien noch zwei weitere Punkte benannt, die diese Entscheidung meines Erachtens motivieren. Der erste betrifft die Absicherung seiner Theorie des Wissens. Das transzendentale Ideal der Einheit von Denken und Sein würde in der Luft hängen, wenn es nicht empirisch geerdet wäre.⁶⁴⁶ Der Ort aber, an dem Intelligibilität und Naturalität koinzidieren, ist das menschliche Selbstbewusstsein als die Repräsentanz leib-seelischer Einheit. Gelingt es, ihr Band als unauflöslich zu plausibilisieren, so ist auch ein Fundament der Epistemologie gefunden. Der zweite Motivationspunkt liegt in Schleiermachers ethischer Würdigung der Individualität, für deren Konstruktion die naturale Bestimmtheit entscheidend ist,⁶⁴⁷ wie wir oben sahen.⁶⁴⁸ Hier nun ist der Ort, diese Grundfigur näher zu bestimmen, wozu die Allgemeine Einleitung der Christlichen Sitte aufschlussreich ist. Im Rahmen der Frage nach dem principium individuationis steigt Schleiermacher mit der Grundthese ein, dass das Individuelle nicht aus der Vernunft bzw. dem Geist (Christi), als dem wesenhaft Allgemeinen abgeleitet werden könne und mithin nur das Fleisch als Grund für Differenzen infrage komme.⁶⁴⁹ Diese irritiert er sogleich durch die Konsequenz, dass alsdann „die Eigenthümlichkeit sittlicherweise niemals Impuls werden“ können dürfte, „weil das Fleisch nie das bestimmende sein darf, sondern immer nur das bestimmte“.⁶⁵⁰ Der aufgemachten Zwickmühle begegnet er schließlich mit der Rede von den zweierlei Weisen der einen Vernunft: als biographisch vermittelt und charakterlich eingebunden gewinnt sie eine eigentümliche Prägung und behält dabei dennoch ihre Fähigkeit mit dem Allgemeinen und ethisch Allgemeingültigen umzugehen.⁶⁵¹ Das Problem dieser Argumentation bleibt, dass sie zwar der naturvermittelten Individualität einen Platz in der Ethik anzuweisen vermag, sie diesen allerdings nur notgedrungener Maßen zu erhalten scheint. Wer die Individualitätsemphase nicht aus anderen Gründen teilt, dem wird sie hiermit wohl kaum schmackhaft gemacht. Die Leiblichkeit erscheint vielleicht nicht gerade als Fluch, aber auch kaum als Segen. Anders verhält es sich, wenn wir von der Ebene der Maximentheorie auf jene der Handlungstheorie im engeren Sinne übergehen. Der Leib als Mittelwesen zwischen Vernunft und Natur wird hier zum unumgänglichen Mittlerwesen. So heißt es in der Akademieabhandlung Ueber den Begriff des höchsten Gutes:
Vgl. PhE 583, wo der Leib charakterisiert „als das völligst abgeschlossene und unübertragbarste Eigenthum.“ Vgl. zu diesem Punkt Dierken, Das Absolute, 325 – 327. Gegen Ulrich Barth, der in seiner Rekonstruktion die These vertritt, „der Realisierungsbereich der Individualisierung ist die Welt der Erscheinungen, ohne jedoch dieser als solcher die Individuationskriterien zu entnehmen.“ (Barth, Individualitätskonzept, 319). S.o. I.4.1.2. ChS 60 f. ChS 61. Vgl. auch weiterführend dazu ChS 61– 63.
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Wie nämlich anfangs der menschliche Leib ausschließlich mit der Vernunft geeint ist, alles andere aber nicht: so tritt dann allmählich dies und jenes von diesem letzten, mittels jener Beziehungen an den Leib sich anschließend, in dieselbe Verbindung mit der Vernunft […].⁶⁵²
Der menschliche Organismus, der ohne das sich seiner bemächtigende Bewusstsein nicht gedacht werden kann, ist zugleich dessen Medium, auf die bewusste aber auch auf die nicht mit Bewusstsein begabte Natur zu wirken und letztere sich entsprechend einzurichten bzw. – mit dem Schleiermacherschen terminus technicus gesagt – zu organisieren. Dieser Organisationsprozess kann wiederum nur approximativ gedacht werden, weil die kulturell durchformte Körperwelt zwar vielerlei Hinweise auf menschliches Bewusstsein und menschlichen Gestaltungs- und Darstellungstrieb gibt, allerdings nie vollends von diesem durchdrungen werden kann.⁶⁵³ Zentrale ethische Aufgabe ist mithin zunächst die Selbstbildung,⁶⁵⁴ in der klassischen Terminologie, derer sich auch die Christliche Sitte bedient, ausgedrückt als der ‚Herrschaftsgewinn des Geistes über das Fleisch‘.⁶⁵⁵ Ihr Fokus der Selbstbezogenheit schließt sodann wiederum die Öffnungstendenz zu Sozialität und Weltaneignung ein.⁶⁵⁶ Auf der Linie dieser Horizonterweiterung führt Schleiermacher in seinem Ethikkolleg von 1812/13 die ‚Familie‘ ein. Sie erscheint zugleich als Verlängerung des Selbst⁶⁵⁷ und gesellschaftliche Vermittlungsinstanz⁶⁵⁸ und gewinnt damit eine Scharnierstellung. Diese Qualität wächst ihr nicht allein aus ihrer quantitativen Mittelgröße zu, die sie als soziale Gruppe hat, sondern aus den Bedeutungsdimensionen, die sie sowohl auf naturaler als auch auf geistiger Ebene entfaltet und die sie in vielerlei Weise verschränkt.⁶⁵⁹ Wir wenden den Blick zurück auf die Eingangsfrage. Prinzipiell können wir sie ganz eindeutig beantworten. Die Leiblichkeit menschlichen Seins ist ein Segen. Denn bedeutet Segen Lebensförderung,⁶⁶⁰ so kann der Leib, den Schleiermacher geradezu mit dem Leben identifizieren kann,⁶⁶¹ von diesem nicht abstehen. Ihm inhärieren allerdings Schattenseiten. Der Leib als das „Medium menschlicher (Handlungs‐) Freiheit“,⁶⁶² ist zugleich der Adressat und das Organ von potentiell amoralischen Ueber den Begriff des höchsten Gutes II (1830), SW I, 475, zit. nach Hasler, Natur, 91. PhE 572: „In demselben Sinne ist die immer schon gegebene organisirte Natur der menschliche Leib, und die nie vollständig zu organisirende der Erdkörper.“ Der Leib kann auch als „engstes Bildungsgebiet in diesem Sinne“ bezeichnet werden (PhE 583). Konkretisiert wird dieser in der Verhältnissetzung der Handlungssphären der Reinigung, Verbreitung und Darstellung ChS 100 – 105. 293. Vgl. PhE 583 f. Vgl. PhE 272, §59 f. Vgl. dazu PhE 271, §55. Vgl. PhE 273, §71. S.u. II.III. Dieser Grundausrichtung folgt der Segensbegriff unter der Perspektive aller theologischen Disziplinen. Vgl. hierzu die Zusammenschau von Leuenberger, Segen. Vgl. PhE 583: „der menschliche Leib, […] also das Leben […].“ Horstmann, Natur, 129.
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Triebneigungen. Die Bestimmtheit und dynamische Potenz, die er dem menschlichen Leben verleiht,⁶⁶³ kennt in der christlichen Ethik auch die Perspektive auf die ‚Nachwirkungen der Sünde‘. Der Leib als Kulminationspunkt von Identität und Geschichtlichkeit des Lebens⁶⁶⁴ schließt das Selbsterleben von Krankheit und Schmerz ein und ist dem Altern und Sterben unterworfen.⁶⁶⁵ Trotz dessen lässt es sich nicht umgehen, dass der Mensch Leib ist und so wählt Schleiermacher den Weg der Anerkenntnis dessen und des optimistischen Umgangs damit.⁶⁶⁶
4.2.3 ‚Weltansicht‘: Ethische Konfigurationen Das geeint Sein von Vernunft und Natur in Gestalt der Seele nimmt Schleiermacher im Brouillon zum Explikationsgrund der drei Ethikformen.⁶⁶⁷ Das höchste Gut wird definiert als die ‚Totalität‘ dessen, „sich nun als Seele mit dem Ganzen in Wechselwirkung“ zu befinden; die Tugendlehre fokussiere „das Produciren im Einzelnen“ welches die ‚Beseelung‘ der Natur durch die Vernunft anzeige;⁶⁶⁸ wohingegen die Pflichtenlehre die Gegenrichtung einschlage, indem sie eine Generalisierung der Handlungsmuster repräsentiere, die verschiedenen entsprechenden Handlungen zugrunde liege und damit Orientierung leiste.⁶⁶⁹ An den Definitionen fällt auf, dass sie alle – selbst die Pflichtenlehre – nicht den Modus des Imperativs, sondern der Beschreibung haben. Seinen Grund hat dies im „immer schon irgendwie mit der Natur
Vgl. zum apathischen Konzept rein geistiger Seligkeit bei Schleiermacher ChS 40: „[…] Unlust kann in der göttlichen Seeligkeit nicht gedacht werden. Aber auch keine Lust; denn diese liegt ganz in dem Gebiete des ab- und zunehmenden, des wechselnden, des oscillirenden.“ PhE 583 spricht Schleiermacher vom „Leib als Ineinander der Thätigkeit und des Resultates, des Ursprünglichen und des Gewordenen.“ Dieser Problematik widmet sich Schleiermacher in seinem fünften Monolog ‚Jugend und Alter‘ (M 53 – 61). Beim frühen Schleiermacher findet sich eine interessante Gegenläufigkeit in der Fokussierung der Relate Geist und Natur. Ist in den Lucindebriefen die Rede von der „Heiligkeit der Natur und der Sinnlichkeit“ (L 194. Vgl. auch L 210 f), so heißt es fast zeitgleich in den Monologen: „Mir ist der Geist das erste und das einzige: denn was ich als Welt erkenne, ist sein schönstes Werk, sein selbstgeschaffener Spiegel.“ (M 9). Und „Giebts einen Leib wol ohne Geist? ist nicht der Leib nur, weil und wann der Geist ihn braucht und seiner sich bewußt ist?“ (M 10). Die ‚Heiligkeit der Natur‘ wuchs ihr aus ihrer geistigen Sublimation zu. Dies betont Schleiermacher auch bereits an entsprechender Stelle in den Lucindebriefen. In seinen Monologen hingegen sah er wohl Modifikationsbedarf, denn in ihren späteren Auflagen mildert er die Dominanz des Geistes gegenüber der Körperwelt ab. Ihr wird nun Wirkmächtigkeit auf den Geist und dessen Entwicklung und Reichweite zugesprochen. Vgl. dazu Meckenstock, Wandlungen, 410 – 413. Zu den folgenden drei Bestimmungen und den Zitaten vgl. PhE 85. Die konsequente Allheitsperspektive erklärt die These des ersten Gedankenhefts: „Jede Tugend bei welcher Collision möglich ist, das heißt welche noch andre Grenzen hat, als die ihres Begriffs ist nothwendig eine falsche Tugend.“ (G I, 17.,10) Die in der Darlegung folgende These, „Man muß alle drei verbinden. Sonst sieht man nicht, wie zum Ganzen die Elemente im Einzelnen liegen,“ (PhE 85 f) überrascht sicherlich wenig.
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geeint[…] [Sein der] Vernunft.“⁶⁷⁰ Wo ein organisches Zusammenspiel – zumindest der Anlage nach – besteht, erscheint die Deskription als der geeignetere Darstellungsmodus. Genaueres haben wir uns zu diesem Sachverhalt bereits vor Augen geführt.⁶⁷¹ Hier nun ist der Ort, zu klären, wie Schleiermacher jenen Konnex genauer beschreibt und welche Konsequenzen daraus hervorvorgehen. Anhand des Leibes sahen wir, dass Natur und Vernunft faktisch immer schon geeint sind. Lässt sich aber hinter diese Konstatierung kommen? Schleiermacher muss diese Frage klar verneinen, denn das „Kraftsein der Vernunft in der Natur“ und das „Sein der Vernunft in dem menschlichen Organismus“ sind ein unableitbares Axiom, „also eine vor der Ethik gegebene Anschauung der menschlichen Natur als solcher“.⁶⁷² Zwar zeichnet Schleiermacher in seiner Akademieabhandlung Ueber den Unterschied zwischen Naturgesetz und Sittengesetz in Anlehnung an Schelling⁶⁷³ eine Entwicklungslinie vom ‚Anorganischen‘ über ‚Vegetation‘ und ‚Animalisation‘ zur ‚Begeisterung‘; dies tut er jedoch, ohne das Eintreten von qualitativ Neuem zu leugnen.⁶⁷⁴ So liegen bei ihm die These von der Entwicklung des Geistes aus der Natur und jene von der grundlegend gestaltgebenden Kraft des Geistes für die Natur dialektisch ineinander: „Das Produktive ist Produkt und umgekehrt.“⁶⁷⁵ Zwar erhebt Schleiermacher den Anspruch, dass Sitten- und Naturgesetz übereinstimmen und Natur organisch in Geschichte übergehe. Ihr Einheitspunkt kann allerdings nicht durchgeklärt, sondern allein theologisch symbolisiert werden,⁶⁷⁶ sei es im Erlöser, der die Vollendung des Zusammentretens von Natur- und Geistentwicklung bringt,⁶⁷⁷ sei es im Schöpfer, der deren Passung im Ursprung verbürgt.⁶⁷⁸ Damit unterschreibt er sachlich dieselbe Kapitulation, die er bei Schellings Wissenschaftssystem kritisiert hatte, nur
PhE 541. S.o. I.3.1. PhE 542. „Schelling ist es gewesen, der die durch Vico, Rousseau, Herder und Goethe vorbereitete und auch in der Naturwissenschaft sich tende[n]ziell durchsetzende evolutionistische Betrachtungsweise von Natur und Geschichte in ihrer methodologischen Relevanz erkannt und zum Ausgangspunkt seines Systems gemacht hat.“ (Hasler, Natur, 71). Eingehender zur jeweiligen Gestalt des Entwicklungsbegriffs bei Schelling und Schleiermacher vgl. Süskind, System, 208 – 226. Vgl. Hasler, Natur, 79 – 81.87. Das Bild vom ‚Sprung‘ der Geister in die Natur kann nicht vollends aufgehellt werden bzw. umgekehrt beschrieben: „die Grundformen von Welt [sind] nicht aus denen des Geisterreichs ableitbar“ (Dierken, Individualität, 192). Bei Dilthey ist zu lesen: „Das Gewordensein der Vernunft auf der Erde ist der Wendepunkt in ihrer Geschichte“ (Dilthey, Leben II, 281). Hasler, Natur, 82. An dem eher aus der römischen Tradition bekannten Begriffspaar von ‚Natur und Gnade‘, dessen sich Schleiermacher in der Christlichen Sitte auch bedienen kann, wird dies sehr deutlich.Vgl. ChS 312– 315. Hasler, Natur, 82. 124 f. Darauf, dass bei Schleiermacher der Gottesgedanke selbst nicht Symbol der binnendifferenzierten Einheit sein kann, sondern eines ‚zweiten Absoluten‘ der Kontingenz neben sich bedarf, macht Jörg Dierken (sachlich gegen Hasler, Natur, 104– 111) aufmerksam (Dierken, Individualität, 203. Ders., Glaube, 415 f).
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unter veränderten Vorzeichen. War es dort die letztliche Nichtvermittelbarkeit subjektivitätsgestützter Transzendentalphilosophie mit objektiver Naturphilosophie,⁶⁷⁹ so stehen sich hier geistige Allgemeinheit und naturale Bestimmtheit gegenüber. Muss das höchste Ideal, sein Anderes und ihre Einheit also auch ‚hinter dem Vorhang‘ bleiben, so ist mit der vorgestellten Figur dennoch nicht wenig gewonnen. Sie präsentiert einen dynamischen Gesamtzusammenhang von ‚Welt‘, in dem niedrigste materielle Prozesse mit höchsten Bewusstseinsvollzügen korreliert werden können.⁶⁸⁰ Einem starren ‚Naturmechanismus‘ wird ein produktiver ‚Naturzusammenhang‘ entgegengesetzt.⁶⁸¹ Auf der Ebene seiner Schöpfungslehre bedeutete diese Beschreibungsoption die Ablehnung eines deistischen Verständnisses der Welt als eines Uhrwerks, das als prästabiliertes auch ohne seinen Uhrmacher läuft.⁶⁸² Stattdessen gab Schleiermacher dem Erhaltungsgedanken den Vorzug, der es erlaubt, dem Naturzusammenhang an jeder Stelle eine religiöse Tiefendimension zu verleihen.⁶⁸³ Im Bild gesprochen, werden Geist und Vernunft geerdet. Zweierlei geht damit einher. Zum einen ‚hängen‘ sie nun nicht mehr ‚in der Luft‘, sondern gewinnen an Konkretion. Zugleich wird dem Naturhaften seine konstruktive Wirkung auf den Geist zuerkannt, was nicht allein auf dem Felde der metaphysischen Theoriebildung von Bedeutung ist, sondern auch konkretere Evidenzen zeitigt, wobei heute nicht allein an den frommen Blick auf ein Bergmassiv oder das Meer zu denken ist,⁶⁸⁴ sondern auch an die Fortschritte naturwissenschaftlicher Forschungen, mikro- und makroskopische Bildgebungsverfahren und ein Ansteigen von ökologischem Bewusstsein. Für die ‚Wunder der Natur‘ hatte er, der sagen konnte, „mir ist alles Wunder“⁶⁸⁵ sicherlich einigen Sinn.
Vgl. Süskind, System, 78 – 80. In seiner Präferenz „einer dynamischen Ansicht der Natur“ (CG2, §41.2, 239) schließt Schleiermacher an Henrich Steffens an, der seinerseits hier in der Tradition Newtons und Kants steht. Vgl. Steffens, Grundzüge, 24: „die Natur druckt nichts anders aus, als die Einheit aller Potenzen“. Ebd., 76 spricht er von einer „Aktivität der Natur“. Vgl. dazu weiterführend Hasler, Natur, 133 – 137. In der Glaubenslehre argumentiert Schleiermacher gegen diesen Gedanken mit den Gottesprädikaten der Unwandelbarkeit und Alleinwirksamkeit. Wäre die Schöpfung ein abgeschlossener Vorgang, so würde in den Gottesgedanken eine Differenz eingezogen, in der Weise, dass er einem „Wechsel von Thätigkeit in Beziehung auf die Welt und von Ruhe“ unterstellt würde (CG2, §38.2, 227). Es würde ein Leiden in Gott gedacht, welches seine Alleinwirksamkeit ausschließt. Im Weltgedanken würde eine Schieflage dadurch entstehen, dass sie als Ganze zwar in ihrem Anfang von Gott abhängig wäre, diese Bedingtheit aber abgelöst würde durch eine bloß immanente Wechselbedingung. Zum theologischen und explikativen Mehrwert, der der Erhaltungslehre zudem gegenüber dem Begriff des ‚schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls‘ zukommt vgl. CG2, § 3 f. 32– 34. 36 – 40. 46, S. 19 – 40. 201– 215. 218 – 234. 264– 276. Zu Schleiermachers Votum gegen ein Abdrängen der Religion und ihrer Theologie in die ‚Ecke des Supranaturalismus‘ vgl. Hasler, Natur, 120 f. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf Werk und Wirkung von Schleiermachers Zeitgenossen Caspar David Friedrich. R 240.
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Zum anderen aber droht der Geist durch seine Erdung ‚in den Schmutz gezogen‘ zu werden. Schleiermacher begegnete dieser Gefahr mit seinem Optimismus einer zunehmenden wechselseitigen Durchdringung von Geist und Natur, die er durch eine weitgehende organologische Passgenauigkeit gedeckt sah. Mit einem anderen geschichtlichen Hintergrund wird man an letzteres sein Fragezeichen heften und an seine Stelle die Anerkennung des Problems setzen, was allerdings auch produktiv ist. Damit ist gemeint, dass man sich im ethischen Handeln – um im Bilde zu bleiben – immer die Hände schmutzig macht. Ethik und schon gar ethisches Handeln bedeutet, sich auf die Widrigkeiten natürlicher Gegebenheiten einzulassen. Der Versuch, natürliche Beschränkungen durch Vernunfthandeln aufzuweiten, schließt immer die Anerkenntnis jener als Ausgangspunkt und Handlungsrahmen ein. „Reine Vernunft also und seliges Leben kommen in der Sittenlehre nirgend unmittelbar vor, sondern als natürliche Vernunft und irdisches widerstrebendes Leben.“⁶⁸⁶ Gut und Böse beschreibt Schleiermacher auf dieser Grundlage als das ‚Ineinander‘ bzw. ‚Außereinander‘ von Vernunft und Natur.⁶⁸⁷ Die Bestimmung lässt sich meines Erachtens wiederum nach zwei Seiten ausziehen, was am ‚Bösen‘ verdeutlicht sei: zum einen ist es moralisch verwerflich, sich als vernunftbegabtes Wesen dieser Würde zu entledigen und dem Naturtrieb zu unterwerfen – eine bedeutsame Figur für die Sexualethik. Zum anderen ist es aber ebenso unmoralisch, zu meinen, ethische Bestimmungen aus der Naturbezogenheit heraushalten zu können. Monastische Weltverneinung und Ehelosigkeit ist eine praktische Gestalt dieses Weges, den Schleiermacher – in protestantischer Tradition – abgelehnt hat.⁶⁸⁸
PhE 543. PhE 501 kommt diese These noch einmal vor, dort ist allerdings am Ende die Rede von ‚gemischtem Leben‘. Vgl. auch G I, 179., 40: „Unpartheilichkeit betrift eigentlich nur das Urtheil. Praktisch muß man partheiisch seyn in so fern alles praktische ein Individuum betrift. […]“ PhE 544. In seinem vierten Gedankenheft stellt er eine These auf, die in Richtung einer prälapsalen zweiten Naivität geht: „Unschuld ist das Unbewustseyn der Wechselwirkung des animalischen und moralischen. Man kehrt wieder zu derselben zurük indem man diese Wechselwirkung vernichtet.“ (G IV, 10., 134). Sie kann allerdings nur ein reines Gedankenexperiment sein. Mag das tierische ‚Unbewusstsein der Wechselwirkung‘ noch Unschuld genannt werden, weil eine moralische Qualifizierung hier noch gar nicht statthaben kann, so ist die bewusste Trennung von Vernunft und Natur gemäß der obigen Bestimmung Inbegriff der Sünde, weil der Mensch hier seine Würdebegabtheit, die ihm aus seinem ethischen Vermögen erwächst, leugnet. Vgl. ChS 344– 348. Paradigmatisch sei als wirkmächtiger sachlicher Gegenentwurf an dieser Stelle auf Karl Barths Konzeption der ‚Königsherrschaft Christi‘ verwiesen. Sie zielt zwar in das Feld des Politischen, repräsentiert aber dennoch zugleich einen grundlegend anderen Ansatz, insofern die Ethik bei Barth auch darstellungstechnisch zum Thema der Gotteslehre wird. Ausgehend von Schleiermachers Grundbestimmungen ist diese letztlich als unethisch zu charakterisieren, weil hier eine Ethik unter prinzipieller Absehung der Bedingungen des In-der-Welt-Seins versucht wird. Vgl. Schütte, Zwei-Reiche und Königsherrschaft, 348 – 351. Eine solche Ethik, die nicht mit Natur und Geschichte rechnet und allein auf ein höheres theologisches Prinzip rekurriert, mag vor ihrem geschichtlichen Hintergrund verständlich werden. Ihr mangelt es allerdings an Zukunftsfähigkeit unter den Bedingungen einer differenzierten Welt- und Kulturbetrachtung. Schleiermacher hält zu Recht fest, dass „die Vernunft nur gehandelt hat, wenn Natur mit ihr geeinigt worden ist“ (PhE 546). Dieser Einigungs-
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I Einleitung und Hinführung
4.2.4 ‚Aussicht‘: Das Ideal der Vereinigungen Ebenso wie Individualität und Sozialität in der ‚freien Gemeinschaft der Geister‘ aufgehen sollen, denkt sich Schleiermacher auch eine Konvergenz des Individuationsprinzips der Natur mit der Vernunft bzw. zwischen Fleisch und Geist. Hier wie dort besticht die Figur des Wechselverweises, aber es bleibt die Frage offen, ob die postulierte Passgenauigkeit tatsächlich statthat; ob sich die Kanten der Individualität und die Wildheit des Fleisches wirklich so abrunden lassen. Sind sie damit überhaupt noch als solche zur Darstellung gebracht? Oder wird umgekehrt die Sünde selbst mitgeheiligt, insofern die ‚Nachwirkungen der Sünde‘ doch der für alles Bewusste und Lebendige notwendige Differenzgenerator sind?⁶⁸⁹ Die Natur wird als ‚vorsittliche Dimension‘ in die Ethik verwickelt, weil sie den Einzelnen konstituiert, der als ethisches Subjekt in den Fokus gerät,⁶⁹⁰ und dabei sogleich zum Teilungsprinzip der Vernunft aufsteigt.⁶⁹¹ Die Sphäre des Intelligiblen bleibt – auch in der eschatologischen Ausbuchstabierung ihrer vollen Verwirklichung – ihrer Verpflichtung auf strikte Einheit wegen blass. Nur im Zusammenspiel innerweltlicher Verschränkung kann sie (als Ideal) von Interesse sein. Wer zu bildhaften Jenseitsspekulationen neigt, wird hiervon ernüchtert sein; der Ethiker wird daran hingegen keinen Anstoß nehmen müssen. Sei es wegen des Drangs nach Konkretion, sei es wegen der Einsicht in ihre Unausweichlichkeit: die Natur als Gabe, die sich keiner geistigen Konstruktion verdankt, wird anerkannt als bleibende Aufgabe der geistigen Aneignung und Durchdringung. Darin, dass Geist und Natur immer schon verschränkt sind, was auch so viel heißt wie, dass Welt an sich nicht zugänglich ist, erweist sich Schleiermacher als Epigone Kants. Dessen Kritizismus führt auch bei Schleiermacher zu einem letztlichen Primat des Geistes, der allerdings nicht dahingehend überzogen wird, dass das Reale in seiner Idealisierung aufgehoben würde, bzw. das Fleisch durch die zunehmende Herrschaft des Geistes vernichtet würde.⁶⁹² Vielmehr behält jenes sein Recht und seine Mächtigkeit, mit allen Gefahren und potentiellen Abirrungen, die damit einhergehen.⁶⁹³ Eine weitere Quelle seiner Einigungsemphase liegt sicherlich in Schleiermachers reformiertem Hintergrund und der in jener Tradition zentralen Stellung der ‚Heiligung‘. In der Glaubenslehre definiert er diese ganz im Sinne der Aneignungsfigur (anstelle der Überwindung), die uns im Verhältnis von Wissen und Sein, Leib und Geist usw. begegnet ist,⁶⁹⁴ folgendermaßen:
prozess wiederum kennt Interdependenzen, die ein monistisches Konzept göttlicher Selbstoffenbarung nicht abzubilden vermag. Vgl. Dierken, Individualität, 202 f. Lee, Individualität, 133. Loew, Ethik, 110 f. Vgl. ChS 42. Der späte Schelling hatte sich dagegen zum reinen Idealist entwickelt (Hasler, Natur, 86). Vgl. Hasler, Natur, 83 – 85. Dazu s.o. 4.2.1 bis 4.2.3 und vgl. bündig PhE 532 f.
4 Kategoriale Grundfiguren Schleiermachers
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In der Lebensgemeinschaft mit Christo werden die natürlichen Kräfte der Wiedergebohrnen ihm zum Gebrauch angeeignet, woraus sich ein seiner Vollkommenheit und Seligkeit verwandtes Leben bildet, welches der Stand der Heiligung heißt.⁶⁹⁵
Schleiermachers ethischer Optimismus drückt sich nicht allein in seiner Einigungszuversicht aus, die wir bereits hinterfragt haben. Jene ist vielmehr nur die Grundannahme, die ein weites Feld ethischer Konkretionen eröffnet. Gerade die Vermeidung harter Dualismen ermöglicht ihm aufschlussreiche Binnendifferenzierungen, für die der Gegensatz von Gut und Böse viel zu grobmaschig wäre. Zudem stellt sich die Frage, ob die drängende Aufgabe einer mitteleuropäisch-bürgerlichen Ethik wirklich die Abbildung und Bewältigung scharfer qualitativer Gegensätze ist oder ob die faktisch bestehende Lebenswelt nicht in vielen Teilen viel zu gemäßigt und befriedet dafür ist und insofern nach feineren Instrumenten der Beschreibung und Justierung verlangt. Zur Illustration der Stärke dieses Ansatzes wollen wir nicht noch einmal Schleiermachers Kulturtheorie aufrufen, sondern die Universalbiographie, die er ans Ende seiner Monologen gestellt hat.⁶⁹⁶ Natur und Geist werden hier abgebildet auf den Lebenstrieb der Jugend und die Übersicht des Alters. Beide werden in ihren Stärken gewürdigt und zugleich als einander bedürftig vorgestellt, sodass als Ideal letztlich nur eine Synchronisation beider in Frage kommt.⁶⁹⁷ Die Jugend bringt dem Geist und dem Leben ihre Dynamik, treibt voran und ‚schaut sich um nach allen Seiten‘; „das muntre Leben der Jugend“ sei Voraussetzung für „das Werden der Weisheit und der Erfahrung.“⁶⁹⁸ Ist der Geist dann aber an ihr gewachsen, so könne auch von ‚ewiger Jugend‘ sprechen, wer die Beschwerden des Alters erfährt und wem die Jugend nur noch im „Feuer des Auges und des Mundes freundliche[m] Lächeln“ sitzt.⁶⁹⁹ Ob sich im unbekümmerten Blick des jungen Schleiermacher auf das Alter, auch derjenige wiederzufinden vermag, der den Verfall am eigenen Leib spürt, sei einmal dahinge-
CG2, § 110, 202 f [Hervorhebung – CR]. M 53 – 61. Ausgedrückt wird diese unter anderem im Bild von Blüte und Frucht: „Nur der Menschheit vergängliche Blüthe sei die reizende Jugend; aber die reife Frucht sei das Alter, und was es dem Geiste bringt. […] O der nordischen Barbaren, die das schönere Klima nicht kennen, wo zugleich glänzt die Frucht und die Blüthe, und in schönem Wetteifer sich immer beide vereinigen!“ (M 56 f). M 57. „Daß ich trauren sollte über des Leibes Verfall wäre mein leztes! was kümmert er mich? Und welches Unglück wird es denn sein, wenn ich nun vergeße was gestern geschah? Sind eines Tages kleine Begebenheiten meine Welt? […] Wer also in niedrigem Sinn die höhere Bestimmung verkennt, wem die Jugend nur lieb war, weil sie das beßer gewährt, der klage mit Recht über das Elend des Alters!“ (M 55). Zur darin liegenden Innerlichkeitsbetonung und der Ablehnung äußerlich technischer Verbesserungen als eines ethischen Ideals und zur Schärfung dessen über die Auflagen der Monologen vgl. Meckenstock, Wandlungen, 415 – 417.
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I Einleitung und Hinführung
stellt.⁷⁰⁰ Dass Optimismus, geistige Beweglichkeit und jugendliche Gesellschaft das Gemüt zu verjüngen im Stande sind, steht gewiss außer Frage. In kategorialer Hinsicht sei noch einmal betont, dass der Geist zwar Orientierung leistet, die Natur aber die Bewegungskraft birgt.⁷⁰¹ Wo der Geist fehlt, da ist leere Agilität, wo aber auf die Natur Verzicht zu leisten versucht wird, da ist Stillstand. Deshalb kann keine der beiden Seiten auf die andere reduziert werden, sondern sie müssen, auch wenn ‚Lenkung und Antrieb‘ vielleicht letztlich nicht so typenrein sind, wie Schleiermacher hofft, aufeinander fortwährend abgestimmt werden. Die Beobachtung mancher ‚Drifts‘ und manchen ‚Übersteuerns‘ – um im Bilde zu bleiben – ist kein Beweis dafür, dass die Grundbauteile nicht beide notwendig sind für die Konstruktion eines gangbaren ethischen Systems.⁷⁰²
5 Der Aufbau des materialen Teils der Studie Die Sozialform ‚Familie‘ vermag es, unterschiedlichste Dimensionen des menschlichen Lebens zu integrieren, sei es im Modus der Präfiguration oder der Bearbeitung.⁷⁰³ Daraus folgt, dass sie – so sehr sie auch als Einheitspunkt erscheinen mag – ein weit verzweigtes Geflecht von Bedeutungsaspekten ausbildet und darstellt. In jedem echten System hängt alles mit allem zusammen. Wird dennoch in vielen Systemen versucht, zur besseren Steuerbarkeit, zur größeren Effizienz und zur Absicherung des Gesamtbestandes, verschiedene Ebenen, so weit es geht, voneinander zu trennen, ist dies in der Familie gerade nicht der Fall. Es kann geradezu als ein Spezifikum der Familie gelten, dass in ihr nicht differenziert wird. Familiale Akteure sind im Vollumfang ihrer Person gemeint und gefragt: wie ein Vater mit seinen Kindern interagiert, hat Einfluss darauf, wie ihm seine Frau begegnet; der Umfang der elterlichen Zu steil ist gewiss die These „Ein selbstgeschafnes Uebel ist das Verschwinden des Muthes und der Kraft; ein leeres Vorurtheil ist das Alter, die schnöde Frucht von dem tollen Wahn, daß der Geist abhänge vom Körper!“ (M 55). Ausgehend von den Geistbetonungen, die sich bei Schleiermacher auch finden, interpretiert Jørgensen die Natur als bloß passive Größe, was eine Kritik des vereinseitigenden Idealismus nach sich zieht, die meines Erachtens allerdings dem Bild, das sich einem weiteren Blick auf Schleiermachers Œuvre bietet, nicht gerecht wird (ders., Ethik, 81 f). Schleiermachers Forderung einer Integration der Natur in die Ethik war richtungsweisend, denn biotechnische Forschungen und Errungenschaften prägen zunehmend die Lebenswelt So diagnostiziert Paul Rabinow, eine „Auflösung der Kategorie des ‚Sozialen‘“ und fordert eine Neufassung des Begriffs der Gesellschaft als „umfassende Lebensart eines Volkes“, die den technisch erweiterten Raum der Naturbedingungen miteinbezieht (Rabinow, zit. nach Lemke, Natur, 22 ff, hier 25). Folgt man Schleiermacher, so darf die Ethik dabei allerdings nicht zugunsten der empirischen Naturwissenschaften oder gar einer „Physiokratie“ (Meckenstock,Wandlungen, 415) übersprungen werden, denn er wollte für „die Sittenlehre wenigstens unentschieden lassen, ob die beschauliche Naturwissenschaft diese Anschauung [der ‚menschlichen Natur‘ als einer ‚besonderen‘ – CR], wie sie ihrer bedarf, hervorbringen kann.“ (PhE 542). S.o. I.4.Einleitung.
5 Der Aufbau des materialen Teils der Studie
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Lohnarbeitszeit und die Höhe ihres Verdienstes hat Einfluss auf die Gestaltungsmöglichkeiten des familialen Lebens; usw. Aus dieser Verschränkung erwächst der Familie ihr großes Potenzial, das sowohl konstruktive als auch destruktive Wirkungen entfalten kann. Um die Orientierungs- und Sinnstiftungskraft der Familie genauer eruieren zu können, müssen wir diese große Einheit im Folgenden allerdings zergliedern. Hierbei werden zwei Gliederungsprinzipien leitend. Das obere unterscheidet zwischen dem Geschlechter- und dem Generationenverhältnis und gibt eine Zweiteilung der materialen Durchführung der Studie – II. und III. Hauptteil – vor. Der zweite überwiegt den dritten Hauptteil deutlich an Umfang. Das hat zwei Gründe. Zum einen werden im Teil zum Geschlechtsverhältnis viele Aspekte ausgeführt, die auch für das Generationenverhältnis einschlägig sind bzw. direkt zu diesem hinüberweisen und dort sodann nicht noch einmal eigens bedacht werden müssen. Zum anderen ist das Geschlechtsverhältnis für die Sinn- und Orientierungsstiftung des individuellen Lebens ergiebiger, weil es ein symmetrisches Verhältnis ist und weil es (zumeist) dem Generationenverhältnis nicht nur vorausgeht, sondern dieses auch begleitet und dessen intensivste Phase, nämlich das Leben der Kinder im Elternhaushalt, überdauert.⁷⁰⁴ Die Begriffe Ehe und Partnerschaft werden nebeneinander verwandt. Der Grund dafür ist ihre mittlerweile große Nähe zueinander, die aus einer breiten gesellschaftlichen Anerkennung der freien Partnerschaft erwächst. Viele der hier diskutierten Dimensionen betreffen beide Beziehungsformen. Gleichwohl sind sie für die Ehe aufgrund von deren höherer Verbindlichkeit zuweilen intensiver. Daher soll gelten: ‚Partnerschaft‘ schließt ‚Ehe‘ mit ein, ‚Ehe‘ hingegen verfügt gegenüber ‚Partnerschaft‘ über eine weitergehende, eigentümliche Bestimmtheit.⁷⁰⁵ Beide materialen Hauptteile der Studie werden nochmals untergliedert nach naturbasierten und geistbasierten Aspekten, worin das zweite Gliederungsprinzip besteht. Nach dem, was wir uns oben vor Augen geführt haben, kann kein Zweifel daran bestehen, dass diese sich nicht scharf trennen lassen.⁷⁰⁶ Die naturbasierten Sinndimensionen, die im Folgenden zur Darstellung kommen, sind immer bereits geistig sublimiert und die geistbasierten haben immer auch einen naturalen Haftpunkt. Gleichwohl gibt es durchaus quantitative Unterschiede in ihren Mischungsverhältnissen, die eine entsprechende Differenzierung erlauben. Zudem ist die Unterscheidung ein Hinweis darauf, dass die Romantisierung von Partnerschaft und Familie und ihre gegenwärtig hohe Bedeutung kein bloß geistiges Konstrukt sind, sondern in der naturalen Wirklichkeit grundiert und damit über manchen Zweifel erhaben sind. Viele Aspekte unseres Lebens lassen sich um- und wegdeuten; der Sexualtrieb, die Geschlechterdifferenz – von quantitativ marginalen Sonder- und Die Ehe existiert nicht um der Familie willen, sondern die Familie geht aus der Ehe hervor. Vgl. dazu auch PädA 6., 328: „Das Kind ist durch die Familie und nicht die Familie um des Kindes willen. Dies muß es als Naturgesez fühlen. Ebenso hernach in allen anderen Verbindungen.“ Detaillierter dazu s.u. II.3.2. S.o. I.4.2.
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I Einleitung und Hinführung
Zwischenformen abgesehen – und ein Fötus im schwangeren Bauch hingegen nicht. Sie stellen Wirklichkeiten dar, von denen sich das menschliche Leben als geist-leibliches nicht zu dispensieren vermag und die deshalb im Gegenzug von tiefgreifender Orientierungskraft sind. An dieser partizipiert die Familie als mit jenen Aspekten menschlicher Existenz unmittelbar befasst.⁷⁰⁷ Im Folgenden wird es zu manchen inhaltlichen Überlappungen kommen; sowohl zwischen den Hauptteilen als auch zwischen ihren Unterperspektiven. Diese sind nicht bedauerlicherweise unausweichlich, sondern stellen gerade das Spezifikum des ‚Gesamtkunstwerks‘ Familie dar. Aus unterschiedlichen Richtungen kommt man auf gemeinsame Punkte, die allerdings in den differenten Perspektivierungen jeweils andere Aspekte zu erkennen geben. Bei der Beschreibung dessen kann es dennoch zu inhaltlichen Dopplungen kommen. Diese werden wir versuchen, durch Querverweise so gering wie möglich zu halten. Ganz ausschließen lassen sie sich allerdings nicht, weil sonst der Darstellungsbogen innerhalb der Kapitel litte. Zur komfortableren Nachvollziehbarkeit, Vertiefung oder zuweilen auch Illustration werden viele Belegstellen im Fußnotenapparat ausführlich zitiert. Wie der Titel der Studie bereits besagt, werden wir für unsere Überlegungen bei Schleiermacher den Ausgang nehmen, aber immer wieder mit anderen Autoren, neueren Debattenlagen und Erkenntnissen der Soziologie usw. sowohl kritisch als auch affirmativ über ihn hinausgehen. Die streng an der Sachfrage orientierte systematische Gliederung dieser Studie schließt eine werkgenetische Rekonstruktion Schleiermachers aus. Thesen, Analysen, Beschreibungen und Zeugnisse aus den unterschiedlichsten Zusammenhängen seines Wirkens sollen miteinander ins Gespräch gebracht werden; stets verpflichtet auf das jeweilige Thema. Die bei manchen Umgewichtungen – auf die wir freilich an entsprechender Stelle auch hinweisen werden – doch weitreichende innere Kohärenz seines Denkens und Schaffens erlaubt eine solche Herangehensweise und tut dem Anspruch, dem Autor gerecht werden zu wollen, keinen Abbruch.⁷⁰⁸
Zur ‚biologisch-sozialen Doppelnatur‘ der Familie vgl. auch König, Materialien, 62: „Die gesellschaftliche Determination der Familie läuft also nicht in einer geraden und ungebrochenen Linie von der Gesamtgesellschaft zur Familie, so daß die Familie als ein eindeutiges Produkt rein gesellschaftlicher Entwicklung angesehen werden könnte, wie etwa der Staat. Vielmehr stoßen hier zwei Kausalitätsreihen aus ganz verschiedenen Seinsbereichen und von ganz verschiedener Entfaltungsrhythmik zusammen. Die gesellschaftliche Kausalität vermag zwar ein ganzes Stück in den biologischen Seinsbereich hineinzugreifen, so daß sie unter Umständen biologische Ordnungen weit von ihrem ursprünglichen Seinssinn entführen kann, aber sie stößt dann doch unwiderruflich an eine Grenze, die wir als Zeugungsgrenze bezeichnen. Andererseits ist auch die Familie darauf angewiesen, mit der Gesellschaft zu gehen, weil sie nur so von einer biologisch relevanten Zeugungs- und Fortpflanzungsverbindung zur Familie im strengen Sinne, also zu einer sozialen Gruppe besonderer Natur wird.“ Detaillierter dazu s. o. I.2.3.
II Geschlechtsverhältnis 1 Naturbasiert: Geschlechtlichkeit Schleiermacher verfügte über ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Bedeutsamkeit der Sinnlichkeit. Menschsein und entsprechend auch die Religion waren für ihn nur denkbar, wenn dieses mächtige Element hinreichend Beachtung fand. Eine solche konnte für ihn nicht in einem Zur-Kenntnis-Nehmen von Grundübeln liegen, sondern allein in Gestalt einer Würdigung des Eigenwertes jener Dimension. Eine Ethik, die sich die Überwindung der natürlich-sinnlichen Bestimmtheit des Menschen zur Aufgabe macht, musste ihm nicht nur unrealistisch, sondern vollkommen verfehlt erscheinen.¹ Entsprechend gibt er sich selbst auf einem Feld, mit dem sich das Christentum über viele Jahrhunderte schwer getan hat, ausgesprochen aufgeschlossen. Die Geschlechtlichkeit stellt eine Orientierungsdimension dar, auf die er bereitwillig und affirmativ in unterschiedlichsten Zusammenhängen zurückgreift. In Bezug auf die Sozialform der Familie wollen wir dem in zwei Hinsichten nachgehen. Zunächst (1.) fragen wir nach der Bedeutung der Attraktivität für den Aufbau und Erhalt einer Paarbeziehung. Hierbei vergegenwärtigen wir uns einige Grundkonfigurationen, die auch für das Folgekapitel (2.) einschlägig sind, in dem wir uns den Dimensionen der Sexualität und Erotik zuwenden wollen.
1.1 Das Attraktivitätsspiel Zum aristotelischen Erbe in der Schleiermacherschen Ehetheorie gehört seine Subsumtion der partnerschaftlichen Liebe unter die Kategorie der Freundschaft.² Es erscheint nur folgerichtig, wenn er das für die Freundschaft konstitutive Moment der ‚persönlichen Wahlanziehung‘ auch für die Ehe in Anschlag bringt.³ Daher gelten Schleiermacher Ehen, die in elterlicher Verabredung oder gesellschaftlicher Konvention ihren entscheidenden Bestimmungsgrund finden, als unsittlich, wenngleich er jene im reiferen Alter nicht gänzlich als faktisch einschlägige Momente abweist⁴ – auch gegenwärtig lässt sich beobachten, dass die Gesellschaftsschichten bei weitem nicht so durchlässig sind, wie es Individualisierungs- und Angleichungsideologien gleichermaßen wünschten.⁵ Mit der ethischen Satisfaktion der Attraktion folgt S.o. I.4.2. Vgl. AÜ passim. PhE 324: „§21. Da jede persönliche Wahlanziehung Freundschaft ist, so kann es so viele Formen individueller Ehe geben, als es Formen der Freundschaft gibt.“ Die Ehe ragt allerdings darin über die Freundschaft hinaus, dass „in dem Act der Geschlechtsvermischung“ die „Vollständigkeit der gegenseitigen Wahlanziehung“ anerkannt wird. (PhE 325 (§28)) ChS 360 – 364. Zu diesem Thema s.u. II.3.2.3 und II.3.3.4. Vgl. Hill/Kopp, Familiensoziologie, 122 – 154. Nave-Herz, Familiensoziologie, 132– 138. https://doi.org/10.1515/9783110682090-003
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II Geschlechtsverhältnis
Schleiermacher bereitwillig dem in nicht unbedeutenden Sphären seiner Um- und Mitwelt bereits gängig gewordenen Usus der Partnerschaftsstiftung, entdeckt jedoch auch manche Fallstricke. Seine kritischen Bestimmungen erweisen ihn auch auf diesem Felde in weiten Teilen als Vermittlungsdenker. Die Hauptprobleme, die für eine sinntheoretische Fragestellung einschlägig erscheinen, spannen sich meines Erachtens auf zwischen (1.) Triebregung und Triebregulation; (2.) Passivität und Sorglosigkeit einseits, d. h. nicht intendiert anziehend Sein bzw. hingerissen Sein und Aktivität und Berechnung andererseits, d. h. Kokettieren bzw. ‚die Cour Machen‘ sowie (3.) den Chancen und Gefahren von Gunsterweisen für eine Beziehung, die über deren Grenzen hinausreichen. Bevor jene drei Spannungslagen entfaltet werden, wollen wir jedoch einen Einblick nehmen in das, was Schleiermacher ‚materialiter‘ als attraktiv ansah. Dazu ein Zitat aus einem seiner Briefe an Henriette Herz, auf das hin Klaas Huizing die Jette seines gut recherchierten und zugleich phantasiereichen Romans in eine tiefe Lebenskrise stürzen lassen kann,⁶ das aber auch für unseren Zusammenhang interessant ist, weil es bereits einige der noch folgenden Aspekte bebildert: Warum Dich die Männer nicht mehr suchen, fragst Du? Erstlich suchen sie Dich ja, und zweitens geht das in Männer Mysterien hinein, die Du auch nicht zu wissen scheinst. Weil Du indessen fragst so will ich Dich auch gar nicht schonen, sondern Dir vorrechnen, d[a]ß Du entsetzlich viel Fehler hast, oder eigentlich nur einen, geistig und körperlich. Wenn die Männer auch nicht blos ihre Sinnlichkeit befriedigen wollen, so soll diese doch immer mit afficirt werden, das ist was ich an ihnen hasse, aber es ist doch so. Nun bist Du freilich sehr schön; aber ich mögte sagen Du bist zu schön; Du bist zu imponirend und zu wenig pikant es ist nichts an Dir was ein Bischen liederlich aussähe und das ist so nothwendig für die Asthenie der Männer. Auch Dein imposantes ist zu passiv; es frägt gar nicht: wollt Ihr nicht niederknien allesammt? sondern es sagt nur ganz gelassen: ich will doch sehen was Ihr mit mir machen sollt. Eben so kläglich steht es nun um Deinen Geist; Du bist nicht recht witzig, nicht recht schalkhaft nicht recht herrschsüchtig; kurz die asthenische geistliche Sinnlichkeit kommt auch zu kurz und Du wirst Dich mit all Deinem Charakter, Deinem Verstand und Deiner Schönheit mit ein Paar so treuen Hunden begnügen müssen wie A[lexander] und ich.⁷
Zunächst fällt die zweifache Benennung des Asthenischen auf, das sich an dieser Stelle weniger pathologisch im Sinne von Schwäche interpretieren lässt, sondern vielmehr als Unkontrolliertheit zu identifizieren ist. Was den Mann schwach werden lässt und zur sinnlichen Ergebung reizt, ist eine Leichtfertigkeit und Unbemühtheit der Frau in Bezug auf ihr Äußeres. Dieses Orientierungsmuster erweist auch die aktuelle Körpersoziologie als einschlägig.⁸ In geistiger Hinsicht soll sie sich ebenso ein
Huizing, Jette, 136 – 141. Brief 1379, 201 f. Die qualitativ-empirische Studie Schönheit als Praxis, in der Körperideale und -pflege in verschiedenen Gesellschaftsschichten untersucht wurden, hat ergeben, dass sich insbesondere in der ‚oberen Klasse‘ des leitenden Bildungsbürgertums dieses Orientierungsmuster etabliert hat. So steht für Frauen dieser Schicht die Herausstellung ihrer Eigentümlichkeit im Vordergrund, die sich zwar an
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wenig gehen lassen in Esprit (‚Witz‘, ‚Schalk‘) und einem gewissen Egozentrismus (‚Herrschsucht‘, ‚wollt Ihr nicht niederknien allesammt?‘). Was Attraktion ausmacht, wird hiernach also bestimmt durch Antastbarkeit und zur Bewunderung reizende Selbstgewissheit.⁹ Diese Melange wird man wohl am ehesten mit der Jugend assoziieren und so überrascht es wenig, dass Schleiermacher junge Frauen nicht nur bewunderte,¹⁰ sondern selbst auch eine freite.¹¹ In seinen Brautbriefen streicht er immer wieder die Frische, die Unbekümmertheit und den in Selbstgewissheit gründenden
Stilidealen, die gesellschaftlich kommuniziert werden, interessiert zeigt, sich aber letztlich als von diesen unabhängig inszeniert: „Die direkte Orientierung an massenmedialen Idealen und das Nachahmen prominenter Personen wird von allen Befragten abgelehnt. […] jene, die doch einzelne Prominente nennen, heben meist hervor, inwiefern sich diese von der Masse beziehungsweise vom Durchschnitt abheben. So erklären einige Frauen beispielsweise, Schauspielerinnen oder Sängerinnen deshalb zu bewundern, weil diese ‚wirkliche Frauen‘ seien, die ‚Kurven und einen Charakter‘ hätten, und weil sie ‚für etwas stünden‘, statt einfach nur möglichst schlank oder jugendlich zu sein und ‚süß‘ auszusehen.“ (Loibl, Natürlichkeit, 94). Die Individualität wird hierbei weniger auf der Soll- als vielmehr auf der Haben-Seite verankert. Die Körperinszenierung wird nicht als Aspekt der Selbstdefinition verstanden, sondern vielmehr als Repräsentation eines bereits vorausgesetzten Selbstbildes – leitende Kategorie ist hierbei jene der Authentizität. (Diese kommt bei Loibl nicht zur Geltung findet aber Beachtung bei Koppetsch, Statusrelevanz, 106 – 114). Den Selbstbestimmungs- und Stimmigkeitsidealen korrespondiert jenes der virtuellen Unbemühtheit, welches umgangssprachlich unter dem Schlagwort der Natürlichkeit firmiert: „Schöne Gesichtshaut wirkt attraktiv, ohne dass man ihr die intensive Schönheitspflege konkret anmerkt. Auch beim Schminken stehen die beiden Ziele im Vordergrund, ‚natürlich‘ auszusehen und in Bezug auf die Gestaltung des Äußeren nicht zu bemüht zu wirken.“ (Loibl, Natürlichkeit, 93.Vgl. auch Posch, Körper, 72– 74). Das Kokettieren mit der Antikoketterie ist bei den Männern dieser sozialen Klasse noch stärker ausgeprägt. Die Betonung der eigenen Passivität – ausgenommen sind Bemühungen um Ernährungsgewohnheiten und die körperliche Fitness, die allerdings weniger ästhetisch als vielmehr mit Hinweisen auf das eigene psychische (‚Ausgleich‘, ‚Abschalten‘, ‚Abreagieren‘) und physische Wohlbefinden (‚Kräftigung‘, ‚Gesundheit‘) begründet werden – in Bezug auf das äußere Erscheinungsbild bei gleichzeitig praktisch betriebenem Aufwand hat Philip Thom unter die Formulierung „Attraktivität als verallgemeinerter Normalzustand“ gebracht (ders., Normalzustand, 103). Diesem Befund muss die Feststellung einer allgemeinen sozialen identitätsvalenten Bedeutungszunahme körperlicher Inszenierung nicht widersprechen. Vgl. dazu Koppetsch, Statusrelevanz, 101– 103. „Die attraktive Person zieht mehr Beachtung auf sich, als sie anderen zuteil werden lässt und erhöht damit ihr Ansehen in Interaktionen. Attraktivität wird dann zu einem Beachtungskapital, wenn die Menge an Beachtung durch Dritte in die Wertschätzung eines Anderen miteinfließt.“ (Koppetsch, Statusrelevanz, 101). Vgl. auch Bierhoff/Grau, Bedeutung, 222: In einem empirischen Interaktionsversuch konnte das Ergebnis konstatiert werden, dass sich Frauen, die sich als eher unattraktiv einschätzten, deutlich mehr in einem Gespräch mit einem fremden Mann engagierten, als Frauen, die sich als attraktiv einschätzten. BB 151 schreibt er über Ida von Auerswald: „Das Mädchen hat ein pikantes Gesicht, ein einnehmendes freies offenes, dabei gar bescheidenes Wesen, singt sehr niedlich zur Guitarre und ist einzig und hat eine sehr schöne kleine Hand.“ Mit dieser Präferenz steht Schleiermacher ganz im (auch aktuellen) Mainstream. In der Studie ‚Inside Big Data‘ führt Christian Rudder eindrücklich vor Augen, dass Frauen im Alter von 20 bis 50 Jahren stets etwa gleichalte Männer am attraktivsten einschätzen, während Männer bis zum 50. Lebensjahr durchgängig am Ideal der Anfang-Zwanzigjährigen festhalten (ders, Big Data, 39 – 43).
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Mut seiner Braut heraus¹² und auch bei Friedrich Schlegel ist es nicht zuletzt dessen „Natürlichkeit, Offenheit und kindliche[…] Jugendlichkeit“,¹³ die Schleiermacher zur Freundschaft mit ihm reizt. Ein weiterer Aspekt liegt in der Entgegensetzung des ‚Pikanten‘, im Sinne des Besonderen, zur allgemeinen Schönheit. Was polarisiert, steigert zwar in einigen Fällen die Ablehnung, in anderen aber auch die Zuneigung enorm – leichte Makel erhöhen die Attraktivität.¹⁴ In der Ehetheorie seiner Christlichen Sittenlehre hebt Schleiermacher stark auf die Aspekte von Fortpflanzung und Erziehung ab.¹⁵ Diese wenig romantisch und modern anmutende Stoßrichtung birgt Implikate für die Frage nach der sexuellen Anziehung, die jedoch hoch aktuell sind; werden in der Neuro- und Soziobiologie doch nach wie vor (neo‐) darwinistische Modelle diskutiert, die Attraktivität als Versprechen auf eine gelingende Weitergabe eigener Gene interpretieren.¹⁶ Demnach sei attraktiv, wer Gesundheit und Fertilität ausstrahle, sprich, die junge, nicht zu hagere Frau und der trainierte, wohl situierte Mann.¹⁷ War oben in Anführungszeichen von den materialen Elementen der Attraktion die Rede, so lässt sich nach den genannten Aspekten, die das Auftreten einer Person betreffen, auch fragen, ob Schleiermacher bestimmte Körperregionen im Blick hatte, die in besonderer Weise als Projektionsflächen des Attraktionsspiels in Frage kommen. In einem Zitat wurde bereits eine ‚sehr schöne kleine Hand‘ benannt, die Arbeitsfreiheit und mithin Sorglosigkeit suggerieren mag. Weit öfter kommt Schleiermacher allerdings auf drei andere Organe zu sprechen: die Augen, als Spielfläche tiefer Blicke und wortlosen Einverständnisses, die Lippen als Bildner ‚süßer‘ und ‚pikanter‘ Reden und als mögliches Versprechen auf ein wechselseitiges Verzehren in Küssen und die Brust als Ausdruck der Weiblichkeit, aber auch als Hort der Bergung, des entgegenschlagenden Herzens und des (Lebens‐)Atems.¹⁸ Doch nicht nur die
BB 112: „Warum wolltest Du Dich also nicht auch rein gehen lassen, allem, was so in Dir ist, […] Du bist ja jugendlich und frisch, warum solltest Du nicht so ins Leben hineingehn? meinst Du nicht, daß ich eben diese frische Jugendlichkeit in Dir liebe? daß ich ihrer bedarf? daß sie zu diesem ganzen Gang unseres Lebens auch mitgewirkt hat in uns beiden?“ BB187: „bleibt mir ja recht frisch und munter, und sei mir ganz unerhört gut und verlange auch ein Bischen nach mir.“ BB 135: „wenn meine Liebe zu Dir am innigsten hervorbrach, war immer auch Deine Stärke und Dein Muth unter dem, was ich am lebendigsten fühlte, und woran ich mich so recht innig erfreute.“ BB 249: „Weißt Du nicht, wie ich von Anfang unserer Bekanntschaft an Deinen Muth und Deine Kräftigkeit geliebt habe?“ BB 273: „das wahre einzige Weib meiner Seele! den Muth und die Festigkeit und das liebliche süße Wesen dabei.“ BB 250: „Das habe ich aber auch so unendlich an Dir geliebt, […] daß Du so ruhig und heiter warst auch in Deiner Schmerzenszeit.“ Brief 402, 177. Vgl. Rudder, Big Data, 53 – 60. Vgl. ChS 338. Beil 68 f. Detaillierter dazu s.u. III.1.1. Vgl. Schuster, Gesichtsschönheit, 20 f. Maiwald/Schreiber, Grundlagen, 11 f. Vgl. Hill/Kopp, Familiensoziologie, 70 – 78, bes. 74 f. Vgl. aber auch Schlegel, Lucinde, 20: „Weihe dich selbst ein und verkündige es, daß die Natur allein ehrwürdig und die Gesundheit allein liebenswürdig ist.“ Vgl. BB 169.182 u. ö.
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Augen des Betrachters¹⁹ und die tastende Haut sind erogen – auf Geruchsreize kommt Schleiermacher, soweit ich sehe, nicht zu sprechen²⁰ –, sondern auch die Ohren: „es durchdringt mich noch immer ganz eigen, wenn ich die süße Stimme [Jettes – CR] höre“.²¹ Letztlich ist es wohl immer die individuelle Mischung, die einen Menschen interessant macht.²² Zur Frage, ob sich Gleiches oder Unterschiedliches anziehen, äußert sich Schleiermacher nicht direkt.²³ Stattdessen verhandelt er das Problem unter dem weit komplexeren Theoriefeld von Individualität und Einheit.²⁴ Eine direkte Teilantwort gibt er allerdings doch, die sich in der Tradition protestantischer Ethik bis hin zu Wolfgang Trillhaas durchgehalten hat:²⁵ im Blick auf den Geschlechtsunterschied sei die einzig sittliche Möglichkeit die gegengeschlechtliche Verbindung.²⁶ Von daher wiegt es nicht gering, wenn er seiner Braut gegenüber beteuert, dass seine über Jahre hinweg Angebetete, Eleonore Grunow, ihr weit nachstehe, weil es ihr an äußerer Weiblichkeit mangele.²⁷
1.1.1 Triebregung und Triebregulation Nach diesem Einblick in die farbige und zum Teil recht private Seite des Themas treten wir noch einmal zurück und richten die Aufmerksamkeit auf die ethische Koordination von Triebregung und Triebregulation. Mit einem Zitat aus den Lucindebriefen ist zunächst festzuhalten: „der Zustand des Genusses und der herrschenden Sinnlichkeit
Zum Primat des optischen Eindrucks bei der Beurteilung der Attraktivität vgl. Lautmann, Status, 143 f. Ihnen weist er in seinen Gedanken ein späteres Zeitalter an: „Die Unwichtigkeit des Geruchs wird wol aufhören wenn die Menschen chemisch cultivirter seyn werden.“ (G I, 175., 40). BB 239. Vgl. dazu das Zitat unten aus L 157.Vgl. auch L 181: „wie man ein Caprice-Gesicht hübsch findet, wo man an allen einzelnen Theilen viel auszusetzen hat, aber doch von dem Ganzen zu einem gewissen Wolgefallen und Interesse daran gezwungen wird.“ Die Frage wird von Aristoteles durchaus diskutiert und in dieser Weise ging sie auch durch Schleiermachers Feder (vgl. AÜ 48 f). In seinen Anmerkungen zum entsprechenden Paragraphen äußert er sich allerdings nicht zu dieser Frage, sondern behandelt das weit abständigere Problem, inwiefern man Lebloses lieben könne. Vgl. AAnm 7– 9. S.o. I.4.1. Vgl. Trillhaas, Ethik, 331– 336: „Die Entartung der Geschlechtsbeziehungen“. PhE 324: „§25. Die Befriedigung der Geschlechtsfunction innerhalb desselben Geschlechts ist unnatürlich schon innerhalb der physischen Seite selbst und kann also durch nichts dazukommendes Ethisches veredelt werden.“ Vgl. BB 170: „Auch hat sie [sc. Eleonore Grunow – CR] in ihrem äußern Wesen etwas unangenehmes und unweibliches, was in der Gesellschaft auch mich selbst immer störte, und nur ich, wie ich ihre tiefe innere Weiblichkeit kannte, hoffte durch das Zusammenleben mit mir und Jette [Herz – CR] es zu überwinden.“ Mit diesem Zitat und seiner faktischen Brautwahl zeigt Schleiermacher, was die Forschung Whites u. a. belegt: es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen physiologischer Erregung und romantischer Attraktion. Vgl. Bierhoff, Liebe, 214– 218.
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hat auch sein Heiliges“.²⁸ Haben wir uns oben die ethische Würdigung des Natürlichen vor Augen geführt, so erscheint dies selbstevident.²⁹ Es hat in unserem engeren Zusammenhang aber noch eine eigene Doppelpointe. Zum ersten liegt diese in der Anerkennung des Faktischen: Wie wollt ihr denn das hindern, daß ein Mann sich nicht Vorstellungen davon mache, wie diese und jene im Zustande des Liebens wol sein und wie Alles, was dazu gehört, sich in Jeder eigenthümlich gestalten möge? […] Ihr müßtet […] zuerst aufhören eigenthümlich zu sein.³⁰
Etwas weniger frivol möchte ich reformulieren: Es ist unumgänglich, anzuerkennen, dass, wo eine Person etwas Interessantes von sich preisgibt – seien es körperliche oder geistige Reize –, diese bei einer anderen zumindest einen Ausgangsimpuls evozieren.³¹ Zum zweiten tritt Folgendes hinzu: So wie Schleiermacher ‚die unruhige Reizbarkeit’ zu den Voraussetzungen lebendigen Fortschritts in einer Gesellschaft zählt und gegen den ‚mumifizierenden‘ und ‚ertödtenden‘ Traditionalismus ins Feld führt,³² so gehört sie auch zum unverzichtbaren Integral freier Geselligkeit, deren Recht es zu behaupten gilt gegen Prüderie und ethisch grenzwertige Schamhaftigkeit, die uns als Abgrenzungsfiguren unten noch beschäftigen sollen. Das heißt, die im ersten Aspekt zur Geltung gebrachte Faktizität von Reizwirkungen wird von Schleiermacher noch angereichert durch den Aspekt der Inkommensurabilität. Bei Aristoteles, den wir hier durchaus als Hintergrund annehmen können, heißt es: […] das aus dem Anblik einer schönen Person entspringende Vergnügen [ist] der erste Grund der Liebe […] niemand [liebt] ohne dies vorgängige Vergnügen […], obgleich nicht jeder liebt, der dasselbe empfindet […].³³
Sind der Unsittlichkeit mit der Satisfaktion von Sinnlichkeit und Neigungsbestimmtheit nun Tor und Tür geöffnet, wie es Schleiermacher nach seinen Lucindebriefen vorgeworfen wurde³⁴ und wie er sich auch in der klassischen Darstellung Diltheys schelten lassen muss?³⁵ Die Frage ist nicht nur rhetorisch gemeint, weil die ethische
L 173. Im Gegenzug kann Schleiermacher davor warnen, „die Sinnlichkeit nicht zu profaniren“ (G IV, 6., 132). S.o. I.4.2. Gleichwohl sperrt sich die zitierte, paradox anmutende These, wo man sie absolut setzen wollte, gegen sonstige Positionierungen Schleiermachers, wie in der Abhandlung Über das höchste Gut. L 157. Zur Eigenbedeutung der Phantasie s.u. II.3.1.5. L 146. AÜ 71. S.o. I.2.2. Dilthey, Leben I, 486: „Ich beabsichtige nicht, zu beweisen, daß der Roman Friedrich Schlegels sowohl unsittlich als dichterisch formlos und verwerflich ist. Diese Einsicht bedarf keiner Begründung mehr.“ Von Schleiermacher und seinem Versuch der Verteidigung der Lucinde, heißt es ebd. 500: „Die Verkennung der realen Grundlagen der Ehe führt Schleiermachers ernsten und consequenten Geist in
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Einhegung des Wilden – d. h. nicht den Abgleich mit selbstgesetzten Prinzipien Suchenden – durchaus ein Problem darstellt, schon gar, wenn hierbei nicht nach dem Schema einer Überwindung von Natur durch Kultur vorgegangen werden soll, sondern der Naturbestimmtheit ein bleibendes ethisches Eigenrecht eingeräumt wird.³⁶ Der ‚mitgeheiligte‘ Trieb behält seine potentielle ethische Zersetzungstendenz – dies war Schleiermacher durchaus bewusst – und so diskutiert er zwei (extreme) Möglichkeiten, dieser zu begegnen.
Kritik der Libertinage Die eine Option ließe sich kennzeichnen als bedingungslose Kapitulation vor dem Trieb, die sich jedoch mit den Federn seiner kulturellen Sublimation schmückt – würziger ausgedrückt in den Lucindebriefen: „geistlose und unwürdige Libertinage, die sich rühmt einen thierischen Trieb etwa bis zur Höhe der Kochkunst hinauf verfeinert und humanisirt zu haben.“³⁷ Schleiermacher führt hierfür vor allem literarische Paten ins Feld. In Schlegels Lucinde mag „die Lust an der Lust […] manchmal ein wenig gar zu laut“³⁸ sein, im Ganzen sei die Liebesvorstellung des Werkes seines Freundes aber sehr ausgewogen.³⁹ Andere Autoren, wie Kozebue⁴⁰ oder Crebillon⁴¹ werden in dieser Hinsicht deutlich kritischer von Schleiermacher gesehen. Die Inkarnation der Idee eines sittenlosen Liebesromanautors allerdings war ihm wohl Christoph Martin Wieland. Um Schleiermachers ethische wie poetische Kritik an jenem zu vergegenwärtigen, sei dessen in Verse gegossene Erzählung Combabus hinzugezogen, auf die Schleiermacher selbst anspielt.⁴² Sie handelt von dem gleichnamigen Freund des Königs Antiochus, der von diesem während seiner Abwesenheit zum Hüter über seine Frau Astarte eingesetzt wird und als einzigen Weg, diese Prü-
immer tiefere sittliche Irrungen.“ Diesem Urteil schließt sich sachlich auch Franz Vorländer an (ders., Sittenlehre, 69 f). Für Dilthey ist der von Schleiermacher gewählte Weg übrigens nicht gangbar. Vgl. Dilthey, Leben I, 502. L 150. Im Anschluss an Otto Storch wendet Helmut Schelsky denselben Vergleich positiv; grundsätzlich werden wir bei Schleiermacher aber eine ganz ähnliche Fluchtlinie über die Betonung der Eigenbedeutung des sinnlichen Genusses zu seiner ethischen (Re)-Integration entdecken: „indem sich die Geschmacksqualitäten von der Funktion der bloßen Nahrungsaufnahme freisetzen lassen und um ihrer selbst willen erstrebt werden können, schaffen sie erst den eigentümlichen menschlichen Anreiz, Geschmacks- und Genußbedürfnisse um ihrer selbst willen zu verfolgen und diese daher als hohe kulturelle Differenzierung in die Formen der Nahrungsaufnahme einzubauen. So gehört das reine Genußmittel von vornherein ebenso zu den Wesenseigentümlichkeiten des Menschen wie die Verfolgung der bloßen geschlechtlichen Lust um ihrer selbst willen.“ (Schelsky, Soziologie, 13 f). L 164. Vgl. L 150: „Hier hast Du die Liebe ganz und aus einem Stück […].“ Vgl. BB 320 f. Vgl. L 192. Vgl. L 192.
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fung zu bestehen, die Selbstkastration sieht und vollzieht.⁴³ So ist ‚die größte Gefahr‘ gebannt, jedoch kommt das dichterisch von vornherein zum Ehebruch verdammte Paar in anderen Weisen zusammen.⁴⁴ Am Ende rettet der Beweis der Selbstentmannung Combabus die Haut und den Namen und Wieland bemerkt zum Abschluss: Die Wuth sich zu combabisieren | Ergriff sie insgesammt. In kurzer Zeit bestand | Der ganze Hof aus einer Art von Thieren, | Die durch die Stümmelung das einzige verliehren, | Um dessentwillen man sie noch erträglich fand.⁴⁵
Bereits die Grundkonstellation der Geschichte ist nicht anhaltslos für Schleiermachers Urteil von der „unedle[n] Natur“ Wielands, die sich darin ausdrücke, dass seine Figuren „fast niemals rein sinnlich [sind], sie müssen sich wenigstens immer etwas einbilden von andern Gefühlen, und sein bester Spaß ist, sie darüber auszulachen.“⁴⁶ In Wielands Erzählwelt hat der Geist dem Sinnenreiz faktisch nichts entgegenzusetzen.⁴⁷ So spricht der angefochtene Combabus bei sich selbst: „Für dich kämpft Ehr‘ und Tugend nur, | Ihr helfen Schönheit, Reiz, und Wollust, und Natur!“⁴⁸ Das Darstellungsmittel der Anspielung, welches das kurze Werk von der Handlungsebene bis in die Dialoge hinein bestimmt, heißt Wieland explizit mit der Begründung gut: „weil die Dichter sich nicht selbst copieren sollen.“⁴⁹ Damit vertritt er eine Position, die Schlegel in seiner Lucinde konsequent missachtete, indem er von der Charakterisierung der Lucinde,⁵⁰ über die kleine Wilhelmine ⁵¹ bis hin zu den Lehrjahren der Männlichkeit ⁵² die eigene Biographie einspielte, was nicht zuletzt den folgenden öffentlichen Sturm der Entrüstung begründete, weil man nun auch den Dichter und nicht nur seine Romanfigur vor Augen hatte, wenn man von Rollenspielchen⁵³ und wildem Verkehr⁵⁴ las. Schleiermacher verteidigt diesen Weg der Direktheit seines Freundes, der mit seinem poetologisch artifiziellen Ironiekonzept freilich nur in einer
Wieland, Combabus, 317 f. Wieland, Combabus, 324– 328. Wieland, Combabus, 333. L 192. „Diese Leute ignoriren den geistigen Bestandtheil der Liebe gänzlich, sie geht bei ihnen immer nur von der Schönheit, oder vielmehr von dem Reiz der Gestalt aus, sie mahlen immer nur die Sinnlichkeit, und sind dabei ganz unbefangen.“ (L 192). Wieland, Combabus, 315. Wieland, Combabus, 323. Dorothea Veit stand hier eindeutig Pate. Vgl. Meckenstock, Einleitung zu KGA I.3, L. Schlegel, Lucinde, 13 – 15. Schlegel, Lucinde, 35 – 59. „Eine unter allen [Gestalten und Situationen der Freude – CR] ist die witzigste und schönste: wenn wir die Rollen vertauschen und mit kindischer Lust wetteifern, wer den andern täuschender nachäffen kann, ob dir die schonende Heftigkeit des Mannes besser gelingt, oder mir die anziehende Hingebung des Weibes.“ (Schlegel, Lucinde, 12). „Ich würde ihn [sc. den Schmerz der Widersprüche – CR] so wenig achten, wie die liebende Geliebte im Enthusiasmus der Wollust die kleine Verletzung achtet.“ (Schlegel, Lucinde, 12).
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bestimmten Hinsicht als sachlicher Wortzeichner gelten kann. Seine vollständige Beschreibung des Sinnenlebens habe den Vorteil, den Leser nicht zu animieren, wilde Phantasien anzuknüpfen, wie dies beim erotischen Stil der Anspielungen der Fall ist.⁵⁵ Ihren tieferen Grund findet diese Stilmittelwahl in der moralischen Dignität der Liebesvorstellungen beider Autoren. Während Wieland nur die Sinnlichkeit im Blick habe, die er entsprechend wie ein Redner in seinen Hörern aufzuheizen versuche,⁵⁶ stilisiert Schleiermacher Schlegel als hehren Künstler, der die wahre Liebe in all ihren Facetten darzustellen verstehe „in einem einfachen hohen Stil, nur was nöthig ist, ohne alles Nebenwerk“.⁵⁷ Diese in einem qualifizierten Sinn moralisch zu nennende Liebe besteche dadurch, dass sie Sinnlichkeit und Geistigkeit verschränke. Jene Integralposition wird es sein, die wir als die von Schleiermacher favorisierte Gestalt einer Koordination von Trieb und ethischer Kontrolliertheit näher charakterisieren werden.
Kritik der Schamhaftigkeit Zuvor aber sei noch eine andere Option benannt, die Schleiermacher in seiner Umwelt identifiziert und kritisiert und die uns noch weitere Zugangsbestimmungen für seine eigene Position bietet. Sie steht jener der Libertinage diametral entgegen und entzieht der Sinnlichkeit jedwedes Existenzrecht, das sich ihr nur abtrotzen lässt; gemeint ist eine Haltung, für die Schleiermacher drei Begriffe kennt: ‚Schamhaftigkeit‘, ‚Prüderie‘⁵⁸ und ‚Engländerei‘⁵⁹. Der mentalitätsgeographisch interessanteste Begriff aus dieser Reihe mag der letzte sein, der systematisch belastbarste hingegen ist freilich der erste. In seinem für infrage stehendes Problem einschlägigen Versuch über die Schaamhaftigkeit ⁶⁰ differenziert Schleiermacher zwischen Scham und Schamhaftigkeit. Scham wird hier definiert als „das Gefühl des Unwillens darüber, daß etwas im Gemüth vorgegangen ist, es sei nun dieses Etwas seinem Wesen nach verdammlich oder nur seiner Beschaffenheit nach, denn sie bezieht sich nicht nur auf das Böse, sondern auch auf das Unvollkommene.“⁶¹ Von der Reue unterscheidet sich die Scham
In ChS 675 – 682 verpflichtet Schleiermacher alle Kunstformen – explizit diskutiert werden Tanz, Pantomime, Schauspiel, Dichtung, Malerei und Bildhauerei – auf die Tugend der Keuschheit. Zur Rhetorik als Effekthascherei vgl. G I, 20., 11. L 191. Dilthey teilt dieses Urteil, ebenso wie der private Briefschreiber Schleiermacher nicht. Ihm erscheint der Roman als in sich unstimmige Rhapsodie, deren darstellerische Inkonsequenz sich zwar auch aus dem Lieferdruck des Verlegers erklären, jedoch nicht durch ein noch so artifiziell anmutendes Romankonzept schönreden lässt. Vgl. Dilthey, Leben I, 492– 495. Vgl. auch ebd. 506: „Der zarte Tadel gegen die abgerissenen Bilder am Schluß, gegen das zu laute Theoretisieren verliert sich in einer Begeisterung für diese Composition, an der Freundschaft und Mangel ästhetischen Urtheils den gleichen Antheil haben.“ L 154. L 159. L 168 – 178. L 169 f.
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also zum einen dadurch, dass ihr die Wirklichkeitssättigung eines klaren Handlungszusammenhangs fehlt; denn man kann sich aller möglichen Dinge schämen, sie seien selbstverantwortet oder nicht, verwirklicht oder nur ein Spontangespinst der Phantasie. Zum anderen fehlt ihr im Gegensatz zur Reue ein ausweisbarer moralischer Bewertungsmaßstab.⁶² Dieses Vage mag zwar als Schwäche erscheinen, gänzlich zu dispensieren sei die Scham aber dennoch nicht. So würdigt Schleiermacher sie etwa in einer seiner Hausstandspredigten über die Kinderzucht als „das edlere Gefühl“ gegenüber der Furcht vor Strafe, denn die Furcht hat nur das Übel vor Augen, welches zu vermeiden sie hofft, die Scham aber ist ein erster Ausdruck eines positiven Bezugs auf die eigene Sollensbestimmtheit und mithin ein Indikator für das Wachsen der Selbstmächtigkeit eines Kindes.⁶³ Mit dem Titel einer Tugend wird man die Scham deswegen nicht gleich zu adeln haben. Sie wird von Schleiermacher aber nahe an sie herangerückt, ebenso wie das Anständige, welches er in einer platonisch-dialogischen Darstellung hinsichtlich seiner ethischen Valenz diskutiert und schließlich als eine Habitualisierung des Sittlichen ehrt.⁶⁴ Diese ist nicht zu verwechseln mit einem rein äußerlichen Habitus von Sittlichkeit, der als bloßer Schein eher deren Gegenteil anzeigt. Als einen solchen beschreibt Schleiermacher die ‚Schamhaftigkeit‘.⁶⁵ Das peinlich berührt Sein der Scham ist ein passiver und leiser Reflex; die Schamhaftigkeit dagegen ist ein aktives und – zu Schleiermachers Zeiten nicht selten – lautes Gebaren.⁶⁶ Ihren Grund identifiziert er zum einen in einer verborgenen eigenen Begehrlichkeit; wer überall Unsittliches wittere, erweise sich doch selbst als der größte Lüstling.⁶⁷ Zum anderen verrate die
Ein drittes Moment, das in diesem Zitat nicht zur Darstellung kommt, sachlich jedoch nicht fehlen darf, ist der stärkere Intersubjektivitätsbezug der Scham. Während die Reue zwar auch zumeist einen Sozialitätsbezug hat, sich aber in einem inneren Verfahren zwischen Faktizität und Ideal abspielt, ist für die Scham der zumindest virtuelle Blick eines Anderen auf die eigene Unzulänglichkeit konstitutiv. Je näher dieser Andere der eigenen Person steht, desto stärker wird das Schamgefühl sein. Bei Platon ausgedrückt (Sym 15): „[…] bei dem Geliebten, daß er sich ganz besonders vor den Liebhabern schämt, wenn er bei irgend etwas Schlechtem gesehen wird.“ Schleiermacher spricht von „Selbstherrschaft“ (H 290). ÜdA. Dilthey paraphrasiert den Unterschied von Scham und Schamhaftigkeit folgendermaßen: „Scham wendet sich mit ihrer Verurtheilung von irgend einer Aeußerung unseres Wesens auf dieses selber, auf den Gemüthsvorgang, in welchem die Aeußerung entsprang. Dagegen trifft Schamhaftigkeit mit ihrer Verurtheilung nur die Mittheilung, während sie den Gemüthsvorgang selber nicht ausschließt.“ (Ders., Leben I, 504). Vgl. die „Zueignung [der Lucindebriefe – CR] an die Unverständigen“ (L 146 f). L 176: „Was soll man also von denen halten, die in dem Zustande des ruhigen Denkens und Handelns zu sein vorgeben, und doch so unendlich reizbar sind, daß auf den kleinsten entfernten Anstoß von außen, Regungen der Leidenschaft in ihnen entstehen, und um desto schaamhafter zu sein glauben, je leichter sie überall etwas Verdächtiges finden? Nichts als daß sie sich in jenem Zustande eigentlich nicht befinden, daß ihre eigne rohe Begierde überall auf der Lauer liegt, und hervorspringt, sobald sich von fern etwas zeigt, was sie sich aneignen kann, und daß sie davon die Schuld gern auf dasjenige schieben möchten, was die höchst unschuldige Veranlassung dazu war.“ Vgl. auch G IV, 6.,
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Schamhaftigkeit ein unwürdiges Menschenbild. Soll jedwede potentielle Reizstiftung unterbunden werden, so liegt dem doch die Annahme zugrunde, dass ein Reiz mit „Naturnothwendigkeit“ in einem anderen einen unsittlichen Zustand hervorruft.⁶⁸ Das Postulat der Freiheit, die dem Gegenüber einen Spielraum unterstellt, mit Dargebotenem umzugehen, wird vollkommen ausgeblendet.⁶⁹ Wer so denkt, denkt nicht sittlich, weil er den Menschen zum Tier macht. Dazu fügt sich sodann auch die Konsequenz, dass übertriebene Schamhaftigkeit Geselligkeit letztlich unmöglich macht: „es müßte am Ende alles Sprechen und alle Gesellschaft aufhören, man müßte die Geschlechter sondern, damit sie einander nicht erblicken, und das Mönchthum, wo nicht noch etwas ärgeres einführen.“⁷⁰ Das kann freilich nicht der Weg sein und so schließt Schleiermacher: „[J]ede reizende Andeutung, jedes witzige Spiel, welches die Fantasie hervorbringt, ist in der Ordnung […]. Beiläufig ist doch zu merken, daß dies nur von denen gelten kann, die wirklich zu lieben verstehen“.⁷¹ Schleiermacher leugnet mithin nicht, dass es rohe Gesellen gibt,⁷² aber ebenso wie das potentielle Missverstehen den Dichter nicht hindern dürfe, zu schreiben,⁷³ so sollen jene in ihrer ohnehin nicht zu kurierenden Gier die Freuden der freien Geselligkeit nicht ersticken. Damit dies gelingt, bedarf es einigen Vorschussvertrauens, d. h. „daß man den Menschen die Ehre thut, sie so zu behandeln, als wären sie etwas besser“.⁷⁴ Die ethische Bedeutung des hoffnungsvollen Zutrauens wird uns immer wieder begegnen.
132: Schleiermacher warnt – so interpretiere ich die syntaktisch recht schwer zu deutende Notiz –, „bei der Schamhaftigkeit die Sinnlichkeit nicht zu profaniren“; denn wer dies tut sei ein „sentimentaler Wollüstling“. L 172. Schleiermacher unterfüttert seinen Gedanken noch mit einer vermögenstheoretischen Differenzierung, die aufzeigen soll, dass die einlinige Abbildung bestimmter Sachverhalte auf den Aspekt sexueller Reizbarkeit schlicht unterkomplex und mithin falsch ist: „Jede Vorstellung läßt eine dreifache Beziehung zu, wenn sie vor das Bewußtsein gebracht wird: sie kann zur Erkenntniß eines Gegenstandes verarbeitet werden, die Fantasie kann sie in Beziehung auf die Idee des Schönen bringen, und sie kann als Reiz an das Begehrungsvermögen gebracht werden.“ (L 174).Vgl. auch L 177: „Man soll nicht annehmen, daß unter gesitteten Menschen jede etwas lebendige Vorstellung gleich durch die Fantasie zu einem Reizmittel für die Begierde umgebildet wird; man soll nicht glauben, daß sie unfähig sind, aus dem Schönen etwas besseres zu machen, als einen Uebergang zur wilden Lust; […].“ L 176. L 175. Vgl. dazu auch L 161. Vgl. L 192: „Das Talent des Mißverstandes ist gar unendlich, und es ist ja nicht möglich, dem auszuweichen. Wer darauf ausgeht, sich durch dies und jenes seinen Wirkungskreis nicht zu verderben, der wird bald gar keinen haben, und sich so lange hüten, etwas zu thun, bis ihm nichts mehr übrig bleibt.“ Vgl. auch BB 406, wo Schleiermacher die Problematik auf sein eigenes Textschaffen wendet. L 177.
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Die Schule der Liebe Schleiermachers Optimismus liegt der Gedanke einer Perfektibilität des Menschen zugrunde, den er von Aufklärung und Pietismus übernimmt. Er weitet ihn allerdings maßgeblich auf, insofern er ihn nicht nur auf den ‚harten‘ ethischen Bereich von Gut und Böse anwendet, sondern auch Lebenssphären mit einbezieht, die dieser Unterscheidungslogik nicht unmittelbar gehorchen, wie die Fortbildung der Individualität⁷⁵ oder auch der Liebe. Dem letzten Nachsatz würde Wilhelm Dilthey entschieden widersprechen. Die Schleiermachersche These, welche sich auf die Formel bringen lässt: ‚Auch Liebe will gelernt sein‘, brandmarkt Dilthey an sich schon als unsittlich.⁷⁶ Die damit gesetzte Anerkenntnis der Möglichkeit misslingender Liebesversuche würde „das einfache Gefühl auf das Tiefste verletzen“, so dass Dilthey resümiert: „Hier tritt die Absicht durch ethische Theorie den Roman Schlegels zu vertheidigen besonders störend hervor.“⁷⁷ Zweierlei lässt sich hierauf – auch gegen Schleiermachers Willen⁷⁸ – zu seiner Verteidigung sagen: Erstens, vom Vorwurf der Unwahrhaftigkeit, der den trifft, der theoretisch zu retten versucht, was er praktisch verachtet, muss man Schleiermacher lossprechen, weil er im Praktischen fast ebenso ‚verdorben‘ war, wie sein Freund Schlegel, was man an seinem Romanvorhaben von 1798/99⁷⁹ sieht: Idee zu einem Roman: Geschichte eines geistigen Faublas. Er liebt drei Frauen und einige Mädchen, tritt die ab die er genoßen hat, behält die die er nicht genießt und will die nicht genießen die er liebt. […]⁸⁰
Zweitens, was Schleiermacher beim Lernprozess der Liebe vor Augen stand, war alles andere als ein Sturm wilden Herumprobierens, der eine Schneise der gebrochenen Herzen in seine soziale Umwelt schlägt – dies wäre tatsächlich ethisch fragwürdig. Aber blicken wir genauer in seine Darlegung: Ausgangspunkt ist die These, dass „alles Geistige im Menschen […] von einem instinktartigen, unbestimmten innern Treiben anfängt, und sich erst nach und nach durch Selbstthätigkeit und Uebung zu einem
S.o. I.4.1. Vgl. auch Diltheys direktes Urteil über die Lehrjahre der Männlichkeit in Schlegels Lucinde: „etwas unsäglich Widriges ist ihm beigemischt. […] daß Julius die Verirrungen seiner zügellosen Jugend als eine Bildungsschule für seine wahre Liebe darstellt“ (Dilthey, Leben I, 491. 501). Dilthey, Leben I, 501. Ebenso urteilt Weizsäcker (ders. Eheproblem, 18), der in Schleiermachers „Theorie von ‚vorläufigen Versuchen in der Liebe‘“ nichts weiter zu erblicken vermag, als die Verteidigung des ‚frivolen‘ Julius in Schlegels Roman (vgl. Schlegel, Lucinde, 35 – 59). BB 378: „[…] es giebt kaum einen Menschen, über den so viel raisonirt wird, als über mich, und ich bitte alle meine Freunde immer, daß sie sich ja nie die Mühe geben mögen mich zu vertheidigen.“ Datierung nach Virmond, Liebe, 65. G I, 187., 42. Dilthey lässt sein Urteil über Schleiermacher als einem „sittliche[n] Genius“ (ders., Leben I, 238) durch dieses Romanvorhaben nicht irritieren und spricht von dem Faublas als „Gegenbild der klar sondernden, bewußten, geschlossenen Denkart, zu der er [sc. Schleiermacher – CR] selber gereift war.“ (Ebd., 293).
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bestimmten Wollen und Bewußtsein und zu einer in sich vollendeten That herausarbeitet“.⁸¹ Die Anerkenntnis der Triebstruktur haben wir uns oben bereits vor Augen geführt. Hier tritt nun eine Veredelungsfigur hinzu, die dem Trieb in Willen und Erkenntnis zu Bestimmtheit verhilft – das Subjekt lernt, den Trieb in seine kognitiven und voluntativen Vollzüge zu integrieren, um so sein Handeln auszubalancieren. Mit einem Schluss a minori ad maius ist die Zielthese sogleich benannt: Warum soll es mit der Liebe anders sein, als mit allem übrigen? Soll etwa sie, die das höchste im Menschen ist, gleich beim ersten Versuch von den leisesten Regungen bis zur bestimmtesten Vollendung in einer einzigen That gedeihen können? Sollte sie leichter sein, als die einfache Kunst zu essen und zu trinken […]?⁸²
Mag das Argument einleuchten, so ist immer noch nicht geklärt, wie der Lernprozess näherhin zu gestalten ist.Wie bei allen Lernvollzügen, gibt es auch in der Liebesschule theoretische und praktische Anteile. Für erstere braucht es geeignetes Unterrichtsmaterial, welches die Liebe im ganzen Reichtum ihrer Facetten vorstellt. Dies sei zum einen in der sozialen Umwelt durch Beobachtung zu gewinnen, und zum anderen durch die Lektüre reichhaltiger Bücher zum Thema, wie der Lucinde. ⁸³ Dass schlecht, weil einseitig gewähltes, Anschauungsmaterial der Ausbildung eines realitätsgesättigten und belastbaren Liebesverständnisses sehr zuwider laufen kann, mahnt Schleiermacher im selben Zusammenhang an.⁸⁴ Ungleich diffiziler verhält es sich mit der Praxis im engeren Sinne. Hier verfährt Schleiermacher nach der Devise: ‚Wem viel anvertraut ist, von dem wird man umso mehr fordern‘. Dem unbedarften Jüngling verzeiht man noch manche Grenzüberschreitung, die der junge Mann sich nicht mehr herausnehmen darf, so wie „ein Kuß von einer Frau, welche die Liebe von Angesicht zu Angesicht geschaut haben soll,
L 186. Folgt man der Christlichen Sitte, so darf die Kirche diesen Bildungsweg nicht beargwöhnen, sondern trägt als „Schule“ „des verbreitenden Handelns“ für die „Uebung des Gefühls“ in einem umfassenden Sinne selbst Verantwortung (ChS Beil 73). L 186. Vgl. auch L 200. 203 (Beil 6). 209. Auch gegenüber seiner Braut äußert Schleiermacher diese Ansicht über die Liebe. So schreibt er über deren erste Ehe: „Hat doch eure schöne Ehe kaum über die ersten Lehrjahre hinaus gedauert, und Ehrenfried, so ein großer Lebenskünstler er auch war, wenn er jezt mit Dir darüber reden könnte, würde nicht leugnen, daß er auch noch in den Lehrjahren gestanden hat.“ (BB 260). Im Folgenden äußert Schleiermacher sodann den Wunsch, nun selbst bei Henriette in die Liebeslehre zu gehen. Vgl. L 188. Von einfach gestrickten Liebesromanen rät Schleiermacher ab, weil sie das Ideal einer bruchlosen, einlinigen Romanze zeichnen, das weder realisierbar, noch überhaupt ein wirkliches Ideal sei.Wer sich ohne Prüfung dem ersten verspricht, den ihm Trieb und Schicksal in die Hände getrieben haben, wagt sein Lebensglück zu leichtfertig dran (L 186 f). Weitere Einseitigkeiten, mit der wir es in der Gegenwart zu tun haben, ließen sich mühelos hinzufügen.
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allerdings etwas bedeutenderes und entscheidenderes sein muß, als die größte Annäherung eines Mädchens.“⁸⁵ Das Telos des Prozesses ist in jedem Fall die Braut- bzw. Bräutigamswerbung.⁸⁶ Erweist sich ein anvisierter Partner als unpassend, so sei die Annäherung sofort abzubrechen, das Erfahrene zu reflektieren und mit einem geschärften Blick ein neuer Versuch zu wagen.⁸⁷ Was nach einer kühl-experimentellen Heuristik klingt, ist natürlich alles andere als dies, weil „jeder Versuch seiner Natur nach auf diesen Punkt [der Vereinigung – CR] hinstrebt.“⁸⁸ Es schwingt immer mehr mit und das müsse auch so sein, denn – hier formuliert Schleiermacher bewusst in chemischen Kategorien – „Der Sättigungspunkt ist nur durch Uebersättigung zu finden; nur durch das Bestreben einen noch höhern Grad der Vereinigung zu Stande zu bringen, läßt sich finden, welcher Grad in einem gegebenen Fall der höchst mögliche ist.“⁸⁹ Diese ganz unromantische Vorstellung der Partnersuche ist die notwendig andere Seite der durch Schlegel, Novalis und eben auch Schleiermacher romantisierten Ehe. Soll der Ehepartner alle eigenen Lebenssphären durchdringen und bereichern, so reicht ein Augenaufschlag kaum aus, um seine Qualitäten in dieser Breite zu ermessen. Im Katechismus der Vernunft für edle Frauen heißt es im 7. Gebot: „Du sollst keine Ehe schließen, die gebrochen werden müßte.“⁹⁰ Mit der Reflexion nach Maßgabe eines vorgestellten Liebesideals haben wir ein Instrument gefunden, dem zu begegnen. Da das Liebesspiel allerdings durchaus seine Irrationalitäten hat, führt Schleiermacher noch ein zweites Moment an, das vor Verführung⁹¹ schützen soll und in der Sphäre des Gefühls als ebensolches etwas auszutragen vermag: „heilige Scheu“⁹². Sie stelle sich ein, wo der Annäherungsprozess voranstrebt, aber der Partner als unpassend erkannt ist. Sie leitet also die Partnerwahl nicht (ex negativo), sondern unterstützt nur auf emotiver Ebene den primär im erwägenden Denken stattfindenden Entscheidungs-
L 188. Von sich selbst schreibt Schleiermacher an die Schwester: „Ueber mich zu wachen darin ist mein beständiges Geschäft, ich gebe mir Rechenschaft über das kleinste, und so lange ich das thue denke ich habe ich nicht nöthig irgend ein Verhältniß abzubrechen […].“ (Brief 587, 46). Schleiermacher spricht in Bezug auf eine Frau davon „mit einem Manne Eins [zu] werden und [zu] bleiben“ (L 188). Vgl. L 187. Im Brief Eleonores, bei dem spürbar die Hoffnung Schleiermachers auf eine baldige Vereinigung mit derselben mitschwingt, stellt er dieses Verfahren noch einmal personalisiert dar: „Im Grenzen finden und festhalten bin ich von jeher eine große Heldin gewesen. Bei allen meinen Versuchen zu lieben, die natürlich bei etwas Endlichem stehen bleiben mußten, war es mir immer fast im ersten Augenblick klar, daß es etwas Endliches war, und auch bestimmt, was ich wußte, wie weit Jeder mich verstand, und wie weit ich mit Jedem gehen könnte und würde; wieviel mehr würde es mir jezt sein, da durch die Liebe und durch Dich alle meine Ansichten und Einsichten soviel bestimmter und reiner geworden sind.“ (L 198). L 187. L 187. Zum vorliegenden Darstellungsmittel vgl. Klein, Chemiekult, 67– 92. K 7. Verführung wird von Schleiermacher definiert als „Hingebung“ an einen Partner, die ein Verhältnis ‚festhält und sanktioniert‘, welches doch dazu „bestimmt [war,] Versuch zu bleiben“ (L 187). L 187.
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prozess, den Schleiermacher charakterisiert als „Vergleichung des gegenwärtigen Zustandes mit der Idee des Liebens“.⁹³ Dass ein profilierter Gefühlstheoretiker, wie der Autor der Reden, dem Gefühl an dieser evaluativen und mithin bedeutsamen Stelle im Aufbau einer Liebesbeziehung eine derart nachgestellte Position anweist, ist meines Erachtens ein durchaus überraschender Befund. Vom Endpunkt einer hoffentlich hinreichend vollkommenen Ehe wird der Entwicklungsgang, der nicht ohne Blessuren und Schuld abgeht, gerechtfertigt. Dabei zeigt sich Schleiermacher sensibel für das Problem der Schadensminimierung. Diese Positionierung erweist ihn nicht nur als guten Freund Friedrich Schlegels, sondern auch als eigenständigen deskriptiven Ethiker. Schon seine Umwelt zeigte eben viele Menschen, die sich in der Liebe versuchten, scheiterten, es neu versuchten mit dem Vorsatz, diesmal manche Enttäuschung vermeiden zu können und immer in der Hoffnung standen, ihren Partner für das Leben zu finden.
Schleiermachers ethischer Mittelweg Wir haben oben damit eingesetzt, Schleiermachers Koordination von Triebregung und Triebregulation nach den Seiten der Libertinage und der Schamhaftigkeit abzugrenzen, sind zuletzt auf den Aspekt der Bildbarkeit und Bildungsbedürftigkeit von Liebe gekommen und können nun übergehen zum Schleiermacherschen Ideal des Attraktivitätsspiels. Man könnte es mit dem Paradox einer unbefangenen Selbstkontrolliertheit bezeichnen; in Anlehnung an Schleiermachers eigene Begrifflichkeiten mit geselligkeitstauglicher Keuschheit. Sie ist die Integrationsfigur in der das Natürliche durch das Nadelöhr des Geistes gegangen ist⁹⁴ und liegt zwischen den beiden als einseitig abgewiesenen Polen.⁹⁵ In seinen Lucindebriefen ist es besonders dieses Ineinander von Sinnlichkeit und Geistigkeit der dargestellten Liebesvorstellung, welches Schleiermacher würdigt.⁹⁶ Dieses hat übrigens durchaus seine Parallelen in Platons
L 188. In dieser Abwägung wird das Gefühl sogar als potentiell trügerisch herausgestellt: „Ihre [sc. der Liebe – CR] einzige Unruhe ist nur, ob auch Alles so ist, wie sie meinen, und ob das Gefühl von der Uebereinstimmung ihres Bewußtseins mit ihrer Idee nicht eine Täuschung ist.“ (L 211). Kategorial dazu s. o. I.4.2. In der Christlichen Sitte identifiziert Schleiermacher auch auf der Ebene des Triebes selbst noch einmal zwei Pole, zwischen denen er die Keuschheit einzeichnet. Der eine ist die ἐπιθυμὶα, die Begierde, welche eine Überwältigung durch den Trieb bezeichnet, der andere ist die ἀπάθεια, die natürliche Unerregbarkeit, welche als solche gar nichts sittliches an sich habe. Allein, die ἁγνεία, die Keuschheit, welche ein Wohlgefallen empfinde, dabei aber kein Begehren, im definierten rein triebhaften Sinne, aufkommen lasse, könne als sittliches Ideal gelten (ChS 608 – 611). „Ich nehme in der Liebe keine Wollust an […] ohne das mystische, welches hieraus entsteht, […] lies nur die dithyrambische Fantasie, wo ich dies höchst anschaulich und unübertreflich schön finde, gerade weil hier die freiste Lust, bei der an gar keinen Aberglauben, oder irgend eine Statthalterschaft Gottes auf Erden zu denken ist, mit der geistigen Anschauung der Liebe so innig Eins ist […]. Nichts Göttliches kann ohne Entweihung in seine Elemente von Geist und Fleisch,Willkühr und Natur zerlegt werden.“ (L 165) „Kurz, so eins ist hier Alles, daß es ein Frevel ist, Angesichts dieser Dichtung die
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Symposion.⁹⁷ So wie die wahre Lust nicht aus der kurzweiligen, rein körperlichen Vereinigung erwachse,⁹⁸ sei auch das Spiel der Annäherung unterbestimmt, wo es nur auf den äußeren Reiz gehe. An dem Gedanken, den Dilthey als „unklare[…] Identität“⁹⁹ rügt, hat Schleiermacher bis zur Christlichen Sitte festgehalten. Müsse laut der Lucindebriefe „[d]er Gott […] in den Liebenden sein,“¹⁰⁰ der Bürgschaft für die ursprüngliche Passung von Naturtrieb und Sittlichkeit leistet, so heißt es in der Christlichen Sitte über „das sittliche Entstehen der Ehe“: Sie wird in dem Maaße christlich entstehen, in welchem die Richtung auf die Naturbeherrschung und auf die Geschlechtsgemeinschaft der Richtung auf Vereinigung zur Gemeinschaft des Wirkens in Christo untergeordnet sind, und zwar vom ersten Momente an. […] man muß sagen können, Der Geist Christi hat die Neigung erzeugt […].¹⁰¹
In beiden Fällen ist es ein religiöser Totalitätsgedanke, der das Liebesspiel orientiert und wie den religiösen Vollzug beschreibt Schleiermacher auch die partnerschaftliche Annäherung in der Spannung von Aktivität und Passivität, wobei er auch hier einer der beiden Seiten den Vorzug gibt. Der folgende Punkt wird uns zur Näherbestimmung des Schleiermacherschen Keuschheitsbegriffs dienen.
1.1.2 Passivität und Aktivität Das Spiel Zur Einleitung in die angezeigte Spannungslage diene uns eine kurze Reflexion auf den bereits beiläufig mitgeführten Begriff des Spiels. Der Zeitgenosse Schleierma-
Bestandtheile der Liebe nur abgesondert zu nennen […].“ (L 151). So ist denn auch vom Leib als ‚untheilbarem‘ „Werkzeug und Organ der Liebe“ die Rede (L 198). Vgl. auch L 193. Hier wird der Eros bestimmt als ein Daimonion, also als ein Mittel- und Mittlerwesen zwischen Sinnen- und Menschenwelt auf der einen und Ideen- und Götterhimmel auf der anderen Seite (Sym 51– 55). Dass diese beiden Pole für Platon nicht gleichwertig sind, steht außer Frage. Für ihn gibt es in dieser Sache eine klare Hierarchie, die Schleiermacher um der Würdigung der Naturseite willen zu vermeiden sucht. Das Urteil „Schlecht aber ist eben jener gewöhnliche Liebhaber, der den Leib mehr liebt als die Seele;“ (Sym 23) hat Schleiermacher allerdings durchaus sachlich unterschrieben. Die in Sym 18 – 20 vorgenommene Unterscheidung von irdischem und himmlischem Eros, die weniger dazu zu dienen scheint, der rein sinnlichen Liebe die geistige bzw. die Integrationsgestalt beider entgegenzustellen, als vielmehr die Knabenliebe als vermeintlich sublimste Gestalt der Liebe zu rechtfertigen sucht, stellen wir hier als Absonderlichkeit beiseite. Vgl. dazu auch Sym 64– 66. Vgl. L 165. Dilthey, Leben I, 502. L 165, weiter heißt es dort: „ihre Umarmung ist eigentlich seine Umschließung, die sie in demselben Augenblicke gemeinschaftlich fühlen.“ ChS 360. Vgl. auch ChS Beil 73: „§201. Die Verbreitung der Gesinnung besteht darin, daß Vorstellungsvermögen und Begehrungsvermögen unter die Botmäßigkeit der Idee gebracht werden.“ Eine auf diese Weise vollbrachte ethische Kontrolle der Naturseite bezeichnet Schleiermacher ebd. mit dem für seine Theologie sehr bedeutsamen Begriff der „Erlösung […] von der inneren Seite“.
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chers, der ihn wohl am prominentesten profiliert hat, ist Friedrich Schiller.¹⁰² Mit seinem viel zitierten Programm aus den Briefen Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen: „der Mensch […] ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“¹⁰³ zeigt er die anthropologische und eminent politische Bedeutung des Spiels an, das der Imagination einen Möglichkeitshorizont eröffnet, der sich dem auf das bloß Faktische gerichteten Geist nicht erschließt.¹⁰⁴ Die Berufung des Menschen zum Gebrauch seiner Phantasie, ist allerdings nicht die einzige Seite, die Schiller am Spiel herausarbeitet. Als Dramatiker wusste er um die Bedeutung von Stoffordnung, aber auch Effekteinsatz und Manipulation im und durch das Spiel.¹⁰⁵ Das Spiel – in einem sehr weiten Sinne – schwebt zwischen Regelhaftigkeit und Kontingenz bzw. Spontaneität.¹⁰⁶ Es eröffnet Freiheitsräume, deren Füllung ihrerseits jedoch wiederum äußerst anfällig für Berechnungen und Kalkül ist.¹⁰⁷ Dieses Schillern gilt auch für das Attraktivitätsspiel.
Was Schleiermacher von Schillers Spieltheorie zur Kenntnis nahm, lässt sich schwer ausmachen. Dass er Schiller literarisch recht gut kannte, steht außer Frage. Über Reimer bezog er sowohl eine Werkausgabe, als auch Briefwechselausgaben von Schiller mit Goethe und mit Wilhelm von Humboldt. Vgl. Meckenstock, Schleiermachers Bibliothek, 326. Zudem rezensierte er Schillers Übertragung von Macbeth (abgedruckt in: Günter Meckenstock (Hg.), Schleiermacher. Schriften aus der Berliner Zeit 1800 – 1802. KGA I.3, Berlin/New York 1988, 377– 398). Schiller, Nationalausgabe 20, 359, zit. nach Alt, Einführung, 9. Vgl. Fuhrmann, Anthropologie Schillers, 111– 139. Vgl. Alt, Einführung, 7– 9. Anders als etwa Kant, der schreiben kann: „Warum ist das Spiel (vornehmlich um Geld) […] die beste Zerstreuung und Erholung nach einer langen Anstrengung der Gedanken […]? Weil es der Zustand eines unablässig wechselnden Fürchtens und Hoffens ist. Die Abendmahlzeit nach demselben schmeckt und bekommt auch besser.“ (Kant, Anthropologie, Erster Teil. Zweites Buch. Das Gefühl der Lust und Unlust.Von der sinnlichen Lust. § 58, 168 f), ist Schleiermacher kein Freund des Glücksspiels. Vgl. G V, 17., 286. Zwar erkennt er die emotionale Entlastungsfunktion der Beimischung des Zufalls an (vgl. dazu auch G V, 206., 335), sucht allerdings die Ernsthaftigkeit vom Spiel zu trennen, indem er das schwere Glücksspiel als verwerflich aburteilt, das leichte Spiel hingegen als nutzlos und dem Intellektuellen unangemessen brandmarkt. Vgl. ChS 690 – 699. Einen positiv gefüllten Spielbegriff kennt Schleiermacher nur für die soziale Konversation. Vgl. PhE 369: „§ 249. Wenn die Darstellung der intellectuellen Fertigkeiten über die formlose Rede hinausgeht, so muß sie unter eine bestimmte Form des gegenseitigen Eingreifens gebracht werden, welches den Begriff des Spiels bildet. Die Sittlichkeit des Spiels besteht darin, daß es nur zusammenhaltende Form für eine reiche Entwicklung intellectueller Thätigkeiten wird, je vielseitiger, desto besser. Desto weniger sittlich, je mehr die Form Mechanismus wird und die freie Thätigkeit sich nur im Kleinen und zufälligen zeigen kann, wie im Kartenspiel.“ Vgl. zu den Funktionen des Spiels als Lern-, Versuchs-, Kommunikations-, Entspannungsort Gehlen, Der Mensch, 238 – 247. Kritisch beschreibt Helmut Schelsky das sexuelle Spiel seiner Gegenwart als von Konsummechanismen durchdrungen, dem dadurch alle Leichtigkeit abhandengekommen sei (Schelsky, Soziologie, 123 f).
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Die ‚Koketterie‘ Die Spannung von Sorglosigkeit und Berechnung, von Regelhaftigkeit im Gewande der Regelüberschreitung begegnet uns im Phänomen der ‚Koketterie‘ unmittelbar.¹⁰⁸ Erhellend erscheint hierzu ein Brief Schleiermachers an Henriette Herz,¹⁰⁹ in dem er zunächst, ohne sich direkt mit ihm auseinanderzusetzen, auf Johann Georg Scheffner verweist. Dieser sucht in seinen Gedanken und Meynungen die Koketterie zu rehabilitieren, indem er sie als „Studio der Kunst liebenswürdig zu seyn, und […] Bestreben diese Liebenswürdigkeit geltend zu machen“¹¹⁰ beschreibt und unter die „ansehnliche[n] Beyträge zum Angenehmen der Gesellschaft“ rechnet. Man kann sich hierbei durchaus an Schleiermachers Abhandlung Über das Anständige erinnert fühlen, die den Anstand tugendethisch einklammert, um ihn in seiner einfältigen Gestalt zum unverzichtbaren Bestandteil von gelingender Geselligkeit zu erheben.¹¹¹ Der ethisch potentiell problematischen Scheinhaftigkeit der Koketterie begegnet Scheffner mit der Polemik „daß die unfähigen sie in den Ruf der Unsittlichkeit brachten“ und brüstet sich mit ‚gesundem Männerverstand‘, der es sich wünschte, „daß alle Frauen und Mädchen so koquet werden möchten.“¹¹² Schleiermacher macht es sich in der Frage nicht ganz so leicht und beginnt mit einem Verweis auf Xenophons Memorabilien, in denen Sokrates eine Hetäre darüber unterrichtet, worin sie selbst offensichtlich bereits sehr erfolgreich ist: Männer zu fangen.¹¹³ Zielpunkt ist die Regel, das Angebot im Wert zu steigern, indem zunächst die Nachfrage durch eigene Zurückhaltung erhöht wird.¹¹⁴ Spricht aus Xenophons Sokrates der Ökonom, der noch dazu die Zuhälterei anpreist,¹¹⁵ so nimmt der Ethiker Schleiermacher in seinem Brief recht schnell Abschied von seinem Aufhänger und leitet im Rahmen der aufgeworfenen Frage nach dem Menschenfangen über zu der Unterscheidung „ob der ganze Mensch gefangen werden soll oder nur seine Sinn-
Eine Würdigung der Koketterie als nicht bloß äußerliche Tändelei, sondern Interaktionsform mit eigenen „Geltungsgründe[n]“ nimmt Michael Corsten vor in: ders. Körperinszenierungen, 176 – 180. Die von ihm gepriesene Souveränität im Umgang mit der Kraft und gleichsam gegebenen Verletzlichkeit eigener Reize, werden wir als Schleiermachers Grundkritik an der Koketterie herausarbeiten. Auch Georg Simmel hat bereits 1909 eine Würdigung der Koketterie vorgenommen (ders., Geschlechter, 187– 199). Nach ihm liegt die Liebe im Zugleich von Haben und Nicht-haben, womit auch die Kokette spielt. Dass jenes Spiel nun so erregend ist, liegt darin begründet, dass der Genuss des Erlangens von Begehrtem auf das Vorstadium dessen übergehen kann, d. h. bereits die in Andeutungen begründete Antizipation des Gewinnens birgt Genuss. Im vollendeten Spiel der Koketterie geht es sodann nicht mehr um das antizipierte Ziel, sondern das Reizen selbst wird zum Endzweck. Sie ist im Sinne von Kants Kunstdefinition „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ (ebd. 194). Genau hier, wo die Sinnlichkeit zum Selbstzweck erhoben ist, würde nun Schleiermachers ethische Kritik einsetzen. Brief 1368, 184– 186. Scheffner, Gedanken und Meynungen, Abschnitt 55, 198. Vgl. ÜdA, 88 f. Scheffner, Gedanken und Meynungen, Abschnitt 55, 200. Xenophon, Memorabilien, Buch 3, Kap. 11. Xenophon, Memorabilien, Buch 3, Kap. 11, Vers 13 f. Xenophon, Memorabilien, Buch 3, Kap. 11, Vers 9.
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lichkeit?“¹¹⁶ Nach dem, was wir oben bereits herausgearbeitet haben, ist klar, welcher Option er den Vorzug gibt: jener des ‚ganzen Menschen‘ als Sinnen- und Geistwesen. Ihr gegenüber verurteilt er die rein aufs Sinnliche gehende Koketterie, schon gar, wenn sich diese zur Erfolgsoptimierung auch noch des Verstandes und Geistes bedient – also (implizit) die von Xenophon präsentierte Variante.¹¹⁷ Das potentiell frivole Spiel der geschlechtlichen Anziehung wird auf das Telos der Ehestiftung verpflichtet und von dieser her ethisch gerechtfertigt.¹¹⁸ Wo nicht die dauerhafte Verbindung mit der Person, sondern nur die kurzweilige Lust gesucht wird, meldet Schleiermacher Bedenken an.¹¹⁹
Der ethische Wert unwillkürlicher Attraktionswirkungen Dass die Attraktivität und das Spiel mit ihr ihren festen Platz im sittlichen Leben hat, behauptet Schleiermacher im genannten Brief folgendermaßen: das „Bestreben Männer an sich zu ziehen liegt in der weiblichen Natur und gehört zu ihr […] nicht etwa als ein Fehler sondern ganz nothwendig und wesentlich.“¹²⁰ Die Geschlechterzuordnung ist hierbei nicht austauschbar. Liebe und Zuneigung sollen sehr wohl von beiden Partnern gleichermaßen ausgehen; so heißt es in den Lucindebriefen: „weil die Liebe die Gemeinschaft unseres Wesens ausmacht, muß sie in Jedem ihren Ursprung haben;“¹²¹ und an seine Braut schreibt Schleiermacher zu der These, dass die Frau den Mann mehr liebt, als dieser jene: „Das glaubt ihr Weiber am Ende immer, und ich
Brief 1368, 185. Gegenüber der rein sinnlichen gibt es auch eine rein geistige Koketterie. In ihr zeigt sich Schleiermacher selbst recht beschlagen, wenn er in einem Brief an seine Braut seinem eigenen Understatement die Stimme der Rezensenten entgegenstellt, die ihn als außerordentlich geistreich rühmen. Vgl. BB 321 f. Vgl. auch PhE 331 f: „§ 66. Kein geselliges Verhältniß zwischen unverehelichten Personen verschiedenen Geschlechts aus Einem solchen Gebiet kann ohne Tendenz auf Liebe sein, da beide im Suchen nach der Ehe müssen begriffen sein. § 67. Die Darstellung dieser Tendenz in dem Verhältniß, insofern es doch nur ein allgemeines bleibt, ist das Wesen dessen, was man Galanterie nennt […].“ Der gegebenen Tendenz entspricht die Umfänglichkeit der Gunsterweise. In einem Brief an die Schwester setzt Schleiermacher die „wirklichen Dienste[…]“ ab von „der kleinlichen Galanterie und den süßlichen Aufmerksamkeiten zu denen ich, wenn sie mir auch nicht sonst zuwider wären, immer zu unbeholfen sein werde.“ (Brief 587, 47). Brief 1368, 185. L 209 f. Vgl. auch L 198 f: „Friz, wenn Deine Liebe nur abgeleitet wäre aus der meinigen! […] Nein, diesen stolzen Gedanken kann Deine Geliebte nicht ertragen […]. Warum soll so einseitig eine Liebe abgeleitet sein von der andern? Jede ist Ursach und Wirkung der andern, so gewiß als jede Liebe zugleich Gegenliebe, und jede wahre Gegenliebe zugleich Liebe ist.“ Sachgemäß etwas kühler formuliert er es in seiner Ethikvorlesung von 1812/13: „§ 68. Die Sittlichkeit dieses Verhältnisses beruht auf dem Gleichgewicht beider Seiten des Geschlechtstriebes und auf der Gleichmäßigkeit der Annäherung von beiden Seiten.“ (PhE 332). Auch bereits in den Anmerkungen zur Nikomachischen Ethik findet sich dieses Programm: „[…] die Ehe. Hier ist der Grund zu lieben beinahe derselbe und die Ungleichheit entsteht hauptsächlich aus der verschiednen Summe der Rechte und Pflichten“ (AAnm 14).
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antworte Dir vorläufig nur, daß es nicht so ist, aber daß es sehr natürlich so scheint“.¹²² Zur Nachfrage, warum es ‚sehr natürlich so scheint‘, geben uns die Lucindebriefe wiederum Antwort. Schleiermacher strengt hier ein Abstraktionsverfahren an, mittels dessen er das ‚sinnliche Element‘, für welches das weibliche Geschlecht „die Quelle sei[…], und wir aus Euch schöpfen müssen“, aus der „Mischung des Ganzen“ der Liebe ausscheidet.¹²³ Da diese Operation allerdings allein in der Reflexion gründet und reinste Sinnlichkeit realiter nicht vorkommt, mag sich der Eindruck einstellen, die Liebe als Ganze verdanke sich der Frauen. Die These ‚Sinnlichkeit – eine Angelegenheit des Weibes‘ ist damit noch keineswegs begründet. Sachlich ist sie meines Erachtens auch kaum haltbar.¹²⁴ Schleiermachers Motive, sie zu vertreten, erscheinen gleichwohl interessant. Zum einen erblickte er in der weiblichen Anziehungskraft die einzige Möglichkeit für die Frauen seiner Zeit Liebes- und Freundschaftsbeziehungen anzubahnen, „weil Ihr auch diese, in Eurer dermaligen Lage nicht offen anbieten dürft.“¹²⁵ Die Natur habe ihnen hiermit quasi ein Instrument an die Hand gegeben, der gesellschaftlichen Benachteiligung zu begegnen. Zum anderen erlaubt diese Zuordnung ein differenziertes Arrangement von Aktivitäts- und v. a. Passivitätsmomenten auf der Konstitutionsebene von Liebesbeziehungen. Das Thema wird uns unten noch eingehender beschäftigen,¹²⁶ erhält hier jedoch bereits seine eigene Spezifik. Die Wahl eines passenden Partners für das gesamte Leben übersteigt gemeinhin den Ermessensspielraum einer Person, die mithin kaum für den einzugehenden Bund garantieren kann. Hier bedarf es der psychischen Entlastung,¹²⁷ die sich religiös in der
BB 151. L 210. Nach einer Studie von Hatkoff und Lasswell sind sogar die Männer das stärker auf das sinnlich spielerische und erotische Moment ausgerichtete Geschlecht, während Frauen in der Liebe eher Stabilisation und geistige Partnerschaft betonten. Vgl. Amelang, Einstellungen, 178.Vgl. auch mit Hinweis auf andere Studien Bierhoff/Grau, Bedeutung, 205 – 208. Gegen diesen Einwand lässt sich als solchen wiederum einwenden, dass das, was in einer Partnerschaft gesucht wird, eben dem Anderen als dessen Besitz unterstellt wird. Wie man es auch wendet, wird man im Ganzen doch sagen können, dass sich unter gesellschaftlichen Bedingungen, in denen Frauen autark leben können, das Spektrum der Bestimmungsfaktoren ihrer Partnerwahl erweitert. Die Attraktivität des Mannes muss sich nunmehr auch auf anderen Ebenen als der ökonomischen erweisen. Rüdiger Lautmann plädiert daher in: ders., Status, 147– 152. 154 für eine größere Beachtung der Bedeutung der körperlichen Attraktivität des Mannes. Die beobachtbare Ähnlichkeit des physischen Attraktivitätsniveaus innerhalb vieler Paare ist davon gewiss nicht unabhängig. Zu soziologischen Erklärungen dieses Befundes vgl. Mikula/Stroebe, Anziehung, 83 – 86. Brief 1368, 185. Vgl. II.3.2.1. Die Ehelosigkeit und sei sie aus der Vorsicht heraus gewählt, nicht den richtigen Partner zu finden, ist für Schleiermacher keine Option. Vgl. PhE 324: „§ 19. Es kann gar kein Resultat daraus hervorgehen durch anmaßende Aengstlichkeit, welcher nichts vollkommen genug ist, um sich zu entscheiden. Denn in der natürlichen Lage eines Menschen muß die Möglichkeit liegen seine sittliche Bestimmung darin zu erreichen.“
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Vorstellung ausdrückt, dass es „nach Gottes allgemeiner Ordnung und besonderem Rate“¹²⁸ geschieht. Der göttliche Fingerzeig liegt nun, so Schleiermacher, nicht zuerst in der prüfenden Erwägung des verstandesbegabten Menschen, die wir oben als freilich nicht unerheblich herausgearbeitet haben, sondern – in der Attraktivität der Frau,¹²⁹ oder in den Worten der Hausstandspredigten: in der „Kraft, welche von dem weiblichen Gemüth ausgeht und sich des männlichen bemächtiget.“¹³⁰ Außer der Beobachtung, dass die Attraktivität zu den entscheidenden Bestimmungsfaktoren gehört, überhaupt in einen näheren Austausch zu treten,¹³¹ ist damit zweierlei ausgedrückt. Zum einen trägt Schleiermacher dem Phänomen Rechnung, dass sich Verliebtheit nicht herstellen lässt und seien die Argumente für eine Verbindung – wobei sich nicht nur an Zweckerwägungen sondern auch an das objektive Urteil gegebener Schönheit und Interessantheit denken lässt – noch so gut.¹³² Liebe nach ihrer emotiven Seite birgt wie der Glaube einen Geschenkcharakter, der sie zumindest anteilig der rationalen Verfügungsgewalt entzieht und der Rezeptivität unterstellt. So gilt für Ehe- wie Religionstheorie gleichermaßen: mit einer Betonung des Gefühlsaspekts gewinnen auch Passivitätsmomente an Bedeutung.¹³³
H 241. Waltraud Posch vertritt im Anschluss an Rita Freedman die These, dass erst mit der französischen Revolution das Diktum vom schönen Geschlecht Einzug in das gemeine Denken gehalten habe (Posch, Körper, 18). Belege bei Kant und anderen Autoren der vorangehenden Zeit, die diese Zuordnung bereits machten, werden auch benannt, jedoch als intellektuelle Sondersphäre abgesetzt, was meines Erachtens wenig überzeugt. Zudem wird darauf aufmerksam gemacht, dass eine patriarchale Gesellschaft, in der die ökonomische und rechtliche Sicherheit der Frau vom Mann abhängt, dem weiblichem Geschlecht in weit höherem Maße die Anforderung der Attraktivität auflegt, weil sie ein Hauptgrund dafür ist, überhaupt als Gattin gewählt zu werden (Posch, Körper, 21). H 240. Elisabeth Hartlieb betont in ihrer Interpretation das feministische Potential dieser liebesmystischen Vorstellung. Vgl. dies., Geschlechterdifferenz, 217 f. Hans Bierhoff und Ina Grau führen die Ergebnisse verschiedener empirischer Studien zusammen, die belegen, dass sich die Einschätzung des Attraktivitätsgrades eines unbekannten gegengeschlechtlichen Gegenübers komplementär zum Aufwand, der in ein erstes Gespräch investiert wird, verhält, wobei tatsächlich die Attraktivität der Frauen einen größeren Einfluss auf die Gestalt der Interaktion hat als jene der Männer. Vgl. dies., Bedeutung, 220 – 223. Zudem gehen bei der Einschätzung einer fremden Person des anderen Geschlechts die Parameter Attraktivität, Schönheit, sexuelle Anziehung und Sympathie aufs engste zusammen, sodass sie – zumindest in der durchschnittlichen Beurteilung – als Wechselbegriffe fungieren. Vgl. Henss, Spieglein, 252– 256. So kam es zwischen ihm und der Witwe Herz, mit der ihn eine lebenslange tiefe Freundschaft verband, schließlich auch zu keiner Verbindung. Vgl. dazu die Paragraphen zum verbreitenden Handeln, die von der Geschlechtsgemeinschaft über eben jene Begriffe der Empfänglichkeit, der Passivität und der Gnade zur Kirche überleiten (ChS Beil 68 – 74, § 191– 203). Schön ist dieser Gedanke auch ausgedrückt bei Schubart, Religion, 96: „In Religion und Erotik, diesen Reichen der Gewaltlosigkeit, läßt sich nichts erzwingen. Niemand kann sich verlieben, wenn er will und in wen er will, und niemand kann Gott schauen, wenn Gott es nicht will. Wir können nur in einer hingegebenen Haltung auf Liebe oder Gegenliebe warten und uns für sie empfänglich machen.“
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Zum anderen ergibt sich mit der exklusiven Zuordnung der Attraktivität zur Frau eine Steigerung der Passivitätsfigur. In der Philosophischen Ethik nimmt Schleiermacher eine klare Trennung der „Geschlechtsfunction“ vor; so erblickt er „im Weiblichen Uebergewicht der Receptivität und im Männlichen der Spontaneität.“¹³⁴ Wenn nun der Erstimpuls zu einer Verbindung von dem ohnehin weniger spontaneitätsbegabten Geschlecht ausgeht, ist der Fügungscharakter herausgehoben. Interessanterweise wird nicht nur der Mann ermahnt, das göttliche Los nicht aus Kalkül oder Trieb zu übergehen: „wehe ihm, wenn er willkürlich wählt, sei es daß irgend eine verständige Berechnung ihn leite, oder daß er sich mit der Ungeduld der Leidenschaft über seinen Gegenstand hinwerfe.“¹³⁵ Auch die Frau soll sich ihrer eigenen Wirkung gegenüber passiv verhalten. Der selbstbewussten Frau, die ihre Reize einzusetzen weiß, wird das Ideal der Unbedarften entgegengesetzt, in welcher „diese Kraft […], unwissend was sie tat, ihn [sc. den Mann – CR] zuerst anzog und fesselte“.¹³⁶ Die bewusste Koketterie tritt gleichsam unter den Korruptionsverdacht des göttlichen Fatums.¹³⁷ Oder noch schärfer formuliert: Die Ergebung in die Wirkungen der Attraktivität wird sachlich zum Ort des Einstimmens in die göttliche Schöpfungsordnung. Die Weiblichkeit gewinnt eine geradezu mystische Kraft und gleichwohl kann hier kaum vom „Konzept einer starken Weiblichkeit und schwachen Männlichkeit“¹³⁸ gesprochen werden, weil diese Kraft den Händen der Frau ja z.T. gerade wieder entzogen
PhE 322. Er folgert: „Daher: Eigenthümliches Erkennen: Gefühl weiblich, Fantasie männlich; Aneignung weiblich, Invention männlich.“ Mit dieser Zuordnung steht Schleiermacher in seiner Zeit keineswegs allein da. Selbst Schiller, der Dramatiker der starken Frauenfiguren, äußert sich hierin ganz ähnlich: „Zur Anmuth muß sowohl der körperliche Bau, als der Charakter beytragen; jener durch seine Biegsamkeit, Eindrücke anzunehmen und ins Spiel gesetzt zu werden, dieser durch die sittliche Harmonie der Gefühle. In beydem war die Natur dem Weibe günstiger als dem Manne.“ (Ders., Nationalausgabe 20, 288, zit. nach: Foi, Spiel, 47). – Diese Zuordnung verdankt sich sicherlich nicht nur der gesellschaftlichen Zuordnung der Wirkungsbereiche der Geschlechter, sondern auch der schlicht unterschiedlichen ‚Aufgabenverteilung‘ im gemeinen Geschlechtsakt. H 241. Ein Sonderproblem sei hier nur am Rande diskutiert: die abgewiesene ‚Ungeduld der Leidenschaft‘ lässt sich schwerlich von der Sehnsucht abgrenzen, der Schleiermacher in den Lucindebriefen noch ihr Recht eingeräumt hatte. Vgl. L 199: „wenn Du […] alle Deine Sehnsucht nach dem schönen Leben […] aushauchst: dann fühlen wir auch beide am tiefsten, wie einig wir sind“. L 204: Zu den Lehrjahren der Männlichkeit: „Wie wunderschön und klar ist hier die Sehnsucht nach Liebe, die das Gemüth vernichten oder vollenden muß“. L 210: „Kennen wir doch beide den Zustand der Sehnsucht und des Liebenwollens, als das, was vor dem neuen Leben in uns war“. Dieser Wandel erklärt sich meines Erachtens am ehesten biographisch: sprach in den Lucindebriefen noch der Liebessuchende, so spricht sich in den Hausstandspredigten ein reiferer Mann aus, der bereits seine schmerzlichen Erfahrungen mit der Frau gemacht hat, zu der ihn nicht zuletzt die Sehnsucht nach Liebe überhaupt trieb. (S.o. I.4.2). H 241.Vgl. auch L 198, wo Eleonore an Friedrich schreibt: „Wie oft habe ich Dir aus dem innersten Herzen heraus gesagt, wenn Du irgend etwas an mir schön und gut findest, oder gar als etwas besonderes loben und bewundern wolltest, daß ich gar nichts könnte und wüßte als lieben“. BB 311 schreibt Schleiermacher: Die Frau kann sich, „wenn die Eitelkeit sie nicht besizt, reiner und mehr unbeflekt von der Welt erhalten […] als der Mann“. Virmond, Liebe, 55.
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wird. Zudem ist es der Mann, der als Spiegel der Kraftwirkung jene der Frau allererst anzeigt und weitere Schritte der Annäherung initiiert.¹³⁹
Dynamiken des Hingerissenwerdens Die Kategorien der Passivität und Rezeptivität muten statisch an. Sie bergen aber – und dazu, dies zu betonen, verleitet eine Reflexion auf die Attraktivität – das Potential größter Dynamik. In der von den bildenden Künsten geliebten Szene des Raubs der Proserpina nimmt sich schon Ovid – im Anschluss an Homer – des faszinierenden Themas des Raptus an: Pluto, selbst von der unbedarft spielenden Proserpina hingerissen, fährt herauf, um sie und ihre Unschuld hinwegzureißen.¹⁴⁰ Die bildliche Kraft dieser Geschichte liegt in der Vergewaltigung, ihre innere und eigentlich mystische Kraft hingegen birgt die nicht weniger gewaltige Wirkung, die das freimütig spielende Fräulein auf das Gemüt des Mannes macht.¹⁴¹ Die Lust an der Ohnmacht gegenüber einem überwältigenden Eindruck ist das, was Ästheten in Musik und großen Bildwerken, Mystiker in aufwendigen Exerzitien, Pentekostalen in einer Massengemütslage der Erwartung, Religionstheoretiker wie Kant und Otto in Begriffen des Erhabenen und Heiligen zu beschreiben suchen,¹⁴² und was Amor offensichtlich durch einen Augenaufschlag vermitteln kann. Hierin liegt gewiss eines der großen Heiligtümer der Liebe, auf das eine romantische Eheauffassung keinen Verzicht leisten wird, sei sie auf das Bekehrungserlebnis der ‚Liebe auf den ersten Blick‘ verpflichtet oder nicht.¹⁴³
Vgl. dazu ChS Beil 72, § 200 sowie ChS Beil 138: „§27 […] die Lust kann nur eine bestimmte Thätigkeit hervorbringen, wo die Empfänglichkeit ihr erschienen ist, diese aber nur erscheinen, wenn auf sie gewirkt worden ist.“ Das Problem unerwiderter Liebe ist mit diesem Konzept – zumindest auf der Ebene der ersten Anziehungswirkung – umgangen, weil es eben nur auf das Angezogensein des Mannes ankommt. „Frühling ist ewig im Hain. Als hier Proserpina weiland | Spielete, sanfte Violen und silberne Lilien brechend; | Als sie mit kindlicher Lust sich die Körb’ und den Schoß des Gewandes | Anfüllt’, und zu besiegen die Freundinnen eifert’ im Sammeln, | Wurde zugleich sie gesehn und geliebt und geraubet von Pluto. | Also durchstürmt ihn die Flamme! | Sie rief, die erschrockene Göttin, | Mutter und Freundinnen an, doch häufiger rief sie die Mutter, | Bang’; und indem das Gewand sie zerriß am obersten Rande, | Sanken aus gleitendem Rocke hinab die gesammelten Blumen: | Und, so lauter noch war die jugendlich heitere Unschuld!“ (Ovid, Metamorphosen, 5. Buch, nach der Voßschen Übersetzung von 1798. Quelle: http://www.textlog.de/35343.html (zuletzt aufgerufen am 14.11. 2019). Zum Originaltext und einer Urtext-näheren, aber weniger poetischen Übersetzung vgl. Gerhard Fink [Hg/ Übers.], Publius Ovidius Naso. Metamorphosen, 244– 247). In der griechischen Mythologie wird auch (in anderem Zusammenhang) die umgekehrte Geschichte erzählt. Nicht der Wechsel der Jahreszeiten, sondern die Wechselhaftigkeit und Zwiespältigkeit des als Daimonion vorgestellten Eros wird in jenem Mythos angezeigt: Penia raubt den Samen des Poros, indem sie ihn, als er bewusstlos ist, vergewaltigt, woraus ihr Sohn Eros entsteht (Sym 53 – 55). Vgl. Kant, KdU, § 23 – 29, B 74– 136. Otto, Das Heilige. In Sachen eigener Liebe war Schleiermacher die Identifikation seines Attraktionserlebnisses mit seiner Braut übrigens auch nicht unwichtig: „Eines Augenbliks erinnere ich mich besonders, wo Du
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Dass das Hingerissensein sodann wiederum Grund des Aktivwerdens ist, darf als Folgeschritt bei Schleiermacher nicht unterschlagen werden. In seiner nüchternen Fassung liegt allerdings eine entscheidende Differenz zum rasenden Pluto. Heißt es in den Reden, der Mensch „soll alles mit Religion thun, nichts aus Religion“¹⁴⁴, so gilt auch in Liebesdingen: Das sinnliche Wohlgefallen soll nicht fehlen, aber es soll niemals die Impulse geben; […] es sol an und für sich nichts sein als Receptivität, und darf erst dann Spontaneität werden, wenn es durch den Geist hindurchgegangen ist, und das ist eben die Keuschheit im sinnlichen Genusse dieser Art.¹⁴⁵
Damit haben wir den Bogen zurückgeschlagen zum Keuschheitsbegriff und können schließlich die Funktion wechselseitiger Anerkenntnis im Attraktionsspiel näher bestimmen, die nochmals in eigener Weise soziale Bedeutsamkeit und ethische Problematizität des Attraktionsspiels beleuchtet.
1.1.3 Chancen und Gefahren von Gunsterweisen In den oben bereits zitierten Memorabilien Xenophons stellt Sokrates seinen Schülern, nachdem sie alle ihre Augen an der Modell-stehenden Theodote gelabt haben, die Frage: „Nun, ihr Männer, sind wir der Theodote mehr Dank schuldig, weil sie uns ihre Schönheit zeigte, oder sie uns, weil wir sie betrachtet haben?“¹⁴⁶ Der Gewinn eines schönen Eindrucks wird in seiner Wertigkeit ebenso thematisiert wie das Erhalten von Anerkennung – und dies gewiss mit Recht. Welche Formen von Gunsterweisen aber sind ethisch wünschenswert und welche nicht? Lassen sich überhaupt trennscharfe Linien ziehen?
mich ganz im Gefühl Deines neuen Mutterglükkes an Dich zogst und ich voll der innigsten Zärtlichkeit Dich dazu segnete im Geiste. […] Mir war, als ob Du und Dein Kind und euer Glük meine ganze Welt wäre.“ (BB 385) Vgl. zur hohen Bedeutung der „Plötzlichkeit des Auftretens“ für das Konzept der ‚romantischen Liebe‘:Maiwald/Schreiber, Grundlagen, 30 f. Dagegen die Angaben bei Lenz, Zweierbeziehung, 243 f. R 219. ChS 611. In seiner Hallenser Antrittsvorlesung hat Dirk Evers im Anschluss an Ingolf Dalferths Lutherrekonstruktion der „Aktivität des Menschen […] als Vollzugsweise seiner basalen Passivität“ (Dalferth, Umsonst, 75) die These aufgestellt: „Das Hingerissenwerden durch Gott und seinen Geist ermöglicht es, dass wir uns weltlich so hinreißen lassen können, dass wir uns der Welt nicht hingeben und dadurch unsere Freiheit verlieren, sondern Freiheitsräume dadurch gerade gewinnen.“ (2010 gehalten, noch nicht veröffentlicht). Diese Beschreibung des religiösen Raptus nimmt sich sachlich geradezu als die symbolische Verschränkung dessen aus, was wir in den Dynamiken des Erotischen und des Religiösen bei Schleiermacher als Analogien aufgezeigt haben. Xenophon, Memorabilien, Buch 3, Kap. 11, Vers 2.
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Ehrlichkeit im geheimnisvollen Spiel Nach dem bisher Herausgearbeiteten lässt sich auf die zuletzt gestellte Frage Folgendes antworten: das Zollen von Anerkennung gehört zu den entscheidenden Momenten in der Konstitution einer Beziehung und ist von dieser her trotz manch bleibender ethischer Untiefen gerechtfertigt. Voraussetzung dafür ist Ehrlichkeit, denn sollen über die erste Stufe des Attraktionsspiels weitere bis hin zur Lebenspartnerschaft genommen werden, so ist vorausgesetzt, dass der Andere trotz allem Glanz des Neuen schon am Anfang in seiner Begrenztheit erkennbar wird. Daher sollten sich die Poussierenden weder auf Podeste heben, von denen der Fall tödlich für die Beziehung wäre, noch gern auf ein solches Podest gestellt sehen. So warnt Schleiermacher im Bilderverbot seines Katechismus: Du sollst dir kein Ideal machen, weder eines Engels im Himmel, noch eines Helden aus einem Gedicht oder Roman, noch eines selbstgeträumten oder fantasirten; sondern du sollst einen Mann lieben, wie er ist. Denn sie die Natur, deine Herrin, ist eine strenge Gottheit, welche die Schwärmerei der Mädchen heimsucht an den Frauen bis ins dritte und vierte Zeitalter ihrer Gefühle.¹⁴⁷
Auf zwei Stufen nimmt dieses Gebot eine Abgrenzung vor. Zum einen soll der schwärmende Blick die junge Frau nicht über den wirklichen Charakter eines potentiellen Bräutigams trügen¹⁴⁸ und zum anderen soll die Schwärmerei zu einem anderen Ideal von Mann nicht die bestehende – weil wahrscheinlich deutlich realistischer erreichbare – Beziehung belasten.¹⁴⁹ Aber auch die eigene Eitelkeit¹⁵⁰ soll nicht
K 2. Eine Spielart dieses möglichen Selbstbetrugs thematisiert Schleiermacher biographisch in seinen Brautbriefen. In der Verlobungszeit war das junge Paar getrennt. Um seiner Jette dennoch vor Augen zu stehen, ließ Ernst sich porträtieren und schickte ihr das Bild, welches sie in seiner Bedeutung für ihr hoffnungsfrohes Herz sehr lobte. Geschmeichelt schreibt der Bräutigam: „Du treibst offenbar ein wenig Abgötterei damit, meine holde Braut; aber soll mich denn das nicht freuen? ich lasse es mir so gern gefallen, daß das Auge der Liebe mir schmeichelt […].“ (BB 285). Er gibt aber zu bedenken: „[…] ernsthaft, mache Dir nicht nach dem Bilde ein Bild von mir, das Du hernach nicht wiederfindest.“ (BB 285). Weitere Reflexionen zur Bilderverehrung der Liebenden finden sich BB 271. 297; und BB 319 f kommt Schleiermacher auf die bleibende Bedeutung einer solchen Momentaufnahme für den „Familiensinn“ zu sprechen. Der erste Aspekt wird von Paul Kluckhohn gar nicht bedacht, zum zweiten verweist er auf die Liebesromane, die schon in Schleiermachers Zeit reißenden Absatz fanden (ders., Liebe, 433). Auf die nach Schleiermachers Lucindebriefen ethische Verwerflichkeit von Schmonzetten, die aus ihrer Simplifizierung des Liebesideals erwächst, haben wir oben bereits hingewiesen (L 186). Zum Phänomen der Eitelkeit vgl. G V, 126., 314 f: „[…] Stolz ist die alle Handlungen begleitende und ihre Art und Weise bestimmende Überzeugung von des Subjekts Ueberlegenheit über Andere. Eitelkeit ist das Bestreben diese Ueberlegenheit sich und Andern deutlich zu machen. Sie gehören also wohl unter ganz verschiedene Klassen. Der Stolz ist eine Stimmung, die Eitelkeit eine Leidenschaft.“ Weil Schleiermacher das weibliche Geschlecht als das pathischere konstruiert (s.u. II.2.1), verwundert es nicht, wenn er auch die Eitelkeit eher diesem Geschlecht anweist.Vgl. G I, 12., 9: „Die Weiber sind oft so eitel, daß die Eitelkeit selbst ihnen nicht eitel genug ist.“ In Fortsetzung dessen heißt es in G II, 22., 112:
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betrügen: „Du sollst nicht geliebt seyn wollen, wo du nicht liebst.“¹⁵¹ heißt es im 8. Gebot des Katechismus. Die Achtung des Gefühls des Anderen gebietet, sich nicht an dessen Verehrung zu erbauen und jene zu befeuern, ohne selbst ernste Absichten zu hegen. In Korrelation zum 8. Gebot des biblischen Dekalogs reformuliert Jürgen Frank: „Das bewußte Bestreben, geliebt zu werden aus einem anderen Motiv als die eigene Liebe, und der Vorsatz einer einseitig nur empfangenden Liebe, ist Diebstahl.“¹⁵²
Reizspiel und Ehe in wechselseitiger Herausforderung Es mag sich das Bild einstellen, dass Schleiermacher dem Spiel der Gunsterweise allein die (potentielle) Ehe anweist, nach der Devise seiner Brautbriefe: „Was aber das eitel und stolz sein betrifft, ohnerachtet ich gar nicht ohne Eitelkeit bin, so schlage ich Dir vor, wir wollen es dabei lassen, daß einer auf den andern stolz ist.“¹⁵³ Schleiermachers sexualethische Hauptstoßrichtung mag sich hierin wiederspiegeln; dem komplexen Phänomen des Reizspiels wird diese schlichte und sozial begrenzte Formel jedoch nicht gerecht und bedarf daher noch einiger Zusatzbestimmungen. Über die Dauerhaftigkeit eines Reizes stumpfen die Sinne ab – so wird man das gleichmäßige Ticken einer Uhr bald gar nicht mehr hören (und wo eines Aufmerksamkeit darauf gezwungen wird, wird man es wahrscheinlich sogar als störend empfinden). So verhält es sich auch in Sachen der Attraktivität. Ganz ungeniert schreibt Schleiermacher an seine Braut in positiver Wendung dieses Sachverhalts: […] da kommt ganz unerwartet eine recht interessante Frau […], die ich lange nicht gesehn und sehr vernachläßigt hatte. Das Unerwartete erhöht immer den Reiz, weißt Du; ich also voller Freuden an sie heran, und so auch sie, ohne Ruhm zu melden, nicht minder an mich.¹⁵⁴
Das Neue, ‚Unerwartete‘ stimuliert die Rezeption und weckt Interesse. Es hat eine belebende und befreiende Kraft. „Die erste Freude der Liebe weiß von gar keiner Sorge“¹⁵⁵ heißt es in einer Beilage der Lucindebriefe. In den Brautbriefen dagegen schreibt Schleiermacher: „die Sorge habe ich ja doch um Dich und Deine Kinder, sonst hätte ich ja die Liebe auch nicht“.¹⁵⁶ Die romantische Liebe will sich den Reiz der
„Die Weiber hören oft aus Eitelkeit auf eitel zu sein, weil die Eitelkeit ihnen nicht eitel genug ist.“ Selbst wo er sich etwas vermittelnder ausdrückt, überwiegt die Eitelkeit auf Seiten der Frauen. So lässt er die Eleonore seiner Lucindebriefe schreiben: „Jeder hat doch seine eigne Eitelkeit. Wir Frauen mögen gar zu gern Alles, was uns liebenswürdig vorkommt, an uns selbst für persönliche Eigenheit halten; die Männer nehmen gern das, was sie trotz aller Selbstzufriedenheit an sich belächeln müssen, für Charakter des Geschlechts.“ (L 202). K 8. Frank, Selbstentfaltung, 216. BB 220. BB 302. L 205. BB 136.
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jungen Liebe erhalten. Bewahrung des Neuen allerdings ist ein Widerspruch in sich, ebenso wie bleibende Sorglosigkeit in einer sorgsamen Liebe. Was jenes Liebesideal zu integrieren sucht, erweist sich rasch als dessen größte Zersetzungsgefahr. Dieser Stachel wird sich nicht ziehen lassen und dennoch gibt Schleiermacher einige Hinweise, wie eine Koordination gelingen kann. Der gesetzteste findet sich in den Hausstandspredigten, wo es heißt: Denn auch an der geliebtesten Seele können wir Freude und Lust auf die Länge nur haben, wenn wir sie in ihrer natürlichen Tätigkeit erblicken, und, hat die Zeit die ersten Blüten abgestreift, die Früchte des Lebens darunter reifen sehen!¹⁵⁷
Die das Neue suchende Liebe braucht hier einen langen Atem. Der umherwandernde Blick des Jägers weicht einer ruhigeren Beobachtung, die den Geliebten nicht mehr sucht, sondern gefunden hat und nun dem Neuen in dessen Entwicklung nachgeht, sich davon affizieren lässt und an jenen ‚Früchten‘ labt.¹⁵⁸ Flotter, aber tendenziell frivol kommt Schleiermachers Empfehlung eines psychosozialen Selbstbetrugs daher.¹⁵⁹ In einem Brief schildert er seiner Braut, dass er deren Bedeutung herunterspielte, als sich eine andere Frau nach seinem Verhältnis zu ihr erkundigte und fragt: „Was sagst Du nun dazu, Dich so fast zu verleugnen und ganz in Schatten zu stellen? ist das aber nicht das beste Mittel sich auch, wenn man verheirathet ist, noch interessant zu erhalten?“¹⁶⁰ Das Spiel, den anderen nicht in seiner Habe zu wähnen, ihn auf Distanz zu halten, um ihm immer wieder neu zu nahen, mag erfrischend sein.¹⁶¹ Es steht jedoch in Kontradiktion zur erstgenannten Variante einer fortschreitenden Vertiefung der Beziehung. H 237. Mit der Umstellung von der Aufregung des Anfangs auf die Gleichmäßigkeit des Fortgangs einer Beziehung haben sich alle – besonders die sexualitätsbezogenen – Beziehungsratgeber auseinanderzusetzen. Sachlich ganz in den Bahnen des von Schleiermacher Offerierten bewegt sich auch der Paar- und Sexualtherapeut Ulrich Clement. Zur positiven Würdigung der Wandlungen, die sich mit der Reife einer Beziehung ergeben vgl. ders., Sex, 257– 259. Das Schleiermacher generell ‚kein Kind von Traurigkeit‘ war, gibt er in mehreren Bemerkungen zu erkennen: „Gaß, seine Frau und Nanny […] schelten mich recht tüchtig aus, […] daß ich allen hübschen Mädchen etwas zu sehr die Cour machte“ (BB 226). Doch nicht nur seine Freunde sondern auch entfernter Bekannte gewannen diesen Eindruck. Süffisant entgegnet Schleiermacher der Kritik eines Rügener Arztes, von der ihm seine Braut berichtet: „Wo hat mich denn aber der Leibmedicus gesehn allen Frauen zu Füßen liegen? In Bergen besinne ich mich besonders nicht dergleichen gethan zu haben, denn ich habe in seinem Hause nichts reizendes gefunden. Schade daß er so ein hölzerner Peter ist, sonst könnte man doch noch Spaß mit ihm darüber machen.“ (BB 378). Selbst gibt Schleiermacher dennoch durchaus eine „Art von Frivolität“ zu (BB 303). BB 302. Zur Platzanweisung der „Delikatesse“ in der Ehe vgl. Jettes Anfrage BB 257 und Schleiermachers Antwort BB 291 f. Vgl. hierzu auch Ulrich Clement, der in seinen sexualtherapeutischen Empfehlungen von einem Nachspielen der ersten sexuellen Begegnung über erotische Liebesdienste bis zu Rollenspielen des gekauften Sex, des Fremdgehens und des Blinddates im Internet-Chatroom geht (ders., Sex, 174– 182). Weiter zum Begriff der Delikatesse vgl. G III, 44., 129: „die Behandlung der Stimmung als
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Auf einen Mittelweg gibt es bei Schleiermacher hingegen auch Hinweise. Dieser besteht in einer Externalisierung des neu interessierten Blicks auf den Partner. Das eigene Vertrautsein wird erfrischt durch die Beobachtung der Aufwartungen anderer. Schleiermacher schreibt seiner Braut: „Du glaubst nicht, wie ich mich freuen würde, wenn sich recht viele Leute in Dich verliebten und ich dann immer hörte, wie sie sich dabei geberden und auslassen.“¹⁶² Dass diese ‚Freude‘ Grenzen hat, erfuhr Schleiermacher spätestens, als seine Frau die ‚Geberden‘ Alexanders von der Marwitz erwiderte.¹⁶³ ‚Wenn jemand […] sündigt gegen ein einziges Gebot, der ist am ganzen Gesetz schuldig‘ ist eine durchaus nicht unumstrittene These des Jakobusbriefes.¹⁶⁴ Im Blick auf die Zehn Gebote aus Schleiermachers Katechismus aber entfaltet sie eine eigene Evidenz. Wird das oben bereits zitierte Gebot „Du sollst nicht geliebt seyn wollen, wo du nicht liebst.“¹⁶⁵ aufgeweicht – und sei es auch zur Freude und eigenen Liebeserbauung des Partners –, da ist der Weg zur Überschreitung des ersten Gebots „Du sollst keinen Geliebten haben neben ihm: aber du sollst Freundin seyn können, ohne in das Kolorit der Liebe zu spielen und zu kokettiren oder anzubeten.“¹⁶⁶ nicht weit. So wohltuend und erfrischend es auch sein mag, die eigene Wirkung und jene des Partners von anderen gespiegelt zu bekommen; es bleibt ein Spiel mit dem Feuer, wo bewusst darauf ausgegangen wird. Rasch schlägt die Belebung der bestehenden Beziehung um in den Eindruck, dass sie selbst das größte Lebenshemmnis darstellt. Wo der Reiz des Neuen nicht rückgebunden wird auf andere Aspekte der Liebe, sondern zentralgesetzt und zum eigentlichen Motor erhoben wird, da muss sich der Eindruck einstellen, „daß das eheliche Leben selbst die unmittelbare Quelle der U[n]zufriedenheit ist“¹⁶⁷ und dem Menschen in seiner natürlich sozialen Konstitution eigentlich
eines Gegebnen mit Verstand [nennt man – CR] delicateße“ Vgl. dazu auch Luhmann, Liebe, 174 f: „[…] das Mitwirken von Intelligenz in der Liebe und die entsprechende Verfeinerung, die man in Frankreich als délicatesse rühmt […].“ Bei Schlegel wird die ‚Delikatesse‘ wird als egozentrisch und in ihrem sozialen Interesse absolut von der Mode abhängig dargestellt (ders., Lucinde, 18). BB 356. Gegenwärtig finden sich Beziehungsformen, die durch eine Öffnung genau diese Belebung und Bereicherung zu erlangen suchen. Eindrücklich erscheint mir hierzu das Zitat eines Mannes, der in einer solchen Form lebt; Schleiermachers Entdeckerfreude am Partner wird hierbei natürlich massiv entgrenzt und konfligiert darin mit anderen zentralen Aspekten seines Liebesideals: „Also es gibt sicher viele Männer, die meine Frau in Bereichen ansprechen, wo ich sie nicht anspreche. Gar keine Frage. Er bringt ihr z. B. Blumen mit, was ich nie mache, und noch x andere Bereiche. Das finde ich toll, wenn er an ihr Saiten zum Klingen bringt, die ich – einfach weil ich Mensch bin und beschränkt bin – halt nicht erreiche. Ich finde das schön. Also ich habe das Gefühl, ich potenziere mich, ich bin nicht nur ein Mann, sondern alle Männer der Welt. Ich habe das Gefühl, ich liebe sie in der Solidarität aller Männer. Also es ist überhaupt keine Konkurrenz zu dem anderen Mann da, sondern der hilft mir, diese Frau noch umfassender zu lieben, wie ich es alleine nicht kann.“ (Referiert bei Früchtel/Stahl, Zwei plus X, 266). Zur entsprechenden Ehekrise s.o. I.2.2. Jak 2,10. K 8. K 1. H 248.
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nicht angemessen. Das romantische Ideal der Liebe wird zugunsten der Promiskuität überschritten.
1.2 Sexualität und Erotik Ebenso wie die unwillkürliche Wirkung der Attraktion konstitutiv für die Anbahnung einer romantischen Paarbeziehung im Sinne Schleiermachers ist, ist es die Sexualität für ihren Aufbau. In einem ersten Unterkapitel (1.) wollen wir die Schlüsselposition, die Schleiermacher ihr in seiner Ehetheorie anweist, näher beschreiben. In einem zweiten Schritt (2.) gehen wir seiner ethischen Wichtung möglicher Gestalten der Sexualpraxis nach – hier wird sich z.T. ein deutlicher Graben zum gegenwärtigen Diskurs auftun. Im dritten Teil (3.) stellen wir schließlich die Frage nach dem Eigenwert des Erotischen für den Menschen. Dessen Beschreibung kann in Bezug auf Schleiermachers Denken in nicht weniger als einer Koordination mit der Religion liegen.
1.2.1 Die Begründungsfunktion des Koitus für die Ehetheorie Sexualität und in besonderer Weise – wie noch darzulegen sein wird – der Koitus nehmen eine bedeutsame Stelle im Rahmen des Geschlechter- und Generationenverhältnisses ein. Die These ist so selbstverständlich, dass sie kaum einer genaueren Erhellung bedürftig erscheint, ist uns doch sowohl aus der Historie die institutionelle und soziale Bedeutsamkeit des Ehevollzugs bekannt,¹⁶⁸ als auch aus der Gegenwart die gängige Meinung, dass Sexualität integraler Bestandteil von (gelingender) Partnerschaft ist.¹⁶⁹ So unbestritten nun aber auch das ‚dass‘ unserer Eingangsthese sein mag, so different stellen sich doch ihre Begründungsmuster dar. Sollen die wichtigsten davon in ein konsistentes Verhältnis gebracht werden, wird der Sachverhalt kompliziert. Die Schleiermacherinterpretation stößt uns ganz unmittelbar auf jenes Problem.Wir finden bei ihm etwa sowohl eine bewusstseinstheoretische als auch eine biologische Argumentation, deren Spannung sich kaum mit dem werkgenetischen Hinweis auf den jungen Frühromantiker und den alten Staats- und Kirchenlehrer auflösen lässt, weil sie nämlich – wie etwa im Brouillon – auch nebeneinander auftauchen können. So heißt es dort: „Der Act der Geschlechtsvereinigung ist eine absolute Verschmelzung des Bewußtseins, in welchem die Differenz aufgehoben wird und die entgegengesezten Factoren sich saturiren.“¹⁷⁰ Und kurz darauf: „An den Actus
Paradigmatisch angeführt sei Luthers Traktat Vom ehelichen Leben, 169 f. 183 f. Auf den Zusammenhang von Sexualität und Ehezufriedenheit weist hin: Hill/Kopp, Familiensoziologie, 191. Die negative Konsequenz jenes Zusammenhangs, der sich ausdrückt in der relativen Proportionalität von sexueller Befriedigung in der Beziehung und der Bereitschaft zur Treue betont Nave-Herz, Familiensoziologie, 150 – 152. PhE 132.
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der Geschlechtsvereinigung ist zugleich die Fortpflanzung der Gattung geknüpft. […] Also wie Liebe = Ehe, so Ehe = Familie.“¹⁷¹ So widersprüchlich die Beschreibung der Sexualität als Ort subjektiver Erfüllung in wechselseitiger Kommunikation auf der einen Seite und als Handlung im Dienste der Fortpflanzung auf der anderen Seite auch zunächst erscheinen mag, stellt Schleiermacher sie doch als die zwei Seiten derselben Medaille vor. Bindungsvoraussetzung beider Aspekte ist sein Theorem von der bloß quantitativen Differenz zwischen Natur und Geist.¹⁷²
Sexualität als ‚Verschmelzung des Bewusstseins‘ Blicken wir zunächst auf die geistigere Seite, ausgedrückt in der ‚Verschmelzung des Bewusstseins‘, führt dies sogleich ein ganzes Bündel von Spezialproblemen mit sich, nämlich das fragliche Zusammenstimmen von Individualität und individualitätsindifferentem Gattungstrieb bzw. individualitätstranszendierender Verschmelzung; damit verbunden das Problem des Überführens von augenblicklicher Ekstase in eine dauerhafte Bindung sowie die Frage nach dem Verhältnis von Liebe und Freundschaft. Ausgangspunkt für Schleiermachers Erwägungen ist – ganz ‚unromantisch‘ – nicht etwa ein Streben des Subjekts nach dem ihm entsprechenden Individuum, sondern der Geschlechtstrieb in seiner plumpen biologischen Form der unpersönlichen Begattung: „In dem Actus selbst ist nur einer dem Anderen Repräsentant des Geschlechts.“¹⁷³ Jene denkbar größte Unbestimmtheit, die ihre Grenze nur in der Geschlechterdifferenz hat – irgendein Mann verkehrt mit irgendeiner Frau¹⁷⁴ – soll nun aber gerade zum wechselseitigen Erkenntnisgrund der Individualität werden.¹⁷⁵ Damit dies gelingt, bedarf es einer Zwischenstufe, die in diesem Fall nur der höchste Inhalt der Spekulation sein kann: das ‚Universum‘. Stellt der (notwendig dual verstandene) Geschlechtscharakter die ‚absolute Einseitigkeit‘ dar, so erwächst aus der Verschmelzung mit seinem Gegenüber folglich absolute Einheit,¹⁷⁶ die sodann ihre
PhE 133. S.o. I.4.2. PhE 133. Vgl. PhE 132: „Dieser Act wird herbeigeführt durch die Anerkennung und Anziehung des Entgegengesezten, aber als eines Unbekannten […].“ Zum folgenden Gedankengang vgl. PhE 131– 133. Die hier vorgestellte Rekonstruktion bedient sich der Elemente und ihrer Beziehungen aus der entsprechenden Darlegung bei Schleiermacher, ordnet eines anderen Leitinteresses wegen ihre Argumentationsschrittfolge allerdings um. In der KdS fordert Schleiermacher, „daß die Verschiedenheit der Geschlechter ‚vor der Ehe recht scharf ausgebildet werden müßte, damit die Ehe selbst das Geschäft der Vereinigung auch recht vollkommen vollbringen könne‘.“ (Zit. n. Kluckhohn, Liebe, 453). Walter Schubart lehrt, „der Eros ist ein auf die Geschlechterspannung zusammengezogenes religiöses Erlebnis.“ (Schubart, Religion, 89). Eingehender zu den religiösen Implikationen jenes Gedankens s.u. II.1.2.3.
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Repräsentation wiederum nur in der Individualität finden kann.¹⁷⁷ Paradoxerweise ermöglicht es Schleiermacher gerade seine Generalisierung der Geschlechtlichkeit, sie auf das romantische Ideal der Exklusivität zu verpflichten, denn „hat durch diesen Actus das Bewußtsein des Einen für immer einen Begründungspunkt im Andern“¹⁷⁸ und wird in einer sehr formalisierten Perspektive „der Eine ganz eigentlich Princip des Andern“,¹⁷⁹ so ist eine Austauschbarkeit der Geschlechtspartner ethisch ausgeschlossen: „Die Unverlezlichkeit hat ihren Grund darin, daß die Idee [des anderen Geschlechts überhaupt – CR] in diesem Einen ganz erschöpft ist.“¹⁸⁰ Eine solche ontologisierende Spekulation hat den Vorteil, glatt aufzugehen. Dieser ist allerdings durch eine erhebliche Blutleere erkauft, die dem Thema Eros so gar nicht angemessen erscheinen will. Daher wenden wir den Blick noch einmal zurück auf die bewusstseinstheoretische Fassung des Gedankens. Gegenüber einer – nicht nur Kantischen – solipsistischen Vorstellung von dem Gebrauch des Anderen zum eigenen Lustgewinn, behauptet Schleiermacher: „Das Ethische des Actes ist Zusammenfließen zur Identität des Selbstbewußtseins“.¹⁸¹ Eine Konkretion erhält das momentane Einswerden des Bewusstseins im Brouillon, wo Schleiermacher gewiss nicht zufällig die Zentralbegriffe aus den Reden einführt, um die ehekonstitutive Kraft des
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts avancierte die sexuelle Orientierung zu einem der meistbeachteten Identitätsmarker. Aus der Warte von Schleiermachers Sexualtheorie muss diese Entwicklung abwegig erscheinen, weil die Sexualität bei ihm ihre Wucht gerade aus dem Spannungsverhältnis einer schlichten Dualität gewinnt. Vgl. dazu auch PhE 322, § 10 f. Nicht die sexuelle Ausrichtung selbst ist ihm identitätskonstitutiv, sondern allein das aus dem Verkehr erwachsende exklusive Paarverhältnis. PhE 133. PhE 133. PhE 133. Im Phaidros fasst Platon dies ins Bild der wechselseitigen, exklusiven Verpfändung: „Als Freunde also werden auch diese […] leben, überzeugt, daß sie die größten Pfänder einander gegeben und angenommen haben, und daß es frevelhaft wäre, sie jemals wieder ungültig zu machen und in Feindschaft zu geraten.“ (Pha 49 f). Den Einspruch liefert er mit der eros-pessimistischen Rede des Lysias allerdings zugleich mit: „Auch pflegen ja unter den Verliebten viele weit eher nach dem körperlichen Genuß zu verlangen, ehe sie die Gemütsart kennengelernt und die übrigen Eigenheiten erkundet haben, so daß ungewiß ist, ob die auch dann noch Freunde sein wollen, wenn ihr Verlangen gestillt ist“ (Pha 17). Auch 200 Jahre nach Schleiermacher steht sexuelle Treue in Partnerschaftskonstruktionen noch hoch in Kurs. In einer repräsentativen Jugendumfrage von 1991– 1994 gaben 80,1– 88,7 % der Männer und 94,1– 94,6 % der Frauen an, die Beziehungsform einer festen Partnerschaft mit sexueller Treue zu bevorzugen (Bardeleben u. a., Abschied, 110). Auch in einem Ranking der Eigenschaften, die ein ‚Traumpartner‘ mitbringen sollte, lag die Treue bei beiden Geschlechtern auf Platz 1 (ebd., 117 f). Die Abhängigkeit von Liebespartnerschaft und sexueller Exklusivität besteht allerdings nur in dieser einen Richtung so massiv, denn immerhin 48 % der Männer und 19 % der Frauen können sich vorstellen, mit einer Person Sex zu haben, die sie nicht lieben (ebd., 114). Hier zeigt die Orientierung mithin einen deutlichen Bruch zum Schleiermachersch-romantischen Ideal. PhE 650. Ist an der zitierten Stelle auch mit der ‚Identität des Selbstbewusstseins‘ ein Kind gemeint, so verweist letzterer Begriff aus religionspsychologischer Perspektive doch in eine andere Richtung. Diese Interpretationslinie wird durch andere Stellen, denen wir uns in diesem Kapitel zuwenden, bestätigt.
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Koitus zu beschreiben: „Des Mannes Gefühl in der Frau gegründet, die Anschauung der Frau im Manne gewurzelt.“¹⁸² In seiner die Schlegelsche Figur des sexuellen Rollentauschs¹⁸³ überinterpretierenden Würdigung bebildert Schleiermacher diesen Vorgang eigentümlich und spitzt die Sexualität auf den Aspekt der Empathie zu: „in den höchsten Momenten der Liebe ist das Vertauschen des Bewußtseins, das gänzliche Hineinversetzen in den Andern das Höchste und Nothwendigste.“¹⁸⁴ Das bedeutet, die höhere Einheit des Bewusstseins wird konkret in der Sozialität partnerschaftlicher Interaktion, nicht etwa dadurch, dass der Partner dem Subjekt zur Erkundung seiner eigenen Lustquellen verhilft, sondern dadurch, dass er dessen Selbstbezüglichkeit durchbricht, indem er sich ihm zur umfänglichen Identifikation anbietet.¹⁸⁵ Etwas geerdeter drückt Schleiermacher das Interesse am anderen um dessentwillen aus in einer lakonischen Kritik an Fichte, der den Geschlechtstrieb exklusiv dem Mann zuordnet, während der Frau allein die aufopfernde Liebe angemessen sei:¹⁸⁶
PhE 133 [Hervorhebung – CR]. Mit jener Zuordnung stellt Schleiermacher die Paarbeziehung nicht nur in die Nähe der Religion, sondern er nimmt auch eine geschlechtsspezifische Binnendifferenzierung vor, die noch in eine andere Richtung verweist. In ChS Beil 4, §6 nennt Schleiermacher „Zwei Formen des Erkennens, Anschauung und Gefühl.“ Aus der Erläuterung erhellt, dass bei der Anschauung das Objekt hervortrete, beim Gefühl hingegen das Subjekt. Auf obiges Zitat bezogen bedeutet dies, dass der Mann als das objektivere, vergeistigtere Geschlecht vorgestellt wird.Will die Frau zu jener Erkenntnisform Zugang gewinnen, muss sie sich an ihm orientieren, in ihm ‚wurzeln‘. Die Frau hingegen ist das ganzheitlichere, selbstidentischere Geschlecht. Will der Mann die ihm angestammte Sphäre der Zergliederung und rationalen Distanzierung überwinden, so muss er sich in der Frau ‚gründen‘ (detaillierter zur Theoriesphäre der Geschlechterdifferenz s.u. II.2). Vermittelt werden jene wechselseitigen Zueignungen hier nun durch den Koitus, wo zusammenfindet, was ohnehin zusammengehört.Vgl. ChS Beil 4, §9: „Jede Anschauung begleitet ein Gefühl, welches darauf bezogen und als gleichzeitig gesezt wird, und so auch jedes Gefühl eine Anschauung.“ Der alttestamentliche Euphemismus des ‚Erkennens‘ für den Sexualakt – eigens ausgedrückt in den sexuellen Konnotationen des Mythos vom ‚Sündenfall‘ (Verführung durch die phallische Schlange, Kosten der Frucht vom verbotenen Baum, Erkenntnis von Nacktheit) – gewinnt aus dieser Perspektive eine ganz eigene, nämlich eine tatsächlich dezidiert epistemologische Bedeutung. Zu entsprechenden Deutungsansätzen dessen bei Schleiermacher vgl. Kluckhohn, Liebe, 427 f. Vgl. Schlegel, Lucinde, 12. L 201. Treffend ausgedrückt bei Schubart, Religion, 226: „Unter Menschen darf der Geschlechtsakt kein bloßes Mittel zum Zwecke […] sein, sondern muß als Vorgang von symbolischer Bedeutung gelten, und die Lust der Umarmung sei dem der Tierheit entwachsenen […] Seligkeit der Selbstvollendung durch Entselbstung.“ „Im unverdorbenen Weibe äußert sich kein Geschlechtstrieb, und wohnt kein Geschlechtstrieb, sondern nur Liebe; und diese Liebe ist der Naturtrieb des Weibes, einen Mann zu befriedigen. Es ist allerdings ein Trieb, der dringend seine Befriedigung heischt; aber diese seine Befriedigung ist nicht die sinnliche Befriedigung des Weibes, sondern die des Mannes; für das Weib ist es nur Befriedigung des Herzens. Ihr Bedürfnis ist nur das, zu lieben und geliebt zu sein.“ (Fichte, Grundriß des Familienrechts. Erster und zweiter Abschnitt. In: Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1776), 1. Abschnitt, § 4, 305, zit. nach Bennent, Galanterie, 117 f). Vgl. auch Viëtor, Liebe, 18 – 21.
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Nach Fichte bin ich eine ganz weibliche Seele und völlig vergriffen; denn der Geschlechtstrieb erscheint bei mir größtentheils nur als Trieb das Weib zu befriedigen.¹⁸⁷
Wir sehen bereits an diesem Punkt, dass für Schleiermacher nicht der Geschlechtsakt an sich die Ehe konstituiert, sondern er als Kulminationspunkt wechselseitiger Empathie.¹⁸⁸ Austauschbar wird er deswegen allerdings nicht, kann ihn Schleiermacher doch auch ganz im Sinne des Ehevollzugs verstehen: „Da mit dem Act der Geschlechtsvermischung die Ehe gesezt ist wegen der Anerkennung der Vollständigkeit der gegenseitigen Wahlanziehung […].“¹⁸⁹ Dies mag zwar juridisch klingen, aber es erweist Schleiermacher doch als sehr sensibel für die hohe Bedeutsamkeit leiblicher Vollzüge in Bezug auf das Erfahren und Erweisen von Anerkennung. Josef Pieper diagnostiziert ganz in diesem Sinne treffend, der Mensch wolle nicht bloß von einem anderen wertindifferent und selbstlos geliebt sein, sondern gebraucht und begehrt werden.¹⁹⁰ Die ehrliche und beglückende Bejahung des anderen, wie der Eros sie auszusagen
G IV, 11., 135. Vgl. auch PhE 650, wo Schleiermacher ‚Ehe‘ definiert als „das an die Geschlechtsvermischung als momentane Identität des Bewußtseins angeknüpfte Zusammenleben“. Damit trifft ihn die Kritik Helmut Schelskys nicht, der zu bedenken gibt, „Die Ehe [sei] keine primär sexuelle Institution“. Die Sexualität zum Fundament der Ehe zu erklären, sei ein Missverständnis der spätbürgerlichen europäischen Gesellschaft, in der die Ehe hinsichtlich ihrer ökonomischen und sozialen Funktionen an Bedeutung eingebüßt habe und in Intimisierung und Erotisierung jenen Bedeutungsverlust kompensierte. „Der sexuelle Trieb genügt sicher nicht, mehr als die gelegentliche Vereinigung der Geschlechter zu sichern; er kann daher nicht, wie es vielfach geschehen ist, als der familien- und ehebildende Faktor par excellence angesehen werden, vor allem, weil er das Moment der Dauerhaftigkeit der sozialen Bindung, die das Wesen der Ehe ausmacht, nicht erklärt.“ (Schelsky, Soziologie, 27). Ähnlich äußert sich Leonie Ungern-Sternberg, Ehe, 230: „Leidenschaft ist ihrem Wesen nach von kurzer Dauer; sie kann sich auch nicht wandeln, sie ist oder ist nicht. Aber in ihrem Schatten kann das ‚Wir‘ der ehelichen Gemeinschaft eher entstehen als in Vernunftehen, in denen man sich von Anfang an nüchtern gegenübersteht. Und dieses ‚Wir‘ ist die Voraussetzung jeder Ehe, die eine persönliche Beziehung bleiben will.“ Ganz im Sinne Schleiermachers scheint mir auch Niklas Luhmann die verbindende Kraft der Sexualität zu bewerten. Nach einem Argumentationsgang, den wir hier unterschlagen können heißt es bei ihm: „Deshalb kann in einem Maße, das sonst kaum erreichbar ist, unterstellt werden, daß das eigene Erleben auch das des Partners ist. | Dies liegt nicht zuletzt an der Reflexivität des wechselseitigen Begehrens. Im körperlichen Zusammenspiel erfährt man, daß man über das eigene Begehren und dessen Erfüllung auch das Begehren des anderen begehrt und damit auch erfährt, daß der andere sich begehrt wünscht. Das schließt es aus, ‚Selbstlosigkeit‘ zur Grundlage und Form eigenen Handelns zu machen; vielmehr wird die Stärke des eigenen Wunsches zum Maß dessen, was man zu geben in der Lage ist. Mit all dem durchbricht die Sexualität den Schematismus von Egoismus/Altruismus ebenso wie die Hierarchisierung menschlicher Beziehungen nach dem Schema Sinnlichkeit/ Vernunft.“ (Luhmann, Liebe, 33). PhE 325. Pieper, Liebe, 103.
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vermag, ist von daher nicht zu überbieten.¹⁹¹ So schreibt Schleiermacher auch an seine Braut: […] diese Art zu küssen, und wenn Du dann noch eines andern Beweises brauchst um zu fühlen, daß ich ganz Dein eigen bin, dann mußt Du mir selbst Anleitung geben, wie ich Dir beikommen soll.¹⁹²
Für das Verhältnis von Geselligkeit, Liebe und Freundschaft zieht Schleiermacher aus den genannten Koordinationen folgende Schlüsse: „‚Freundschaft geht auf gegenseitige Ergänzung und Unterstützung der Individualität […]. Liebe geht auf vollkommene Anschauung auf gänzliche Vereinigung des Bewußtseins […].“¹⁹³ Eingangstor zu beidem ist die Geselligkeit, weil sie der soziale Ort ist, an dem die Individualität und die Verschiedenheit der Geschlechter zur Darstellung und wechselseitigen Bewusstwerdung gelangen.¹⁹⁴ Während Freundschaft ohne sinnliche Liebe möglich und natürlich auch wünschenswert ist, kann es für Schleiermacher keine wahre sinnliche Liebe ohne Freundschaft geben.¹⁹⁵ Wohl kann sie, wie wir sahen, dem Bewusstsein für die Persönlichkeit des Anderen vorausgehen; sie muss aber doch Freundschaft nach sich ziehen, weil sie die Partner in unvergleichlicher Erlebnistiefe füreinander erschlossen hat.¹⁹⁶ Jede soziale Beziehung hat eine geistige Dimension. Wo diese geleugnet wird, liegt per definitionem der Sachverhalt der Unsittlichkeit vor – dies ist der Negativbefund zur Sache. Viel interessanter aber ist Schleiermachers positive Wendung: geistige Beziehungen sind wertvoll, aber sie umgreifen eben kaum den ganzen Menschen in seiner leib-seelischen Einheit. Wo dies nun geschieht – im Ehevollzug¹⁹⁷ –, da ist eine neue Ebene des wechselseitigen Einverständnisses gegeben; in den Worten Schleiermachers: „Die Freundschaft folgt auf die Liebe, weil erst nach der Pieper, Liebe, 109. BB 330. Vgl. auch BB 357: „Ja, die Zeit kommt bald, wo ich es Dir besser mit Küssen versiegele, als mit Worten sage, wie ganz ich Dein bin.“ BB 144: „wie lieb ich Dich habe – nun das läßt sich mit allen Worten, deren ich Meister bin, nicht sagen, aber ich sagte es Dir gern mit allen Liebkosungen und allen Blikken“. Brief 1317, 92.Vgl. dazu auch G V, 131., 315 f: „Die Liebe will durch Anschauen aus jeder Person zwei Individuen machen. Die Freundschaft will durch Mittheilen jedem Individuum zwei Personen geben. | Die Liebe bedarf zur völligen Anschauung der Individualität die Verschmelzung der Personen.“ PhE 132. Vgl. dazu auch Nowak, Schleiermacher und die Frühromantik, 281 f. Vgl. G V, 51., 295: „Die Liebe geht darauf aus Zweien eins zu machen, die Freundschaft darauf aus Jedem Zweie zu machen. | Freundschaft ist Ergänzung es sei nun zum Selbstbilden oder zum Werkbilden. Liebe ist Anschauung und vermittels derselben Hervorbringung eines beiden gemeinschaftlichen ähnlichen Bildes. […] Ehe ist die Prätension beides zu vereinigen.“ Mit dieser Unterscheidung ist Weizsäckers Interpretation widersprochen, der behauptet: „Es ist eigenartig, daß, soweit die rein geistige Seite des Verhältnisses in Frage kommt, Schleiermacher kaum einen begrifflichen Unterschied zwischen Freundschaft und Liebe feststellt, wenn er auch da, wo er beide unmittelbar gegenüberstellt, für die Liebe vollere Farben wählt.“ (Weizsäcker, Eheproblem, 12). Ich greife hier bewusst auf jenen altertümlichen Begriff zurück, weil er in präziser Weise die Sexualität in der positiven Gegebenheit ihrer vieldimensionalen ethischen Einbettung ausdrückt.
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organischen Verschmelzung die Individualität unmittelbar im Gefühl kann gegeben sein.“¹⁹⁸ Damit ist nicht geleugnet, dass es auch gelebte Sexualität gibt, die anderen Idealen folgt und der entsprechend weniger Gewicht beigemessen wird.¹⁹⁹ Wo aber mit einer Schleiermachers Würdigung entsprechenden Sensibilität darangegangen wird, können anderweitige Banalisierungen das Bewusstsein um die Bedeutsamkeit des Vollzogenen nicht trüben.²⁰⁰ Auf die Länge der Beziehung gesehen handelt es sich beim Sexualakt (hoffentlich) nicht bloß um einen Initiationsritus, sondern aus dem schöpferischen Ursprungsgeschehen erwächst eine Gemeinschaft, die erhalten werden will. Schleiermacher geht davon aus, dass der Geschlechtstrieb zeitlebens gegeben ist und mithin nicht bloß an die jungen Jahre der Fruchtbarkeit gebunden.²⁰¹ Der Sexualvollzug gewährt fort-
PhE 132. Ganz in diesem Sinne schreibt er auch an seine Braut: „wenn Du mir nun auf einmal sagen wolltest, Du wollest nur meine Frau heißen, süße Jette, ich mich schwer mehr würde darin finden können. Nein, Du bist und mußt ganz mein sein; wie mir nichts in Dir verborgen bleiben soll, und ein solches gänzliches Enthüllen des innern Wesens nur in der Ehe ist, so muß auch auf jede Weise unser Leben zusammenschmelzen in Eines und jedes dem andern ganz angehören. Ich darf Dir auch sagen, daß mich danach verlangt“ (BB 177). Gut zwei Monate früher hatte sich Schleiermacher hierzu noch vorsichtiger geäußert: „Und als ich Dich bat, Du solltest nur meine Frau heißen wollen, wenn Du da dies ausdrüklich und bestimmt aufgefaßt hättest und gesagt, sein im vollen Sinne des Wortes könntest Du es nicht: so würde ich doch eben so froh und sicher eingeschlagen haben und gewußt, daß ich alles Gute und Schöne gefunden hätte, was mir werden könnte. Ich würde mir freilich den Wunsch vorbehalten haben, daß eine Zeit kommen möchte, wo Du es auch sein wolltest; aber der wäre ja eben nur der volle Ausdruk davon gewesen, daß ich lebendig und mit voller Klarheit fühlte und wußte, wie ich nur an Dich, an Dich allein gewiesen bin.“ (BB 111). Auf Grundlage seiner Resonanztheorie kommt Hartmut Rosa zu einem ganz ähnlichen Urteil wie Schleiermacher. Die ihrer sozialen Bedeutsamkeit entkleidete Sexualität, kann keinen tieferen Sinn generieren, weil sie „keinen Einfluss auf die übrigen (psychischen) Dimensionen der Weltbeziehung hat, sie berührt nicht die Art uns Weise, wie sich die Subjekte in die Welt gestellt fühlen, es sei denn negativ, weil ihnen die Welt bzw. der oder die Andere trotz intensiver körperlicher Reibung und ‚Entzündung‘ fremd, stumm und äußerlich geblieben sind.“ (Rosa, Resonanz, 138 f). Vgl. Brief 1317, 92: „‚[…] Diejenigen welche in der Liebe bloß diese Verschmelzung wollen sind praktische Materialisten, die von der Individualität nichts wissen. Von der rechten Liebe aber ist die Freundschaft ein natürliches Resultat, daher strebt auch jede rechte Liebe nach Ehe, welche im geistigen Sinn die Vereinigung zwischen Liebe und Freundschaft ist. […]‘“ Vgl. auch PhE 53: „Beide Stufen [natürliche Liebe (Trieb) und höhere eheliche Liebe – CR] erhalten sich in ihrer Sittlichkeit nur durch gegenseitige Anerkennung. Das Rechtsgefühl u.s.w., welches die freie Liebe nicht anerkennt, muß negativ werden und sich auf die Persönlichkeit zurückziehn. Die freie Liebe, welche die abgeleitete, durch die sie allein als producirend fixirt wird, nicht anerkennen will, muß Willkühr werden; also ebenfalls Egoismus.“ Vgl. PhE 325, § 29: „Da bei dem Menschen der Geschlechtstrieb nicht periodisch ist, so ist auch der Natur hierin ein so freier Spielraum gesteckt, daß man die Unfruchtbarkeit immer nur als etwas Temporäres ansehen kann.“ Der erste Teil von Schleiermachers Einschätzung wird von der gegenwärtigen Forschung durchaus bestätigt: Hill/Kopp, Familiensoziologie, 191 f. postulieren zwar, die Koitusfrequenz nähme mit dem Alter nachweislich deutlich ab. Nicht ganz so drastisch sind die Zahlen hingegen von Starke, Liebe, 103 – 105, der nur eine leichtere Abnahme zum Alter hin konstatiert, die allerdings oft weniger dem Alter der Personen als vielmehr der Dauer der Beziehung geschuldet sei.
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während eine wechselseitige Vergewisserung und Nähe und wird zu einem bedeutsamen Stabilisierungsfaktor.²⁰² Helmut Schelsky betont, dass nicht der Sexualakt und seine geistigen Integrale selbst, sondern vielmehr seine mögliche Folge, die Fortpflanzung, der einschlägige Stabilisierungsfaktor einer Paarbeziehung sei, weil mit der Fortpflanzung das Gebot der Aufrichtung eines Fürsorgeverhältnisses verbunden ist, in das auch der Vater und somit die Elternbeziehung, ihre ökonomischen Verhältnisse und weiterreichenden sozialen Verhältnisse einbezogen werden. Erst von hier aus rückblickend werde die Bedeutsamkeit des Koitus für die Ehestiftung verständlich.²⁰³ In ihrer Pointiertheit, aber eben auch durchaus zu kritisierenden Einseitigkeit verweist uns diese These auf die andere Seite der Medaille von Schleiermachers Sexualtheorie.²⁰⁴ Bei ihm ist es nicht primär die kühle Analyse der Interdependenzen verschiedener Sozialdimensionen, sondern seine eigentümliche Verschränkung von Geist- bzw. Sozial- und Naturphilosophie, die ihm einen entsprechend spekulativen Überschlag erlaubt.
Vera Bamler referiert eine Studie, die gar nachweist, dass die 56- bis 65-Jährigen sexuell aktiver sind als die 18- bis 25-Jährigen (dies., SzenenWechsel, 256). Seinen Grund hat dies wahrscheinlich, darin, dass unter den Jüngeren viele Singles sind, die entgegen der oft gefühlten Wahrheit weniger Sexualkontakte haben als Personen, die in festen Beziehungen leben. Zugleich macht Bamler darauf aufmerksam, dass Koitusfrequenz und sexuelles Interesse nicht gleichgesetzt werden dürften. So bleibe letzteres meist recht stark erhalten, wenngleich auch erstere im Alter nachlasse (ebd., 256 f). Der Mythos, Sexualität sei eine Angelegenheit der Jugend, nicht des Alters, hält sich gleichwohl noch immer hartnäckig. Vgl. zu dieser Einschätzung auch Clement, Sex, 249 – 251. Zur stabilisierenden Funktion von Ritualen bei der partnerschaftlichen Sexualität vgl. Clement, Sex, 130 f. Ausführlicher zum partnerschaftlichen Aspekt der wechselseitigen Stabilisierung s.u. II.3.1.4. Das Neue in Schlegels und Schleiermachers Verbindung von Sinnlichkeit, Freundschaft und Institution in ihrem Eheverständnis richtete sich nicht allein gegen die seinerzeit gängige Trennung von körperlicher Sinnlichkeit in der Ehe und geistiger Freundschaft außerhalb ihrer, sondern auch gegen das Ehekonzept der römischen Antike, welches das frühe Christentum übernahm und welches ebenfalls bis in die Schleiermacherzeit seine Geltung behauptete. So wandten sich Musonius Rufus, Plutarch, Seneca und später Clemens von Alexandrien dagegen, die Ehefrau wie eine Geliebte zu behandeln. Vielmehr galt es ihnen, in relativer Zurückhaltung ihre Würde zu wahren und durch ein ausschweifendes Sexualleben nicht die gesunde Fortpflanzung zu gefährden, die doch der auch ökonomisch und politisch valente Zweck der Ehe heißen sollte. Mit der gleichzeitigen Forderung nach der Beschränkung sexueller Handlungen auf das Ehebett stand diese Forderung gleichwohl in Spannung. Vgl. dazu Foucault, Sexualität 3, 229 – 234. Dass die Integration von Emotionalität und erfüllter Sexualität in das Eheleben gleichwohl keine Erfindung der Romantik ist, sondern auch im Mittelalter statthatte weist Rüdiger Schnell nach. War manches Ehetraktat auch recht lustfeindlich, so spricht doch allein deren Existenz für gegenläufige Verhältnisse. Positiv führt er zudem Dichtungen und medizinische Abhandlungen an, die den hohen Wert einer für Mann und Frau befriedigenden ehelichen Sexualität preisen. Vgl. Schnell, Sexualität, bes. 227– 265. 388 – 410. 421– 446. Schelsky, Soziologie, 27– 29. Gemäß seiner Grundausrichtung an der relativen Differenz kann auch Schleiermacher das eine Extrem beschreiben, das sachlich auf die Seite von Schelskys Einschätzung verweist: „Solange sich die Individualität noch nicht herausgebildet hat, sieht jeder in dem Einzelnen nur den Repräsentanten des Geschlechtes, fühlt sich also an die Person weniger gebunden, wird aber an sie gebunden durch den gemeinschaftlichen Besiz der Kinder.“ (PhE 323).
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Sexualität als natural-schöpferisches Einigungsgeschehen Zwei Dimensionen der Naturalität können wir nochmals vergegenwärtigen: zum einen fungiert für Schleiermacher die Natur gegenüber dem durch die allgemeine Vernunft bestimmten Geist als Individuationsprinzip; zum anderen denkt er die Natürlichkeit im Sinne der Gattungsbestimmtheit als Einigungsband mittlerer Reichweite. An die zweite Bestimmung knüpft Schleiermacher im Brouillon an.²⁰⁵ Wenn sich ein Paar vereinigt, so ist das nicht nur ein sich den Affekten der Liebe verdankendes, kontingentes Ereignis, sondern es ist auch als Handeln in Entsprechung zu ihrem Menschsein als Gattungswesen zu interpretieren.²⁰⁶ Besteht eine Gattung nun aber nicht nur in einer Binnenindifferenz, sondern auch in der sie erhaltenden Reproduktion, so muss auch das Einheitshandeln eines Paares mit jener verbunden sein. Schleiermacher vermittelt hier also Liebe und Fortpflanzung über den Begriff der Gattung.²⁰⁷ Das Zwischenglied der Gattungsbestimmtheit unterschlagend, um stärker auf die geistige Seite des Begründungsverhältnisses von Paarliebe und Intergenerativität abzustellen, fasst Schleiermacher es im Brief, aus dem oben bereits zitiert wurde: Liebe geht auf vollkommene Anschauung auf gänzliche Vereinigung des Bewußtseins, auf Hervorbringung eines lebendigen Bildes, daher auch die Erzeugung mit der Liebe verbunden ist.²⁰⁸
Voraussetzung für die Möglichkeit einer wechselseitigen Begründung von Elementen der Natur- und Geistseite ist deren höhere Einheit. Ihr religiöses Symbol findet diese im Begriff der ‚göttlichen Ordnung‘. An die lange theologisch-ethische Tradition einer Aufrufung jener Bestimmung zur Vereindeutigung und normativen Restriktion einer dem christlichen Humanum angemessenen Sexualpraxis knüpft auch Schleiermacher an, wenn er sie im Rahmen seiner sexualethischen Erwägungen in der Christlichen Sittenlehre einführt.²⁰⁹ Obwohl er versucht, die sozialen und emotiven Aspekte des Geschlechtslebens mit einer Naturteleologie zu verbinden, verfällt Schleiermacher jedoch nicht in eine Identifikation beider Seiten, die im Sinne des Begriffs vom ‚Fortpflanzungstrieb‘ einen abstrakten Gesamtzweck auf die Ebene subjektiver Handlungsleitung setzt.²¹⁰ In seinem Katechismus der Vernunft für edle Frauen for Es folgt eine Rekonstruktion des bereits teilweise zitierten Abschnitts: „Denn in diesem Actus ist zugleich die Differenz aufgehoben. Die Gattung aber existirt in der Indifferenz; sie existirt aber zugleich nur in der Reproduction; also ist die Aufhebung der Differenz zugleich die Reproduction. Also wie Liebe = Ehe, so Ehe = Familie.“ (PhE 133). Vgl. auch ChS 349 Fn: „Die Geschlechtsgemeinschaft ist das Leben der Gattung im Individuum“. Und ChS 338: „Die Geschlechtsgemeinschaft ist aber eine Natursache“. Etwas gröber, aber mit derselben Stoßrichtung fasst es Elisabeth Hartlieb: „In diesem Gedanken [der ‚Geschlechtsgemeinschaft‘ als ‚Identität von Geschlechtsvermischung und Erzeugung‘ – CR] verbindet Schleiermacher Sexualität, Fortpflanzung und Intersubjektivität auf das engste und kann so eine ethische Theorie der Ehe ableiten.“ (Hartlieb, Geschlechterdifferenz, 171). Brief 1317, 92. Vgl. auch G V, 51., 295. Vgl. den entsprechenden Abschnitt aus der Vorlesung von 1826/27: ChS 349 Fn. Vgl. ChS 341 Fn: „Wir haben drei Punkte unterschieden, 1) die Befriedigung des Geschlechtstriebes; 2) die Erzeugung; 3) die Erziehung.“ Diese Unterscheidung hebt Schleiermacher auch dann
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muliert er die entsprechende Unterscheidung sogar als Gebot: „Du sollst nicht absichtlich lebendig machen.“²¹¹ Wie aber passt dies mit der folgenden Aussage aus der Christlichen Sitte zusammen?: Aber die Befriedigung des Geschlechtstriebes ohne Beziehung auf Erzeugung und Erziehung und Hauswesen kann es [sc. das Christentum – CR] nicht denken, weil in dem vom Geiste Gottes durchdrungenen Menschen kein Impuls dazu gedacht werden kann, den Naturtrieb anders in Thätigkeit zu sezen, als in Beziehung auf die göttliche Ordnung.²¹²
Diesen Befund können wir wieder einmal nicht mit einem Hinweis auf die verschiedenen biographischen und kontextuellen Orte der Zitate auflösen, weil Schleiermacher kurz darauf in der selben Vorlesung, aus der wir zitierten, die These aufstellt, dass eine Ehe nicht aufgrund von Kinderlosigkeit geschieden werden dürfe.²¹³ Das bedeutet aber, dass auch der Kirchenlehrer von 1826/27 noch andere konstitutive Zwecke der christlichen Ehe kannte, als die Fortpflanzung.²¹⁴ Eine Lösung für die angezeigten Spannungen lässt sich meines Erachtens im Gedanken der Einstimmung finden. Im Katechismus geht es Schleiermacher um die Einstimmung in das Mysterium der Liebe. Eine daran orientierte Ehe kann ihren Anfang nicht darin nehmen, dass sich eine Frau aus Berechnung schwängern lässt, um dadurch den Mann an sich zu bin-
nicht auf, wenn er in seiner Psychologievorlesung behauptet, dass „die Funktion des Geschlechtstriebes nichts anderes ist als das Erhaltenwollen der Gattung“ (Psy 47), weil es hier um das Telos eines abstrakten Triebes und nicht um die subjektive Motivation jener Triebkraft geht. Die Kritik Lujo Brentanos trifft Schleiermacher mithin nicht, wenn dieser schreibt: „Es gibt aber keinen Fortpflanzungstrieb. Nicht um die Art zu erhalten, erzeugen Menschen Nachkommen. Dieses Motiv findet sich höchstens bei Dynasten- und Adelsgeschlechtern und auch da nur in seltenen Fällen (…). Die enorme Mehrzahl der Menschen erzeugt Kinder nicht um eines abstrakten Zieles willen, wie dies die Erhaltung der Gattung wäre; zwei höchst konkrete Bedürfnisse sind es, was zur Zunahme der Bevölkerung führt, das Geschlechtsbedürfnis und die Kinderliebe.“ (Zit. n. Hill/Kopp, Familiensoziologie, 160). Ebenso bestreitet auch Walter Schubart, dass es beim Menschen, besonders beim Mann, einen Fortpflanzungstrieb gebe. „Der Wunsch nach Kindern kann den Beischlaf begleiten, aber dadurch verwandelt sich der Geschlechtsinstinkt nicht in Fortpflanzungsdrang.“ Vielmehr lasse sich in der Natur eine umgekehrte Proportionalität von Geschlechtslust und Fertilität beobachten. „Je unfruchtbarer eine Tierart, um so lustvoller die Begattung.“ (Schubart, Religion, 225). Die Geschlechtlichkeit hat mithin einen Eigenwert, der über das Telos der Fortpflanzung hinausgeht. K 6. Zu dieser Interpretation vgl. Kluckhohn, Liebe, 433 f. ChS 344 Fn. Vgl. dazu auch ChS 610 f. Vgl. ChS 345 Fn: „Aber wie nun, wenn eine Ehe unfruchtbar ist? Auch dann nicht. […] Denn die christlich geschlossene Ehe ist als Element der Kirche, des Staats und des freien geselligen Verkehrs eine solche Einheit und gegenseitige Ergänzung der Eigenthümlichkeit zweier Personen verschiedenen Geschlechts für das gesammte darstellende und wirksame Handeln, daß sie nicht gelöst werden kann, wenn auch einer ihrer Zwekke nicht erreicht wird.“ Schleiermachers Grundtendenz entspricht hier dem Preußischen Landrecht: „‚Der Hauptzweck der Ehe ist die Erzeugung und Erziehung der Kinder‘ (§ 1). ‚Auch zur wechselseitigen Unterstützung allein kann eine gültige Ehe geschlossen werden‘ (§ 2).‘“ (Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten (1794), Teil II. Titel I. Zit. n. Alder, Landrecht, 208).
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den. In der Christlichen Sitte fordert Schleiermacher die Einstimmung in die göttliche Ordnung. Diese ist freilich keine formalisierte Züchtungstabelle, sondern integriert alle Aspekte der Interpersonalität. Das Besondere der ehelichen Gemeinschaft ist nun aber, dass sie die Potenz der Generativität einschließt. Einstimmen in die göttliche Ordnung bedeutet mithin, dafür offen zu sein.²¹⁵ Kein Kalkül, weder positiv noch negativ in Bezug auf Nachwuchs, soll die sich auf alle Lebensbereiche ausbreitende Kraft ehelicher Liebe einschränken oder trüben.²¹⁶ Im Sinne jener Passivität, die Schleiermacher mit Blick auf die Segnungen einer Paarbeziehung fordert, ist es auch zu verstehen, wenn er die Unfruchtbarkeit als „göttliche Schikkung“²¹⁷ klassifiziert, wodurch er sie als Grund für ein Aktivwerden, das das Auflösen der Ehe bedeuten würde, ausschließt. Die Selbstbestimmtheit des (Christen‐)Menschen ist damit freilich nicht ausgeschlossen. Vielmehr identifiziert Schleiermacher die Zeit der Geschlechtsreife mit der Zeit der Selbständigkeit.²¹⁸ Das verwundert auch nicht; sahen wir doch, dass er das Geschlechtsleben auf die Ehe und Hausgründung – als Inbegriff bürgerlicher Selbständigkeit – bezogen wissen wollte. Hier sei noch einmal an das oben bereits Genannte erinnert:²¹⁹ im frühen 19. Jahrhundert waren Kontrazeptiva weder verbreitet noch so effektiv, wie in der Gegenwart. Schon allein von diesem Faktum her erklärt sich, warum mit der Frage nach der Sexualität nicht nur programmatisch, sondern realitistischerweise auch pragmatisch zugleich jene nach Ehe, Familie und Hausstand thematisch wurde.
Wandlungen in der Moderne Wir haben gesehen, dass Schleiermacher die Sexualität zu den Grundbausteinen des ehelichen Lebens zählt. Diese Einschätzung wird in der Gegenwart weithin geteilt. Es hat sich allerdings eine deutliche Verschiebung ergeben. Begründete für ihn der Sexualakt die Ehe, kann mithin als Siegel einer zuvor im Rahmen der gesellschaftlichen Konventionen angebahnten Paarbeziehung gelten, so markiert er heute nicht selten den Anfang einer Partnerschaft und geht dem möglicherweise sich daraus ergebenden ehelichen Leben weit voraus. Karl Lenz beschreibt diese Verschiebung in fünf Schritten:
Vgl. auch ChS Beil 68, §192: „Die menschliche Geschlechtslust ist das Bewußtsein der reproductiven Kraft der sinnlichen Natur als rezeptiv für das höhere Leben. | Sie muß nothwendig eine sittliche Seite haben […].“ [Hervorhebung – CR.] Vgl. auch den Nachsatz der bereits zitierten Stelle PhE 650: „Das Ethische des Actes ist Zusammenfließen zur Identität des Selbstbewußtseins, aber das Resultat ist immer unwillkührlich.“ [Hervorhebung – CR.] ChS 345 Fn. Vgl. ChS Beil 68, §191: „[…] mit der Entwikkelung des Geschlechtstriebes, welche doch der erste innere Anfang der Gemeinschaft ist, fängt erst alles selbständige verbreitende Handeln an, so wie es nach Erlöschung desselben allmählig aufhört.Vorher abhängige Kindheit, nachher abhängiges Alter.“ S.o. I.2.1.
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1. Der Aufschub der ersten sexuellen Interaktion bis nach der Heirat. 2. Die sexuelle Interaktion wird an eine hohe Verbindlichkeit und an einen festen Kontinuitätsglauben an die Paarbeziehung gebunden. 3. Zur ersten sexuellen Interaktion kommt es, nachdem die Beziehung eine gewisse Zeit bestanden hat. 4. Die erste sexuelle Interaktion findet zugleich mit der Paarkonstitution statt. 5. Der sexuelle Austausch ist einer möglichen Paarbildung vorgelagert, sie kann aus einer ersten sexuellen Interaktion und ihrer Fortsetzung resultieren.²²⁰
Während zum Beginn des 19. Jahrhunderts noch die ersten beiden Orientierungsmuster in Geltung standen, ist der gegenwärtige Usus an jenen aus Punkt 3 bis 5 ausgerichtet.²²¹ Der Konnex von Ehe bzw. fester Partnerschaft und Sexualität ist von einem eineindeutigen zu einem eindeutigen geworden; d. h. hat die Sexualität auch ihre Verpflichtung auf eine rechtlich verbindliche Beziehung verloren, so ist sie doch bleibend ein bedeutsamer Grundbaustein von Paarbeziehungen. Dass sie die Persönlichkeit des Partners in inkommensurabler Weise erschließt, wie Schleiermacher meinte, wird noch immer so empfunden; auch dass sie zu einem Zeitpunkt vollzogen wird, wo man den anderen noch gar nicht recht kennt, sondern nur als attraktiven ‚Repräsentant seines Geschlechts‘ betrachtet; nur dass jener Schritt des Kennenlernens mit einer Hausstandsgründung einhergeht, erscheint eben kaum mehr als notwendig.
1.2.2 Formen der Sexualität Aus dem zuvor Dargestellten erhellt, dass Schleiermacher v. a. den Koitus als Form der Sexualität kennt, hebt dieser sie doch in die hohe Sphäre der Ideale von der vielschichtigen Einswerdung eines Paares und der Weitergabe des Lebens. Eine affirmative Bezugnahme auf die profanere Vorstellung von Erotik als Erzeugung von Lustgefühlen ist bei ihm kaum auszumachen. Gleichwohl erscheinen die Sortierungen, die er hinsichtlich anderer Formen und Orientierungen des sexuellen Lebens vornimmt, für die gegenwärtige breite Debatte zum Thema nicht uninteressant.²²²
Lenz, Paare 140. In einer Umfrage von Kurt Starke gaben 25 % der Befragten an, bei ihnen ginge der Sexualverkehr ihrer Beziehung voraus bzw. markierte den Anfang derselben. Man schläft miteinander und schaut dann, ob mehr daraus wird. Die erlebte Qualität des Koitus erscheint mithin geradezu als ein Indikator dafür, ob der Fortgang einer Beziehungsanbahnung überhaupt lohnt. In den meisten Fällen ist es jedoch so, dass sich Sexualität erst im Rahmen des Beziehungsaufbaus einstellt (Starke, Liebe, 102 f). Zur weiten Verbreitung der Einstellung, dass Liebe Voraussetzung für Geschlechtsverkehr sei vgl. Amelang, Einstellungen, 212. Wenngleich es meines Erachtens der theologischen Ethik gut steht, insbesondere auf dem differenzierteren Felde der Sexualität Zurückhaltung zu üben, d. h. entsprechende Praktiken und Orientierungen mit Stimmenthaltung zu bedenken, anstatt sie pauschal zu verurteilen oder als ‚Vielfalt der Schöpfung‘ zu begrüßen, kommt sie nicht umhin, ihre grundlegenden Kriterien auch an sie anzulegen. Dabei ergibt sich sodann nicht nur eine Sortierung, sondern auch eine Normierung des
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Die Entscheidungshaftigkeit der sexuellen Orientierung Zunächst sei ein grundsätzlicher Befund vorangestellt: In seinem Anschluss an die Antike versteht Schleiermacher die sexuelle Orientierung als eine eminent moralisch valente, weil entscheidungsbedingte Größe.²²³ Mit dieser Bestimmung könnte man ihn geradezu als unmittelbar anschlussfähig für den postmodernen Debattenzusammenhang begreifen. War die Forschung des 20. Jahrhunderts v. a. auf die Naturdetermination sexueller Orientierungen ausgegangen, so hat die neuere Forschung im Wechselspiel mit politischer Ideologie und praktischer Umsetzung in entsprechenden Sozialmilieus – noch potenziert durch die Abkopplung der Geschlechtsidentität von der sexuellen Ausrichtung – eine solch große Vielfalt an Orientierungsformen produziert, dass eine biologisch fundierte Erklärung ihres Auftretens kaum mehr möglich ist²²⁴ und zudem auch gar nicht mehr als notwendig erscheint.²²⁵ Schleiermachers
Feldes, die die Einzelelemente argumentativ auf eine Leitlinie verpflichtet. So wie es Ausdruck einer Hybris ist, alle Lebensäußerungen der Sinnlichkeit theologisch (wie auch immer) qualifizieren zu wollen, ist es ethisch fahrlässig, sich dem Geschäft einer Grundorientierung zu entziehen. Zur Präzisierung sei hier paradigmatisch ein prominentes ethisches Gegenprogramm angeführt, an dem sich sachlich auch auch andere Entwürfe orientieren: In einem Einwand gegen eine rechtliche Absetzung der ‚eingetragenen Lebenspartnerschaft‘ von der ‚Ehe‘ (insbesondere hinsichtlich des Adoptionsrechts) macht Judith Butler ein für ihre Argumentationsstrategie bedeutsames ‚Paradox‘ auf, das bei genauerem Hinsehen allerdings keines ist: „Denn wer bestimmte menschliche Beziehungen nicht als einen Teil des als menschlich Anerkennbaren anerkennen will, der hat sie schon anerkannt und versucht, das zu leugnen, was er auf die eine oder andere Weise bereits verstanden hat.“ (Butler, Macht, 185). Butler operiert doch ganz offensichtlich mit einem doppelten Anerkennungsbegriff. Einmal beschreibt er das Zur-Kenntnis-Nehmen von Faktischem und einmal das nach externen Kriterien erhobene Befürworten eines Sachverhalts. Setzt man, wie Butler es insinuiert, beides in eins, müsste die Empirie stets zugleich die Geltungsfrage, sei sie erkenntnistheoretisch oder ethisch ausgerichtet, entscheiden, was meines Erachtens wenig weiterführend ist. Zudem wird überhaupt nicht in Rechnung gestellt, dass verschiedene Lebensformen auch in unterschiedlichen Hinsichten differenziert bewertet werden können, d. h. dass der Fall einer reinen Ablehnung äußerst selten gegeben und fast nie geboten sein wird. Mag jenes Vorgehen auch auf den ersten Blick einer deskriptiv verfahrenden ethischen Methodik ähneln, so steht es seiner Simplifizierung und Vereindeutigung wegen doch deutlich von dieser ab (s.o. I.3.1). Weiterführend, nämlich zu einer Problematisierung von Kinseys Programm einer ‚Normativität des Faktischen‘ vgl. Schelsky, Soziologie, 51– 59 sowie Ringeling, Sexualität, 150 – 154. Folgt man der platonischen Darstellung im Symposion waren die Griechen der Antike nach heutiger Definition bisexuell. Dominierte eine der Neigungsrichtungen, so galt sie nicht als Klassifikation, sondern als bloße Geschmacksdifferenz. Vgl. Foucault, Sexualität 2, 237– 241. Die soziale Vermitteltheit sexueller Orientierung zeigt sich bereits in starkem Maße im Fall der Bisexualität. Christian Rudders empirische Befunde legen nahe, dass knapp die Hälfte aller Menschen, die sich als bisexuell verstehen, homosexuell ist. So richteten im Partnervermittlungsportal OkCupid 42 % der Frauen ihre Anfragen ausschließlich an Frauen und 44 % der Männer ausschließlich an Männer.Weitere 34 % der Frauen und 41 % der Männer haben ihren Datinganfragen nach offensichtlich als heterosexuell zu gelten. Bloß 24 % der Frauen und 15 % der entsprechenden Männer orientierten sich faktisch an ihrer angegebenen sexuellen Ausrichtung. Damit bestätigt er Gerulf Riegers Forschungsergebnisse, der die Reaktion der Genitalien von Bisexuellen auf verschiedengeschlechtliche Stimuli untersuchte (Rudder, Big Data, 204).
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Plädoyer für das Lernen der Liebe hat mit der fortschreitenden Aufgliederung sexueller Optionen eine enorme Radikalisierung erfahren.²²⁶ Insofern aus der Entdeckung der eigenen Vorlieben ein Konstruieren derselben geworden ist, geriert die Sexualität zu einem Lifestyle-Produkt. Markmechanismen und der teilweise Zusammenschluss von gesellschaftlich einforderbarer Toleranz mit der Erwartung, auch individuell das Liberalitätsdogma zu verwirklichen, stellen eine ganz neue Herausforderung an die Sexualethik dar. Bevor wir uns diesen Zusammenhängen eingehender widmen, sei die beschriebene Verortung sexueller Devianz²²⁷ konkretisiert an ihrem häufigsten Fall, der Homosexualität.²²⁸
Homosexualität Wir haben uns vor Augen geführt, dass Schleiermachers Sexualprinzip unaufgeblich mit der Geschlechterdifferenz verbunden ist.²²⁹ Die Faktizität von Homosexualität, auf
Maßgeblich für die Umstellung von der Tat-Sicht auf Homosexualität, die in ihr einen bloß momentanen Akt der sexuellen Verirrung (Sodomie) erblickte, hin zur Anerkennung ihrer als einer natürlichen, dauerhaften und unüberwindlichen Veranlagung, die mithin dem Strafrecht zu entziehen sei, waren Karl Heinrich Ulrichs „Zwölf Schriften über das Rätsel der mannmännlichen Liebe“ (erschienen 1864– 1879) und Richard von Krafft-Ebings „Psychopathia sexualis“ (1886), welch letzterer allerdings stärker auf den pathologisch-degenerativen Charakter jener sexuellen Orientierung abhob. Ulrichs hatte hingegen der gängigen Meinung widersprochen, Homosexuelle seien in jeder Lebenshinsicht von ihrer sexuellen Neigung bestimmt. Dagegen forderte er dazu auf, Homosexuelle in ihrer Persönlichkeit differenzierter zu betrachten; nicht jeder Lebenskontext sei bei ihnen unmittelbar durch ihre sexuelle Leidenschaft bestimmt – vgl. Eder, Begierde, 161– 165. Der Rechtfertigungsdruck der sich (vornehmlich für Homosexuelle) aus ihrer Orientierung ergab, ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitestgehend gewichen, sodass das starke Argument der darunter ‚Leidenden‘ als ‚naturgeschlagen‘ nicht mehr in Anschlag gebracht werden muss. Aus der Defensive sind entsprechende Interessenverbände mit dem Anathema der ‚Heteronormativität‘ in die Offensive gegangen. Das sexualpädagogische Plädoyer für ein sorgloses Experimentieren mit Lustquellen stellt freilich eine promiskuitive Überschreitung der Schleiermacherschen Sexualethik dar, insofern dessen Keuschheitsbarriere längst gefallen ist und die Sexualität hier als von anderen Bedeutungsdimensionen partnerschaftlicher Bindung gänzlich abgekoppelt erscheinen kann, was sodann zugleich in die Paradoxie zwischen der Ermutigung zur sexuellen Selbstverwirklichung und dem Vorsichtsgebot angesichts des rechtlichen Schutzes der subjektiven Selbstbestimmung des Anderen – kodifziert in der Ausweitung rechtlicher Regularien zur Einstufung von Sexualdelikten – führt. Vgl. Baumann, Sexualität. Entgegen dem politisch korrekten Begriff der Diversität, sei hier auf jenen in seiner normativen Aufladung erkannten Begriff zurückgegriffen, weil er Schleiermachers Blick auf den Sachverhalt treffender paraphrasiert. Zu einer aktuellen und entsprechend genaueren Typisierung homosexueller Identitätskonstruktionen und Handlungsstile, die allerdings nicht auf unsere Fragerichtung antwortet vgl. Koch-Burghardt, Identität. Nochmals zur Vergegenwärtigung: Schleiermacher denkt die Geschlechtsdifferenz, wie zwei Pole, die sich anziehen. Je stärker sie im Laufe der Reifung hervortreten, desto größer wird die sexuelle Anziehung. Heterosexualität ist mithin für sein Konzept von Sexualität überhaupt entscheidend, und zwar nicht bloß auf sittlicher, sondern bereits auf natürlicher Ebene. Vgl. PhE 322, § 11. Damit stimmt
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die Schleiermacher wahrscheinlich weniger durch seine Umwelt als vielmehr durch seine Platonstudien gestoßen wurde, zwang ihn allerdings dazu, den Sachverhalt nicht schlichtweg zu suspendieren. Im Symposion übersetzte er Platons Lob der Homosexuellen, die „mit Mut, Kühnheit und Mannhaftigkeit das ihnen Ähnliche lieben.“²³⁰ Im Versuch einer ethischen Würdigung dessen hebt Schleiermacher auf die Spielart der Knabenliebe ab, weil, wo schon keine Geschlechtsdifferenz gegeben sei, doch wenigstens ein Unterschied der Entwicklung gesetzt sein müsse.²³¹ Sollte Liebe in ihrer Vollgestalt im alten Griechenland zur Verwirklichung kommen, lag hierin nun die einzige Option, „weil ihre [sc. der Griechen – CR] ganze Individualität sich nur politisch äußerte, die Frauen aber keine politische Existenz hatten und also das Gefühl gegen sie nie eigentliche Liebe sein sollte.“²³² Sobald sich die gesellschaftlichen Umstände gewandelt hatten, war für Schleiermacher jenes Argument allerdings hin-
sodann sein Urteil zusammen: „Die Befriedigung der Geschlechtsfunction innerhalb desselben Geschlechts ist unnatürlich schon innerhalb der physischen Seite selbst und kann also durch nichts dazukommendes Ethisches veredelt werden.“ (PhE 324, § 25). Das Konstrukt vom Lieben des Entgegengesetzten, was man nicht hat, aber wessen man bedarf, als Beschreibung des Eros gegenüber der Agape hat noch immer Konjunktur. Vgl. z. B. Jüngel, Gott, 462– 466. Sym 36. Vgl. auch den weiteren Kontext des Zitats ebd.: „Alle aber, die Stücke eines Männlichen sind, folgen dem Männlichen, und solange sie noch Knaben sind, lieben sie als Teile des Männlichen die Männer und haben ihre Freude daran, bei ihnen zu liegen und sie zu umarmen, und das sind – als die von Natur Mannhaftesten – die Trefflichsten unter den Knaben und Jünglingen. Einige nennen sie zwar schamlos, aber mit Unrecht. Denn nicht aus Schamlosigkeit tun sie dies, sondern weil sie mit Mut, Kühnheit und Mannhaftigkeit das ihnen Ähnliche lieben. Sind sie aber mannbar geworden, dann lieben sie Knaben, und zur Ehe und Kinderzeugung haben sie von Natur keine Lust, sondern das Gesetz zwingt sie dazu.“ Die gegenteilige Position bezieht z. B. Helmut Schelsky, der jene sexuelle Orientierungsform als per definitionem unmännlich begreift und entsprechend auch einen Grund für das quantitative Ansteigen von Homosexualität in einem prekär Werden der Mannrolle erblicken kann (ders. Soziologie, 83 f). Vgl. Brief 1317, 92 f: „Dem Geschlechtstriebe correspondirt im Geistigen das Gefühl von der Einseitigkeit eines Geschlechts als Darstellung der Menschheit. Nothwendig entsteht daher die Liebe nur zwischen Personen verschiedenen Geschlechts; möglich aber ist sie auch zwischen Personen desselben Geschlechts aber ohne Verkehrtheit wohl nur unter Voraussetzung organisch verschiedener Zustände.“ Brief 1317, 92 f. Schleiermachers politisch pointierter Interpretationslinie folgt auch Michel Foucault (ders., Sexualität 2, 250 – 252. 273 – 275). Er präzisiert sie darüber hinaus noch dahingehend, dass die größere Symmetrie zwischen dem Mann und dem (nur noch nicht Mann gewordenen) Knaben, keine Symmetrie der Lust bedeutete. Der Knabe hatte nicht Lust zu empfinden – es ging mithin nicht um ein gemeinsames Erleben von Lust –, sondern er empfing für seine erwiese Gunst andere Gefälligkeiten, im besten Fall Unterricht, soziale Protektion und Freundschaft. Das Begehren selbst beinhaltete mithin den Antagonismus von Lustsubjekt und Lustobjekt, wobei letzteres eben biographisch nur vorläufig diese Stellung einnehmen sollte und selbst zum Subjekt heranreifen (ebd., 283 – 285. 302– 304). Eine Irritation dieser Interpretation führt Foucault selbst an in Gestalt der zweiten sokratischen Rede im Phaidros, wo sich die Ausgleichung jenes Gefälles hin zu einer Liebesdialektik findet, die die Lust des Geliebten einschließt (ebd., 303 f).
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fällig.²³³ Schließlich handelte es sich dabei ohnehin nur um eine Hilfskonstruktion, die seiner Zentralsetzung der Verbindung von Sexualität und potentieller Fortpflanzung widersprach. „Die vage und momentane Geschlechtsgemeinschaft ist unsittlich, weil sie Vermischung und Erzeugung trennt;“²³⁴ heißt es in § 24 der Ethikvorlesung von 1812/13. Dieses Zitat hat zwei Bedeutungsimplikationen. Erstens, unsittlich handelt, wer Geschlechtsverkehr hat, ohne dabei der Möglichkeit Rechnung zu tragen, dass daraus ein Kind hervorgeht, dem Fürsorge zu gewähren ist.²³⁵ Zweitens, und für die Frage nach der Homosexualität eigentlich interessant: Unsittlich handelt nach Schleiermacher, wer in einer solchen Weise Geschlechtsverkehr übt, dass Fortpflanzung ausgeschlossen ist, wie es im besonderen Interesse der außerehelichen Sexualität ist. Wir können anschließen: Als eine der in dieser Hinsicht sichersten Möglichkeiten wurde der in jedem Fall sterile, gleichgeschlechtliche Verkehr erkannt.²³⁶ Auf diese Weise rückte er der Promiskuität nahe. Diese Nähe war freilich mitnichten zwingend.²³⁷ Dennoch hat das lange währende Verbot homosexueller Praxis dazu geführt, dass sie häufig auf das ‚Nötigste‘ reduziert werden musste, was ihre Vorbildfunktion für die sogenannte ‚sexuelle Befreiung‘ im 20. Jahrhundert erklärt.²³⁸ Für Schleiermacher ist promiskuitives Verhalten ethisch ausgeschlossen.²³⁹ Vehement wehrt er sich gegen die plumpe Frivolität, die auch über die Dichtung in das
Schleiermacher kann sich mithin nicht des im Brief 1317, 92 f folgenden Kommentars enthalten: „Bei den Römern hingegen und allen Modernen ist sie höchst unnatürlich und lasterhaft“. PhE 324. Diese Interpretation ist gedeckt durch Schleiermachers Zusatz PhE 650: „Zu § 24. Die Untrennbarkeit von Erzeugung und Erziehung verdammt die vage Gemeinschaft.“ Kritisch bedacht bei Thomas Mann, der die Homoerotik als eine rein ästhetische und deshalb sterilen, mithin lebensundienliche und letztlich amoralische und treulose Lebensform bezeichnet. Zu dieser Verweiskette vgl. Mann, Übergang, 215 – 220. Michel Foucault macht darauf aufmerksam, dass in der Antike die entscheidende ethische Differenz gar nicht zwischen Homosexualität bzw. Pädophilie und Heterosexualität verlief, sondern zwischen Selbstbeherrschung und Triebleitung, also eine Scheidung zwischen beiden sexualethischen Kriterien bestand. So war es für die Definition der sexuellen Orientierung eines Mannes weniger von Belang, ob er mit einer Frau oder einem Knaben verkehrte, sondern vielmehr, ob er sich darin generell als besonnen oder wüst erwies. Vgl. Foucault, Sexualität 2, 237– 241. Michael Pollak beschreibt das wachsende Interesse an der Homosexualität in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als auch in der paradigmatischen Funktion derselben für die Liberalisierung der Sexualität insgesamt begründet. Einschlägig dafür sind die Trennung von Sexualpraxis und Fortpflanzung sowie von Sexualität und emotionaler Bindung. Das gesellschaftliche Verbot der Homosexualität machte es notwendig, sie zu rationalisieren, das bedeutet: „die zeitliche und räumliche Isolierung des Geschlechtsakts, die rigide Beschränkung der ihn vorbereitenden Rituale, die Beendigung der Beziehung unmittelbar nach dem Akt und die Entwicklung eines Kommunikationssystems […], das diese Minimierung der Investitionen bei gleichzeitiger Maximierung des Orgasmusgewinns ermöglicht.“ (Pollak, Homosexualität, Zitat: 57). Vgl. ChS 345 Fn: „Es giebt keine sittliche Befriedigung des Geschlechtstriebes, als in der Ehe; es giebt keine sittliche Ehe, als die monogamische; und selbst eine Unvollkommenheit in ihr kann kein Grund sein, ihre Form zu ändern, oder sie ganz aufzulösen.“ [Hervorhebung getilgt – CR.]
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gesellige Leben eingesickert war.²⁴⁰ Die Wohlfahrt, die der freiere gesellige Verkehr ermöglichte, wollte er gleichwohl nicht missen. Generell hält Schleiermacher sich in seinen sexualethischen Einschätzungen an die Linie, die prominent in der „Peinlichen Gerichtsordnung“ des Heiligen Römischen Reiches, der „Constitutio Criminalis Carolina“, kodifiziert wurde. Ihr galten Ehebruch, ‚Nottzucht‘ (Vergewaltigung),²⁴¹ ‚Kuppelei‘ (meist Zuhälterei), Inzest, Sodomie sowie homosexuelle Praktiken (besonders zwischen Männern) als Kapitalverbrechen.²⁴² In der faktischen Jurisdiktion wurden diese allerdings sehr differenziert und z.T. sehr milde behandelt.²⁴³ Selbstverständlich plädiert auch Schleiermacher für eine differenzierte Abwägung.
Prostitution Ein rechtlich wie ethisch ambivalentes Thema war stets die Prostitution. Georg Simmel behauptet: „solange die Ehe existiert, solange wird es Prostitution geben.“²⁴⁴ Seine These ruht der gesellschaftlichen Konvention auf, dass erst der ökonomisch unabhängige Mann heiraten und entsprechend einen eigenen Hausstand gründen kann. In den Jahren zwischen der Geschlechtsreife und dem Erreichen seiner Selbständigkeit tritt jene Institution ein, ihn in seiner Bedürfnisbefriedung zu unterstützen.²⁴⁵ Nach dieser Einschätzung wird die Prostitution geradezu zum notwendigen Pendant der realiter ergänzungsbedürftigen Institution Ehe. Auch Schleiermacher beobachtete eine Diastase zwischen gelebter Sexualität und Eheverhältnis, ließ sich jedoch nicht
S.o. II.1.1.1. Dilthey konstatiert für das Ende des 18. Jahrhunderts ein Abnehmen des Staatsinteresses, welches die kleinen Vergnügungen zu kompensieren hatten. Frivolität und ihr niederes moralisches Pendant, der religiöse Zwang, brachen sich Bahn und bildeten die Anforderungssituation, der sich die neue Generation zu stellen hatte. Vgl. Dilthey, Leben I, 188 – 190. Vergewaltigung wurde jedoch faktisch nur scharf geahndet, wenn die Frau als keusch galt, mit dem Vergewaltiger weder verheiratet noch verlobt oder ihm versprochen war und wenn die Tat ‚gänzlich vollbracht war‘, d. h. der Peiniger bis zum Samenerguss gelangt war. Hinzu kam, dass die Frau ihn nicht gereizt haben durfte, sich hinreichend gewehrt haben musste und bei der Tat keine Lust empfunden haben durfte. Als Indikator für letztere galt eine gelingende Konzeption. Es bestanden mithin äußerst viele Hürden für eine Frau, in dieser Angelegenheit mit einer Privatklage, die sie einreichen musste, zu ihrem Recht zu kommen. Nicht selten wurde ihr, wenn es zur Verhandlung kam, eine Teilschuld zugesprochen, die ihr über das erfahrene Leid hinaus auch noch die soziale Ehre beschnitt. Vgl. Eder, Begierde, 46 f. 70 f. Sie alle erschienen mithin nicht allein (individual‐) moralisch bedenklich, sondern als schwerer Angriff auf die soziale Ordnung. Vgl. Eder, Begierde, 52– 59. Vgl. Eder, Begierde, 59 – 62. Simmel, Geschlechter, 66. Simmel meinte, dass bei „völlig freier Liebe“ die Notwendigkeit jenes Berufsstandes hinfällig werden müsste (ders., Geschlechter, 66). Offensichtlich liegt er weder mit seiner Umgrenzung der Prostitutionsklientel richtig, noch stellt er hinreichend in Rechnung, dass der ‚unkomplizierte schnelle Sex‘, der noch dazu ein hohes Attraktivitätsgefälle zwischen den Partner erlaubt, für bestimmte Charaktertypen zeitübergreifend von Interesse ist.
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dazu hinreißen, die Prostitution als ‚Ventilsitte‘²⁴⁶ zu würdigen, sondern plädierte für eine Überwindung der erotischen Missstände durch die Etablierung der integrativen Institution der romantischen Ehe. Voraussetzung dafür war seine von Platon inspirierte und seinerzeit, wie auch später selten anzutreffende These, dass Männer in sexueller Hinsicht keine ‚Dampfkessel‘, sondern durchaus zum Triebverzicht in der Lage sind.²⁴⁷ Am aufschlussreichsten zu Schleiermachers Sicht auf die Prostituierten erscheinen der vierte und fünfte der Lucindebriefe. In ihnen kommt er auf die Figur der Lisette in Schlegels Lucinde zu sprechen. In den Lehrjahren der Männlichkeit beschreibt Schlegel den gesellschaftlich paradigmatischen Gang der Erfahrungen, die ein junger Mann mit Mädchen und Frauen auf seinem Weg zur vollkommenen Ehe sammelt. Dabei entfällt eine Episode auf seine Liebe zu der Prostituierten Lisette, die sich im Sinne einer antiken Hetäre stolz und auf ihre Art weise gibt.²⁴⁸ In seinen Lucindebriefen lässt Schleiermacher aus dem Mund der jungen Karoline diese Figur loben, die in ihrer Verstrickung und konsequenten Sinnlichkeit doch letztlich sympathischer, gar moralischer sei, als das gebildete bürgerliche Mädchen, das „Julius Alles erlaubte bis auf das letzte, und sich dann etwas damit wußte, dies für thierisch und roh zu erklären.“²⁴⁹ Im Antwortbrief kommt Friedrich trotz der Bitte um eine Stellungnahme seitens der Karoline nicht auf die Würdigung Lisettes zu sprechen.²⁵⁰ Ihre Satisfaktion verbleibt mithin unter einem Vorbehalt. Schleiermacher insinuiert meines Erachtens damit, dass es Anlass gebe, sie und ihresgleichen nicht pauschal zu verurteilen. Er ist allerdings weit davon entfernt, sie als Vorbild in der Liebe zu preisen, der bloß die Umstände der Gesellschaft bzw. die Vorbehalte eines befangenen Mannes, wie des Hauptprotagonisten der Lucinde, übel mitspielten. Anlass zu jener Interpretation gibt seine Bewertung von Schauspielern in der Christlichen Sitte. Beide Berufsstände galten als ‚loses Volk‘ und z.T. schwer zu unterscheiden.²⁵¹ Verurteilen will Schleiermacher den Stand der szenischen Darsteller nicht, sieht er doch auch gesellschaftliche Mechanismen am Werk, die sie binden.²⁵² Gleichwohl
Zu diesem von Vierkandt geprägten Begriff vgl. weitergehend Schelsky, Soziologie, 42 f. S.o. II.1.1.1. Schlegel, Lucinde, 41– 45. Diese Episode gilt gemeinhin als nicht autobiographisch inspiriert, sondern verdankt sich dem Sujet der ‚Dirnenromantik‘, das Gesellschaftskritik mit – dem Stil des Romans entsprechender – Einfühlung verband und das Ganze mit Einblicken in das gesellschaftlich Tabuisierte würzte. Vgl. Eichner, Einleitung, XLIII. L 180 f. Zitat L 181. Die Figur wird nur kurz L 188 unten genannt. So nimmt es nicht Wunder, dass Friedrich Schlegel auch seine Lisette als ehemalige Schauspielerin vorstellt (ders., Lucinde, 42). Vgl. ChS 681: „Ich würde es als geistlicher zwar nicht über mein Gewissen bringen können, einem Schauspieler, gesezt auch ich hätte die Macht dazu, irgend ein kirchliches Gut zu versagen; denn der Stand ist einmal da, und der einzelne, der dazu gehört, verdient Entschuldigung, weil es im Allgemeinen eine Unvollkommenheit unserer Zeit ist, daß Entschluß und Wahl in Beziehung auf den Beruf zu früh getroffen werden müssen. Aber den Schauspielerberuf als besonderen Beruf zu fördern, das
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markiert er mit dem Gebot der Keuschheit eine deutliche Grenze für ihr Schaffen.²⁵³ Wir können folgern – und sahen es zuvor durch sein Plädoyer für die monogame Ehe bestätigt –, dass sich für Schleiermacher freiwillige Prostitution bzw. ein entsprechendes Freiertum und Christsein nicht vertragen.²⁵⁴ Der Staat hingegen müsse sich, so ein frühes Gedankenfragment, anstelle eines Verbots auf die Aufsicht des Gewerbes einlassen und dafür Sorge tragen, dass für die Kinder der Prostituierten gesorgt ist und zwar auf eine solche Weise, dass die für die Konzeption Mitverantwortlichen in die Pflicht genommen werden, „so daß dadurch zugleich der Reiz zur Hurerei vermindert wird.“²⁵⁵ Wir sehen hier, wie wir es auch bei der Frage nach der Ehescheidung sehen werden,²⁵⁶ dass Schleiermacher die Differenz von Religion und Recht produktiv zu nutzen versteht. Die christliche Ethik tut gut daran, rechtliche Regularien und Formative in ihrer Geltung anzuerkennen. In ihrer Aufgabe der Gesinnungsbildung ist allerdings zugleich der Sensibilisierungsauftrag beschlossen, dass die Ausschöpfung rechtlicher Möglichkeiten mit ihrer moralischen Satisfaktion nicht kongruent ist. Gerade ethisch problematische Felder können auf diese Weise in der ethisch wie
würde ich eben so wenig vermögen, und ich glaube auch, daß das niemals die Sanction der Kirche würde enthalten können.“ Vgl. ChS 682: „Das Christenthum gestattet nichts auf dem Gebiete der Kunst, was nicht mit der Tugend der Keuschheit vereinbar ist […].“ Obwohl Dabrock u. a. in ihrem Papier ebenfalls eine sexualethische Kriteriologie einführen, die dieses klare Urteil fordert, fällen sie es aus programmatischen Gründen nicht, sondern hoffen auf die Möglichkeit eines – einmal frei Adorno verkehrenden – richtigeren Lebens im falschen. Vgl. dies., Unverschämt, 135 f. So ergibt sich eine Bedenklichmachung jenes Phänomens, die dessen prekären Wirkungen allerdings letztlich nicht gerecht wird. Zu nennen wären die bei genereller Tolerierung der Prostitution kaum zu verhindernde und faktisch weit verbreitete Beschaffungs- und Zwangsprostitution (vgl. dazu Lamnek, Prostitution, 284– 295); Verdinglichung von Frauen; körperliche und seelische Gefahren für alle Beteiligten; Vertrauensmissbrauch in Beziehungen; Festlegung (meist) des Mannes auf eine primitive „Druckausgleich“-Sexualität; generalisierende, d. h. all ihre Lebensdimensionen überwölbende Festlegung der Prostituierten auf das Stigma der Hure (zu diesem Punkt vgl. im Anschluss an Goffman: Lamnek, Prostitution, 282 f); und eine Herabwürdigung der Sexualität zu einer bloßen Ware. Georg Simmel macht darauf aufmerksam, dass bei steigender Entwicklung der Geldwirtschaft die Prostitution immer prekärer wurde, weil der Unterschied zwischen der sexuellen Integrität der entsprechenden Frauen und ihrem Gegenstück, dem in jedwede wertlosere und unpersönlichere Ware eintauschbaren Geld wuchs. Gesteigert wurde diese Diskrepanz noch durch die fortschreitende Individualisierung. D. h. problematisch ist, wer sein denkbar Persönlichstes für das denkbar Unpersönlichste hingibt. Vgl. Simmel, Geschlechter, 62 f. 131 f. Wohl werden bei Dabrock u. a., Unverschämt, 126 – 141 all die obigen Aspekte benannt, jedoch mangelt es meines Erachtens bei allen rechtlichen und pragmatischen Beschreibungen einer letzten Schärfe des Urteils, die allein den unzähligen Opfern jenes unsäglichen Gewerbes gerecht zu werden vermag. G I, 6., 7. An dieser Stelle wünscht Schleiermacher sich ganz offensichtlich einen starken Staat, der – einmal aktualisierend gesprochen – vom Eigeninteresse einer hohen Ausschöpfung von ‚Gewerbesteuern‘ absieht und seine ethische Pflicht auf eine Reduzierung des entsprechenden Prekariats oben anstellt. S.u. II.3.3.2.
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pragmatisch zielführenden Spannung von Missbilligung und Duldung gehalten werden.
Selbstbefriedigung Eine andere Form der außer- bzw. nebenehelichen Bedürfnisbefriedigung stellt die Masturbation dar. Um sie entspann sich im 18. Jahrhundert eine lang anhaltende und brennende Debatte, die in medizinischer, psychologischer, ethischer, juristischer und pädagogischer Hinsicht geführt wurde. In jener blühten die Phantasien zur Onanie als einer leib- und seelenverderblichen Praxis auf, die zur Eheunfähigkeit, Homosexualität und Zeugungsschwäche führe und letztlich die ganze Gesellschaft zu verderben drohe.²⁵⁷ Soweit ich sehe, hat sich Schleiermacher an diesem Diskurs nicht beteiligt. Als allzu beredt wird man jenes Schweigen jedoch nicht zu verstehen haben. Die so einfallsreichen wie brutalen Vorschläge zur Verhinderung der ‚Selbstbefleckung‘ bei Jugendlichen dürften kaum in seinem Sinn gewesen sein. Eine Würdigung der Masturbation als ‚Autoerotik‘, d. h. als eigenwertige Form des sexuellen Lebens, die durch die Sexologie des 20. Jahrhunderts²⁵⁸ massiv vorangetrieben wurde, dürfte allerdings ebenso wenig bei ihm Anklang gefunden haben, war Sexualität für Schleiermacher doch v. a. ein soziales Geschehen und eben nicht schlichter Lustvollzug.²⁵⁹
Pornographie und gewaltorientierte Sexualpraktiken Zu anderen gegenwärtig verbreiteteren Sexualphänomenen wie Pornographie und Sadomasochismus gibt Schleiermacher freilich keine Hinweise. Eine Groborientierung muss aus dem weiteren Kontext seiner Geschlechterethik geschlossen werden. Der Entwicklung sexueller Phantasien gegenüber hat er sich in seinen Lucindebriefen durchaus offen gezeigt.²⁶⁰ Mit der direkten Darstellung solcher, die darüber hinaus Eder, Begierde, 91– 127. Die in jenem Debattenzusammenhang etablierten Orientierungen hielten sich lange. Noch ein Erotisierungstheoretiker wie Walter Schubart verglich die Masturbation als Ausdruck selbstischer Begierde mit der Magie, die sich auf der Ebene der Religion als ebenso technizistisch, atheistisch und letztlich tödlich für alles Soziale (und mithin auch die Familie) erweise. Zur gesellschaftlichen Gedecktheit jener Sicht vgl. die empirische Studie: Schmidt u. a., Veränderungen, 165. Hier gaben 77 % der Männer und 86 % der Frauen an, dass sie Masturbation als eigenständige Form der Sexualität betrachteten, die mithin auch ihr Recht in einer bestehenden Partnerschaft behalte. 21 % der Männer und 13 % der Frauen hielten sie für einen bloßen Sexualersatz. Ablehnend bezogen auf Masturbation in einer festen Beziehung äußerten sich lediglich 2 % der Männer und 1 % der Frauen. Zur Umstellung bzw. Wiedereinstellung der Sexualität auf das solipsistische Paradigma der Lustgewinnung, unter dem auch der Geschlechtspartner nur noch ‚Katalysator‘ der eigenen Bedürfnisbefriedigung ist vgl. die Kritik von Béjin, Macht, 265 – 269. Vgl. hierzu auch die empirische Studie zum Eheleben ‚symmetrischer‘ Paare, bei denen die Sexualität größtenteils als bloßer Druckausgleich des Mannes und eheliche Pflicht der Frau erlebt wird: Klees, Familien, 171– 190. Es sei nochmals das Zitat aus L 157 vergegenwärtigt: „Wie wollt ihr denn das hindern, daß ein Mann sich nicht Vorstellungen davon mache, wie diese und jene im Zustande des Liebens wol sein und
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selbst zum Gegenstand der sexuellen Betätigung wird, dürfte der Bereich der Phantasie für Schleiermacher hingegen überschritten gewesen sein.²⁶¹ An dieser Stelle greift sodann seine bereits zitierte Forderung an das Schauspiel, es habe sich vom Standpunkt der Christlichen Sitte aus in den Grenzen der ‚Keuschheit‘ zu halten, wobei er durchaus die Frage nach dem Verhältnis von künstlerischer Freiheit und Rezeption diskutiert und mithin weniger prüde erscheint, als seine Keuschheitsforderung zunächst vermuten lässt.²⁶² In Bezug auf Sexualformen, die ihren primären Reiz aus dem Gefälle von Dominanz und Unterwerfung bzw. der Kultivierung von Gewalt beziehen, wäre Schleiermachers Betonung der partnerschaftlichen Symmetrie und Ebenbürtigkeit anzuführen.²⁶³ Nun werden wir sehen, dass er die Gleichheit der Partner nicht in allen Dimensionen fordert, sondern ihre Symmetrie durchaus durch erhebliche Ungleichgewichte in bestimmten Sozialdimensionen ausbalancieren kann. Von hier aus ließen sich entsprechende sexuelle Praktiken als Spiel bzw. abgegrenzter Aspekt einklammern. Dies lässt der Schleiermachersche Theorieaufbau allerdings deshalb nicht zu, weil das Spiel als ‚darstellendes Handeln‘ immer auf die Konstellation des Ganzen verweist. Sadismus und Masochismus verweisen hiernach mithin stets auf einer weiterreichende Schieflage, die problematisch erscheint.²⁶⁴
wie Alles, was dazu gehört, sich in Jeder eigenthümlich gestalten möge? […] Ihr müßtet […] zuerst aufhören eigenthümlich zu sein“. Anders stellt Schleiermacher die Reichweite solcher Phantasien später seiner Braut gegenüber dar. Der potentiellen geistigen Untreue, die die Phantasie ermöglicht, setzt er die Schranke wahrer exklusiver Liebe: „In […] Unbefangenheit habe ich mir nun ordentlich Mühe gegeben mich in den Fall hinein zu denken, als liebten wir [Caroline Wucherer und Schleiermacher – CR] einander; aber es wollte doch gar keinen Fortgang haben; ich konnte mich in keinen zärtlichen Auftritt mit ihr hinein fantasiren, und kurz, Du bist es allein.“ (BB 252). Eingehender zum Thema Phantasie s.u. II.3.1.5. Die Problematik, die sich aus dem Überschritt von Anregung zur Direktstimulation ergibt, diskutiert Helmut Schelsky. Er diagnostiziert eine „Erotisierung, besser sogar Sexualisierung des modernen Menschen von außen, eine Daueraktualisierung sexueller Impulse durch die Gesellschaft ohne eigentlichen Triebdruck vom Individuum her und mit der Konzession weitgehender Phantasie- und Gefühlsträgheit. Die ‚Seele‘ wird mitgeliefert. Über den Weg der publizistischen Massenproduktion werden wohl-standardisierte Gefühle so universal angeboten und bereitgestellt, daß sie bald als Massenbedürfnis empfunden und im Massenkonsum verbraucht werden. Dies muß man bedenken, wenn man darauf hinweist, daß heute die Sexualität insbesondere in den breiten Bevölkerungsschichten ‚gemütsgetragener und zärtlichkeitsumflossener‘, ‚verinnerlichter‘ und also erotisierter sei als die ‚nackte‘ Sexualität älterer Generationen […]; dies ist im Tatbestand an sich richtig, aber es sind eben weitgehend öffentlich bereitgestellte Gefühle, die die Menschen von der Aufgabe, ihre Sexualität mit eigener Gefühlsursprünglichkeit zu erfüllen, gerade weitgehend befreien.“ (Schelsky, Soziologie, 126). Vgl. ChS 678. 697– 702. Ausführlicher dazu s.u. II.2.3. Den Masochismus versteht Schubart, Religion, 152 f als pathologische Übersteigerung der anbetenden Liebe, die aber nunmehr die Differenz zwischen sich und dem/der Angebeteten nicht mehr dadurch zu festigen sucht, dass sie die Angebetete erhöht, sondern dadurch, dass sie sich selbst erniedrigt und dabei z.T. sogar den Gegenstand der Anbetung aus den Augen verliert. Er widerspricht
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Inzest Zuletzt ist noch eine sexuelle Formation zu nennen, die zwar weder zu Schleiermachers Zeit noch in der Gegenwart verbreitet ist, der als sexualethischer Grenzfrage aber dennoch immer wieder Aufmerksamkeit geschenkt wurde; gemeint ist der Inzest.²⁶⁵ In der Ethikvorlesung von 1812/13 thematisiert Schleiermacher ihn unter der Gestalt der Geschwisterehe als Abgrenzungsparadigma für das Verhältnis von Nähe und Fremdheit in der sexuellen Anziehung. Wenn sich die wahre Ehe der Wahlanziehung verdankt, so wäre die Geschwisterehe eigentlich naheliegend, weil die Geschwisterliebe den Urtyp der Freundschaft darstellt.²⁶⁶ Schleiermacher postuliert an diesen Gedanken anschließend ganz unbefangen: „Wären die Geschwisterehen einmal sittlich gewesen, so wären sie auch gewiß Sitte geworden“.²⁶⁷ Hätte der zweite Schöpfungsbericht buchstäblich Recht, so hätte es kaum einen Grund gegeben, von der Verwandtenheirat abzugehen bzw. sie gar zu tabuisieren.²⁶⁸ In seinen Anmerkungen von 1832 legt Schleiermacher allerdings offen, dass er es, um den ‚sittlichen Verlauf‘ beschreiben zu können, für notwendig erachtet, die „Volksthümlichkeit als gegeben an[zu]sehen“.²⁶⁹ Ist nun aber damit der Menschheit ursprünglich Differenz eingeschrieben,²⁷⁰ so müsse dieser auch individuell Rechnung getragen werden in der
mithin grundlegend dem romantischen Liebesideal der wechselseitigen Erhöhung. Dasselbe gilt für den sexuellen Sadismus. Geradezu kurzschlüssig erscheint demgegenüber die Einschätzung von Jessica Benjamin: „in der Sexualität haben wir es mit einer Art neuen Religion oder einem Religionsersatz zu tun. Das ursprüngliche erotische Moment, der Wunsch nach Anerkennung, der sich einst im Leben und in den Bekenntnissen der Heiligen ausdrückte, tritt heute offenbar im Sadomasochismus zutage.“ (Benjamin, Herrschaft, 91). Zum weiterreichenden Thema der Gewalt in heterosexuellen Partnerschaften, die meist von den Männern ausgeht, so die gut belegte These des Artikels, vgl. Dobash, Gewalt, 921– 941. Ausführlicher zum Thema Sexualität und Gewalt vgl. Fiedler, Orientierung, 309 – 466. In seiner nüchternen Studie zum Inzest relativiert Jörg Klein die Größe des Problems massiv. Das Argument, allein die Existenz eines Inzestverbots in allen Kulturen – was nicht der Fall ist – würde auf die Allgemeinheit eines entsprechenden menschlichen Verlangens schließen lassen, wird zurückgewiesen; die Freud’sche ödipale Traumdeutung wird in ihren Grundlagen und ihrer Methodik als vielleicht sinnstiftend aber eben kaum verifizierbar und mithin höchst fragwürdig eingeschätzt; die prominenten poetischen Fiktionen, die inzestuöse Beziehungen beschreiben, interpretiert er als nicht primär an diesem Problem interessiert; und das nachweisliche Vorkommen von Inzestfällen beschreibt er eher als Notbehelfe denn als subjektiv an sich angestrebtes Sexualverhalten – so erscheinen ‚Doktorspiele‘ zwischen Geschwistern und intergenerationelle Sexualbeziehungen (vorwiegend Vergewaltigungen) meist in einem Mangel an außerfamilialen Sexualpartnern zu begründet zu sein und eben nicht aus einer natürlichen Zuneigung zu den Personen des nächsten Umfeldes zu erwachsen (Klein, Inzest, 99 – 155). Vgl. PhE 330, § 59. Detaillierter dazu s.u. III.2.2. PhE 331, § 61. PhE 330 f, § 60. PhE 651, Zu § 77. Schleiermacher spricht von einer „unendlichen Mannigfaltigkeit“ an ‚Familientypen‘ (PhE 331, § 61).
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„Richtung des Geschlechtstriebes aus der Familie heraus.“²⁷¹ In einem Zusatz von 1816 hält Schleiermacher fest: „die Abneigung gegen Verwandten-Ehe ist natürlicher Instinkt.“²⁷² Damit sind die sozial-spekulative, psychologische und biologische Beschreibungsebene zu einem Erklärungsmuster verknüpft. Georg Simmel kritisiert diese für die Inzesttabu-Diskussion paradigmatische Vermengung, stellt aber zugleich in Rechnung, dass nur ein multiperspektivischer Erklärungsansatz der Komplexität jenes juridisch-ethischen Phänomens angemessen ist.²⁷³ So richtig es auch sein mag, soziale Mechanismen nicht spekulativ zu überhöhen bzw. nicht ein idealistisches Destillat zum geschichtlich wirksamen Grund anderweitig deutlich problemloser beschreibbarer Prozesse zu machen, so unumgänglich erscheint doch eine Zusammenschau der Begründungsfiguren, die letztlich zwangsläufig vor die Wahl handlungsleitender Ideen und normativer Regulative stellt.²⁷⁴ Dies zeigt auch die jüngere Monographie von Jörg Klein: Die Gründe für das Bestehen des Inzestverbots sieht er neben dem Abweis von sexueller Vergewaltigung, die der häufigste Fall von Inzest ist, in der „natürlichen Inzestscheu und einem an ihr orientierten menschlichen Ordnungs- und Konformitätsbedürfnis“, das eine entsprechende Orientierung einem jeden Mitglied des Sozialgefüges anmutet; Pendant dazu ist die Abscheu, die sich in einem Nichtinzestuösen einstellt, wenn er sich in die Lage eines Inzesttreibenden versetzt, weil dessen Tun der eigenen basalen Orientierung als viel zu fremd erscheinen muss.²⁷⁵
PhE 331, § 62. Grenzen markiert Schleiermacher in einem ‚unvollkommenen‘ Entwicklungsstand der Familie und der Individualität, wo es kaum Unterschiede zwischen Schwester und Fremder gäbe, auf der einen Seite; und einer notwendigen gewissen Nähe der Geschlechtspartner zueinander, ausgedrückt in der gemeinsamen ‚Nationalität‘, auf der anderen Seite (PhE 331, §63 f). PhE 330, Zusatz zu § 59. Auch Jörg Klein konstatiert, dass die Vertrautheit von Kindheit an allgemein eine Scheu gegenüber der Aufnahme sexueller Beziehungen im entsprechenden sozialen Rahmen entstehen lässt – zu beobachten bei Kibbuzim-Kindern und anderen Sozialisationsformen, die geschwisterähnlich ausfallen, aber durch kein Inzestverbot sanktioniert sind (Klein, Inzest, 44– 84). Eine umfängliche Erklärungskraft jener These bestreitet Simmel, Geschlechter, 93. 98 f. Er rechnet im Anschluss an Maimonides’ ebenso damit, dass die Versuchungen größer seien, miteinander intim zu werden, wenn man eng zusammen lebt. Um hier chaotischen Zuständen zu wehren, sei das Inzestverbot entstanden. „Das Verbot der Verwandtenehe ist eine besonders lehrreiche soziologische Bestimmung, weil seine Verbreitung durch die ganze Welt und unter den verschiedensten überhaupt vorkommenden Kulturen es doppelt annehmbar macht, daß an einer Stelle die eine Ursache, an der zweiten die gerade entgegengesetzte, an der dritten beide zusammen darauf gewirkt haben. Die freundschaftlichen und Bündnisbeziehungen zu fremden Stämmen können das Verbot ebenso hervorgerufen haben, wie das Verhältnis von Feindseligkeit und Raub; die Gleichgültigkeit gegen die Familienmitglieder, mit denen man immer zusammenlebt, ebenso wie die Nähe des Reizes, den dieser Umstand gerade hervorrief und dem man zuvorkommen wollte; der Instinkt der Rassenverbesserung ebenso wie der persönliche Wunsch, an dem Weibe einen möglichst unabhängigen Besitz zu haben.“ (Simmel, Geschlechter, 99 f). Simmel, Geschlechter 100 – 102. Eine übersichtliche Kompilation der Erklärungsmuster liefert Nave-Herz, Familiensoziologie, 130 f. Klein, Inzest, 184– 192. Zitat ebd. 186 [Hervorhebung getilgt – CR].
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Schluss Letzteres Argument betrifft sicherlich den Umgang mit allen sexuellen Devianzen.Was biologisch und sozialisatorisch tiefsitzend erworben wurde, gewinnt eine unwillkürlich affektive Kraft, die zu überwinden kaum durch rein gedankliche Dekonstruktion möglich ist. Vollständige Empathie ist unerreichbar, wenn sich neben gedanklichen Orientierungsmustern und affektiven Erstreaktionen auch die eigene Triebstruktur dem Fremden sperrt. Dies ist sicherlich einer der Gründe, der die Sexualethik zu einer solch komplizierten Disziplin macht. ‚Ethos‘ im Sinne von ‚Brauch‘ will von hier aus stets neu problematisiert, aber auch in seiner konstruktiven orientierenden und stabilisierenden Kraft gewürdigt werden.
1.2.3 Die Sakralität des Eros Folgt man Michel Foucault, erscheint es nahezu aussichtslos, bei Schleiermacher auf das im Titel angegebene Thema zu stoßen. Denn während Gesellschaften wie China, Japan, Indien, Rom und die arabisch-islamischen Gesellschaften eine ‚ars erotica‘ entwickelt hätten, in der es nicht um Nützlichkeitserwägungen und Verbote, sondern allein um die jene befördernde Ausleuchtung der Lust gehe, stehe ‚unsere Zivilisation‘ allein unter der ‚scientia sexualis‘, einem eminent gesellschaftsutilitaristischen und restriktiven diskursiven Machtmechanismus, der die Sexualität zugleich definiere, mit ethischer Bedeutung auflade und der diskriminierenden Kommunikationsform des ‚Geständnisses‘ unterwerfe.²⁷⁶ Nun ist Schleiermacher ein schönes Beispiel dafür, dass die Differenzlinien zwischen den verschiedenen Arten mit der Sexualität umzugehen, keineswegs so eindeutig zwischen den Kulturräumen verlaufen.²⁷⁷ Ganz im Gegenteil hält Schleiermacher den Franzosen in einer lakonischen Notiz zugute: „Bei den Franzosen werden die Naturgefühle als Studium betrieben bei den Deutschen als Observanz.“²⁷⁸ Diese Linie war er nicht gewillt, fortzusetzen. Wir haben uns bereits vor Augen geführt, wie Schleiermacher die Sinnlichkeit von der Libertinage einerseits und der Prüderie andererseits abzugrenzen suchte.²⁷⁹ Bezogen auf die Sexualität im engeren Sinne können wir dieses Doppelverhältnis nun konkretisieren. Obwohl Schleiermacher den Naturzweck der Fortpflanzung von der Sexualität nicht abschnitt, wollte er sie einer entsprechenden Verzweckung nicht preisgeben – diesen Aspekt haben wir in diesem Kapitel bereits benannt,²⁸⁰ müssen
Foucault, Sexualität 1, 69 – 93 (bes. 74 f. 79). 95 – 157. Eine leichte Einschränkung dieser These nimmt auch Foucault selbst vor, führt die mitteleuropäische Spielart der ‚ars erotica‘ allerdings sogleich wieder als Sublimationsgestalt der ‚scientia sexualis‘, als ‚Lust an der Wahrheit der Lust‘ zu (ders., Sexualität 1, 90 f). Zudem ist zu hinterfragen ob die von Foucault angegeben Kulturen der ‚ars erotica‘ tatsächlich solch restriktionsfreie, lustbejahende Räume darstellen. G I, 180., 41. S.o. II.1.1.1. S.o. II.1.2.1.
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ihn nun aber genauer konturieren. Ebenso sah er die Segnungen der Sexualität auf der anderen Seite in Gefahr: in einer Zuspitzung ihrer auf einen „Dienst der Lust“²⁸¹ – dazu sodann mehr.
Die Problematisierung einer naturalen Verzweckung der Sexualität Geht man auf Schleiermachers Problematisierung der Gleichschaltung von Sexualität und Fortpflanzung aus, so wird meist das sechste Gebot seines Katechismus der Vernunft für edle Frauen zitiert: „Du sollst nicht absichtlich lebendig machen.“²⁸² Wollen wir auf den Kern jenes Verbotes stoßen, so erscheint es ratsam, das 3. Gebot hinzuzuziehen: Du sollst von den Heiligthümern der Liebe auch nicht das kleinste mißbrauchen: denn die wird ihr zartes Gefühl verlieren, die ihre Gunst entweiht und sich hingiebt für Geschenke und Gaben, oder um nur in Ruhe und Frieden Mutter zu werden.²⁸³
Es geht Schleiermacher nicht darum, eine scharfe Disparität zwischen sexueller Liebe und Familiengründung aufzubauen. Vielmehr arbeitet er an der Bewusstmachung der Selbstzwecklichkeit der Liebe. Ihre – ja auch von Schleiermacher selbst bekräftigte – Verschränkung mit ökonomischen und weiterreichenden sozialen Aspekten hatte sie in die buchstäblich unwürdige Position gebracht, allein um jener Zwecke willen vollzogen worden zu sein. Ihr hoher emotionaler Eigenwert geriet dabei aus dem Blick. Dies musste auch Auswirkungen auf die weiteren Kontexte des Seelen-, Familien- und Soziallebens haben, im Gebot ausgedrückt mit dem Verlust des ‚zarten Gefühls‘.²⁸⁴ Im Umkehrschluss können wir konstatieren: sollte die Empfindsamkeit im je subjektiven und weiteren gesellschaftlichen Rahmen gesteigert werden, so hatte Schleiermacher in der partnerschaftlichen Liebe eine der jeweils tatsächlich verfügbaren Stell-
ChS 349, Anm. v. 1826/27. K 6. K 3. Mit dem Wachstum häuslicher Intimität im Bürgertum des frühen 19. Jahrhunderts verband sich ein Standesdünkel der Sittsamkeit der Hausfrau. Sexuelles Begehren war ihr nicht angemessen. Ihre Lust sollte sich vielmehr in die ‚reineren‘ Bahnen glücklicher Mutterschaft ergeben. Dem Mann wurden durchaus Gelüste zugestanden, mit denen er allerdings nicht sein Ehebett besudeln sollte. Vgl. dazu Rosenbaum, Formen, 347– 351. Gegen diese Tendenz der Doppelmoral richteten sich die Frühromantiker Schlegel und Schleiermacher. Ihre Strategie war es, die mit außerehelichen Verschuldungen erkaufte Binnenreinheit der Ehe zu desavouieren durch die Rehabilitierung der Sexualität. Dass auch die sittsame Hausfrau sexuelle Bedürfnisse hat und dass es ethisch angemessen ist, sich im Rahmen der Ehe nach Lust und Laune sinnlich zu betätigen; dass nicht die Aufklärung ein Mädchen schändet und verstört, sondern der Bräutigam, der in der ersten Nacht über sie kommt wie ein Vergewaltiger (vgl. Rosenbaum, Formen, 349 f) waren Thesen, die ihrer Zeit nur wenige offene Ohren fanden, sondern als skandalös erschienen.
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schrauben ausgemacht.²⁸⁵ Welche Kälte sich mit einer Verzweckung der Liebe – und sei es zugunsten der Kinderzeugung – einstellt, drückt der junge Schleiermacher mit einem fragenden Gedanken aus: „Wenn einer ißt um Blut zu machen, so medicinirt er eigentlich; was thut der der sich begattet in der ausdrüklichen Absicht ein Kind zu machen.“²⁸⁶ Mit seinem Begriff der ‚erotischen Natur‘ meinte Georg Simmel, unmittelbar an Schleiermachers Philosophie der Individualität anschließen zu können.²⁸⁷ Führen wir uns vor Augen, wie er diese bestimmt, so scheint er auch in seiner sexualethischen These selbst ganz bei Schleiermacher zu sein: Daß sich an den Begattungstrieb, der nur der Fortpflanzung des Lebens dient, die Liebe schloß, die nach diesem gar nicht fragt – das ist eine ungeheure Erlösung vom Leben.Wie die Kunst es ist, sobald sie sich über das Natürliche erhebt, das Religiöse, sobald es von Furcht und Hoffnung frei wird. […] In der erotischen Natur hat sich die Liebe am vollständigsten vom Zeugungszweck emanzipiert – und das Entscheidende, in die Tiefe der Lebens-Metaphysik Hinabreichende ist es, daß dies eben nicht Abstraktion, sondern Natur ist.²⁸⁸
Als weiteren Kommentar hierzu können wir Walter Schubart lesen: Keine erotische Erneuerung ohne den Glauben an den unendlichen Wert der Einzelseele und ohne das anschauliche Erlebnis dieses Wertes! Wo nur Materie sich kuppelt, wo nur Atome und Zellen das Stoffgesetz der Paarung vollziehen, fällt der Geschlechtsinstinkt für die Menschenerlösung aus. Um den Adel der Geschlechterliebe zu haben, muß man an die Göttlichkeit des Menschen glauben.²⁸⁹
In einer gewissen Anknüpfung und Fortführung und letztlichen Überschreitung dieses Gedankens entwickelt Herbert Marcuse die Utopie einer „‚libidinöse[n] Vernünftigkeit‘“, d. h. das hoffnungsvolle Programm, dass der „‚ordnungsloseste‘ aller Triebe“ selbst zur repressionsfreien Quelle von „höheren Formen kultureller Freiheit“ werden kann (ders., Triebstruktur, 171). Dazu bedürfe es einer ‚Transformation von Libido‘, die den Überschritt bedeutet „von der unter das genitale Supremat gezwungenen Sexualität zu der Erotisierung der Gesamtpersönlichkeit. Das ist eine Ausweitung statt einer Explosion von Libido […].“ (ebd., 173). Ebd. 184 nimmt Marcuse gar eine Parallelisierung von Spiel und Arbeit mit polymorpher Erotik und Koitalsexualität vor. „Im Gegensatz dazu [sc. zu unterdrückter und infolgedessen pervertierter Sexualität – CR] würde die freie Entwicklung verwandelter Libido innerhalb gewandelter Institutionen, während sie bisher tabuierte Zonen, Zeiten und Beziehungen erotisiert, die Manifestation bloßer Sexualität vermindern, indem sie sie in eine viel größere Ordnung integriert […]. In diesem Zusammenhang strebt die Sexualität nach ihrer eigenen Sublimierung […].“ (Ebd., 174). G I, 60., 19. Simmel, Geschlechter, 268. Simmel, Geschlechter, 265. Schubart, Religion, 226. Vgl. auch ebd. 103 f: „Das Rätsel der geschlechtlichen Anziehung ist mit dem Rätsel unserer unergründlichen, tief ins Metaphysische hinabgreifenden Persönlichkeit verknüpft, für deren transzendente Natur uns erst das Christentum die Augen geöffnet hat. Damit vollbrachte es eine der größten Leistungen für die Erotik. Ohne die Anerkennung des absoluten Wertes der menschlichen Person in Mann und Frau hätte sich die erlösende Liebe nicht entfalten können. Man kann dieser Liebe keine absolute Bedeutung zuerkennen, wenn man nicht auch der menschlichen
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Dies tat Schleiermacher und wollte mithin das zutiefst menschliche Geschlechtsbedürfnis auch nicht zu einer widergöttlichen Geschlagenheit der menschlichen Natur disqualifizieren. Solches kann in zweierlei Weise geschehen: seiner Dämonisierung und seiner Vergottung, die in eine Vergötzung münden muss.²⁹⁰ Eine Dämonisierung der Sexualität macht Schleiermacher in der Tradition altkirchlicher und römisch-katholischer Heilighaltung des Zölibats aus. Dessen Pendant ist eine Herabwürdigung der Ehe zu einem ‚Spital der Siechen‘, einer Institution zur „Ableitung für die Unkeuschheit“.²⁹¹ Für Schleiermacher kann es hingegen keinen Grund – bei rechter Auslegung auch keinen biblischen²⁹² – geben, den Zölibat der Ehe vorzuordnen und damit die Sexualität von der Gottesgemeinschaft abzurücken.²⁹³ Wir Person absolute Bedeutung zuerkennt. Für wen der Mensch nur Tier ist neben anderen Tieren, für den ist die Geschlechterliebe nur Affekt neben anderen Affekten, von Neid, Wut, Zorn oder Haß nicht wesentlich geschieden. […] Denn nur an der Stelle, wo Menschen das Absolute berühren, können sie ineinander übergleiten und zu geistiger Einheit verschmelzen. Das bloß Stoffliche gehorcht dem Gesetz der Zersplitterung und duldet nicht, daß wir unsere Individualität verlassen.“ So auch beschrieben bei Hirsch, Hauptfragen, 250: „Das Wesen dieses modernen Erotismus ist der Versuch, den menschlichen Eros von seiner personhaften Durchseelung im Willen zur ehelichen Gemeinschaft zu trennen und ihn alsdann sei es zum Herrlichsten und Göttlichsten des menschlichen Lebens emporzulügen, sei es ins Dämonische zu verzerren. […] Das Tiefste, was innerhalb dieses Erotismus wohl möglich ist, zeigt deutliche eine Entartung zum Gegengöttlichen.“ Dazu, die Entheiligung des Eros als Dämonisierung und nicht bloß als Profanisierung zu beschreiben, regt auch Manfred Josuttis an. In seiner Sympathie für die Mystik plädiert er für die Integration der Libido in die Gottesbeziehung. Dies hat durchaus auch bei Schleiermacher Anhalt; wir erinnern uns: „der Zustand des Genusses und der herrschenden Sinnlichkeit hat auch sein Heiliges“ (L 173). Und umgekehrt, so Josuttis, vermöge allein die religiös-symbolische Rückversicherung der Sexualität, diese vor der Verderbnis zu bewahren: „Wenn die Sexualität von der Gottheit getrennt wird, dann geht sie zum Teufel.Was nicht so gut ist, daß auch die Götter es tun, das muß dann böse sein, und umso bösartiger, je unvermeidlicher es immer noch zum Lebensvollzug des glaubenden Menschen gehört.“ (Josuttis, Lebenslust, 20). Vgl. auch Schubart, Religion, 1: „Das Religiöse und das Geschlechtliche sind die beiden stärksten Lebensmächte. Wer sie für ursprüngliche Widersacher hält, lehrt die ewige Zwiespältigkeit der Seele.“ ChS 346 – 348. Zitat: 347. Zwei zentrale Textstellen zieht er heran: Mt 22,30 und 1 Kor 7,7. Vgl. ChS 346 – 348. Dass Christus lehrt, nach der Auferstehung gäbe es keine Ehe, sei keine Herabwürdigung jener als irdischer Sozialform, sondern bloßes Resultat einer stimmigen Jenseitsspekulation, in dem Fortpflanzung undenkbar sei. Dass Paulus allen den ehelosen Stand riet, findet Schleiermacher in der zeitgeschichtlichen Lage der Mission begründet, die sich primär an Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften richtete. Zur Verkündigung dort, wäre eine Familie hinderlich gewesen. In der Gegenwart eines durch und durch christlich geprägten Landes hingegen sei die Mission ein intergenerationelles Geschäft. Fortpflanzung und Erziehung sind der eigentliche Missionsmotor und die diesem angemessene Sozialform ist die Ehe. Weiterführend dazu s.u. III.1.1 sowie III.2.1. Im Rahmen seiner Besprechung der Lehre von der Jungfrauengeburt hält Schleiermacher in der Glaubenslehre fest: „Drittens darf die Vorstellung sich nun auch nicht gründen und eben so wenig schließen lassen wollen auf eine Verwerflichkeit des Geschlechtstriebes, als ob seine Befriedigung etwas sündliches und Sünde hervorbringendes sei.“ (CG2, § 97.2, 81). Zum Zölibat und seiner Problematisierung über eine Relativierung des Geist-Natur-Gegensatzes vgl. auch Savramis, Religion. Weiterführend ist dieses Werk trotz seines vielversprechenden Titels ‚Religion und Sexualität‘ allerdings
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haben gesehen, dass Natur und Geist für ihn nicht zu trennen sind;²⁹⁴ mithin erscheint Schleiermacher Sexualität in Gestalt eines reinen Tributs an die Naturbestimmtheit als menschenunwürdig. Voll Verachtung spricht er von einer solchen Praxis im zweiten Gedankenheft: Was oft Liebe genannt wird ist nur eine eigne Art von Magnetismus. Es fängt an mit einem beschwerlich kizelnden en rapport sezen, besteht in einer Desorganisation und endigt mit einem ekelhaften Hellsehen und viel Ermattung. Gewöhnlich ist auch einer dabei nüchtern.²⁹⁵
Schleiermacher spiegelt hier die seinerzeit gängigen Praktiken der Esoterik in das Geschlechtsverhältnis.²⁹⁶ Wenn die rechte Liebe, wie wir sogleich sehen werden, der Sphäre der Götter angehört, so besitzt auch ihr Gegenteil religiöse Valenz – es verweist in die Sphäre der Magie, die das Göttliche nicht durch Hingabe ehren, sondern durch Technik beherrschen will. Wer in dieser Weise liebt, erniedrigt sowohl seinen Partner als auch sich selbst.²⁹⁷ Verschärft wird das Problem noch dadurch, dass die verschiedenen Behandlungsweisen der Sexualität nicht der freien Wahl unterstellt sind, sondern sich habituell-biographisch²⁹⁸ und gesellschaftlich²⁹⁹ eingraben – wir lasen von der Möglichkeit, sein ‚zartes Gefühl‘ zu ‚verlieren‘.³⁰⁰
kaum, denn Sexualität erscheint hier letztlich nur als Bedürfnisbefriedigung (Savramis, Religion, 193. 198 u.ö.) und ausgehend von seiner eigenen Religionsdefinition (ebd., 191– 193) gelingt es ihm nicht, strukturelle, psychologische oder sonstige Analogien, Funktionsäquivalente oder Interdependenzen zwischen beiden bedeutungsvollen Sphären herauszuarbeiten. Das Buch bleibt an der Oberfläche einer (für modernes protestantisches Denken weitgehend selbstverständlichen) generellen Vereinbarkeit von Religion und Sexualität. S.o. I.4.2. G II, 1., 107. Darauf, dass auch Schleiermacher selbst mit ‚tierischem Magnetismus‘ und Somnamblismus in Berührung kam und später ‚ekelhaftes Hellsehen‘ im eigenen Haus dulden musste, haben wir bereits hingewiesen (s.o. I.2.2). Ausgebreitet findet sich dieser Gedanke bei Walter Schubart: Der Magie, der polytheistischen Zerteilung und Beherrschung des Göttlichen entspreche die Polygamie, die nicht die Einheit und die Hingabe sucht, sondern bloß das Begehrte beherrschen will (ders., Religion 58 – 61). „Das Wesen der Religion ist Hingabe, das Wesen der Magie ist Zwang.“ (Ebd., 65 f [Hervorhebung getilgt – CR]). „Die Liebe will das Geliebte im Glanze des Absoluten sehen. Sie will das Geliebte erhöhen. Der Verschlingungstrieb will es erniedrigen. […] das ist der Gegensatz zu aller wahren Erotik.“ (Ebd., 60 f). Ganz in dieser Linie sieht Schubart „das liebloseste Wort, das jemals über die Ehe gefallen ist“, ihre kantische Definition als „Vertrag auf gegenseitige Benutzung der Geschlechtseigenschaften“ (ebd., 64). Vgl. G I, 44., 16: „Es giebt Menschen denen alles was sie als Mittel behandeln wollten unter der Hand zu einem Zwek wird. Dies ist praktische Empfindsamkeit denn Empfindung ist Genuß ohne Begehren; es giebt andere denen alles was ihnen Zwek war zum Mittel wird; das ist praktische Leidenschaftlichkeit denn Leidenschaft ist Begehren ohne Genuß. Beide kommen zulezt dahin absichtslos zu handeln, jene aus Natur diese aus Willkühr.“ [Hervorhebung – CR] Wir können aus dieser Koordination folgern: Willkürlichkeit und Zwecklosigkeit machen der Getriebenheit der Leidenschaftlichen keinen Eintrag, sondern müssen sie eigentlich noch steigern. Zum Problem, dass die isolierte Leidenschaft nicht nur des Ernstes der Geschlechtsliebe verlustig geht, sondern letztlich sogar der Freude und des Genusses daran vgl. eindrücklich weiterführend Pieper, Liebe, 117– 121.
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Kritik einer religiösen Überhöhung der Sexualität Aber auch, wo eine verehrende Heiligung der Lust versucht wird im Sinne einer direkten Vergöttlichung ihrer, sieht Schleiermacher Gefahr im Verzug. Den „antimodernen und antichristlichen Pol“ in Platons Phaidros gegenüber seinem ‚besonneneren‘ Symposion identifiziert er gerade darin, dass ihm „das Verlangen zu erzeugen […] das höchste und an sich unmittelbar göttliche ist“.³⁰¹ Nicht die Würdigung des Eros stört Schleiermacher hierbei, sondern dessen verabsolutierende Abschottung, die sich darin erweist, dass die ‚Lust zu zeugen‘ überhaupt keine Erweiterung mehr stiftet.³⁰² In einer früheren Notiz drückt er dies folgendermaßen aus: Die antike Vergötterung der Wollust gehört zur zweiten Religionsstuffe und mußte also wie jede einseitige Cultur muß wieder untergehn um mit neuen Elementen geschwängert zu werden um der höhern nemlich der systematischen Plaz zu machen.³⁰³
Die der höheren Religion angemessene Betrachtung des Eros finden wir in seiner theologischen Entlastung. Eine solche muss bewusst vollzogen werden, denn von sich aus drängt er geradezu darauf, religiös gefasst zu werden; Max Weber nennt die ge-
André Béjin gibt zu bedenken, dass sich das allgemeine Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und Erfüllung in eine „Pflicht zum Orgasmus“ verwandelt habe. Ein jeder sei aufgefordert, jeder Lebensdimension das Maximum abzupressen. So verfalle auch die Sexualität einem Leistungsdruck, der seine Maßeinheit im von der Sexologie des 20. Jahrhunderts (maßgeblich durch Alfred Kinsey sowie William Howell Masters und Virginia Johnson) recht einhellig definierten Orgasmus habe (Béjin, Macht, 254– 259). „Sind Begierde, Lust und Genuß erst einmal unter Produktivitäts- und Leistungskriterien gestellt, entweicht aus ihnen die Erfahrung nicht nur der Sinnlichkeit, sondern des Sinns; sie kennen einzig noch Techniken und Zwecke.“ (Ebd., 263. Vgl. dazu auch Bauer, Sexualität, 108 – 114). Einen anderen, aber nicht minder interessanten Erklärungsansatz für den Bedeutungsschwund der Sexualität bei ihrer gleichweisen Überrepräsentation im 20. Jahrhundert versucht Helmut Schelsky: „Erst diese Entwicklung [der Empfängnis- und Krankheitsverhütung – CR] hat neben den sozialen Folgen auch die Chancen der Gefahr und des Leidens in der Sexualität verringert, daß sie ihren vieltausendjährigen zwiegesichtigen Charakter, Daseinserhöhung und –bedrohung zugleich zu sein, fast verloren zu haben scheint zugunsten einer Bändigung und Verharmlosung zum bloßen Genuß. In diesem Vorgange liegt auch die Schwäche der Moral gegenüber dem Geschlechtlichen heute mitbegründet: Die Hemmungen und Sanktionen, die gegenüber dieser in ihrer Eigenbedrohung gebändigten und sozial verhältnismäßig folgenarm gewordenen Sexualität aufgebracht werden können, bestehen eben nur noch in den kaum noch durch aufdringliche Tatsachenfolgen gestützten rein sittlichen Grundsätzen.“ Grundthese Schelskys ist hierbei, dass die Sexualität zu einem Konsumgut herabgewürdigt wurde, das ein Heilsversprechen mittlerer Reichweite bei gleichzeitiger Risikominimierung gibt, den Eros damit aber auch seiner Bedeutsamkeit weitgehend beraubt (ders., Soziologie, 118 – 127, Zitat 120 f). So formuliert in K 3. EP 284. Dahingegen lobt er das Symposion, „weil dem Manne nun nicht mehr [wie beim Phaidros – CR] das jugendliche Verhältnis des Liebhabers zu dem einzelnen Geliebten auch in dem schönsten Sinne genügt zur Darstellung des philosophischen Triebes, sondern er dies nur dem Anfänger für angemessen und anständig erklärt“ (EP 284). G III, 63., 134 f.
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schlechtliche Liebe die ‚größte irrationale Lebensmacht‘, in Form der Erotik ist sie in die ‚außeralltägliche Sphäre‘ aufgestiegen, wird bewusst genossen, schafft anders als die Bruderliebe ‚volle Einswerdung‘ und drängt mit all diesen Qualitäten geradezu zu einer ‚symbolischen‘, ‚sakramentalen‘ Deutung.³⁰⁴ Weil sie entgegen dem geistig-religiösen Erleben noch über den Faktor der naturalen Realitätssättigung verfügt, trete diese ‚innerirdische Erlösungssensation‘ nicht nur in schärfste Konkurrenz zur geistigen Erlösungsreligion, sondern drohe sie gar zu überbieten.³⁰⁵ In Schleiermachers Denken erhält diese Problematik dazu noch eine eigene Pointe. Religion und Kunst fallen unter den Typ des ‚darstellenden Handelns‘, das dadurch ausgezeichnet ist, dass es seinen Zweck in sich selbst trägt. Diese Selbstperformanz und die daraus fließende Suisuffizienz eignet auch der geschlechtlichen Liebe.³⁰⁶ Georg Simmel bringt dies am Beispiel des Kusses prägnant zum Ausdruck: „Der Kuß der Liebe aber symbolisiert nichts, es ist die Sache selbst – wie die Musik, die alles was sie bedeutet, unmittelbar ist.“³⁰⁷
Weber, Zwischenbetrachtung, 556 – 560. Vgl. auch Josuttis, Lebenslust, 14 f: „Für menschliches Erleben ist Sexualität eine Hoch-Zeit. Deshalb bleiben alle Beschreibungen, die sexuelle Praxis rein als Funktionsmechanismus verstehen, unzureichend. Gewiß beruht das sexuelle Begehren auf hormonalen Prozessen. Gewiß dient der sexuelle Akt der Erhaltung der Art und der Gene. Gewiß kommt es dabei zum Abbau von Triebspannung. Und gewiß genießen die Beteiligten den Vorgang als Befriedigung elementarer Bedürfnisse. Aber in all diesen Funktionsabläufen gelingt ganz selbstverständlich die Wahrnehmung eigentümlicher Dimensionen des Lebens. Die Alltagswelt wird verlassen. Augenblicke gesteigerten Daseins, glückhafte Erfüllung stellen sich ein. […] Menschliche Geschlechtlichkeit hat eine transzendierende Tendenz. Deshalb ist die Hoch-Zeit der Sexualität in der Religion als heilige Hochzeit gefeiert worden.“ Als weitere Konvergenzen von Sexualität und Religion nennt Josuttis Entgrenzung, machtvolle Überwältigung, Selbstverlust bzw. Selbstvergessenheit und All-Einheits-Erfahrung, Phantasieanregung und Universalisierungstendenz (ebd., 15 – 17). Weber, Zwischenbetrachtung, 561. Ebenso schätzt es Emanuel Hirsch ein. Auch er sieht eine „Verwandtschaft zwischen dem menschlichen Eros und der Religion“. Das Erotische wurde „in der Geschichte des menschlichen Gottesbewußtseins sowohl zum Gleichnis des Gegengöttlichen wie zum Bilde des Göttlichen […] Daß das Erotische Bilder für das Gegengöttliche hergeben mußte, sonderlich in den Ewigkeitsreligionen, versteht sich fast von selbst. Nichts nimmt den Menschen so tief für sich in Anspruch, nichts bindet ihn vom Innersten her so tief in die Welt hinein wie Liebe und Ehe.“ Das „Ersehnen der erotischen Gemeinschaft“ tritt zur „ewig wahren Sehnsucht und ewig wahren Hingabe“ in Konkurrenz (Hirsch, Hauptfragen, 248). Weniger an bürgerlicher Ethik und christlicher Religion interessiert gibt sich Emile Durkheim dagegen in seinem Urteil optimistischer. Er begreift Erotik und Religion eher als wechselseitige Verstärker. In Zeiten sozialer Umbrüche käme es vermehrt zu irregulären Sexualkontakten, die zur ‚Wiedergeburt des Sakralen‘ führten. Vgl. Durkheim, Formen, 295 – 306, hier paraphrasiert nach Lautmann, Soziologie der Sexualität, 271. Auch unabhängig von Schleiermachers Handlungstheorie wird diese Nähe formuliert, etwa bei James Hinton, der meint, dass „die geschlechtliche Umarmung, würdig verstanden, nur mit Musik und Gebet zu vergleichen ist.“ (Nach der Paraphrase von Ellis, Kunst, 319 f). Simmel, Geschlechter, 272. Schleiermacher schrieb ganz in einem solchen Sinne, wie Umarmungen und Küsse „die Seelen mit einander vermischen und gleich machen“ (BB 137); nannte den Kuss eine ‚göttliche Kunst‘, das ‚zarteste verkörpern des heiligsten Gefühls‘ und fragte: „fühlte ich mich nicht so selig und erhöht von dem ganzen Zauber der neuen Welt der Liebe übergossen, wenn Du mich in Deine Arme schließest und Deine Lippen auf die meinigen drüktest?“ (BB 218).
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Die ‚wahre himmlische Venus‘ Erst auf Grund der angezeigten Spannungslage bzw. Verwobenheit, wird die Emphase Schleiermachers verständlich, mit der er sich über die gelungene Darstellung der Liebe in Schlegels Lucinde äußert. Ob sein Urteil dem Werk angemessen erscheint, mag hier zweitrangig sein; wichtig ist Schleiermachers eigene sexualethische Programmatik, die in seiner Rezension aufleuchtet. So lobt er die ‚dithyrambische Fantasie‘, „weil hier die freiste Lust, bei der an gar keinen Aberglauben, oder irgend eine Statthalterschaft Gottes auf Erden zu denken ist, mit der geistigen Anschauung der Liebe so innig eins ist,“³⁰⁸ und einige Seiten später: Nun aber die wahre himmlische Venus entdeckt ist, […] sollen wir nun erst recht verstehen die Heiligkeit der Natur und der Sinnlichkeit, […] in einem weit höheren Sinn als ehedem, wie es der neuen schöneren Zeit würdig ist; die alte Lust und Freude und die Vermischung der Körper und des Lebens nicht mehr als das abgesonderte Werk einer eignen gewaltigen Gottheit; sondern Eins mit dem tiefsten und heiligsten Gefühl, mit der Verschmelzung und Vereinigung der Hälfte der Menschheit zu einem mystischen Ganzen. Wer nicht so in das Innere der Gottheit und der Menschheit hineinschauen, und die Mysterien dieser Religion nicht fassen kann, der ist nicht würdig ein Bürger der neuen Welt zu sein.³⁰⁹
Die wahre Sakralität des Eros liegt für Schleiermacher gerade in seiner Diesseitigkeit. Selbst weder Gott noch Dämon, steht er in keiner Opposition oder Konkurrenz zur Religion und kann daher in deren Gesamterleben integriert werden. Wo dies gelingt, entfaltet der Eros seine größte Kraft, weil er der Realisierung seiner Verinnerlichungspotenz gemahnt wird und die Selbstaufhebung seiner Transzendierungskraft vermieden wird. Die Religion kann sodann durch ihn nur gesteigert werden, weil er die ganze naturale Seite des Menschen integriert. – Ist das religiöse Erleben eingebettet in den Strom innerweltlicher Vollzüge und darauf angewiesen, sich anhand und mittels ihrer zu artikulieren, so stellt die Sexualität dafür eine in vielerlei Hinsicht herausragende Möglichkeit dar. Alle Aspekte, die einen der Hybris verfallenen Eros der Religion gefährlich werden lassen können, erweisen sich bei gelingender Einbettung als ihr äußerst zuträglich.³¹⁰ Die genauere Form dieser Einbettung konnte in verschiedenster Weise geschehen. Paradigmatisch seien hier zwei Extreme aus Schleiermachers Zeit benannt. Das eine besteht in einer Totalisierung des Religiösen, die alle Lebensregungen unmittelbar auf seine Symbole verpflichtet, so geschehen im Herrnhutertum, wo entsprechend auch mit einer Sexualisierung der Christusbeziehung experimentiert wurde. In der Seitenwundenmystik versenkten sich von Zinzendorf und die Seinen in Jesu Marterzeichen wie in ein weibliches Genital, nämlich „einerseits als Geburtsorgan, andererseits
L 165. L 194. Entsprechend optimistisch äußert sich auch Walter Schubart: „An der echten Geschlechterliebe stirbt die Gottesliebe nicht, sondern sie rankt sich daran empor. Der Eros endet in Gott, wenn er den Kreis seiner Bewegung nicht vorzeitig abbricht.“ (Schubart, Religion, 232).
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als Ort der maximalen Befriedigung“³¹¹, in das man als ‚Blutwundenfischlein‘, ‚Wunden-Täucherlein‘ oder ‚Kreuzluftbienelein‘ eindrang.³¹² Auch Jesu Glied bedachte von Zinzendorf anhand des Beschneidungsritus erotisch, sprach davon, Jesu ‚Glied für ihn zu tragen‘ und besang die ‚heilge bunds-glieds-spalte‘.³¹³ Das andere Extrem einer Koordination von Religion und Eros liegt in einer Totalisierung des Eros, die auch die Religion vollständig absorbiert. Diese Option stand Schleiermacher in Gestalt seines Zeitgenossen Friedrich von Hardenberg vor Augen. Aus dessen liebender Anbetung zu seiner Verlobten Sophie von Kühn erstand ihm nach deren frühem Tod und seinem persönlichen Karfreitag der Todessehnsucht seine Religion. Er schreibt: „Ich habe zu Söfchen Religion – nicht Liebe. Absolute Liebe, vom Herzen unabhängige, auf Glauben gegründete ist Religion.“³¹⁴ Schleiermacher hatte seine Zweifel an der Reichhaltigkeit einer solchen Religion. Nach seiner Lektüre des Fragment gebliebenen Heinrich von Ofterdingen schreibt er an Eleonore Grunow über Novalis’ Beschreibung der Mathilde, die wohl seine verstorbene Angebetete darstellen soll: Ich glaube nicht, daß er seine Geliebte richtig gewählt oder vielmehr gefunden hat, ich überzeuge mich fast, sie würde ihm zu wenig gewesen sein, wenn sie ihm geblieben wäre. Meinen Sie nicht auch, daß man dieses aus seiner Mathilde schließen kann? Scheint sie Ihnen nicht im Vergleich mit der Art, wie alles Andre ausgestattet ist, etwas zu dürftig für den Geist? und würde er nicht eine andre haben schildern müssen, wenn ihm sein Gemüt mit dem Bilde einer reicheren Weiblichkeit wäre erfüllt gewesen?³¹⁵
Statt einer sachlichen Vermischung – sei es im Sinne einer Erotisierung der Religion, sei es im Sinne einer christlich imprägnierten Sakrifizierung des Eros, bedient sich Schleiermacher einer ästhetischen Koordination beider Lebensmächte. Weder knüpft er an einen religiösen Vorstellungsgehalt unmittelbar sexuelle Phantasien, noch verklärt er einen Gegenstand geschlechtlicher Liebe ins Religiöse. Vielmehr wird bei ihm die Geschlechtsliebe zur Analogie für das religiöse Erlebnis und ihre Semantik zum Code für das religionspsychologisch Unaussprechliche.³¹⁶ Eine schiedliche Trennung ist hier mitnichten der Fall, allerdings handelt es sich meines Erachtens um
Oskar Pfister, Die Frömmigkeit des Grafen Ludwig von Zinzendorf. Eine psychoanalytische Studie, Leipzig 21925, 58, zit. nach Josuttis, Lebenslust, 34. Josuttis, Lebenslust, 34. Josuttis, Lebenslust, 35 f. Zit. n. Kluckhohn, Liebe, 468. Zit. n. Kluckhohn, Liebe, 479. Vgl. Hartlieb, Geschlechterdifferenz, 259 f: „Die erotische Metaphorik der heterosexuellen Liebesvereinigung bildet das sprachliche Bild, das ästhetisch zusammenhält, was begrifflich getrennt wird. Die Einheit der ‚religiösen Uraffektion‘ in der Differenz von Anschauung und Gefühl, die im sprachlichen Ausdruck unvermeidlich in ein Nacheinander aufgelöst wird, findet auf der metaphorischen Ebene ihren Ausdruck im Bild des Liebesaktes, in dem Frau und Mann in ihrer Kompementatrität verschmelzen.“
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eine hinreichend sublime Variante der Koordination beider Lebenssphären, sodass sie weder die religiöse Pietät noch den lebensweltlichen Realismus beleidigt. In der zweiten Rede über die Religion finden wir beide beschriebenen Formen der Schleiermacherschen Verbindung – die Geschlechterliebe als Analogie des religionsphänomenologisch-begrifflich Unbeschreiblichen und als möglicher Ort religiöser Erfahrung – zusammengestellt und können mit ihrer Vergegenwärtigung unseren Durchgang noch einmal konkretisieren und bündeln. Vom heiligen Moment, ‚noch ehe Anschauung und Gefühl auseinandertreten‘ schwärmt der Redner analogisierend: „Flüchtig ist er und durchsichtig wie der erste Duft womit der Thau die erwachten Blumen anhaucht, schamhaft und zart wie ein jungfräulicher Kuß, heilig und fruchtbar wie eine bräutliche Umarmung;“³¹⁷ – um sogleich auf den Aspekt der lebensweltlichen Auffindung der Religion³¹⁸ umzuschwenken – „ja nicht wie dies, sondern er ist alles dieses selbst. Schnell und zauberisch entwikelt sich eine Erscheinung eine Begebenheit zu einem Bilde des Universums.“³¹⁹ Damit lenkt Schleiermacher wieder zurück zum Aspekt der Analogisierung und erreicht nunmehr fast eine zinzendorfsche Schwüle, die allerdings nicht den Heiland in den Blick nimmt, sondern das abstraktere Relat des Universums, womit die religiöse Imagination zumindest nicht alle Hüllen fallen lässt: Ich liege am Busen der unendlichen Welt: ich bin in diesem Augenblik ihre Seele, denn ich fühle alle ihre Kräfte und ihr unendliches Leben, wie mein eigenes, sie ist in diesem Augenblike mein Leib, denn ich durchdringe ihre Muskeln und ihre Glieder wie meine eigenen, und ihre innersten Nerven bewegen sich nach meinem Sinn und meiner Ahndung wie die meinigen. Die geringste Erschütterung, und es verweht die heilige Umarmung, und nun erst steht die Anschauung vor mir als eine abgesonderte Gestalt, ich meße sie, und sie spiegelt sich in der offenen Seele wie das Bild der sich entwindenden Geliebten in dem aufgeschlagenen Auge des Jünglings, und nun erst arbeitet sich das Gefühl in dem Innern empor, und verbreitet sich wie die Röthe der Schaam und der Lust auf seiner Wange. Dieser Moment ist die höchste Blüthe der Religion.³²⁰
Ebenso wie die Liebe ist auch die Religion fragil und intensiv zugleich. Sie kann aktiv angestrebt und vollzogen werden, die Erlebnisqualität ihrer Vollendung allerdings entzieht sich der Machbarkeit. Eine einzige äußerliche Störung kann den erhebenden Augenblick tiefer (All‐)Einheit zerreißen. Die oben beschriebene wechselseitige Identifikation, die in ihrer leib-seelischen Verbundenheit zum Konstituens der Ehe wird,³²¹ beschreibt Schleiermacher hier in großer Plastizität als vollkommen organisch-psychische Durchdringung.³²² Das bedeutet, nicht der Liebesakt an sich wird für R 221 [Hervorhebung – CR]. Joachim Ringleben spricht von der „Liebe als Entdeckungszusammenhang der Religion für Schleiermacher.“ (SchlA 19, 420, zit. nach Hartlieb, Geschlechterdifferenz, 260). R 221. R 221 f. S.o. II.1.2.1. Anders als Elisabeth Hartlieb sehe ich hierin keine Aktualisierung der geschlechtlichen Besitzund Herrschaftsgefälles, insofern sich das männliche Subjekt das weibliche Universum ganz zu Eigen
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Schleiermacher zur Metapher der religiösen Erhebung, sondern seine sublimste ethische Form: die Liebe in der Ehe, bzw. – des höheren Aufregungsfaktors wegen – das Liebeserlebnis der Hochzeitsnacht.³²³
2 Natur- und sozialbasiert: Die Konstruktion der Geschlechterrollen Mit der Feminismus- und nachfolgenden Genderdebatte hat sich ein breites wissenschaftliches, politisches und ideologisches Feld etabliert, in dem Meinungen von größter Gegensätzlichkeit aufeinandertreffen. Zur Genderdebatte hat Schleiermacher freilich wenig beizutragen, werden hier doch Orientierungsmuster problematisiert, die für Schleiermacher als Kind seiner Zeit noch selbstverständlich in Geltung standen. Für den schon älteren feministischen Diskurs gilt er allerdings – wie sich im Folgenden zeigen wird – als einer der klassischen Autoren und wird zum Teil von unterschiedlichsten Lagern in Beschlag genommen.³²⁴ Ermöglicht wird dies durch die – gemäß gegenwärtigen Kategorien – ambivalente Stellung, die er selbst einnimmt, insofern er aus seiner Hochschätzung der Weiblichkeit weniger die politisch-soziale Egalität der Geschlechter ableitet, als vielmehr ein seiner Zeit entsprechendes Ergänzungsmodell vertritt.³²⁵ So abständig manche darin vorgeschlagenen Lösungen auch aussehen mögen, so aufschlussreich sind sie doch meines Erachtens für eine Auffindung der Spannungslinien, die sich auch gegenwärtig im partnerschaftlichen und familialen Leben ergeben; denn zum einen stehen viele Rollenbilder für Frauen und Männer, Mütter und Väter trotz der Etablierung neuer Vorstellungen noch immer
macht (dies., Geschlechterdifferenz, 262). Die wechselseitige Durchdringung der Liebe wird hier lediglich kontingenterweise aus der Perspektive eines Mannes beschrieben. Das Eindringen in die Muskeln, Glieder und Nerven des/der Geliebten ist hier zudem überhaupt nicht phallisch konnotiert. Dass hier eine ‚zufällige sexuelle Begegnung‘ geschildert würde (Hartlieb, Geschlechterdifferenz, 265), sehe ich nicht. Vielmehr deutet zum einen sachlich vieles darauf hin, dass Schleiermacher hier das erste sich einander Anvertrauen in der Ehe beschreibt. ‚Entwindungen‘ und ‚Scham‘ haben auch hier ihren Ort. Syntaktisch erscheint es mir zudem unausweichlich anzunehmen, dass die geschilderte Szene als die Konkretion der unmittelbar zuvor eingeführten ‚bräutlichen Umarmung‘ zu verstehen ist. Hermann Walsemann zeigt auf, dass es dafür gute Gründe gibt, verfolgt allerdings selbst eine klare Tendenz, indem er eine biographische Scheidung vornimmt zwischen dem jungen ‚weibisch‘ und frühromantisch beeinflussten Schleiermacher und dem reifen Kirchenlehrer und eine an Brüchen reiche Entwicklung insinuiert: „Konnte sich denn Schleiermacher mit dem Inhalt des ‚Katechismus‘, wie der Lucindebriefe, identifizieren? – Nach seiner besseren Ueberzeugung vermutlich nicht. Eine innere Stimme mag ihn davor gewarnt, sein guter Genius, der ihn zu ganz anderen Wahrheiten führen wollte, davor bewahrt haben. […] Wofür er selbst [durch anonyme Herausgabe – CR] nicht hat verantwortlich sein wollen, dafür sollte man ihn ohne bessere Beweise, als vorliegen, auch nicht verantwortlich machen.“ (Walsemann, Frauen, 460 – 462). Zu weiteren Positionen; auch jenen, die dahingegen den frühen Schleiermacher betonen vgl. Hartlieb, Geschlechterdifferenz, 14– 17. Seine in dieser Hinsicht großen Nähen zu Fichte und noch mehr zu Schelling, Novalis und Ritter fallen sofort ins Auge. Prägnant zu deren Geschlechtertheoremen vgl. Bennent, Galanterie, 113 – 138.
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in Geltung – oft sogar trotz erlebter oder eingesehener Widersprüche parallel zu diesen – und entfalten ihre Wirkung in externen Ansprüchen und internen Vorstellungen und Sehnsüchten; zum anderen sind bestimmte Grundkonflikte, die sie markieren, auch unabhängig von ihrer geschlechtlichen Kodierung gegeben und müssen bewältigt werden, wie z. B. der Gegensatz von emotionaler und rationaler Weltanverwandlung, die Wertungsdifferenz von Haus-, Fürsorge- und Pflegearbeit einerseits und Erwerbsarbeit andererseits, oder das generelle Problem der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.³²⁶ Anders als die Überschrift vielleicht suggerieren mag, soll es uns im Folgenden mithin nicht um die Frage gehen, ob die Geschlechterdifferenz nun natur- und/oder sozialbestimmt ist – hier wollen wir es bei Schleiermachers methodischem Hinweis bewenden lassen, dass sich dies gar nicht entscheiden lässt, weil dazu letztlich undurchführbare pädagogische und soziologische Forschungsarrangements nötig wären.³²⁷ Dass Schleiermacher viele Aspekte der Geschlechtlichkeit als naturgegründet beschrieb, die heute gängigerweise v. a. als gesellschaftliche Konstruktionen angesehen werden, ist selbstverständlich und bedarf keiner größeren kritischen Aufmerksamkeit. Wir wollen in diesem Kapitel vielmehr, wie bereits angedeutet, den Fokus auf die Orientierungsleistungen legen, die Schleiermacher aus den Bestimmungen der Geschlechterdifferenz für Ehe und Familie zieht. Zunächst gilt es, (1.) seine Geschlechterbilder herauszuarbeiten. Eng damit verknüpft ist (2.) die Faktizität und Notwendigkeit von innerehelicher Aufgaben- und Arbeitsteilung. Schließlich kommen wir (3.) auf sein Prinzip – das sich angesichts der bestehenden Verhältnisse eher als Ideal ausnimmt – von der Symmetrie der Geschlechter. Dessen Würdigung ist ohne eine Kritik seiner Form der Ausbalancierung nicht möglich.
2.1 Frauen- und Männerbilder Die Basalität der Geschlechtsdifferenz Mit der Geschlechtsdifferenz ist eine Sortierungshinsicht getroffen, der Schleiermacher einige Bedeutung beigemessen hat. In seinem Psychologiekolleg thematisiert er sie als die erste der ‚Differenzen der Einzelwesen untereinander‘.³²⁸ Er argumentiert: darum ist diese Stellung angemessen, weil ich überall gesagt, daß in dem ersten Anfang keine Trennung des Geistigen und Leiblichen sei. Es ist immer ein Streit gewesen, ob in Beziehung auf
Ähnlich urteilt auch Hartmut Rosa im Rahmen seiner Resonanztheorie hinsichtlich der bleibenden Aktualität der Dichotomie, wie sie in Schillers Die Glocke beschrieben ist (Rosa, Resonanz, 348). Vgl. Psy 48 – 50. Zudem widerspräche es Schleiermachers ethischem Grundansatz des steten Ineinanders von Naturalität und Kulturalität, wenn man die Frage komplett nach einer Seite hin auflöste. Psy 47– 58.
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das psychische Gebiet eine Differenz des Geschlechts zuzugeben sei, und ob sie sich nicht beschränke auf die organische Differenz und auf die verschiedene Erziehung.³²⁹
Für Schleiermacher muss gelten, „daß die Voraussetzung einer psychischen Differenz in der Natur selbst liege.“³³⁰ Die Geschlechtsdifferenz kann mithin als der paradigmatische Fall für die in seiner Ethik stets beanspruchte wechselseitige Durchdringung von Naturalität, und Sozialität in psychischer Bestimmtheit gelten. Hinzu kommt der Vorteil, dass jene Differenzbestimmung trotz ihrer großen systemischen Spannweite von äußerster Klarheit ist, insofern sie – für Schleiermacher und seine Zeitgenossen – schlicht binär verfasst ist. Dabei ist sie nicht nur ein Fall von anthropologischer Differenz, sondern deren grundlegendste Bestimmung. Sie präfiguriert und prägt in eminenter Weise die Persönlichkeitsbildung,³³¹ sodass sich Schleiermacher im Brouillon sogar zu der Spitzenthese hinreißen lässt: „es wäre toll keinen Geschlechtsunterschied der Seele anzuerkennen.“³³² Wenn er entsprechend in der Ethikvorlesung von 1812/13 formuliert, „Der Geschlechtscharakter ist mit der Persönlichkeit zugleich gegeben, und zwar nicht als Geschlechtsfunction allein, sondern durch den ganzen Leib durchgehend“,³³³ so hat er damit eine Diagnose gestellt, die noch immer uneingeschränkt gilt³³⁴ und zugleich ein Problem markiert, das sich jedweder Dekonstruktionsbemühung als unüberwindlich darstellen muss, solange sie noch auf Geschlechtlichkeit als solche reflektiert.³³⁵ So klar für Schleiermacher die Bedeutung der Geschlechtsdifferenz ist, so schwer tut er sich mit der Angabe der Reichweite entsprechender Bestimmungen. Seinen Liberalismus, der in seiner Religionstheorie und Theologie scharfe Konturen annimmt
Psy 47 f. Psy 48. Vgl. PhE 320, § 1: „[…] so ist auch die Persönlichkeit nicht für sich gegeben, sondern mit ihrer Art zu werden, nemlich der Geschlechtsdifferenz, zugleich, und in der bestimmten Form der Race und der Nationalität.“ PhE 131. Gemäß seiner streng apersonalistischen Jenseitsvorstellung hat er daraus keine eschatologischen Konsequenzen gezogen. Kann für ihn die Einzelseele als leibbezogene nicht außerhalb des Fleisches gedacht werden, so sind auch Spekulationen über himmlische Geschlechtlichkeit hinfällig. Vgl. dazu auch Hartlieb, Geschlechterdifferenz, 291– 294. PhE 321, § 7. Schon im Kleinkindalter übernehmen Jungen und Mädchen ganz unbewusst unterschiedliche Bewegungsmuster. Noch bevor sie auf ihr Geschlecht reflektieren können, haben sie einen spezifischen leiblichen Ausdruck erworben. Vgl. dazu Rosa, Resonanz, 124– 127. Selbst die hohe Sensibilität, die sich in den letzten Jahrzehnten in einem bestimmten (v. a. akademischen) Milieu gegenüber geschlechtlicher Diversität eingestellt hat, die Anerkennung dritter Geschlechtsidentitäten und die Absage an die aus ihrer natürlichen Grundiertheit erwachsende Eindeutigkeit der Geschlechtlichkeit hat sie als solche nicht zu relativieren vermocht. Hinzu tritt die faktisch bleibend hohe Evidenz, die das Orientierungsmuster der Geschlechterdualität im Alltagsleben nicht weniger Zeitgenossen genießt; an dessen Aufrechterhaltung sich auch starke Marktinteressen knüpfen. Vgl. auch die Ausführungen zur ‚sozialen Polarisierung der Geschlechter‘ bei Schelsky, Soziologie, 16 – 26.
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und weitreichende Folgerungen erlaubt, will er auch in seiner Geschlechtertheorie nicht einfach fahren lassen. Dabei verkommt er ihm allerdings z.T. geradezu zum Feigenblatt einer durchgehend bürgerlich-konservativen Aufteilung. Wie anders soll man es sich erklären, wenn er in seinem Psychologiekolleg einräumt: „Nun haben wir keinen Grund, eine absolute quantitative Differenz in den geistigen Funktionen bei beiden Geschlechtern anzunehmen, sondern wir müssen fragen, was ist das Hervortretende bei dem weiblichen Geschlecht?“³³⁶; um kurz darauf festzusetzen: „Das bei dem weiblichen Geschlecht Hervorragende müssen wir nun bei dem männlichen als einen Mangel denken, und darin liegt eben die Bestimmtheit beider Geschlechter.“³³⁷ Eine strenge Kontradiktion liegt zwischen beiden Zitaten freilich nicht vor, wohl aber eine perspektivische Umkehrung.³³⁸
Die Prädominanz des männlichen Geschlechts Die beschriebene Sortierungsweise Schleiermachers hat Folgen, wie wir es bereits an seiner Hinführung zum Thema ablesen können. Um die Problematik einer genauen psychologischen Lozierung der Geschlechtsdifferenz wissend, was Schleiermacher mit einer Reihe von Fragen und der Differenzierung dieser markiert, nimmt er in seiner Psychologievorlesung den Ausgang bei der geschichtlichen „Gesamtheit ihrer [sc. der Lebensfunktionen – CR] Entwicklung“, um hier zunächst festzuhalten, dass „das männliche Geschlecht als das vorangehende und leitende, das weibliche als das nachfolgende“³³⁹ erscheint. Schleiermacher räumt damit ein, dass die Geschlechtsdifferenz durch die bürgerlichen Verhältnisse festgeschrieben ist.³⁴⁰ Unabhängig von dieser Einsicht meint er allerdings sodann dennoch, natürliche Gründe für die Dominanz des männlichen Geschlechts angeben zu können. So nennt er dessen größere ‚körperliche Kraft‘, die für den ‚Naturbeherrschungsprozeß‘ notwendig sei; und seine Unabhängigkeit von Zyklen, wie der Schwangerschaft und Kinderpflege.³⁴¹ Zwar spielt Psy 56. Psy 58. Folgt man Anke Spory, die die Verfestigung der Geschlechterdifferenz besonders in der Gestalt einer Definition der Frau und der ihr angestammten Sphäre erblickt, so erscheint Schleiermachers Darstellungsrichtung in diesem Zitat keineswegs beliebig. Vgl. Spory, Familie, 39 – 45. Zur darüber hinausgehenden Pathologisierung des weiblichen Geschlechts im frühen 19. Jahrhundert, die immer auch an die Sexualitätskonstruktion dessen gehängt wurde, vgl. Eder, Begierde, 142– 147. Zwar finden sich bei Schleiermacher auch Hinweise auf die Kontingenz von Geschlechterbildern und –asymmetrien, die einen pragmatischen Umgang fordern; es überwiegen jedoch, wie sich zeigen wird, die Konstruktionen der Geschlechter als prästabilierte Entitäten, die mithin eine weit größere Geltung für jene behaupten. Psy 50. Vgl. Psy 50 f. Vgl. auch L 163: „[…] in einer solchen Welt, wo die bürgerlichen Einrichtungen die Frauen so sehr erdrücken […].“ Schleiermacher drückt dies in indirekter Form aus: „Die Tätigkeit des bürgerlichen Lebens hat keinen andern Wechsel als den von Schlaf und Wachen, das weibliche Geschlecht ist aber noch einem andern Wechsel unterworfen, so daß es immer von der physischen Seite her im Nachteil steht.“ (Psy 51). Psy 52 konkretisiert er diesen Punkt: „Der letzte Punkt war doch nur das Organische, daß die
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Schleiermacher auch mit dem Gedanken an die Möglichkeit einer gesellschaftlichpolitischen Dominanz der Frauen; dies allerdings nur, um angemessener Weise zu folgern: „[…] werden wir uns das denken können, ohne unser Bild von der ganzen menschlichen Natur zu verändern?“,³⁴² was zu tun er selbst nicht bereit war.
Würdigungen des weiblichen Geschlechts Was sich hier zunächst recht hart anhört, wird in der Durchführung deutlich abgemildert, insofern Schleiermacher – anders als etwa Fichte³⁴³ – von einer echten Verehrung des weiblichen Geschlechts erfüllt war. Er erhielt sich das Bewusstsein, dass er „nur durch die Kenntniß des weiblichen Gemüthes […] die des wahren menschlichen Werthes gewonnen“³⁴⁴ hatte. An die Schwester schrieb er die oft zitierten Zeilen: Es liegt sehr tief in meiner Natur, liebe Lotte, daß ich mich immer genauer an Frauen anschließen werde als an Männer, denn es ist so vieles in meinem Gemüth was diese selten verstehen.³⁴⁵
Er ging sogar so weit, den Gedanken zu äußern:
Weiber empfangen und gebären, und daß sie in dem dazwischen liegenden Zeitraum eines solchen Einflusses auf das Gesamtleben [wie ihn dessen Leitung bedeuten würde – CR] nicht fähig sind“. Psy 51. Auf Grundlage seines genannten Superioritätsprinzips, bei dem einem Hervorragenden immer ein Mangel beim anderen Geschlecht entsprechen muss, ist eine Egalisierung der Geschlechter überhaupt nicht denkbar. Soll dem weiblichen Geschlecht auch die Möglichkeit von Dominanz zugesprochen werden, so genügt es auf dieser Grundlage nicht, das Frauenbild zu ändern, sondern auch das Männerbild muss im Zuge dessen in sein Gegenteil verkehrt werden. Auf ein weiteres Problem stößt uns sachlich Georg Simmel. Die bei Schleiermacher als wechselseitige Bestimmung konzipierte Geschlechterdefinition ist bei anderen Konzepten gar nicht vorhanden und selbst bei Schleiermacher nicht gänzlich ausbalanciert. Denn insofern Männlichkeit und Objektivität zusammengeschlossen wird, wie wir unten noch sehen werden, erscheint das Männliche zugleich als das allgemein Menschliche. Das Weibliche tritt demgegenüber als ein Besonderes und mithin Nachgeordnetes auf. Vgl. Simmel, Geschlechter, 200 – 223: Das Relative und das Absolute im Geschlechter-Problem. Zugleich gilt das Paradoxon, dass Weiblichkeit eine Eigenart an sich ist, während sich Männlichkeit stets nur in Beziehung auf dieses Andere, weil eben Weiblichkeit als zutiefst eingewurzelte Seinseigenschaft bestimmt ist, während Männlichkeit in ein Tableau unterschiedlichster Eigenschaften und damit deutlich relativ gesetzt ist. Der Mann ist von seinem Geschlecht nicht so abhängig, er ist nicht so naturbestimmt wie die Frau (ebd., 204 f. 208 f). Bereits hier zeigt sich, wie die Geschlechterkonstrukte ineinandergreifen und sich gegenseitig stabilisieren, Vgl. Fichte, Zufällige Gedanken einer schlaflosen Nacht (1788), in: ders., Politische Fragmente, hg.v. Reinhard Strecker, Leipzig 1965: „Daher Verachtung […] des weiblichen Geschlechts – (dieser ist nicht entgegen, der galante Ton gegen dieses Geschlecht – er am meisten zeigt es eben an, wie sehr wir sie verachten)“ (zit. n. Bennent, Galanterie, 122). Zit. n. Dilthey, Leben I, 51. Brief 587, 46.
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Mir geht es überall so, wohin ich sehe, daß mir die Natur der Frauen edler erscheint und ihr Leben glücklicher, und wenn ich je mit einem unmöglichen Wunsch spiele, so ist es mit dem, eine Frau zu sein.³⁴⁶
Um solcherlei Bewertungen einordnen zu können, ist es nun notwendig, Schleiermachers Charakterisierungen der Geschlechter genauer zu vergegenwärtigen.
Systemische Orientierungsversuche Im Brouillon und der Ethikvorlesung von 1812/13 legt Schleiermacher Kataloge vor, die eine überblickshafte und zugleich synthetisierende Orientierung hinsichtlich der Verfasstheit der Geschlechter leisten sollen. In der früheren Vorlesung begegnet ein solcher in Gestalt einer Ableitungsreihe. Diese sei der Übersichtlichkeit halber einmal tabellarisch dargestellt:³⁴⁷ weiblich
männlich
Physis: Geschlechtsfunktion (Stärke)
Empfangen Sensibilität
Zeugen Muskelkraft
Psyche: Wahrnehmung
Gefühl
Anschauung
Ethik: Erkennen Darstellen
höheres Gefühl Sitte / gemeinsch. Darst.
Denken Kunst / individ. Darst.
Von den physischen ‚Geschlechtsfunktionen‘ des Zeugens und Empfangens leitet Schleiermacher die bestimmenden psychischen Wahrnehmungsmuster ab. Zwei Bestimmungen sind hierbei entscheidend: einerseits das Penetrieren an sich, das mit Aktivität assoziiert wird gegenüber dem Gewährenlassen, dem Passivität korrespondieren soll; andererseits die schöpferische Potenz, die im Zeugungsakt liegt, gegen-
Aus einem Brief an die Schwester, zit. n.Walsemann, Frauen, 454. Textgrundlage ist PhE 131: „In der Geschlechtsfunction Zeugen und Empfangen. Dem entspricht Uebergewicht der Muskelkraft und der Sensibilität. Diesem psychisch im Wahrnehmen Uebergewicht der Anschauung und des Gefühls. Und von hier aus läßt sich nun das Ethische auffinden. Für das Erkennen männlich Uebergewicht des Denkens, weiblich Uebergewicht des höhern Gefühls. Für das Darstellen männlich Uebergewicht der Kunst oder der individuellen Darstellung, weiblich Uebergewicht des Costüms, der Sitte als gemeinschaftliche Darstellung. Denn die Kunst erfordert Ideen, Gedachtes. Das Gefühl als die ganze Individualität in sich enthaltend kann nicht wieder individuell dargestellt werden, nur in der ganzen Reihe mit dem Charakter der Gemeinschaftlichkeit.“ Bei der Darstellung habe ich mich nah an Hartlieb, Geschlechterdifferenz, 143 orientiert, allerdings noch wenige Präzisierungen vorgenommen.
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über dem Entwickeln des darin Grundgelegten im Empfangen und Austragen.³⁴⁸ Dem weiblichen Geschlecht entspreche daher das rein passive und nachvollziehende Gewahren des Gefühls, dem männlichen hingegen die Anschauung mit ihren aktivkonstruktiven Anteilen.³⁴⁹ Zu den ethischen Charakteristika der Erkenntnismodi ist es von hier aus kein weiter Weg mehr. Auf der Ebene des Darstellenden Handelns hingegen kommt ein weiteres Kriterium hinzu, nämlich die Differenz von Individuellem und Allgemeinem. Dem weiblichen Geschlecht sei mit seiner Gefühligkeit zwar die individuelle Sphäre angewiesen, in seinen Produktionen sei es allerdings auf die Sitte, d. h. das Allgemeine und Vorgegebene angewiesen, weil das Individuelle ‚nicht wieder individuell dargestellt werden‘ könne. Dieser Spitzfindigkeit zum Trotz lässt sich die Frage stellen, ob sich aus Schleiermachers Prämissen nicht auch ganz umgekehrte Folgerungen ziehen lassen. Wenn das weibliche Geschlecht ein besseres Sensorium für das Allgemeine und die Sitte besitzt, erscheint es dann nicht geradezu als prädestiniert für die Staatsleitung und ähnliche Aufgaben?³⁵⁰ Kunst und individuelle Produktion setzen Abstraktion voraus. Weil Schleiermacher den Frauen, wie wir noch genauer sehen werden, diese Gabe tendenziell abspricht, sind sie seiner Auffassung nach nicht zur Kunst und kreativen Erringung von Kulturgütern veranlagt. Noch deutlicher wird die Geschlechterdiastase zwischen tradierendem und kreativem Geschick in den Zuordnungen seines Ethikkollegs von 1812/13. Die dritte Stufe der obigen Ableitungsreihe hat er nun gemäß seinem Viererschema präzisiert und dafür die erste und zweite Stufe auf die Differenz von Rezeptivität und Spontaneität reduziert:³⁵¹
Zur geschlechterdifferenten Psychophysiologie des frühen 19. Jahrhunderts, die beim Mann mehr Stärke, Intellekt und Nervenkraft erblickte, verbunden mit einer nur momenthaften, aber dafür stärkeren Wollust – entgegen der andauernden Sinnlichkeit der Frau – vgl. Eder, Begierde, 129 – 150. Wie problematisch Schleiermachers Zuordnung an dieser Stelle ist, wollte man ihr in einer starken Lesart folgen, zeigt sich, wenn wir die Begriffe mit ihrer Rolle im Rahmen seiner Religionstheorie abgleichen. Dort steht nicht nur die ‚Anschauung‘ eher auf Seite der Rezeptivität; auch das Gefühl hat hier einen anderen Stellenwert. Es kennzeichnet kein bloß passives Gewahren, sondern birgt ebenso konstruktive Momente und Aspekte der Selbstwirksamkeit. Die Stärke des Gefühlsbegriffs in seiner Schnittstellenexistenz zwischen Aktivität und Passivität, aber auch zwischen den (anderen) Vermögen des Denkens und Handelns wird bei seiner Profilierung in geschlechterdichotomer Diktion verschenkt. Entsprechend – sogar was die relativ schlichten Geschlechtercharakteristiken angeht – wird bekanntlich gegenwärtig durchaus argumentiert, wenn es um die ‚Frauenquote‘ in Führungsebenen u. ä. geht. Textgrundlage ist PhE 322, § 9: „[…] im Weiblichen Uebergewicht der Receptivität und im Männlichen der Spontaneität. Daher: | Eigenthümliches Erkennen: | Gefühl weiblich, Fantasie männlich; Aneignung weiblich, Invention männlich. | Eigenthümliches Bilden: | nach Sitte weiblich, über Sitte hinaus männlich. | Identisch erkennen: | weiblich mehr Aufnehmen als Fortbilden. | Identisch bilden: | weiblich mehr mit Bezug auf die eigenthümliche Sphäre, männlich mehr mit reiner Objectivität.“ Vgl. aus der Zwischenzeit auch die reduzierte, aber entsprechend auch pointierte Geschlechtercharakterisierung aus BB 137: „Anbeten kannst Du deswegen doch an mir alles, was dem Mann eigenthümlich ist, das selbständige Licht der Erkenntniß und die bildende und bezähmende
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Erkennen
Bilden
individuell
♀ Gefühl, Aneignung ♂ Fantasie,³⁵² Invention
♀ nach Sitte ♂ über Sitte hinaus
identisch
♀ Aufnehmen ♂ Fortbilden
♀ Bezug auf indiv. Sphäre ♂ mit reiner Objektivität
Der Systemzwang seines Schemas bringt Schleiermacher bis an den Rand des sinnvollerweise zu Behauptenden: wenn etwa bereits das identische Erkennen des Mannes immer schon unter der Signatur des Fortbildens steht oder selbst das individuelle Bilden der Frauen immer nur nach Sitte geschehen kann. Damit, dass gerade das weibliche Geschlecht auf der Ebene des individuellen Bildens, nämlich der freien Geselligkeit, das geschicktere und belebendere ist, wie wir unten noch sehen werden, will sich letztere Bestimmung auch nicht recht fügen. Insgesamt bewegte sich Schleiermacher mit solch einer Geschlechtertypik gleichwohl in den gängigen Bahnen seiner Zeit.³⁵³ Schelling etwa gießt den Geschlechterdualismus in eine kosmische Spekulation, nach der er das Weibliche als das erdgebunden-Pflanzliche und das Männliche als das nach der Sonne strebend-Tierische versteht.³⁵⁴ In quantitativer Differenz schlägt er dem weiblichen Geschlecht die Natur zu, dem männlichen aber den Geist.³⁵⁵ Noch schärfer äußerte sich Johann
Kraft, so wie ich an Dir alles, was dem Weib eigenthümlich ist, die ursprüngliche und ungetrübte Reinheit des Gefühls und das sich selbst entäußernde, pflegende und entwickelnde Geschik.“ Angesichts dieser eindeutigen Zuordnung von Spontaneität und Phantasie zum männlichen Geschlecht überrascht es, wenn Elisabeth Hartlieb einen „beiläufige[n] Hinweis auf das ‚weibliche Geschlecht‘“ in der KdS als ‚deutlichen Beleg‘ dafür ansieht, „wie sehr Schleiermacher die Phantasie und die damit verbunde innere Tätigkeit selbstverständlich mit Weiblichkeit [!] verbinde[t].“ (Hartlieb, Geschlechterdifferenz, 134). Wolfgang Virmond konstatiert mit Blick auf Schleiermachers nachgelassene Bibliothek, dass dieser zumindest in den 90er Jahren den Gang der Geschlechterdebatte genau verfolgt hat. Vgl. Virmond, Liebe, 53. Zu den Phasen der Debatte und prominenten Positionen vgl. detaillierter Hartlieb, Geschlechterdifferenz, 78 – 95. Vgl. dazu Bennent, Galanterie, 129 – 133. In den Zusammenschlüssen von physiologischer, psychologischer und sozialer Beschreibung der Geschlechtscharaktere waren auch die populär-philosophischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts sehr einfallsreich. Ihnen kommt wahrscheinlich eine nicht unwichtige Rolle bei der gesellschaftlichen Internalisierung der spätneuzeitlich-frühmodernen Geschlechterrollen zu. Vgl. dazu Bennent, Galanterie, 171– 182. Die Langlebigkeit jenes Konstruktionszusammenhangs verdeutlicht auch ein Blick auf Georg Simmel. Er beschreibt noch ganz in der Weise Schleiermachers und seiner Zeitgenossen die ‚Psychologie der Frauen‘, als „Unfähigkeit […], sich im Denken und Empfinden höheren Abstraktionen anzupassen“ (Simmel, Geschlechter, 36 f), „daß sie es in der Kunst des Aufnehmens und in der des Reproduzierens zur höchsten Meisterschaft gebracht haben, während ihnen eigene Produktion nicht gelingt“ (ebd., 37); „An einem Punkt freilich haftet das weibliche Interesse aufs festeste an einem ganz Unpersönlichen und Allgemeinen: an der Sitte. Gegenüber dem Rechte einerseits, der freien Sittlichkeit andererseits […]“ (ebd., 38). Auch die Momente der höheren Passivität, der ‚Einheitlichkeit und
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Wilhelm Ritter: „Der Mann ist der Frau ein Gott, die Frau dem Mann eine Natur; Gott und Natur gehen zu Welt zusammen.“³⁵⁶ Wollen wir die darüber hinausgehenden egalisierenden Tendenzen bzw. Irritiationsmomente in Schleiermachers Konzeption verstehen, müssen wir eine prominente, wenn auch zeitgenössisch abseitige Stimme hinzunehmen, nämlich jene Friedrich Schlegels, der sich in seiner Lucinde auch der Pflanzenmetaphorik bedient. Diese erscheint allerdings als das genaue Gegenteil der Schellingschen Konstruktion. Wir beide werden noch einst in Einem Geiste anschauen, daß wir Blüten Einer Pflanze und Blätter Einer Blume sind, und mit Lächeln werden wir dann wissen, daß was wir jetzt nur Hoffnung nennen, eigentlich Erinnerung war.³⁵⁷
Konkretionen der Geschlechtsdifferenz Die grundlegendenden Spannungslinien bzw. Konstellationen sind deutlich geworden. Sie gilt es nun zu präzisieren. Dies wollen wir tun anhand der Aspekte von Besonnenheit und Streitbarkeit, Recht und Sittlichkeit, Liebe und Mütterlichkeit, Wissenschaftlichkeit und Intuition sowie der Religiosität. Dieser Liste, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, wohl aber die zentralen Punkte der Schleiermacherschen Geschlechtstypik abzudecken behauptet, sieht man freilich bereits an, welcher sozialen Schicht sie sich verpflichtet. Sie nimmt Lebenssphären und Tugenden in den Blick, für die bei der Mehrheit der Bevölkerung jener Zeit kaum ein Bewusstsein in einer solchen Weise entstehen konnte. Das verwundert auch gar nicht, denn die Tugenden der niederen Schichten wie Fleiß, Belastbarkeit, Verlässlichkeit, Genügsamkeit oder Sparsamkeit ließen den Luxus einer forcierten Geschlechterdifferenzierung gar nicht zu.
Streitbarkeit und Besonnenheit Mutig und in seiner Streitbarkeit zuweilen übermütig sei der Mann.³⁵⁸ Die Frau dagegen zeichne sich durch Besonnenheit aus und habe gar keine rechte Lust zum Streit;³⁵⁹ zumindest nicht zur direkten Auseinandersetzung. Auf die sublimeren For-
Ganzheit‘, der Liebe und der erotischen Anziehungskraft werden genannt. Vgl. dazu insgesamt: Simmel, Geschlechter, 27– 59. 177– 182. Ritter, Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers. Heidelberg 1810, Fragment 504, 119. Zit. n. Bennent, Galanterie, 134 [Hervorhebung getilgt – CR]. Schlegel, Lucinde, 12. So lässt Schleiermacher die Eleonore in den Vertrauten Briefen schreiben: „Der Muth, und […] der lebendige und schaffende Enthusiasmus ist gewiß etwas Gemeinschaftliches in allen Männern, so gewiß als er ausschließend in ihnen ursprünglich, und in uns immer nur abgeleitet und angelernt ist.“ (L 202). In der Weihnachtsfeier spricht Ernestine: „Es ist ohnehin des müßigen Streits längst genug, der uns andere [sc. die Frauen – CR] langeweilt, weil wir das reine Vergnügen am Streiten nicht teilen können.“ (W 493).
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men – zu denken ist hier wohl an fein gesponnene Intrigen – verstünde sich das weibliche Geschlecht hingegen ausgezeichnet.³⁶⁰ Bereits in der Adoleszenz deute sich das Auseinanderdriften der Geschlechter in dieser Hinsicht an. Während die Kindheit der Mädchen bereits als Antizipation ihres späteren (mütterlichen) Lebens erscheine, sei die Mannesentwicklung von vielerlei Brüchen und Rauheiten gekennzeichnet, die auch wiederum auf ihren Geschlechtscharakter verweisen.³⁶¹ Mut und Härte erscheinen bei Schleiermacher nicht allein als deskriptive Charakteristika, sondern auch als zu erringende Tugenden, die den Einzelnen auszeichnen³⁶² und für das Land und seine Stabilität unentbehrlich sind.³⁶³
Rechtsgefühl und Sittlichkeit Aus der geschlechtercodierten Differenz von Abstraktionsgabe und entsprechender Objektivität auf der einen Seite und ‚innerer Einheit‘³⁶⁴ mit grund-subjektiver Orientierung andererseits, leitet Schleiermacher sogar eine Geschlechtsdifferenz zwischen Legalität und Moralität ab. Obwohl er, wie wir noch sehen werden, für eine Stärkung der gesellschaftlichen Position der Frauen plädierte, befestigte er deren bestehende Rechtsmittelbarkeit durch eine anthropologische Grundlegung. So bescheinigt er dem weiblichen Geschlecht einen ‚Mangel an Rechtsgefühl‘, dem allerdings ein Übermaß an Sittlichkeitsgefühl entspräche.³⁶⁵ Das Ideal einer wechselseitigen Zueignung beider Sphären in der Ehe, das uns in seiner Geschlechtertheorie immer wieder begegnen wird, bedeutet hier, dass die Frauen ihrer Verfasstheit wegen auf die Errichtung der ihnen entsprechenden Sphäre einer abgegrenzten Sittlichkeit ausgehen, d. h. auf ei-
Vgl. G V, 191., 331: „Eigentlich ist alles Handeln Krieg. Der eigentliche Krieg ist nur die roheste Darstellung davon. Die Frauen verstehn sich herrlich auf den Krieg; deshalb ist ihnen der gemeine rohe so sehr zuwider.“ So heißt es aus dem Mund Ernestines in der Weihnachtsfeier, „daß die Männer, man möchte wohl sagen die besten am meisten, zwischen der Kindheit und ihrem bessern Dasein ein wunderliches wüstes Leben führen, leidenschaftlich und verworren. Es sieht aus wie eine Fortsetzung ihrer Kindheit, deren Freuden auch eine hefige und zerstörende Natur zeigen; aber auch in ihrem unsteten Treiben wie ein unschlüssiges, immer wechselndes Fahrenlassen und Ergreifenwollen, wovon wir [Frauen – CR] nichts verstehen. Bei uns vereinigt sich beides unmerklich miteinander. In dem, was uns in den Spielen der Kindheit anzieht, liegt schon unser ganzes Leben.“ (W 501 f). Vgl. G I, 76., 23: „Ein sehr sittlicher Mann der von Natur weder feig noch faul ist, heißt groß – falsch kann er dabei seyn; einer der weder feig noch falsch ist heißt edel – faul kann er dabei seyn. Der Muth ist also noch immer ein großer Punkt bei der sittlichen Beurtheilung er liegt bei beiden auszeichnenden Benennungen zu Grunde.“ Vgl. Brief 2592, 608. W 502. Vgl. PhE 670: „Den Frauen wirft man besonders den Mangel des Rechtsgefühls vor. Das individuelle möchte ich das Schicklichkeitsgefühl nennen. Es gibt sich aber mehr im Disjunctiven zu erkennen als Takt.“
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nen Hausstand, in dem ihnen ‚der Sinn aufgeht‘ für die Rechtssphäre des Mannes.³⁶⁶ Etwas kühler formuliert bedeutet diese gefühlstheoretisch-intentional imprägnierte Konstruktion schlicht: Frauen mussten auf eine ordentliche Ehe hinwirken, um überhaupt an den Bürgerrechten partizipieren zu können.Wer sich ohne den ‚Trieb auf das specifische Eigenthum‘ einem Mann hingab, konnte leicht mit leeren Hände und ohne rechtliche Handhabe dastehen. Der Gegenrichtung des reziproken Vermittlungsgeschehens steht dessen romantische Einkleidung besser an. Hier geht es nun nämlich um die Partizipation der Männer an der ‚höheren Sittlichkeit‘ der Frauen, von denen Schleiermacher in den Lucindebriefen bekennen muss, dass „Alles, wovon sie sich entfernen, roh werden muß, […] in denen die Schaam als in ihrem schönsten Heiligthume wohnt, […] in denen jede Verbindung zwischen dem Innern und dem Aeußern so viel zarter und feiner ist“.³⁶⁷
Liebe und Mütterlichkeit So weit, dass auch die Liebe eine primäre Angelegenheit des weiblichen Geschlechts sei, wollte Schleiermacher, wie wir oben bereits sahen,³⁶⁸ nicht gehen. Sie sollte nichts ‚Abgeleitetes‘ sein, sondern beiden Geschlechtern gleichursprünglich. Damit stellte er sich gegen die prominente These Fichtes – und ähnlich auch Schlegels –, die noch das gegenwärtige romantische Liebesideal prägt,³⁶⁹ dass die Liebe sich dem weiblichen Geschlecht verdanke, während der Mann nur in Reaktion darauf agiere.³⁷⁰ Gleichwohl finden wir auch bei Schleiermacher – über das oben Genannte hinausgehend – weitere Hinweise auf die höhere Affinität des weiblichen Geschlechts zur Liebe. Nicht zufällig korrespondiert Friedrich in seinen Lucindebriefen fast ausschließlich mit Frauen.³⁷¹ An seine Braut schreibt er: „Ueberhaupt sind ja die Weiber die eigentlichen Briefschreiberinen, und wir Männer sind nur Stümper. Und nun gar Liebe schreiben, das kann kein Mann so, wie Ihr es könnt […].“³⁷²
Vgl. PhE 326: „§ 34. Vor der Ehe fehlt dem Manne der Trieb auf das specifische Eigenthum, der in diesem Zustande als weibisch erscheint. Die Aeußerung desselben wird aber in der Ehe, von der Frau ausgehend, ein wahrhaft gemeinschaftliches Handeln wegen seiner Beziehung auf die gemeinsame Sphäre überhaupt und auf die eigenthümliche Seite der erkennenden Function. | § 35.Vor der Ehe fehlt der Frau der Trieb auf die Rechtssphäre […]. In der Ehe muß ihr der Sinn dafür aufgehen durch den Sinn für den Mann und die Beziehung auf die eigenthümliche Sphäre.“ L 177. S.o. II.1.1.2. Karl Lenz macht darauf aufmerksam, dass noch in der Gegenwart Tendenzen zur Vorstellung der Liebe als Angelegenheit des weiblichen Geschlechts bestehen – siehe Romanzen, die häufig nach dem Schema der sehnenden Frau und des herben Mannes, der erst durch ihre Liebe erweicht wird, funktionieren –, obwohl sich zugleich auch eine Androgynie der Liebe im Sinne Schleiermachers und Schlegels behauptet (ders., Liebe, 246 f). Vgl. Bennent, Galanterie, 115. Hartlieb, Geschlechterdifferenz, 126. Lediglich der Sechste Brief (L 190 – 194) ist (virtuell) an einen Mann gerichtet. BB 251 f.
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Mit anderen „literarischen, moralischen und politischen Gegenständen“ könnten „wir Männer am Ende ohne Euch fertig werden […], welches hierbei schlechterdings unmöglich ist“,³⁷³ schreibt er im zweiten der Vertrauten Briefe, weil die Liebe doch nun einmal der ‚Beruf‘³⁷⁴ der Frauen sei.³⁷⁵ Wollen wir diese These erklären, so erscheint es aufschlussreich, auf die Weihnachtsfeier zurück- bzw. vorzugreifen. Hat es die Liebe maßgeblich mit Empathie zu tun, so sind die Frauen besonders dazu berufen; denn es gelte: „[…] daß die Frauen für sich alles leicht ertragen, und nach wenigem Genuß streben, daß aber, wie ihr innerstes Leiden Mitleiden ist, so auch ihre Freude Mitfreude ist“.³⁷⁶ Außerdem – und noch viel entscheidender – belegen die bürgerlichen Verhältnisse die These von der Liebe als Beruf der Frauen. Sobald die häuslich-familiale Sphäre primär als Hort der Liebe konstruiert wurde und den Frauen eben dieser Platz angewiesen wurde, erwuchs ihnen jenes Gefühl zur Profession.³⁷⁷ Insbesondere die Mutterliebe und Mütterlichkeit erwuchs zum Definiens der Weiblichkeit. In Entsprechung zu seinem heftigen literarischen Stil empfahl Heinrich von Kleist in einem Brief vom 10. Oktober 1800 seiner Braut die Mutterschaft in scharfer Ausschließlichkeit. O lege den Gedanken wie einen diamantenen Schild um Deine Brust: ich bin zu einer Mutter gebohren! Jeder andere Gedanke, jeder andere Wunsch fahre zurück von diesem undurchdringlichen Harnisch. Was könnte Dir sonst die Erde für ein Ziel bieten, das nicht verachtungswürdig wäre? Sie hat nichts, was Dir einen Werth geben kann, wenn es nicht die Bildung edler Menschen ist. Dahin richte Dein heiligstes Bestreben! Das ist das Einzige, was Dir die Erde einst verdanken kann. Gehe nicht von ihr, wenn sie sich schämen müßte, Dich nutzlos durch ein Menschen-Alter getragen zu haben! Verachte alle die niederen Zwecke des Lebens. Dieser einzige wird Dich über alle erheben. In ihm wirst Du Dein wahres Glück finden, alle andern können Dich nur auf Augenblicke vergnügen. Er wird Dir Achtung für Dich selbst einflößen, alles andere kann nur Deine Eitelkeit kitzeln; und wenn Du einst an seinem Ziele stehst, so wirst Du mit Selbstzufriedenheit auf Deine Jugend zurückblicken, und nicht wie Tausend andere unglückliche Geschöpfe Deines Geschlechts die versäumte Bestimmung und das versäumte Glück in bittern Stunden der Einsamkeit beweinen.³⁷⁸
L 156. L 155. Der Quellenbestand der Literatur und Schriftzeugnisse über die Liebe sagt etwas anderes. AnneCharlott Trepp macht darauf aufmerksam, dass es v. a. die Männer waren, welche sich mit diesem Thema denkerisch und literarisch befassten. Den Grund dafür erblickt sie nicht allein in dem leichteren Zugang des männlichen Geschlechts zu Veröffentlichungsmedien, sondern auch im durchschnittlich deutlich höheren Heiratsalter der Männer. Während die meisten Frauen in ihren frühen 20er Jahren verheiratet wurden, blieb den Männern im Schnitt noch ein knappes Jahrzehnt ihres Lebens Zeit, um über die Liebe zu raisonnieren, bis sie sich in der Realität einer Ehe wiederfanden (Trepp, Liebe, 30 f). W 526. Zum Streben nach bei naturaler Grundierung emotional aufgeladener Mutterschaft im gehobenen Bürgertum des Berlins um 1800 vgl. Schmid, Säugling. Heinrich v. Kleist, Sämtliche Werke, Bd. 5, hg.v. Arthur Eloesser, Leipzig o. J., 85 f; zit. n. Prokop, Mutterschaft, 204.
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Ganz so weit, keinen anderen Sinn für das weibliche Leben zuzulassen, ging Schleiermacher nicht. Wohl aber finden wir auch bei ihm eine Betonung jenes Aspekts. So erhebt er in den Lucindebriefen die Mutterliebe zur conditio sine qua non von Familie³⁷⁹ und die Agnes der Weihnachtsfeier bekennt: „Aber die Mutterliebe ist das Ewige in uns, der Grundakkord unseres Wesens.“³⁸⁰ Diese Qualität prädestiniere das weibliche Geschlecht überhaupt zugleich zur Kindererziehung. Seiner pädagogischen Leitlinie entsprechend entkoppelt Schleiermacher die Liebe von etwaigen konkreten Bildungszielen.³⁸¹ Zu einer tendenziell problematischen Vermengung beider würde das männliche Geschlecht neigen.³⁸² Das Generaltelos pädagogischer Bemühungen, nämlich die individualitätsorientierte Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit, hingegen sei bereits unmittelbar in der Mutterliebe grundgelegt.³⁸³ Auf diese Weise wird von Schleiermacher die bürgerlich-familiale Arbeitsteilung geschlechtsanthropologisch verankert.³⁸⁴
Abstraktionsfähigkeit und Intuition Die ‚Einheit‘ des weiblichen Geschlechts, die uns bereits begegnet ist, und seine Ausrichtung auf das ‚Ganze‘, die sich zugleich in seiner gesteigerten Gefühlsaffinität zeige, gibt für Schleiermacher gute Gründe ab, ihm die Sphäre der Wissenschaft vorzuenthalten. Die Kulturdimension des ‚identischen Symbolisierens‘³⁸⁵ war für ihn offensichtlich deutlich heterogener verfasst, als es eine rasche Charakterisierung als Sphäre der Bildung vermuten ließe, denn zwar sollte das weibliche Geschlecht zur Bildung von (jungen) Menschen geschaffen sein, jedoch zugleich zur höheren Bildung untauglich. Mit Schleiermachers Bemühungen, die Pädagogik aus ihrem Schlummer des intuitiven Handelns herauszureißen, will diese Diastase kaum zusammenpassen.
Vgl. L 213: „was kann stärker und eigenthümlicher über ihre [sc. der Liebe – CR] Kraft gesagt werden, als daß sich um eine liebende Frau, und nur um sie, eine Familie bildet […]?“ W 497. Vgl.W 497: „Und glaubst du denn, die Liebe geht auf das, wozu wir die Kinder bilden können? Was können wir bilden? Nein, sie geht auf das Schöne und Göttliche, was wir in ihnen schon glauben […].“ W 485: Agnes spricht: „Wenn ihre [sc. der Männer – CR] eigentliche Sorge angeht, zumal bei den Knaben, dann gilt es Tapferkeit und Tüchtigkeit, das Fortschreiten ist dann immer verbunden mit Anstrengung und Versagung, und oft mag es auch not tun, das vergrößernde Selbstgefühl niederzuhalten, und das könnte ihnen leicht eine unrichtige Ansicht geben, wenn sie sich nicht an unserm mütterlichen Tun und Sinn fleißig orientierten.“ Daran, dass Männer eher dazu neigen, ihre Kinder zur (mühevollen) Bewältigung kognitiver Aufgaben anzuhalten, hat sich wenig geändert, was allerdings durchaus positive Effekte zeitigt. So sind Kinder (besonders Mädchen), deren Väter sich stark an der Erziehung und alltäglichen Begleitung beteiligen, signifikant besser im Schulfach Mathematik als Kinder, bei denen dies nicht der Fall ist. Vgl. Röhr-Sendlmeier/Bergold, Vater. W 511: „Nur die Mutter, deren Liebe den ganzen Menschen im Kinde sieht […].“ W 485: „Den Frauen, die sich dem heiligen Dienst [der Kinderpflege und –erziehung – CR] widmen, ziemt es überall, im Innern des Tempels zu wohnen als Vestalinnen, die des heiligen Feuers wachen.“ Dazu detaillierter s.u. II.2.2. S.o. I.4.Einleitung.
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Schließlich wird das familial erzieherische Handeln von ihm nicht allein als weitestgehend intuitiv verfasst beschrieben, was an sich durchaus stimmig ist, sondern es kommen mit dem Anspruch des mütterlichen Berufs Professionalisierungsbehauptungen hinzu, die das argumentative Gefüge, bereits was dessen Binnenlogik angeht, fraglich werden lassen. Blicken wir zurück auf die geschlechtercodierte Unterscheidung der Philosophischen Ethik von ‚Gefühl‘ und ‚Denken‘, so könnte sich der Eindruck einstellen, Schleiermacher spräche dem weiblichen Geschlecht letzteres gänzlich ab. Solch eine These muss nicht allein aus gegenwärtiger Perspektive großen Anstoß erregen, sondern auch die Frage aufwerfen, wie sich seine eigene geistige Partnerschaft zu Henriette Herz u. a. dazu verhält. Hier lohnt es mithin, noch einmal genauer hinzublicken. Einen wichtigen Hinweis gibt eine Erörterung aus den Lucindebriefen, in deren Zusammenhang Friedrich schreibt: „Ihr wißt eben, daß wir Eurem Geschlecht im Allgemeinen das Talent zur Abstraktion absprechen“.³⁸⁶ Vom männlichen Geschlecht hingegen behauptet er: Ihr wißt ja, wie geneigt wir zur Abstraktion sind, ja daß ichs recht sage, wahre Sklaven derselben, und wie uns ein Gegenstand für die Empfindung und die Fantasie sogleich entzogen wird, wenn man ihn uns für das Urteil darbietet.³⁸⁷
Die Begriffe ‚Talent‘ und ‚Neigung‘ weisen darauf hin, dass es Schleiermacher in seiner Unterscheidung nicht um die Fähigkeit der Abstraktion geht,³⁸⁸ sondern um Interesse und Motivation dazu. Beim männlichen Geschlecht meinte Schleiermacher, die Lust am reinen Denken beobachten zu können. Die elitären Zirkel, in denen er sich in seiner ersten Berliner Zeit bewegte, sollten wohl pars pro toto stehen. Bei den Frauen hingegen kam für den intellektuellen Austausch die Notwendigkeit von Zusatzoperationen hinzu, wie wir aus einem Brief an seine Braut schließen können. Ihr gegenüber lehnt er den Gedanken ab,Vorlesungen vor einem gemischten Publikum zu halten,³⁸⁹ weil die Aufmerksamkeit des weiblichen Geschlechts der Klärung der Relevanzfrage des Dargebotenen und der anschaulich konkreten Darstellung bedürfe³⁹⁰ – zwei Aspekte, möchte man anmerken, die sich in der gegenwärtigen Hochschuldidaktik als auch für das männliche Geschlecht hilfreich erwiesen haben. Schleierma-
L 157. L 158. Vgl. BB 324: „Die Anlage zum tiefen Eindringen in das Innere, sage ich Dir auf den Kopf zu, die hast Du; aber mit dem gründlichen Wissen ins Einzelne hinein, damit, glaube ich, würde es Dir nicht so gelingen wie unserer großen Jette.“ Schleiermacher kannte allerdings durchaus auch andere Positionen. So finden sich in seiner Bibliothek auch Werke Anna Maria Schuurmanns, die sich für die Bildung der Frauen einsetzte, indem sie für deren allgemeine Bildungsfähigkeit argumentierte (Hartlieb, Geschlechterdifferenz, 94). Vgl. BB 324: „Man muß euch, meine ich, alles Wissen unmittelbar religiös machen und dann auch wieder unmittelbar sinnlich“.
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chers These, es gebe geschlechtsspezifische Interessengebiete,³⁹¹ lässt sich dem gegenwärtig Beobachtbaren nach kaum von der Hand weisen.³⁹² Auch dass die Lebenswelt der je individuellen Aufgabengebiete das subjektive Interesse entscheidend bestimmt, kann unabhängig von der Geschlechterfrage – wenngleich auch in ihrem Zusammenhang aufgefunden – bleibende Gültigkeit reklamieren.³⁹³ Weitere Annahmen hingegen erscheinen äußerst problematisch, wie etwa die These, Frauen seien schlichtweg nicht so produktiv und kreativ wie Männer in den Gebieten der Kunst und der Wissenschaft, was Schleiermacher damit begründet, dass sie an Kulturgütern und Denkschulen bei weitem nicht so viel Bedeutendes hervorgebracht hätten, wie die Männer.³⁹⁴ Auf den Gedanken, dass die jahrhundertelange Verwehrung eines Zugangs für Frauen zu höherer Bildung,Wissenschaft und Künstlerzünften damit zu tun haben könnte, kommt er in diesem Zusammenhang nicht. Wenn Schleiermacher behauptet, dass dem Mangel beim einen Geschlecht stets etwas Hervorragendes beim anderen entsprechen muss, so stellt sich die Frage, welches die Früchte der größeren Gefühlsaffinität des weiblichen Geschlechts sind. Auf der Ebene des Erkennens ist hier zunächst die Intuition zu nennen. In der Weihnachtsfeier wird sie am Beispiel des treffgenauen Erratens der jeweiligen Schenker zu einem Geschenk illustriert, während es von den Männern heißt: „Ihr liebt gar sehr die geraden Wege, wie es auch den Machthabern geziemt, und eure Bewegungen“ sind „von einer verräterischen Verständlichkeit“.³⁹⁵ Anhand des Psychologiekollegs sehen wir, dass Schleiermacher jene Begabung nicht als Spielerei beurteilte, sondern hoch zu würdigen wusste: […] die ursprüngliche Auffassung des einzelnen ist […] nur unter der Form des subjektiven Bewußtseins. So wie wir dies an die Eigentümlichkeit des weiblichen Geschlechts halten, so müssen wir sagen, daß sie auf diesem Gebiet eine Virtuosität besitzen, eine Stärke und Richtigkeit in der
BB 324 unterscheidet er „die Gegenstände, die euch die interessantesten sind“ von denen, in denen er sich für eine freie Lehre hinreichend beschlagen sieht. Aus den Zahlen, die das Statistische Bundesamt über die Geschlechterverteilung in den verschiedenen Studiengängen bietet, erhellt, dass die technischen Fächer (Elektrotechnik, Fahrzeugtechnik, (Bau‐) Ingenieurwesen), Informatik und Chemie nach wie vor Männerdomänen darstellen, während im linguistischen und musischen Bereich (Germanistik, Anglistik, Romanistik, Kunsterziehung, Kunstgeschichte) sowie in den Kommunikationswissenschaften, der Pädagogik und der Biologie v.a Frauen vertreten sind. Vgl. https://www-genesis.destatis.de/genesis/online/data?operation=ergeb nistabelleUmfang&levelindex=3&levelid=1573730726168&downloadname=21311– 0003 (zuletzt aufgerufen am 14.11. 2019). Interessant erscheint in diesem Zusammenhang, dass bereits Schleiermacher von einer höheren Affinität des weiblichen Geschlechts zur sprachlich-kommunikativen Sphäre gesprochen hat, ausgedrückt in W 516: „das Erzählen ist nicht die Gabe der Männer“. Wie sehr die Tätigkeitssphäre eine Person, ihre sozialen und dinglichen Beziehungen und ihr Interessengebiet beinflusst, werden wir noch im Folgenden genauer bedenken. S.u. II.2.2 und II.2.3. Vgl. Psy 55 f. W 477 f.
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Auffassung des einzelnen durch das Gefühl, die sich besonders in der Menschenkenntnis manifestiert, die ein unleugbarer Vorzug der Frauen ist.³⁹⁶
Die Gabe der Menschenkenntnis verweist zugleich zurück auf die Zuordnung der Kindererziehung zum weiblichen Geschlecht.Wer einen Menschen in Schleiermachers Sinn bilden will, der muss ihn eben einschätzen und empathisch umgreifen können.³⁹⁷
Religion und Theologie Eine andere, wenn nicht für Schleiermacher gar die Frucht des Gefühls schlechthin, ist die Religion. Frauen könnten sich dem religiösen Leben unbefangener hingeben und würden trotz ihres bloß individuellen Ergreifens der religiösen Vorstellungen und Vollzüge durch diese selbst am Allgemeinen partizipieren, so die These der Psychologie. ³⁹⁸ In der Weihnachtfeier konkretisiert er seine These, indem er Kindlichkeit und Weiblichkeit zusammenbindet.³⁹⁹ Oben haben wir von der größeren Kontinuität, die in der biographischen Entwicklung des weiblichen Geschlechts liegen soll, gehandelt. Hier nun rückt der Fokus auf die Naivität, die aller Hingebung – und so auch der religiösen – inhärent ist.⁴⁰⁰ Die rationale Zergliederung von Vorstellungsgehalten und die psychologische Beschreibung von Gefühlszuständen mögen zwar aufschlussreich sein; für die Anverwandlung des entsprechenden Gegenstandes hingegen erweist sich eine solche Relativierung als nachgerade tödlich. Diese Beobachtung formuliert Schleiermacher bereits trefflich in seinen Reden. Religion und Reflexion auf Religion sind zweierlei.⁴⁰¹ Die Reflexion ist der Religion zwar sehr dienlich; einen direkten Weg
Psy 56 f. Vgl. Psy 57: „Die Art, wie sie sich in die Kinder, die sie zu erziehen haben, hineinleben, geht rein auf in die Kenntnis des Individuellen; aber diese besitzen sie in einem solchen Maße, daß, wenn sie dieselbe auch nicht in Worten mitteilen können, sie doch von ihr immer in der Erziehung geleitet werden.“ Psy 57. Vgl. W 502 f: „Aber Christus selbst, erwiderte Karoline, […] ist […] auch immer der Schutzherr der Frauen gewesen, und während ihr euch über ihn gestritten habt, haben wir ihn geliebt und verehrt. Oder was könntest du dagegen einwenden, wenn wir nun erst den rechten Sinn hineinlegten in das abgebrauchte Sprichwort, daß wir immer Kinder bleiben, dagegen ihr erst umkehren müßt, um wieder Kinder zu werden? – Und was uns so nahe liegt, fügte Ernst hinzu, was ist die Feier der Kindheit Jesu anders als die deutliche Anerkennung der unmittelbaren Vereinigung des Göttlichen mit dem Kindlichen, bei welcher es also keines Umkehrens weiter bedarf. Auch hat schon Agnes dies vorher geäußert, als die allgemeine Ansicht aller Frauen, daß sie in ihren Kindern, wie die Kirche es in Christo tut, schon von der Geburt an das Göttliche voraussetzen und es aufsuchen.“ Vgl. zu dieser Interpretationslinie auch Virmond, Liebe, 54 f. Dass auch dem basalen religiösen Vollzug vielfältige Reflexivitätsmomente eingegeben sind, kann Schleiermacher in seiner Darstellung kaum verheimlichen. Die Grundthese vom Eigenwert der Religion gegenüber hochstufigen Spekulationen bleibt von der Schwäche seiner exklusiven Gefühlsbetonung in der Religionstheorie gleichwohl relativ unberührt.
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ersterer zu letzterer gibt es hingegen nicht, bzw. maximal über eine idealistische Figur, die die theologische Spekulation zum religiösen Vollzug selbst erklärt.⁴⁰² Sie mag in Bezug auf vereinzelte Intellektuellenzirkel angemessen sein; die Mehrheit gelebter Religion trifft sie hingegen nicht. In der Weihnachtsfeier profiliert Schleiermacher den Unterschied von Theologie und Religion bzw. intellektueller und kirchlich-ritueller Frömmigkeit geschlechtercodiert:⁴⁰³ Wohl aber können in der Kirche sein, die nicht die Wissenschaft in sich haben; denn sie können jenes höhere Selbstbewußtsein in der Empfindung besitzen, wenn auch nicht in der Erkenntnis. Welches eben der Fall bei den Frauen ist, und zugleich der Grund, warum sie sich umso inniger und ausschließender der Kirche anhängen.⁴⁰⁴
Treibend für jene Assoziation von religiösen Vollzugsformen und Geschlechtlichkeit ist freilich nicht allein die – auf das weibliche Geschlecht bezogen gesprochen – positive Bestimmung der Gefühlsstärke, sondern auch das Negativ der vermeintlichen Rationalitätsarmut.⁴⁰⁵ Mag die Frau bei Schleiermacher auch als das religionsaffinere Wesen erscheinen, so motiviert ihn dies keineswegs zu einer Kritik an der Amtsverfassung seiner Zeit.⁴⁰⁶ Da die Theologie für ihn konstitutive Voraussetzung der Kirchenleitung ist⁴⁰⁷ und als Wissenschaft dem ‚rationalen Geschlecht‘ angestammt ist, erscheint ihm die absolute Männerdominanz im kirchlichen Amt prinzipiell unproblematisch. Einen Stachel hat er als Herrnhuter anhand dieser großen Spannung gleichwohl gespürt und sah sich auch daher wohl veranlasst, die Frage zumindest zu thematisieren. In den Reden bestimmt Schleiermacher den Drang zur Kommunikation als integralen Bestandteil religiösen Lebens überhaupt. Auch Frauen haben mithin ein gerechtfertigtes Bestreben zur Äußerung ihres Innenlebens. Ihnen weist er als Wirkungsraum die Familie an: Was soll ich aber denen sagen, welchen Ihr weil sie einen bestimmten Kreis eitler Wißenschaften nicht auf eine bestimmte Art durchlaufen haben, das priesterliche Gewand versagt? wohin soll ich sie weisen mit dem geselligen Triebe ihrer Religion sofern er nicht allein auf die höhere Kirche sondern auch hinaus gerichtet ist auf die Welt? Da es ihnen fehlt an einem größern Schauplaz wo
So prominent bei Hegel zu finden. Zur Bedeutung der Frauen in der Weihnachtsfeier vgl. auch Hirsch, Weihnachtsfeier, 21: „Sie sind die Trägerinnen der alles begleitenden und beseelenden Musik. Ihre Plaudereien und ihre Erzählungen sprechen die Weihnachtsfreude und Weihnachtsfrömmigkeit unmittelbarer und lebendiger aus als die Reden der Männer, und dies gerade, weil alle ihre Äußerungen augenblicksbestimmt erscheinen. Ihre Gegenwart und ihre Wünsche regieren das Ganze und schließen es zur Einheit der Stimmung zusammen.“ W 529. Vgl. auch W 522 „[…] um nicht zu gelehrt und unverständlich vor den Frauen zu reden“. Zur Problematik insgesamt vgl. auch Hartlieb, Geschlechterdifferenz, 278 – 284. Die Theologie ist nach der Kurzen Darstellung eine „positive Wissenschaft“ (KD §1, 249), deren Positivität primär in ihrer „praktischen Zielsetzung“ besteht, der Vermittlung der „zur ‚Kirchenleitung‘ erforderlichen ‚Kenntnisse und Kunstregeln‘ […] (KuDa §§3; 5).“ (Dierken, Glaube, 357).
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sie auf eine auszeichnende Art erscheinen könnten, so mögen sie sich genügen laßen an dem priesterlichen Dienst ihrer Hausgötter. Eine Familie kann das gebildetste Element und das treueste Bild des Universums sein […].⁴⁰⁸
Was sich als das Schmackhaftmachen einer spärlichen Kost darstellt, birgt bei aller gebotenen historisierenden Distanzierung durchaus eine bleibende Wahrheit. In der Familie entfaltet die religiöse Kommunikation und Sozialisation tatsächlich ihre größte Prägekraft. In der Christlichen Sitte identifiziert Schleiermacher die Hinwendung Jesu zu den Frauen mit der Verinnerlichungstendenz seiner Religionsstiftung.⁴⁰⁹ Nach wie vor erscheinen vor allem die Mütter und Großmütter als entscheidende Tradenten religiöser Gehalte und Praktiken.⁴¹⁰ Frauen stehen für Schleiermacher in besonderer Nähe zur Erlösungsreligion. Anders als Novalis und andere Frühromantiker verklärt er ihre Bedeutung allerdings nicht in eine Hinwendung zum römischen Marienkult. Emanuel Hirsch konstatiert treffend: Bei Schleiermacher […] wird Maria statt zur Trägerin der neuen Schöpfung vielmehr zum Gleichnis der von Christus erlösten frommen Frau. […] Es gibt keine Andacht zu Maria, sondern allein ein Gewahren der Andacht, die in Maria als einer Mutter lebendig ist. […] das an Maria veranschaulichte Mutterschaftserlebnis [wird] zum Paradigma jener Verschmelzung von Gottinnigkeit und Weltgebundenheit, welche für Schleiermacher das Grundwesen aller Religion ausmacht.⁴¹¹
Weil Schleiermacher das Erlöstwerden und nicht die Erlösung anhand des weiblichen Geschlechts bedenkt, öffnet er seine Geschlechtercodierung zugleich wieder, insofern das Erlöstwerden auf Christus verweist und alle Menschen einbegreift, während eine geschlechtlich gefasste Erlösungsvorstellung ein Gefälle von Erlöser und Erlöstem in die Beziehung der Geschlechter einziehen würde.⁴¹² Auf diese Weise verhindert er
R 289. Vgl. ChS 337 f (Fn): In Jesu Lehre der Frauen zeige sich seine Tendenz, eine Kirche und nicht nur eine Schule gründen zu wollen. Nur Männer konnten lehren. Wenn Jesus also männliche Jünger um sich sammelte, so ging es hier um Lehre und Lehrerbildung. Aber Jesus wirkte eben auch bewusst auf die Frauen, die seine Gedanken in ihre Familien trugen. Diese soziale Verinnerlichung seiner Lehre sei Jesu eigentlicher Zweck gewesen. Vgl. dazu die entsprechenden Befunde bei Domsgen/Lütze, Schülerperspektiven, 51– 112, bes. 66 – 77. 81– 83. 89 – 94. Auch im ehrenamtlichen Bereich der Kirche erscheinen Frauen (rein quantitativ) deutlich engagierter. So sind nach der vierten EKD-Mitgliedschaftsstudie 2/3 der Ehrenamtlichen in der Kirche weiblich. Mit einem generell höheren ehrenamtlichen Engagement des weiblichen Geschlechts lässt sich dieser Befund nicht erklären, weil in anderen Engagementbereichen, wie Sportvereinen und politischen Parteien, Männer in der Mehrzahl sind. Vgl. Brummer/Freund, Engagement, 360 f. Hirsch, Weihnachtsfeier, 22. Detaillierter zur Marien-bezogenen Deutung der Mutterschaft s.u. III.1.1. Ein bleibendes Problem aller Religionskonzepte, die einen Geschlechtsbezug wagen, bleibt die Diastase von Besonderheit und Allgemeinheit. Sucht eine feministische Theologie die Stärken ver-
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zugleich eine Diastase zwischen verschiedenen Religionstypen, wie sie etwa Walter Schubart vornimmt. Dieser folgert aus einer ganz ähnlichen Geschlechtertypologie, wie Schleiermacher sie vornimmt, dass dem Mann in seinem Hang zur Spaltung und Teilung die ‚Religion der Persönlichkeit‘, die Erlösungsreligion entspricht; und der Frau in ihrer Einheit und Vitalität die ‚Religion der Gattung‘, die Naturreligion.⁴¹³ „So tief hinab in das Wesen der Religion reicht der Unterschied der Geschlechter […], daß es nicht nur den religiösen Gegensatz der Geschlechter, sondern auch den Geschlechtergegensatz der Religionen gibt“,⁴¹⁴ so Schubart.
meintlich weiblicher Religiosität und Tugend gegenüber der entsprechend männlichen herauszustreichen, so sperrt sich diese Profilierung einem Verallgemeinerungsanspruch. Gemeint sind Thesen, wie sie Anne Carr im Referat Schneiders’ aufführt: „Frauen haben mehr Erfahrung im Umgang mit Menschen und […] oft ein ganz intensives, gefühlsbetontes Gebetsleben […].“ (Carr, Frauen, 258). Das Programm einer Verschmelzung beider Beschreibungen im Ideal einer feministischen bzw. transgender Spiritualität verschiebt das Problem nur, weil der Horizont spezifischer Geschlechtlichkeit bestehen bleibt – der Auffindungszusammenhang sowohl von Anschlussfiguren für das weibliche Geschlecht, wie Einfühlung, Kooperativität und Fürsorglichkeit, als auch von Abgrenzungsfolien, wie Unterdrückung und Verteufelung wird mittransportiert (zu einem solchen Programm vgl. Carr, Frauen, 259 – 268). D. h. bezieht man die aufschlussreiche Heuristik, die eine geschlechtsbezogene Perspektive eröffnet, in kultur- und religionstheoretische Erwägungen mit ein, so wird diese das Feld gliedern, ganz gleich, ob man jener Kategorisierung affirmativ oder kritisch begegnet. Schubart, Religion, 91– 93. Schubart, Religion, 93. Bei Schubart wird das Religiöse sehr in der Linie von Wundt und Otto gezeichnet, als das lustvoll erregende Tremendum (ebd., 9 f). Ebenso beschreibt er den Eros: „Der Mensch erlebte das erste Weib, wie er die ersten Dämonen erlebte: voll Angst und Sehnsucht.“ (Ebd., 11). Schubart macht dabei eine große Diastase zwischen den Geschlechtern auf. Die Frau sei das anziehende und kontrolliertere Wesen in Bezug auf den ‚Urschauder‘ der Liebe, weil sie natürlicher und mit dem All mehr im Einklang sei (ebd., 13). Im Begriff der ‚Schöpfungswonne‘ verbindet Schubart das Mysterium des befruchtenden Geschlechtsaktes mit jenem der Welterschaffung. Ersteres lasse nach letzterem suchen (ebd., 16). „Hingabe ist das Wesen des Weibes. Hingabe ist aber auch das Wesen der Erotik und der Religion: Selbstdarbietung, begeistertes Aufgehen in fremder Wesenheit, lustvollschwärmerisches Selbstvergessen.“ (Ebd., 27). Schubart unterscheidet zwei Religionsformen: die weibliche, sinnenfreundliche, zuweilen orgiastische Naturreligion der Schöpfungswonne und die männliche, durchgeistigte, asketische Erlösungsreligion; zeigt aber auch auf, wie sich die Erlösungsreligion der vitalisierenden Funktionen der Mutterreligion bedient habe (ebd., 30 – 35). Kaum überraschen kann sodann sein Lob der Vereinigung der Religionsformen im christlichen Marienkult, durch dessen Verdrängung der Protestantismus einen großen Verlust erlitten hätte: „Mit der weiblichen Gottheit verlor die Religion ihre Innigkeit und Wärme. Sie wurde kalt, sachlich und langweilte schließlich ihre eigenen Bekenner. […] Die erotische Seite der Seele bedarf der weiblichen Gottheit, der Heiligung des schöpferischen Weibes. Wo Eros und Religion sich trennen, wird er gemein und sie erkaltet.“ (Ebd., 45). Da Schubart von der bestehenden Erlösungsreligion allerdings keinen Weg zurück zur Naturreligion sieht, versucht er sie zu koordinieren, sodass sich sein Buch als der Versuch einer schöpfungs- und naturtheologischen Wiederaufladung des protestantischen Christentums ausnimmt. Eine anteilige Durchmischung hätte es immer gegeben, da die Erlösungsreligion als solche zwar männlich sei; insofern sie Hingabe fordert, allerdings weiblich. Vgl. ebd., 95. Eine weitere Durchmischungsoption ergäbe sich unter Hinzunahme der Schleiermacherschen Geschlechtertypik. Insofern das männlich Geschlecht bei ihm sowohl das schöpferisch-kreative als auch das geistigere ist, verbände es die beiden Grundformen der Religion nach Schubart bereits an sich selbst.
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Bei Schleiermacher wird weder die Frau zum Erlöser des Mannes, noch andersherum. Zwar kennt er den Gedanken der erlösenden Liebe und einer besonderen erotischen Anziehungskraft der Frau, die ohne gewisse Erlösungsqualitäten kaum angemessen beschreibbar ist, wie wir oben sahen;⁴¹⁵ jedoch zielt die Pointe dessen nicht auf die Geschlechterdifferenz als solche, sondern auf die Beziehung zwischen den Partnern. In diesem Sinne ist auch seine Analogisierung von Ehemann und Ehefrau mit Christus und seiner Gemeinde in der ersten Hausstandspredigt zu interpretieren. ‚Gewaltige Ähnlichkeiten‘ beider Analoga sieht Schleiermacher zwischen dem Ausgang Christi aus der Herrlichkeit Gottes des Vaters, „um sich ein eignes Leben und Reich auf Erden zu gründen“ und der ‚suchenden Liebe‘ eines Mannes, der ebenso den Weg in einen eigenen Hausstand sucht; zwischen der einseitigen Wahl, mit der Christus die Seinen zu sich zieht und dem Usus, dass der Mann die Frau freit – und nicht umgekehrt; und zwischen dem Recht der Gemeinde, Gott den Vater in Christi Namen zu bitten und den Verfügungsgewalten der Ehefrau.⁴¹⁶ Schleiermacher schränkt allerdings sogleich die Reichweite seines Vergleichs ein. Er liege: Nicht darin, daß Christus alles ist und wir nichts, und also auch das Weib in ihrer Verbindung mit dem Manne immer nur hinnehmen kann und alles nur durch ihn sein; sondern darin, daß Christus sich hingegeben hat für die Gemeine, daß er sie heiligte. Diese hingebende Liebe soll der Mann sich zum Vorbild nehmen […].⁴¹⁷
Orientiert an der calvinistischen Lehre von den drei Ämtern Christi, bedeutet dies, der Mann hat seiner Frau gegenüber das ‚prophetische‘ und das ‚priesterliche Amt‘ inne, insofern er sie belehrend Anteil haben lassen soll an den Früchten seiner Welterfahrung und durch seine Mittelungen heiligend auf sie wirken soll;⁴¹⁸ das ‚königliche Amt‘ soll er der Frau gegenüber hingegen nicht einnehmen.⁴¹⁹ Ziel der ehelichen Beziehung müsse es sein, „daß er sie immer mehr befreie innerlich und äußerlich von jeder Dienstbarkeit“,⁴²⁰ „so nämlich, daß, wiewohl in ihrem stillen, bescheidenen Kreise bleibend, das Weib immer mehr dem Manne gleich wird“.⁴²¹ Von hier aus lässt sich der Bogen zurückzuschlagen zum Ausgangspunkt der Dualität von Hervorragendem und Mangel bei den Charakteristika der Geschlechter. Als Ziel von Schleier-
S.o. II.1.1.2 sowie II.1.2.3. Vgl. H 242 f. Die ehelichen Analoga sind in der Predigt kaum direkt ausgeführt, sondern werden elliptisch als selbstevidente Korrelate vorausgesetzt. H 244. H 244: „Diese hingebende Liebe soll der Mann sich zum Vorbild nehmen, gern aus seiner größeren Heimat, der geschäftigen Welt, zur häuslichen Stille zurückkehren, um durch alles, was ihm dort begegnet ist und was er geleistet hat, durch alles, was aus seinem Innern hervorgegangen ist und was darin verschlossen blieb, mitteilend, reinigend, erhebend, auf das Weib seines Herzens zu wirken.“ H 244: „Nicht darin liegt die Ähnlichkeit, daß Christus unser König ist, als ob nun dem Manne eine ausschließende und unumschränkte Herrschaft gebühre […].“ H 244. H 245.
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machers Differenzierungen erblicken wir nun nicht die selbstzwecklich ordnende Scheidung der Geschlechter, sondern die aus wechselseitiger Zueignung hervorgehende Ganzheit der Menschheit am Orte des ehelichen Lebens.⁴²² Deren Erlebnis beschreibt Schleiermacher in der ersten Hausstandspredigt als das „schönere[…] und höhere[…] Gefühl einer vollkommenen Gemeinsamkeit des Lebens“.⁴²³ Etwas kühler, aber umso klarer drückt er es in der Philosophischen Ethik aus: „Das Resultat der Geschlechtsdifferenz und Verbindung ist die Familie“.⁴²⁴ Ihre geschlechtstypisierenden Binnenverhältnisse gilt es nun anhand der ehelichen Aufgaben- und Arbeitsteilung zu bestimmen, bevor wir uns dem von Schleiermacher anvisierten Ideal der Symmetrie der Geschlechter genauer zuwenden können.
2.2 Aufgaben- und Arbeitsteilung Die Frage nach der innerfamilialen Aufgabenteilung findet ihre Thematisierung nicht zufällig im Rahmen des Kapitels zur Geschlechterdifferenz. Für Schleiermacher und seine Zeitgenossen ist sie auf das Engste mit ihr verknüpft. In seiner Erziehungslehre offenbart Schleiermacher, dass er sich kaum ein anderes Kriterium für die Arbeitsteilung vorstellen kann, wenn er appelliert, man solle in der Pädagogik die Entwicklung der Geschlechterdifferenz nicht unterdrücken, „denn dieses würde am Ende die Teilung der Geschäfte unmöglich machen“.⁴²⁵ Die Selbstverständlichkeiten jener Zeit sind seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gewichen; der Problemhorizont allerdings ist geblieben. Wo immer nach der Teilung von Haus- und Erwerbsarbeit und weiteren Binnendifferenzierungen gefragt wird, ist die Geschlechterfrage in zentraler Weise mitpräsent.
Die generelle Notwendigkeit der Arbeitsteilung Bevor wir uns jenem Konnex in kritischer Weise genauer zuwenden wollen, gilt es festzuhalten, dass die Arbeitsteilung an sich unvermeidlich ist. Mit ihr gehen Spezialisierungs- und Optimierungspotenzen einher, ohne die eine Wohlfahrtssteigerung kaum möglich wäre. Gern wird dagegen – nicht völlig zu Unrecht – eingewandt, dass Vgl. auch die Metapher der Weihnachtsfeier: „Dur und Moll“ – „Männliches und Weibliches“ (W 496). H 245 [Hervorhebung getilgt – CR]. PhE 321, § 5. Erziehungslehre. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und Vorlesungen, hg.v. C. Platz, Berlin 1849, 619, zit. n. Walsemann, Frauen, 472. Elisabeth Hartlieb (dies., Geschlechterdifferenz, 184) macht darauf aufmerksam, dass Schleiermacher in seinem Konzept der geschlechtlichen Arbeitsteilung nicht nur von Traditionalismen getrieben war. Selbstentfaltung und Menschheitsentwicklung stehen potentiell in Konkurrenz zueinander. Die geschlechtliche Arbeitsteilung ermöglicht es Schleiermacher, beide Seiten zusammenzubinden, insofern die gesellschaftlichen Anforderungen an die Funktionen des Einzelnen nun qua Geschlechtscharakter in dessen Selbst eingeschrieben sind.
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dies mit einer Fragmentierung des Einzellebens erkauft sei, welche sich v. a. destruktiv auf jenes auswirke. Emile Durkheim nimmt diesen Gedanken auf, bleibt allerdings nicht bei dessen pessimistischer Conclusio stehen, sondern öffnet ihn wiederum, wodurch er eine eigene ethische Dignität erhält. Die Ergänzungsbedürftigkeit des Einzelnen muss nicht schmerzhaft ertragen werden, sondern kann umgekehrt als Einsicht in die Notwendigkeit der Anderen für das eigene Leben zu wechselseitiger Anerkenntnis motivieren und letztlich Solidarität stiften.⁴²⁶ Dieser soziale Eigenwert der Arbeitsteilung hat bereits bei Schleiermacher im Rahmen der Familie – wie wir sehen werden – eine besondere Bedeutung. Darüber hinaus kann Schleiermacher auch in der wachsenden Ausdifferenzierung der Arbeitsfelder an sich ein ethisches Gut erblicken, insofern diese eine Fortschreitung der begrüßenswerten Individualisierung des gesellschaftlichen Lebens als ganzem anzeige.⁴²⁷
Die Begründung des Aufgabenfeldes im Geschlechtscharakter Auf die Ausdifferenzierung der Arbeitsfelder lässt sich die bereits referierte Unterscheidung der Geschlechter nach Eigentümlichkeit und Ganzheitlichkeit nach Schleiermacher trefflich abbilden. Partizipation an der sich zunehmend mehr diversifizierenden Berufswelt erscheint als Sache des Mannes. Die Ganzheit des Hauses zu bewahren und zu pflegen hingegen als Angelegenheit des weiblichen Geschlechts. Damit sind wir zugleich bei der Frage nach der Begründungsrichtung zwischen Geschlechtscharakter und Arbeitsteilung. Für Schleiermacher gilt – wie wir sahen⁴²⁸ – trotz mancher Problematisierung eine Ableitungsreihe von naturalen Dispositionen, über psychische Charaktere, hin zu soziokulturellen Formativen. In der Weihnachtsfeier lässt er Eduard über die Frauen sagen: wie ihr bestimmt seid und gemacht, die ersten reinen Keime zu pflegen und zu entwickeln […]. Den Frauen, die sich dem heiligen Dienst [der Erziehung – CR] widmen, ziemt es überall, im Innern des Tempels zu wohnen als Vestalinnen, die es heiligen Feuers wachen. Wir [sc. die Männer – CR] dagegen ziehn außen herum in strenger Gestalt, üben Zucht und predigen Buße, oder heften den Pilgern das Kreuz an und umgürten sie mit dem Schwert, um ein verlornes Heiligtum zu suchen und wieder zu gewinnen.⁴²⁹
Zur prädisponierenden Kraft des Geschlechtscharakters wird gegenwärtig eher die Gegenrichtung eingeschlagen in Gestalt des Theorems vom ‚doing gender‘. Nicht der
Vgl. Durkheim, Arbeitsteilung. Es sei lediglich knapp kritisch angemerkt, dass in diesem Programm ein rasanter Wertigkeitswechsel postuliert wird. Über das Scharnier der Anerkennung wird eine Mangelbestimmung in ein Überschussmodell überführt. Ob dieser Überschritt, was seine Konsistenz anbetrifft, überzeugt, sei an dieser Stelle einmal dahingestellt. Was in jedem Fall zu kurz zu kommen scheint, sind die Ambivalenzen und Doppelcodierungen, die bleibend in den Verhältnissen stecken. Vgl. Psy 14 f. S.o. II.2.1. W 485 [Hervorhebungen – CR].
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Geschlechtscharakter bestimme, zu welchen Verrichtungen der Einzelne geschickt sei, sondern umgekehrt: in den Formen der Arbeitsteilung aktualisiere sich dessen Konstruktion.⁴³⁰ Wenn auch den Akten in ihrer performativen Kraft und nicht den mentalen Rollenbildern hierbei das apriori zugesprochen wird, so ist der Unterschied beider Erklärungsrichtungen – zumindest gegenwärtig noch – allerdings bei Lichte besehen sehr gering. Was beiden nämlich vorausgeht, ist der bedeutsame Faktor der Sozialisation, der Selbstverständlichkeiten schafft, die selbst bei expliziter Problematisierung eine hohe Widerstandskraft besitzen.⁴³¹ Auch für Schleiermacher wird zu gelten haben, dass das Erleben seiner eigenen Eltern einen hohen Einfluss auf die Aufgabenzuweisungen seiner späteren Geschlechtertheorie hatte.⁴³² Obiges Zitat aus der Weihnachtsfeier bekommt geradezu familienbiographische Züge, wenn wir uns vor Augen halten, dass Schleiermachers Vater als Feldprediger viel mit dem Regiment unterwegs war, während die Mutter mit den Kindern allein zu Haus blieb.
Erwerbsarbeit von Frauen Der ‚Normalfall‘ war die beschriebene Gestalt der ‚klassisch‘-familialen Arbeitsteilung zu Schleiermachers Zeit nicht. Dafür zeigt er auch ein Bewusstsein, wenn er über die Geschlechtscharaktere sagt: „[…] so können wir den ganzen Gegenstand nur in sol-
Vgl. dazu Schwartz, Peer, 18 f. Johannes Huinink und Karl Röhler gehen dieser These noch weiter nach und korrelieren sie mit dem aus emanzipatorischer Sicht überraschenden Befund, dass die geschlechtlich codierte Arbeitsteilung bei weitem nicht von allen Akteuren als problematisch empfunden wird. Es gebe „starke Hinweise auf symbolische Funktionen der Hausarbeit […]. Die geschlechtsspezifische Verteilung der Hausarbeit dient also nicht nur der Haushaltsgüterproduktion und dem Erreichen sozialer Anerkennung, sondern darüber hinaus der Konstruktion der Geschlechtsidentität. […] Dadurch wird auch verständlicher, warum viele Frauen und Männer die ungleiche und geschlechtstypische Arbeitsteilung im Haushalt nicht als unfair betrachten, wie es austauschtheoretische, aber auch feministische Ansätze vorhersagen, sondern sie im Gegenteil so belassen wollen.“ (Huinink/ Röhler, Arbeit, 51– 53). Huinink und Röhler stellen im Folgenden heraus, dass nicht bloß die öffentlich gelebte Geschlechterrollendifferenz die innerhäusliche Arbeitsteilung befördert, sondern auch die öffentliche Geschlechteregalität dies tun kann, insofern die innerhäusliche Arbeitsteilung nunmehr die fehlenden sozialen Geschlechtsidentitätsmarker kompensiert. Vgl. ebd. 53 f. Im Falle der familialen Arbeitsteilung (v. a. der innerhäuslichen) zeigt sich der Sachverhalt sogar noch schärfer, insofern diese in den meisten Fällen gar nicht explizit artikuliert und entschieden wird, sondern über die Stufe definitorischer Initiationsakte eine rasche Habitualisierung und Verfestigung erfährt. Hat beispielsweise nach dem Zusammenzug eines Paares die Frau die ersten Waschmaschinenladungen bestückt – wie sie es aus ihrem Elternhaus kannte –, ist es sehr wahrscheinlich, dass diese Aufgabe von beiden Partnern generell als ihr angewiesen empfunden wird. Ebenso verhält es sich mit der Primäraufgabe der Kindersorge über die notwendige Stillzeit hinaus. Vgl. dazu Maiwald, Liebe, 168 f. Ähnlich urteilen auch Dechant u. a.: Die Aufteilung von Erwerbsarbeit und Kinderpflege wird von den meisten Paaren vor der Geburt eines Kindes geplant, die Hausarbeitskontingente hingegen meist nicht. So ergibt sich, dass dieser Aspekt, obwohl ein hohes Bewusstsein für seine problematische Genderkodierung besteht, zumeist entweder dauerndes Konfliktfeld wird oder praktisch seinen ‚traditionellen‘ Ort angewiesen bekommt. Vgl. Dechant u. a., Hausarbeitsteilung, 163. Hierauf hebt auch ab: Frank, Selbstentfaltung, 61 f.
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chen Verhältnissen recht ins Auge fassen, wo es einen bestimmten Gegensatz gibt zwischen dem öffentlichen und häuslichen Leben“.⁴³³ Auf dem Lande war dies nicht der Fall und in der Stadt ebenfalls, insofern bei Arbeiterfamilien von einem häuslichen Leben kaum die Rede sein konnte. In der Masse der Bevölkerung war Frauenerwerbsarbeit um 1800 sowohl auf dem Lande als auch in der Stadt mithin selbstverständlich.⁴³⁴ Durch Arbeitsstellenverknappung und Professionalisierung im Sinne der Schaffung von Ausbildungsberufen, die nur Männern zugänglich waren, in der in England und deutschen Landen rasch voranschreitenden Industrialisierung wurden Frauen der Unterschicht im handwerklichindustriellen Bereich zunehmend in die als Zuverdienst schlecht bezahlten, gleichwohl jedoch zerschleißenden Hilfsarbeiten gedrängt.⁴³⁵ Die Lohnarbeit war für Ihre Familie ein notwendiges Zubrot – gesellschaftliche Anerkennung brachte sie kaum.⁴³⁶ Nach einem Höhepunkt des biedermeierlichen Alleinverdienermodells, der sich erst in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts einstellte, ist Erwerbsarbeit für Frauen gegenwärtig wieder selbstverständlich geworden.⁴³⁷ Als entscheidende Bedeutungsfaktoren ihrer Berufstätigkeit nennen sie zumeist ihre ökonomische Unabhängigkeit, die Selbstbestätigung im Beruf und den sozialen Kontakt zu den Kollegen.⁴³⁸ Die sich darin aussprechenden menschlichen Grundbedürfnisse nach Freiheitserfahrung, Anerkennungsgewinn und sozialen Kontakten bedenkt auch Schleiermacher. Interessant erscheint zunächst sein früher Einwand, dass nicht allein das häusliche Leben, sondern auch der Beruf das Leben des einzelnen in enge Grenzen bannt.⁴³⁹ Die befriedigende Lösung des Sozialitätsbedürfnisses kann für ihn
Psy 54. Man unterschied Männer- und Frauentätigkeiten, wobei nicht die Schwere der Arbeit entscheidend war; so war etwa das Wasserholen Frauenarbeit. Häufig übernahmen Frauen auch Männerarbeiten, was umgekehrt allerdings selten der Fall war. Vgl. Rentschler, Frauenarbeit, 223 – 229. Vgl. Schmid, Säugling, 249 f. Vgl. Rentschler, Frauenarbeit, 229 – 246. Alleinstehende Frauen jener Schicht waren entsprechend in besonders prekärer Lage. Vgl. dazu auch Bake, Frauenarmut. Aber auch die Mittelschicht musste sehr gut haushalten. Pia Schmid gibt für das Berlin um 1800 die Schätzung ab, dass 98 % der Bevölkerung unter dem Sparsamkeitsgebot lebten (dies., Frauenleben, 252). Erst seit 1977 gilt gesetzlich nicht mehr, dass die Frau den Haushalt zu führen hat, sondern dass dies Aufgabe beider Ehegatten ist und diese sie einvernehmlich zu strukturieren bzw. aufzuteilen haben. Vgl. Nave-Herz, Familiensoziologie, 155. Dreißig Jahre später konnte der Familienbericht der Bundesregierung (2006) die ‚traditionelle‘ geschlechtsspezifische Arbeitsteilung für beendet erklären (Spory, Familie, 83). „An die Stelle des ‚male breadwinner‘-Modells ist die Norm der Erwerbsarbeit für Männer und Frauen, Väter und Mütter getreten (‚adult-worker‘-Modell).“ (Honig, Ausbau, 360). Gegenwärtig ist das Zuverdienermodell bei Paaren mit 56 % die häufigste Erwerbskonstellation. Meist ist es der Mann der hierbei die volle Stelle innehat, während die Frau eine halbe Stelle wahrnimmt. Besonders häufig ist dieses Modell bei Paaren mit Kindern. Es steigt jedoch die Zahl der vollzeiterwerbstätigen Paare – gegenwärtiger Stand: 41 %. Vgl. Frodermann, Erwerbsumfang, 79. Vgl. Klees, Familien, 141 f. Vgl. dazu ThG 165. Vgl. auch G V, 111, 311, wo Schleiermacher die Verhältnissetzung zwischen öffentlicher Berufssphäre und häuslicher Arbeitssphäre hinsichtlich der größeren Freiheit sogar um-
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mithin nicht in der Vollberufstätigkeit liegen, sondern allein in der freien Geselligkeit.⁴⁴⁰ Auch eine Diastase zwischen dem Beruf als Ort der Selbstverwirklichung und dem restriktiven Heim gibt es bei Schleiermacher so nicht. Das stimmt gut mit dem Faktum zusammen, dass viele Menschen Berufen nachgehen müssen, die nur in geringem Maße kreative Selbstwirksamkeitserfahrungen und Entwicklungserlebnisse bereithalten, und dass im Gegenzug dazu die Haushaltstätigkeit auch nicht bloß als stupide Alltäglichkeit erlebt wird, sondern durchaus ebenso Potentiale für das Selbsterleben birgt.⁴⁴¹
Wertungsdifferenzen zwischen Haus- und Erwerbsarbeit Von einer subkutanen Abwertung des Häuslichen im Gegenüber zum öffentlichen Leben ist auch Schleiermacher – trotz manch gegenteiliger Beteuerungen – nicht frei. In seinen abwägenden Vorlesungen findet sich davon kaum eine Spur. In der Kanzelrede insinuiert er schon eher einmal ein Gefälle zwischen beiden Sphären,⁴⁴² im privaten Brief allerdings schreibt er es gerade heraus: Ach ihr lieben Weiber! was seid ihr glüklich dran mit eurer Rumpelwirthschaft und eurem Leinenzeug, daß euch nun die Zeit so kurz vorkommt und ihr meint, […] eure niedlichen Fingern [werden] nicht alle Stiche fertig machen können, ehe es zur Kirche läutet.⁴⁴³
Dagegen zählt Schleiermacher im Folgenden auf, was an gewichtigen Aufgaben noch vor ihm liegt: zwei große Kollegia, eine Platonband-Übersetzung, Predigten und eventuell noch die Abfassung eines weiteren Buches. Mochte seine Würdigung der alltäglich notwendigen Haushaltsverrichtungen auch nicht über die Dankbarkeit hinausreichen, dass sich jemand – d. h. eine Frau im
dreht: „Der Staat muß immer angesehen werden als ein Ganzes aus Familien die unmittelbare Theilnahme nur als ein deputirtes Geschäft. Die Weiber sind daher mit Recht ausgeschlossen durch Freiheit.“ Zum Verhältnis ihrer zur Familie s.u. II.3.3.4. Es ist nicht allein das Gegenüber zur Erwerbsarbeit, welches die Hausarbeit definiert und qualifiziert. Jean-Claude Kaufmann beschreibt die emotionalen Aspekte und Mechanismen, die sich an die Haushaltstätigkeiten selbst hängen. Er nennt die Momente des Widerwillens und der Lust, des Ärgers und der Belohnung, der Aversion, des spontanen Impulses und des (nachfolgenden) Stolzes, der Nostalgie, der Sinnlichkeit der Handlungen sowie das Erleben von künstlerischer und kontrollierender Selbstwirksamkeit. All dies erklärt, wie die häuslichen Tätigkeiten trotz ihrer Abwertung gegenüber der Erwerbsarbeit, einen hohen Eigenwert im jeweiligen Erleben einzunehmen vermögen, was empirische Studien – überraschenderweise – fortwährend bestätigen (Kaufmann, Mit Leib und Seele, 217– 249). Ann Oakley stellt heraus, dass die Hausarbeit und Kinderpflege ambivalent erfahren wird. Sie birgt die Schattenseiten der Monotonie und Isolation, der Last ständiger Verantwortung und Gebundenheit, aber auch die Versprechungen der Unabhängigkeit von Vorgesetzten, des Geschütztseins und der individuellen und emotionalen Grundierung des Handlungsfeldes. Vgl. Oakley, Hausarbeit, 55 – 63. Vgl. H 242. BB 191.
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Hause – deren annimmt,⁴⁴⁴ so zeigte er hohe Achtung vor der häuslichen Erziehungsund Gefühlsarbeit.⁴⁴⁵
Würdigungen der Erziehungs- und Gefühlsarbeit Prinzipiell sind die Aufgaben, welche sich aus dem Leben mit Kindern und in der ‚bürgerlichen Geselligkeit‘ ergeben, beiden Partnern angewiesen. So bezeichnet Schleiermacher in der Einleitung der ersten der Hausstandspredigten über die Kinderzucht ohne Ansehen der Geschlechterdifferenz die Kindererziehung als das „wichtigste Geschäft christlicher Eltern“.⁴⁴⁶ Bereits kurz darauf unterstellt er allerdings eine größere Nähe der Mutter zum Kind und dessen Förderung. Sie erscheint geradezu als die Mittlerin zwischen Kind und Vater:
In der Gegenwart hat sich die ‚Dequalifizierung der Hausarbeit‘ noch verschärft. Ulrich Beck konstatiert: „Vielfältige Geräte, Maschinen und Konsumangebote entlasten und entleeren die Arbeit in der Familie. Sie wird zur unsichtbaren und nie endenden Restarbeit zwischen Industrieproduktion, bezahlten Dienstleistungen und technisch perfektionierter Binnenausstattung der Privathaushalte.“ (Beck/Beck-Gernsheim, Chaos, 44). Jean-Claude Kaufmann (ders., Mit Leib und Seele, 19 f. 60 f) macht darauf aufmerksam, welch eine hohe Bedeutung all die täglichen Gegenstände und Verrichtungen, die ihrer Routine wegen kaum der geistigen Aufmerksamkeit bedürfen, doch für die Strukturierung des Alltags und Umfeldes und damit für das Selbstverständnis desjenigen haben, der diesen Alltag lebt und dieses Umfeld als Ausdruck seiner selbst versteht. So unscheinbar und selbstverständlich die Dinge auch erscheinen, so bedeutsam sind sie doch für die Orientierung des jeweiligen Lebens – sowohl im momentanen Akt, als auch in ihrem komplexen Zusammenspiel. Der soziale Aspekt des engen Verhältnisses von Alltäglichkeit und Orientierungskraft wird uns unten noch eingehender beschäftigen. (S.u. II.3.1.4; II.3.2.2; II.3.2.3; II.3.3.2) Dem gängigen und weitestgehend internalisierten Beschreibungsmuster von einer Vorordnung der sozialen Verhältnisse gegenüber dem Verhältnis zu den Dingen, dessen Wahlverwandtschaft zur historischen Beschreibung der Ablösung des ‚Hauses‘ durch die bürgerliche Kleinfamilie unübersehbar ist und das uns auch Schleiermacher implizit präsentiert, – möchte man anmerken – hält Kaufmann die Beobachtung gegenüber, dass das alltägliche Verhältnis zu den Dingen des Haushalts keineswegs zur Marginalie geworden ist. So heißt es bei ihm: „Durch diese Routinehandgriffe wird Tag für Tag nichts anderes als die Existenzgrundlage der häuslichen Gemeinschaft geschaffen, die ohne diese Handgriffe nichts wäre. ‚Den Haushalt machen‘ (im sachlichen Sinne) bedeutet auch, den Haushalt (im personalen Sinne) zu machen, also die Familie zu konstruieren.“ (Kaufmann, Mit Leib und Seele, 68). Sachlich weiterführend lesen wir zur ‚Gewinnbilanz‘ der Routinebildung bei Lenz, Zweierbeziehung, 182: „Routinen erlauben eine Freisetzung von Handlungspotentialen, machen eine Aufmerksamkeitsfokussierung auf andere Aufgaben und Probleme möglich. […] diese Freisetzungspotentiale können durchaus auch wiederum der Beziehung selbst zugute kommen. Durch den repetitiven Charakter wird eine Berechenbarkeit und Voraussagbarkeit von Handlungen ermöglicht, was die Chancen zu Kooperation in längeren und komplexeren Handlungsketten erst eröffnet.“ H 266 [Hervorhebung getilgt – CR].
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[…] der erste Blick des Kindes fällt auf das liebende Auge der Mutter; sie ist es, von der das erste frohe Lächeln des Kindes bemerkt zu werden wünscht, und das erste, was die Mutter es mitteilend lehrt, ist den Vater kennen und lieben […].⁴⁴⁷
Auch zur weiterreichenden Sozial- und Gefühlsarbeit sieht Schleiermacher das weibliche Geschlecht prädestiniert. Hierzu strengt er in seiner Theorie des geselligen Betragens einen interessanten Gedankengang an.⁴⁴⁸ Seine Ausgangsthese besagt, die freie Geselligkeit solle die Menschen aus den Zwängen und Beschränkungen des Berufs herausheben. Jenes hehre Ziel ist allerdings schwer zu realisieren, insofern man dazu neige, einen gemeinsamen Themenkreis zu finden, über den man sich austauschen kann. Dieser liegt nur allzu oft im Beruf. Sortieren sich die Männer in einer größeren Runde demgemäß nach ihren Zünften, so droht die Gesellschaft ihr Ziel zu verfehlen. Den einzigen Mehrwert kann Schleiermacher unter diesen Bedingungen allein darin finden, dass die Herren für diese Zeit wenigstens von der Sphäre des Hauses frei bleiben. Bei Frauen, wo Beruf und Haus dagegen auch noch in eins fallen, müssten unter dieser Voraussetzung die geselligen Zirkel höchst unbefriedigend ausfallen. Daher streben sie, so Schleiermacher, aus der Not zur geselligen Tugend der höheren Freiheit der Konversation. Sie suchen die Gesellschaft der Männer, mit denen sie „keinen Stand gemein haben, als den der gebildeten Menschen“ und werden, indem sie sich auf diesen gemeinsamen Nenner besinnen „Stifter der besseren Gesellschaft“.⁴⁴⁹ Die anregenden Erfahrungen, die Schleiermacher mit Henriette Herz, Dorothea Veit u. a. gesammelt hat, kommen hierin unmittelbar zum Ausdruck.⁴⁵⁰ Ganz in dieser Linie steht auch die Zeichnung seiner Adressatin der ersten beiden Lucindebriefe als Salondame, die Friedrich als „Meisterin des Gespräches“ würdigt.⁴⁵¹ Nicht die Erwerbsarbeit und die rechtlich garantierte Teilhabe am politischen Prozess, sondern das freie, kreative, soziale Leben erhält für Schleiermacher die primäre Bedeutung in Anerkennungsverhältnissen. Da beide Ebenen in ihren Geltungsprätentionen in Konkurrenz zueinander stehen, sieht Schleiermacher sich offenbar gezwungen, sie gegeneinander auszuspielen, allerdings nur am Orte eines Geschlechts. Auf Grundlage des bisher Dargestellten überrascht es wenig, welches H 272. Einen Grund für die größere Nähe zwischen Mutter und Kind und der erst nachträglichen Verbindung zwischen Vater und Kind gibt Schleiermacher in seinen späten Bemerkungen zur Philosophischen Ethik von 1832 an. Ganz naturalistisch argumentiert er hier: „Die Geschlechtsdifferenz giebt sich zu erkennen in dem Verhältniß beider Theile zum Kinde. Der Mutter war es ein Inneres, dem Vater ursprünglich ein Aeußeres.“ (PhE 650) Vgl. zum Folgenden ThG 178. ThG 178. Anders pointiert finden wir das Verhältnis im Brouillon. Hier identifiziert Schleiermacher Familie und freie Geselligkeit miteinander (detaillierter dazu s.u. II.3.2.3 sowie II.3.3.4) und schließt: „Zufolge des Geschlechtscharakters sind die Frauen die Virtuosinnen in dem Kunstgebiet der freien Geselligkeit, richten über Sitte und Ton. Also sind sie es auch in der Familie.“ (PhE 135 f). Elisabeth Hartlieb weist im Rekurs auf Germaine de Staël darauf hin, dass gemischte Gesellschaften, wie Schleiermacher sie in den romantisch geprägten Berliner Salons vorfand, die Ausnahme in deutschen Landen darstellten. Vgl. Hartlieb, Geschlechterdifferenz, 108, Fn 164. L 157.
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dies ist: während die Männer die öffentlichen Geschäfte regeln und von den sozialen und emotionalen Leistungen der Frauen profitieren, erbringen diese jene unter Entsagung der direkten Anteilhabe an der politisch-ökonomischen Sphäre. Jener Verzicht schafft nicht allein den Freiraum für die Hervorbringung der infrage stehenden sozialen Güter und Kommunikationsformen, sondern er kann nach Schleiermacher geradezu als der entscheidende Motor für diese gelten.⁴⁵² Auch unter veränderten Arbeitsmarktbedingungen hat sich nicht allein das romantische Programm erhalten, durch die Familie ein Widerlager zum kalten Rationalismen gehorchenden öffentlichrechtlichen Leben zu bilden,⁴⁵³ sondern auch die im Rahmen dessen bei Schleiermacher und anderen etablierte, exklusive Anweisung der Gefühlsarbeit an das weibliche Geschlecht.⁴⁵⁴ Nicht durchsetzen konnte sich hingegen deren Hochschätzung durch Schleiermacher gegenüber der prestigeträchtigeren Erwerbsarbeit.⁴⁵⁵ In enger Verbindung dazu steht sodann wiederum die Konstanz, dass es v. a. das weib-
Vgl. G I, 38., 15: „Wenn die Weiber eine politische Existenz bekämen wäre nicht zu besorgen, daß die Liebe und mit ihr der intelligible Despotismus und die formlose Gewalt zu deren Darstellung die Weiber von Natur bestimt sind verloren gehen würde?“ Elisabeth Hartlieb bemerkt hierzu: „Schleiermacher erkennt hellsichtig, dass das Fehlen jeglicher rechtlichen und politischen Macht Frauen zur intensiven Ausbildung ihrer persönlichen Einflusssphäre drängt, die sie im privaten und halbprivaten Bereich von Familie und Geselligkeit entwickeln und ausüben“ und „die er im Bereich der Geselligkeit und zu ihrer Ausbildung für unverzichtbar hält“ (Hartlieb, Geschlechterdifferenz, 108). Der Begriff des Intelligiblen weist meines Erachtens noch auf einen weiteren Aspekt hinaus. Karl Lenz macht darauf aufmerksam, dass die Machtverteilung in Beziehungen auch anders liegen kann, als es äußerlich anmutet, weil sich Macht ja nicht allein in in der Durchsetzung in Entscheidungssituationen ausdrückt, sondern bereits in der Anbahnung oder Verhinderung von Entscheidungssituationen (ders., Zweierbeziehung, 88). Auch Thomas Held konstatiert, „daß gerade in Ehe und Familie Machtkonfrontationen selten sind und Macht weniger über Entscheidungen als durch ‚non-decision‘ ausgeübt wird“ (ders., Machtverhältnisse, 75). Vgl. dazu auch BB 304: „laß Dich von den Andern nicht unterkriegen, laß Dir das Recht nicht nehmen in Deinem eigenen Hause und Deinem eigensten Manne zu erlauben, was Du selbst willst. Glaube mir, das Erlauben ist das theuerste Recht, und die Herrschaft aller Frauen beruht weit mehr darauf, als auf dem Verbieten.“ Zum gesellschaftsethischen Telos der geschlechtlichen Aufgabenteilung passt auch die Grenze, die Schleiermacher für die eheliche Außenkommunikation setzt: „Du sollst nicht falsch Zeugniß ablegen für die Männer; du sollst ihre Barbarey nicht beschönigen mit Worten und Werken.“ (K 9). Auch bei Schleiermacher selbst, dessen Briefe als performative Ausdrücke davon zeugen, dass er seine eigene Gefühlsarbeit weitestgehend nicht delegierte, finden wir Spuren davon. So schickt der Bräutigam seiner Jette einen Brief von ihm an ihre Tante mit der Bitte, sie möge ihn gemäß der in ihrer Familie üblichen Sitte verzieren und hält im Anschluss daran fest: „Das liegt nun alles auf Dir, mein Herz, wie noch vieles auf Dir liegen wird.“ (BB 386). Gefühlsarbeit wird häufig an die Frauen delegiert, „so beispielsweise in der Zuständigkeit für das Wohlbefinden in der Familie und die Pflege sozialer Kontakte oder in der professionellen Funktion personalisierter Freundlichkeit, Fürsorge und Herzlichkeit. Allerdings erfahren emotionale Leistungen ebenso wie Fürsorgearbeit im allgemeinen eine geringe soziale Wertschätzung und Anerkennung“ (Lange/Szymenderski, Arbeiten, 238).
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liche Geschlecht ist, welches die Ungleichzeitigkeiten zwischen Erwerbs- und Heimarbeit zu kompensieren hat.⁴⁵⁶
Die Persistenz der Geschlechterbilder und Aufgabenfelder Ein zentraler Faktor hinsichtlich der hohen Beständigkeit von Rollenbildern und Arbeitsdomänen ist die – medizinisch bislang und pragmatisch wahrscheinlich ewige – Unaufhebbarkeit der Gebundenheit von Schwangerschaft, Geburt und sich an das Stillen knüpfende Kleinkindsorge an das weibliche Geschlecht. In der Psychologie konstatiert Schleiermacher, solange die Frauen mit Gebären und Erziehen befasst sind, sind sie „von dem öffentlichen Leben abgezogen“; ist diese Lebensphase vorüber, so können sie kaum mehr Anschluss an die öffentliche Männerwelt finden; insofern sie im reiferen Alter den ‚Kulminationspunkt ihres Lebens‘ überschritten hätten, „entwickeln sich keine neuen Kräfte mehr in ihnen, und es kann also auch nichts Neues mehr hervortreten.“⁴⁵⁷ Die Kindersorge umfasste zu Schleiermachers Zeit der gemeinhin hohen Schwangerschaftszahlen wegen und mangels staatlicher Betreuungseinrichtungen einen großen Zeitraum im Durchschnitt weiblicher Biographien. Seine Diagnose ist mithin nicht bar jedweder Evidenz. Mit Blick auf die Gegenwart verfängt sie nicht mehr so stark – sowohl die Geburtenzahlen als auch die jeweiligen Betreuungszeiträume sind signifikant zurückgegangen. Dass Kinder ein Karrierehindernis darstellen, ist allerdings nicht zu bestreiten. Grund dafür ist nicht allein der berufliche Ausfall in der Elternzeit und die sich mit der privaten Kinderbetreuung ergebende Unflexibilität, sondern auch der ‚traditionalisierende‘ Effekt,
„Der Zeitaufwand für Hausarbeit ist ebenfalls zwischen Frauen und Männern verschieden […]. Die Schätzungen der durchschnittlichen Hausarbeitszeit der Männer für die Bundesrepublik Deutschland liegen seit Jahrzehnten bei etwa 10 Stunden pro Woche, und zwar unabhängig von jeglichen Bedingungsfaktoren. […] Die Zeit, die Frauen im Haushalt aufwenden, variiert dagegen stark, je nachdem, ob Kinder im Haushalt leben und ob die Frauen berufstätig sind oder nicht. Die Spanne reicht von 10 bis über 60 Stunden pro Woche.“ (Huinink/Röhler, Arbeit, 102). Noch detaillierter zur Beteiligung der Männer an der Hausarbeit: Künzler, Arbeitsteilung. Zum Phänomen dauerhafter Zeitknappheit, unter dem v. a. Mütter leiden vgl. Lange/Szymenderski, Arbeiten, 234– 237. Thomas Held diagnostiziert treffend: „Die Tatsache, daß die Erweiterung der traditionellen Rollenkonfiguration nicht mit einer entsprechenden Reduktion der weiblichen Rollenperformanz verknüpft ist, führt zu einer Überlastung der Frau. Diese Überlastung, welche im Begriff der Doppelrolle zum Ausdruck kommt, liegt darin begründet, daß (1) die Rollenausweitung der Frau selten von einer komplementären Rollenausweitung des Mannes begleitet ist und (2) die traditionelle Rollentrennung insofern gesellschaftlich erzwungen wird, als mindestens in den hier betrachteten hochentwickelten westlichen Ländern kaum Institutionen vorhanden sind, welche die Funktionen der weiblichen Rollenkonfiguration übernehmen könnten.“ (Held, Machtverhältnisse, 192. Vgl. auch Hill/Kopp, Familiensoziologie, 196. Maiwald, Paradoxien, 911). Ähnlich urteilt auch Michael-Sebastian Honig, „daß Frauen nicht im gleichen Maße individualisiert werden [d. h. Abstand vom familialen Fürsorgebedürfnis nehmen und sich den Mechanismen des Arbeitsmarktes verschreiben – CR], wie die ‚male breadwinnerfamily‘ erodiert“ (Honig, Ausbau, 361). Psy 54 f, Zitate 55.
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den sie auf die meisten Paare haben. Mit der Erziehungsarbeit geht zumeist auch ein Großteil der Hausarbeit auf den weiblichen Partner über.⁴⁵⁸ Eine Analyse jener Problematik, geschweige denn eine Lösungsstrategie, können wir von Schleiermacher kaum erwarten, steht er doch am Anfang der Rollenbildungen, die nunmehr brüchig werden. Ihre hohe Persistenz haben Schleiermacher und seine Zeit- und Gesinnungsgenossen mit zu verantworten. Ein Grund dafür liegt in ihrer Verankerung geschlechtlicher und familialer Ideale auf emotionaler Ebene.⁴⁵⁹ Rationale und pragmatische Argumente erweisen sich dagegen zwar nicht als unwirksam, aber auch eben nicht als sehr schlagkräftig.⁴⁶⁰
Vgl. Keddi/Seidenspinner, Arbeitsteilung, 162. 180 f. Huinink/Röhler, Arbeit, 102. Dechant u. a., Hausarbeitsteilung, 156. Karl-Otto Hondrich macht im Anschluss an Kaufmann darauf aufmerksam, dass Traditionalisierung keine schlichte Rückkehr zum Alten und Bekannten bedeutet, sondern eine aktive Neukonstruktion voraussetzt, die gegenwärtige Probleme bewältigen helfen soll (Hondrich, Dialektik, 301 f). Vgl. Huinink/Röhler, Arbeit, 112: „Die emotionale Verankerung der Leitbilder hat zur Folge, dass Gefühle als Sanktionen für die Geschlechtsnormen wirken. Das würde bedeuten, dass sich die Normen, die am stärksten emotional verankert (‚besetzt‘) sind, durchsetzen, auch wenn der Diskurs des Paares andere Normen des Zusammenlebens in den Vordergrund rückt. Das könnte auch zum Beispiel einen ersten Hinweis geben, wieso im […] als individualisiert bezeichneten Milieu trotz eines egalitären Diskurses zwischen den Partnern sich die latenten traditionellen Geschlechtsnormen auf der Ebene der Praxis durchsetzen: Sie sind durch die Sozialisationserfahrungen des Einzelnen, die geschlechtstypische Unterschiede aufweisen, stärker emotional besetzt als andere, z. B. die im bewußt egalitär geführten Diskurs geäußerten, Normen zur Arbeitsteilung und Haushaltsorganisation.“ Ebd., 113: „Es wird ein komplexes Zusammenspiel von sich reproduzierenden Gewohnheiten, zur Verfügung stehenden Fähigkeiten (Humankapitalien), und verinnerlichten Geschlechtsnormen angenommen, das zu einer erheblichen ‚Trägheit‘ der Paarinteraktion führt, die daher trotz rational vereinbarter Neuverteilungen der Hausarbeit nur sehr langsam verändert werden kann […]. Ein Wandel der Haushaltsorganisation ist daher möglich und nachweisbar, er läuft nur viel langsamer ab und ist schwieriger zu beobachten, als in der wissenschaftlichen Debatte gemeinhin angenommen.“ Zu einer weiteren Beschreibung jener Trägheit vgl. auch Kaufmann, Schmutzige Wäsche, 173 – 183. Bestätigt wird diese Diagnose dadurch, dass es vor allem die jungen und gebildeten Paare sind, denen daran gelegen ist und denen es auch gelingt, die traditionelle Hausarbeitsteilung (z.T.) zu überwinden. Vgl. dazu Huinink/Röhler, Arbeit, 102: „In einer Reihe von Studien wurde die Wirkung verschiedener Bedingungsfaktoren für die Verteilung der Hausarbeit zwischen den Partnern untersucht […]. Als bedeutsame Faktoren zeichneten sich dabei das Alter, das Bildungsniveau der Partner, die Berufstätigkeit der Frau, die Dauer der Beziehung und das Vorhandensein von Kindern im Haushalt ab. Je jünger die Partner sind und je höher ihr Bildungsniveau ist, desto gleichverteilter ist die Hausarbeit. Die Berufstätigkeit der Frau wirkt in dieselbe Richtung. […] Je länger eine Beziehung andauert, desto traditioneller ist die Verteilung der Hausarbeit. Das gilt unabhängig von der Lebensform.“ [Hervorhebung getilgt – CR.] Bestimmte ‚Kernbereiche‘ behalten sich gleichwohl auch die meisten von ihnen vor, sodass sich Haus- und Wäschepflege eher in weiblicher Hand versammeln, während der Mann für Reparaturen, Garten- und Autopflege hauptverantwortlich ist. Vgl. ebd., 199.
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Das Vereinbarkeitsproblem Der gesellschaftspolitische wie individualethische Problemzusammenhang, der sich entlang der beschriebenen Dilemmata gebildet hat, firmiert unter dem Diktum der ‚Vereinbarkeit von Familie und Beruf‘. Gegenwärtig haben wir es dabei nicht allein mit dem Hindernis zu tun, das das ‚notwendige Übel‘ der Erwerbsarbeit für die nach Ausweitung strebende private Erfüllung bedeutet.Vielmehr ist der Beruf – im Zuge der umfassenden ökonomischen Integration der Gesellschaft – selbst zu einem der bedeutsamsten Sinnstifter neben der Familie geworden, und konkurriert mit ihr daher in noch schärferer Weise. Denn sobald der Beruf nicht bloß Existenzsicherung sondern darüber hinaus noch subjektive Erfüllung verspricht, wird ihm weitgehend ungehindert nachgehen zu können zu einem Integral des – sich hier vor allem auf der Gefühlsebene artikulierenden – Menschenrechts auf Selbstbestimmung und Glückstreben.⁴⁶¹ Wo dies gehindert wird, ist ein Feind ausgemacht. Dass unter jener Ägide gerade der eigene Nachwuchs und der aus Liebe gewählte Lebenspartner zu Störfaktoren werden, die durch Regulation zu beseitigen sind, wird als schmerzlicher Interessenkonflikt empfunden.⁴⁶² Weil es um konkurrierende Bedeutungsdimensionen und nicht allein um Fragen des Managements von Ungleichzeitigkeiten verschiedener Aufgaben geht, wird verständlich, dass das Problem auch durch eine flexiblere Taktung von Arbeitszeiten und den Ausbau von Betreuungseinrichtungen letztlich nicht zu lösen ist.⁴⁶³
Diese Sicht ist freilich ganz im Sinne des Arbeitsmarktes. Vgl. dazu Spory, Familie, 83 – 86. Für die Rolle des Vaters (bei berufstätiger Mutter) beschreiben Röhr-Sendlmeier/Bergold (dies., Vater) jenen Konflikt in seiner Ambivalenz: Die analysierten Väter übernehmen mehr Aufgaben in der Kinderbetreuung und sind mit der Beziehung zu ihren Kindern zufriedener. Die gemeinsam verbrachte Zeit und das investierte Engagement stehen in einem direkten Verhältnis zur erlebten Beziehungsqualität. Zugleich fühlen sie aber auch die Anmutungen des Berufserfolgs. Beide Konzepte – Karriereorientierung und gefühlsbetonte Vaterschaft – stehen in direkter Konkurrenz zueinander. Dem Ruf nach quantitativem und qualitativem Ausbau von Kindertagesstätten ist in jüngerer Vergangenheit die Forderung nach flexibleren Bedingungen des Arbeitsmarktes selbst getreten (v. a. im Gespräch sind Teilzeitarbeit, Abbau von Überstunden auch für karriereinteressierte Akteure, Arbeitszeitensplitting und Home-Office-Möglichkeiten). Vgl. dazu Lange/Szymenderski, Arbeiten, 241– 244. Arlie Hochschild macht darauf aufmerksam, dass eine höhere Flexibilisierung der Arbeitszeiten und die Möglichkeit der Nutzung einer qualitativ hochwertigen Ganztagskinderbetreuung das Problem jedoch nicht unbedingt entschärft. Vielmehr gewinnt unter der Voraussetzung, dass Arbeit immer möglich ist, jene eine Primärstellung, die ihrerseits wiederum Stress aufbaut, besonders, wenn bei den Akteuren ein Bedürfnis nach familialem Privatleben besteht. Vgl. das Referat dessen bei Hill/Kopp, Familiensoziologie, 204 f. In dieser Weise urteilt auch Michael-Sebastian Honig, wenn er festhält: „Das Vereinbarkeitsproblem ist eine Konsequenz struktureller Unverträglichkeiten“ zwischen dem Arbeitsmarkt und der Form der bürgerlichen Kleinfamilie (Honig, Ausbau, 357). „Auch ein erfolgreiches Management der Vereinbarkeit von Familie und Beruf stiftet noch keinen als sinnvoll erlebten Lebenszusammenhang. Ein gut ‚gemanageter‘ Familienzusammenhang ist ‚erwerbsfreundlich‘; er rückt näher an den Markt. Vor diesem Hintergrund ist das Vereinbarkeitsproblem auch mit einer Neuaufteilung von Haus- und Erziehungsarbeit zwischen Müttern und Vätern nicht gelöst, solange das betriebliche Prinzip der Effizienz, das ‚Zeit gewinnen müssen‘ dominiert, denn Familienleben muß ‚Zeit verlieren‘ können.“ (Ebd., 370).
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Die Notwendigkeit einer ehelichen Kultur der Anerkennung Sind Gesellschaft und Politik auch nicht aus der Verantwortung entlassen, so wird doch deutlich, dass sie für das familiale Binnenleben nur mittelbar verantwortlich gemacht werden können. Beziehungszufriedenheit bemisst sich v. a. an den Kommunikations- und Arbeitsteilungsformen, die in der Familie selbst gepflegt werden. Schleiermacher bestimmt in der Psychologie die „bewußte Unterordnung des einzelnen unter das Gesamtleben“ als ‚Tapferkeit‘.⁴⁶⁴ Ihre Manifestationssituationen erblickt er „überall, wo die Erhaltung und Förderung des Gesamtlebens Anstrengungen erfordert, welche mit Gefahren für das Einzelleben verbunden sind. Die Möglichkeit solcher finden wir überall in den allerfriedlichsten Verhältnissen und in den allereinfachsten Beschäftigungen.“⁴⁶⁵ Anerkennungsbekundungen wie Ehrerweise und Dankbarkeit für selbstlos Geleistetes haben für Schleiermacher ihren Ort mithin nicht allein auf dem Schlachtfeld und in politischen Repräsentationszentren, sondern auch im schlichten und alltäglichen sozialen Nahfeld.⁴⁶⁶ Auch wo keine Gefahren für das Überleben des Einzelnen bestehen, gibt es Formen der Unterordnung des Eigen- unter das Gemeininteresse. Besonders häufig sind diese im familialen Leben, weil sie dessen Voraussetzung sind. Auch hier verdienen sie Anerkennung, erhalten sie allerdings nicht selbstverständlich, was Konfliktpotential birgt.⁴⁶⁷
Psy 34. Psy 34. Schwangerschaft und Geburt, aber auch Fabrik- oder Bergarbeit – um nur einige Beispiele zu nennen – waren stets mit Gefahren für Leib und Leben verbunden, die der Einzelne auch um der Gründung und Erhaltung seiner Familie auf sich nahm. Gerade unter der Situation der Doppel-Erwerbsarbeit kann Anerkennung nicht mehr allein Wertschätzung bedeuten, sondern impliziert die Forderung nach Beteiligung. Meuwly u. a. halten fest, dass das Maß der Partizipation des Mannes an der Kinderbetreuung und besonders an der Hausarbeit in einem engen Zusammenhang zur Konfliktgeladenheit von Partnerschaften steht. Insgesamt ist dabei weniger die tatsächliche Quantität der geleisteten Arbeit entscheidend, als vielmehr die subjektiv empfundene Beteiligung (Meuwly u. a., Einfluss). Wie sehr diese differieren kann, stellen Keddi und Seidenspinner heraus. So schätzen Frauen den Anteil der Hausarbeit der Männer generell niedriger ein als diese selbst. Welche der beiden Gruppen sich hierbei verschätzt, vermögen Keddi und Seidenspinner nicht anzugeben, merken allerdings an, dass dieser Befund darauf hinweist, dass die gefühlte Belastung beider Partner hoch ist (Keddi/Seidenspinner, Arbeitsteilung, 167. 186). Jean-Claude Kaufmann (ders., Schmutzige Wäsche, 199 – 221) beschreibt die innerhäusliche Arbeitsteilung, die wegen ihrer vielen Unklarheiten und Selbstverständlichkeiten bei gleichweise jene irritierenden Gleichheitsidealen konfliktträchtig ist, aus der Perspektive eines paarpsychologischen Balanceaktes zwischen „Selbsthingabe und Schuldenrechnung“. Ebd., 257– 290 präzisiert er diese Problematik geschlechtercodiert. Während das weibliche Geschlecht gemeinhin stärker an häuslicher Ordnung interessiert sei und so in die ‚Falle‘ der weitestgehenden Realisierung derselben tappe (vgl. dazu auch Klees, Familien, 150 f), wird der Mann als der ‚schuldbewußte Schüler‘ dargestellt, der gern hin und wieder psychische Zugeständnisse der Demütigung an die Frau macht, um den Status quo aufrecht zu erhalten. Beide Beschreibungsmuster, sowohl ‚Falle‘ als auch ‚Schuld‘ ergeben sich aus der Korrelation der bestehenden Verhältnisse zum Gleichheitsideal. Kai-Olaf Maiwald macht noch tiefergehend darauf aufmerksam, dass ein Verzicht auf die ‚klassische‘ Arbeitsteilung für die Anerkennungsstrukturen eines Paares nicht unproblematisch ist. Wenn Hausarbeit nur noch als notwendiges Übel begriffen
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Kai-Olaf Maiwald stellt heraus, dass befriedigende wechselseitige Anerkennung in einer Paarbeziehung nicht nach erbrachter Leistung an sich zugeteilt wird oder danach, was ein Partner für den anderen tut, sondern sie sich am Verhältnis der Leistung zum ‚Kooperationsmodus‘ des Paares bemisst, in dem es bewusst und großenteils auch unbewusst fixiert, was ihm wichtig ist.⁴⁶⁸ „Die häusliche Arbeitsteilung – als wichtiger Teil der ‚Gesamtarbeitsteilung‘ des Paares – ist eingerückt in die Fragen ‚Wie sind wir und wie wollen wir sein?‘, die die Identität des Paares ausmachen. Sie ist mit anderen Worten Ausdruck der Besonderheit der Paarbeziehung.“⁴⁶⁹ Schleiermachers Wertschätzung der Gruppenidentitäten, die den Einzelnen orientieren, aber nicht absorbieren, und die sich auf Grundlage von Handlungszusammenhängen konstituieren, lässt sich hierauf passend abbilden.⁴⁷⁰
Das Ideal wechselseitiger Ergänzung Mit dem ‚Kooperationsmodus‘ ist zugleich auch eine Perspektive gewonnen, die für Schleiermachers Bestimmungen zum Geschlechterverhältnis ganz entscheidend ist und die uns bereits zum nächsten Unterkapitel hinüberleitet: die wechselseitige Ergänzung der Partner. In seinen Vorstellungen dazu konnte er unmittelbar bei Aristoteles anschließen, den er folgendermaßen übersetzt: Die eheliche Liebe liegt in der Natur, denn diese Gesellschaft ist dem Menschen noch weit natürlicher, als die bürgerliche, da eine Familie eine viel frühere und viel nothwendigere Verbindung ist, als ein Staat und die Erzeugung den Tieren so viel wesentlicher ist. Bei ihnen erstrekt sich die Gemeinschaft nur bis auf diesen Punkt nur mit dem Unterschied, daß bei ihnen blos die Fortpflanzung bei uns auch die vermehrte Bequemlichkeit und Annehmlichkeit des Lebens der Zwek ist. Zu dem Ende werden gleich die Geschäfte vertheilt; einige übernimmt der Mann, andre die Frau, und indem sie das zusammen verbinden, was jedes einzeln vermag, so haben sie die Art beide beides zu genießen. Darum ist diese Verbindung voller Vortheile und Annehmlichkeiten, welche schon an sich eine feste Freundschaft gründen wenn sie nun noch tugendhaft sind, wenn ihre Liebe durch eigenthümliche Vollkommenheiten eines jeden Theils erhöht wird – welche unerschöpfliche Quelle von Freuden!⁴⁷¹
wird, das von beiden Partnern in einem konfliktträchtigen Aushandlungsprozess bewältigt werden muss, und Erwerbsarbeit nicht als Dienst am Erhalt der Familie, sondern als Ort der Selbstverwirklichung erscheint, haben die Akteure kaum Aussicht auf Anerkennung bei ihren Partnern. Im schlechtesten Fall gibt es bei der Hausarbeit keinen Lohn der Würdigung und bei der Erwerbsarbeit haben die Partner ihren Lohn der Anerkennung bereits dahin (Maiwald, Liebe, 159). Was darüber hinausgeht wird tendenziell nicht gewürdigt bzw. gar als Verschwendung von Ressourcen getadelt, was darunterbleibt hingegen ebenfalls Gegenstand von Konflikten. Vgl. dazu Maiwald, Liebe, 170. Maiwald, Liebe, 167. Detaillierter dazu s. o. I.4.1.4. AÜ 61 f.
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Die eheliche Arbeitsteilung ermöglicht nach Aristoteles nicht allein eine höhere Wohlfahrt, sondern stärkt auch die Freundschaft und Liebe der Partner zueinander,⁴⁷² was eine wechselseitige ethische Erhöhung einschließt.⁴⁷³ In den Hausstandspredigten rühmt so auch Schleiermacher das Glück, welches das Erleben des Zusammenwirkens der verschiedenen Anforderungen und Gaben in der Ehe vermittelt. Eheliche Arbeitsteilung pointiert er hier zum einen als das Einstimmen in die ‚göttliche Ordnung‘.⁴⁷⁴ Zum anderen profiliert er deren Wohltaten als genussreich, materiell und emotional überfließend produktiv und ehestabilisierend.⁴⁷⁵ In dieser Fülle bietet sie sich geradezu an, auch theologisch eingesetzt zu werden, was Schleiermacher in seiner Ekklesiologie tat. Wie Mann und Frau sich gegenseitig in der Ehe ergänzen, so seien auch die Aufgaben der Kirche aufeinander bezogen.⁴⁷⁶ Das (männliche) Predigtamt und der (weibliche) diakonische Dienst bezeichnen die reziprok inkommensurablen Kernbereiche religiösen Lebens in Gestalt von Wort und Tat.⁴⁷⁷ Mag der Aspekt der Wechselseitigkeit bei Schleiermacher auch streng geschlechtercodiert sein, so behauptet er abgesehen davon doch ebenso gegenwärtig noch uneingeschränkte Bedeutung; denn wie auch immer die Arbeitsteilung aussieht, ob „traditionell“ oder streng „gleichberechtigt“: die Partner erleben darin eine wechselseitige Abhängigkeit, die je nach Gelingen stabilisieren oder belasten, gar
Ähnlich interpretiert sie gegenwärtig auch Kai-Olaf Maiwald, indem er die partnerschaftliche Arbeitsteilung auf das je individuelle Paarkonzept abbildet und so in jenem scheinbar streng pragmatisch-, traditionell- oder machtbestimmten Feld Anschlussstellen für den emotionalen Aspekt der Liebe zu identifizieren vermag. Gelingende alltägliche Paarinteraktion, die Aufgabenteilunsgprozesse einschließt, aber auch die Gestaltung des Wohnungsinterieurs usw. betrifft, ist nur möglich, wenn ein gemeinsamer Identitätsentwurf besteht (s.o.). Dieser wiederum verdankt sich keinen kalten Aushandlungsprozessen, sondern wird ermöglicht durch die ‚Liebe‘, die das Anderssein des Anderen anerkennt und sich für ein Einlassen auf dieses öffnet. „Die Liebe ist darin [sc. in der alltäglichen Praxis – CR] insofern präsent, als sich etwas von der anfänglichen Verliebtheit über den Prozess der Dezentrierung und der Paarintegration gewissermaßen in den Alltag ‚gerettet‘ hat. Sie lebt in der Kooperationsstruktur fort.“ (Maiwald, Liebe, 177). Die Struktur des Paaralltags mit all ihren kleinen Reibungsflächen wird hier interessanterweise nicht als das Ende der Verliebtheit apostrophiert, sondern als deren Artefakt. Detaillierter dazu s.u. II.3.1.3. Vgl. H 238. Insofern die familiale Fürsorge mit ihren verschiedenen Arbeitsanforderungen als Prolongation der Fortpflanzung zu gelten hat, kann Schleiermacher hier unmittelbar an seine sexualethischen Bestimmungen anschließen. Zum fertilitätsbereiten Sexualakt als ‚ordnungsgemäßes Handeln‘ s.o. II.1.2.1. Vgl. H 254: „[…] auch von Seiten des Lebensgenusses […] Welche reiche Quelle von Freuden in dem Anschauen ihrer gegenseitigen Arbeiten, in den Ergießungen ihres Herzens darüber, in der Kenntnis, die jeder Teil von dem besonderen Gebiete des andern nimmt, in dem gedeihlichen Leben mit ihren Kindern und in dem Anteil, den sie anderen vergönnen an diesem häuslichen Glück.“ Zum Aspekt der Ehestabilisation vgl. H 253 f. Detaillierter zum Thema s.u. II.3.3.2. Die direkte Geschlechteranalogie bietet Schleiermacher nur in der Erstauflage der Glaubenslehre (CG1 § 152.3, 243). Vgl. dazu Hartlieb, Geschlechterdifferenz, 294. Vgl. CG2 § 134.1, 347.
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frustrieren kann. In jedem Fall von Partnerschaft zeigt sich die wechselseitige Verwobenheit, die das gemeinsame Leben orientiert und prägt.
2.3 Das Prinzip der Symmetrie Emanzipative Töne Neben der verbreiteten Subordination des weiblichen Geschlechts unter das männliche war Schleiermacher durch Friedrich Schlegel und das Herrnhutertum auch noch mit einer anderen Sicht auf die Geschlechter vertraut; nämlich einer, die eine starke Weiblichkeit und eine vollständige Symmetrie der Geschlechter propagierte.⁴⁷⁸ Der junge Schlegel schreibt: Was ist häßlicher als die überladene Weiblichkeit, was ist ekelhafter als die übertriebene Männlichkeit, die in unseren Sitten, in unseren Meinungen, ja auch in unserer besseren Kunst herrscht? […] Aber eben der herrschsüchtige Ungestüm des Mannes und die selbstlose Hingegebenheit des Weibes ist schon übertrieben und häßlich. Nur selbständige Weiblichkeit, nur sanfte Männlichkeit ist gut und schön.⁴⁷⁹
Ihren Niederschlag fand diese egalisierende Tendenz bei Schleiermacher selbst bekanntlich besonders in seinem Katechismus der Vernunft für edle Frauen. Schleiermacher hatte erkannt, dass ein Streben nach dem Ideal einer Gleichrangigkeit der Geschlechter zuvorderst die Aufmerksamkeit für das weibliche Geschlecht bedeuten musste.⁴⁸⁰ So gebot er der Frau seiner Zeit: „Laß dich gelüsten nach der Männer Bildung, Kunst, Weisheit und Ehre.“⁴⁸¹ Die Voraussetzung, dafür, dass jenes Streben Erfolg versprach, formuliert Schleiermacher sodann im ersten ‚Glaubensartikel‘ seines Katechismus. Hier geht er von einer ursprünglichen Ganzheit bzw. unendlichen Diversität der Menschheit aus, die jenseits aller Geschlechterdichotomie liegt.⁴⁸² Im Rückgriff auf sie können und sollen sich die Frauen ihrer gesellschaftlichen Beschränkungen entschlagen, so der zweite ‚Glaubenssatz‘.⁴⁸³ Im dritten schließlich kann der Katechet das Thema des 10. Gebots wieder aufnehmen und auf Grundlage der beiden vorangegangenen Bekenntnisse ganz unabhängig von jedweder Geschlechtercodierung allgemein bekennen: Vgl. dazu auch Dilthey, Leben I, 489 f. Friedrich Schlegel, prosaische Jugendschriften, Bd. 1, 59. Zit. n. Viëtor, Liebe, 47. Bereits in sein erstes Gedankenheft schrieb er: „Unter die Stände die geschont werden müßen gehört auch der Frauenstand.“ (G I, 162., 37). K 10. K Gl 1: „Ich glaube an die unendliche Menschheit, die da war, ehe sie die Hülle der Männlichkeit und der Weiblichkeit annahm.“ K Gl 2: „Ich glaube, daß ich nicht lebe, um zu gehorchen oder um mich zu zerstreuen, sondern um zu seyn und zu werden; und ich glaube an die Macht des Willens und der Bildung, mich dem Unendlichen wieder zu nähern, mich aus den Fesseln der Mißbildung zu erlösen, und mich von den Schranken des Geschlechts unabhängig zu machen.“
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Ich glaube an Begeisterung und Tugend, an die Würde der Kunst und den Reiz der Wissenschaft, an Freundschaft der Männer und Liebe zum Vaterlande, an vergangene Größe und künftige Veredlung.⁴⁸⁴
Klassische Männerdomänen werden aus weiblichem Munde gepriesen und auf diese Weise angeeignet. In jener Radikalität, die sich vor Theodor von Hippel und Mary Anne Radcliffe nicht zu verstecken braucht, hat sich Schleiermacher nur einmal geäußert. Zu ambitioniert und unzeitgemäß war dieses Programm, als dass es auf andere Reaktionen hoffen konnte, denn weitgehende Ignoranz oder gar Spott.⁴⁸⁵ Zudem widersprachen derlei Emanzipationsbemühungen, wenn sie rechtlich politisch gewendet wurden dem geltenden Gesetz.⁴⁸⁶ Die Geschlechteregalität blieb gleichwohl ein Lebensthema Schleiermachers.⁴⁸⁷ Noch im Pädagogikkolleg von 1826 hielt er an der Überzeugung des Katechismus fest, dass eine entscheidende Stellschraube für jenes Anliegen in der Bildung lag.⁴⁸⁸
Die ehevermittelte Egalisierung der Geschlechter Ein anderes Vorgehen der egalisierenden Verhältnisbestimmung der Geschlechter klingt in den ersten Geboten des Katechismus bereits an, erscheint in jener Kurzschrift allerdings noch nicht so prominent, wie in späteren Entwürfen: gemeint ist die Koordination der Geschlechter in der Institution der Ehe über das Movens der Paarliebe.⁴⁸⁹ Sowohl die Verschränkung von Individualität und Sozialität,⁴⁹⁰ als auch die
K Gl 3. Vgl. Nowak, Schleiermacher und die Frühromantik, 277 f. Schleiermachers Hochschätzung der Frauen und seine Bildungsforderung wurde von wenigen geteilt. Gegen gelehrige Frauen hatten etwa Rousseau, Kant, Goethe und Herder große Einwände. Man wollte ihnen schmeicheln und sie hochloben, diskutieren hingegen wollte man mit ihnen nicht; nahm bei ihnen auch andere Talente und Begabungen des Geistes an – was Schleiermacher gleichwohl, wie wir sahen, auch tat. Vgl. dazu Pretzschner, Frauenbilder, 72– 77. Das Preußische Landrecht bestätigte die bestehende Asymmetrie zwischen Mann und Frau. Die Frau blieb unter der Vormundschaft des Vaters und sodann des Ehemannes und hatte ihre ‚ehelichen Pflichten‘ zu erfüllen. Zwar gingen mit ihrem Stand auch Rechte einher, jedoch reichten die Befugnisse des Mannes deutlich weiter und waren problemloser durchzusetzen. Vgl. dazu Alder, Landrecht. Gegen Paul Kluckhohn, der behauptet, daß „emanzipatorische Forderungen für Schleiermacher nur ganz peripher waren“ (ders., Liebe, 432). An seine Braut schreibt er 1808: „Ich könnte aber auch nur in einer Zeit leben und gedeihen, wo man anfängt die Weiber zu erkennen, und was ich nur kann, habe ich schon immer beigetragen und werde es noch immer mehr thun diese Zeit weiter zu fördern.“ (BB 256). „[…] fast überall, wo eine höhere Bildung Eingang gefunden hat, nimmt die Ungleichheit ab. So lange daher die Kultur fortschreitet, müssen wir es natürlich und notwendig finden, daß die Ungleichheit und das Zurücktreten des weiblichen Geschlechts im Abnehmen sein werde.“ (Pädagogikkolleg von 1826, zit. nach Nowak, Schleiermacher Leben, 324). Gegen Kurt Nowak, der in seiner Katechismus-Interpretation behauptet, dass das hier dargestellte (neue) Mann-Frau-Verhältnis „seine Letztbegründung in der Liebe“ erfahre (ders., Schleiermacher und die Frühromantik, 284). So bereits auch: Kluckhohn, Liebe, 435. Die Fluchtlinie der Glaubensartikel ist
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Rekonstruktion der Geschlechterbilder als Konstrukte wechselseitiger Gegenüberstellung⁴⁹¹ und der Arbeitsteilung als Strategie reziproker Ergänzung⁴⁹² legt diese Strategie für Schleiermachers Bestimmung der Geschlechteregalität nahe. Trivial ist sie gleichwohl nicht.⁴⁹³ Schließlich haben wir es hierbei nicht allein mit der eher politischen Frage nach der Geschlechteregalität zu tun, sondern auch mit dem systematisch noch tiefer liegenden Problem der Vereinbarkeit von Leibbezogenheit und Allgemeinheit des Geistes.⁴⁹⁴ Eine zentrale Voraussetzung dafür, dass die Ehepartner als die „Brennpunkte der gemeinschaftlichen Sphäre“⁴⁹⁵ erscheinen können, ist – wie die Metapher der Ellipse bereits andeutet – ihre Zweiheit. Eine familial vermittelte Geschlechteregalität konnte es für Schleiermacher mithin nur unter der Voraussetzung der Monogamie geben.⁴⁹⁶
doch, wie wir oben sahen, eine andere. Dagegen ist eher Wilhelm Dilthey Recht zu geben, der behauptet, Schleiermacher habe in der Psychologievorlesung sein Programm modifiziert (ders., Leben I, 498). Jene Modifikation hat allerdings schon frühere Vorläufer in den Monologen, wie wir unten sehen werden. S.o. I.4.1. S.o. II.2.1. S.o. II.2.2. Jürgen Franks kritischer Einwand, der Bezug auf die Häuslichkeit und das gemeinsame Leben darin verhindere den Gedanken an die Emanzipation der Frau bei Schleiermacher ist durchaus ernst zu nehmen.Vgl. Frank, Selbstentfaltung, 139 f. In seinem ersten Gedankenheft stellt Schleiermacher selbst die These auf, dass die Ehe der gesamtgesellschaftlichen Emanzipation der Frau eigentlich im Wege stehe: „Wenn die Ehen nur Konkubinate wären könnte das weibliche Geschlecht weit mehr Verdienste haben, und eine Frau würde nie mehr gelten als sie werth wäre. Sie hätte Gelegenheit sich emporzuschwingen.“ (G I, 6., 7). Vgl. die Anmerkung von 1832 zu § 7 (PhE 650): „Die Geschlechtsfunction läßt sich nicht isoliren, die Identität der Vernunft läßt sich nicht verkennen. Also ist zwar eine Ungleichheit, aber nur eine qualitative. Die daraus mögliche Einseitigkeit wird aufgehoben durch das an die Geschlechtsvermischung als momentane Identität des Bewußtseins angeknüpfte Zusammenleben, Ehe.“ PhE 136. Vgl. ChS 341– 343. Beil 69. PhE 650. Auch Helmut Schelsky konstatiert, dass partnerschaftliche Symmetrie am ehesten und stabilsten mit der sozialen Form der Einehe gegeben ist (ders., Soziologie, 34 f). Dass Frauen in Gesellschaften, die die Polygamie für den Mann vorsehen, zumeist eine nachgeordnete Stellung haben, liegt auf der Hand – siehe auch Schleiermachers Hinweis auf die Verhältnisse im ‚Muhamedanismus‘ (ChS 342). Aber auch unter der gesellschaftlichen Voraussetzung der Geschlechtergleichheit stehen polyamore Beziehungsformen stets besonders in der Gefahr durch ein schärferes Auftreten oder auch nur subjektives Erfahren von Asymmetrie destabilisiert zu werden. Hierarchiebildungen waren in jedem Harem und sind auch in jeder offen gestalteten Beziehungsform nahezu unvermeidlich, weil Sozialität eben mehr ist, als ein Rahmen zur Erlangung von Eindrücken für komplett autonome und in ihrer Vereinzelung stabile Individuen. Soziale Beziehungen sind und bleiben verfänglich, so sehr ein als Autonomie und Offenheit getarnter Solipsimus diesen ‚Makel‘ auch abzublenden versucht. Detaillierter zum Problem s.u. II.3.3. Walter Schubart spiegelt das Verhältnis von Symmetrie und Liebe auch ins Religiöse: „Das letzte Hauptmerkmal der erlösenden Liebe ist ihre Wechselseitigkeit. Sie ist Liebe, die auf Gegenliebe wartet oder antwortet. Sie setzt in der Erotik die volle Ebenbürtigkeit der Geschlechter, in der Religion die Gotteswürdigkeit des Menschen voraus. Hier liegt die zweite große erotische Leistung des Christentums: Es hob die Stellung der Frau gegenüber dem
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Ob sich dieser Entwurf im Falle Schleiermachers nun eher als „Figurationsideal harmonischer Ungleichheit“⁴⁹⁷ oder positiver als „Modell egalitärer Komplementarität der Geschlechter“⁴⁹⁸ ausnimmt, werden wir im Folgenden zu prüfen haben. Einsetzen können wir mit Schleiermachers früher Übersetzung und Kommentierung von Buch 8 der Nikomachischen Ethik. Aristoteles führt dort verschiedene Staatsformen ein und bestimmt sodann: In den häuslichen Gesellschaften kann man Gemälde und Skizzen dieser Verfaßungen finden. […] Die Ehe ist eine Aristokratie der Gatte herrscht vermöge eines innern Rechts seiner Würde gemäß, d. h. in allen Dingen wo diese es erfordert, was der Gattin ziemt überläßt er ihrer Willkühr. Will er seine Herrschaft auf alles ausdehnen, so entsteht eine Oligarchie – denn dann geht er über seinen Vorzug hinaus; er kan nicht so handeln, in so fern er der beßere ist.⁴⁹⁹
Die Würde des Mannes garantiert seine Herrschaft und begrenzt sie zugleich. Hat er eine herausragende Position inne, so kann er zwar auf vielerlei Weise seine Macht ausbauen; die damit verbundene Ehre kann er allerdings nur auf einem Wege behaupten: dem des verantwortungsbewussten und maßvollen Handelns. Die Figur vom Dienst, den der Herrschende in erster Linie zu leisten hat, wird uns in Schleiermachers Ehereflexion der Hausstandspredigten wiederbegegnen. Aristoteles fügt noch einen weiteren Gedanken hinzu, der deutlich macht, dass es hier nicht um ein politisches, sondern um ein freundschaftliches Verhältnis zu tun ist: In jenen Abartungen [der Ehe – CR] hingegen, wo die Pflichten zu klein gegen einander sind, ist auch nur wenig Liebe, und in der schlechtsten, der Despotie nemlich ist fast gar nichts davon
Mann und des Menschen gegenüber Gott. Es erhöhte den jeweils Unterlegenen, damit eine wechselseitige Spende der Erlösung möglich werde. Die Frau kann dem Mann nicht Erlöserin sein, wenn, wie bei den Griechen, ihr Gefühlsleben und die Neigung zu ihr in das niedere Liebesreich […] verwiesen wird […].“ (Schubart, Religion, 111). Bram van Stolk und Cas Wouters zit. nach Lenz, Zweierbeziehung, 94. [Hervorhebung – CR.] Hartlieb, Geschlechterdifferenz, 33. [Hervorhebung – CR.] Elisabeth Hartlieb kann in ihrer Rekonstruktion auch von einem „Modell der polaren Komplementarität“ (ebd., 37) bzw. von einer „komplementäre[n] Egalität“ (ebd., 220) sprechen. Geradezu emphatisch gibt sie sich ebd., 226: „Schleiermacher Eheverständnis bietet eine theologisch gedeutete Balance zwischen funktionaler, asymmetrischer Rollendifferenzierung im sozialen Zusammenhang und individuellen egalitären Einheitsvorstellungen. Es wirkt orientierend und entlastend, indem es die von einem egalitären Liebesbegriff geprägte intime Binnenrelation des Paares als integralen Bestandteil der christlichen Ehe positiv aufnimmt und diese über den Begriff der ‚göttliche[n] Ordnung‘ mit der Außenbeziehung des Paares in Gestalt der geschlechtsspezifischen Aufteilung der gesellschaftlichen Sphären verbindet.“ Wie stark dieses Äußere allerdings auf das Innere des Paarverhältnisses wirkt und entsprechend die Egalitätsansprüche untergräbt, bedenkt Hartlieb in diesem Zusammenhang nicht. Siehe auch die Würdigung ebd., 230: „Schleiermachers Theologie der Ehe gelingt die Verbindung von protestantischer Theologie und moderner Lebensform zu einer kongenialen Einheit der patriarchalen bürgerlichen Ehe, die von einem personalen Liebesethos geprägt ist. Damit verankert er das Komplementaritätsmodell der Geschlechter entlang der konventionellen Zuordnung von Männlichkeit und Weiblichkeit tief in der protestantischen Theologie.“ AÜ 59.
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übrig. Und ganz natürlich wo der regierende und der beherrschte gar nichts mit einander gemein haben, können sie so wenig Liebe zu einander fühlen, als sie Pflichten gegen einander zu erfüllen haben.⁵⁰⁰
In seinen Anmerkungen dazu nimmt Schleiermacher den Gedanken von der Liebesäquivalenz der Pflicht ganz selbstverständlich auf.⁵⁰¹ Erst später wird er ihn eingehender bedenken. Rechte und Pflichten gegeneinander zu haben, bedeutet unter den Voraussetzungen der Standesehe bereits per se eine gesellschaftliche Adäquanz der beiden Partner. Unter dem Blickwinkel des romantischen Konzepts besagt es darüber hinaus, Gemeinsamkeiten zu besitzen, die ihrerseits die Voraussetzung für Liebe und Freundschaft zueinander sind, welch letztere wiederum eine Symmetrie der Partner vermitteln. In einem Zusatz zur Philosophischen Ethik von 1816 benennt Schleiermacher die seines Erachtens zentralen Punkte, in denen Ehepartner übereinstimmen sollten. Den einen identifiziert er in der Gestalt ihres sexuellen Triebes, den anderen erblickt er in ihrer Bildung.⁵⁰² Bezüglich seiner eigenen Braut hatte er sehenden Auges beim letzten Punkt Abstriche gemacht und in seiner Ehe dafür wohl auch bezahlt.⁵⁰³ Was Schleiermacher in seinen Anmerkungen zu Aristoteles dagegen bereits 1788 bewegte, war der Kommunikationsaspekt. So bringt er das, was Aristoteles mit aristokratischer Haltung und Pflicht und Liebe gegeneinander fasst, auf die Bestimmung, dass Paare, ganz gleich wie die jeweiligen Rollen nach außen hin auch definiert sein mögen, intern doch alles zusammen entscheiden. Stelle man dies in Rechnung,
AÜ 60.Vgl. auch ebd.: „Gatte und Gattin stehn in einem aristokratischen Verhältniß, alles ist nach dem innern Werth abgemessen, dem bessern wird das bessre zu Theil und jeder erhält auf diese Weise, was ihm zukommt, so mit ihren Gesinnungen, so auch mit ihren Rechten und Verbindlichkeiten.“ Vgl. AAnm 14: „Aristoteles stellt uns noch ein andres Beispiel ungleicher Verbindungen auf [neben dem Verhältnis zwischen Vater und Kind – CR], nemlich die Ehe. Hier ist der Grund zu lieben beinahe derselbe und die Ungleichheit entsteht hauptsächlich aus der verschiednen Summe der Rechte und Pflichten, und deswegen möchte ich beinahe anstehn diese Verbindung wenn sie so behandelt wird wie es geschehn sollte unter die ungleichen zu sezen.“ Vgl. PhE 330 Fn 3, Zusatz am Rande von 1816: „Die Sittlichkeit besteht a) im Gleichgewicht beider Seiten des Geschlechtstriebes, b) im unbefangenen Uebergang von der Vielheit unbestimmter Verhältnisse zur Einheit des wahren. – Diese Geselligkeit ist nur auf der gleichen Bildungsstufe möglich. Verbindung verschiedener Stufen ist Mißheirath, wo äußere Bewegungsgründe oder physische Seite dominiert haben müssen.“ (Zum letzteren s.o. II.1.1.2). Vgl. BB 137: „Das habe ich ganz herrlich gefunden in Deinem Briefe, daß Du alles, was Du wunderliches von Dir selbst sagst, immer gleich selbst widerlegst. Da sprichst Du von der Armut Deines Geistes und Herzens und von dem Reichthum des meinigen, und dann findest Du wieder, daß alles, was ich sage, schon vorher Deine Ansicht gewesen ist, nur nicht so klar und bestimmt ausgesprochen. Das ist überhaupt mein Beruf, klarer darzustellen, was in allen ordentlichen Menschen schon ist, und es ihnen zum Bewußtsein zu bringen. Aber Du mußt freilich genauer damit übereinstimmen, als viele andere, weil auch das, was wirklich meine Eigenthümlichkeit ist, Dir geläufig sein muß und durchschaulich, sonst könntest Du ja nicht die Meine sein. Dabei bleibe also auch und stelle Dich mir gleich, wie es Mann und Weib sein müssen, […] Und so wollen wir nur immer Eins sein, wie es sich gehört, und uns nichts drum kümmern, ob oder wie der Eine mehr ist oder weniger als der Andere.“
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so verkläre sich die ‚Ungleichheit der Rechte‘ in eine bloße ‚Ungleichheit der Geschäfte‘.⁵⁰⁴
Eheliche Egalität in gesellschaftlicher Ungleichheit Spätestens seit der prominenten These von Robert Blood und Donald Wolfe: „Die Macht wird zugunsten jenes Partners verteilt sein, der die größten Ressourcen zur Ehe beisteuert“,⁵⁰⁵ ist man der Vorstellung gegenüber, Partnerschaften würden sich von selbst symmetrisch regulieren, skeptisch.⁵⁰⁶ Die faktische Einflussrichtung zwischen Partnerschaft und Gesellschaft scheint dem Wunsch Schleiermachers gerade entgegenzulaufen. Interessanter Weise scheint er dafür auch selbst ein Gespür gehabt zu haben.⁵⁰⁷ So kommt es, dass Schleiermacher im Brouillon argumentativ versucht, die faktischen Besitzverhältnisse einer durchschnittlichen bürgerlichen Ehe umzukehren. Dies kann freilich nicht rechtlich, sondern allein ethisch perspektiviert geschehen: […] es giebt keinen andern sittlichen Besiz als das Bilden: ich besize das, in dessen Bildung ich begriffen bin. Also sind die Frauen die sittlichen Besizerinnen, die Männer nur die rechtlichen als Repräsentanten der Familie beim Staat.⁵⁰⁸
Im fünften Gedankenheft hatte er sich noch radikaler gegeben. Auf die These, der rechte ethische Umgang mit Besitztümern liege nicht in deren Behauptung, sondern ihrer Verwaltung, lässt Schleiermacher hier die Forderung folgen, die Männer sollten im Sinne dessen, all ihren Besitz als das Eigentum ihrer Frauen ansehen. Dies hätte sodann sogar rechtliche Konsequenzen, weil ihre Meinung schließlich öffentliches Vgl. AAnm 14: „Gesezt auch der Mann hätte überall die gesezgebende Gewalt und die Frau nur einen Theil der executiven, so werden dennoch beide (wenn sie anders dabei würkl. Freunde sind und aus diesem Gesichtspunkt werden sie ja hier nur betrachtet) über alles mit einander zu Rath gehn, der ganze Unterschied wird darin bestehn, daß der Mann es ist, der den Beschluß ankündigt, und diese Ungleichheit der Rechte wird sich nur in eine Ungleichheit der Geschäfte verwandeln.“ Blood, Robert O./Wolfe, Donald H., Husbands and Wives. The Dynamics of Married Living, New York 1960, 12, zit. n. Held, Machtverhältnisse, 109. Später wurde diese These präzisiert auf die „Form von Entscheidungen, die Transaktionen zwischen der Familie und dem äußeren System regeln“ (Held, Machtverhältnisse, 110). Die stark ökonomische Schlagseite jenes Analyseinstruments, die andere paarrelevante Arten von Ressourcen unterbelichte, kritisiert: Hill/Kopp, Familiensoziologie, 198. Einen weiteren Überblick über die Diskussion der ressourcenorientierten Machttheorie bietet Nave-Herz, Familiensoziologie, 160 – 166. Zum Hinausgehen über eine zu mechanistisch verfahrende Ressourcentheorie vgl. weiter Held, Machtverhältnisse, 134: „Allgemein formuliert bedeutet dies, daß die beiden Gatten zwischen den Ressourcen als Ausdruck der jeweiligen Position in der Struktur und den ehelichen Machtverhältnissen als wertende Akteure vermitteln: es wird also eine relative Autonomie der Reaktion der Gatten auf bestimmte Ressourcenkonstellationen angenommen.“ Bei der Grundthese bleibt es gleichwohl. Vgl. AÜ 59: „Bisweilen maßen sich auch die Weiber einer Obergewalt an, wenn sie etwa reiche Erbinnen sind, und dann wird auch wie in Oligarchien der Antheil an der Regierung nicht nach Verdienst sondern nach Maaßgabe des Reichthums und der Gewalt vertheilt.“ PhE 136.
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Gewicht hat. Zu stützen versucht Schleiermacher dieses Programm mit einer naturalistischen ‚Selbstverständlichkeit‘, die den Erhalt der Menschheit im weiblichen Geschlecht gründet.⁵⁰⁹ In der Psychologievorlesung setzt er sodann ganz auf letzteren Punkt. Was im öffentlichen Leben kaum realisierbar erscheint, soll durch den rechten Blickwinkel auf die Wirkungen im Privaten kompensiert werden.⁵¹⁰ Auch wenn Frauen die direkte Gestaltung von Politik und Arbeitswelt kaum möglich ist, haben sie mittelbar – wenngleich auch nicht messbar⁵¹¹ – größten Einfluss darauf, nämlich durch die Erziehung ihrer Söhne, der öffentlichen Entscheidungsträger der Zukunft.⁵¹² Dass die häusliche Erziehung nicht die einzige Bildungs- und Sozialisationsquelle ist, derer sich die Orientierung von Menschen verdankt; dass dieses Theorem in der Gefahr steht, eine Instrumentalisierung der Kinder für eigene Interessen zu decken, die Schleiermachers Bildungsideal direkt widerspricht; dass es sich bei den Mächtigen von morgen nur um eine sehr kleine Elite handelt und ‚morgen‘ eher in 30 Jahren bedeutet – all dies übergeht Schleiermacher hier und so erscheint sein Programm eher als Vertröstung ambitionierter Frauen, denn als ernstzunehmender Baustein für ein
Vgl. G V, 178., 327: „Die Frauen sind auch darin viel edler daß sie alles im Hause als fremdes Eigenthum ansehn und nur verwalten. Aber eben so sollten auch die Männer alles als das Eigenthum der Frauen ansehn; und weil die Ansicht der Männer die öffentliche ist so sollten eben bürgerlich und rechtlich alles Eigenthum die Frauen besizen. Es folgt auch schon aus der Mütterlichkeit denn sie erhalten eigentlich doch das Geschlecht.“ Es finden sich Hinweise darauf, dass Schleiermacher sogar zuversichtlich war, die häusliche Egalisierung könnte auch auf die Gesamtgesellschaft verändernd wirken. Dies stimmt zum einen mit dem ‚Keimzellen-Theorem‘ zusammen (s.o. I.4.Einleitung). Zum anderen ist jene Interpretation durch PhE 199 gedeckt. Hier entfaltet Schleiermacher die These, dass geschichtlich eine Symmetrie in der Familie die Voraussetzung für den weiteren Aufbau einer Kultur sei, folgendermaßen: „Nur eine elementarisch mangelhafte Organisation kann untergehn. Das gilt von der Familie des Alterthums, durch Unterdrückung des weiblichen Theils […] Daher das Christenthum von einem weit minder cultivirten Volke ausging, das aber eine mehr organische Familie hatte. Auch schloss es sich zuerst dem zurückgedrängten Theil der hellenischen Familien an, Weibern und Sklaven, […].“ Zur Ausstrahlungskraft der häuslichen „Gleichheit des Geistes […] und der Liebe“ vgl. auch H 375 f, Zitat ebd., 376. Vgl. Psy 57 f. Vgl. Psy 52: Hier betont Schleiermacher „[d]ie Einwirkung des weiblichen Geschlechts auf die Neugeborenen, und das ist etwas so Großes und Immenses, daß dadurch alles wieder aufgehoben wird, was man als einen Vorzug des männlichen Geschlechtes ansehen könnte.“ Sodass auch „wenn das weibliche Geschlecht nicht die Leitung des bürgerlichen Lebens hat, ihm doch die Leitung des künftigen männlichen Geschlechts angehört.“ Schleiermacher zieht das Fazit, „daß sich in der Tat beide Geschlechter in Beziehung auf die Entwicklung des menschlichen Geschlechts vollkommen gleich stellen.“ Psy 53 hält Schleiermacher sodann fest, dass die Verwirklichung dieses gesellschaftlichen Einflusses, der den Frauen damit zuteilwird, voraussetzt, dass deren Freiheit und Selbständigkeit anerkannt wird. Zugleich spielt er zur Untermauerung seiner Koordination die Geschlechterdichotomie zwischen dem allmählichen Handeln der Frauen und der spontanen Entscheidungsbegabtheit und –kraft der Männer ein. Zu den Frauen als Erzieherinnen und ihrer entsprechenden Stellung in der Gesellschaft nach Schleiermacher vgl. auch Nowak, Schleiermacher Leben, 323 f.
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tragfähiges Egalisierungsparadigma. Gleichwohl ist ihm darin Recht zu geben, dass in der schweren Pflicht, ein Kind zu erziehen eine große – an sich erst einmal individuelle – Aufgabe und zugleich Würde liegt und dass die familiale Erziehung für die Stabilität und Entwicklung einer Gesellschaft und ihrer Werte ganz erheblich ist.
Bleibende Asymmetrien Versucht Schleiermacher die gesellschaftliche Zurücksetzung der Frau, solange sie besteht, durch Deutungsangebote wie das der erziehungsvermittelten politischen Anteilhabe erträglich zu machen, so zementiert Fichte sie durch ihre Proklamation als einer intrinsisch motivierten. Die Moral wird zum Vehikel weiblicher Unterdrückung, insofern Fichte die Unterordnung der Frau unter den Mann paradoxerweise zu ihrer eigentlichen Größe stilisiert, an der sie auch selbst ein unbedingtes Interesse haben müsse.⁵¹³ Heidemarie Bennent schließt in ihrer Fichte-Rekonstruktion: In widerstandsloser Devotion verdoppelt die Frau das männliche Ich, das so im Privatraum seine Individualität schrankenlos ausleben kann. Fichtes Entwurf des weiblichen Idealtypus korrespondiert dem Ideal einer privaten Insel des Glücks inmitten einer rauhen gesellschaftlichen Wirklichkeit.⁵¹⁴
Auch gegenwärtig wird an die Partnerschaft oft die Erwartung herangetragen, ein Hort der Ruhe, Bestätigung und des persönlichen Glücks zu sein; nunmehr allerdings für beide Geschlechter.⁵¹⁵ Von Fichte lässt sich hierfür lernen, dass dies nicht immer ohne Zurücknahme eines der Partner gelingen kann. So hält auch Schleiermacher in einer Tagebuchnotiz fest: „Personalität läßt sich nicht verschmelzen ohne Aufopferung, daher auch die Fichteschen und Kantischen Eheideen“.⁵¹⁶ Die Gefahr der Korrumpierbarkeit eines einseitigen Unterordnungsverhältnisses liegt gleichwohl auf der Hand.⁵¹⁷
„[…] das Weib ist nicht unterworfen, so daß der Mann ein Zwangsrecht auf sie hätte: sie ist unterworfen durch ihren eigenen fortdauernden notwendigen und ihre Moralität bedingenden Wunsch, unterworfen zu sein. Sie dürfte wohl ihre Freiheit zurücknehmen, wenn sie wollte; aber gerade hier liegt es; sie kann es vernünftigerweise nicht wollen.“ (Fichte, Grundriß des Familienrechts. Erster und zweiter Abschnitt. In: Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1776), 2. Abschnitt, § 4, 341, Zit. nach Bennent, Galanterie, 118 f [Hervorhebungen getilgt – CR]). Der Mann soll dieser weiblichen Selbstaufgabe in Großmut entgegenkommen und es ihr auf diese Weise leicht machen, ihn zu respektieren und umfassend ihrem eigenen Leben vorzuordnen. Vgl. dazu Bennent, Galanterie, 119 f. Bennent, Galanterie, 121. Vgl. Rosa, Resonanz, 341– 353. Detaillierter dazu s.u. II.3.1.4. Zit. nach Viëtor, Liebe, 46. Zu den problematischen Grenzlinien ‚harmonischer Ungleichheit‘, die sich in Gewaltbeziehungen ausdrücken, vgl. Gräßel, Gewaltbeziehungen. Hier wird die gegenseitige Abhängigkeit der Partner aufgezeigt, die durch die überspitzten Geschlechterbilder des starken Mannes und der nachgiebigen, mütterlichen, einfühlsamen, aufopferungsvollen, verzeihenden, fürsorglichen und in ihrem Leiden
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Interessant erscheint, dass Schleiermacher selbst auch dort, wo er sich egalisierend äußert, ein Gefälle der Geschlechter aktualisiert.⁵¹⁸ Von solchen Hinweisen sind beispielsweise einige in den brieflichen Versuchen enthalten, seine Braut über ihre Zweifel an der Verbindung mit ihm, dem angesehenen Intellektuellen, zu trösten. So setzt er selbstverständlich voraus, dass er, der Mann, es ist, an dessen Placet die innereheliche Gleichstellung hängt.⁵¹⁹ Er unterschreibt die (scheinbare) Nachordnung des häuslichen hinter das öffentliche Leben; betont, dass wenn ein Unterschied an ‚Geist und Charakterstärke‘ zwischen zwei Partnern besteht, dieser den Primat des Mannes bedeuten sollte; und er greift das Fichtesche Moralisierungsparadigma auf, indem er das weibliche Geschlecht als das reinere beschreibt,⁵²⁰ womit auch bei ihm ein Anspruch verbunden ist.⁵²¹
herausragenden Frau gestützt wird, sodass plausibel wird, warum auch solche Beziehungen Stabilität entwickeln können und etwa Frauen, die ihre Misshandler verlassen, darüber oft Schuldgefühle und Minderwertigkeitskomplexe entwickeln können. Thomas Held beschreibt differenziert, worin die nach wie vor hohe Persistenz der männlichen Rollendominanz begründet liegt: „Selbst bei erfüllter Reziprozitätsnorm, d. h. einer Äquivalenz der von den Gatten erbrachten Leistungen, hat der Mann aufgrund der größeren Machtgeladenheit der von ihm produzierten Güter einen gewissen Statusvorsprung, dem eine ‚normale‘ (beschränkte) Dominanz entspricht.“ (Held, Machtverhältnisse, 154). „Der hypothetische Fall der Statusgleichheit zwischen Mann und Frau würde dann auftreten, wenn die Rollenperformanz des Mannes etwas geringer wäre als es der Reziprozitätsnorm entspricht, d. h. die Äquivalenz etwas zugunsten der weiblichen Werte verletzt wäre. Das Modell der Abweichungen und Statusdifferenzen ist also asymmetrisch, da wegen des für die traditionelle Ehe, d. h. für den Reziprozitätsfall angenommenen Statusvorsprung des Mannes auch der maximal denkbare Statusunterschied zu seinen Gunsten größer ist als der entsprechende maximale Statusunterschied zugunsten der Frau. Der erfolgreiche Mann kann einen größeren Statusvorsprung gegenüber der Ehefrau erreichen als umgekehrt jene über ihren erfolglosen Ehemann mit geringer Rollenperformanz. Entsprechend ist im ersten Fall die Dominanz des Mannes über seine Frau größer als im zweiten Fall die weibliche Dominanz über den Mann. In dieser Asymmetrie kommt der Patriarchalismus der gesamtgesellschaftlichen Kultur zum Ausdruck.“ (Ebd., 155). Vgl. BB 137: „Dabei bleibe also auch und stelle Dich mir gleich, wie es Mann und Weib sein müssen […].“ Darin, die Frauen als das reinere Geschlecht zu betrachten liegt ein Novum, das nicht nur zu den Repressalien Fichtescher Art führte, sondern auch als echte Würdigung zu verstehen ist. Zuvor (bis hinein in das Spätmittelalter über die Renaissance zur Frühneuzeit – siehe etwa die Konstruktion des Hexereidelikts, das sich v. a. an Frauen band) galt das weibliche Geschlecht als das für allerlei Schwäche und Sünden empfänglichere. Vgl. dazu auch das eindrückliche Zitat der Christine de Pizan (1405) bei Pretzschner, Frauenbilder, 65 f. Vgl. BB 311: „Was Du sagst über das ungleiche Verhältniß von Mann und Frau, darin hast Du von einer Seite nicht unrecht. Die Einweihung des Mannes und seine Tüchtigkeit in Wissenschaft oder Kunst oder bürgerlichem Leben erscheint soviel größer als die Gegenstände, worin die Frau ihr Talent entwikkeln kann, daß es scheint, als müsste sie, wo der Mann recht tüchtig ist, sich immer untergeordnet fühlen, und wenn die Frau an Geist und Charakterstärke über den Mann hervorragt, das giebt gewiß immer ein schlechtes Verhältniß. Aber wenn sie den Mann versteht, wie die wahre Liebe ihn immer verstehn lehrt, und wenn sie im rechten Sinne Mutter ist und Gattin, so kann doch der Mann sie nur mit dem Gefühl der vollen Gleichheit umfassen, und da sie sich in vieler Hinsicht, wenn die Eitelkeit sie nicht besizt, reiner und mehr unbeflekt von der Welt erhalten kann als der Mann, so ist das
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Die christliche Ehe Im bürgerlichen Leben sei eine gewisse Subordination des weiblichen Geschlechts normal, aber sie dürfe nicht über eine reine Ordnungsfunktion hinaus bestimmend werden, so Schleiermacher in der Christlichen Sitte. ⁵²² In der Kirche hingegen gelte die gleiche Heilsunmittelbarkeit für beide Geschlechter.⁵²³ In dieser theologisch-anthropologischen Symmetriebetonung weist Schleiermacher durchaus Nähen zum pietistischen Programm Zinzendorfs auf. Es zeigen sich aber auch Unterschiede. Für Schleiermacher haben wir bereits eine Zweigeschlechtlichkeit der Seele festgehalten.⁵²⁴ Auch bei Zinzendorf gibt es eine solche, allerdings mit dem Unterschied, dass allein der Heiland (als Bräutigam) eine männliche Seele habe, während alle Menschen eine weibliche besitzen. Der irdische Bräutigam erscheint bei ihm als bloßer Stellvertreter des himmlischen, d. h. bereits in der irdischen Ehe sind beide Brautleute die Ehefrau des Heilands.⁵²⁵ So sollen sie sich die Führung der Ehe und Familie teilen, wie auch in der ‚Gemeine‘ jedes Amt doppelt zu besetzen sei.⁵²⁶ Erkauft ist diese strenge Symmetrie, die Schleiermacher auch – wie wir bereits sahen – für die Binnenkommunikation der Ehe behauptet, durch eine Herabwürdigung der irdischen Ehe als ganzer zu einer reinen Interimsgestalt.⁵²⁷ Schleiermacher erblickt mehr in ihr, gerät in ihrer theologischen Würdigung dadurch aber auch in Probleme. So hat er bei der Klärung der Analogie von Christus und Gemeinde mit Mann und Frau im Rahmen seiner ersten Hausstandspredigt zu erweisen, dass diese nicht darin liegen kann, „daß Christus alles ist und wir nichts“.⁵²⁸ Vielmehr betont er hierbei – wie wir ebenfalls bereits sahen⁵²⁹ – die Aufforderung zu einer ‚hingebenden‘ und ‚befreienden Liebe‘ der ‚Dienstbarkeit‘.⁵³⁰ Damit sind wir beim Angelpunkt seines Symmetriekonzepts angelangt, der nun nochmals einer genaueren Aufmerksamkeit bedarf: die Liebe.
auch wieder eine Seite, wo der Mann sie über sich stellt mit vollem Recht, und ohne daß das im mindesten das wahre Verhältniß stören könnte. Unschuldiger seid Ihr doch in der Regel immer als wir […] und so ist eben alles von der Natur herrlich und schön geordnet.“ Vgl. ChS 341 f: „[…] für den Staat ist der Mann allein Repräsentant der Familie und das weibliche Geschlecht dem männlichen immer subordinirt, was bei rohen Völkern oft so weit geht, daß der Zustand der Weiber sich wenig von dem der Sclaven unterscheidet […]. ChS 342: „Die christliche Kirche aber erkennt solche Unterordnung nicht an; alle menschlichen Seelen stehen ihr in einem und demselben Verhältnisse zu dem göttlichen Werke der Erlösung […].“ Vgl. auch ChS Beil 69. S.o. II.2.1: „es wäre toll keinen Geschlechtsunterschied der Seele anzuerkennen.“ (PhE 131). Vgl. Beyreuther, Ehe-Religion, 50 f. Vgl. Beyreuther, Ehe-Religion, 55. Vgl. Beyreuther, Ehe-Religion, 50. Vgl. H 243. S.o. II.2.1. H 244. Vgl. auch P 10, 775.
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Die Liebe als Symmetriegarant Um nicht zu weit vorzugreifen, wollen wir die Liebe hier allein in ihrem Stellenwert für das Symmetriekonzept von Partnerschaft betrachten.⁵³¹ Die romantische Liebe, etwa im Gegensatz zum Verehrungsmodus der ‚Minne‘, ergeht sich nicht allein in der Lust am eigenen Zustand der Sehnsucht und Erhebung, sondern sie fragt zugleich nach dem Wohl des Geliebten. In dieser Ausrichtung, die im Zweifelsfall eine Zurücknahme des Eigeninteresses einschließt, liegen zugleich Chancen und Gefahren für einen egalitären Aufbau von Beziehung. Beide führt uns Schleiermacher in den Monologen vor Augen. Hier zeichnet er zunächst das Ideal: Es bindet süße Liebe Mann und Frau, sie gehn den eignen Heerd sich zu erbaun.Wie eigne Wesen aus ihrer Liebe Schooß hervorgehn, so soll aus ihrer Naturen Harmonie ein neuer gemeinschaftlicher Wille sich erzeugen; das stille Haus mit seinen Geschäften, seinen Ordnungen und Freuden, soll als freie That sein Dasein bekunden.⁵³²
Faktisch muss der junge Ethiker hingegen oft anderes beobachten, so spricht er weiter: Jeder hat und macht sich seinen Willen nach wie vor, abwechselnd herrscht der Eine und der Andere, und traurig rechnet in der Stille Jeder, ob der Gewinn wohl aufwiegt was er an baarer Freiheit gekostet hat. […] Es sollte jedes Haus der schöne Leib, das schöne Werk von einer eignen Seele sein, […] und Alle sind in stummer Einförmigkeit das öde Grab der Freiheit und des wahren Lebens.⁵³³
Auf den ersten Blick scheint die Gefahr darin zu liegen, dass sich die Partner eben nicht aufeinander einlassen und nicht zu aller erst nach dem anderen fragen, sondern ihre eigenen Pläne in die Beziehung hineintragen und sie über den Partner hinweg, oder noch schlimmer via Manipulation des Partners gegen ihn durchsetzen. Die Ehe wird zu einem Dauerschlachtfeld subversiver Kampfstrategien. Symmetrie kann dabei nur erreicht werden, wenn beide auf Augenhöhe miteinander ringen. Diese Diagnose ist gewiss nicht falsch, muss vielleicht sogar in Teilen auch als Kehrseite des Romantisierungsparadigmas in Rechnung gestellt werden. Worin aber liegt das Gegengift? Aus Platons Symposion übersetzte Schleiermacher, dass die Liebeswerbung – anders als die Versuche, Geld oder Macht zu erwerben – jedwede Form von Unterwürfigkeit erlaubt.⁵³⁴ Bei allen Symmetriebetonungen darf nicht vergessen werden, dass in der partnerschaftlichen Werbung oft bereitwillig Verzicht darauf geleistet wird. Auch in der Ehe selbst kann dies der Fall sein und beide Partner können damit u.U.
Zu weiteren Dimensionen der ‚Liebe‘ bei Schleiermacher s.u. II.3.1.1. M 32. M 33. Vgl. Sym 21 f. 54 f.
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glücklich sein.⁵³⁵ Die Lösung läge hier also in der konsequenten Selbstzurücknahme der Partner. Schleiermacher empfiehlt sie nicht. Zum einen widerspricht eine konsequente Höherschätzung des Partners dem romantischen Ideal der Wechselseitigkeit – Schleiermacher würde damit sehr nah an die fichtesche Figur heranrücken –, des Weiteren lässt sich ein solches notwendig emotional grundiertes Verhältnis nicht auf Dauer stellen und mithin kaum zu einem ethischen Prinzip erheben und schließlich besteht die Gefahr, dass bei der Abweichung eines der Partner das Beziehungsgefüge die größtmögliche Schlagseite bekommt. Die alleinige Fokussierung des Partners – und sei sie auch wechselseitig – birgt die massive Gefahr, dass derjenige herrscht, der weniger liebt.⁵³⁶ Ein solches Verhältnis kann kaum die Voraussetzung für eine Beziehung sein, die in den vielfältigsten Lebensdimensionen beide Partner bereichert, sei es durch Anerkennungsgewinn, Selbstwirksamkeitserfahrungen, Erfahrungen von Wärme o. a. Daher lohnt es, den Blick noch einmal auf Schleiermachers Analyse in den Monologen zurückzuwenden. Seine Problematisierung haben wir benannt; er gibt aber auch zugleich einen Lösungsvorschlag. Dieser liegt in der Formulierung „gemeinschaftlicher Wille“.⁵³⁷ Wir haben bereits festgehalten, dass für Schleiermacher die Herausbildung einer Paar- bzw. Familienidentität entscheidend ist.⁵³⁸ Hier zeigt sich nun ein weiterer Begründungsaspekt dafür. Die Bezugnahme nicht auf den Partner allein, sondern auf das gemeinsame Paarkonzept,⁵³⁹ kann wie eine ethische Kontrollinstanz im Dienste der Egalisierung verstanden werden. Schleiermacher hält dieses Prinzip in verschiedenen Hinsichten durch. So sahen wir, dass bereits in der
Huinink/Röhler, Arbeit, 57: „Familiäre Nutzenüberlegungen können dazu führen, dass traditionelle Arbeitsteilungsmuster zementiert werden […].“ Vgl. dazu auch Schwartz, Peer, 18: Dies hat dann allerdings zur Folge, das die Machtverhältnisse in der Ehe (trotz der Vornahme von Egalität) zumeist kippen. Zugleich macht Schwartz (dies., Peer, 69 – 71) macht darauf aufmerksam, dass ein großer Reiz in partnerschaftlicher Hierarchie besteht, insofern die wechselseitig gespendete Anerkennung auf diese Weise größer wird. Der Mann wird dauerhaft erhoben und die Frau durch dessen Anerkennung ebenso (gefühlt) geadelt. Betrachtete sie ihren Mann als gleichberechtigt, so würde seine Anerkennung eine geringere Ehre bedeuten. Die Fiktion seines Herausragens hingegen erhebt die eigene Person in entsprechenden Situationen deutlich mehr. Georg Simmel bestimmt, dass in einer Liebesbeziehung derjenige herrscht, der weniger liebt. Da meist die Männer weniger innig lieben würden, hätten sie gemeinhin die Oberhand (ders., Geschlechter, 183 f). Safilios bindet diese These austauschtheoretisch ein. D. h. es sind nun nicht allein materielle und statusbezogene Ressourcen bei der Beschreibung ehelicher Machtverhältnisse von Belang, sondern es ist auch dem Sachverhalt Rechnung zu tragen, dass die Ehe gemeinhin eine Liebesbeziehung darstellt. Mithin haben auch Liebe und das Bedürfnis geliebt zu werden einen großen Einfluss. So die zentrale These: „Derjenige hat am meisten Macht über den andern, der den andern weniger liebt als er selbst geliebt wird, weil die psychischen Kosten einer Beanspruchung von Macht (z. B. Opposition) für ihn geringer sind.“ (Referiert bei Held, Machtverhältnisse, 129). M 32. S.o. I.4.1.4. Wir haben diesen Begriff bereits im Zusammenhang des vorangegangenen Teilkapitels im Anschluss an Kai-Olaf Maiwald (ders., Alltag, 177) diskutiert.
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passiven Hingabe an die Wirkungen der Attraktion ein gemeinsamer Orientierungsbezug aufgebaut wird, der jenseits der beiden Partner liegt, ihre Partnerschaft jedoch zugleich umgreift im Modus der Grundierung.⁵⁴⁰ Hieraus soll sich der zitierte ‚gemeinschaftliche Wille‘ entwickeln, der seine äußere Realisationsgestalt im Haus findet, das als „das schöne Werk von einer eignen Seele“,⁵⁴¹ nämlich ebenjener der Partnerschaft, erscheint. Nach wie vor kann gelten, dass es weniger die Zustimmung zum gedanklichen Programm der Geschlechteregalität ist, welches zu deren Realisierung in der Partnerschaft führt, als vielmehr die – dahingehend sensibilisierte – ‚intensive Gemeinschaft‘ der Partner.⁵⁴²
Abschließende Würdigung Schleiermachers Fokuswendung vom politischen Emanzipationsprogramm des Katechismus hin zur partnerschaftsorientierten Koordination der Geschlechter, kann bei aller Problematik, die sich aus einer konsequenten Ablösung des ersteren durch letzteres ergibt – die Schleiermacher allerdings, wie wir sahen, nie vollzogen hat –, auch unter den Bedingungen der Gegenwart als vielversprechende ethische Strategie gelten. Denn so wichtig Forderungen nach Anerkennung und Gleichberechtigung gesellschaftsgeschichtlich auch waren und sind, so kompliziert ist ihre Durchsetzung doch meist im sozialen Nahbereich, schon gar, wenn dieser bereits emotiv durch Harmonieimperative aufgeladen ist. Wo auf letztere ganz verzichtet wird, sei es aus Enttäuschungen oder um solchen vorzubeugen, wird sich allerdings kaum Frieden einstellen. Wer auf die Herstellung von Gerechtigkeit fixiert ist – dies können wir aus einer von Luthers zentralen Einsichten lernen –, gerät in einen Regress, der selbst bei einem Fortschritt des Geforderten immer mehr Schieflagen erblicken und erleiden muss. Schon gar in der familialen Lebenswelt mit ihren vielgestaltigen Aufgaben und Anforderungen, muss verbittern, wer anfängt, unter Gleichheitsgesichtspunkten alles aufzurechnen. Eine Teilung der Geschäfte, auch wenn sie entlang der Geschlechtergrenze verläuft, stiftet hier eine enorme Entlastung und gibt den Blick frei für allerhand Glücks- und Erfüllungspotentiale. Wie bei anderen Insitutionen ist allerdings auch im Falle der Ehe und Partnerschaft ein Leerwerden nicht ausgeschlossen, was die Frage nach der Symmetrie der Partner bleibend im Horizont hält. S.o. II.1.1.2. M 33. Vgl. Huinink/Röhler, Arbeit, 112 f u. ö. Vgl. auch Schwartz, Peer, 9 f: „Aber auffällig an diesen Paaren war nicht nur ihr Engagement für Fairneß und Zusammenarbeit; die glücklichsten und dauerhaftesten dieser Partnerschaften zeichneten sich in erster Linie durch eine intensive Gemeinschaft aus. Sicher waren | bei diesen Paaren die Kindererziehung, die Hausarbeit und die Entscheidungen mehr oder minder gleich und so gut wie immer gerecht verteilt, aber für die meisten war das nur Teil des größeren Ziels einer wirklichen Kameradschaftsehe. Der entscheidende Punkt war nicht, dass diese Ehepartner alle Rechte und Pflichten genau fifty-fifty aufteilten. Die gemeinsamen Entscheidungen, Pflichten und Hausarbeiten standen vielmehr im Dienst einer intimen und zutiefst kooperativen Ehe.“
3 Geistbasiert: Paarbeziehung
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3 Geistbasiert: Paarbeziehung Einige zentrale Orientierungsfiguren, die sich mit der naturalen Seite gelebter Partnerschaft sowie dem Bewusstsein der Geschlechtlichkeit verbinden, haben wir uns vor Augen gestellt. Noch vielfältiger und verwickelter wird es nun, wenn wir auf deren geistig-soziale Seite reflektieren. Das produktive dialektische Verhältnis von Individualität und Gemeinschaft⁵⁴³ lässt sich anhand der Paarbeziehung in gestaltenreicher Weise ausbuchstabieren. Dabei greifen viele Aspekte ineinander – manches überschneidet sich – und doch soll hier der Versuch unternommen werden, die Bedeutungsvalenzen romantischer Partnerschaft auch nach ihrer geistigen Seite gegliedert zur Darstellung zu bringen. Wo Sinnanmutungen artikuliert werden, sind Spannungslagen unvermeidlich. Auch diesem Sachverhalt versuchen die folgenden Teilkapitel Rechnung zu tragen. Drei Koordinaten werden den Zugang zu verzweigten Tiefenbohrungen geben: 1. Potentiale der Selbsterweiterung und ihr notwendiges Pendant der Selbstbegrenzung in der Beziehung, 2. Tendenzen und Bedeutungsdimensionen der Institutionalisierung von Partnerschaft und 3. das Wechselspiel von Exklusivität und Öffnung im ehelichen Leben.
3.1 Selbsterweiterung und Selbstbegrenzung Als Kardinalsünde des Menschen gegen Gott kann dessen Selbstverabsolutierung gelten. Das Problem, welches Luther im Anschluss an Augustin mit der Formel der ‚incurvatio in se ipso‘ beschrieben hat, wirft seine Schatten allerdings nicht allein auf das Verhältnis des Menschen zum Absoluten. Auch im sozialen Nahbereich lässt sich sein Verhängnischarakter beobachten. In dieser ethischen Bedeutung war es auch für Schleiermacher von besonderem Interesse, stand bei seiner Fokussierung des Subjekts und seinem Abstellen auf das Individualitätsparadigma doch auch ein Solipsismusverdacht im Raum. Ihm begegnete er u. a. mit der Doppelstrategie eines Programms von ‚Selbsterweiterung und Selbstbegrenzung‘. Solange der Mensch lebt, kann er – wenn er sich recht versteht – sich selbst nicht genug sein. Er bedarf des Ausgreifens über sich selbst. Er bedarf des Anderen, um seiner selbst ansichtig zu werden. Er bedarf seiner allerdings nicht bloß als Spiegel, sondern als freies Gegenüber, von dem er Zuwendung und Anerkennung gewinnen kann und dem er diese selbst spenden kann. Dem unaufgeblichen Mehrwert, den die Liebe für den Menschen hat, wollen wir im ersten der folgenden Unterkapitel (1.) näher nachgehen. Der beschriebene Bedürfnischarakter, welcher sich im Streben nach Liebe ausdrückt, weist auf eine Ambivalenz hin, die eine auf Realismus bedachte Beschreibung von Liebe nicht verschweigen darf. Gemeint ist das Ineinander von Selbstliebe und Nächstenliebe, dem wir uns sodann (2.) eigens zuwenden wollen. Selbst, wo Schlei-
S.o. I.4.1.
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ermacher eine Selbstzurücknahme zugunsten des Partners anempfiehlt, verfällt er in keinen reinen Altruismus, sondern setzt auch Anreize für das Eigeninteresse. So stehen gemäß den Hausstandspredigten auch ‚Hingebung‘ und ‚Dienst‘ unter der Verheißung der Belebung und umfänglichen Verbesserung des je eigenen Lebens – eben im Rahmen des gemeinsamen.⁵⁴⁴ Die Selbstrelativierung wird in diesem Sinne geradezu als conditio sine qua non von subjektiver Freiheit und Autonomie erkannt. Friedrich Schlegel hatte in einem Lyceumsfragment bestimmt: Die Selbstbeschränkung ist für den Künstler und für den Menschen das Erste und das Letzte, das Nothwendigste und das Höchste. […] denn überall wo man sich nicht selbst beschränkt, beschränkt einen die Welt, wodurch man ein Knecht wird.⁵⁴⁵
Besonders in den Monologen äußerte sich Schleiermacher ganz ähnlich. Subjektive Freiheit bindet er hier zum einen an das Bewusstsein von der eigenen Kontextualität.⁵⁴⁶ Zum anderen stellt er sie als ein Gut vor, das aktiv angeeignet, das ergriffen sein will durch Selbstbestimmung.⁵⁴⁷ Nur wer bereit ist, sich für etwas zu entscheiden und zugunsten dessen viele andere Optionen fahren zu lassen, kann etwas gewinnen. Wirkliche Erweiterung schließt Begrenzung ein. Wer Freiheit nur als Negativbestimmung im Sinne der ‚Freiheit von‘ versteht und die Verantwortungsübernahme scheut, die die Gestaltung einer ‚Freiheit zu‘ bedeutet, gerät leicht in eine neuerliche Knechtschaft, nämlich jene der Vagheit. Hierin liegt gewiss eine lebensphilosophische Wahrheit mit großem Potential. Schleiermacher entwickelt darüber hinaus für das soziale Leben jedoch auch ganz pragmatische Folgerungen aus der Dialektik von Erweiterung und Begrenzung. In seiner frühen Theorie des geselligen Betragens erklärt er die wechselseitige individuelle Bereicherung zum zentralen Ziel der ‚freien Geselligkeit‘.⁵⁴⁸ Nicht das Bedienen von Konventionen, welches auch einen gewissen Mehrwert für das einzelne Leben haben kann, sondern die viel reichhaltigere ehrliche innerliche Anteilgabe und – nahme soll ihr Zweck sein. Einen Fallstrick für das Gelingen dieses diffizilen Kommunikationsgeschehens hatte Schleiermacher jedoch zugleich – auch durch das ei-
Vgl. H 244 f. Fr. Schlegel, Kompilation aus Lyceumsfragmenten, zit. nach Dilthey, Leben I, 361. Vgl. M 9: „Nur für den giebts Freiheit und Unendlichkeit, der weiß was Welt ist und was Mensch […].“ Vgl. M 42: „Willkommen mir, […] geliebtes Bewußtsein der Freiheit! schöne Ruhe des klaren Sinnes, mit der ich heiter die Zukunft, wol wißend was sie ist und was sie bringt, mein freies Eigenthum, nicht meine Herrscherin begrüße. […] nur was ich aufgegeben als ich bestimmte wer ich werden wollte, das nur kann ich nicht […].“ Vgl. ThG 165: „[…] hier ist der Mensch ganz in der intellektuellen Welt, […] dem freien Spiel seiner Kräfte überlassen, kann er sie harmonisch weiter bilden, und von keinem Gesetz beherrscht, als welches er sich selbst auflegt […]. Dies ist der sittliche Zweck der freien Geselligkeit“
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gene Erleben entsprechender Gesellschaften⁵⁴⁹ – ausgemacht: die Selbstentwicklung der sich im gedanklichen Austausch Befindenden aneinander konnte leicht umschlagen in eine Selbstprofilierung einzelner. So hält er fest, dass auch in der freundschaftlichen Vergesellschaftung die ‚Selbstbeschränkung‘ an die Seite der ‚Selbstthätigkeit‘ treten müsse.⁵⁵⁰ Jede Sozialform hat einen individuellen Charakter.⁵⁵¹ Je umfänglicher dieser den persönlichen Charakter seiner Glieder umgreift, desto größer ist die Gefahr, dass eines der Glieder jenen Rahmen als bloße Verlängerung seiner selbst missdeutet und ihn damit sprengt, indem er die anderen übervorteilt.⁵⁵² Spannungspotentiale sind allenthalben gegeben, weil eben strukturell verankert. Sie können nicht beseitigt, sondern nur in ‚Behutsamkeit‘ gestaltet werden.⁵⁵³ Bereits in dem Wissen um die Endlichkeit der Freiheit – nicht allein in der äußerlichen Welt, sondern auch in den sozialen Nahbeziehungen – liegt ein großer Wert für die Gestaltung letzterer.⁵⁵⁴ Schleiermachers Hochschätzung der Individualität entspricht ein kühler Realismus bezüglich der Frage nach der Wandelbarkeit des Menschen.⁵⁵⁵ Oben haben wir gesehen, dass er ‚Entwicklung‘ als sozial vermittelte Auswicklung von angelegter Individualität denkt.⁵⁵⁶ Sowohl die eigene Persönlichkeit, als auch jene des Partners ist durch eine relative Unverfügbarkeit gekennzeichnet, obwohl sie durch unser individuelles und gemeinsames Leben massiv geprägt ist. In Bezug auf die Sozialform der Ehe erweist sich diese Bestimmung als alles andere denn ein bloßes intellektuelles Glasperlenspiel: Wer anerkennt, dass ein Mensch weder durch andere noch durch sich selbst weitreichend umgeformt werden kann, wird in der Entwicklung von Bewältigungsstrategien partnerschaftlicher Problemkonstellationen eine produktive Nüchternheit an den Tag legen, die weit ab von romantischen Idealisierungen und Wünschen und mithin deutlich vielversprechender sind. Genauer werden wir diese Sachverhalte unter (3.) ‚Persönliche Entwicklungschancen und Anerkennung von Grenzen‘ bedenken. Vgl. die Zwischentöne in Brief 496, 370 (zur Zitation dessen s. o. II.2.1). Vgl. ThG 172 f. S.o. I.4.1.4. In der Philosophischen Ethik hält Schleiermacher fest: „Die Familie als ein lebendiges Ganze enthält nun für alles bisher als unbestimmt Gefundene nicht das Begrenzungsprincip, aber die lebendige Anknüpfung“ (PhE 326). Wo aber umfängliche Anknüpfungsmöglichkeiten ohne vorgegebene Grenzen sind, da müssen die Grenzen eben selbst gezogen werden. Vgl. ThG 181. Vgl. das bereits Zitierte (s.o. I.4.1.3): „Es stößt die Freiheit an der Freiheit sich, und was geschieht, trägt der Beschränkung und Gemeinschaft Zeichen.“ (M 10). Vgl. M 19: „Wie sollt auch wohl der Mensch, nachdem er einmal zum unabhängigen und eigenen Dasein gelangt ist, mitten im Werden und sich Bilden plözlich eine andere Natur annehmen, eine andere Seite der Menschheit ergreifen, ohne die erste zur höchsten Vollkommenheit gebracht zu haben? wie sollt ers wollen können?“ S.o. I.4.1.3.Vgl. darüber hinaus die Bestimmung in den Monologen, die Bildung und Verwandlung des Einzelnen durch das ‚All der Geister‘ bleibe an der ‚Oberfläche meines Wesens‘ (M 10 [Hervorhebung – CR]).
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Mit Irritationsmomenten ist gemäß Schleiermachers Ehetheorie immer zu rechnen. Eine vollkommene, dauerhafte Verschmelzung der Partner kann es für ihn nicht geben. Mithin ist Georg Wehrung Recht zu geben, wenn er Liebe nach Schleiermacher definiert als: Ehrfurcht vor der Eigentümlichkeit anderer, ein Geltenlassen, mehr noch ein Fördern ihrer Art, Hingabe an sie. Es ist kein schulmeisterliches Sich-gleich-machen-Wollen, vielmehr ein Ertragen auch fremder, vielleicht befremdlicher Züge, wenn nur von der inneren Größe ein Hauch verspürt ist, Freude an ihr.⁵⁵⁷
Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass bei allen Fremdheitserfahrungen und Momenten der Faszinationskraft, die von der Andersartigkeit des Partners ausgeht, doch auch eine tiefe Vertrautheit gegeben ist. Als allzu genaue Kenntnis des Anderen und Routine paraphrasiert, scheint diese wenig Erweiterungspotential und kaum einen ethischen Wert zu bergen. Pointiert man sie hingegen auf den Aspekt der Stabilisierung, des wechselseitigen Halt Gebens und Vergewisserns, so wird sie doch interessant, insofern hierbei psychische Entlastungsfaktoren gegeben sind, die sich als ausgesprochen hilfreich für den Aufbau von Persönlichkeit und die Anverwandlung von Welt erweisen können. Freilich können diese auch das Gegenteil bewirken, nämlich eine Perpetuierung von repressiven Haltungen, die andernfalls mitnichten von solch hoher Persistenz wären. Genauer wollen wir uns diesen Aspekten sodann unter (4.) ‚Stabilisierung und Irritation‘ zuwenden. Die emphatische Würdigung der selbsterweiternden Kraft einer stabilen und stabilisierenden Partnerschaft in den Monologen weist auf einen Aspekt hinaus, der für unsere Fragestellung von großem Interesse ist. Schleiermacher sehnt sich hier nach dem ehelichen Leben mit folgenden Worten: […] noch aber muß die heiligste Verbindung auf eine neue Stufe des Lebens mich erheben, verschmelzen muß ich mich zu Einem Wesen mit einer geliebten Seele, daß auch auf die schönste Weise meine Menschheit auf Menschheit wirke; daß ich wiße, wie das verklärte höhere Leben nach der Auferstehung der Freiheit sich in mir bildet, wie der alte Mensch die neue Welt beginnt. […] Und so gewiß einander wir gehören, trägt doch auch unbekannt in unser schönes Paradies die Fantasie.⁵⁵⁸
Die Phantasie, der wir uns schließlich (5.) noch eigens zuwenden wollen, erscheint als das Medium und Angeld einer Verheißung der Partnerschaft auf Selbsttranszendierung. Diese sieht Schleiermacher als derart bedeutungsvoll und hochstufig an, dass er sich in ihrer Beschreibung religiöser Semantik nicht entschlagen kann. Gerade in der engsten Verbindung zweier Menschen erblickt er die ‚Auferstehung‘ ihrer ‚Freiheit‘. Die Liebesbeziehung wird als ‚unio mystica‘ paraphrasiert durch ihre Kennzeichnung
Wehrung, Einführung zu den Monologen, zit. nach Ringeling, Sexualität, 73. M 47.
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als ‚heiligste Verbindung‘ und Näherbestimmung als ‚Verschmelzung‘.⁵⁵⁹ Das Ideal der romantischen Ehe erscheint dementsprechend in einer Gestalt, die dem Theologoumenon vom ‚Reich Gottes‘ sehr nahe kommt. So ist von einer ‚neuen Stufe des Lebens‘, einem ‚verklärten höheren Leben‘ die Rede, vom ‚alten Mensch‘ in einer ‚neuen Welt‘. Das Erleben eines Moments von höchster Intensität wird wie selbstverständlich in das Postulat einer dauerhaften Beziehung eingefasst.⁵⁶⁰ Ebenso war Schleiermacher in der Religionstheorie seiner Reden verfahren. Ihr gemäß sollte die Religion wie eine Musik das ganze Leben begleiten⁵⁶¹ und zugleich bestand ihr Glutkern in einem „geheimnißvolle[n] Augenblik“.⁵⁶² An einem Punkt ihrer Transzendierungspotenz unterscheiden sich Religion und Liebesbeziehung gleichwohl deutlich voneinander; und dieser betrifft ihre Leistungskraft bezüglich der Sehnsucht nach Unsterblichkeit. Oben sahen wir, dass Schleiermacher Personalität in der Konkretion einer naturalen Einbettung des an sich allgemeinen Geistes gründen sieht.⁵⁶³ Endet das biologische Leben, so endet demnach auch das Leben der Seele, als der personalen Gestalt des Geistes. Für die Religion, die ihrem Kern nach ein subjektives Erleben und dessen Deutung darstellt, bedeutet dies, dass sie über eine Unsterblichkeit der Person keine Versprechen machen kann.⁵⁶⁴ Auf sicherem Boden bewegt sie sich nur, wenn sie sich auf Transzendierungserfahrungen des jeweils körperlich-natural fundierten Lebens bescheidet.⁵⁶⁵ Anders verhält es sich mit der Sphäre der Sozialität. In ihr übersteigt der Mensch sein einzelnes Leben synchron,⁵⁶⁶ aber auch – und das ist das Besondere – diachron. Bereits in seinen
Der Verschmelzungsgedanke begegnet mehrfach bei Schleiermacher. Stets wertet er ihn kontextabhängig anders. Ganz entschlagen konnte er sich seiner nicht, doch er konnte ihm auch nicht vollends Recht geben. Eine interessante Notiz zum Thema hat er 1800 festgehalten: „Ist nicht die Liebe aus dem Standpunkt der Mystik, da man sich nemlich nach Vernichtung der Persönlichkeit sehnt, eigentlich eine Schwachheit? Oder Tendenz zur Vernichtung der Persönlichkeit durch Zusammenschmelzen? Die Liebe ist dann wohl keine Schwachheit, aber der Schmerz eines Sterbenden über die Liebe ist Schwachheit.“ (G V, 4., 283). Die Mystik zielt auf Überwindung des Abgegrenzten und mithin auch der Persönlichkeit. Die Liebe, welche die Person eines anderen ehrt und sich an sie bindet muss dieser Tendenz widersprechen. Die Liebe, welche eine Verschmelzung bedeutet, wäre hingegen selbst ein Entgrenzungsgeschehen ganz im Sinne der Mystik. Detaillierter zur Thematik s.u. II.3.2.2. Vgl. R 219: „[…] die religiösen Gefühle sollen wie eine heilige Musik alles Thun des Menschen begleiten […].“ R 221. Vgl. ebd. weiter: „Flüchtig ist er und durchsichtig wie der erste Duft womit der Thau die erwachten Blumen anhaucht, schamhaft und zart wie ein jungfräulicher Kuß, […].“ S.o. I.4. Bereits in seinen Anmerkungen zur Nikomachischen Ethik spricht Schleiermacher von der ‚Mängel vernichtenden Kraft‘ der Gefühle der Religion, reinen Sittlichkeit und Geselligkeit für den Menschen und räumt mit Blick auf die Religion ein: „allein sie bleibt doch seine eigne Empfindung“ (AAnm 5 f, Zitat: 6). Vgl. den prominenten Schlusssatz der zweiten Rede: „Mitten in der Endlichkeit Eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblik, das ist die Unsterblichkeit der Religion.“ (R 247). Zu den religiösen Analoga dessen s.o. I.4.1.5.
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Anmerkungen zur Nikomachischen Ethik hält Schleiermacher diesen Gedanken fest. Hier bezieht er sich auf die Freundschaft – im Gegenüber zu Religion und Sittlichkeit –, der die Ehe bei Aristoteles zugeordnet ist: […] nichts kann ihn [sc. den Greis – CR] trösten als das Gefühl der Freundschaft, […] wenn er seine gelehrigen Nachkommen und Freunde um sich her versammelt sieht, und fühlt daß sie den Grund seiner Denkungs[‐] und Sinnesart mit ihm gemein haben, so erscheint er sich selbst nicht nur jezt bei seiner zunehmenden Kraftlosigkeit thätiger als in den schönsten Perioden seines Lebens, sondern er stärkt sich auch durch die Hofnung noch in künftigen Generationen seinen Geist fortwirken zu sehn.⁵⁶⁷
In den Monologen nimmt Schleiermacher diesen Gedanken wieder auf und bekennt: „Wol kann ich sagen, daß die Freunde mir nicht sterben; ich nehm ihr Leben in mich auf, und ihre Wirkung auf mich geht niemals unter […].“⁵⁶⁸ Dies impliziert allerdings einen bitteren Umkehrschluss, den Schleiermacher an dieser Stelle auch nicht verheimlicht: Im gleichen Maß, in dem eine Person in ihrem (Seelen‐)Partner weiterlebt, stirbt dieser mir ihr.⁵⁶⁹ In einem Trostbrief an seine spätere Frau Henriette nach dem Tod ihres Mannes Ehrenfried v. Willich, braucht Schleiermacher diese Negativkonsequenz freilich nicht zu benennen, weil er deren Bewusstsein voraussetzen kann. Hier hebt er auf den Aspekt des Lebens ab, worin sich das Verhältnis von Religion und Ehe in der fraglichen Hinsicht noch einmal deutlich ausspricht: Liebe Jette was kann ich Dir sagen? Gewißheit ist uns über dieses Leben hinaus nicht gegeben. Verstehe mich recht ich meine keine Gewißheit für die Fantasie die alles in bestimten Bildern vor sich sehen will. Aber sonst ist das die größte Gewißheit, und es wäre nichts gewiß wenn es das nicht wäre, daß es keinen Tod giebt, keinen Untergang für den Geist. Das persönliche Leben ist ja aber nicht das Wesen des Geistes es ist nur eine Erscheinung.Wie sich diese wiederholt das wissen wir nicht, wir können nichts darüber erkennen, sondern nur dichten. […] für dieses Leben begehrt Deine Liebe nur ihn im Herzen zu tragen unauslöschlich sein Andenken sein Bild als das lebendigste und heiligste um Dich zu haben und in Dir, ihn wieder zu erwecken und neu zu beleben in Euern süßen Kindern.⁵⁷⁰
AAnm 6 f. M 51. Vgl. M 51: „[…] mich aber tödtet ihr Sterben. […] Mein Wirken in ihm hat aufgehört, es ist ein Theil des Lebens verloren. Durch Sterben tödtet jedes liebende Geschöpf, und wem der Freunde Viele gestorben sind, der stirbt zulezt den Tod von ihrer Hand, wenn ausgestoßen von aller Wirkung auf die, welche seine Welt gewesen, und in sich selbst zurück gedrängt, der Geist sich selbst verzehrt.“ Vgl. auch die Aussage aus einem Brief an Henriette Herz vom 25. Februar 1799: „[…] und sterben Sie mir: nun dann werde ich mich nicht leiblich aber geistig tödten, ich werde so fortleben ohne Ich zu sein und meine Grabschrift wird auf meiner Stirne stehn.“ (Brief 569, 18). Zur psychologischen Aktualisierung dieser Problematik und weiteren Verweisen vgl. Willi, Ko-Evolution, 125 f. Brief 2435, 379.
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Sich durch Weitergabe des Eigenen aus Liebe und Mitgefühl einen Schatz im Himmel zu sammeln, der überdauert, wie es das bekannte Jesus-Logion empfiehlt,⁵⁷¹ bedeutet in der auf Intersubjektivität abstellenden Diktion Schleiermachers, sich in das Herz von Freunden bzw. in der höchsten Potenz: in die Seele des Partners einzugraben. Hier wird – nicht bloß auch, sondern ganz besonders – das Allerpersönlichste Spuren hinterlassen, die sogar das eigene Leben überdauern. Was im gedankenlos erzählten Märchen allzu mechanisch wirkt, birgt mithin sehr wohl eine tiefe Wahrheit: Die Liebe überwindet den Tod.
3.1.1 Liebe als Konstitutivum der Vollkommenheit „Die Liebe ist ein unendlicher Gegenstand für die Reflexion, und so soll auch ins Unendliche darüber nachgedacht werden“,⁵⁷² heißt es in den Lucindebriefen. Ihre Unendlichkeit besteht in einem Doppelten. Zum einen beschreibt sie den Kollektivsingular der gelebten Lieben, welcher noch weit größer ist als die Zahl der Subjekte, die sie erleben. Zum anderen beschreibt er ein Ideal der Liebe, das als höhere Einheit alle Formen der Liebe durchdringt. Wir haben es mithin sowohl mit einer quantitativen als auch mit einer qualitativen Unendlichkeit der Liebe zu tun.⁵⁷³ Letzterer, „der Einen und ewigen Liebe“, die sich in all ihren „andere[n] Gestalten“ abschattet,⁵⁷⁴ gilt das besondere Interesse Schleiermachers⁵⁷⁵ und seiner Zeitgenossen.⁵⁷⁶ Ihrem Einheitsaspekt wollen wir zunächst unsere Aufmerksamkeit zuwenden, weil er die Voraussetzung dafür ist, dass die Liebe zugleich als das höchste Glück, als Ergänzung und Hilfe, als Zentraltugend, als einigendes Band der Erkenntnis, als basaler Weltaneignungs- und Gestaltungsmodus, als Zugang zur Erschließung von Selbst und Sozialität überhaupt und als die ganze Breite menschlicher Gefühls- und Ausdrucksformen erfassend profiliert werden kann. All jene Momente des schleiermacherschen Liebesbegriffs, die sich nicht zufällig wie eine Reihe göttlicher Prädikate und Funktionen ausnehmen, wollen wir sodann bedenken.
Vgl. Mk 10,21. L 158. Erstere denkt Schleiermacher in einem Gedankenfragment an. Er plant „Ein Mährchen von der Venus worin alle verschiedenen Gestalten der Liebe nebst ihren Wirkungen. Vielleicht bleibt immer unentschieden ob sie eine sind oder mehrere.“ (G V, 162., 323). L 195. Er untergliedert sie nochmals in zwei Unendlichkeiten: „Die Liebe wächst ins Unendliche dem Grade nach, das erfahren wir, wie Du weißt, täglich; sie wächst ebenfalls ins Unendliche ihrem Wesen nach, indem ihre Bestandtheile sich immer inniger verbinden und eins werden […]. Nun giebt es also zwei Wege, in der Liebe zur Vollendung zu kommen […].“ (L 210). Aus dem Folgenden wird deutlich, dass Schleiermacher mit der ersten Gestalt die sexualitätsbetonte Liebe im Sinn hat, während die zweite das Ideal der freundschaftlich geistbetonten Liebe anzeigt. Zum Verhältnis beider unten mehr. Zu Schlegels und Novalis’ Grundperspektivierung des Themas vgl. Dux, Geschlecht, 432.
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Die Einheitlichkeit der Liebe Die formalste Orientierung zur Einheit der Liebe finden wir erwartungsgemäß in der Philosophischen Ethik. Hier bildet Schleiermacher ‚individuelle‘ und ‚universelle Liebe‘ als wechselseitige Voraussetzungen aufeinander ab: Individuelle Liebe kann in Einem Bewußtsein nicht sein ohne universelle; denn das Individuelle ist an sich unübertragbar; der Trieb kann also nur seine Rechtfertigung haben in der Erfahrung von der Identität, welche der Differenz zum Grunde liegt, und diese Erfahrung ist nur möglich durch irgendeine Thätigkeit universeller Liebe.⁵⁷⁷
Liebe bliebe ein solipsistisches Zumutesein, eine Erfahrung die nur anhand eines anderen Subjekts erfahren würde, ohne mit diesem zu verbinden, wenn wir nicht immer schon voraussetzten, dass sich jener innere Zustand auch beim anderen einstellen kann und im Fall einer Liebesbeziehung eingestellt hat. Ebenso gilt das Umgekehrte: „Universelle Liebe ist nicht als sittlich in einem Bewußtsein ohne individuelle;“⁵⁷⁸ d. h. das Ideal universeller Liebe wird nur in seinen Wirkungen präsent, die lebensweltlich konkret sein müssen in Gestalt von individuellen Liebesbeziehungen. Eine weitere Auffächerung jener Struktur legt Schleiermacher in der Christlichen Sitte vor. Unter dem Begriff der ‚christlichen Gesinnung‘ fasst er die „Liebe zum Erlöser, Liebe zu den Gläubigen, allgemeine Liebe“ zu ‚Einem‘ zusammen.⁵⁷⁹ Auch wenn die intentionalen Korrelate differierten, müsse das Gefühl seinem ‚Wesen‘ nach doch in allen dasselbe sein.⁵⁸⁰ Es geht an dieser Stelle mithin nicht mehr um die soziale Generalisierbarkeit der Liebe, sondern um deren Gestaltenreichtum im individuellen Leben. Schleiermachers Ziel ist dabei nicht allein die Integration der verschiedenen Formen der Liebe, sondern die Bestimmung von deren Verhältnis zueinander, das er als ein proportionales beschreibt, nämlich „so, daß die eine keinen anderen Maaßstab hat, als die anderen; […] In dieser Hinsicht also ist die Liebe einfach, und wir können uns nicht denken, daß sie gegen den Herrn zunimmt, während sie gegen alle übrigen abnimmt und umgekehrt.“⁵⁸¹ Mit diesem geradezu quantifizierbaren Wechselverweis der unterschiedlichen Gestalten der Liebe, geht Schleiermacher noch über deren Parallelität im Johannesevangelium hinaus.⁵⁸² Eine Konkretion, wenn nicht gar die paradigmatische Gestalt schlechthin, gewinnt der Konnex für ihn anhand der Zusammenstimmung der Ehe mit dem „Verhältnis unseres Herzens zum Erlöser“.⁵⁸³ In der ersten Hausstandspredigt beschreibt
PhE 393. PhE 393. ChS 310. ChS 310: „[…] so läßt sich doch die eine Form von den anderen gar nicht trennen, sondern alle müssen wesentlich zusammen sein, […].“ ChS 310 f. Vgl. 1Joh 4,20 „Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, der kann nicht Gott lieben, den er nicht sieht.“ H 230.
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Schleiermacher das Gelingen der Ehe, als von ihrer Perspektivierung auf das Erlösungsbewusstsein abhängig,⁵⁸⁴ während umgekehrt ebenso die Kirche durch den „heiligen Bund[…] der Ehe, welcher der Grundstein der Gemeine des Erlösers ist“,⁵⁸⁵ bedingt ist. In einer der wenigen überlieferten Traupredigten, die Schleiermacher im Advent 1824 hielt, wird die Nähe zwischen der religiösen und der geschlechtlichen Liebe besonders deutlich: Nicht als ob nicht auch ein einzelnes Leben ihm [sc. dem Erlöser – CR] könnte geweihet sein; […] Allein das einzelne Leben […] besteht selten als ein Ganzes für sich, es schließt sich anderen häuslichen Kreisen an, dem Einen in dieser, dem Anderen in jener Beziehung, und in dieser Zerstreuung verbirgt es sich, und ist, wie gesegnet es auch sey, doch immer keine eigene Stätte. Gerade dazu aber, zu einer eigenen Stätte für die Wirksamkeit des Erlösers, segnet die christliche Kirche jedes Ehebündniß ein.⁵⁸⁶
Die eheliche Liebe soll sich nicht bloß an der religiösen bzw. allgemeinen Liebe orientieren, sondern erscheint vielmehr als deren besonders geeignetes Ausdrucksmedium bzw. Verbreitungsvehikel.⁵⁸⁷ Der Weg von der wechselseitigen Indikation zur Identifikation ist nicht weit. In diesem Sinne schreibt Schleiermacher auch an seine Braut: „ich weiß die Liebe für das Ganze ist so Eins mit der Liebe zu Dir und zu unsern Kindern, daß ich eben alles, was geschieht, für Dich und die Kinder thue.“⁵⁸⁸ Die Liebe stiftet Zusammenhang und Sinn, wo sonst nur unterschiedliche Lebensanforderungen und Interessen stünden und das jeweilige Leben in seine verschiedensten Bezüge zerfiele.⁵⁸⁹ Liebe ist mithin nicht bloß als eine Einheit an sich zu verstehen; sie stiftet auch Einheit.⁵⁹⁰
Vgl. H 229 f. H 246. P 8, 707. Zur ehelichen Liebe als Auffindungszusammenhang und Repräsentationsgestalt der Gottesliebe vgl. auch Brief 2435, 380: „Wenn Er [sc. der verstorbene Ehrenfried v. Willich – CR] nun in Gott lebt und Du [als dessen Frau – CR] ihn ewig in Gott liebst wie Du Gott in ihm erkanntest und liebtest kannst Du Dir denn etwas herrlicheres und schöneres denken?“ BB 131. Vgl. auch BB 240: „Liebe und Religion ist freilich eins, und so ist auch mir [in meiner Entwicklung – CR] beides zugleich gekommen, […].“ Zum Ausdruck dessen in Goethes Wahlverwandtschaften vgl. Trepp, Liebe, 23 f. Zur unteilbaren Ganzheit der Liebe vgl. auch Simmel, Geschlechter, 226 – 228. Dieser ist miteingegeben, dass die Liebe nicht von ihren Objekten abhängt, sondern diese als geliebte konstituiert (ebd., 228 – 232). „Es scheint mir von äußerstem Belang, das Lieben als eine immanente, ich möchte sagen formale Funktion seelischen Lebens anzuerkennen, auch sie freilich auf eine von der Welt herkommende Anregung aktualisiert, über die Träger dieser Anregung aber nichts von vornherein bestimmend. Mit der umfassenden Einheit des Lebens ist dies Gefühl [sc. die Liebe – CR] vollständiger verbunden als viele, vielleicht als die meisten anderen.“ (Simmel, Geschlechter, 232).
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Liebe und Tod Als ebenjene Komplexgestalt muss die Liebe in ihrer Vollkommenheit erst recht unerreichbar erscheinen.⁵⁹¹ In den Monologen fragt Schleiermacher: Wo ist das schöne Ideal vollkommener Vereinigung? die Freundschaft, die gleich vollendet auf beiden Seiten ist? Nur wenn in gleichem Maaße Beiden Sinn und Liebe fast über alles Maaß hinaus gewachsen sind. Dann aber sind mit der Liebe zugleich auch sie vollendet, und es schlägt die Stunde […] der Unendlichkeit sich wieder zu geben, und in ihren Schooß zurükzukehren aus der Welt.⁵⁹²
Und an Eleonore schreibt Friedrich in den Lucindebriefen: „Aber liebe Geliebte, Vollendung ist auch für die Liebe nur im Tode […].“⁵⁹³ Folgen wir Schleiermachers romantischen Zeitgenossen, so birgt dieses Zitat nicht bloß das Eingeständnis der Endlichkeit und Mangelhaftigkeit des irdischen Lebens, die eben auch in Liebesdingen gilt. Der Tod erscheint sodann mithin nicht nur als Grenze, jenseits derer sich allerhand postulieren lässt, was diesseits ihrer zwar erstrebt werden muss, aber nicht erreicht werden kann. Er begegnet vielmehr in einem emphatischen Sinn als (Neu‐) Anfang. Günter Dux fasst es folgendermaßen zusammen: Da der Ursprung des Lebens […] zugleich der Ort seiner Rückkehr ist – nichts vergeht in diesem Verständnis der Welt –, entsteht jene Einheit, die mehr als jede andere die Romantik charakterisiert: die von Liebe und Tod.⁵⁹⁴
Clemens Brentano ging demgemäß sogar so weit, seiner Geliebten und sich den Tod zu wünschen.⁵⁹⁵ Wenn die Liebe der Ursprung von allem ist und der Tod zu jenem Ursprung ‚heimwärts‘ führt,⁵⁹⁶ so muß er um der Liebe willen geradezu ersehnt werden. Nicht zufällig spricht Schleiermacher vom „Augenblick, da die Liebe zuerst ans Licht tritt“, als gleichsam religiösen Moment,⁵⁹⁷ in dem sie „Licht schafft aus dem innern Chaos, welches von nun an aufhört eines zu sein“⁵⁹⁸. Chaos ist kreative Potenz in Reinform. Leben hingegen setzt Ordnung voraus bzw. ist gar selbst als Organisation zu begreifen. Insofern die Liebe vom einen zum anderen hinüberzuleiten vermag,⁵⁹⁹ das
Was wir oben als quantitative und qualitative Unendlichkeit der Liebe beschrieben haben, bedingt sich mithin wechselseitig. M 27. L 211. Dux, Geschlecht, 432. In einem Brief von 1799 schreibt er an sie: „Ich habe wieder sehnlich gewünscht daß Du tod sein mögest, und ich auch.“ (Brentano/Mereau, Briefwechsel, Bd. 1, 7, Zit. n. Dux, Geschlecht, 433). Vgl. Novalis’ prominenten Frage-Antwort-Wechsel im Heinrich von Ofterdingen: „Wo gehn wir denn hin?“ „Immer nach Hause.“ (Zit. n. Dux, Geschlecht, 432). Schleiermacher charakterisiert ihn als „eben so unerforschlich und unbegreiflich, als jedes andere Entstehen.“ (L 210). L 210. Vgl. dazu auch G V, 99., 309: „Liebe ist die Synthesis zwischen Fantasie und Vernunft.“
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Chaos in ihren extatischen Elementen zu integrieren und letztlich zu bändigen vermag, erscheint sie als Tod und Leben umgreifende Macht, als Einheitsprinzip der Schöpfung, des Lebens und des Todes, das verbürgt, dass der Tod nicht das Ende, sondern ein neuer Anfang hin zur Vollendung ist. Der Tod als Inbegriff der Beendigung der potentiell verworrenen Dynamiken des Lebens erscheint im Blickwinkel der Liebe als Fixierung des in jenen Kämpfen erreichten Guten, das sich nunmehr zur produktiven Idealisierung anbietet.
Die Liebe als das höchste Glück Der Liebe in der lebensphilosophischen Spekulation eine solch herausgehobene Stellung anzuweisen, wird durch das subjektive Erleben ihrer untermauert. Bereits aus der Nikomachischen Ethik kannte Schleiermacher den Gedanken, dass Liebe und Freundschaft nicht bloß Einzelaspekte oder Sublimationsmomente individuellen Glückserlebens sind, sondern dessen konstitutive Voraussetzung.⁶⁰⁰ Von Liebe und Zuneigung getragene Beziehungen sind durch kein anderes Gut ersetzbar. Schon früh erfuhr der Gemeinschaftsmensch Schleiermacher die Bedeutung dessen im Negativ an
Vgl. AÜ 47: „Wenn auch die Fertigkeit durch gesellige Verbindungen glüklich zu seyn nicht geradezu eine Tugend ist, so steht sie doch mit unsrer Vollkommenheit in so genauer Verbindung, daß sie zum menschlichen Leben schlechterdings nothwendig ist. Denn niemand würde wohl auch im Besiz aller übrigen Güter ohne Freunde leben wollen. […] Und wer könnte sich ohne Freunde auf irgend einer höhern Stufe des Glüks erhalten, welches immer desto schlüpfriger wird je größer es ist.“ Vgl. weiter AÜ 76 f: „Auch die Frage hat man aufgeworfen: ob wol für den vollkommen glüklichen die Freundschaft ein Bedürfniß sei, oder nicht, und viele haben sie verneint, denn sie meinen dieser idealische Mensch […] habe gar keinen unerfüllten Wunsch, und ein Freund als ein anderes Ich sei doch nur dazu, seinem Freund das herbeizubringen, was er für sich selbst nicht erreichen könne; […] Auf der andern Seite scheint es ungereimt einem Glüklichen den man mit allen denkbaren Gütern ausstattet grade einen Freund versagen zu wollen, welcher doch das größte äußere Gut ist. […] Der Mensch ist gesellig, […] und offenbar ist es doch ein vollkomnerer Genuß der Geselligkeit wenn man mit Freunden, mit selbstgewählten guten Menschen umgeht. […] Was meinen also die ersteren, und in wie fern können sie recht haben? Sie glauben mit den meisten Menschen, daß nur der unser Freund ist, der uns nüzlich ist […] – das ist aber ein sehr falscher Schluß. Wir haben schon oben gesagt, daß die Glükseligkeit in der Selbstthätigkeit besteht. Diese Selbstthätigkeit aber entsteht nur aus Veränderungen und ist kein für sich subsistirendes Ding: wenn also das Glüklichseyn im Leben und Thätigseyn besteht und zwar so daß die Thätigkeit des tugendhaften vollkommen in sich selbst angenehm seyn muß, wenn ferner das an sich angenehm ist, was uns ähnlich ist, und wir andere die um uns sind und ihre Handlungen beßer beobachten können als uns selbst und unsre eigne, […] so sehn wir abermals daß der Glükselige solche Freunde braucht um vollkomne den seinigen ähnliche Handlungen anschaun zu können. Ueberdem soll der Glükselige doch angenehm leben, das ist aber nicht möglich wenn er allein ist, weil es in diesem isolirten Zustand ausnehmend schwer ist ununterbrochen thätig zu seyn, welches hingegen ganz leicht ist, wenn wir mit andern und auf andre wirken können […].“ Die Aspekte der Geselligkeit, der wechselseitigen Anschauung und Bildung und der dynamischen Vollzugsdimension waren für Schleiermacher freilich unmittelbar anschlussfähig, auch wenn er sie nicht alle in seinen frühen Anmerkungen heraushob, sondern sich hier v. a. auf die Dimension der ethischen Erhöhung durch sittliche Gemeinschaftsbildung konzentrierte. Vgl. AAnm 5 – 7.
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sich selbst.⁶⁰¹ In den Briefen an seine Braut findet er sodann die positiv emphatischsten Ausdrücke für diese Einsicht – wenngleich er die eheliche Liebe auch schon vor der Aussicht auf die eigene Erlangung ihrer hoch zu würdigen wusste.⁶⁰² Sein ganzes Lebensglück sieht Schleiermacher in seiner Verlobungszeit allein in seiner Verbindung zur Geliebten gründen.⁶⁰³ Nie zuvor sei er so glücklich gewesen.⁶⁰⁴ Was so groß ist, dass es alle anderen Lebensdimensionen zu überstrahlen bzw. deren Bedeutung zu kompensieren vermag,⁶⁰⁵ kann nicht in den Grenzen der Gegenwärtigkeit verbleiben. Aus Platons Symposion übersetzte Schleiermacher die markante Formel: „die Liebe [ist] der Wunsch, das Gute für immer zu besitzen“.⁶⁰⁶ Dass Schleiermacher auch im Entwurf seiner eigenen Liebesbiographie diesem Diktum folgte, ist kein Zufall.⁶⁰⁷ Vielmehr strebt die partnerschaftliche Liebe strukturell ihrer Entkopplung von externen Bedingungen wegen auf einen Entwurf von Dauerhaftigkeit hin.⁶⁰⁸ Darin zeigt sie große Nähen zur religiösen Gestimmtheit. Die Assoziation der Liebe mit der Sphäre des Göttlichen ist uns bereits in den Erwägungen zur Sexualität begegnet.⁶⁰⁹ Hier können wir sie wieder aufnehmen und auf ihre geistige Seite hin betrachten. In einer Traupredigt von 1827 behauptet
Vgl. Brief 559, 10 (An Henriette Herz, 15. 2.1799): „[…] ich habe alles versucht außer die gute Lebensart, und was soll ich mit der ohne Gesellschaft? […] Ach liebe Jette thun Sie Gutes an mir und schreiben Sir [sic] mir fleißig, das muß mein Leben erhalten, welches schlechterdings in der Einsamkeit nicht gedeihen kann. Warlich ich bin das allerabhängigste und unselbstständigste Wesen auf der Erde ich zweifle sogar ob ich ein Individuum bin. Ich strecke alle meine Wurzeln und Blätter aus nach Liebe, ich muß sie unmittelbar berühren und wenn ich sie nicht in vollen Zügen in mich schlürfen kann, bin ich gleich trocken und welk: das ist meine innerste Natur es giebt kein Mittel dagegen und ich möchte auch keins.“ Vgl. M 47, wo Schleiermacher über die eheliche Liebe schreibt: „[…] solch hohes Gut zu gewinnen ist kein Opfer zu theuer, keine Anstrengung zu groß!“ Vgl. BB 111: „Dann wurde mir klar, daß ich in meinem Leben nichts weiter zu suchen hätte, daß ich volle Genüge hätte, wenn wir uns einander wären alles, was wir mit voller Zustimmung unserer Herzen sein könnten.“ Vgl. auch BB 178: „wie herrlich ruht das ganze neue Leben auf Liebe und Freundschaft!“ Entsprechend bezeichnet er seine Jette oft als „mein Leben“ (BB 169.273), „Liebes Leben“ (BB 169) oder „mein theures einziges Leben“ (BB 179). Vgl. BB 187: „[…] im Leben bin ich noch nicht so rein heiter und selig, so innig zufrieden und glüklich gewesen, als seit ich Dich habe.“ Vgl. auch BB 395: „Ich bin ganz voll der Seligkeit des neuen Lebens, gegen die doch alles bisherige mir nichts ist, in dem ich alles willkommen heiße, was Gott schikken mag, weil sich doch alles verklären muß in unserer Liebe und in unserem frommen Sinn.“ Vgl. Luhmann, Liebe, 191 zum Siegeszug des massentauglichen Konzepts romantischer Liebe: „Sie liegt […] quer zu den normalen Karrierebedingungen einer durch Märkte und Organisationen geprägten Gesellschaft und erschließt so Liebe und Ehe als Aufstiegswege eigener Art, die ebenfalls ‚nichts‘ voraussetzen und als voll individualisiert gelten können.“ Sym 58 [Hervorhebung – CR]. Vgl. BB 218: „Herzens Jette, das schönste und herrlichste im Leben werde ich immer Dir danken, wie ich Gott täglich am meisten dafür danke, daß ich Dich habe.“ Vgl. auch BB 123: „[…] was für ein herrliches Leben eine Ehe ist, alles andere so gar nichts dagegen“. Detaillierter dazu s.u. II.3.2.2 sowie in Negativkorrespondenz II.3.3.2. S.o. II.1.2.3.
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Schleiermacher: „Unsere Aehnlichkeit mit Gott fängt mit der Liebe an“.⁶¹⁰ Die kurze Gedankenskizze, die weiterhin von jener Predigt erhalten ist, gibt Hinweise darauf, dass er die Göttlichkeit der Liebe hier in großer Nähe zu Platons Lehre konstruiert. Aus dem Symposion übersetzte Schleiermacher: „Hesiod sagt, zuerst sei das Chaos entstanden, | aber nach diesem Breitgebrüstet die Erde, ein Sitz unwandelbar allen, Eros auch.“⁶¹¹ Eros erscheint gemäß diesem Mythos als primärer „Urheber der größten Güter“,⁶¹² der sich aus dem Chaos erhebt und Ordnung, d. h. Leben, schafft. Das Liebeserleben kann als Inbegriff enthusiastischer Erfahrungen gelten,⁶¹³ es erscheint zuweilen gar als Wahn und kennt Symptome der Krankheit.⁶¹⁴ Wie andere ekstatische Erfahrungen birgt es allerdings auch die Potenz der Erschließung einer höheren Wahrheit.⁶¹⁵ Diese kann für Platon, wie auch für Schleiermacher keine unethische sein. So bestimmt Pausanias im Symposion: „nicht jeder Eros ist schön und wert verherrlicht zu werden, sondern nur der, der uns anreizt, schön zu lieben.“⁶¹⁶ Der himmlische Eros kann in seinen Wirkungen zwar verwirrend erscheinen, sei als Arzt und Ordnungskraft des Naturlaufes hingegen verallgemeinerbaren Prinzipien verpflichtet.⁶¹⁷ In der bereits angesprochenen Traupredigt schreitet Schleiermacher diesen Gedankengang ab. Eingangs bestimmt er: „Gott ist Macht und Liebe“.⁶¹⁸ Das Liebeserlebnis verweist auf die höhere Wahrheit und das höhere Leben, welche im ReichGottes-Gedanken artikuliert werden; dabei handelt es sich trotz aller Idealität und allem Enthusiasmus allerdings nicht um einen Wahn, sondern um eine Orientierungsfigur für ein geordnetes, welthaftes Leben.⁶¹⁹ So wird der Ehestand als der Liebe angemessene Sozialgestalt mit dem göttlichen Prädikat der Macht identifiziert, um ihn unter dem Begriff der Heilsordnung in seiner ethischen Dignität zu würdigen.⁶²⁰
P 10, 775. Vgl. auch BB 131 f: „[…] wie mir so göttlich zu Muthe ist in Deinem Besiz.“ Sym 14. Sym 15. Vgl. Sym 17: „der Liebhaber ist gottähnlicher als der Geliebte, weil in ihm der Gott ist.“ Zu denken ist hier an den Begriff des Enthusiasmus (ἔνθεος), der den Liebenden auszeichnet. Zur Liebe als benebelnde Krankheit und Wahnsinn vgl. die Rede des Lysias: Pha 16. Dagegen wird allerdings von Sokrates die Liebe als schöpferische Ekstase profiliert: Vgl. Pha 33 – 37. Vgl. bündelnd dazu Pha 63: „Sokrates: Und vom Wahnsinn gebe es zwei Arten, die eine aus menschlicher Krankheit, die andere aus göttlicher Aufhebung des gewöhnlichen und ordentlichen Zustandes.“ Zu den Nähen von ‚Wahn‘ und ‚Wahr‘ vgl. Pha 33 f. Sym 19. Im Symposion wird diese Lobrede, wohl um das Moment des Chaotischen in der Liebe nicht vergessen zu machen, ironisch flankiert durch den Schluckauf des Aristophanes und manchen Hausmittelchen, wie man diesem abhelfen könne (Sym 26. 31). Zur Interpretation der literarischen Funktion dieser Episode vgl. auch EP 280. P 10, 775. Vgl. P 10, 775: „[…] die Liebe wird aber nur Macht durch den Glauben an die Liebe als Reich Gottes, als Uebereinstimmung mit seinem Willen.“ Vgl. P 10, 775: „Der Ehestand ist eine große Macht, […] der erste Anfang der göttlichen Heilsordnung. […] Gute Sitte muß darin gedeihen welche dem Verderben steuern kann.“
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Gottesliebe Worin die Göttlichkeit der Liebe besteht, haben wir hier in zwei Facetten erblicken können.⁶²¹ Damit eng verbunden ist die Frage nach der Gottesliebe. Diese zerfällt in zwei Teilfragen, die ihre Bruchlinie an der Genitivfunktion des Kompositums finden. Erstens: Mit welcher Liebe liebt Gott? Und zweitens: Inwiefern können wir Gott lieben? Die erste Frage finden wir in den Schlussparagraphen der Glaubenslehre thematisiert. Über das Prädikat der göttlichen Liebe bestimmt Schleiermacher in § 166 zunächst, dass sie sich dem Menschen ‚mittheilt‘.⁶²² Das urprotestantische ‚pro me‘ in seiner eigenen religionspsychologischen Pointierung zuspitzend, zeigt Schleiermacher kein Interesse an theologischen Spekulationen jenseits von Beziehungsqualitäten. Sodann fügt er hinzu, dass sich Gottes Liebe nicht allein allgemein in der Wohlordnung der Schöpfung mitteilt, sondern v. a. in der Erlösung. Sie zielt auf die ethische Erhöhung des Menschen und entfaltet ihre Kraft nicht in einem Gut-seinlassen, sondern in einem Bessern-wollen.⁶²³ Im Anschluss an Platon und Aristoteles werden wir dieses ethische Sublimationsmoment auch für Schleiermachers Freundschafts- und Ehekonzeption als einschlägig erblicken.⁶²⁴ In den Bestimmungen zum Lehrsatz „Gott ist die Liebe“⁶²⁵ hält Schleiermacher zunächst fest, dass die Liebe die einzige Prädikation Gottes ist, die mit seinem Wesen identifiziert wird.⁶²⁶ Sodann argumentiert er für die Folgerichtigkeit dieser Tradition. Anders als andere Attribute sei die Liebe eine suisuffiziente Eigenschaft,⁶²⁷ die zugleich vermag, alle weiteren Handlungen und Eigenschaften, die wir Gott zuschreiben, zu motivieren.⁶²⁸ Dem Grundansatz seiner Dogmatik als einer ‚Glaubenslehre‘ entsprechend argumentiert Schleiermacher schließlich, dass wir allein der göttlichen Liebe anhand des Erlösungsbewusstseins unmittelbar gewahr sein könnten⁶²⁹ – als basaler religiöser Bewusstseinsgehalt muss sie mithin auch zentral für die Beschreibung von dessen intentionalem Korrelat sein – womit sich der Kreis zurück auf § 166 schließt. Wie eng Liebe und Erlösung zusammenhängen, haben wir uns auch bereits
Schöpfermacht und Orientierungskraft hatte Schleiermacher auch schon früher als göttliche Elemente der Liebe verstanden. Vgl. etwa das emphatische Lob der Tändeleien der Fantasie (Schlegel, Lucinde, 81 f): „Welche Stimmung! […] ich fühle in mir selbst die Allgewalt der Liebe, die Gottheit des Menschen und die Schönheit des Lebens.“ (L 205). CG2, § 166.1, 500. Vgl. CG2, § 166.1, 500 – 502. Die Heraushebung der Heiligung, wie sie in der reformierten Tradition üblich ist, schlägt sich hier unmittelbar nieder. S.u. II.3.1.3. 1Joh 4, 16. Er hält zunächst schlicht fest, dass man eben nicht sagt, ‚Gott ist die Allmacht‘ oder ‚Gott ist die Ewigkeit‘. Vgl. CG2, § 167.1, 503 f. Macht bedarf einer Gegenmacht, um sich zu erweisen, Gerechtigkeit einen Mangel, dem sie wehrt. Liebe hingegen bedürfe nichts dergleichen. Vgl. CG2, § 167.2, 504 f. Vgl. CG2, § 167.2, 506.
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anhand der Würdigung von Hingebung, Befreiung und Dienstbarkeit beim Ideal der ehelichen Liebe in den Hausstandspredigten vor Augen geführt.⁶³⁰ Zur zweiten Frage, inwiefern der Mensch Gott lieben kann, bemerkt Schleiermacher 1832: „Liebe zu Gott ist ein uneigentlicher Ausdruck.“⁶³¹ Während er in den Reden noch in einer Emphase der Unmittelbarkeit von der „Liebe zum Höchsten“ sprach,⁶³² wurde seine spätere Diktion mithin vorsichtiger, wenngleich er auch im reiferen Werk nicht behauptete, die Liebe zu Gott sei an sich undenkbar. Die Vermittlung zwischen beiden Aussagen finden wir auch biographisch in der Mitte. Mit seiner Bemerkung von 1832 bezieht sich Schleiermacher auf einen Gedanken den er wohl in seiner Tugendlehre von 1812/13 entfaltet hat, der uns allerdings nur aus einer Randschrift von 1827 überliefert ist: Von der ethischen [Ansicht der Liebe – CR] ausgehend muß also Vernunft das Thätige, Liebende sein, Natur das Leidende, Geliebte. Hiedurch scheint vertilgt zu werden das Schema ‚Liebe zu Gott‘, und doch soll die Stellung unseres Begriffs die Christlichkeit unserer Philosophie ausdrücken. Die Lösung ist die, daß, wie es kein ausschließend erfüllendes Bewußtsein Gottes giebt, so auch keinen ausschließend erfüllenden Trieb auf Gott. Die Liebe zur Natur ist nur sittlich als Liebe zu Gott, die Liebe zu Gott ist nur wahr als Liebe zur Natur.⁶³³
Wie für alle ethischen Güter gilt auch für die Liebe, dass sie sich dadurch als ethisch auszeichnet, Ausdruck der Durchgeistigung der Natur zu sein.⁶³⁴ Bei aller Betonung der Bedeutung des Naturalen bleibt die Vernunft für Schleiermacher das Vorgeordnete. Daraus ergibt sich das transzendentalphilosophische Problem, dass es letztlich keine positiv ethische Wirkung des Menschen auf das Göttliche geben kann. Ebenso wie Gott schwerlich als passiv gedacht werden kann, schon gar noch in Differenz zu einer größeren Aktivität auf Seiten des Menschen, ist eine Wirkung des kleingeistigen Menschen auf den absoluten Geist Gottes, wie sie im Gedanken der Liebe zu Gott ausgedrückt wird, kaum stringent denkbar. Weil Schleiermacher seinem Gottesgedanken ein echtes Negativum verweigert, muss diesem die Beziehung auf den Menschen letztlich äußerlich bleiben. Im Zweifelsfall gibt er Gottes Allwirksamkeit gegenüber dessen Allgüte den Vorzug; was das für die christlich bedeutsame Frage nach der Gottesliebe bedeutet, sehen wir hier. Die ‚Lösung‘, welche Schleiermacher seinen Hörern anbietet, mag zwar auf einen für die theologische Ethik zentralen Punkt hinweisen, den wir auch bereits vergegenwärtigt haben: Liebe zum Höchsten wird allein in der Liebe zur Mitwelt konkret und wirklich. Das gedankliche Problem der Gottesliebe an sich klärt sie hingegen nicht;⁶³⁵ denn dafür bedürfte es nicht allein
Vgl. H 244 f. Dazu s.o. II.2.1 und II.2.3 sowie II.3.1.Einleitung. PhE 664. R 194. Weiter zur ‚Gottesliebe‘ in den Reden vgl. Trowitzsch, Unsterblichkeit, 426 – 428. PhE 387, Fn 2. S.o. I.4.2. Anders urteilt Hartlieb, Geschlechterdifferenz, 178 f.
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einer Relationierung der Dimensionen des Menschseins, sondern einer relativierenden Revision des Gottesgedankens. Was sich als Negativbefund im Schleiermacherschen theologischen System ausnimmt, bildet zugleich die programmatische Umorientierung seiner Zeit ab. Ging die erste Assoziation zum Gegenstand der ‚Liebe‘ bis in die Aufklärung stets auf Gott, so ändert sich das in der Sattelzeit.⁶³⁶ Wer seitdem vage von Liebe spricht, muss davon ausgehen, dass sein Gegenüber an die partnerschaftliche Liebe denkt. Der Zurücksetzung der zentralen Deutungsgewalt der Religion entspricht die Aufwertung partnerschaftlicher Beziehungen.⁶³⁷ Ob es sich bei diesem Prozess um die Etablierung einer neuen ‚Religion der Liebe‘ handelt, wird von den Sozialdiagnostikern unterschiedlich bewertet.⁶³⁸ Schleiermacher hielt, wie wir bereits verschiedentlich sahen, an einer Differenz beider Lebensmächte fest, bildete sie allerdings immer wieder aufeinander ab und verschränkte sie an den Orten des Bewusstseins, des Handelns und der Kultur.
Liebe und Schmerz Der hohen Bedeutung der Liebe in ihren Glücks- und Erfüllungspotenzen entspricht als Gegenmoment der Schmerz. Dieser stellt sich ein, wo das Geliebte fern ist – sei es, dass man es verloren hat; sei es, dass man es noch nicht gewonnen hat, sich aber nach ihm sehnt. Das Besondere an der romantischen Liebesemphase, wie sie besonders vom privaten Schleiermacher mitvollzogen wurde, ist ihre affirmative Aufnahme des
Anhand der Einträge zum Thema ‚Liebe‘ in den Konversationslexika der Jahrhunderte nachgewiesen hat dies Kapl-Blume, Lexikon, 109 – 119. Vgl. dazu auch Trepp, Liebe, 51 f. „Der Säkularisierung der Liebe folgt ihre Sakralisierung. Denn in dem Maße, wie ‚Liebe‘ aus dem theologischen Kontext gelöst wurde, gewann die Liebe zwischen den Geschlechtern quasi-religiöse Bedeutung.“ (Trepp, Liebe, 52). Kapl-Blume, Lexikon, 116 – 118 beschreibt die Verschränkung von Geschlechtsliebe und geistiger Liebe, um im Anschluss daran zu konstatieren, dass beide zusammen die Legitimationsfunktion der Religion ersetzten. Bei Trepp, Liebe, 53 liest man: „[…] von der ‚Privatreligion‘ und der ‚Religion des Herzens‘ zur Religion der Liebe war es nur mehr ein kleiner Schritt. Die religiöse Überhöhung der Liebe läßt sich […] somit nicht als simple Reaktion auf den generellen Säkularisierungsprozeß und die vielzitierte ‚Entzauberung der Welt‘ verstehen, sondern mehr noch als Ausdruck eines sich verändernden, stärker subjektivierten religiösen Bewußtseins und mithin als Teil eines mehrdimensional zu denkenden Säkularisierungsvorganges.“ Luhmann, Liebe, 217 f benennt zwar Nähen zwischen Liebe und Religion, lokalisiert ihre Systemstellen allerdings zu unterschiedlich, als dass ihm Liebe als Ersatz für Religion gelten könnte. Die Religion ‚repräsentiert‘ nach ihm als „ein System in der Umwelt die Umwelt“ (Luhmann, Liebe, 218). Als Teil der Lebenswelt eines Subjekts integriert sie deren Gesamtheit. Mit der Säkularisierung schwindet diese Kraft. Es wurde immer wieder behauptet, die Liebe hätte nun die Stelle der Religion eingenommen, was sie allerdings nach Luhmann nicht kann, weil der Liebespartner nicht das Absolute für einen Menschen sein kann ohne mit dieser unendlichen Aufwertung die Vorstellung romantischer Liebe selbst zu sprengen und durch das Paradigma von ‚Unterwerfung und Eroberung‘ zu ersetzen (ebd.).
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Liebesschmerzes.⁶³⁹ Wo er zum Indikator für die Stärke der Liebe erhoben wurde, konnte er selbst zum Bestandteil der Liebe avancieren und an sich erstrebt werden.⁶⁴⁰ Die Lust an der Wehmut und an der Sehnsucht, die durch ihr Zielen ins Unendliche entgrenzt wurde, gehört zu den prominentesten Paradoxa romantischer Komplexgestalten des Gefühlslebens.⁶⁴¹ Noch immer gelten jene Liebesgeschichten gemeinhin als die schönsten und tiefsten, die eine Tragik der Unerfülltheit bergen.⁶⁴² Selbst die freie Phantasie vermag sich nur dann das hohe Ideal romantischer Liebeserfüllung auszumalen, wenn es nicht dessen Realisierung in Dauer und Alltag beschreiben muss.⁶⁴³ Faktisch steht es jedoch vor der Aufgabe, sich genau dort zu bewähren. Wichtiger als die schwindelnden Höhen und Tiefen der Emphase sind dabei die Überwindungen
Gegen Schultz, Schleiermacher, 82, der Schleiermacher vorwirft, er habe die Negativseite der Liebe, den Schmerz, nicht erkannt. An Eleonore Grunow schreibt Schleiermacher am 16.10.1802: „Ehre sei auch den Schmerzen, die doch in diesem Zeitalter ein unentbehrliches Element eines schönen Lebens sind. Muß nicht Jeder, dem sie nicht nahe sind, sie aufsuchen in der weiten Welt, um seiner Liebe und seines Glaubens gewiß zu werden?“ (Brief 1363, 172). Und an die junge Witwe Henriette lesen wir: „Dein Schmerz ist so rein und heilig […] Laß uns nun diesen Schmerz unter die schönsten Güter unseres Lebens zählen, und ihn lieben wie wir den Verstorbenen lieben […].“ (Brief 2435, 379). Zur Würdigung des Schmerzes der Sehnsucht, der sich einstellt, wenn man fern voneinander sein muss, vgl. BB 288: „Aber dabei bleibt es doch, daß es mir keinen Augenblik leid thut, daß Du grade in dieser Zeit mein geworden [b]ist, und daß auch von dieser Seite gleich in die erste Freude der Liebe sich Wehmuth mischt. Es ist ja auch das ein herrlicher kräftiger Genuß.“ Vgl. auch BB 338: „Der reine Schmerz Deines liebevollen Herzens und das düstere schauderhafte der äußeren Umstände, das Dich holde Seele gar nicht berührt – das ist ein Bild dem nichts gleicht.“ An seinen Freund Ehrenfried v.Willich schreibt Schleiermacher am 4.11.1801: „Kann man denn an einer schöneren Krankheit sterben als an den Schmerzen der Liebe?“ (Brief 1119, 237).Vgl. zur Thematik auch Beck/Beck-Gernsheim, Chaos, 232: „Liebe ist eine besondere unter den vielen normalen Grenzerfahrungen. Anders als Krankheit und Tod wird sie erstrebt […].“ Eine Romanze endet gemeinhin mit der Hochzeit oder dem viel zu frühen Ableben eines oder beider Partner. Eine pointierte Analyse der paradoxalen Komplexität des romantischen Liebescodes, die das Beschriebene nochmals bündeln mag, bietet Luhmann, Liebe: „So nennt man Liebe ein Gefängnis, aus dem man nicht entweichen möchte, oder auch eine Krankheit, die man der Gesundheit vorzieht, oder eine Verletzung, bei der der Verletzte die Buße zu zahlen hat.“ (Ebd., 79). „Selbst ihr Negativwert gehört zu ihr in einer Weise, die nicht durch Werte anderer Provenienz überboten werden kann.“ (Ebd., 80). „Die erfüllte, glückliche Liebe ist widerspruchsfrei gedacht; sie hebt alle Widersprüche auf; sie ist der Bezugspunkt, der den Paradoxien der Semantik ihre Einheit garantiert. Aber sie kann nicht bestehen.“ (Ebd., 81). „Anders als bei Interessen kann man in der Liebe keine Gegenrechnung aufmachen, keine Kosten kalkulieren; denn die Negativa werden mitgenossen und dienen gerade dazu, die Liebe bewußt zu machen und wachzuhalten. […] Die verschiedenen Paradoxien […] münden in die Zentralthese des Code: die Maßlosigkeit, den Exzeß. Bei aller sonst geltenden Hochwertung von maßvollem Verhalten: in der Liebe gilt es als entscheidender Fehler. Der Exzeß selbst ist das Maß des Verhaltens. Wie bei allen Kommunikationsmedien muß auch hier der Code in sich selbst und für sich selbst eine Ausnahme vorsehen; er ist nur mit eingebauter negativer Selbstreferenz institutionalisierbar.“ (Ebd., 83).
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der kleineren Abgründe und Grenzen. Gemeint sind die Momente der Unterstützung, die Liebe und Freundschaft für den Einzelnen bedeuten.
Die Erlangung von Ergänzung und Hilfe Bereits bei Aristoteles fand Schleiermacher unmittelbar neben dessen Würdigung der Liebe als Garant des höchsten Glücks – die wir bereits zitiert haben – die Aspekte der Freundschaft als Zufluchtsort im Unglück, den Freund als Mahner in der Jugend, als Hilfe im Alter und Kamerad und Gegenüber in den produktiven Jahren auf der Höhe der Kraft.⁶⁴⁴ Für Schleiermacher wurde jene Bedeutungsdimension besonders im Rahmen der Geschlechterthematik virulent, wenngleich er auch weitere sozialethische Implikationen im Blick behielt.⁶⁴⁵ Die Ergänzungsthematik haben wir bereits ausführlich diskutiert;⁶⁴⁶ daher können wir uns hier, bei deren Pointierung auf die Liebesfigur hin, auf wenige Striche beschränken. In großer Nähe zum Mythos von der ursprünglichen Zweieinheit des Menschen, wie er im Symposion nacherzählt wird,⁶⁴⁷ hören wir den Redner sagen: „den liebt jeder am zärtlichsten, in dem er alles zusammengedrängt zu finden glaubt, was ihm selbst fehlt um die Menschheit auszumachen.“⁶⁴⁸ Ganz entscheidend scheint mir bei diesem Zitat der Aspekt der Zärtlichkeit zu sein. Liebe bzw. deren Institutionalisierung in der Paarbildung mögen einen Zugewinn für die jeweiligen Partner bedeuten, der sich durchaus auch identifizieren, z.T. sogar quantifizieren lässt; ein reines Tauschgeschäft wird sie dabei allerdings nicht. Die würdigende Vorsicht mit dem anderen bleibt im Horizont.⁶⁴⁹ In den Lucindebriefen fragt Eleonore: Sage mir Friedrich, finden wir denn mit der Liebe, und nur mit ihr, Alles andere? Ich meine uns Frauen: denn mit Euch ist es anders; Du hattest ja die Freundschaft vor der Liebe gefunden, und Julius auch.⁶⁵⁰
Vgl. AÜ 47: „Sind wir aber arm oder sonst in Unglüksfälle verwikelt so wird jedermann der Meinung seyn daß Freunde unsre einzige Zuflucht sind. Den Jüngling bewahren sie vor Fehlern; den Greis ehren und unterstützen sie sie füllen die Lüke aus, welche durch seine Schwachheit in seinen Handlungen entsteht; dem Mann in der Blüthe der Jahre stehn sie bei in der Ausführung schöner Thaten.“ Vgl. dazu H 382: zwar stelle „immer aufs neue Gott der Herr selbst den Armen neben dem Reichen hin[…]“, doch „es ist sein Wille, daß die Liebe diesen Gegensatz mäßigen soll;“ S.o. II.2, besonders II.2.3. Vgl. Sym 32– 34. R 228. Dies ist bei aller Überzeugungskraft, die austauschtheoretische Ansätze der Geschlechtersoziologie zu entfalten vermögen, gegen deren Mechanisierung bewusst zu halten. L 197.
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In seinem Antwortbrief bestätigt Friedrich genau diese Differenzierung.⁶⁵¹ Es war wohl Schleiermachers eigene Ansicht, dass der Mann der Frau die Vielfältigkeit der Welt aufschließt, während sie ihm Einheit und Ruhe vermittelt.⁶⁵² Entkleiden wir diese Doppelfigur ihrer geschlechtstypologischen Eindeutigkeit, so überzeugt sie meines Erachtens noch heute. Liebe vermittelt beiden Partnern Geborgenheit und Halt und stellt ihnen zugleich die Anforderung, über den engen Kreis ihres eigenen Lebens hinauszugehen.⁶⁵³ Die Aufhebung der geschlechtlichen Codierung dieser Doppelbewegung drängt sich nicht allein durch die geschichtliche Wandlung der Geschlechterbilder auf, sondern hat auch einen Grund in Schleiermachers Argumentation selbst. Besonders am Orte der Frau ist diese nämlich aporetisch verfasst, insofern sie nicht erklären kann, warum Frauen überhaupt zur Partnerschaft streben. Denn diese verspricht ihnen zuvorderst lediglich das zu vermitteln, was sie bereits wesentlich besitzen sollen: Ganzheitlichkeit.⁶⁵⁴
Die ethische Impulskraft der Liebe Dem markierten blinden Fleck steht der Anspruch Schleiermachers entgegen, die konstruktive ethische Eigenkraft der Liebe zu erweisen. Der zentrale Einwand, den er gegen die bereits zu seiner Zeit klassischen Ethikentwürfe Kants und Fichtes erhebt, besteht in deren Mangel in genau dieser Frage.⁶⁵⁵ In seiner Kritik der bisherigen Sittenlehre bemängelt Schleiermacher bei Kant, dass seine Ethik allein limitativen Charakter habe; d. h. sie könne das Handeln und dessen Impulse nicht beschreiben, sondern es allein normativ einhegen.⁶⁵⁶ In seiner Anweisung zum seligen Leben bringt
Vgl. L 207: „Es ist eben so, daß Ihr nur mit der Liebe und durch sie alles Andere findet, und die Freundschaft gehört auch zu den Ausdehnungen und Bereicherungen, zu denen Ihr erst dann geschikt werdet.“ Vgl. L 203: ‚Eleonore‘ schreibt, dass „der Mann durch die Liebe an Einheit gewinnt, […] an Klarheit des Charakters; die Frau dagegen an Selbstbewußtsein, […] an Entwicklung aller geistigen Keime […]. Ihr bildet uns aus; aber wir befestigen Euch.“ Vgl. dazu zuvor L 198: „[…] durch die Liebe und durch Dich alle meine Ansichten und Einsichten soviel bestimmter und reiner geworden sind.“ Für den Mann könne dagegen gelten: „Harmonie und Ruhe […], das ist doch bei Gott das Größte und Würdigste, was die Liebe auf einen Mann wirken kann“ (L 215). Georg Simmel nimmt in seiner Geschlechtersoziologie eine ganz ähnliche Zuordnung vor: „Vermöge der Liebe findet der Mann den Weg von dem ganzen weiblichen Geschlecht zu der einen Frau, die Frau den Weg durch den einen Mann zu dem männlichen Prinzip überhaupt. Dort ist es Verdichtung, hier Erweiterung.“ (Simmel, Geschlechter, 272). Detaillierter dazu s.u. II.3.1.3 und II.3.1.4. Die vielfältigen Differenzen, die den Mann bestimmen, verweisen auf eine zugrundeliegende Einheit, die von ihm erstrebt werden kann. Die innere Einheit der Frau hingegen vermag keine Suche nach dem zu motivieren, was die Partnerschaft für sie an Gewinn in der Ganzwerdung bereithält, nämlich Ausdifferenzierung. Entlehnt ist dieser Einwand der Kritik von Bennent, Galanterie, 133 an Schellings Geschlechtertypologie, die in diesem Punkt jener Schleiermachers ganz ähnlich ist. Vgl. dazu Kluckhohn, Liebe, 451– 454. Hartlieb, Geschlechterdifferenz, 132– 138. Detaillierter zur Thematik s.o. I.3.1.1.
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auch Fichte diesen Einwand mehrfach vor.⁶⁵⁷ Ein Fehlen des Liebesgedanken im ethischen System konnte Schleiermacher Fichte kaum vorwerfen,⁶⁵⁸ wohl aber, dass dieser die Impulskraft naturaler Triebe unterbelichtet, die doch mit Blick auf die wirkliche Liebe nie fehlen darf. Durch dieses je eigene restriktive Gepräge überbetonten beide letztlich das Moment der Unlust und vermöchten den naturalen Trieben, obwohl sie sie stets als Motivationsfaktoren voraussetzten, keine ethische Würdigung zuteilwerden zu lassen.⁶⁵⁹ Ein Rückgriff auf Platon erscheint Schleiermacher hier deutlich ergiebiger. Ob dessen Lehre von Liebe und Freundschaft an jeder Stelle angemessen sei, will er dahingestellt sein lassen; jedenfalls gehe Platon darin grundlegend recht, dass er „den Geschlechtstrieb mit dem Bestreben nach gemeinsamer Ideenerzeugung verbindet […] und daß hier Freundschaft und Liebe nicht von außen angeknüpft oder aufgeklebt, sondern durch die eigenen Kräfte seiner ethischen Grundideen aus dem Innern seines Systems hervorgetrieben sind“.⁶⁶⁰ Vor Augen gestanden haben mag ihm dabei auch die These aus dem Symposion: So behaupte ich denn, daß unter den Göttern Eros der älteste und edelste und mächtigste ist, wenn es darum geht, den Menschen zum Erwerbe der Tugend und Glückseligkeit im Leben wie nach dem Tode zu verhelfen.⁶⁶¹
Für Schleiermacher galt die Liebe als eine, wenn nicht gar die entscheidende Zentraltugend.⁶⁶² So lesen wir im Brouillon, „alles sittliche Handeln [ist] Liebe“;⁶⁶³ „δικαιοσύνη ist Liebe“⁶⁶⁴ und später präzisierend: „Die gebundene gleiche Liebe ist Gerechtigkeit. Bei den Alten deshalb das Schema aller Tugend […].“⁶⁶⁵ An dieser Stelle mag Schleiermacher auch Aristoteles vor Augen haben, der lehrt: Vgl. Fichte, Anweisung, 77– 79. 112– 118. 128 – 130. Zur zentralen Bedeutung dessen siehe drei Jahre später Fichte, Anweisung, 11 f. 109 – 111. 156 – 163. Vgl. dazu Viëtor, Liebe, 6 – 11. 14. 25 f. Zu Fichtes Liebesbegriff vgl. Bennent, Galanterie, 117 f. KdS zit. n. Viëtor, Liebe, 28 [Hervorhebung getilgt – CR]. Sym 17. Vgl. Brief 1332, 122: „Die Zeit auszukaufen ist doch eine große Kunst, ich mögte sagen die wichtigste in diesem irdischen Leben – nächst der Kunst zu lieben – denn es beruhen alle anderen auf dieser.“ Detaillierter dazu unten in diesem Teilkapitel mehr. PhE 214 [Hervorhebung getilgt – CR]. PhE 231. PhE 387.Vgl. auch bereits in den Schlussbemerkungen zur Tugendlehre von 1804/05: „Unsre Liebe ist ihre Gerechtigkeit“ (PhE 73). Mit seiner ethischen Zentralsetzung der Liebe geht Schleiermacher über die Tugendlehre der Antike hinaus – Gunter Scholz spricht gar von einer „Abgrenzung von der klassischen Antike“ (Scholtz, Ethik, 132) – die gemeinhin der Gerechtigkeit diesen prominenten Platz einräumte. Schleiermacher zeigt sich der Tradition gleichwohl verpflichtet, insofern er den Gerechtigkeitsbegriff mitführt. Der philosophisch-ethische Überschritt von der Gerechtigkeitsethik zur Liebesethik wurde meines Erachtens durch seinen Lehrer Johann August Eberhard vorbereitet. Nicht die Verpflichtung dem christlichen Erbe gegenüber, sondern die Tendenz zu einer Dynamisierung der Ethik mag hierbei den primären Ausschlag gegeben haben. In Eberhards ‚Sittenlehre der Vernunft‘ ist es die Figur des Vollkommenheitsstrebens, die seine Abhandlungen als Orientierungs- und Antriebskraft durchzieht. Im Hauptstück VIII. ‚Von der Tugend‘ bestimmt er nach einleitenden Sortie-
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Und in der That wo Menschen sich lieben, braucht man nicht erst dafür zu sorgen, daß man sie auch gerecht gegen einander mache, aber laßt sie noch so gerecht seyn, so können sie dennoch der Freundschaft nicht entbehren.⁶⁶⁶
Die Liebe motiviert sittliches Handeln, erschöpft sich jedoch nicht darin, sondern wird auch jenseits dieser ehrenwerten Funktion erstrebt. In Anlehnung an das Böckenförde-Paradox ließe sich formulieren: Die Ethik lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann.Wo Liebe ist, da ist auch die Tendenz auf ein friedliches und gerechtes Zusammenleben. Wo sie hingegen nicht ist, da kann sie auch nicht durch normative Setzungen oder Zwangsmechanismen herbeigeführt werden.⁶⁶⁷
Liebe und Pflicht Die Rede von der Liebe als Tugend schließt gleichwohl imperativische Aspekte mit ein. Diese sind integrierbar, wenn man, wie Schleiermacher, die Liebe nicht als bloßen Reflex auf die Einwirkung von etwas Liebenswürdigem versteht, sondern als produktive Kraft, die zugleich den Gegenstand ihrer Liebe – nicht an sich, aber als diesen geliebten – konstituiert. Im vierten Gedankenheft notiert er: „Man muss nicht nur liebenswürdige lieben sondern auch liebensbedürftige sonst bleibt man imer einseitig.“⁶⁶⁸ Johannes Perle interpretiert Schleiermacher meines Erachtens zu einseitig, wenn er in seiner losen Anknüpfung an wenige Monologen-Zitate behauptet, für den Schleiermacherschen Liebesgedanken spiele die Liebenswürdigkeit des Gegenübers überhaupt keine Rolle.⁶⁶⁹ Zweierlei Interpretationen des Gedankenfragments scheinen hier näher zu liegen. Zum Einen, dass es Schleiermacher um die Wechselseitigkeit der Liebe geht. Einseitigkeit würde in diesem Zusammenhang bedeuten, dass Liebe eine rungen noch ganz klassisch ‚Gerechtigkeit‘ als die Zentraltugend. (Eberhard, Sittenlehre, § 98, 101 f). Zwar verhandelt er im Hauptstück III des zweiten Teils seines Werks (ebd., § 183 – 189, 225 – 236) ‚Von den Pflichten gegen andere Menschen‘ als erste die ‚Menschenliebe‘ (ebd., § 183, 225 f). Allerdings ist er hierbei v. a. an den Themen der ethischen Erhöhung des Anderen und der Bestimmung einer angemessenen Wohltätigkeit interessiert. Das dynamische Potential seines ethischen Ansatzes, welchem sich der statischere Gerechtigkeitsbegriff tendenziell sperrte, über eine vielperspektivische Würdigung von Bedeutungsreichtum und –tiefe der Lebensmacht der Liebe aufzuschlüsseln war sodann Schleiermachers genuines Verdienst. AÜ 48. Vgl. auch die Einschätzung bei Simmel, Geschlechter, 256: „Die freundnachbarlichen Gefühle […] sind doch ein unentbehrlicher Kitt jeder Gruppe, weniger vielleicht im positiv verbindenden Sinne, als eben in dem: daß ohne sie ein sozialisierter Zustand, namentlich bei schon differenzierten Persönlichkeiten zur Hölle werden müßte. Freundliche und herzliche Gesinnungen zwischen Menschen in räumlich naher Beziehung pflegen doch nicht die Ursache dieser Beziehung zu sein; sondern umgekehrt, aus dieser um irgendwelcher Ursachen gestifteten, geht die Gesinnung erst hervor.“ Zum zeitgenössischen Kontext der These, die sich ähnlich bereits bei Lessing, Eckartshausen, Burke und sodann auch bei Novalis und Friedrich Schlegel findet vgl. Nowak, Schleiermacher und die Frühromantik, 184 f. G IV, 19., 137. Perle, Individualität, 24 f.
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Schlagseite zum liebenden Subjekt und seinen Bedürfnissen bekommt. Zum Anderen macht das Zitat die Interpretation möglich, dass die Liebe nicht allein am Liebesobjekt und dessen Qualität hängt – die ‚Einseitigkeit‘ läge nun beim geliebten Gegenüber –, sondern v. a. in der Verfasstheit des Subjekts als eines auch unabhängig von jener konkreten Aktualisierung Liebenden.⁶⁷⁰ Die Bedeutung der ‚Wahlanziehung‘ ist damit nicht negiert.⁶⁷¹ Unproblematisch erscheint der Begriff der ‚Liebespflicht‘, welcher die imperativischen Aspekte der Liebe auf den Punkt bringt, gleichwohl nicht. Schleiermacher führt ihn in der Pflichtenlehre seines philosophischen Ethikkollegs von 1812/13 neben ‚Rechtspflicht‘, ‚Berufspflicht‘ und ‚Gewissenspflicht‘ ein.⁶⁷² Er zollt damit seinem
Vgl. L 210: Schleiermacher spricht hier von einem „Zustand der Sehnsucht und des Liebenwollens“, der der Verwirklichung der Liebe in einer Beziehung vorausgeht.Vgl. dazu Simmel, Geschlechter, 233: „Liebe ist immer eine sozusagen aus der Selbstgenügsamkeit des Innern sich erzeugende Dynamik, die durch ihr äußeres Objekt wohl aus dem latenten in den aktuellen Zustand übergeführt, aber nicht im genauen Sinn hervorgerufen werden kann; die Seele hat sie als eine letzte Tatsache oder hat sie nicht, wir können nicht hinter sie auf irgendein äußeres oder inneres Movens zurückgehen, das mehr als gleichsam ihre Gelegenheitsursache wäre. […] Ich bin mir sogar nicht sicher, ob nicht das, was man Sehnsucht oder Bedürfnis nach Liebe nennt, das dumpfe gegenstandslose Drängen besonders der Jugend nach irgend etwas, das man lieben könnte – ob das nicht schon Liebe ist […]. Man wird wohl überhaupt den Trieb zu einem Verhalten als die Gefühlsseite des schon beginnenden Verhaltens selbst ansehen können […].“ Ebd, 250: „Darum ist es immer nur der Anblick der Schönheit, der Liebe erzeugt, und der bedeutsame umgekehrte Fall entgeht ihm [sc. Platon – CR], der das Geheimnis der Liebe in einer viel tieferen Schicht erfaßt: daß wir denjenigen schön finden, den wir lieben – und der freilich nur durch eine Spontaneität, ein schöpferisches Selbstleben des Liebesaffekts, denkbar ist.“ Auch Thomä, Glück, 281 spricht von einer „bemerkenswert pauschale[n] Art“ der Liebe, die sie über das reine Schätzen bestimmter Qualitäten am anderen bzw. an sich selbst hinaushebt. Pieper, Liebe, 40 f weist darauf hin, dass grundlos geliebt zu werden auch etwas Beschämendes an sich hat, weil in der grundlosen Liebe eben nicht das zählt, was der Geliebte an sich schätzt und um wessentwillen er entsprechend auch von anderen geliebt werden will, sondern allein die kreative Potenz des Liebenden. Walter Schubart fasst diese Wechselbezüglichkeit in die sakralen Kategorien der Heiligung und des Opfers. Liebe, wie Religion führen, so Schubart, zu einer hingebungsvollen ‚schenkenden Tugend‘. „Der Liebende lebt, fühlt, denkt, wünscht und handelt nicht vom eigenen Selbst, sondern vom anderen her. Er befreit sich von der Bürde seiner Person, indem er den Schwerpunkt seiner Existenz in den anderen (Gott oder den Geliebten) hineinverlegt.“ (Schubart, Religion, 96 f). Aber dieses Schenken verdankt sich dennoch der eigenen Spontaneität und ist nicht selbstinteresselos. „Die Opferbewegung nimmt – wie die erlösende Liebe selbst – im Schenker ihren Anfang, nicht im Geliebten oder in der Gottheit, die beschenkt werden soll. Dadurch unterscheidet sie sich vom Altruismus. Liebe ist Selbstheiligung durch Selbstpreisgabe. Sie will in Religion und Erotik die Einsamkeit durch das Opfer überwinden.“ (Schubart, Religion, 97). In seiner Interpretation des platonischen αγαπαν und φιλειν stellt er beide Formen nebeneinander: „Wie braucht Plato αγαπαν und φιλειν. Im Lysis wird beides unterschieden. αγαπαν ist dort immer terminus medius um zu zeigen daß ohne Bedürfniß kein φιλειν Statt findet. Man muß auch die andere Bedeutung von αγαπαν ‚zufrieden sein mit etwas‘ dazunehmen. Es scheint beinahe eigentlich auf die Anhänglichkeit zu gehn. | Vielleicht ist αγαπαν nur passiv, das Wohlleidenmögen, φιλειν aber activ, das Streben.“ (G III, 65., 135). Detaillierter zum Thema s.o. II.1.1 und s.u. II.3.2.1. Vgl. PhE 412.
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eigenen Anspruch Tribut, dass sich Güterlehre, Tugendlehre und Pflichtenlehre ineinander übersetzen lassen müssten. Die ‚Liebespflicht‘ steht dabei freilich für die Sphäre des ‚individuellen Organisierens‘.⁶⁷³ Auf die Frage, was der Begriff bedeuten soll und was mit ihm in der ethischen Deskription gewonnen ist, gibt Schleiermacher im Kolleg selbst kaum Antworten.⁶⁷⁴ Aufschlussreicher zum Thema erscheinen seine Mahnungen zur Liebe in den Hausstandspredigten. Nach der Übersetzung der symbolischen Codierungen dieser, sind sie recht anschlussfähig an die philosophische Ethik. Über die Zurechtweisung des Gesindes bestimmt Schleiermacher: Denn wer sich dieser Abstammung aller Macht von oben bewußt ist, der weiß also, daß sie von dem Gott der Liebe kommt, und also auch nur um der Liebe willen verliehen ist, damit in Liebe erbaut und gebessert werde; […].⁶⁷⁵
In der Ethik geht es um eine Orientierung des Lebens auf das Konstruktive. Wer die Verfügungsgewalten, die ihm gesellschaftlich – symbolisch von Gott – verliehen sind, zur bloßen Selbstbehauptung nutzt, missbraucht sie. Wo kein Abgleich mit den Interessen anderer besteht, ist ein Niedergang der Verhältnisse bereits vorgezeichnet. Macht ist nur Mittel zur Erlangung selbstzwecklicher Güter, die durch die Liebe in den Fokus genommen werden. Dies zu tun ist ethische Pflicht, die durch die Vorstellung vom Gott der Liebe, der zugleich alle Macht verleiht, religiös gedeutet und grundiert wird. Die ethische Integrations- und Orientierungsleistung der Liebe wird von Schleiermacher als eine universale betrachtet. Dies drückt sich auch in seinen Gedanken zu den pädagogischen Verhältnissen in der christlichen Familie aus: Mehr aber als alle Worte muß unser ganzes Leben, mit ihnen [sc. den Kindern – CR] in wahrer und treuer Liebe geführt, die kräftigste Ermahnung zum Herrn sein, so gewiß als Gott die Liebe, und eben deshalb auch Liebe die allgemeinste und vernehmlichste Offenbarung des ewigen Wesens ist.⁶⁷⁶
Das primäre Kriterium der Erziehung ist die Liebe. Wo die Liebe ist, bedarf es kaum weiterer Bestimmungen, weil sie als Zentraltugend das gesamte Leben erfasst, das Bewusstsein, dessen verbale Äußerungen und das Handeln. In pädagogischen Verhältnissen, die von Authentizität leben, garantiert sie den entscheidenden Zusammenhang von Anspruch und gelebter Wirklichkeit. Als Medium gelingender Beziehungen ist ihre Erhöhung zugleich das Ziel der sich in diesen artikulierenden
PhE 412 lautet der Terminus „individuelle[s] Gemeinschaftsbilden“. Über die pflichtenethische Aktualisierung der These, dass alle vier relativen Sphären des Handelns ineinandergreifen, bleiben seine Ausführungen zur ‚Liebespflicht‘ in ihrer Fragmentarität kryptisch. Vgl. PhE 484. H 351. H 306.
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Bemühungen. In der Predigt drückt Schleiermacher dies durch den zirkulären Gedanken der Entsprechung aus: wir sollen lieben, weil Gott die Liebe ist und Gottes Liebe offenbart sich in unserer gelebten Liebe. Aus der Benennung des Ideals und der Begabtheit der Menschheit, dieses auch zu verfolgen, ergibt sich im Abgleich mit der Faktizität der Imperativ dazu.⁶⁷⁷ Entscheidend für Schleiermacher ist der Zugzwang des Positiven, der keiner negativ-restriktiven Abstützung bedarf. Hatte er an der kantischen Ethik deren limitativen Charakter bemängelt, so versuchte er selbst – sogar unter der imperativischen Darstellungsform – die Negativmomente abzublenden bzw. gar explizit abzuweisen. Der Motor dazu konnte in keiner anderen Lebensmacht als der Liebe selbst liegen. Ihr klassischer Antagonist ist die Furcht (vor Strafe), so auch für Schleiermacher.⁶⁷⁸ Werner Schultz weist darauf hin, dass Schleiermacher kein Sensorium für die religiöse Ehrfurcht hatte.⁶⁷⁹ Ob diese religionspsychologische Einschätzung in ihrer Schärfe stimmt, können wir an dieser Stelle dahingestellt sein lassen. Ins Ethische gewendet zeigt sie in jedem Fall einen Mangel auf, der sich beim Pflichtbegriff ergibt. Die Pflicht, soll sie eine moralische, d. h. intrinsisch motiviert sein, setzt etwas voraus, das Kant mit dem ‚Achtungsgefühl‘, einer Art Scheu bzw. Ehrfurcht, beschrieb.⁶⁸⁰ Wo dieses Moment geleugnet wird, weil es der Verfasstheit der Liebe widerspricht, kollabiert das ethische Pflichtkonzept. Dies zumindest erahnend, setzte Schleiermacher auch nicht allzu stark auf den in sich widersprüchlichen Begriff der ‚Liebespflicht‘, sondern wählte stattdessen, die deutlich passendere Kategorie der Tugend für seine ethische Zentralbestimmung.
Die Liebe als Zentraltugend Als „Haupt- und Urtugend“ bezeichnet er die Liebe in der Tugendlehre von 1812/13, was er darin begründet sieht, dass sie die beiden Doppelkategorien der Güterlehre, Indi-
Grundlegend dazu s. o. I.3.1. Für die Erziehung des Kindes, wie für die Erziehung des Menschengeschlechts überhaupt gilt nach Schleiermacher: „Und wie aus dem Gesetz nie etwas Besseres hervorgehen kann als die Erkenntnis der Sünde, nicht aber die Kraft zum Guten: so kann auch aus der Strafe, deren Kraft auf der Furcht ruht oder auf der bittern Erfahrung, nie etwas anderes entstehn als ein äußeres Verhüten der Sünde, nicht aber eine Abwendung des Herzens vom Bösen. Denn dieses zum Guten hinzuneigen kann nur die Liebe bewirken, welche alle Furcht und mit ihr alle Kraft der Strafe austreiben soll.“ (H 290). „Denn wo Lust und Liebe ist, da ist die Furcht überflüssig, und wie die Furcht von der Liebe ausgetrieben wird, so auch, wenn die Liebe schon da ist, findet die Furcht keinen Platz.“ (H 353). Vgl. dazu 1Joh 4,18: „Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus. Denn die Furcht rechnet mit Strafe; wer sich aber fürchtet, der ist nicht vollkommen in der Liebe.“ Für seine Religionstypologie wird diese Unterscheidung sodann auch zentral. Vgl. dazu CG2, §8. Zusatz 1, 71 f. Detaillierter dazu s.u. III.2.1.2. Schultz, Schleiermacher, 80 f. Die ‚Achtung‘ ist die Vernunft ins Sinnliche gewendet bzw. konkreter: das sich auf sinnlichemotiver Ebene zur Geltung Bringen des Sittengesetztes.
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vidualität und Sozialität sowie die Verhältnisse zwischen Natur und Vernunft, zu koordinieren und ihre Dynamiken und Wechselbeziehungen zu motivieren vermag.⁶⁸¹ Bereits in den Monologen begreift Schleiermacher die Liebe als inkommensurable Voraussetzung für (Selbst‐)Bildung und mithin für sittliches Leben überhaupt.⁶⁸² Individualität wird ohne Sozialität nicht nur nicht erkannt, sondern kann sich überhaupt nicht ausbilden.⁶⁸³ Schleiermacher geht davon aus, dass das Einzelne von sich aus zunächst überhaupt keine Neigung zum produktiven Abgleich mit anderem Einzelnen besitzt. Damit es zu einem solchen kommt, bedarf es der Liebe.⁶⁸⁴ Bemerkenswert ist hierbei der Gedanke, dass die Liebe nicht gleich macht, sondern vielmehr das Andere in den Blick bringt. Sie stellt alles Einzelne in den Rahmen einer höheren Gemeinsamkeit, in dem es nunmehr seine Eigentümlichkeiten profilieren kann. Durch diese Differenzaufladungen verstärkt sich – gleich dem physikalischen Magnetismus – die wechselseitige Anziehung der Elemente: die Liebe erstarkt.⁶⁸⁵ Schon in den Reden hatte Schleiermacher die Liebe als soziales Erkenntnisprinzip profiliert.⁶⁸⁶ Im Brouillon erscheint sie sodann als ‚Trieb Individualität anzuschauen‘ und zugleich als die Motivationskraft, diesen Vollzug praktisch zu institutionalisieren durch die Bil-
Vgl. PhE 392: „Es treten also hier dieselben Haupteintheilungen ein, die wir beim höchsten Gut gehabt haben: erkennend und bildend, individuell und universell; welches auch natürlich und die Ursache ist, warum, wo die praktische Richtung dominiert, die Liebe […] für die Haupt- und Urtugend gilt […].“ Im Brouillon perspektiviert er die Aufgabe der Identitätsbildung nicht auf das Individuum, sondern auf die Sphäre die Allgemeinen und liefert damit das passende Gegenstück: Vgl. PhE 214: „Eine andere Duplicität entsteht daraus, daß zwar die Vernunft von dem ursprünglichen Punkt ihrer Vereinzelung aus auf alles geht, aber doch ein anderes Handeln sezen muß auf die schon von andern Punkten aus beseelte Natur, ein anderes auf die von ihr ursprünglich zu beseelende. Denn wenn es gar kein Handeln auf solche Natur gäbe, so hätte jede einwohnende Vernunft ihr eignes ganz abgeschlossenes Gebiet. […] Die Identität könnte auf diese Weise nicht in dem Ganzen sein. Also gäbe es keine Anschauung der Sittlichkeit.“ S.o. I.4.1. Zum produktiven Wechselverhältnis von Individualität und Sozialität über Erkenntnis und Bildung im Modus der Liebe vgl. auch Dux, Geschlecht, 107– 109. Zur Liebe als ‚Kommunikationsmedium‘ vgl. auch Luhmann, Liebe, 21– 32. Vgl. zu diesem Gedankengang M 22: „Die höchste Bedingung der eignen Vollendung im bestimmten Kreise ist allgemeiner Sinn. Und dieser, wie könnt er wol bestehen ohne Liebe? […] Ja Liebe, du anziehende Kraft der Welt! Kein eignes Leben und keine Bildung ist möglich ohne dich, ohne dich müßt alles in gleichförmige rohe Maße zerfließen! […] Keine Bildung ohne Liebe, und ohne eigne Bildung keine Vollendung in der Liebe; Eins das Andere ergänzend wächst beides unzertrennlich fort. Vereint fühl ich in mir die beiden höchsten Bedingungen der Sittlichkeit!“ Vgl. auch Novalis „Liebe macht Individualität mittheilbar und verständlich.“ (Ders., Schriften, Bd. 2, 541, zit. n. Dux Geschlechter, 225). Weiter zur Inspiration der Fassung der Liebe als grundlegendes Prinzip für die Verbindung von Individuum und sozialer Sphäre und als Garant für das Weltganze durch den Frühromantikerkreis vgl. Nowak, Schleiermacher und die Frühromantik, 256 f. Zur Dynamik dessen bei Schleiermacher selbst vgl. auch Oberdorfer, Geselligkeit, 546 – 548. Vgl. R 228: „[…] um die Welt anzuschauen und um Religion zu haben, muß der Mensch erst die Menschheit gefunden haben, und er findet sie nur in Liebe und durch Liebe.“ (Zum Kontext, in dem Schleiermacher mit dieser These stand vgl. Trepp, Liebe, 44– 53).
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dung einer Gemeinschaft.⁶⁸⁷ Bei der Darlegung der Erkenntnisseite greift er hier den Gedanken der Bewegung von einer anfänglichen Grundoffenheit zu einer intensiveren Form der Liebe aus den Monologen wieder auf und beschreibt ihn als dialektisches Wechselspiel von erkennendem Aufnehmen des Anderen und profilierendem Darbieten des Eigenen.⁶⁸⁸ Letzteres Moment verweist bereits auf die Liebe, „wie sie auf Bildung und Darstellung ausgeht.“⁶⁸⁹ Damit sind wir beim anderen Relatenpaar, Natur und Vernunft, angelangt. In der Güterlehre bestimmt Schleiermacher ihr Verhältnis mit den Handlungsformen des ‚Organisierens‘ und ‚Symbolisierens‘. In der Tugendlehre arbeitet er über die Kennzeichnung des Stellenwerts der Liebe in diesen einige Spezifika heraus, die unabhängig davon noch nicht in den Blick kommen konnten. So bestimmt er das ‚Symbolisieren‘ als „die auf das Ansichziehen der Natur unter der Form des Bewußtseins gerichtete Liebe“, während er das ‚Organisieren‘ als „die auf die organische Vereinigung, d. h. die Natur zum Organ der Vernunft bildende Liebe“ beschreibt.⁶⁹⁰ In beiden Fällen erscheint ‚Liebe‘ als die motivationale Kraft der Handlungstypen, die Aspekte des Interesses, der Hinwendung und Zuwendung einschließt. Unmittelbar ausgedrückt finden wir diese Strebestruktur in den Begriffen des ‚Seele-sein-Wollens‘ und ‚Leib-sein-Wollens‘, die Schleiermacher im Brouillon einführt.⁶⁹¹ Ersteres beschreibt den Impuls zur Organisation, zur Gemeinschaftsbildung, zur sozialen und materialen Realisierung von geistigen Vorstellungen, Wünschen, Werten
Vgl. PhE 125: „Dieser Trieb die unzugängliche und unübertragbare Individualität anzuschaun ist, was man im engeren, aber noch nicht engsten Sinne Liebe nennt. Sie ist aber keineswegs eine Thätigkeit, die uns hier erst besonders entsteht, sondern schon in der allgemeinen bildenden enthalten.“ Es „liegt schon in der organisirenden Thätigkeit die Tendenz die Individualitäten um sich zu versammeln – Geselligkeit.“ Vgl. PhE 217: „[…] weil die Liebe von der Person aus gleichmäßig fortschreitet, und so doch zum Hervortreten des entgegengesezten Factors gelangt, so muß dieser auch in den ursprünglichen Aeußerungen schon sein gegeben gewesen, nur als ein Kleineres. […] Der Mensch fängt damit an, daß er sich offen erhält für das, was Andere in sein Bewußtsein hineinlegen wollen […]. Diesem entspricht nun umgekehrt […] das Darbieten dem Bewußtsein […] Die Dialektik kann keine andere Tendenz haben und darum wird diese mit Recht als Liebe angesehen.“ Soll bereits das sich anfängliche ‚Offenhalten‘ als Form der Liebe gelten können, so setzt dies voraus, dass es auch eine nicht „durch die Persönlichkeit [bzw. nach PhE 392 durch die Individualität – CR] differentiirte Liebe“ gibt, was Schleiermacher in der Tugendlehre von 1812/13 (PhE 391) explizit annimmt. PhE 218 [Hervorhebung getilgt – CR]. PhE 391. Für die beiden Handlungsformen wählt er in diesem Zusammenhang die deutschen Begriffe des ‚Erkennens‘ und ‚Bildens‘. Vgl. hierzu auch die Bestimmung aus dem Brouillon: „Das Leben selbst ist nun das Einbilden der Vernunft in die Natur als eines in ihr Erkennbaren und das Erkennen der Vernunft in und durch die angezogene und eingebildete Natur. Dies ist nun die erste Duplicität in der Liebe; sie geht auf Bildung und auf Bewußtsein. […] Allein beide Gegensäze [sc. Natur und Vernunft sowie Individualität und Sozialität] sind auf keine Weise absolut getrennt, denn Bildung und Bewußtsein ist Eins in der Idee der Offenbarung, […].“ (PhE 214). Vgl. PhE 209. 213. In der Tugendlehre von 1812/13 finden wir die Begriffe des ‚Seelewerdenwollens‘ und ‚Leibwerdenwollens‘, die den Prozesscharakter noch stärker herausstreichen sollen (PhE 386 f [Hervorhebungen – CR]).
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und Ordnungsmustern.⁶⁹² Konkrete Ausdrücke dessen reichen von der Identitätsbildung des Selbst,⁶⁹³ über die Paarbildung und Familiengründung, hin zur Staatenbildung.⁶⁹⁴ Es ist wohl die Verbindung aus institutioneller Klarheit und emotionaler Sättigung in der Familie, die Schleiermacher dazu brachte, sie in diesem Zusammenhang als „erste[…] Repräsentation der Totalbeseelung der Vernunft“⁶⁹⁵ zu würdigen. Die produktive Kraft der Liebe erweist sich allerdings nicht allein in den Bildungsund Schaffensprozessen, sondern ebenso in den Erkenntnisvorgängen. Wir sahen oben bereits, dass Schleiermacher Erkenntnis und Gemeinschaftsbildung aufs Engste miteinander verbindet.⁶⁹⁶ So kann er sich selbst dort, wo er die Seite des ‚Symbolisierens‘ an sich zu beschreiben sucht, der Metaphern des Bildens und Gestaltens nicht enthalten.⁶⁹⁷ Erkenntnisse schaffen neue Wirklichkeiten und die Liebe motiviert diesen Prozess. Sie galt Schleiermacher als der „unmittelbarste Wendepunkt zwischen Physischem und Ethischem“.⁶⁹⁸ Diese These verführte ihn zu einem metaphysischen Umkehrschluss. Wenn die Liebe Wirklichkeiten schafft, dann hat sie dies auch immer schon getan. Als erhaltender und sublimierender Motor des Lebens, verantwortet die zugleich dessen Entstehung. Liebe verbindet und gibt Raum für Differenz.⁶⁹⁹ Sie ist die
Vgl. PhE 209: „Es geht also von der Vernunft aus auf die Natur: auch jede bildende Liebe ist nichts anderes als ein gemeinschaftliches Seele-sein-wollen. Dasselbe von der ehelichen Liebe.“ Vgl. dazu auch Fichte, Anweisung, 13: „Wenn aber nun weiterhin die Frage entsteht: […] was ist es denn, das jedem Individuum den ausschließenden Charakter seines besondern Lebens gibt; so antworte ich darauf: es ist die Liebe dieses besondern und individuellen Lebens. – Offenbare mir, was du wahrhaft liebst […] und du hast mir dadurch dein Leben gedeutet. Was du liebest, das lebest du.“ Vgl. PhE 216: „Auf diese Weise ist die Liebe überall. Sie ist Princip der bildenden Function, anfangend von der Persönlichkeit, dann Geschlechtsvereinigung und Familie stiftend, […] dann die größte Organisation hervorbringend. Denn alles ist ein Beseelenwollen.“ PhE 216. Vgl. auch PhE 216: „Eben so ist sie [sc. die Liebe – CR] Princip der erkennenden Function, anfangend von der Persönlichkeit, endend im Produciren einer vollendeten Gemeinschaft aller Erkenntniß.“ Vgl. PhE 215: „Wie die Liebe nicht nur im eigentlich so genannten Handeln ist, sondern auch im Erkennen. Jedes wirkliche Erkennen mit Bewußtsein ist ja ein Einbilden der Vernunft in die Natur, ein liebendes Schaffen, ein Uebergehen der Idee in eine Reihe einzelner Betrachtungen und Gedanken. […] Daraus folgt nun, daß alles was wir als seiend, der Form nach in der Weisheit gesehn haben, in der Liebe zur Identität des Seins und Werdens gelangt […].“ [Hervorhebung – CR.] PhE 213. Auch in Fichtes Liebesdefinition, wie er sie in seiner Anweisung zum seligen Leben vornimmt, finden wir die beiden Aspekte der Vereinigung und der Aufrechterhaltung der Differenz. Fichte geht allerdings noch einen Schritt weiter, indem er die Liebe sogar selbst zum Differenzgenerator erhebt: „Die Liebe teilet das, an sich tote Sein, gleichsam in ein zweimaliges Sein, dasselbe vor sich selbst hinstellend, – und macht es dadurch zu einem Ich oder Selbst, das sich anschaut, und von sich weiß; in welcher Ichheit die Wurzel alles Lebens ruhet. Wiederum vereinigt und verbindet innigst die Liebe das geteilte Ich, das ohne Liebe nur kalt, und ohne alles Interesse, sich anschauen würde. Diese letztere Einheit, in der dadurch nicht aufgehobenen, sondern ewig bleibenden Zweiheit, ist nun eben das Leben […].“ (Fichte, Anweisung, 11 f).
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Schöpferkraft, die das ‚Leibseinwollen der Materie‘ verbürgt, indem sie Intelligibles und Verwirklichtes ineinander überführbar macht.⁷⁰⁰
Liebe und Weisheit Haben sich Schleiermachers handlungstheoretische Binnendifferenzierungen der Liebe als recht kompliziert, weil bewusst verschlungen, dargestellt, so macht er es dem Interpreten mit seinem Angebot einer Doppelbestimmung von Weisheit und Liebe kaum leichter. Werner Schultz kritisiert: „Liebe und Weisheit sind bei Schleiermacher unlöslich miteinander verbunden und werden mehrfach sogar identifiziert, wodurch dann […] die jedem dieser Begriffe eigentümliche Prägnanz verlorengeht.“⁷⁰¹ Dieses Urteil lässt sich meines Erachtens nur zur Hälfte unterschreiben. Die Weisheit wird von Schleiermacher weitestgehend nur mit der einen Seite der Liebe identifiziert, nämlich der erkennenden, um im Gegenüber dazu den Begriff der Liebe auf ihre bildende Seite engführen zu können.⁷⁰² In der Tugendlehre von 1804/05 wählt er dafür die Begriffe des ‚idealen‘ und des ‚realen Prinzips‘.⁷⁰³ Im Brouillon ist von ‚Erkennen‘
Vgl. PhE 213: „Das Aufsteigen zur Organisation ist das Leibseinwollen der Materie. Daher die alte Anschauung, daß Liebe das Princip des Daseins der einzelnen Dinge ist. Dies gilt auch ethisch. Ohne Liebe gäbe es keine Identität des Seins und Werdens, kein Heraustreten der Vernunft als eines Objectiven.“ Unten werden wir sehen, wie eng Schleiermacher die Tugenden der Weisheit und Liebe miteinander verzahnt. So kann auch für die Liebe gelten, was er in der Glaubenslehre über die Weisheit aussagt: „Die göttliche Weisheit ist das die Welt […] ordnende und bestimmende Princip.“ (CG2, § 168, 506). Sowohl für die Liebe, als auch für die Weisheit ist die ‚Totalität des Mannigfaltigen‘, d. h. die Welt, der Bezugspunkt. Vgl. auch CG2, § 165, 498. Sie begründen ihren Zusammenhang und gestalten ihre Zusammenstimmung. Schultz, Schleiermacher, 80 urteilt über den Liebesbegriff in Glaubenslehre und Predigten: „Wesenstendenz der Liebe ist also auch hier Einheit unter Ausschluß aller störenden Elemente.“ Schultz, Schleiermacher, 84. Nicht die Liebe, sondern die Weisheit bestimmt Schultz an späterer Stelle in seiner Interpretation selbst zum Oberbegriff, um anhand ihrer entlang der drei Vermögen die Kultursphären der Wissenschaft, der Ethik und der Religion zu sortieren; was nicht jedweder Evidenz entbehrt, im Falle der Ethik hingegen, die hier allein in die Sphäre der Praxis verwiesen wird, mit obiger Interpretation in Widerspruch gerät, die sie auch als Produkt der Erkenntnis auswies. Vgl. Schultz, Schleiermacher, 87: „Weisheit ist wie Glaube und Liebe eine der höchsten Funktionen der Vernunft, die im Denken, Fühlen und Wollen das Empirisch-Sinnliche zu dem Geistig-Idealen in Beziehung setzt. Als Weisheit des Erkennens ist sie Wissenschaft, als Weisheit des Handelns Liebe, als Weisheit des Gefühls Frömmigkeit oder Glaube. Die Sachgebiete Wissenschaft, Ethik, Religion werden also dem griechischen Weisheitsbegriff untergeordnet, durch ihn normiert und zu einer großen Einheit verbunden.“ Vgl. PhE 46 f: „Leerer Streit über den Vorzug zwischen Weisheit und Liebe. […] Ja nicht die Eintheilung so mißverstehen, als ob die Weisheit bloß das Theoretische wäre und die Liebe das Praktische. Alles, was aus der Liebe hervorgeht als seinem realen Princip, das muß auch enthalten sein in der Weisheit, als seinem idealen und umgekehrt. […] Die Weisheit ist also das ideale Princip alles Sittlichen in jedem Einzelnen.“
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und ‚Beseelung der Organisation‘ die Rede.⁷⁰⁴ Und in einer Randschrift von 1827 heißt es umständlich: Weisheit ist die Thätigkeit der Vernunft in der Natur, mehr abstrahirt von dem noch-nicht-Geeinigt-Sein der Natur, Liebe […] die Thätigkeit auf die Natur, mehr abstrahirt von dem schon-Geeinigt-Sein⁷⁰⁵
Weisheit konstatiert die bestehenden ethischen Verhältnisse und sucht deren Prinzipien auf, indem sie von Mangelerscheinungen absieht. Liebe hingegen orientiert sich gerade an diesen, um Handlungen zu motivieren, die ihnen abhelfen.⁷⁰⁶ Zu dieser Unterscheidung, die sich an der Trennlinie von ‚Organisieren‘ und ‚Symbolisieren‘ orientiert, steht eine Bestimmung aus der Tugendlehre von 1812/13 quer, wo es heißt: „die Gesinnung im Erkennen ist Weisheit, die Gesinnung im Darstellen ist Liebe.“⁷⁰⁷ Für sich genommen mutet diese Formulierung an, als wollte Schleiermacher seine beiden Haupttugenden, Weisheit und Liebe, nun dazu einsetzen, die Sphäre des ‚Symbolisierens‘ in sich zu untergliedern. Ziehen wir seine Paraphrasen, die er im selben Zusammenhang für das ‚Erkennen‘ und ‚Darstellen‘ wählt, hinzu, so zeigt sich hingegen, dass er hier auf einer ganz anderen Ebene operiert, nämlich dem Unterschied von Rezeptivität und Spontaneität,⁷⁰⁸ was die Interpretation freilich nicht erleichtert, hatte er in anderen Zusammenhängen doch stets die konstruktive und bildende Seite der Erkenntnis betont. Beide Tugenden werden flankiert durch zwei weitere Tugenden: die Besonnenheit und die Beharrlichkeit.⁷⁰⁹ Sie stehen nicht in so enger Verzahnung mit der Liebe wie die Weisheit; so könne es auch eine unbesonnene und eine unbeharrliche Liebe geben.⁷¹⁰ Gleichwohl setzten sie den Haupttugenden das Maß.⁷¹¹ Wer leichtsinnig und Vgl. PhE 208: „Hier gehen aber wieder zwei Factoren aus einander, indem einmal die Form der Vernunft, des Erkennens im Handeln angeschaut wird, ein andermal die Form der Beseelung der Organisation. Jenes Weisheit, dieses Liebe, und dies sind die beiden Anschauungen der Gesinnung.“ PhE 386. Liebe und Erkenntnis waren nicht nur auf abstrakt-funktionaler Ebene im Sinne der Einheitsstiftung eins. Auch im subjektiven Erleben mussten sie sich verschränken. Die auf Individualität und Persönlichkeit ausgehende Liebe barg die Richtung auf das zunehmende Erkennenwollen des Partners in all seinen Facetten. Die wechselseitige Mitteilung im Dienste der Selbst- und Partnererkenntnis war integraler Bestandteil des Liebesvollzugs selbst. Vgl. dazu auch Trepp, Liebe, 42– 44. PhE 379. Vgl. PhE 378: „Ein anderer Theilungsgrund liegt in der ursprünglichen Form des Lebens, welches als einzelnes nur im Gegensaz des Insichaufnehmens und Aussichhinstellens besteht. Die Tugend in Bezug auf das Insichaufnehmen ist die erkennende, die andere die darstellende.“ Vgl. PhE 379: „Das Erkennen unter die Zeitform gestellt ist Besonnenheit, das Darstellen unter die Zeitform gestellt ist Beharrlichkeit. […] wo eine Tugend ist, da sind alle; wogegen freilich empirisch die eine sehr zurückgedrängt, die andere zu einer ausschließenden Virtuosität gesteigert sein kann.“ Vgl. die Randschrift von 1827: „Liebe kann unbesonnen sein und unbeharrlich, bleibt aber Liebe eben so gut. – Sie kann aber nicht unweise sein, ohne mit sich selbst in Streit zu gerathen.“ (PhE 386). Vgl. PhE 58: „[…] überall kann Weisheit und Liebe nur wirklich werden nach dem Maaße der Besonnenheit.“
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sprunghaft agiert, dem entgleitet manche Liebe und Einsicht eben so schnell, wie sie ihm gekommen ist. Was intuitiv sofort evident erscheint, hat bei Schleiermacher seine Wurzeln in Platon und Stoa.⁷¹²
Die pralle Wirklichkeit der Liebe Mit seiner These, die Liebe als Tugend des Erkennens und Bildens zu beschreiben, blieb Schleiermacher nicht im vagen Kategorienhimmel. Angewandt auf die partnerschaftliche Liebe motivierte sie seinen Einwand gegen eine Stimmung, der die Beziehung zum Partner genug war.⁷¹³ Vermittelte die Liebe den Zugang zur Welt, so konnte sich auch und erst recht nicht ihre vielleicht intensivste Form, die geschlechtliche Liebe, davon ausnehmen. In den Lucindebriefen lässt er Ernestine kritisch anfragen: „Geht nicht die Liebe in dem Buche [sc. Schlegels Lucinde – CR] bei aller Vollständigkeit der Darstellung doch ein wenig gar zu sehr in sich selbst zurück?“⁷¹⁴ Wer liebt, der müsse in die Welt und die bürgerlichen Verhältnisse hinaus, um dort für seine Liebste einzustehen und aus seiner Liebe heraus zu wirken.⁷¹⁵ Bissig heißt es weiter: […] es ist lächerlich und widersinnig, wenn die alten romantischen Dichter aus Liebe und zur Verherrlichung der Liebe Heldenthaten verrichten lassen, die nicht in der geringsten Verbindung mit ihr stehen, aber es lag doch die richtige Idee darin, daß die Liebe, wenn sie recht tief in den Menschen hineingegangen ist, auch wieder recht weit aus ihm herausgehen muß, und wer ihr das wehrt, der kommt mir vor, als schnürte er ihr den Hals zu, und liesse sie nach Luft schnappen, wie mir denn auch, wenn ich hieran denke, in der Lucinde hie und da asthmatisch genug vorkommt.⁷¹⁶
Zu Platon vgl. Sym 43 – 45: Eros erscheint hier als der gerechteste, besonnenste, tapferste, musischste und weiseste Gott. Auf das platonische Erbe jener Tugendlehre weist Schultz, Schleiermacher, 84– 87 hin. Zur mystifizierenden Lesart der Liebe, die sie als Rückzug von der Welt beschreibt, weil der Liebende in der Geliebten alles gefunden hat vgl. Schubart, Religion, 108 – 110. L 162. Ähnlich stellt Schubart, Religion, 230 f dem ‚Spannungsstand‘ der Liebe, der das sehnende Suchen und emphatische Finden der Liebe beschreibt, den ‚Gnadenstand‘ zur Seite, in dem es zur ‚Entselbstung‘ kommt und die Liebe überfließt und sich wieder an die Welt in ‚Nächsten-, All- und Gottesliebe‘ richtet. L 164. Mit einigem Abstand und auf einer anderen Realisationsstufe des romantischen Liebesparadigmas urteilt Günter Dux ganz ähnlich über den notwendigen Konnex von Weltverhältnis und Liebesbeziehung. Was sich bei Schleiermacher als Konzeptkritik ausnimmt, erscheint bei Dux als Krisendiagnose unter den Bedingungen eines tiefgreifenden Weltverlusts: „In der Krise, in die das Subjekt geraten ist, sind die Bedingungen, unter denen sich Liebe vormals realisierte oder realisieren konnte, hinfällig geworden. Dadurch ist das Lieben selbst in eine Krise geraten. […] Das Bedürfnis nach Liebe ist so lebendig wie je zuvor; ihre Bedeutung ist eher noch gestiegen. Denn wenn vordem die Bedürfnisse, die in der Liebe eine Befriedigung suchten, eine Abstützung an der Welt fanden, findet sich jetzt ihre Befriedigung jeden Anhalts an ihr beraubt. Wenn Liebe einst Vermittlung zur Welt bedeutete, so steht sie jetzt selbst unvermittelt da. Die Erwartung an sie wächst dadurch ins Unermeß-
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In seiner Rezension der Lucinde, die er kurz nach den Lucindebriefen herausbrachte, vertrat Schleiermacher sachlich eine ganz ähnliche These, beurteilte den Roman im Lichte ihrer hingegen wesentlich wohlwollender.⁷¹⁷ Der ethischen Bandbreite der Liebe, die wir uns hinsichtlich ihrer Bedeutung für Welterfahrung, Weltanverwandlung und Weltgestaltung, für Selbsterkenntnis und Sozialität, für alles Erkennen und Handeln und in alledem letztlich den Zusammenhang von Sein und Werden vor Augen geführt haben, entspricht ihre phänomenale Vielgestalt.⁷¹⁸ Die hohe Integrationskraft und Würde der ‚Liebe‘ war Schleiermacher nicht bereit mit einem Aderlass an ihr zu bezahlen. Nicht hochwürdig und bleich sollte sie ihm werden, sondern prall und frisch bleiben. Genau dies lobt er an der Lucinde: Vom leichtesten Gaukeln des Scherzes, von dem ausgelassenen Muthwillen, den der Uebermuth der Jugend und das Glück einer fast unverhofften Rettung erzeugt, bis zur heiligsten Anbetung der Menschheit und des Universums in der Geliebten, durch alles hindurch, was dazwischen liegt, das ruhige und heitre Dasein, das besonnene Streben nach gemeinsamem Leben und Wachsthum, und in allen Stimmungen, im tiefsten unsäglichsten Schmerz, um Enthusiasmus der Freude, und in der unendlichen Ruhe, in der sich die Liebe nur nach sich selbst sehnt, auch durch die Erinnerung, und mehr als Erinnerung der frühern Ahndungen und Versuche sich nur erhöht, und sich jede Zukunft, selbst die des Entsagens vor Augen stellen kann.⁷¹⁹
liche.“ (Dux, Geschlecht, 448) Worum es dabei genauer geht, ist die Sinnfrage. „Das Individuum will sich der Bedeutsamkeit seines eigenen, höchst praktischen Daseins durch den anderen versichern. Dazu aber fehlen alle Voraussetzungen, seit es eine bedeutsame, sinnvermittelnde Welt nicht mehr gibt. Vordem galt es, sich in einer sinnhaften und sinnvollen Welt unterzubringen und dazu den anderen zu benötigen; fortan soll der andere die Welt allererst sinnvoll werden lassen.“ (Ebd., 449). Ausgedrückt findet Dux die Überforderung der Liebe in der Programmformel aus Schlegels Lucinde (Schlegel, Lucinde, 67): „Sie waren einer dem andern das Universum.“ (Dux, Geschlecht, 449). Zur Krisendiagnose vgl. auch ebd. 460 – 470. Dux konstatiert meines Erachtens mit Recht in der Gegenwart eine Überforderung der Liebe, an der das romantische Liebesideal einen großen Anteil hat. Liebe wird isoliert und mit Ansprüchen überfrachtet, sodass sie daran nur scheitern kann. Gerade deshalb erscheint es mir im Anschluss an Schleiermacher so wichtig, nicht die Liebe als Geber von Lebenssinn stark zu machen, sondern die Sozialform der Familie, die noch eine Vielzahl weiterer Weltzusammenhänge repräsentiert, welche das romantische Liebesideal abfedern, wie institutionelle, ökonomische usw. Vgl. RL 223: „Durch die Liebe eben wird das Werk [sc. Schlegels Lucinde – CR] nicht nur poetisch, sondern auch religiös und moralisch. Religiös, indem sie überall auf dem Standpunkte gezeigt wird, von dem sie über das Leben hinaus ins Unendliche sieht; moralisch, indem sie von der Geliebten aus sich über die ganze Welt verbreitet, und für Alle, wie für sich selbst, Freiheit von allen ungebührlichen Schranken und Vorurtheilen fordert.“ Bierhoff/Grau, Beziehungen, 47 f nennen im Anschluss an Lee verschiedene ‚Liebesstile‘: ‚Romantische Liebe‘ (Eros), ‚Besitzergreifende Liebe‘ (Mania) (die die exklusive Partnerbindung auch für die eigene Person veranschlagt), ‚Freundschaftliche Liebe‘ (Storge), ‚Spielerische Liebe‘ (Ludus), ‚Pragmatische Liebe‘ (Pragma) und ‚Altruistische Liebe‘ (Agape). Vgl. dazu auch Amelang, Einstellungen, 174– 181. In Schleiermachers Konzeptualisierungen der Liebe finden sich Elemente von all diesen Typen. L 151.
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Auch zur mythologischen Rede von der Verliebtheit in ihrer ‚juckenden‘ und manchmal ganz banalen Strebekraft, wie Platon sie im Phaidros bietet,⁷²⁰ bemerkt Schleiermacher in diesem Sinne: Denn wie viel zu abstrakt und viel zu beschränkt hat man größtenteils die Liebe genommen, und wie vieles ganz übersehen oder kindisch bedeutelt. […] Wie denn Platon hier recht ausdrücklich das Vorrecht Mythen in seine Darstellungen einzuflechten in Besitz zu nehmen scheint.⁷²¹
Seine Liebesbriefe sollten ganz in diesem Sinne „kein poetisches Quingeliren“ sein, sondern „einfältig, frisch, derb, andächtig, zärtlich, alles zusammen, wie eben die Liebe ist“.⁷²² Seine Braut ermahnte er: […] keine poetischen Briefe, und wenn sie noch so hübsch wären, ziere Dich nur ja nicht, sondern so rasch wie möglich aus dem Herzen durch die Feder aufs Papier, denn was ist wol rascher und unbekümmerter und bequemer als die Liebe.⁷²³
Wenig später reflektierte er und befand zufrieden: So ein Brief ist ein wunderliches Ding, recht wie die Shakspearschen Lieder, wo alles durcheinander vorkommt, aber immer ein und derselbe Refrain; dort: Und der Regen regnet jeglichen Tag, hier: Und die Liebe liebt jeglichen Tag.⁷²⁴
Soll die Liebe das ganze Leben bestimmen,⁷²⁵ darf man ihr nicht mit falscher Scheu begegnen. Hält man sie zu heilig, geht der Anspruch ihrer ethischen Sublimations-, Wandlungs- und Erhaltungskraft für die ekstatischen Momente des Hingerissenseins verloren. Doch nicht nur den Hochzeiten, auch dem Alltag drohte sie dadurch zu entgleiten. ‚Und die Liebe liebt jeglichen Tag.‘ Das bedeutet, auch im unspektakulären Alltag zeigt sie ihre Wirkungen; auch in der schlichten Vertrautheit ist sie präsent und zu würdigen. In Anlehnung an ein zentrales Lehrstück der Christologie lässt sich sagen: Allein in inkarnierter Gestalt, vermag die Mittlergestalt der Liebe den Menschen zur Vollkommenheit zu geleiten. Weder im Ideenhimmel, noch in der Sondersphäre des Enthusiasmus sollte sie verbleiben, sondern herabsteigen, Fleisch annehmen und
Vgl. Pha 36 – 44. EP 90. BB 194. BB 226. BB 303 f. Schon allein dieser Anspruch wurde nur in der kurzen Hochphase der Romantik behauptet. Seiner revolutionären Gestalt wegen ließ er sich nicht in das gemeine Leben überführen War es in der Vorneuzeit ein stärkerer Pragmatismus, der das Zusammenleben (zwangsläufig) prägte, so waren es auch seit dem Biedermeier wieder Eigenrationalismen der Arbeitswelt und des Gesellschaftslebens. Der Liebe wurde der gesellschaftspolitisch ungefährliche Platz der Privatsphäre angewiesen, an dem sie sich umso ausgreifender und nachhaltiger zu behaupten vermochte. Detaillierter zum Thema s.u. II.3.3.1 und II.3.3.4.
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durch diese Erniedrigung den Menschen erhöhen. Nur wer die Liebe in dieser Weise predigt, konnte Schleiermacher als „Priester der Liebe und Weisheit“⁷²⁶ gelten.
3.1.2 Selbstliebe und Nächstenliebe Seinen hohen ethischen Ambitionen und seinem großen Zutrauen in die Gestaltungskraft der Liebe zum Trotz machte sich Schleiermacher keine Illusionen über deren Verfasstheit. Ein reiner Altruismus, der klassischerweise mit dem Begriff der Agape im Gegenüber zum Eros beschrieben wird, konnte für ihn mithin nicht als Tugend und noch nicht einmal als hehres Ideal gelten. Zu deutlich hatte er erkannt, dass sich das Selbst nicht übergehen ließ, besonders in der Liebe nicht. Einem Egozentrismus redete Schleiermacher damit freilich nicht das Wort. Um seine entsprechenden Koordinationen in den Blick zu bekommen, wollen wir uns zunächst vor Augen führen, inwiefern Selbstbezogenheit und Selbstbehauptung organisch und bewusstseinsstrukturell vorgegeben sind. Hieraus folgt für die Liebeskonzeption, dass die Selbstliebe als das Primäre angesehen werden müsse und die Nächstenliebe als deren Ableitung. Sodann wollen wir uns das die Herbheit dieser Konstruktion abfedernde Postulat Schleiermachers vergegenwärtigen, Selbst- und Nächstenliebe seien in bestimmten Perspektiven letztlich als dasselbe aufzufassen. Daraus folgt die Unterscheidung einer ethisch zu begrüßenden Selbstliebe und einer problematischen Eigenliebe. Schließlich gelangen wir zu den ethischen Sublimationspotenzen der Liebe zwischen Selbst und Anderem, die uns zum nächsten Teilkapitel hinüberleiten.
Bedeutungen der Selbstzentriertheit Eine der großen Entdeckungen der Neuzeit liegt in der Einsicht in die naturale Bedingtheit des menschlichen Lebens, die all sein Geisthandeln und Kulturschaffen grundiert. Der Materialismus und Naturalismus der Aufklärung gab einer Naturphilosophie Vorschub, die nicht mehr den Leib als Instrument des Geistes begriff, sondern umgekehrt den Geist z.T. bis zu einem Epiphänomen organischer Prozesse hinunterstimmte. In Folge dessen ließ sich die Selbstreferentialität des menschlichen Bewusstseins als Ausdruck der notwendigen Selbstbezogenheit des Organismus pointieren. Als leibliches Wesen konnte der Mensch dieser Selbstfokussierung gar nicht entkommen.⁷²⁷ Auch der Idealismus, namentlich Johann Gottlieb Fichte, zeigte
Als einen solchen bezeichnet er seiner Freund Friedrich Schlegel in L 206. Zum Gegensatz von Priester und Magier im Blick auf die Liebe vgl. weiterführend Schubart, Religion, 66 – 69. Vgl. dazu Dux, Geschlecht, 90: „Der Organismus aber ist ein selbstreferentielles System; er kennt nichts als die Bezogenheit auf sich selbst. Es gibt deshalb gar keine andere Möglichkeit, als vom Eigeninteresse jedes einzelnen auszugehen. Jedes Subjekt kann nur aus seiner Antriebslage heraus tätig werden. Und die ist immer natural unterlegt. […] Freuds Beobachtung, daß der Mensch in allem Lieben sein Leben lang narzißtisch bleibe, hat seine Wahrheit in dieser Selbstreferentialität des Organismus.“ [Hervorhebung getilgt – CR.]
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Interesse an der Selbstzentriertheit des menschlichen Lebens. Anders als der von ihm verschriene Naturalismus⁷²⁸ begründete er diese hingegen freiheitstheoretisch in der Figur der ‚Selbstsetzung‘, einem so primitiven wie bedeutungsvollen Bewusstseinsakt.⁷²⁹ Schleiermacher bezieht beide Aspekte in seine Erwägungen ein, zeigt letztlich allerdings die größeren Sympathien für die idealistische Konzeption. An der Diskussion des ‚Selbsterhaltungstriebs‘ in seiner Psychologie wird dies deutlich. In seiner biologisch spröden Gestalt bezeichnet der Selbsterhaltungstrieb die Tendenz eines Lebewesens zum Fortbestehen, die seiner Existenz mitgegeben ist.⁷³⁰ Nach Schleiermacher kann es für den Menschen damit allerdings allein nicht getan sein.⁷³¹ Vielmehr erblickt er in jenem grundlegenden Bestreben zugleich den naturalen Haftpunkt der Individualitätsbildung.⁷³² Mit diesem Konnex ist einer ethischen Rechtfertigung naturaler Härten sogleich ein Riegel vorgeschoben. Nur weil der Mensch ein natürliches Wesen ist, kann er es nicht als seinem Wesen angemessen ausgeben, sich in Triebleitung und Selbstdurchsetzung zu gebärden wie ein Tier.⁷³³ Die Sphäre des Bewusstseins ist bei ihm von Anfang an miteinzubeziehen und auch hier erhebt sich das Primat der Selbsthabe.
Vgl. zu entsprechenden Polemiken konzentriert Fichte, Anweisung, 34 f. Vgl. Fichte, Wissenschaftslehre, 9: Grund allen „Handelns des menschlichen Geistes“ ist „das schlechthin gesezte, und auf sich selbst gegründete“ Ich. Soll der ‚Selbsterhaltungstrieb‘ des Einzelnen in seinem ‚ganzen Umfang‘ begriffen werden, so ist er auf das ‚Seele-sein-wollen des Geistes‘ zurückzuführen, wo er allerdings nicht als ein bestimmtes ‚Wollen‘ vorkommt, sondern viel grundlegender ‚immer schon in der zeitlichen Entwicklung des Bewußtseins gegeben ist‘. Vgl. Psy 21. Vgl. Psy 25: „Befaßt man nur das leibliche Bestehen darunter, so gibt das eine Masse von Verwirrungen. Wenn man dies als einen Trieb ansieht, so kommt man dazu, alles andere als Mittel anzusehen.“ Vgl. zur Thematik auch treffend Lang, Psychologie, 60: „Die niedrigste Stufe des Selbsterhaltungstriebs ist auf das unverkümmerte Fortbestehen der organischen Functionen gerichtet […]. Auf dieser Stufe ist er nichts psychisches und fordert keine vorausgehende Denkthätigkeit. Psychisch wird derselbe erst da, wo das Denken unter der Form des gewussten Wollens auf das Fortbestehen der psychischen, und sofern sie conditio sine qua non sind, der physischen Functionen gerichtet ist. Diese Richtung kann man bezeichnen als das Seeleseinwollen des Geistes.“ Fichte kehrt das Verhältnis gar um: „Durch moralische Besinnung belebt betrachte ich mich nur als Werkzeug des Sittengesetzes; ich will sonach fortdauern und nur darum fortdauern, um forthandeln zu können. Darum ist die Selbsterhaltung Pflicht“ (aus Fichtes Sittenlehre, zit. n. Viëtor, Liebe, 18). Vgl. Psy 26 f: „[…] wir haben unter dieser Rubrik [der Selbsterhaltung – CR] nichts anderes aufzustellen, als nur die Lebenseinheit in allen verschiedenen Funktionen […].“ Der „Anfang der Existenz des Einzelwesens […] ist nun natürlich als unabhängig von jenem Triebe zu setzen, sobald aber das Dasein angefangen hat, ist auch das Subjekt gleich unter diesem Gesichtspunkt des Fortbestehenwollens zu betrachten und die ganze Art, wie die Lebensfunktionen sich entwickeln, ist nur eine Aussage darüber, als was das Einzelwesen fortbestehen will.“ Eine solche Verkürzung werde dadurch motiviert, dass eine Gesellschaft schwach entwickelt ist und mithin tatsächlich ums Überleben zu kämpfen hat oder aber dadurch, dass sie in einer überzogenen Konsumorientierung die Sphäre des Geistes und der Bildung aus dem Blick verliert – eine meines Erachtens bemerkenswert aktuelle Diagnose. Vgl. dazu PhE 25 f.
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Das Interesse am eigenen Selbst artikuliert sich der Psychologie nach in zwei Tätigkeitsformen: dem ‚Bleiben-wollen‘ bzw. ‚Sich-setzen-wollen‘, welches sich nochmals in ‚Selbsterhaltungstrieb‘ und ‚Besitzergreifen‘ untergliedert einerseits, und der ‚Selbstmanifestation‘ andererseits.⁷³⁴ Beide hängen aufs Engste miteinander zusammen.⁷³⁵ Unter der Ägide der ‚Selbsttätigkeit‘ meint ersteres so viel, wie die aus der Philosophischen Ethik bekannte Handlungsform des ‚Organisierens‘, während letztere auf die Bedeutung des ‚Symbolisierens‘ zielt.⁷³⁶ Anders als in der Philosophischen Ethik hebt Schleiermacher in der Psychologie allerdings freilich nicht so sehr auf die äußeren Kulturgüter ab, sondern v. a. auf deren Entstehungsgrund im menschlichen Selbst und dessen Rückbezüglichkeit.⁷³⁷ Die in allen Lebensvollzügen unhintergehbare Selbstgegebenheit des Menschen buchstabiert Schleiermacher sodann anhand verschiedener Grenzfragen aus. Genannt seien hier jene nach dem Zerbrechen der Selbstübereinstimmung; nach biographischen Umbrüchen, die das identische Selbst aufzuheben scheinen; und nach dem Versuch einer Selbststeigerung durch Selbstaufhebung, wie er mental im Unsterblichkeitsglauben und praktisch im Selbstmord vollzogen wird. Zur ersten Frage konstatiert Schleiermacher schlicht, dass „wir die Menschen […] immer in der Zustimmung dessen finden, was sie sind“ – gegenteilige Fälle müssten als ‚momentane [Selbst‐]Täuschung‘ gelten.⁷³⁸ Die ursprüngliche Selbstvertrautheit des Menschen lässt sich nicht übergehen. Der Mensch ist, wer er ist und wird sein So-sein in den meisten Fällen nicht problematisieren. Bis zur letzten Konsequenz kann er dies auch gar nicht. Wie sollte ein Selbst einen Entwurf von sich selbst entwerfen können, in dem es grundlegend von sich selbst abstrahiert und in diesem Entwurf noch es selbst sein? Die zweite Frage nach Identität und Flexibilität des Selbst hängt damit eng zusammen. Schleiermacher stellt in Rechnung, dass es biographische Wandlungen geben kann, nach denen man von einer anderen Person bzw. diese von sich selbst glaubt, sie sei nunmehr eine andere als zuvor. Nähme man solches an, stellt sich sogleich die Folgefrage, ob und inwiefern wir es mit einer brüchigen oder fragmentarischen Identität zu tun haben. Der In-dividualitätsdenker Schleiermacher lässt es
Psy 3 f. Vgl. Psy 4: „[…] die Manifestation vermittelt den Besitz und der Besitz das lebendige tätige Fortbestehen und schließt alle Äußerungen der Selbsttätigkeit in sich; aber in diese Selbsterhaltung gehört die Selbstmanifestation auch, und so schließt sich der Ring von selbst.“ Vgl. auch Psy 3: Ohne die Selbstmanifestation ist das Besitzergreifen nicht zu denken, „weil jeder Akt den andern aufheben würde ohne die Manifestation.“ Vgl. Psy 3 f: „Wenn wir […] uns die ganze geistige Tätigkeit des Menschen in ihrer Vollendung denken, so muß sie die vollständige Selbstmanifestation des Geistes sein, und zugleich das vollständige Gebildet-sein der Welt für den Menschen, und in diesen beiden zusammengenommen das vollkommene Sein und Wirkenwollen des Geistes.“ Vgl. Psy 4: „[…] aller Zusammenhang mit den Dingen außer uns hat diese beiden Richtungen entweder auf die Selbsterhaltung oder auf die Selbstmanifestation.“ [Hervorhebung – CR.] Psy 31.
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zu dieser Folgefrage allerdings gar nicht erst kommen, insofern er biographische Wandlungen als für das Selbst unumgänglich begreift. In ihnen träte allerdings lediglich – und z.T. eben über einen jähen äußeren Bruch – das zutage, was lange unterdrückt wurde, jedoch immer schon als ein Aspekt des Selbst angelegt war: „Dies gehört sozusagen zu der Elastizität des Selbsterhaltungstriebes, ohne welche die Konstanz desselben bei den äußeren Einwirkungen sich gar nicht denken ließe.“⁷³⁹ Der Mensch ist, wer er durch sein Werden geworden ist. Dieser Horizont der Genese lässt sich nicht verlassen, ob man nun in affirmativer oder polemisch-abgrenzender Weise auf ihn Bezug nimmt. Die für die Liebesfähigkeit unverzichtbare Selbstvertrautheit setzt eine relative Konstanz im Selbstkonzept voraus. Wie aber verhält es sich im Lichte dessen mit dem denkbar größten biographischen (Ab‐)Bruch, dem Freitod? Paradoxerweise rechnet Schleiermacher diesen Akt der Selbstaufhebung, wie den Glauben an die Unsterblichkeit der Person,⁷⁴⁰ unter die „Extreme des Selbsterhaltungstriebes überhaupt“ und begreift sie entsprechend als „Ausdruck der Freiheit“.⁷⁴¹ Unabhängig von der moralischen Bewertung ihrer artikuliere sich in beiden die Fähigkeit des Menschen, sich im Geist über sein natürliches Leben zu erheben; im Fall des Freitodes scheine sogar die Handlungsmacht auf, dem durch die Tat Ausdruck zu verleihen.⁷⁴² Eine wichtige Pointe dieser Bewertung liegt mithin in der These, dass sogar die denkbar weitreichendsten Gestalten einer Vernichtung bzw. Transzendierung des Selbst ebenjenes Selbst immer noch voraussetzen und bleibend behaupten müssen.⁷⁴³ Psy 32. Ein ähnlich elastisches Selbstkonzept, welches Selbstbestimmtheit zwischen korrodierendem Selbstverlust unter dem Diktum auferlegter Flexibilität einerseits und der sich selbst abschließenden Verknöcherung einer undynamischen Charakterbehauptung andererseits in Balance hält, sucht Thomä, Glück, 287– 291 mittels eines Seitenblicks über Richard Sennet hin zu Ralph Waldo Emerson zu entwickeln. Ausgehend von Einsichten der neueren Narzissmusforschung konstatiert Otto Wullschleger, „daß religiöse Symbole oft narzißtische Vorstellungen aufnehmen (wie z. B. das ‚Aufgehen im Universum‘) mit deren Hilfe Trennungserlebnisse und die Versöhnung mit dem Tod (auch dem eigenen!) möglich wird.“ (Wullschleger, Selbstliebe, 256). Die ‚Ausdrucksformen des Narzißmus‘, die Wullschleger im Referat Heimbrocks nennt, lassen sich sehr deutlich in den Reden und den Monologen finden: „Die Vorstellung der Entgrenzung der eigenen Person, […] die Thematik des Schwebens und Fliegens in kosmischen Räumen, […] Zustände symbiotischer Verschmelzung des Selbst mit äußeren Objekten [und Personen], […] das Gefühl unendlichen Wohlbehagens, ewiger Harmonie und einer durch nichts zu erschütternden Sicherheit.“ (Ebd.). Psy 43. Vgl. auch Psy 42: Selbstmord setzt Selbstreflexion voraus, „denn je weniger er [sc. der Mensch – CR] sich über den Moment erhebt, desto weniger kann ihm etwas in der Gegenwart unerträglich sein, da dies immer einen Vergleich voraussetzt.“ Unter Schleiermachers Leibniz-Aphorismen findet sich ein weiteres Paradoxon der Extreme hinsichtlich der Selbstsorge: „Es giebt Menschen die kein Interesse an sich selbst nehmen. Einige weil sie überhaupt keines, auch nicht an andern fähig sind. Andere weil sie ihres gleichmäßigen Fortschreitens sicher sind weil ihre selbstbildende Kraft keiner reflektirenden Theilnahme mehr bedarf, weil hier Freiheit in allen ihren höchsten und schönsten Aeußerungen gleichsam Natur geworden ist. So berührt sich auch hier in der Erscheinung das niedrigste und das erhabenste.“ (LA I, 67., 95).
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Mit Günter Dux können wir das Zwischenfazit ziehen: „Jeder ist, obwohl er strukturell in der Kommunikation mit anderen immer deren Ort einnehmen kann, sich selbst in einer Weise gegeben, die ihn für sich allein unendlich wichtig sein läßt.“⁷⁴⁴
Das Ableitungsverhältnis von Selbst- und Nächstenliebe Es zeugt von Realismus, dem beschriebenen Selbstinteresse des Einzelwesens auch in ethischer Hinsicht Rechnung zu tragen, was seinen Ausdruck in der affirmativen Bezugnahme auf die Selbstliebe findet. Bereits Aristoteles war diesen Weg gegangen und beschrieb die Selbstliebe gar als den Ermöglichungsgrund und das Vorbild für die Liebe zu anderen.⁷⁴⁵ Derjenige könne als unser Freund gelten, der sich zu uns unserem Selbstverhältnis gemäß verhielte. Dazu gehören die Beförderung der Wohlfahrt der Person gemäß deren eigenen Vorstellungen, ein Interesse an ihrer Erhaltung um ihrer selbst willen und eine umfängliche Sympathie im wörtlichen Sinne eines Ein- und Mitfühlens.⁷⁴⁶ Johann August Eberhard, der Schleiermacher in die Nikomachische Ethik eingeführt hatte, erklärte im sachlichen Anschluss daran in seiner eigenen Sittenlehre die Selbstliebe zur „Quelle der Sittlichkeit aller menschlichen Handlungen“⁷⁴⁷ und zur „Quelle der Verbindlichkeit zu geselligen Handlungen.“⁷⁴⁸ Ähnlich fassten sie auch namhafte Zeitgenossen Schleiermachers: Novalis machte das Gelingen der Sozialität von einem intakten Selbstverhältnis unbedingt abhängig⁷⁴⁹ und Fichte konnte in seiner Definition der Liebe sogar z.T. ganz auf den Aspekt der Sozialität verzichten.⁷⁵⁰
Dux, Geschlecht, 102. Augustin hatte hieran angeknüpft und in seiner Interpretation des jesuanischen Nächstenliebegebots ebenjene Ableitungsrichtung pointiert: die Nächstenliebe finde ihr Maß in der Selbstliebe. Vgl. dazu Pieper, Liebe, 91– 93. Vgl. AÜ 70: „Alles aber, wozu uns die Freundschaft antreibt, alle ihre wesentlichen Pflichten haben ihren Ursprung in dem, was wir uns selbst schuldig sind, und was wir gegen uns selbst beobachten. Wir sagen, derjenige sei unser Freund der das, was unser bestes zu seyn scheint, um unsrer selbst willen thut und befördert, oder der unsre Fortdauer, unsre Erhaltung um unserer selbst willen wünscht, wie eine Mutter das Leben ihres Kindes, ein Freund das Leben seines innigsten Freundes, oder wir sagen der sei unser Freund der mit uns umgeht, mit uns einig ist, sich mit uns freut, und mit uns betrübt; alles das sind also Bestimmungen der Freundschaft, und alles das fühlt ein moralisch guter Mensch gegen sich selbst […].“ Vgl. Eberhard, Sittenlehre, §167.1, 200: „Wenn wir zur Selbstliebe verbunden sind […] und wenn diese die Quelle aller übrigen abgeleiteten Verbindlichkeiten ist, indem sie unmittelbar aus dem ersten sittlichen Grundsatze fließt […]: so kann man ohne Bedenken sagen: daß die Selbstliebe die Quelle der Sittlichkeit aller menschlichen Handlungen sey.“ Vgl. Eberhard, Sittenlehre, §167.4, 201. „Zur Welt suchen wir den Entwurf – dieser Entwurf sind wir selbst […]. Die Ausführung, als das Bild des Entwurfs, muß ihm aber auch in der Freythätigkeit und Selbstbeziehung gleich seyn – und umgekehrt. […] Nur insofern der Mensch also mit sich selbst eine glückliche Ehe führt – und eine schöne Familie ausmacht, ist er überhaupt Ehe und Familienfähig.“ (Novalis, zit. n. Dux, Geschlecht, 91 f). Vgl. dazu auch Dux, Geschlecht, 92: „Ohne den Eigenbezug gäbe es […] keinen bedeutungsvollen
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Schleiermacher selbst gab sich dagegen vorsichtiger.⁷⁵¹ In seinem frühen Ethikkolleg von 1804/05 verhandelt er den Begriff der ‚Besizergreifung‘, der auch in seiner Psychologie – wie wir oben bereits sahen – eine zentrale Stelle einnehmen sollte. Wichtig ist ihm in diesem Zusammenhang, aufzuzeigen, dass die Zuwendung zu Anderen im ‚Bewußtsein der Vereinzelung‘ bereits mitgesetzt ist: Eben deshalb aber, weil der Trieb auf das Aeußere nur die reale Seite ist von dem Bewußtsein der Vereinzelung, ist er auch allgemein persönlich und nicht subjectiv; also im Sittlichen die Identität der Selbstliebe und Sympathie nothwendig gesezt.⁷⁵²
So wie ein Einzelnes als Einzelnes auf Anderes verweist, so korrespondieren nach Schleiermacher auch die emotiven Bezugnahmen auf jene. Selbstliebe und Sympathie ergeben sich auseinander.⁷⁵³ Die Ableitung der Nächsten- aus der Selbstliebe war demnach möglich, sollte jedoch auch umgekehrt durchführbar sein.⁷⁵⁴ Schleiermacher hatte die Gefahr erkannt, die in der emphatischen Würdigung der Selbstliebe als Urtugend lag, wie sie Eberhard und andere vorgetragen hatten. In einer Randschrift von 1827 zur Tugendlehre von 1812/13 markiert er: Schlimmes Dilemma entsteht durch die Selbstliebe. Ist sie nicht Tugend, so ist es auch alle andere Liebe nicht, weil sie sich alle an Selbstliebe anknüpft. (Elternliebe, Geschlechtsliebe, Vaterlandsliebe). Ist sie Tugend, so ist alles andre nur insofern Tugend, als es ihr angehört und alles Edelste scheint verloren zu gehen.⁷⁵⁵
Wie in anderen Fällen bietet Schleiermacher auch hier zur Lösung des Problems einen Einheitspunkt der sich widerstreitenden Relate an – und zwar ganz im Sinne des oben zitierten Identitätskonzepts von 1804/05, das er hier nun spezifiziert:
anderen. Ohne im anderen […] die Möglichkeit meines Daseins zu entdecken, würde ich nicht von ihm überwältigt. Gestehen wir uns also nur, daß wir uns selbst lieben.“ Fichte, Anweisung, 12: „Nun ist die Liebe ferner, Zufriedenheit mit sich selbst, Freude an sich selbst, Genuß ihrer selbst, und also Seligkeit […].“ Dass die feste Vertrautheit mit anderen allererst eine Selbstvertrautheit voraussetzt, behauptet Schleiermacher noch am deutlichsten in den Monologen: „So ist der Bund mit der geliebten Seele schon dem Einsamen gestiftet, die schöne Gemeinschaft besteht, und ist der beßre Theil des Lebens. So werd ich auch der Freunde Liebe die einzige theure Habe mir gewiß erhalten, was auch mir oder ihnen in Zukunft mag begegnen.“ (M 49). PhE 56. Das Gegenüber des Selbst, an welchem es zugleich Anteil hat, erschöpft sich nicht in anderen Einzelpersonen, sondern umgreift auch ‚das sittlich Componirte‘ – gemeint sind Kollektivpersonen, d. h. Sozialformen wie die Familie und der Staat. Vgl. PhE 56. Detaillierter dazu s.o. I.4.1.4. So hebt er auch in der Christlichen Sitte auf die Wechselseitigkeit ab, die im Nächstenliebegebot steckt: „Denn wenn Christus sagt, Liebe deinen nächsten als dich selbst: so lehrt er, daß wir aus dem, was wir uns selbst schuldig sind, zu bestimmen haben, was wir für den nächsten thun müssen, folglich daß wir immer auch uns selbst schuldig sein müssen, was wir anderen schuldig sind.“ (ChS 260). PhE 387.
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Ist nur zu lösen durch Aufhebung des Dilemma. Die Selbstliebe ist nur sofern sittlich, als sie alle andre Liebe in sich schließt, und alle andre ist nur sofern wahr, als sie die Selbstliebe aufnimmt.⁷⁵⁶
Die Selbstliebe muss berücksichtigt werden, wenn sachhaltig von Liebe gehandelt werden soll. Sie verbürgt die Realitätssättigung aller anderen Formen der Liebe, während diese sie vor dem Umschlagen in eine egozentrische Eigenliebe bewahren – dazu unten mehr. Die Kritik Poul Jørgensens, Liebe sei bei Schleiermacher letztlich v. a. Selbstliebe, erscheint im Lichte dessen unhaltbar.⁷⁵⁷ Dass es für Schleiermacher keine ‚ganz und völlig unbedingte[…] Liebe‘ gibt, was bei Jørgensen so viel bedeuten soll, wie purer Altruismus, kann man aus Geschmacksgründen mit ihm bedauern, muss sich meines Erachtens dazu jedoch nicht aus sachlichen ethischen Gründen gezwungen sehen.⁷⁵⁸ Hinzu kommt, dass die Selbstliebe im Sinne Schleiermachers keine narzisstischlustvolle Selbstbespiegelung ist, sondern v. a. durch die Aspekte der Selbstvertrautheit und Selbstsorge gekennzeichnet ist.⁷⁵⁹ Die partnerschaftliche Liebe von der Selbst-
PhE 387. Vgl. Jørgensen, Ethik, 107 f. Eher noch trifft diese Kritik Konzepte von Philosophen wie Eberhard und Fichte, wie wir oben sahen. Jørgensen bemerkt des Weiteren, dass die von Schleiermacher behaupte Einheit von Selbst- und Nächstenliebe, der seiner Meinung nach realistischeren christlichen Ansicht, wie sie sich im Gleichnis vom Schalksknecht (Mt 18, 23 – 35) widerspiegelt, nicht gerecht würde. Die Nächstenliebe fließe eben nicht selbstverständlich aus der Selbstliebe, sondern müsse als Gebot an den Menschen herantreten (Jørgensen, Ethik 147– 149). Jørgensen ist gewiss darin Recht zu geben, dass es dem deskriptiven Charakter der Ethik Schleiermachers entsprach, auch die Liebesforderung nicht vordergründig imperativisch (geforderte Nächstenliebe vs. faktische Eigenliebe) zu fassen, sondern in ihrer inneren Verschränkung zu erweisen. Dabei gerät Schleiermacher allerdings nicht in den kritisierten Selbstwiderspruch, denn erstens unterscheidet er egoistische ‚Eigen-‘ und recht verstandene ‚Selbstliebe‘ voneinander – die Kritik würde mithin nur greifen, wenn Schleiermacher die Nächstenliebe aus der Eigenliebe ableitete, was er allerdings keineswegs tut, sondern mit der Selbstliebe eine Konstruktion einführt, die die zentralen Aspekte der Nächstenliebe bereits einschließt; die Ableitungen bei Schleiermacher sind mithin keine großen Schritte. Eher ließe sich meines Erachtens kritisch anfragen, ob der Begriff der ‚Selbstliebe‘ überhaupt das beinhaltet, was er suggeriert oder ob er nicht eine viel zu abgeschliffene ethische Kategorie darstellt, die das Problem der möglichen Diskrepanzen zwischen Selbst und Anderem nicht löst, sondern bloß auf einen anderen Gegensatz verschiebt. Zweitens behauptet Schleiermacher dennoch kein faktisches Geeintsein von Selbst- und Nächstenliebe in der Welt, sondern entwickelt die Dynamiken seiner Beschreibung ja gerade aus dem Noch-nicht-geeint-Sein, das durchaus kritische und imperativische Aspekte zulässt. Vgl. Jørgensen, Ethik, 108. Gegen solche Positionen und ganz im Sinne Schleiermachers argumentiert Georg Simmel überzeugend: „Niemals kann ich einen Menschen um seiner selbst willen lieben – denn dann müßte ich ihn doch schon geliebt haben, bevor ich ihn liebte! Wenn ich dich liebe, mag diese Liebe jede Spur von Egoismus dir gegenüber aus meiner Seele hinwegläutern; aber daß ich dich liebe, kann ich nicht schon aus Liebe zu dir tun.“ (Simmel, Geschlechter, 184). Ausführlicher dazu vgl. ebd., 224– 226. Dass Selbstliebe gemeinhin keine Emphase bei sich trägt, führt Mechtilde Lichnowsky zu einer interessanten Interpretation des Nächstenliebegebots: „Liebe kann nicht befohlen werden, wohl aber ihr Widerschein, dieses ‚Als ob‘, das in dem Gebot enthalten ist, und das eigentlich heißt: handle
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liebe abzuleiten, kann im Sinne dessen gar bedeuten, eine überspannte und kaum durchzuhaltende Liebesemphase durch ebenjene Dimensionen der Intimität und Fürsorge abzulösen und der Hingabe für den Anderen eine Basis zu schaffen, die ihrer Selbstverständlichkeit wegen fester und tragfähiger kaum sein könnte.⁷⁶⁰
Einheitspunkte der Selbst- und Nächstenliebe Selbst- und Nächstenliebe in der beschrieben Weise aufeinander abzubilden, legt es nahe, sie letztlich miteinander zu identifizieren, was Schleiermacher auch tut. Hierbei verfolgt er zwei verschiedene Argumentationsstrategien. Wenig überraschend entspinnt sich die eine im Verhältnis von Natur und Geist, die andere in jenem von Individualität und Sozialität.⁷⁶¹ deinem Nächsten gegenüber, als ob du ihn liebtest. Denn, da man sich selbst mit Affekt nicht zu lieben vermag, das gleich aber, was man sich selbst gibt, dem Nächsten zu bieten hat, so offenbart sich die Weisheit des Gebots in einer grandiosen Aufforderung zur Künstlerschaft. | Nicht Liebe wird gefordert, sondern ein Werk, als hätte man geliebt; nicht Gefühl, sondern die Tat, als wäre man hingerissen von einer Schönheit, die gerade diese Tat fordert, um sich gefangenzugeben. Und sie wird sich fangen lassen, sie wird als Kunstwerk dastehen. Diese Liebe ist kein Gefühl, sie ist Religion.“ (Lichnowsky, Kunstwerk, 340). Für Schleiermacher wäre diese Absage an die Sphäre des Emotionalen gewiss zu scharf. Gleichwohl ist sie zumindest ansatzweise vom Pflichtbegriff gefordert. Zur entsprechend sparsamen Verwendung der ‚Liebespflicht‘ bei Schleiermacher s. o. II.3.1.1. Vgl. konkretisierend dazu BB 110 f: „Aber, liebste Jette, wie ist es doch mit der Dankbarkeit, die Du da hast, in Deinem Gefühl für mich? […] Du meinst gewiß etwas recht schönes, wiewohl ich nicht recht weiß, was; aber sieh es Dir nur recht an und nenne es nicht so. Denn Dankbarkeit weiset auf Wohlthat zurük, und so etwas kann es doch gar nicht geben zwischen uns. Kann man sich selbst wohlthun? die rechte Hand etwa der Linken, der Kopf dem Herzen, die Nerven den Muskeln oder so etwas? kann der Vater seinem Kinde wohlthun? Und dann ist mir immer, als könnte ich Dankbarkeit nur fühlen gegen einen Menschen, der mir sonst gleichgültig ist, einen vornehmen Gönner und dergleichen, und, wenn man es recht besieht, ist es immer nichts.“ Wie für das Selbstverhältnis postuliert Schleiermacher in den Brautbriefen auch für Ehe und Familie eine Vertrautheit, die jedwede stärkere Distanzierung – und geschehe sie auch um des Ausdrucks der Liebe willen – ausschließt. Wie man sich selbst nicht im emphatischen Sinne dankbar ist für etwas Gutes, das man sich selbst getan hat, so soll es auch unter den Partnern eine Selbstverständlichkeit der Zuwendung geben. Eine dritte Strategie, die weniger argumentativ als viel mehr suggestiv-polemisch verfährt, finden wir in einer lakonischen Notiz um 1796. Nach ihr war es für Schleiermacher nicht evident, überhaupt einen Gegensatz zwischen Selbstliebe und Nächstenliebe, Selbstsorge und Sorge für den Nächsten aufzubauen, der sodann ethisch vermittelt und bewältigt werden müsste: „Die Eintheilung in Pflichten gegen mich selbst und in Pflichten gegen andere komt mir vor wie der Unterschied zwischen Tragödie und Komödie aus dem Affekt und der Katastrophe. Lachst du am Ende so wars eine Pflicht gegen dich, komt dir das weinen an, so wars eine Pflicht gegen Andere. Kriegst dus am Ende selbst, so ists Pflicht gegen dich, kriegts ein Andrer so ists Pflicht gegen den Anderen.“ (G I, 24., 12. Ausführlicher dazu vgl. Schleiermacher, Fragmente, KGA I.2, 154). Wie ein Kommentar hierzu liest sich Thomä, Glück, 283: „Eigenliebe zeigt sich […] in der Konkurrenz um etwas, das nur einer der Beteiligten bekommen kann. Genau diese Konkurrenzsituation ist aber bei der Selbstliebe nicht gegeben. Was hier geliebt wird, ist nicht übertragbar; wenn man sich selbst liebt, beansprucht man nicht etwas für sich, was man – moralisch gesehen – an andere abtreten,
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Zur ersten: im Brouillon pointiert Schleiermacher die Liebe auf die Beseelung der Natur durch den Geist. Unter einem solch abstrakten Gesichtspunkt verschwindet die Bedeutung von Selbst und Anderem. Der Geist will in der Liebe alle Natur gleichermaßen durchdringen.⁷⁶² Auf welchen Teil der Natur er sich dabei bezieht, das Eigene oder das Andere, spielt dabei keine Rolle und zwar nicht weil die Identifizierung dessen nicht von Interesse wäre, sondern weil sie gar nicht möglich ist. Zu einem Eigenen wird Natur schließlich erst durch die geistige Durchdringung und Aneignung. Daher war es Schleiermacher wichtig in einem Zusatz von 1827 präzisierend anzumerken: „Selbstliebe […] ist nur sittlich, inwiefern man sich Vernunft und Natur noch nicht geeinigt denkt.“⁷⁶³ Da Schleiermacher mit dieser Konstruktion einen spekulativen Nullpunkt anvisiert – noch bevor Natur und Geist zusammengetreten sind –, ist meines Erachtens fraglich, wie viel sie für die lebensweltliche Ethik austrägt, in der doch von einem ‚Immer-schon‘ des Geeinigtseins beider Relate ausgegangen werden muss, das auch Schleiermacher, wie wir oben sahen, in seiner Beschreibung ausgesprochen wichtig war.⁷⁶⁴ Nicht weniger abstrakt erscheint auf den ersten Blick seine zweite Argumentationsstrategie für den letzten Einheitsgrund von Selbst- und Nächstenliebe. Sie wird sich gleichwohl als mit ethischen Konkretionen vermittelbarer erweisen. Am prägnantesten bringt Schleiermacher sie in einer Bemerkung von 1832 auf den Punkt: „Selbstliebe ist der Liebe zu andern völlig gleich als Interesse der Gattung am Einzelwesen.“⁷⁶⁵ In ähnlicher Weise hatte er in seinem Psychologiekolleg behauptet, der Selbsterhaltungstrieb des Einzelnen verweise der ‚Form‘ nach auf den ‚Selbsterhaltungstrieb der Gattung‘.⁷⁶⁶ Wir haben es bereits erwähnt, können es hier nun aber
anderen überlassen sollte. Sich selbst anderen in diesem Sinne zur Verfügung zu stellen würde der Selbstpreisgabe des Individuums gleichkommen. Die Kritik am unmoralischen Egoismus der Selbstliebe ist insoweit unberechtigt.“ So sehr auch Schleiermachers Lehrer Eberhard um eine harmonische Koordination beider Sphären bemüht war, so wenig gelang es auch ihm auf deren Differenzierung zu verzichten. Zu Pflichten gegen sich selbst (Individualethik) vgl. Eberhard, Sittenlehre, § 169 – 182, 203 – 224. Auf die ‚Selbstliebe‘ und die moralischen Pflichten gegen sich selbst lässt Eberhard die ‚Menschenliebe‘ und die moralischen Pflichten gegen den Anderen folgen. „Menschenliebe. | Pflichten gegen andere sind diejenigen, deren Bestimmungsgrund der Vollkommenheit eine Realität ist, die in andern soll hervorgebracht werden.“ (Eberhard, Sittenlehre, § 183, 225). Vgl. weiter dazu Eberhart, Sittenlehre, 2. Teil, Hauptstück III, § 183 – 189, 225 – 236. Vgl. PhE 214 f: „Liebe zu sich selbst und Liebe zu Andern [ist] ganz dasselbe […]. Dies erhellt theils aus der Relativität des lezten Gegensazes, denn wenn jeder seine eigne Natur in der Liebe auch nur als ein gemeinschaftlich zu Beseelendes behandelt, so behandelt er sie eben so wie die Natur der Andern; theils aus der Grundanschauung der Liebe selbst, denn alles Handeln auf Andere ist ja nichts anderes als Seele-Seinwollen in ihnen, der Unterschied fällt zusammen mit dem der äußern Verhältnisse.“ PhE 379 Fn. S.o. I.4.2. PhE 664. Vgl. Psy 21 f.
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konkreter fassen: Die Selbstliebe in Rechnung zu stellen, war nicht nur etwas, das Schleiermacher des ethischen Realismus wegen zähneknirschend anerkennen musste, sondern es war mit seinem Individualtätsparadigma selbstverständlich mitgesetzt. Stellt sich der Reichtum menschlichen Lebens gerade im mannigfaltigsten Zusammenspiel der Einzelnen dar, so ist die Selbstsorge derer in das Erhaltungsinteresse des Gesamten mit einbegriffen. Schon in den Monologen fanden wir die Selbstvertrautheit und –bildung aufs Engste mit dem ethischen Zweck der Gesamtheit verknüpft.⁷⁶⁷ Ebenso argumentiert Schleiermacher in der Christlichen Sitte. Zur Frage, ob der einzelne Christ bei erlittenem Unrecht die Strafverfolgung des Staates auf den Plan rufen soll, bestimmt er kontraintuitiv zur Bergpredigt und ihrer gängigen Auslegungstradition: Ja, eben weil der Gesamtheit durch eine Schädigung seiner Person ein Schaden entstanden ist, den abzuwenden und künftig zu verhindern nicht allein im Interesse des Einzelnen liegt, sondern auch im Interesse der Gesamtheit, für die er mit der Einreichung seiner Klage letztlich stellvertretend handelt.⁷⁶⁸ Eine unmittelbar auf das Geschlechterverhältnis zielende Konkretion der „Liebe, für die Geben zwar immer seliger bleibt als Nehmen, Nehmen aber auch selig ist […]“⁷⁶⁹ finden wir in einer beiläufigen Äußerung aus den Brautbriefen, wo Schleiermacher seiner Henriette verspricht, „daß ich in Deinem Namen für mich sorgen werde aufs Beste“⁷⁷⁰. Die Selbstsorge des Einzelnen ist nicht nur im Interesse der Gesamtgesellschaft bzw. der Gattung, sondern auch im Interesse von dessen Partner. Einen Menschen zu lieben, der sich selbst vernachlässigt oder gar schadet und der mithin kaum etwas Gutes für sich annehmen will, ist schwierig. Nach der oben eingeführten Freundschaftsdefinition Aristoteles’ ist es gar unmöglich: Bedeutet Liebe ein dem anderen Wohlwollen nach Maßgabe dessen, was dieser für sich selber will, so schließen sich beide Bestimmungen in einem solchen Fall aus, weil sich der andere eben selbst nicht wohlwill.
Vgl. M 13: „Theile nicht was ewig vereint ist, dein Wesen, das weder das Thun noch das Wißen um sein Thun entbehren mag, ohne sich zu zerstören! Bewege Alles in der Welt, […] ziehe an die befreundeten Geister, aber immer schaue in dich selbst […].“ Vgl. zu dieser ethischen Konfiguration prägnant Scholtz, Ethik, 130 f: „Die Vernunft zerspaltet und individualisiert sich […] und so gibt es im Einzelnen wie in der Gesellschaft Kräfte, die auf Gemeinschaft, und solche, die auf Trennung und Individualisierung drängen. Die Sittlichkeit besteht in der Entfaltung und im Gleichgewichtszustand, in einer Art Homöostase dieser Kräfte.“ Vgl. ChS 256 f Fn (Vorlesung 1826/27). H 371 [Hervorhebung getilgt – CR]. BB 113 f. Nicht nur im hinsichtlich der Selbstsorge, sondern auch hinsichtlich der Eitelkeit bemüht Schleiermacher die Parallelisierung zur partnerschaftlichen Liebe. Schleiermacher berichtet davon, dass ein Maler seinen schönen Mund lobte: „es überkam mich ein Stolz von ganz eigner Art, und ich wurde ordentlich, wie aus Deiner Seele heraus, ein wenig verliebt in mich.“ (BB 239).
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Die Differenz von Selbst- und Eigenliebe Die prominentere Anfrage, die sich an das Konzept der Selbstliebe in seinem Verhältnis zur Nächstenliebe richtet, betrifft – trotz der gewiss in Beziehungen auch nicht weniger verbreiteten Mentalität der (ostentativen) Selbstaufopferung eines Partners⁷⁷¹ – die Umkehrung dessen: Steht die Selbstliebe nicht immer schon mit mindestens einem Bein im Sumpf von Narzissmus und Selbstverabsolutierung? Nach dem, was wir uns zur Thematik bereits vor Augen geführt haben, lässt sich bemerken, dass es Schleiermacher darum zu tun war, gerade dies abzuweisen.⁷⁷² In der frühen Tugendlehre von 1804/05 bestimmt er explizit: „Was also wahre Liebe sein soll, muß zugleich [mit Selbsterhaltungs- und Naturtriebsgründen – CR] und auf gleiche Weise das Subject selbst in Andern zum Gegenstand haben.“⁷⁷³ Ob dieser Abgleich realiter konsequent gelingen kann, ist höchst fraglich. Daher bringt Yorick Spiegel in seiner Schleiermacherinterpretation zu Recht die Familie ins Spiel. Was vom Einzelnen die hohe Aufmerksamkeit eines selbstkritischen und selbstrelationierenden Bewusstseins fordert, scheint in der Familie allein durch deren strukturelle Konfiguration wahrscheinlicher: „Die Familie ist also wesentlich der Ort, wo die Eigentümlichkeit sich ausprägen kann, ohne, wie in der Einzelperson, doch den für Menschen wesentlichen Charakter der Gemeinschaftlichkeit zu verlieren.“⁷⁷⁴ Schleiermacher unterscheidet zwischen ‚Selbstliebe‘ und ‚Eigenliebe‘. Während erstere individual- wie sozialethisch hoch zu wertende Funktionen erfüllt, soll letztere alle gängigen Egoismus- und Narzissmusverdikte auf sich versammeln. Die Eigenliebe, eine Selbstbehauptung, die sich keinem Gemeinsinn verpflichten will, sieht Schleiermacher in ‚wilder Leidenschaftlichkeit‘ oder einer generellen ‚Roheit‘ gründen.⁷⁷⁵ Weil sie nicht bloß eine menschliche Verirrung darstellt, sondern durchaus naturale Haftpunkte hat, ist mit ihr als einem zu bewältigenden Übel im ethischen Prozess durchaus zu rechnen. Sie stellt eine Strebung dar, die auch bei einer moralisch bedächtigen Person angeregt werden kann, sei es durch Schmeichelei und falsche Ehrerbietung,⁷⁷⁶ sei es durch das Einlassen auf einen Wettkampf und das engagierte Messen von Kräften von Bedeutung.⁷⁷⁷
Zu dieser Einschätzung vgl. auch H 231. So auch Eberhard, Sittenlehre, §167.2, 200 f: „Die Bedenken getragen haben, dieses zu sagen [sc. dass die Selbstliebe die Quelle der Sittlichkeit sei – CR], haben ohne Zweifel besorgt, daß man die Selbstliebe […] mit dem Eigennutze oder der Selbstsucht […] vermengen, und nur eine einseitige Vollkommenheit, oder eine solche suchen möchte, die nur durch die besondern Gesetze der Vollkommenheit, insbesonderheit der vergleichungsweise geringern, des Menschen bestimmt wird.“ Zur Gradation von Egoismen vgl. Eberhard, Sittenlehre, §167.6, 202. PhE 54. Dass es für die Liebe unerheblich sei, ob sie sich auf das Selbst oder das Andere richtet, mag unter dem spekulativen Postulat einer vollständigen Trennung von Natur und Geist gelten (s.o.); sofern sie jedoch relativ geeinigt sind, gilt dies nicht mehr. Nun bedarf es der bewussten Balance beider. Spiegel, Theologie, 67 [Hervorhebung getilgt – CR]. Vgl. Psy 75 f. Zu dieser Form der moralischen und kritischen Korrumpierbarkeit des Menschen vgl. H 353.
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Mit seiner Differenzierung von Selbst- und Eigenliebe konnte Schleiermacher recht unmittelbar an Aristoteles anschließen.⁷⁷⁸ Auch dieser unterschied die landläufige Selbstliebe, die eigentlich bloße Lasterhaftigkeit ausdrückt und daher abzulehnen ist, von der wahren Selbstliebe, in der der Mensch gemäß seiner eigenen Vernunft- und Tugendbegabtheit Gutes hervorbringt.⁷⁷⁹ Aristoteles geht davon aus, dass allein die Tugend liebenswürdig macht. Das Interessante an dieser These ist, dass er für sie auch auf der Ebene des Selbstverhältnisses Geltung beansprucht.⁷⁸⁰ Muss man tugendhaft sein, um sich selbst lieben zu können, so erscheint die Selbstliebe als der entscheidende intrinsische Motivator für die ethische Entwicklung des Menschen.⁷⁸¹ Recht unverhohlen lässt Aristoteles dabei die eudämonistischen Implikate stehen. Sollte sich der Mensch nach Kant durch seine moralische Dignität allein des Glückes würdig machen, so erschien es Aristoteles gänzlich unproblematisch, dem Tugendhaften die Glückseligkeit in Aussicht zu stellen.⁷⁸² Unter dieser Ägide erscheint
Über den Wettkampf bestimmt Schleiermacher aus Perspektive der Christlichen Sitte, es sei „immer eine Versuchung darin, weil die Eigenliebe dabei aufgeregt wird“ (ChS 693). Je mehr diese in die Sphäre des Geistigen eindringe, umso bedenklicher sei die Lage: „Das rein gymnastische kann auch unter der Form des Wettkampfes als etwas gleichgültiges getrieben werden, als etwas, das keine Leidenschaft aufregt; je mehr aber das intellectuelle mit ins Spiel kommt: desto mehr bekommt das ganze die Gestalt der Versuchung. […] Aber freilich, es wird doch alles immer darauf ankommen, inwiefern die Talente, die sich entwikkeln sollen, etwas bedeutendes sind, und dann in wiefern die Form des Wettkampfes mehr oder weniger hervortretend ist. Bei allen Wettkämpfen z. B., die sich an die Rede anschließen, ist die größere Verwandschaft mit dem freien geselligen Verkehre dasjenige, was alles Bedenken entfernt; eben so kann kein Bedenken sein bei denen, die nur auf sehr geringfügigen geistigen Fähigkeiten beruhen.“ (ChS 693 f [Hervorhebung getilgt – CR]). Ein Phänomen wie den Profisport hatte Schleiermacher offensichtlich noch nicht vor Augen. Direkte Anmerkungen Schleiermachers zu den Kapiteln 4 und 8 des neunten Buchs der Nikomachischen Ethik sind gleichwohl nicht vorhanden. Vgl. AÜ 74– 76. In Anlehnung daran bestimmte auch Eberhard über die „Verbindlichkeit zur Selbstliebe. | Die Freude über unsere Vollkommenheit ist die Selbstliebe, zu welcher wir verbunden sind.“ (Eberhard, Sittenlehre, §166, 198). Und weiter (ebd., § 167, 199): „Unsere Selbstliebe ist eine wohlgeordnete, wenn sie den gemeinschaftlichen Gesetzen unserer Vollkommenheit gemäß ist; […].“ Die Möglichkeiten einer ‚blinden‘ oder ‚thörichten‘ Selbstliebe heben den Wert ihres rechten Brauchs nicht auf. „[…] also müssen wir uns nicht mehr lieben, als andere vollkommnere, deren Vollkommenheit uns so gut als unsere eigne erkennbar ist; […].“ Vgl. AÜ 71: „Der Lasterhafte kann nicht freundschaftlich gegen sich gesinnt seyn, da er nichts liebenswürdiges an sich findet; er kann nicht mit sich selbst sympathisiren, da seine Seele in einem beständigen Aufruhr ist […] so laßt uns mit der möglichsten Anstrengung das Laster fliehen, laßt uns versuchen tugendhaft zu seyn, damit wir immer Friede und Freundschaft mit uns selbst haben können und auch der Freundschaft mit andern fähig seyn mögen.“ Zu Selbstliebe, die ethische Selbstkritik einschließt vgl. auch Thomä, Glück, 280 – 282. „Wenn ich mich selbst liebe, schließe ich darin mich als ganze Person ein. Das heißt aber genau nicht, daß ich damit kritiklos, abstandslos allem anhinge, was mich ausmacht. Gerade weil in der Selbstliebe eine Differenz festgeschrieben bleibt zwischen mir selbst und meinen Eigenarten, steht mir weiterhin offen, mit mir unzufrieden zu sein, mich an mir zu stoßen.“ (Ebd., 280). Detaillierter zur Problematik s. o. I.3.1.
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der Wert der Tugend für die Allgemeinheit geradezu als – wenn auch begrüßenswertes – Nebenprodukt.⁷⁸³
Ethische Folgerungen Beide Aspekte der aristotelischen Konzeption waren auch für Schleiermacher entscheidend: Erstens, die rechte Selbstliebe schafft eine ethische Erhöhung, weil durch sie die Liebe zu anderen verankert wird – diese Figur haben wir uns bereits vor Augen geführt. Zweitens vermittelt die Hinwendung zu anderen im Umkehrschluss Güter, die auch ganz im Sinne des Selbstinteresses sind. In Gestalt seines Imperativs zur Selbstbildung, den Schleiermacher in seinen Monologen farbkräftig darstellt, schließt er unter den Bedingungen des modernen Individualitätsparadigmas nah an Aristoteles an und verbindet beide Momente miteinander. Die rechte Selbstbildung – bei Aristoteles Selbstliebe – ist der Anker für alle weiteren ethischen Bestimmungen und kann zugleich als der Zweck des je individuellen Lebens gelten.⁷⁸⁴ Im romantischen Liebesparadigma finden wir diese Einsicht auf die Erfahrungsdimension des Eros bezogen. Niklas Luhmann charakterisiert sie sehr treffend: „Die Sozialität des Liebens wird […] als Steigerung der Chance zur selbstbewußten Selbstbildung begriffen […].“⁷⁸⁵ „Zunächst wird schärfer herausformuliert, daß der Liebende sich in der Orientierung am anderen immer auch auf sich selbst bezieht: Er will im Glück des anderen sein eigenes Glück finden.“⁷⁸⁶ Ulrich Eibach urteilt meines Erachtens vorschnell: „Diese Liebe ist narzißtisch.“⁷⁸⁷ Das Konzept überzeugt nämlich
Vgl. AÜ 75 f: „So muß also der tugendhafte Selbstliebe haben, denn er genießt doch den größten Vortheil von seinen guten Handlungen, wenn sich gleich der Nuzen derselben auch über andere ausbreitet, und nur der Lasterhafte ist eigentlich dieser Empfindung nicht fähig, denn indem er verkehrten Neigungen folgt thut er immer sich und andern Schaden. […] das ist die Art, wie wir uns selbst mehr lieben müßen, als jeden andern, aber nicht so wie der große Haufe der Menschen die Sache versteht.“ Dass nun gerade die Selbstliebe der Ausgangspunkt für die Liebe zu anderen sein soll, mag seinen Grund auch darin haben, dass man sich selbst am ehesten um seiner selbst willen liebt. Gestaltet sich die Liebe zu anderen entsprechend, so ist ihre Beständigkeit deutlich wahrscheinlicher gemacht. Vgl. AÜ 51 f: „Verbindungen die nur den Eigennuz zum Grund haben, lösen sich auf, sobald das Interesse sich ändert, weil nicht einer den andern, sondern nur jeder seinen Vortheil liebte.“ Auch deshalb kann allein die tugendhafte Selbstliebe, nicht aber die sinnlich bestimmte Eigenliebe als Vorbild für die Nächstenliebe gelten. In den Monologen bestimmt Schleiermacher entsprechend, dass es nicht die Wirkung der äußeren – und in ihrem Nutzen für uns durchaus wandelbaren – Handlungen eines Menschen ist, sondern die Anteilhabe an dessen individueller Innerlichkeit, die ihn uns zum Freund macht. Vgl. M 25. Vgl. M 13. 22. Luhmann, Liebe, 172. Luhmann, Liebe, 174. Auch Josef Pieper hält – im Anschluss an Nietzsche – fest, dass oft gerade die Momente als die selbst-beglückendsten empfunden werden, die verhältnismäßig uneigennützig erscheinen (Pieper, Liebe, 95 – 97). Eibach, Ehe, 64.
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nicht allein hinsichtlich seines psychologischen und pragmatischen Realismus; es birgt auch Potentiale der produktiven Öffnung. Dieter Thomä behauptet: „Die Selbstliebe ist […] konzeptionell unverträglich mit der traditionalen Festlegung von Personen auf bestimmte Rollen oder Funktionen.“⁷⁸⁸ Wir können von unserer Lektüre Schleiermachers ausgehend anschließen: gerade weil in der Liebe zu sich selbst eine große Distanz zum Objekt der Liebe gewagt werden kann, da die Gefahr seines Verlusts durch jene Distanzierung gering ist, stellt sich diese Form der Liebe als so vorbildlich für andere Gestalten dar, die doch alle dazu führen sollen, dass das Leben in Bewegung gerät, dass sich die Personen entwickeln und vielfältig erfahren können und produktive Dynamiken in ihnen und durch sie auch in ihrer Umwelt freigesetzt werden. Vertrautheit und Wagnis gehen hierbei notwendig Hand in Hand – wo kein Rückhalt ist, da fehlen sowohl Kraft als auch Idee, etwas Neues zu versuchen; wo hingegen keine Strebungen zum Neuen sind, da verliert auch das Angestammte seine Prägnanz und Bedeutung.
3.1.3 Persönliche Entwicklungschancen und Anerkennung von Grenzen ‚Du machst mich zu einem besseren Menschen.‘⁷⁸⁹ ‚Du hilfst mir, Klarheit zu gewinnen und zu mir selbst zu kommen.‘⁷⁹⁰ Für die Stinnstiftungsqualitäten von Partnerschaft sind die Bedeutungszusammenhänge dieser Gestalten von Liebesgeständnissen ganz erheblich. Unter der Maxime des ethischen Individualitätsparadigmas Schleiermachers erscheint es lohnend, beide Aspekte gemeinsam zu behandeln und damit die Interdependenzen von ethischer Erhöhung und Selbstwerdung in den Blick zu nehmen. In grundlegender Weise haben wir dies bereits oben getan⁷⁹¹ – hier gilt es nun, die spezifischen Leistungen, die Paarbeziehungen diesbezüglich erbringen, herauszuarbeiten. Der Psychologe und Paartherapeut Jürg Willi konstatiert treffend: Persönliche Reifung und Entwicklung wird im Erwachsenenleben durch keine andere Beziehung so sehr herausgefordert wie durch eine Liebesbeziehung. Es gibt aber auch keine Beziehung, die
Thomä, Glück, 285. Als einleitende Prolepse unserer Behandlung sei eine Gedankenkette Walter Schubarts gegeben, deren Glieder alle auch für Schleiermachers Bestimmungen zum Thema einschlägig sind: „Der Eros hat den Drang, den zu vervollkommnen, den er berührt. Darin liegt bereits, daß er berufen ist, die moralischen Kräfte des Menschen zu entfalten. Mit Recht sagt Walter von der Vogelweide: ‚Minne ist aller Tugenden ein Hort.‘ Goethe bittet Frau v. Stein: ‚Vollende dein Werk und mache mich recht gut.‘ Weil die Liebe beseligt, stimmt sie gütig. Dies ist das Richtige an dem Gedanken Luthers: Nicht die verdienstlichen Werke führen zur Seligkeit, sondern Seligkeit bildet den Mutterboden, dem die verdienstlichen Werke erst entwachsen. Gerade der Eros ist berufen, den Fonds von Seligkeit zu schaffen und zu speisen, ohne den der Mensch mit den Mächten des Übels und des Bösen nicht fertig werden kann.“ (Schubart, Religion, 239). Im Originalton Schleiermachers: „Deine Liebe und unsere Ehe wird das rechte Mittel sein, das wahre Wesen immer reiner herauszuarbeiten zur Erscheinung.“ (BB 145). S.o. I.4.1.
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das persönliche Wohlbefinden und die psychische und körperliche Gesundheit so gefährdet wie eine destruktiv gewordene Liebesbeziehung.⁷⁹²
Dass sich positive Wirkmächte auch umkehren können, gehört zu den Gefahren, denen sich jeder aussetzt, der ihnen Raum gibt. Jene Negativmomente sind hier daher mitzubedenken. Auch wenn in der christlichen Theologiegeschichte im Anschluss an die paulinischen Weisungen⁷⁹³ die Ehe nicht selten als ‚Spital der Siechen‘ angesehen wurde, d. h. als notwendiges Übel zur kontrollierten Ableitung natürlicher Triebe, ist ihre positive Würdigung als einem herausragenden Ermöglichungsgrund von psychischen, sozialen und kulturellen Gütern keine Erfindung der Neuzeit oder gar der Romantik. Diese konnte vielmehr auf Gedankenfiguren der Antike zurückgreifen. Für Schleiermacher erscheinen hier wieder besonders Platon und Aristoteles einschlägig. Ihnen und ihrer Interpretation und Aufnahme durch Schleiermacher wollen wir uns zunächst zuwenden.
Die ethische Motivationskraft der partnerschaftlichen Liebe – Anknüpfungen an Platon und Aristoteles Einer der Ausgangspunkte für die aristotelische Freundschaftstheorie, die seine ethischen Bestimmungen zur partnerschaftlichen Liebe umgreift, ist die These, dass Freundschaft eine Ähnlichkeit der Partner voraussetzt. Schließlich kann man nur zu demjenigen Sym-pathie entwickeln, d. h. sich demjenigen einfühlen, mit dem einen etwas verbindet. Die vorausgesetzte Gleichheit der Partner bindet Aristoteles sodann an ihre moralischen Qualitäten. Je besser zwei Menschen sind, desto ähnlicher seien sie einander in jenen Hinsichten, die eine Freundschaft stabilisieren, weil sie nützlich, angenehm und vertrauenserregend sind.⁷⁹⁴ Die These, nur gute Menschen könnten
Willi, Psychologie, 9. Vgl. besonders 1Kor 7. Vgl. AÜ 72: „Auch die Eintracht ist etwas zur Freundschaft gehöriges und also nicht blos Gleichheit der Meinungen, welche auch zwischen Leuten, die sich gar nicht kennen stattfinden kann; auch nicht Gleichheit der Kenntniße überhaupt, […] sondern […] wenn alle das nemliche für gut halten, und wenn sie auch ausführen, was sie gemeinschaftlich beschloßen haben. […] Moralisch schlechte Menschen können nur auf kurze Zeit einträchtig seyn, so wie sie nur auf kurze Zeit Freunde seyn können.“ Vgl. auch AÜ 51: „[…] auch aus den den unsrigen ähnlichen Handlungen schöpfen wir immer Vergnügen, und die Handlungen der tugendhaften sind einander ähnlich. Diese Verbindung muß also in jeder Rüksicht dauerhaft seyn […]. Zu jeder Freundschaft nemlich gehört eine gewiße Aehnlichkeit […].“ Vgl. des Weiteren zuvor AÜ 50: „Vollkommen ist nur die Freundschaft tugendhafter Männer, die sich im Guten ähnlich sind; hier ist auf beiden Seiten das Wolwollen gleicher Art. Jede Freundschaft ist immer desto inniger, je mehr man das Beste des andern um sein selbst willen begehrt […].“ In der Schlussthese stimmt Aristoteles mit seinem Lehrer Platon überein, der im Phaidros betont, wechselseitige ethische Erhöhung gelinge nur, wenn der eine Partner nicht aus Eifersucht den anderen kleinzuhalten suche. Vgl. Pha 26 – 29.
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einander gute Freunde sein, erscheint etwas spröde und hinsichtlich ihrer Aussagekraft über die Wirkmächtigkeit von Partnerschaft unergiebig.⁷⁹⁵ Aristoteles hat ihr aber noch eine weitere beigefügt, die für Schleiermacher interessant werden sollte. Sie bündelt sich in dem Satz: „Ueberdem hat die Gesellschaft tugendhafter Männer noch die Kraft, daß sie unsere eigene Gewohnheit tugendhaft zu handeln vermehrt […].“⁷⁹⁶ Dazu, wie diese ‚Vermehrung‘ von Schleiermacher ausgedeutet wird, bietet Bernd Oberdorfer zwei Interpretationswege an.⁷⁹⁷ Der erste liegt darin, die moralische Qualität des Einzelnen als mentale Prolepse und Ermöglichungsgrund des Vollzugs in der Wirklichkeit zu interpretieren. Als vollkommen erscheint demnach nicht derjenige, der faktisch und praktisch vollkommen ist, sondern derjenige, in dem das Differenzbewusstsein und das Bestreben zur Tugendhaftigkeit als gegeben erkannt wird.⁷⁹⁸ Die bereits ideell bestehende Tugendhaftigkeit sucht sich mithin bloß ein Betätigungsfeld, welches im Rahmen freundschaftlicher Interaktion seine angemessenste – weil unproblematischste und förderlichste – Gestalt findet. Dieser Interpretationsansatz ist meines Erachtens recht unmittelbar durch Schleiermachers Anmerkungen zu Aristoteles abgedeckt.⁷⁹⁹ Im Fall von Oberdorfers zweiter Option sehe ich dies nicht gegeben.⁸⁰⁰ Sie verweist vielmehr in die etwas spätere Phase der Monologen und der Lucindebriefe. Gemeint ist eine Deutung, welche nicht die (rezeptive) Anerkenntnis von ethischen Potentialen beim Gegenüber fokussiert, sondern die (produktive) Zuschreibung dieser an den Anderen.
So sind, um nur ein Extrembeispiel zu nennen, kriminelle und mafiöse Strukturen oft mit sehr engen Sozialbeziehungen ihrer Akteure verbunden. AÜ 77. Aristoteles’ Argumentation verläuft folgendermaßen: Das Gute ist das, was das Leben angenehm und wertvoll macht. Es wird erworben durch Tugendhaftigkeit. Wer das Leben schätzt, sucht das Gute. Da der Mensch ein soziales Wesen ist, gehört zu diesem Suchen in zentraler Weise die Gewinnung von tugendhaften Freunden, die dieses Gute hervorbringen und anschaulich machen. Da Freundschaft wiederum eine Ähnlichkeit der Partner voraussetzt, motiviert sie eine Dynamik der wechselseitigen ethischen Erhöhung ihrer. Vgl. AÜ 76 – 78. In seiner Interpretation der Anmerkungen zu Aristoteles’ Freundschaftstheorie führt Oberdorfer sie ein über die Markierung der Diskrepanz zwischen der ‚Vollkommenheit‘ der Partner, deren Erkenntnis als Voraussetzung für die Bildung einer Freundschaft angesehen wird und der ‚Vervollkommnungsbedürftigkeit‘, die die Anbahnung einer Freundschaft allererst motiviert (Oberdorfer, Geselligkeit, 42). Vgl. Oberdorfer, Geselligkeit, 42– 44. Vgl. AAnm 6: „Sobald er [sc. der Mensch in seiner biographischen Entwicklung – CR] aber fähig wird mehrere Handlungen als ein Ganzes anzusehn, und also gewiße Maximen entweder der Sittlichkeit oder der Glükseligkeit zu denken, unter welchen seine Handlungen stehn können, so entsteht sogleich mit den übrigen feineren Gefühlen auch das Bedürfniß der Freundschaft.“ Weil nun das ‚sittliche Gefühl‘ dem Menschen „immer zuruft, auch wirklich zu handeln, und zwar so viel zu handeln als nur immer möglich ist, so wird er sich bald nach der Verbindung mit ähnlich gesinnten Wesen sehnen, um durch gemeinschaftliche Kräfte ein weiteres Feld für sittliche Handlungen zu eröfnen, und beßer den Hindernißen zu begegnen, welche auf der Bahn der moralischen Thätigkeit unvermeidlich aufstoßen.“ Oberdorfer bietet für sie auch keine Textbelege.
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Die Vollkommenheitszuschreibung an Andere stiftet diejenige Realität, auf deren Rückwirkung der ‚Stifter‘ – zur Steigerung der eigenen Vollkommenheit und zur Korrektur der eigenen Unvollkommenheit – angewiesen ist.⁸⁰¹
Die freundschaftliche bzw. partnerschaftliche Beziehung ist in diesem Falle nicht bloß der Aktionsraum für vorausgesetzte ethische Maximen, sondern wirkt an deren Bildung, Sublimation und Festigung in eminenter Weise mit. Stärker als im ersten Fall rückt hierbei die Reziprozität der Wirkungen in den Blick. Deren eine Richtung hat Schleiermachers Lehrer Eberhard in seiner eigenen Aristoteles-Interpretation auf den Begriff gebracht, wenn er würdigt: „Schon Aristoteles […] hat sehr schafsinnig [sic!] bemerkt, daß wir einen Gegenstand lieben, wegen der Vollkommenheit, die wir selbst in ihm hervorbringen.“⁸⁰² Die andere Richtung dieses Wechselwirkungsverhältnisses sehe ich in Platons Symposion angelegt, in dem Phaidros laut Schleiermachers späterer Übersetzung spricht: Ich behaupte nämlich, wenn ein Mann, der liebt, dabei ertappt wird, wie er etwas Schändliches tut […], so würde es ihm nicht so viel Schmerz verursachen,von seinem Vater gesehen zu werden oder von seinen Freunden oder von sonst jemand, wie von seinem Liebling. Und dasselbe beobachten wir bei dem Geliebten, daß er sich ganz besonders vor den Liebhabern schämt, wenn er bei irgend etwas Schlechtem gesehen wird.⁸⁰³
Treffend bemerkt Josef Pieper, diese Scham rühre daher, dass der Liebhaber den Geliebten für besser hält, als er tatsächlich ist, zugleich aber so sieht, wie dieser gesehen werden will. ⁸⁰⁴ Die Beschämung erscheint als der emotive Negativausdruck eines positiven und steigernden Selbstentwurfs, wie ihn allein ein liebendes Gegenüber vermitteln kann.⁸⁰⁵ Daher folgt im Symposion sodann die uneingeschränkte Be Oberdorfer, Geselligkeit, 44. Vgl. Eberhard, Sittenlehre, § 14 Anm. 2, 17. Vgl. dazu AÜ 73 f. Die wechselseitige ethische Vervollkommnung ist das Zentralthema von Eberhards Sittenlehre. Zu Belegen in seinen Konstruktionen von ‚Selbstliebe‘ und ‚Menschenliebe‘ s.o. II.3.1.2. Zur ‚Selbstliebe‘ vgl. Eberhard, Sittenlehre, § 166 – 183, 198 – 224. Zur ‚Menschenliebe‘ vgl. Eberhart, Sittenlehre, § 183 – 189, 225 – 236. Sym 15. Vgl. Pieper, Liebe, 42. Vgl. Pieper, Liebe, 42: „Das ‚positive‘ und fruchtbare Beschämtwerden […] hat etwas zu tun mit dem vorwegnehmenden, antizipierenden Charakter aller wahren Liebe.“ „‚[…] statt sich verkannt zu fühlen, fühlt er‘ (der Geliebte und auf solche Weise Gepriesene) ‚sich vielmehr in eminentem Sinn erkannt – und zugleich gedrungen, zu sein, wie jener ihn sieht‘.“ (Nicolai Hartmann, zit. n. Pieper, Liebe, 44). Vgl. auch Schubart, Religion, 107: „Nur dem Liebenden [weil er das Ideal der Geliebten schon immer im Herzen trägt – CR] entschleiert sich das wahre Wesen eines Menschen, seine Totalität, sein absoluter Gehalt. Daher kennt der Liebende die Geliebte besser, und liebt er sie mehr, als sie sich selbst kennt und liebt. Er sieht ihre Möglichkeit des Vollkommenen, die Idealität ihres Wesens, nicht dessen Realität. Er sieht das, wozu sie tatsächlich vielleicht nur schamhafte Ansätze in sich birgt. Er sieht ihr besseres Ich. […] Liebe ist ja die Kraft, die uns befähigt, die Geliebte als Sinnbild des Göttlichen zu schauen, die Stelle erkennend, wo sie mit dem unsterblichen Teil ihres Wesens das Göttliche streift.“ Zu den daraus erwachsenden Motivationen für den Geliebten vgl. Schubart, Religion, 100 – 102.
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hauptung, dass, wer eine Liebesbeziehung aus ethischen Selbststeigerungszwecken eingehe, daran gut tue.⁸⁰⁶
Potentiale und Verwirklichungsgestalten der Ehe Bei allen Vorbehalten, die uns unten noch eingehender beschäftigen sollen, war Schleiermacher davon überzeugt, dass die Liebe eine mächtige formende Kraft für die Persönlichkeit eines Menschen ist. So lobt die Eleonore der Lucindebriefe, das Werk zeige treffend auf, „wie die Menschen durch die Liebe gemacht werden.“⁸⁰⁷ In den Monologen gießt Schleiermacher diese Grundansicht in ein Programm, dessen Teilaspekte er bis ins Werk der Reife verfolgt: Wenn der Freund dem Freunde die Hand zum Bündnis reicht: es sollten Thaten draus hervor gehn, größer als jeder Einzelne; frei sollte Jeder Jeden gewähren laßen, wozu der Geist ihn treibt, und nur sich hülfreich zeigen wo es jenem fehlt, nicht seinem Gedanken den eignen unterschiebend. So fände Jeder im Andern Leben und Nahrung, und was er werden könnte, würd er ganz. Wie treiben sie es dagegen in der Welt? Zum irdischen Dienst ist Einer stets dem Andern gegenwärtig, bereit das eigne Wohlsein aufzuopfern; und Erkenntniß mitzutheilen, Gefühle mit zu leiden und zu lindern, ist das Höchste.⁸⁰⁸
Die ideale Paarbeziehung strebt nach tätigen Manifestationen in der Umwelt. Die Partner ergehen sich nicht in einer sich abschottenden Selbstgenügsamkeit, sondern drängen zugleich in weitere soziale Sphären, in denen sie als Liebende mehr zu entwerfen und vollbringen im Stande sind, als sie es allein wären. Der ethische Mehrwert der Liebe für den Einzelnen ergibt sich dabei nicht allein aus der Erweiterung seines Horizontes um jenen seines Partners, sondern aus den Entwicklungspotenzen, die zwar durch die Partnerschaft motiviert sind, jedoch materialiter über diese hinausweisen. Dass die Ehe faktisch in den meisten Fällen jedoch genau jene, wenn auch nicht verwerfliche, so doch defizitäre Gestalt einer bloßen Addition zweier Personen zeigt, beklagt nicht allein der Frühromantiker. Noch in den Hausstandspredigten beschäftigt Schleiermacher die Diskrepanz zwischen den überschießenden Potentialen und der verwirklichten Gestalt des ehelichen Lebens. Hier bezeichnet er sie mit der Differenz von äußerem, sinnlichem und innerem, geistlichem Leben. Erscheint die Ehe als ein bloßer Haushaltszusammenschluss, in dem einer dem anderen
Vgl. Sym 24: „[…] wenn jemand einem anderen ergeben sein will, weil er glaubt, durch ihn besser zu werden, sei es in irgend einer Weisheit oder in einem anderen Teile der Tugend, so ist ein solcher freiwilliger Dienst nicht häßlich oder Kriecherei.“ L 203 [Hervorhebung – CR].Vgl. auch L 198, wo die Eleonore der Lucindebriefe bekennt: „[…] durch die Liebe und durch Dich [sind] alle meine Ansichten und Einsichten soviel bestimmter und reiner geworden“. M 32. Weiter zu Schleiermachers Gegenwartsdiagnose, deren Finsternis nur durch erste Hoffnungsstrahlen einer anbrechenden besseren Zeit aufgehellt wird, vgl. M 33. 36 f. 38 f. Zur ernüchternden Gegenwartsdiagnose vgl. auch H 231 f.
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im Sinne einer arbeitsteiligen Wohn- und Lebensgemeinschaft hilfreich zur Seite steht, so sei an ihr aus ethischer Warte wenig zu rühmen.⁸⁰⁹ Wenngleich zu merken ist, gegen welche konkreten Gestalten von ständischer Ehe Schleiermacher hier polemisiert und wenngleich man ad hoc auch geneigt sein mag, mit ihm die ‚oberflächliche Korsett-Ehe‘ abzuweisen, scheint er in seinem Urteil doch – auch gemessen am eigenen Programm – zu scharf und einseitig zu sein. Dass das eheliche Ideal der Aufopferung für den Partner problematisch, weil hinsichtlich seiner Wechselseitigkeit stark korrumpierbar ist und den das Selbst fokussierenden Aspekten des romantischen Liebesparadigmas entgegensteht, mag man zugeben.⁸¹⁰ Es irritiert jedoch, welche ‚Kinder‘ Schleiermacher überdies in seiner Polemik ‚mit dem Bade ausschüttet‘. Mögen die ‚Mitteilung von Erkenntnissen‘ und das ‚Mitleiden von Gefühlen‘⁸¹¹ auch defizität bleiben, wo sie im engen Kreis verbleiben und keine öffnenden Lösungsperspektiven zu offerieren vermögen, so sind sie für die Partner, deren Kommunikation sie bestimmen, dennoch von großer Bedeutung, weil sie psychologisch zu stabilisieren und das Leben zu bereichern vermögen.⁸¹² In jüngeren Jahren scheint Schleiermacher besser gespürt zu haben, dass vielleicht nicht jeder dazu in der Lage ist, im Taumel freundschaftlicher Emphase über sich – bzw. seine engen Verhältnisse⁸¹³ – hinauszuwachsen, ohne dabei zu Fall zu kommen. So empfiehlt er in seinen Anmerkungen zu Aristoteles:
Vgl. H 234: „Oder was für ein bedeutender Gewinn käme denn aus einer so engen Gemeinsamkeit des Lebens, wenn sie sich immer nur aus dem äußern Leben zu nähren und auf dasselbe zu wirken suchte? Das Zwiefache wäre denn doch nichts Besseres als das Einfache! Ob jeder für sich allein, oder zwei für einander und untereinander verbunden, ein solches gemäßigtes, heiteres, gebildetes, aber immer doch nach dem Maßstabe des Christen nur sinnliches und einem höheren Sinne geistloses Leben führten; – den Unterschied könnten wir so hoch nicht anschlagen, und so wäre auch von der Ehe so Großes nicht zu rühmen […].“ Eine treffende Zusammenfassung des Programms der Hausstandsund Traupredigten bietet Trillhaas, Schleiermachers Predigt, 110: „Die Ehe dient der Vollendung des Menschen […].“ „So ist die Ehe nicht ein ‚Stand‘, darein uns Gott ‚gesetzt‘ hat, eine Schule der Liebe und des Kreuzes, sondern ein Kreislauf, durch welchen wir geheiligt werden, indem wir anderen zur Heiligung verhelfen, nämlich zur inneren Bereicherung, zur Zusammenfassung der überkommenen Eigenarten […], zur Freiheit.“ Auch Karl Lenz weist auf die Überwindung des lange Zeit prägenden Aspekts im Ideal der romantischen Liebe durch jenen anderen in ihm bereits angelegten hin: „Unvereinbar mit dieser Selbstverwirklichungsmaxime ist eine Selbstaufopferung. Gebrochen wird mit der Vorstellung, dass die Aufopferung für die andere Person der höchste Beweis für die wahre Liebe ist. Für die Liebe – metaphorisch gemeint – ‚stirbt‘ man nicht mehr.“ (Lenz, Liebe, 253 f). Damit sollte allerdings nicht geleugnet werden, dass auch gegenwärtig durchaus viele Paare in hoher Verbindlichkeit miteinander leben, die sie auch dann aufrechterhalten, wenn einer der Partner im Zuge einer Krankheit o. ä. dem anderen relativ einseitig zur Last fällt. Eine solche Orientierung kann meines Erachtens ethisch gar nicht hoch genug geschätzt werden. Vgl. die oben zitierte Stelle aus M 32. Detaillierter dazu s.u. II.3.1.4. In Fichtescher Diktion lobt Schleiermacher in den Monologen das hohe Potential von Liebe und Freundschaft, wenn er bekennt, dass wahre „Lieb und Freundschaft immer […] edlen Ursprungs […]
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Nur der tugendhafte Mann von gewöhnlichem Schlag suche sich, wenn er einen Freund braucht, einen seines Gleichen; […] und wenn diese Freundschaft auch weder Helden noch Märtirer macht, so wird sie doch wenigstens keine Verbrecher erzeugen.⁸¹⁴
Ähnlich verhält es sich mit der Tugend der Mäßigkeit. Scheint das ‚gemäßigte Leben‘ in der zitierten Passage der Hausstandspredigten für tödliche Stagnation und Bedeutungslosigkeit zu stehen,⁸¹⁵ so lobt Schleiermacher die Mäßigung und Befestigung an anderer Stelle als einen entscheidenden Mehrwert, welchen die Familie dem Einzelnen vermittelt und welcher ihre hohe Relevanz für das gesellschaftliche Gesamtleben verbürgt.⁸¹⁶ In Ehe und Familie ist das Leben der Einzelnen in einer Weise verbunden, die durch andere Sozialformen kaum zu überbieten ist.⁸¹⁷ Unterschiedlichste Lebensdimensionen werden miteinander in der Perspektive von Dauerhaftigkeit geteilt. Dies kann nur gelingen, wenn man sich auf ein gemeinsames Ethos einigt
sind, […] immer der Freiheit reinste That, und auf das eigne Sein des Menschen allein gerichtet.“ (M 25 [Hervorhebung – CR]). AAnm. 39. H 234. Vgl. H 355: „Denn das Gefühl haben wir doch wohl über alle unsere Verhältnisse, daß auch das Musterhafteste und Vortrefflichste, wenn nur einzelne zerstreut es ausüben, doch den Strom des Verderbens gar wenig aufhält […]; hat sich aber eine löbliche Sitte gebildet, dann werden teils die Fehler des einzelnen weniger das Ganze stören, teils auch findet der einzelne leichter das rechte Maß und wird durch die besseren Beispiele festgehalten.“ Vgl. dazu P 10, 775: „Gute Sitte muß darin [sc. im Ehestand – CR] gedeihen welche dem Verderben steuern kann.“ Niklas Luhmann führt hierfür den Begriff der ‚Interpenetration‘ ein (ders., Liebe, 219 u.ö.). „Es geht nicht so sehr um Qualitäten, Tugenden, Harmonie der Charaktere; es geht um den anderen Menschen, der in meiner Umwelt meiner Welt Sinn zuführen könnte, aber dies nur kann, wenn ich ihn und seine Umwelt als meine akzeptiere.“ (Ebd., 219). Der Begriff der ‚Reziprozität‘ greift in diesem Zusammenhang für Luhmann nicht weit genug, weil dabei das Paarkonzept selbst – welches uns bereits als einschlägig für die innereheliche Aufgaben- und Arbeitsteilung begegnet ist (s.o. II.2.2) – nicht präsent ist. „Man kann in Liebe nur so handeln, daß man mit genau diesem Erleben des anderen weiterleben kann. Handlungen müssen in die Erlebniswelt eines anderen eingefügt und aus ihr heraus reproduziert werden; und sie dürfen doch ihre Freiheit, ihre Selbstgewähltheit, ihren Ausdruckswert für Dauerdispositionen dessen, der handelt, damit nicht verlieren. Sie dürfen gerade nicht als Unterwerfung, als weiche Fügsamkeit, als Nachgiebigkeit oder als Konfliktvermeidungsverhalten erscheinen. Mit einem ‚na meinetwegen‘ ist keine Liebe zufrieden. Sie fordert, daß nur der, der liebt, so handeln kann. […] Es geht darum, in der Welt eines anderen Sinn zu finden. Da diese Welt nie unproblematisch ist, kann auch der sie bestätigende Sinn nie unproblematisch sein.“ (Ebd., 219 f). Ähnlich beschreibt es auch Jürg Willi: „Jeder bleibt zwar ein Zentrum eigener Energie, eigenen Bewußtseins und eigener Verarbeitung und Verantwortung, aber die Art und Weise des Fühlens, Erfahrens und Phantasierens eines jeden ist nicht mehr unabhängig voneinander. Was er fühlt und erlebt, fühlt und erlebt er auch als Teil von beiden, als er selbst wie als Teil des anderen, genauso wie der Partner fühlt und erlebt als er selbst und als Teil von ihm.“ (Willi, Ko-Evolution, 127 f). Das subjektive Erleben im Horizont der Paaridentität ist nicht bloß virtuell. Es setzt auch die Sehnsucht frei, besondere Erlebnisse tatsächlich mit dem Partner zu teilen, von Schleiermacher ausgedrückt in BB 197: „Eine Sucht habe ich, die ganz leidenschaftlich ist, Dich überall, wo mir ausgezeichnet wohl gewesen ist oder wo die Natur mich besonders freundlich und durchdringend angesprochen hat, [zu haben].“
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bzw. einschwingt und sich auf dieses sodann auch wechselseitig verpflichten kann.⁸¹⁸ Durch die Intensität der Beziehung sind Mechanismen der Kontrolle und Kritik mitgesetzt,⁸¹⁹ die, wo die Liebe und der Anstand erhalten bleiben, in einer Weise kommuniziert werden, welche ihre Annahme und Umsetzung befördert. Die Notwendigkeit des Sich-umeinander-Bemühens der Partner muss dabei nicht bloß als Belastung empfunden werden, sondern kann auch mit guten Gründen als Ausdruck bzw. – noch stärker – als konstruktiver Vollzug der wechselseitigen Wertschätzung interpretiert werden.⁸²⁰ In der Bindung an den Partner wird eine Öffnung der eigenen Lebenskontexte erblickt, in der Selbstbeschränkung der Gewinn einer höheren Freiheit. ⁸²¹
Der Partner als selbstgewähltes Korrektiv Im Sinne der beschriebenen Bewertungsmöglichkeiten kann Partnerschaft gar als anzustrebender Modus produktiver Selbstkritik gelten. Zur Selbstwerdung gehört für Schleiermacher nicht nur die Selbstbetrachtung, sondern auch das irritierende Moment der Meinung nahestehender Anderer. So verpflichtet er sich selbst in den Monologen: Ich „darf der Freunde Meinung, die ich gern ins Innere schauen ließ, nicht überhören, wenn ihre Stimme von dem eignen Urteil abweicht.“⁸²² Und seine Braut ermuntert er: „von meinen Fehlern […] laß mir nur nichts durchgehn! schilt nur
Vgl. H 334: „[…] wo findet alles Bessere im Menschen mehr Haltung und Ruhe als im häuslichen Leben, wenn es nur irgend christlich oder natürlich geordnet ist? Wo wird die Gewalt der Liebe stärker und segensreicher gefühlt als da? Wo wird durch das Zusammensein aller menschlichen Verschiedenheiten an Geschlecht und Alter und durch die Vollständigkeit eines abgeschlossenen Daseins das Gleichgewicht der Seele mehr befördert als da?“ Vgl. dazu Willi, Ko-Evolution, 133: „Darin [im Rahmen einer Partnerschaft – CR] ist es mir nicht möglich, den anderen einfach so zu akzeptieren, wie er ist, oder ihn bedingungslos zu unterstützen in dem, wie er sich verhält und handelt, weil das eigene Verhalten und Handeln davon direkt betroffen sind.“ Vgl. zu dieser Einschätzung auch Willi, Ko-Evolution, 69 f: „Wenn Partner in der | Liebe aneinander Erwartungen stellen, so engen sie sich damit nicht einfach ein, sondern sie tun kund, daß sie sich begehren, daß sie einander viel bedeuten und daß sie voneinander etwas wollen. Eine bloß wohlwollende Akzeptation und gegenseitige Unterstützung macht die Liebe fad. Liebe ist immer auch Spiel, Kampf und Auseinandersetzung. Die Partner brauchen einander aber auch nicht einfach als Ergänzung oder Vervollständigung, vielmehr ist es die Ausrichtung der Auseinandersetzung auf ein Drittes, welches das In-Erscheinung-Treten zweier Personen provoziert.“ Dass einem dasjenige, worum man sich bemüht, ans Herz und ins Bewusstsein wächst, drückt Schleiermacher paradigmatisch in einem der Brautbriefe so aus, dass „manchmal Dein Bild nicht ganz deutlich vor mir steht, […] Das kommt aber davon, weil ich Dir nie die Cour gemacht habe wie andern Frauen und Mädchen.“ (BB 239). Georg Simmel bringt diesen Aspekt wie folgt auf den Punkt: „Die Liebe ist eine Bindung der Seele, gerade wie die Sittlichkeit; die Seele gehört nicht mehr in dem gleichen Maße sich selbst, ist nicht mehr ebenso frei, wie sie es war, als sie noch nicht liebte. Die ideale Aufgabe ist nun genau wie gegenüber der Sittlichkeit: die Beschränkung der Freiheit ist als die höhere Freiheit zu fühlen, dasjenige, was dem Ich als ein Forderndes und Bestimmendes von außen kommt, als eine Erweiterung des Ich zu begreifen.“ (Simmel, Geschlechter, 275). M 19.
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hübsch, erinnere und ermahne!“⁸²³ Die Forderungen Schleiermachers decken sich mit den Einschätzungen des Paarpsychologen Jürg Willi: Oft läßt sich beobachten, daß eine Person sich den Partner unbewußt so konstelliert, daß dieser Partner sie mit Tendenzen konfrontiert, denen sie auszuweichen neigt. […] Intuitiv merken bei der Partnerwahl viele Menschen: Das ist die Person, die eine bisher vermiedene Entwicklung aus mir herausfordern könnte. Aber diese Herausforderung beinhaltet auch die Kränkung, es nicht allein zu schaffen.⁸²⁴
Selbst der leidigen Paarkultur des wiederholenden wechselseitigen Vorwürfemachens hört Willi deren Wahrheitskern ab. Seiner Einschätzung nach sind die Vorwürfe, die Partner einander machen, oft sehr zutreffend und betreffen sogar Eigenschaften und Verhaltensmuster, die tatsächlich vom kritisierten Partner verändert werden könnten.⁸²⁵
Grenzen personaler Veränderlichkeit Allen guten Vorsätzen und Optimismen zum Trotz machte sich Schleiermacher keine Illusionen über die Veränderlichkeit von Charakter, Meinung und Umgangsformen. Bereits in den Anmerkungen zu Aristoteles konstatiert er: „Der Mensch ist ein hartes unbiegsames Ding, das dem Zwek den man damit gehabt hat nur selten entspricht, da die Naturdinge weit gehorsamer, gedeihender und lohnender sind.“⁸²⁶ In Gestalt der Diskussion über das Recht zur Schließung von ‚Mischehen‘ zwischen einem Christen und einem Nichtchristen bzw. zwischen Personen unterschiedlicher Konfession gibt Schleiermacher später in der Christlichen Sittenlehre eine ganz ähnliche Einschätzung über die Prägekraft des ehelichen Lebens ab.⁸²⁷ Generell rät er von beiden Eheformen ab, weil er die Möglichkeit zur Konversion des einen Partners durch den anderen für unwahrscheinlich hält.⁸²⁸ Schleiermacher war zwar bleibend der Meinung, dass eine enge Beziehung die Kraft hat, einen Menschen zu formen und Aspekte seiner Persönlichkeit und seines Interesses zu modellieren; dass
BB 205. Willi, Psychologie, 232 f. Vgl. noch weiterführend: Willi, Psychologie, 239 f: Über entwicklungsvalente Partnerschaftskrisen behauptet er: „Es sind nicht so sehr innere Einsichten, welche zu Veränderungen im Zusammenleben führen, sondern äußere Umstände und Ereignisse, die den Vollzug eines anstehenden Entwicklungsschrittes in der Beziehungsgestaltung notwendig machen. […] Die äußeren Umstände, welche die anstehende Entwicklung abfordern, haben die Betroffenen oft selbst konstelliert oder mitkonstelliert. Es sind insbesondere die bei der Partnerwahl vermiedenen und hintangestellten Beziehungsaspekte, die sich unter den veränderten Umständen zur Entwicklung melden.“ Vgl. Willi, Psychologie, 67– 69. AAnm 5. Vgl. ChS 355 – 357. Zudem müsse gelten, daß „wer mit recht lebendigem Interesse der evangelischen Kirche angehört, keine eheliche Neigung fassen wird zu einem nichtevangelischen.“ (ChS 356 f).
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durch sie hingegen Maximen umgestürzt werden, sei kaum denkbar. Mit Bedauern konstatiert er, dass es gleichwohl nicht so unwahrscheinlich ist, dass Personen mit sehr unterschiedlichen Grundsätzen eine Neigung zueinander entwickeln und in einer entsprechenden Beziehungsanbahnung die Bedeutung und Persistenz jener Maximen unterschätzen. Eine Koordination von aktiv beeinflussbaren und kontingenten Konfigurationen in Fragen der inneren Ausrichtung nimmt bereits der jüngere Schleiermacher in seiner Tugendlehre vor. Ihrem Inhalt nach seien Tugenden und – wir können ergänzen – Einstellungen kommunikabel. Äußerlich seien sie auch erlern- und habitualisierbar. Ihre innere Aneignung, die an der Verknüpfung ihrer mit dem eigenen Selbstverständnis hängt, hingegen sei kontingent bzw. in theologisch aufgeladener Diktion: gnadengewirkt.⁸²⁹ Inwiefern in der Habitualisierung nicht eine Scharnierfunktion zwischen Machbarkeit und Entzogenheit liegt, wird von Schleiermacher nicht verfolgt. Es spricht jedoch vieles dafür, dass sich auch im Sinne Schleiermachers die wechselseitige Beeinflussung und Sozialisation in einer Partnerschaft insbesondere auf diesem Grenzgebiet abspielt.
Zur Notwendigkeit eines bewussten Grenz-Managements Sind der Persönlichkeit Grenzen der Veränderlichkeit gesetzt, so empfiehlt es sich um des Friedens und der Aufrechterhaltung einer Beziehung willen, diese anzuerkennen. Wie mit Naturgegebenheiten solle man mit entsprechenden Differenzen umgehen, empfiehlt Schleiermacher seiner Braut.⁸³⁰ In seinem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens handelt er gar von der Notwendigkeit einer bewussten und aktiven Grenzziehung. Was für größere Gesellschaften gilt, hat ebenso seine Gültigkeit in der Partnerschaft: Der Werte-, Einstellungs-, Erfahrungs- und Wissenshaushalt einer Vgl. PhE 74. „Insofern die Tugend Erkenntiß ist, kann sie allerdings gelehrt werden. Denn lehren kann nie etwas anderes sein als Erweckung desselben Vermögens durch Darstellung. Insofern sie Darstellung ist, kann sie allerdings geübt werden, und zwar als Fertigkeit wächst sie durch die Uebung, als Gesinnung ist sie mit der Uebung einerlei. Aber in ihrem genetischen Verhältniß zur Persönlichkeit und in ihrem individuellen Charakter, welches beides außerhalb alles Mittheilens und Darstellens liegt, ist sie allerdings ein Geschenk der Götter. […] Wenn man fragt, warum in der einen Person Gesinnung einwohnt, in der anderen nicht, so ist nichts zu antworten als durch freie göttliche Gnade.“ Im Rahmen der Bewertung einer Zerrüttung zwischen Henriette und ihrer Schwägerin Luise v. Willich bezeichnet Schleiermacher das Temperament und die Geistesstärke eines Menschen als Naturgegebenheiten, die man nicht ändern könne und daher lernen müsse mit ihnen umzugehen: „Seze diese Schwächen nur ein für allemal ordentlich als etwas, was ist, was gar nicht in Luisens Macht steht zu ändern, und was also in die Reihe der natürlichen rein physischen Dinge fällt. Ueber diese ärgert man sich nie, und sie widerstehen einem nie, sondern man lernt ihnen nur ab, wie sie zu behandeln sind.“ (BB 353). Vgl. auch BB 287: „[…] es kann doch sein, daß ich Dir noch manche kleine Freude im Leben verderbe durch meine angeborne Ungeschiklichkeit oder Trägheit! Ich bitte Dich schon um Verzeihung im voraus, Du süße, und es ist gewiß kein katholischer Ablaß, den ich fordere, sondern nur auf Hoffnung der Besserung von heute an – aber ich fühle es gar zu sehr, ganz wird es nicht ohne das abgehn.“
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Person ist zu spezifisch, als dass darauf Verzicht geleistet werden dürfte, ihn mit jenem des Gegenübers abzugleichen. Eine fruchtbare Kommunikation wird ohnehin allein in Bezug auf jene Aspekte möglich sein, für die beim Partner ein Sensorium zu erwarten ist.⁸³¹ Vergemeinschaftung geht zwangsläufig mit Selbstbegrenzung und Grenzsetzungen für den anderen einher.⁸³² Sowohl aus pragmatischen als auch aus programmatischen Gründen sollte die Individualität eine Gemeinschaftsbildung nicht verunmöglichen, ist jene doch auch stets auf diese angewiesen.⁸³³ Interessant erscheint hinsichtlich dessen die frühe Notiz: Sei was du bist imer und ganz (Knigge) ist ein Princip was in der Gesellschaft schlechterdings nicht statt findet. Man muß statt deßen nur sagen: Sei nie kein Theil von dir selbst. Sehr interessant ist aber die innere Gesellschaft mit dem von sich was man in diesem Augenblik nicht seyn darf.⁸³⁴
Werden Aspekte einer Persönlichkeit zugunsten ihrer Vergemeinschaftung zurückgestellt, so verschwinden diese nicht einfach. Es bleibt eine ‚innere Gesellschaft‘ mit ihnen. Als Irritationsfaktoren der Partnerschaft bergen sie zum einen das Potential einer Schärfung des Selbstverständnisses;⁸³⁵ zum anderen motivieren sie eine (partielle) Öffnung für andere.⁸³⁶
In Gestalt seines ‚quantitativen Gesetzes‘ der Geselligkeit bestimmt Schleiermacher: „Jede einzelne Gesellschaft nämlich muß […] ein bestimmtes Maas haben, und existirt nur, in so fern sie dieses hat, als ein Individuum. Unendlich mannigfaltig ist, im Allgemeinen betrachtet, die Art, wie Menschen einander anregen können, und unendlich die Sphäre ihrer freien Aeußerungen. Von diesem Unendlichen aber ist denen, die zusammen eine Gesellschaft ausmachen sollen, nur ein gewisses endliches Quantum eigen, und wenn dies nicht aufgefaßt und aus dem übrigen abgesondert wird, kann nie eine wirkliche Gesellschaft zu Stande kommen.“ (ThG 170). Vgl. G I, 171., 38 f: „Jede rechte Mittheilung ist ein Zurüktreiben des Eignen nach Innen, und bei jedem Ansprechen giebt man dem Andern ein Gefühl seiner Grenzen.“ In welch komplexer Reziprozität dies geschieht, deutet Jürg Willi an: „Sinnvollerweise werde ich innerhalb eines Beziehungsraumes nur jenes Verhalten zeigen, das vom anderen gesehen wird, und werde nur aussprechen, wofür der andere ansprechbar ist, weil nur dieses Verhalten vom Partner beantwortet wird. […] also kann der andere durch seine Bereitschaft, mich zu sehen und zu hören, mich in meinem Michzeigen und Hörbarmachen (per-sonare) beeinflussen. Ich werde mich in der Beziehung also auf ihn bezogen verändern. […] Aber das Sehen und Hören des anderen geschieht auch nicht nur von ihm her, vielmehr kann ich sein Mich-Sehen und Mich-Hören beeinflussen, so daß ich wiederum mich so zeigen und ausdrücken kann, wie ich den Partner wahrnehmungsbereit und ansprechbar gemacht habe. […] Aber meine Absicht, ihn wahrnehmungsbereit und ansprechbar zu machen, schöpfe ich auch nicht nur aus mir selbst, vielmehr ist diese meine Absicht wiederum bestimmt von meinem Partner und von dem gemeinsamen Prozeß, in dem wir uns befinden.“ (Willi, Ko-Evolution, 126 f). Zu letzterem Aspekt vgl. PhE 202: „[…] es ist zu bemerken, daß die Persönlichkeit in ihrer Vollendung auch ein Product ist. Das Produciren an sich geht immer nur bis an die Organe.Was aus diesen Objecten heraustritt und diese selbst, inwiefern sie in der Wechselwirkung bestehen, sind immer gemeinschaftlich.“ G I, 97., 27. Detaillierter dazu s.u. II.3.1.4.
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Änderungsdynamiken im lebenslangen Entwicklungsprozess von Ehen Der Aufbau einer festen Partnerschaft, erst Recht mit Perspektive auf die Ehe, gehört zu den weitreichendsten Faktoren, welche auf die Persönlichkeitsbildung Einfluss nehmen.⁸³⁷ Viele Identitätsmarker, die noch soeben – in der Phase der Adoleszenz – gesetzt wurden, stehen nun sogleich wieder in Frage.⁸³⁸ Die Bedeutung der Partnerschaft für die Selbstwerdung bliebe jedoch unterbestimmt, wenn man sie allein auf deren Anbahnung und Erstkonfiguration beschränkte. So wie die personale Individualität⁸³⁹ ist nach Schleiermacher auch die Liebesgemeinschaft dauerhaft im Werden begriffen.⁸⁴⁰ Gestehen die Partner ihrer Beziehung eine entsprechende Fluidität zu und teilen nicht nur gemeinsame Positionen, sondern auch gemeinsame Entwicklungs- und Veränderungstendenzen, kann diese dauerhaft als lohnende Bereicherung für die eigene Entfaltung erlebt werden. Ist dies nicht der Fall, so wird die Ehe vermutlich v. a. als Hemmnis von Lebenspotenzen und Verwirklichungsoptionen erfahren und entsprechend prekär.⁸⁴¹ Eine zentrale Voraussetzung für das Gelingen eines ethisch-produktiven gemeinsamen Lebens, ist eine wechselseitige Kommunikation, in der sich die Partner gegenseitig aneinander ausrichten und die so gewonnenen Impulse als förderlich und belebend erfahren. Nicht eine ununterbrochene Symmetrie
Detaillierter dazu s.u. II.3.3.4. „Die Grenzen der Verständigung in der Partnerschaft“ interpretiert Willi als notwendigen und ethisch produktiven Bestandteil gelingender Partnerschaft (ders., KoEvolution, 130 – 132). „Die Partner müssen hinreichend zueinander passen, ohne sich gegenseitig völlig zu entsprechen. Ein gewisses Ausmaß an Fremdheit und Nichtzueinanderpassen stimuliert die Entwicklung und provoziert ein ständiges Einander-Suchen. […] Das Unverstandenbleiben durch den Partner birgt die positive Chance des besseren Selbstverständnisses in sich. […] Das Ertragen der Frustration, in der Liebe doch auch zum Teil einsam zu bleiben, kann innerhalb gewisser Grenzen die persönliche Reifung anregen und einen für andere Beziehungen öffnen.“ (ebd., 131 f). Zum ‚Gegenseitigkeits-Entwurf‘ von Partnerschaften, in dem erkannt ist, dass sich Selbstverwirklichung nicht nur gegen, sondern auch in und durch eine Beziehung gesteigert erreichen lässt, was wiederum eine höhere Dauerhaftigkeit der Beziehung selbst wahrscheinlich macht, vgl. Lenz, Zweierbeziehung, 236 f. Vgl. auch Willi, Ko-Evolution. Vgl. Willi, Zweierbeziehung, 35 – 38. Berger/Kellner, Ehe, 228. Vgl. beispielsweise BB 363: „Wie könnte man in einigen Jahren noch dieselbe Sache auf dieselbe Weise thun?“ Vgl. G I, 170., 38: „Freundschaft ist Annäherung zur Individualitaet ins Unendliche, und daher selbst ins unendliche theilbar und perfectibel, und nur Annäherung zu sich selbst.“ Zu den Dynamiken und Veränderungsprozessen verschiedener Phasen einer Paarbiographie vgl. auch Willi, Psychologie, 125 – 180. In der Christlichen Sittenlehre bestimmt Schleiermacher, „daß die rechte christliche Ehe auch nur erst etwas im Werden begriffenes ist, wie jedes andere rechte christliche Verhältniß. Ist aber das: so kann es nicht fehlen, daß die Ehen unter sich sehr ungleich sind und das Bewußtsein von der Unvollkommenheit einzelner unter ihnen oft so groß wird, daß beide Theile nichts dringender wünschen, als daß sie sich nicht verbunden hätten und daß sie könnten in den früheren Stand zurükktreten.“ (ChS 350). Letzterer Aspekt verweist bereits auf II.3.3.2.
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zwischen den Partnern, sondern die begründete Zuversicht auf die Möglichkeit der Wiederherstellung einer solchen durch die Interaktion ist dabei entscheidend.⁸⁴²
Steigerungspotenzen und Hemmnisse Das Interesse am Partner um seiner selbst willen, von dem wir oben bereits gehandelt haben, schließt für Schleiermacher ein, dass sich die Liebe weniger an objektiven Vorzügen⁸⁴³ oder konkreten Gemeinsamkeiten, sondern vielmehr an den Entwicklungsdynamiken des anderen ausrichtet, deren inhaltliche Seite sogar zweitrangig sein kann.⁸⁴⁴ Dass beispielsweise von vielen Menschen der Partner als der wichtigste Unterstützer erlebt wird, auch in Wirkungsfeldern, wie einer beruflichen Spezifikation, von denen dieser sachlich gar keine Kenntnisse besitzt und für die er sich auch unabhängig von der Beziehung nicht erwärmen könnte, spricht dafür, dass Schleiermacher mit jener Diagnose einen allgemeinen Punkt getroffen hat, der seine Geltung auch weit über den romantischen Salon hinaus behauptet. So förderlich sich eine Ehe auf die Entwicklung einer Person auswirken kann, so hemmend und destruktiv kann sie allerdings auch sein. In seiner Einschätzung der bestehenden Ehe seiner Verehrten, Eleonore, bringt Schleiermacher dies eindringlich zum Ausdruck.⁸⁴⁵ Bereits im 9. Gebot seines Katechismus der Vernunft für edle Frauen versucht er solcherlei Missständen zu begegnen, wenn er die Leidenden auffordert: „Du sollst nicht falsch Zeugniß ablegen für die Männer; du sollst ihre Barbarey nicht Vgl. konkretisierend dazu BB 291: „Du kannst Dir das auch nicht wahr und lebendig denken, daß Du nicht alles heilige und schöne mit mir theilen solltest, und wenn es mich bisweilen stärker ergreifen wird als Dich, so wird es auch umgekehrt der Fall sein, eben in den Ausbrüchen Deiner schönen Verehrung gegen mich, und wir wollen dann einander aushelfen. Oder meinst Du nicht, daß ich mich nicht auch manchmal lahm fühle und nichtsnuzig und träge? aber ich will deswegen doch nicht sagen, daß ich nicht recht wäre für Dich, sondern mich nur immer wieder an Dir stärken und erfrischen.“ Vgl. auch BB 164, wo Schleiermacher seiner Hoffnung Ausdruck verleiht, dass „das schöne Leben mit Dir mich verjüngen wird“. Schleiermacher stellt ebenso schlicht wie stimmig fest, „daß wir nicht die Vernünftigsten am meisten lieben, sondern manche minder Fortgeschrittene mehr.“ (PhE 391). Vgl. M 25 f: „Wo ich Anlage merke zur Eigenthümlichkeit, weil Sinn und Liebe die hohen Bürgen da sind, da ist auch für mich ein Gegenstand der Liebe.“ Vgl. auch Brief 1113, 223: „Für meine Liebe mache ich mir aus dem Grade der Bildung und aus der Sphäre worin ein Mensch seine Kraft äußert gar nichts, weshalb auch die Menschen sich so oft an meiner Liebe ärgern und sie nicht begreifen. Ich liebe das Gemüth selbst, seine Bildsamkeit und seine Kräfte – aber für den Menschen selbst und für die Welt liegt mir doch Alles daran daß er genieße und inne werde was er ist, daß er es heraus arbeite auf die schönste Weise und damit wirke und wuchere.“ Schleiermacher schreibt 1801 an Ehrenfried v. Willich: „Sie [Eleonore – CR] kann gar nicht sich selbst leben, sie kann ihre schönsten Neigungen nicht befriedigen, sie kann ihren Sinn für Alles Schöne und Gute nicht pflegen und nähren, sie kommt mit allem dem nicht in Berührung, was ihr das Nächste sein sollte.“ Stattdessen müsse Schleiermacher „sehen wie aus einer unendlichen Fülle schöner Knospen, mit denen die Frucht sich schon zugleich zeigt, nur wenige sich entfalten und alles verschrumpfen wird ehe es sich ausgebildet hat, und das ohne innere Krankheit, nur weil dieser unselige Wurm an dem schönen Gewächs nagt.“ (Brief 1113, 223.)
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beschönigen mit Worten und Werken.“⁸⁴⁶ Nicht bloß in den großen Ehetragödien, sondern auch in weitgehend glücklichen Beziehungen beobachtete Schleiermacher Hemmnisse für den Einzelnen. In entsprechender Weise legt er seiner Braut deren erste Ehe aus, nicht jedoch ohne hier auf Lösungstendenzen hinzuweisen, die in einer zerrütteten Ehe freilich nicht mehr bestehen.⁸⁴⁷ Das Problem einer Degeneration von Potentialen durch den sozialen Umgang, fand Schleiermacher bereits bei Aristoteles behandelt.⁸⁴⁸ In seinen Anmerkungen traktiert er relativ ausführlich die Frage, inwiefern es möglich und geboten ist, einen Freund, der eine problematische Entwicklung nimmt, wieder zurückzuführen und aufzubauen.⁸⁴⁹ Interessante psycho-soziale Beobachtungen fließen hier ein. Die kalten ‚moralischen Pedanten‘ werden nur danach fragen, wie tief der Freund gefallen ist und entweder „kalte erzwungene Hilfe leisten, oder ihn gänzlich verlaßen“.⁸⁵⁰ Die Einfühlsameren werden danach sehen, wodurch die problematischen Neigungen entstanden sind und versuchen einzuschätzen, ob noch ein moralisches Sensorium und entsprechende Grundmaximen ansprechbar sind, die eine Rückführung wahrscheinlich machen. Wo nicht, werden sie sich zurückziehen und das Gedenken besserer Zeiten bewahren. Wo doch, gelte es Mut zu beweisen und zu seinem Freund zu stehen. Erfolg wird einem solchen Unterfangen allerdings nur beschieden sein, wenn eine Symmetrie der Freunde besteht, weil andernfalls der ‚feurige große Geist‘, welcher sich verrannt hat, den ihm unterlegenen Helfer mit sich hinunterziehen wird. Schleiermacher schließt mit einem Lob der Mäßigkeit und Symmetrie in Freundschaften. Der anhand der ‚moralischen Pedanten‘ beschriebene resignative Zynismus und das Diktat eines individuellen Problems, welches sich auf eine ganze Beziehung legen und diese fortan bestimmen kann, gehören wohl zu den häufigsten Degenerationsformen, unter denen auch eine Ehe leiden kann. Interessanterweise können solche Beziehungen von den Partnern gleichwohl als lohnend bzw. erhaltenswert eingeschätzt werden, denn auch eine von (wechselseitigen) Herablassungen geprägte Ehe vermag den Einzelnen zu stabilisieren und auch eine Partnerschaft, die haupt-
K 9. Vgl. BB 259 f: „Was Du von Deinem Verhältniß zu Ehrenfried sagst, wie es Dich jezt anspricht, ist mir ganz klar. Reue muß nicht darin sein, sondern Du Dich fest daran halten, daß Du im Ganzen ganz warst, was Du sein konntest, und das hat Ehrenfried auch gefühlt, und darum ist er innerlich befriediget gewesen. Aber das kannst Du immer fühlen, dass Deine Ehe mit ihm nicht nach allen Seiten hin vollendet gewesen ist, und daß zu seiner Befriedigung gehörte, daß er hie und da in der Gegenwart durch die Zukunft sah. Welcher Liebende thäte das nicht?“ Im Fortgang an das Zitat verleiht Schleiermacher sodann seinem Perfektibilitätsglauben Ausdruck und folgert für die Lebensdeutung, dass das Künftige immer strahlender erscheinen muss als das Vergangene. Zum Strudel eines sozial vermittelten ethischen Verfalls vgl. AÜ 80: „Die Freundschaft lasterhafter Menschen muß also auch lasterhaft seyn, da sie nur dergleichen Beschäftigungen zusammen treiben werden, und indem sie einander immer ähnlicher werden, müßen sie sich gegenseitig immer moralisch verschlimmern.“ Vgl. AAnm 36 – 39. AAnm 37.
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sächlich nur um ein Problem kreist, wie etwa den Alkoholismus eines Partners, kann in ebenjener Bewältigung einen Sinn finden.⁸⁵¹ In seinen Hausstandspredigten beschreibt Schleiermacher überdies das Problem, dass die Saat von Sorge, Missmut und Argwohn durch einen Einzelnen das Lebensgefühl einer ganzen Familie vergiften kann. Hier ist es nicht so sehr die Asymmetrie der Partner, sondern das hohe Infektionspotential des Destruktiven, welches das Problem ausmacht. Wie ein autobiographischer Einblick lesen sich die Zeilen der Predigt über die Gastfreundschaft: ⁸⁵² […] wie leicht können […] Menschen, die nur das Irdische suchen, sich unserer bemächtigen, sich immer enger in unsern Kreis einsiedeln, diejenigen, die uns durch Gleichheit der Gesinnung eigentlich angehören, allmählich aus demselben verdrängen und, indem sie die Gewalt eines verderblichen Beispiels über uns ausüben, uns immer weiter von der unschuldigen, gottgefälligen Fröhlichkeit verlocken. Diese Gefahr scheint am meisten aus der gastfreien Zugänglichkeit des Gemütes zu entstehen; […].⁸⁵³
Heiligung in der Ehe Aus der Möglichkeit des Scheiterns wollte Schleiermacher gleichwohl keine Bedenklichmachung des ehelichen Lebens als solchem ableiten, sondern zeigte sich bemüht, v. a. die produktiven Potentiale, die in der Öffnung für und Bindung an einen Partner liegen, herauszustellen. Die für die reformierte Theologie zentrale ethisch-religiöse Dynamik der ‚Heiligung‘ sollte in herausragender Weise durch die Ehe befördert werden.⁸⁵⁴ In der Glaubenslehre buchstabiert Schleiermacher den Locus zwar sehr
Zum Drang des wirksamen, erbaulichen Handelns und der daraus fließenden Möglichkeit zur Selbstbestimmung, die in jedem Fall eines konkreten Kontextes bedürfen vgl. PhE 134 f: „Zuerst die Gemeinschaft der Organe erschien uns mehr nur als ein Elementarisches und Willkührliches, als ein Trieb ohne bestimmtes Object; man kann nur einigen seine organisirende Kraft leihen, und man wußte nicht wem. Hier sind nun die Objecte unmittelbar gegeben, die Glieder der Familie, sowol die natürlichen als die freiwilligen. Die Gatten leisten sich Beistand in dem, was jeder Theil in der Ehe erst anfängt zu sein; […] In der Familie findet sich aber auch der Zustand der Dienstbarkeit als ein möglicher Fall. Nemlich: weil der Mensch außer der Familie gar nicht zur vollkommenen Individualität gelangt, so muß derjenige, der seine ursprüngliche verloren hat, sich an eine fremde anschließen.“ Zu den stabilisierenden Wechseldynamiken in dezidiert problematischen Beziehungen vgl. Willi, Zweierbeziehung, 89 – 106. 229 – 231. Zur Problematik der Karoline Fischer im Hause der Schleiermachers s. o. I.2.2. H 374. Vgl. auch H 348: „Es gibt nichts Beklemmenderes, als den beständigen Anblick eines verdrossenen Menschen, dem nichts von Herzen geht und also auch nichts zu Herzen; und indem unvermeidlich die Heiterkeit im Ganzen dadurch getrübt wird, entsteht gleichsam eine Verringerung des Lebens, die durch alle guten Eigenschaften, mit denen ein solcher übrigens in die Führung des Hauses eingreifen kann, nicht aufgewogen wird.“ Vgl. H 234 f: „Das aber ist erst die christliche Liebe in der Ehe, daß beide durcheinander immer mehr erregt werden im Geist; daß immer mehr in der Natur des einen durch den andern gebändiget werde und gemildert, was sich der Einwirkung des Geistes widersetzt; daß jeder den andern durch seine Kraft hebe und trage, wenn er in dieser Hinsicht schwach werden will; jeder sich in dem Auge des anderen reiner spiegle, […] kurz: daß jeder in dieser Verbindung die Kraft des Geistes erhöht fühle und
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christuszentriert aus, ruft jedoch ebenso die sozialen Implikate der ethischen Sublimation des Einzellebens auf. So spielen innerhalb der die Wiedergeburt ‚vorbereitenden Wirkungen‘ Habitualisierungen – Schleiermacher spricht von ‚Wiederholungen‘, die sich zu ‚Gewohnheiten bilden‘ – und soziale Angleichungsmechanismen – wörtlich: „Handlungen des christlichen Gesammtlebens welches eine Gewalt über die Einzelnen ausübt“ – eine entscheidende Rolle.⁸⁵⁵ Hinsichtlich der oben bereits eingeführten Verhältnisbestimmung von ethischer Vollkommenheit und Vervollkommnungsbedürftigkeit erscheint der im Rahmen der Heiligungslehre und Christologie prominente Begriff der ‚lebendigen Empfänglichkeit‘ ergiebig.⁸⁵⁶ Im Argumentationsgang der Glaubenslehre hat er die Funktion, Aktivitätsmomente unter der Behauptung einer primären Passivität zu erhalten, ein „Mittelglied, […] welches ein leidentlicher Zustand ist, aber doch das Minimum von Selbstthätigkeit in sich schließt“.⁸⁵⁷ Für unseren Zusammenhang können wir ihn pointieren auf das Binnenverhältnis einer ethisch produktiven Partnerschaft. Sie bedarf zugleich eines Sensoriums – ‚Empfänglichkeit‘ – und einer ‚lebendigen‘ Tendenz auf das Gute hin, das aber nicht zugleich voll verwirklicht sein muss, sondern seine steigernde Gestaltung und erfüllende Aktualisierung gerade in den wechselseitigen Einwirkungen der Partner erfährt. In einer der wenigen erhaltenen Traupredigten bildet Schleiermacher das Christus- und das Gattenverhältnis in dieser Hinsicht sogar direkt aufeinander ab: Ja, wie dem Erlöser seine Stellung unter uns bestimmt war durch seine Liebe zu den Brüdern, aber auch in die Erscheinung treten und wahrgenommen werden konnte, indem sich in Anderen Liebe zu ihm entwickelte: so soll auch die Liebe der Gatten unter einander seyn eine erleuchtende, erwärmende und bewahrende Liebe auf der einen Seite, und eine aufmerkende, gelehrige, fügsame auf der anderen.⁸⁵⁸
So wie die Liebe Christi auf die Gegenliebe der Glaubenden angewiesen ist, um präsent zu werden, bedarf es auch der Wechselseitigkeit der Liebespartner. Zuwendung und Empfänglichkeit, ‚Erleuchtung‘ und ‚Aufmerksamkeit‘ müssen einander korrespondieren. Momentane Asymmetrien erscheinen dabei gleichsam unproblematisch, wenn der Fokus auf die Förderung und Wohlfahrt des Anderen die Interaktion leitet.⁸⁵⁹
gesteigert, wie sie es sonst nicht sein könnte. […] daß in vereinter Kraft beide sich mit verdoppelten Schritten dem gemeinsamen Ziele der Heiligung nähern […].“ CG2, § 110.2, 205. In ihrer Rekonstruktion der Lehre von Wiedergeburt und Heiligung setzt Sabine Schmidtke diesen Begriff zentral. Vgl. Schmidtke, Heiligung, bes. 132– 152. CG2, § 108.6, 189. P 8, 707. Dabei ist Schleiermachers bildungstheoretischer Grundsatz nicht aus den Augen zu verlieren: „Organe können nicht anders gebildet werden als durch den Gebrauch; es giebt nur Selbstbildung“ (PhE 90).
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Überleitung Damit stehen wir an der Schwelle zum nächsten Teilkapitel. Ging es hier um die progressiven Dynamiken, welche durch eine Partnerschaft freigesetzt werden können, so geht es im Folgenden um die produktiven Aspekte der Regression, die eine Ehe erlaubt; in den Worten des Predigtzitats: um die bereitwillige, weil erbauliche ‚Fügsamkeit‘ in die ‚Erwärmung‘ und ‚Bewahrung‘ durch den Partner.
3.1.4 Stabilisierung und Irritation Die Individualisierung, welche die Moderne kennzeichnet, birgt große und äußerst begrüßenswerte Freiheitspotentiale. Diesen korrespondiert gleichwohl ein hoher Anspruch an den Einzelnen, der nun unter den verschiedensten Lebensoptionen seine Wahlen treffen muss, ohne in seiner Orientierung selbstverständlich auf ein Cluster von vorgegebenen Deutungsmustern zurückgreifen zu können.⁸⁶⁰ Wem nicht nur das eigene Leben, sondern auch der Kosmos als offen und gestaltungsbedürftig, dabei aber auch als schutzlos und fallibel erscheint, der kann rasch überfordert sein. Um dem zu wehren, bedarf es – mit Luhmann gesprochen – einer ‚Komplexitätsreduktion‘, die sich ausdrückt in der Identifikation eines Haltgebers. Religiöse und politische Sinnmuster spielen hierbei eine wichtige Rolle, bleiben dem einzelnen Leben gegenüber jedoch vergleichsweise abstrakt und sind zudem in ihrer Relativität und (Ab‐) wählbarkeit durchschaut. Zur stabilen, weil relativ fraglos gegebenen Beheimatung bietet sich dem Individuum mithin v. a. das nähere soziale Umfeld an, wobei die Familie von besonderer Bedeutung ist.⁸⁶¹ Dieser ‚neue‘ Anspruch an Ehe und Familie
Zu dieser Diagnose vgl. auch Beck/Beck-Gernsheim, Chaos, 68. Vgl. Beck/Beck-Gernsheim, Chaos, 70: „Es ist die einsetzende Isolierung und Sinnentleerung, die der Sehnsucht nach Familie Auftrieb gibt: die Familie als Heimat, um die ‚innere Heimatlosigkeit‘ erträglich zu machen, als ‚Hafen‘ in einer fremd gewordenen und unwirtlichen Welt. Hier entsteht eine historisch neue Form von Identität, die man am zutreffendsten vielleicht als personenbezogene Stabilität bezeichnen kann.“ Vgl. auch Gehlen, Moral, 97: „Auf der einen Seite werden in diesen Institutionen die Zwecke des Lebens gemeinsam angefaßt und betrieben, auf der anderen orientieren sich die Menschen zu genauen und abgestimmten Gefühlen und Handlungen, mit dem unschätzbaren Gewinn einer Stabilisierung auch des Innenlebens, so daß sie nicht bei jeder Gelegenheit sich affektiv verwickeln oder sich Grundsatzentscheidungen abzwingen müssen. Diese Entlastung wirkt sich produktiv aus, denn die wohltätige Fraglosigkeit, die dann entsteht, wenn der Einzelne innen und außen von einem Regelgefüge getragen wird, macht geistige Energien nach oben hin frei.“ Alois Hahn unterscheidet zwischen dem „Selbst in der Form des An-Sich“ als einem ‚Habitusensemble‘, entstanden aus dem kontinuierlichen Strom des eigenen Lebens und Erlebens und dem reflektierten Selbst, welches in besonderer Weise sozial vermittelt ist (Hahn, Identität, 10). „Der Sinn, den meine Identität darstellt, ist also von Anfang an verwoben mit einem Sinn, der nicht von mir stammt. Welche meiner Akte ich nicht vergesse, welche mir nicht vergessen werden, welche Akte und Erlebnisse also zu mir gehören, ergibt sich einerseits aus Sinnzusammenhängen, die die soziale Gruppe schon zugrunde legte, bevor ich geboren wurde, andererseits aber auch aus den Darstellungsgelegenheiten, die die Gruppe zur Verfügung hält, in denen ein Individuum sich in sozial zurechungsfähiger Form ‚ausdrückt‘.“ (Ebd.).
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nimmt eine herausgehobene Stellung unter den Erwartungen, die an sie gestellt werden, ein.⁸⁶² Voraussetzung für die Erfüllung der Stabilisierungsfunktion der Ehe ist eine gewisse Einigkeit der Partner. Dazu, worin diese zu bestehen habe, gibt Schleiermacher interessante Hinweise. In einer Ehe muss Einigkeit nicht nur vorausgesetzt werden, sondern sie stellt sich auch durch Angleichungsmechanismen ein. Irritationsmomente spielen dabei nicht allein eine destruktive Rolle, ebenso wie Einseitigkeiten der entsprechenden Belastungen in einer Partnerschaft. Ziel sind stets die Erfahrungen der Wohltat von momentaner Regression und der Reife und ruhigen Bestimmtheit, die auf dem Boden einer sicheren Beziehung gedeihen können. Gefahren einer einseitigen Instrumentalisierung und wechselseitigen Stabilisierung in problematischen Einstellungen und Habitusformen sind hier jedoch stets mitgegeben. All jenen Aspekten wollen wir uns im Gang dieses Kapitels zuwenden.
Das Konstitutivum der Einigkeit Eine gelingende Ehe setzt die Einigkeit ihrer Partner voraus. Emphatisch betont Schleiermacher dies in seinen Hausstandspredigten,⁸⁶³ wendet sich sodann aber v. a. der Beschreibung defizitärer Gestalten der Ehe zu.⁸⁶⁴ Wollen wir erhellen, worin die geforderte Einigkeit nach Schleiermacher genauer zu bestehen habe, so sind wir auf dasjenige angewiesen, was er in seinen Anmerkungen zu Aristoteles und den Brautbriefen zu erkennen gibt.⁸⁶⁵ Aristoteles bestimmt grundlegend, dass es nicht allein ein gemeinsames Grundinteresse ist, welches Partner verbindet, sondern v. a. deren Weise, diesem nachzugehen.⁸⁶⁶ Schleiermacher präzisiert diesen Gedanken in zweierlei Hinsichten. Zum einen unterscheidet er zwei Grundmodi der Vergemeinschaftung: die ‚Sympathie‘, als „die Gleichheit und Mittheilung der Gefühle“ und die ‚Vertraulichkeit‘, als „die
Zur hohen Bedeutung der Stabilisierungsfunktionen von Ehe und Familie im Gegenüber zu anderen Faktoren, wie ökonomischen, sexuellen usw. vgl. Schulz u. a., Familienleben, 13 – 17. Zum Genesis-Zitat in Eph 5,31 „Darum wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und an seiner Frau hängen, und die zwei werden ein Fleisch sein.“ bekennt Schleiermacher: „Gewiß stärker und vollkommener kann auch schon dieses Irdische nicht dargestellt werden, und ein reineres Maß können wir nicht finden, um die mannigfaltigen Abstufungen ehelicher Zustände danach zu beurteilen“ (H 230 f). Vgl. H 231 f. Eine weitere Negativbestimmung gibt er in seiner Einleitung zum Symposion. Über die von Eryximachos vorgenommene Konkretion der durch Eros vermittelten Einigkeit anhand der musikalischen Harmonie, die auch nichts grundlegend Widerstreitendes erlaube (vgl. Sym 28 f), bemerkt Schleiermacher hier, dies sei „loses unverbundenes Umherirren, teils durch verderbte musikalische Rhetorik und durch Anwendung sophistischer Hilfsmittel“ (EP 280). Vgl. AÜ 51: „Auch diese Verbindungen werden also am festesten seyn, wenn beide Theile den nemlichen Zwek haben, und noch mehr wenn sie ihn auf dieselbe Art erreichen wollen […].“
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Uebereinstimmung und Mittheilung der Urtheile“.⁸⁶⁷ Für das Gelingen einer Beziehung sei vorausgesetzt, dass sich die Partner dessen bewusst seien, welche Intensität sie hierbei jeweils erwarten könnten. Nicht selten bestünden schon auf dieser basalen Ebene unreflektierte Differenzen.⁸⁶⁸ Die andere Präzisierung betrifft die Sphäre der ‚Vertraulichkeit‘ im engeren Sinne. Hier behauptet Schleiermacher, dass die Interessen der Partner durchaus divergieren könnten. Voraussetzung einer fruchtbaren Gemeinschaft sei allein, dass sie in der Intensität ihrer gedanklichen Beschäftigung ebenbürtig sind; genauer: je größer die sachlichen Differenzen seien, desto größer müsse auch der Intellekt der Partner sein, da andernfalls der wechselseitige Austausch unmöglich würde.⁸⁶⁹ Mit Blick auf seine Braut musste Schleiermacher sodann eine große Einigkeit des Interesses postulieren, weil ihre intellektuellen Fähigkeiten den seinen eingestandenermaßen deutlich unterlegen waren.⁸⁷⁰ Der Austausch beider sollte auf zwei Ebenen stattfinden: sie würde ihn v. a. emotional stärken, während er ihr auf der Verstandesseite aufhelfen wollte.⁸⁷¹ Hinsichtlich seiner Bestimmungen, die er im Anschluss an Aristoteles aufgestellt hatte, bewegte sich Schleiermacher praktisch damit an die Grenzen der Wahrscheinlichkeit einer fruchtbaren Beziehung. Er war darin zwar bei weitem kein Einzelfall, hatte es jedoch gleichwohl in seinem Eheleben teuer zu bezahlen, als sich seine Frau von seiner Deutungshoheit mit ihrer Hinwendung zur Esoterik emanzipierte und ihm im Zuge dessen einen Großteil ihrer emotionalen
AAnm 31. Vgl. AAnm 32: Weil die Prioritäten zwischen beiden Aspekten durchaus unterschiedlich bei den Partnern gesetzt sein können, „müßen wir beim Anfang einer innigen Freundschaft die ersten ruhigen Augenblike dazu anwenden zu untersuchen: wieviel Gefühl und wieviel Vertraulichkeit wol er von uns, wir von ihm erwarten, und wie viel wir nach der Wahrscheinlichkeit hoffen können, damit wir uns nicht eine lange Zeit über den Grad von Vereinigung täuschen, zu dem wir mit ihm gelangen können, und am Ende aus Verdruß sich getäuscht zu haben, und aus Schuld unserer eignen Unklugheit auch denjenigen verfehlen welcher wirklich möglich war.“ Vgl. AAnm 23: „Der Verstand beider kann also in Absicht auf die Anwendung und die Richtung die er genommen hat, sehr verschieden seyn, allein in der Stärke muß er sich gleich kommen und diese Stärke muß desto größer seyn je größer und mannigfaltiger die Verschiedenheit seiner Richtung ist.“ Vgl. BB 113: „Mit dem Nichtverstehen kann es auch für das, was Dir das wesentliche sein muß, keine Noth haben. Es ist nichts in meinem Leben, in allen meinen Bestrebungen, wovon Du nicht den Geist richtig auffassen könntest […].“ Vgl. BB 110: „Liebe süße, wo Du bist, ist Unschuld und Liebe und frisches Leben, und wenn ich noch den Baum des Erkenntnisses hinein bringe, so ist ja das Paradies fertig.“ Vgl. auch BB 172: „[…] mein Bestreben und meine That wirst Du immer nicht nur anschauen und verstehn, sondern auch theilen, so daß nichts ohne Dich gelingt, nichts ohne Dich vollbracht wird, alles mit Deine That ist, und Du Dich meines Wirkens in der Welt wie Deines eigenen erfreust. […] Du wirst mich erfrischen und beleben und ich werde alles an Dir auslassen und in Dich übertragen. Darum wäre es mir nun außerordentlich lieb, wenn […] mein Arbeitszimmer mit dem Deinigen Thür an Thür wäre, damit wir uns immer recht in der Nähe haben können.“
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Loyalität entzog.⁸⁷² Schleiermachers Biographie liest sich an dieser Stelle wie ein gebrochener Kommentar zum eigenen ethischen Konzept der Ehe. Die Einmütigkeit der Schleiermachers stellte eine wechselseitige Unterstellung dar, deren realer Bestand riskant war. Zugleich deutet Schleiermacher jedoch die sozialpsychologisch interessante These an, dass eine Partnerschaft ohne eine solche Vorannahme der Einigkeit gar nicht zustande kommen könnte.⁸⁷³ Alois Hahn bringt diese Einschätzung später auf den aufschlussreichen – und deshalb im Folgenden kurz zu entfaltenden – Begriff der ‚Konsensfiktion‘. Bereits auf der Ebene des alltäglichen Erlebens setzen wir voraus, dass sich die Welt für andere Menschen ähnlich wie für uns darstellt.⁸⁷⁴ Darüber hinaus wird in ehelichen Beziehungen „nicht nur verlangt, daß eine ‚normale‘ Übereinstimmung unterstellt werden kann, sondern die Gemeinsamkeit zentraler Welt- und Lebensauffassungen, Erinnerungen, Normen, Werte, Einstellungen, Gefühle gilt als eigentliche Basis und Bedingung der Beziehung.“⁸⁷⁵ Die angenommene weitreichende Ähnlichkeit der Ehepartner gibt ihnen Sicherheit.⁸⁷⁶ Hahn weist allerdings eine sehr interessante Diskrepanz nach: Zumindest zu Beginn der Ehe besteht zwar Einigkeit darüber, daß man einig sein soll. Aber man ist sich keineswegs in dem Maß einig, in dem man das für notwendig hält, und weiß das nicht einmal.⁸⁷⁷ Die Beziehungen leben von jenem Vertrauen in vorhandenen Konsens und wären ohne es nicht denkbar. Tatsächlich überzieht die Konsensunterstellung nicht nur den faktisch gegebenen, sondern auch den je möglichen. Aber gerade dieser Kredit – der sich als solcher nicht durchschaut – hält die Beziehungen aufrecht.⁸⁷⁸
Je höher der Abstraktions- bzw. Individualitätsgrad der divergierenden Einstellungen der Partner ist, d. h. je weniger unmittelbar sie sich im Alltagshandeln niederschlagen, desto unwahrscheinlicher wird es, dass ihre Differenz überhaupt entdeckt wird, auch
Detaillierter dazu s. o. I.2.2. Vgl. BB 163: „Ueberhaupt aber, liebe Jette, wie könnten wir es doch ertragen noch so lange getrennt zu leben, wenn wir nicht jeder die unbeschränkteste Vollmacht von dem Andern voraussetzen. Glaube also nur ganz fest, daß mir Alles recht ist, was Du thust, so wie ich dasselbe mit der größten Zuversicht vorausseze […].“ Vgl. ferner BB 356: „[…] wenn ich die Freiheit habe meine Rede an Dich zu richten, so bin ich gleich sicher, keine Thorheit zu hören, als keine zu begehen.“ Im Lichte des Zweifels deutet Schleiermacher diesen Sachverhalt bereits in den Lucindebriefen an: „Ihre [der Liebe – CR] einzige Unruhe ist nur, ob auch Alles so ist, wie sie [die Liebenden – CR] meinen, und ob das Gefühl von der Uebereinstimmung ihres Bewußtseins mit ihrer Idee nicht eine Täuschung ist. Darum sehen sie manchmal mit schüchternem Zagen oder schwerfälliger Bedenklichkeit den einzelnen Aeußerungen der Liebe zu, bis auch das Alles überwunden ist.“ (L 211). Vgl. Hahn, Konsensfiktionen, 210. Hahn, Konsensfiktionen, 211. Vgl. Hahn, Konsensfiktionen, 215. Hahn, Konsensfiktionen, 220. Zur grundlegenden Bestätigung dessen in späteren Studien vgl. Bierhoff/Grau, Beziehungen, 100 f. Hahn, Konsensfiktionen, 222.
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wenn es sich um Grundeinstellungen von subjektiv hoher Bedeutung handelt; und selbst wenn eine Entdeckung wahrscheinlich wird, hängt deren Anerkennung immer noch an der Bewertung der Bedeutung der Konsensfiktion durch die Partner; ist letztere hoch, so empfiehlt sich eine Weginterpretation der erfahrenen potentiell destabilisierenden Differenz.⁸⁷⁹ Außerdem schafft sich die Fiktion ihre eigene Wirklichkeit, besonders wenn es um tendenziell fluide innere Stimmungen und Gefühlslagen geht, die nicht nur hinsichtlich ihrer Deutung, sondern bereits hinsichtlich ihres sich Einstellens von Bestätigungsfaktoren, wie ebenjener sozialpsychologischen Unterstellung abhängen.⁸⁸⁰ Die Nähen dessen zur Selbstperformanz des religiösen Erlebens sind unübersehbar.
Angleichungstendenzen in der Ehe ⁸⁸¹ Die Übereinstimmung der Partner wird nicht allein von diesen vorausgesetzt, sondern sie stellt sich auch sukzessive ein. Die geteilte Lebenswelt und der gemeinsame Erfahrungshaushalt stiften Annäherungen, die sich auf die Länge der Ehe sogar in der Physiognomie niederschlagen.⁸⁸² Kommunikationsstile schleifen sich ein.⁸⁸³ Interessen und Lebensthemen gleichen sich an.⁸⁸⁴ Grund dafür ist die intensive Kommunikation, die Liebespartner miteinander pflegen.⁸⁸⁵ Metaphorisch gesprochen, spiegeln sie einander in einem fortwährenden, komplexen Wechselspiel und weil diese Spie-
Vgl. Hahn, Konsensfiktionen, 223 – 226. Vgl. Hahn, Konsensfiktionen, 228 f. Wir wollen hier nur wenige Aspekte kurz andeuten, insofern sie für unsere Fragestellung von Belang sind. Zu einer ausführlichen Behandlung der Thematik s.u. II.3.2.1. So beobachtet Schleiermacher, „[w]ie der physiognomische Ausdruck der Eltern sich immer mehr nähert“ (PhE 328). Bildreich vgl. dazu BB 226: „Poetische Phrasen werden also nicht viel vorkommen in unserm Haushalt, merke ich wol; statt dessen wirst Du Dich gewöhnen müssen zu leiden, daß ich manchmal recht tüchtig fluche. Oder magst Du das gar nicht und soll ich mirs abgewöhnen? […] Einerlei müssen doch die Leute wissen, daß es im Hause giebt eine Conditorei von Sentimentalität oder Pumpernikel von Kraftausdrücken. […] Aber in was für thörichtes Geschwäz bin ich da hinein gekommen!“ Vgl. dazu BB 113: „Auch würde es mir weh thun, wenn es irgend etwas mir wichtiges gäbe, was auch, seinem innern Wesen nach, kein Interesse für Dich hätte.“ Auch empirisch lässt sich beobachten, dass eheliche Beziehungen meist um ein zentrales Thema kreisen und die Ausbildung eines gemeinsamen Weltbildes befördern. Vgl. dazu Lenz, Zweierbeziehung, 197 f sowie Hess/Handel, Familienwelten, 25 – 28. 289 – 294. Phänomenologisch reichhaltig hierzu erscheint Luhmann, Liebe, 200: „Personen senken im Verhältnis zueinander die Relevanzschwelle mit der Folge, daß das, was für den einen relevant ist, fast immer auch für den anderen relevant ist. Entsprechend werden kommunikative Beziehungen verdichtet. […] dann läßt sich Intimität dadurch charakterisieren, daß schon das (selektive) Erleben und nicht nur das Handeln des einen Partners für den anderen handlungsrelevant wird. […] Der deutsche Idealismus hätte gesagt: sich das Weltverhältnis des anderen zu eigen machen, das heißt: es mitgenießen. Auch der hohe Grad an Verbalisierung der Liebesverhältnisse belegt diese These. Liebende können unermüdlich miteinander reden, weil alles Erlebte mitteilenswert ist und kommunikative Resonanz findet.“
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gelung persönlich gefärbt ist, muss sich das gewonnene Bild mehr und mehr mischen. Friedrich spricht in den Lucindebriefen seiner Eleonore gegenüber von einer „unendliche[n] Wechselwirkung unserer Gefühle, die dadurch einander immer ähnlicher werden müssen“.⁸⁸⁶ Der beschriebene Prozess ist nicht auf romantisch-intellektuelle Kommunikationsformen beschränkt, sondern kennt durchaus auch primitivere Gestalten.⁸⁸⁷ Außerdem ist zu bemerken, dass er nicht immer frei von normativen und psycho-emotionalen Manipulationsversuchen ist.⁸⁸⁸
Irritation als Stabilisationsfaktor Eine Ehe soll von Einigkeit getragen sein, ohne in Einerleiheit zu erstarren. Georg Simmel beschreibt diese Problemlage als das Paradoxon des steten Alleinseins in der Liebe.⁸⁸⁹ Setzt man sich dem Partner schlichtweg gegenüber, so wird an jener Entgegensetzung die eigene Isolation präsent; verschmilzt man mit ihm, so ist man wieder allein, denn nun ist kein externer Bezugspunkt der Vergemeinschaftung mehr vorhanden. Nur in der Schwebelage zwischen diesen beiden Polen könne die Einsamkeit aufgehoben werden. An ihrer Bestimmung war auch Schleiermacher interessiert und näherte sich ihr – zumeist tentativ – in verschiedenen Zusammenhängen.⁸⁹⁰ Eine der ersten Thematisierungen finden wir in seinen Anmerkungen zur Nikomachischen Ethik. Hier behauptet er, „Ungleichheiten geben grade das schönste Spiel
Vgl. im Zusammenhang L 209: „[…] wirst Du das als eine Verschiedenheit ansehn, daß ich Dir zu Deinen schönen Fantasieen das Gegenstück bringe, und ihr Ende ausspreche, da Du nur den Anfang angedeutet hast? Du vertiefst Dich in die unendliche Wechselwirkung unserer Gefühle, die dadurch einander immer ähnlicher werden müssen, daß jedes der Stoff ist für das Andere. Hier in der Mitte bleibst Du, und die ist der eigentliche Anfang, der Anfang der Wahrnehmung und der Reflexion; die beiden Enden lassen sich nicht ausdenken. Die innige Gemeinschaft wächst ununterbrochen, und der Stoff für sie geht niemals aus.“ Rosemarie Nave-Herz macht darauf aufmerksam, dass selbst mit dem Austausch trivialer Themen häufig unterschwellig weitreichendere Botschaften und Vergewisserungen ausgetauscht werden, die keineswegs trivial sind. Vgl. dies., Familiensoziologie, 153. Vgl. zu dieser Einsicht auch AAnm 11. Geradezu wie eine emotionale Erpressung liest sich der Brief Eleonores (L 200): „Sieh nur, wenn in Dir die Liebe so ganz anders wäre, als in mir, wie könnte ich dann auf jede Frage in mir eine Antwort finden in Dir? wie könnte jeder Ton, den ich noch so leise angebe, in Dir ansprechen? wie könntest Du mich verstehen, wenn so viel Anderes in mir wäre, in einem solchen Augenblick, wo in Dir nur Sinnlichkeit oder Leidenschaft wäre. Laß mich keinen solchen erleben, lieber Mann, ich würde Dir nachgeben, ich würde auch aus mir verbannen für den Augenblick, was nicht zugleich in Dir wäre: aber was für bittere Thränen würde ich weinen, und wie würde mein ganzes Leben nun einen Schmerz haben, der nicht mehr verginge!“ Vgl. Simmel, Geschlechter, 272– 274. Zur expliziten Markierung des Problems in der Tugendlehre von 1804/05 vgl. PhE 52: „[…] es [gibt] keine unmittelbare Wechselwirkung […] ohne wirkliches Einssein, mit welchem dann natürlich die Gemeinschaft wieder aufhört.“
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der Freundschaft“.⁸⁹¹ Sie regen zum Austausch und zur Prüfung der eigenen Grundsätze an und werden zu einer wechselseitigen Annäherung führen.⁸⁹² Der junge Schleiermacher wendet jedoch sogleich ein: Allein alle diese Näherungen werden nicht so leicht zu gänzlicher Vereinigung gedeihen und es ist vielmehr zu hoffen, daß wenn dies auch möglich seyn sollte, doch unterdessen durch unzählige, vielleicht unmerklich kleine Begebenheiten schon wieder neue Ungleichheiten entstanden seyn werden.⁸⁹³
Dynamik ist nur durch Differenz zu erlangen und zu erhalten. Selbst- und Gemeinschaftsbildung sollen Projekte des gesamten Lebens sein und setzen gleichermaßen Differenz und Wechselbezug voraus.⁸⁹⁴ In den Monologen bekennt Schleiermacher: […] ich muß hinaus in mancherlei Gemeinschaft mit den andern Geistern zu schauen, was es für Menschheit giebt, und was davon mir fremde bleibt, was mein eigen werden kann, und immer fester durch Geben und Empfangen das eigne Wesen zu bestimmen.⁸⁹⁵
Es ist nicht allein die Bestätigung, sondern auch die Irritation, welche zur Stabilisierung der Persönlichkeit beiträgt.⁸⁹⁶ Die Irritation ist mithin nicht bloß Gegenstück, sondern integraler Bestandteil der Stabilisierung des Selbst und der Sozialformen.⁸⁹⁷
AAnm 24. Vgl. AAnm 24: „[…] da reibt sich eine Seele an der andern, sie werden über die moralischen Maximen in denen sie abweichen bei einzelnen Fällen debattiren und so die Sache von allen Seiten betrachten und unvermerkt werden sie sich einander durch wiederholte gegenseitige Mittheilung nähern, eben so wird es mit ihren Empfindungen und deren Werthschäzung gehn und die ungleichen Temperamente werden sich aneinander […] abschleifen […].“ AAnm 24. Vgl. später ganz im Sinne dessen mit Bezug auf den Begriff der Geselligkeit PhE 443: „Die Geselligkeit ist ganz eingeschlossen in das Gebiet der Eigenthümlichkeit und Unübertragbarkeit. Wenn irgend etwas zwischen mehreren Menschen absolut gemeinschaftlich wäre, so fände in Bezug darauf das nicht mehr statt, was wir Geselligkeit nennen. Diese ist nur das Nebeneinandergestellt- und Miteinanderverbundensein des Unübertragbaren. Daher sind auch Geselligkeit und Eigenthum vollständige Correlate. Nur da ist Geselligkeit, wo es Eigenthum giebt, nicht in der verworrenen Ungeschiedenheit oder in der zerstörten Zusammengehörigkeit. Und nur das ist Eigenthum, was Element der Geselligkeit ist, nichts im isolirten Zustande und nichts im feindseligen.“ M 21. Vgl. auch Brief 587, 49: Den Genesisvers, „es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“ interpretiert Schleiermacher hier als die Notwendigkeit alles, was einen bewegt, irgendjemandem mitzuteilen. Otto Friedrich Bollnow handelt von der Notwendigkeit eines externen Halts, wenn einem Menschen ‚Zweifel an der Realität‘ aufkommen. „Und dieser Zweifel ist wiederum keine Angelegenheit eines müßigen Wissen-Wollens, sondern gründet in der Verzweiflung, in der dem Menschen die Sicherheit seines gewohnten Lebens bedroht ist. Er fühlt sich bedrängt und beängstigt durch die Vorstellung dieser radikalen Verlassenheit, in der er keinen Widerhalt in der Welt außer sich finden könnte, in der er nichts Festes außer sich greifen könnte, auf das er sich verlassen kann. In dieser Situation greift er wie ein Ertrinkender nach einem Widerstand, der ihm standhält, nach einem Halt, der ihn trägt, wenn er selbst unsicher wird.“ (Bollnow, Wesen 87). Bollnow präzisiert ebd., 89: „Ur-
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Einen ganz anderen Ton schlägt Schleiermacher dagegen später in den Hausstandspredigten an, wo er auf eine vollständige Übereinstimmung der Partner drängt. Die ‚wahrhaft einsmachende Liebe‘ drücke sich nicht allein darin aus, dass sie das Befinden und die Wünsche des Partners in den Blick bringe, sondern darin, dass die Emotionen und Willensbestrebungen beider zur vollkommenen Deckung gelangt sind.⁸⁹⁸ Im Lichte der vorigen Bestimmungen kann dies kaum als realistisches Ziel eines dynamischen Ehelebens gelten. Integrierbar ist die Figur allenfalls als Limesbestimmung, als Hinweis auf die besondere Verbundenheit, Nähe und Exklusivität, die eine Ehe kennzeichnen soll. Mit dem Ehebund erhält das Leben zweier Menschen einen gemeinsamen Horizont. Sollte dieser je erreicht werden, so würden sich alle internen Wechseldynamiken aufheben. Ebenso wie Schleiermachers religiöse Seligkeitsvorstellung der Individualitäts- und Kommunikationsemphase seiner Religionstheorie so gar nicht angemessen erscheinen will, verhält es sich auch mit diesem Grenzgedanken der ehelichen Liebe. Sollte sie zu dieser ihrer Vollendung kommen, so hörte sie auf das zu sein, um wessentwillen man sie einst so sehr schätzte. Entsprechend uninteressiert zeigt sich sowohl der Religionsphilosoph und Theologe als auch der Ethiker Schleiermacher an der konkreten Antizipation solcher Vollendungsfiguren und lässt sie lediglich als Orientierungspunkte in seiner Beschreibung (innerweltlicher) Religionsvollzüge und Sozialgestalten mitlaufen. Beispielhaft dafür ist seine Behandlung des Begriffs der Seligkeit in einer späteren Traurede für den Amtsbruder.⁸⁹⁹ Im Brouillon lehnt Schleiermacher die eheliche ‚Identität der Individualität‘ dezidiert ab.⁹⁰⁰ Er begründet seinen Vorbehalt nicht allein mit einem Hinweis auf die Unwahrscheinlichkeit dessen, sondern mit dem sachlichen Einwand, dass „hieraus keine gemeinschaftliche Individualität, kein Familiencharakter entstehn [könnte], sondern ein bloßes Zusammenwachsen der Persönlichkeit.“⁹⁰¹ Oben haben wir die sprünglicher als die Erfahrung des ‚Widerstands‘, der das eigne Dasein beengt und bedrängt, ist die des ‚Widerhalts‘, der das eigne Dasein stützt und trägt und dessen Beständigkeit allererst die Sicherheit des eignen Daseins ermöglicht.“ Vgl. auch M 21 f: „Wer sich zu einem bestimmten Wesen bilden will, dem muß der Sinn geöfnet sein für Alles was er nicht ist. […] Nur wenn der Mensch im gegenwärtgen Handeln sich seiner Eigenheit bewußt ist, kann er sicher sein, sie auch im Nächsten nicht zu verlezen […].“ Detaillierter zum Verhältnis von Individualität und Sozialität in Bildungsprozessen s.o. I.4.1.3. Vgl. H 232: „[…] überall, sofern in dieser innigsten Gemeinschaft noch jeder seine eigne Lust hat und sein eignes Leid, mag er auch immerhin mehr auf das sehen, was des andern ist, als auf sein eignes; […] überall, sofern es noch entgegengesetzte Wünsche und Bestrebungen auszugleichen gibt, […] da throne nicht und habe auch nie gethront die wahrhaft einsmachende Liebe.“ Vgl. P 10, 516: „So möge Euer beiderseitiges Leben reich sein an Wechsel mögt Ihr was ihm bitteres beigemischt ist erfahren, aber so, daß es Euch nur fördere auf dem Weg zur Seeligkeit, den Ihr nun miteinander wandeln wollt. Ein Bund der Herzen, der darauf geschlossen ist, weiß auch das Schmerzlichste, eben weil es zu diesem heiligen Zweke dient, als Freude zu empfinden.“ Vgl. PhE 137: „Man glaubt oft, zur Ehe sei erforderlich eine gänzliche Identität der Individualität, so daß die Differenz bloß die des Geschlechts wäre (Mythus von den zwei Hälften).“ PhE 137.
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‚Persönlichkeit‘ als die äußere Seite der ‚Individualität‘ interpretiert.⁹⁰² Für unseren Zusammenhang bedeutet dies, dass bei einer Übereinstimmung der Identitäten der Individuen mit ihrer gemeinsamen Paaridentität, das eheliche Leben allein in einer Einigung der äußeren Verhältnisse bestünde. Die innereheliche Gemeinschaft würde als unproduktiv, wenn nicht gar als restriktiv erlebt.⁹⁰³ Schleiermacher ist im romantischen Sinne hingegen am Umgekehrten interessiert: die Einigung der äußeren Verhältnisse ist Voraussetzung und Ermöglichungsgrund für das offene Wechselspiel der Individuen, welches die Paaridentität fortwährend modelliert und auf diese Weise am Leben hält.⁹⁰⁴ Konflikte sind dabei bereits vorprogrammiert, doch sie scheinen der Mühe wert.⁹⁰⁵ Soll an einer gemeinsamen Identität – mit Schleiermacher einem ‚Familiencharakter‘ – gearbeitet werden, in den beide Partner das, was sie ausmacht und bewegt, einbringen, und zwar in einem lebenslangen Aktualisierungsprozess, der ihren je individuellen Entwicklungen und Bedürfnissen Rechnung trägt; so wird es immer wieder zu Aushandlungsprozessen kommen, die auch die Form des Streits annehmen können.⁹⁰⁶ Unterbleiben diese, sei es aus Höflichkeit, Duldung oder Angst, so wird die
S.o. I.4.1.2. Kai-Olaf Maiwald beschreibt das Problem so, „dass die Paarbeziehung faktisch nicht der Ort reziproker Vergewisserung von Individualität sei, sondern im Gegenteil ein Ort der durch Kompromissbildungszwang eingeschränkten Individualitätsentfaltung.“ (Maiwald, Liebe, 164.) Einen Lösungsansatz bietet er ganz ähnlich wie Schleiermacher mit der Fokussierung der alltagspraktischen Konstitution eines ‚geteilten Modus der Kooperation‘ (ebd., 169), einer Paaridentität, in der sich beide Partner wiederfinden, der gegenüber sie allerdings eine differente Ich-Identität behalten, welche sich wiederum stets in Auseinandersetzung mit dem Paarhorizont artikuliert (ebd., 172). Vgl. G V, 131., 316: „Die Liebe bedarf zur völligen Anschauung der Individualität die Verschmelzung der Personen.“ Vgl. BB 406: „Es ist gar nicht anders möglich, als daß Viele mich mißverstehen und daß sich Einige an mir ärgern und daß ich Anderen ein Dorn im Auge bin. Um das zu ändern, müßte ich mich selbst in meinem innersten Wesen ändern, und das wirst Du doch nicht wollen. […] Das treibe ich nun schon fünfzehn Jahr, zuerst in einem kleineren, hernach in einem größeren Kreise, und ich kann nicht sagen, daß es meiner Wirksamkeit wesentlich geschadet hätte, wenigstens nicht halb so viel, als wenn ich mich hätte weniger frei bewegen und meine Eigenthümlichkeit verläugnen und also von vorn herein mit einer gar sehr geschwächten Kraft wirken wollen.“ Was für den größeren gesellschaftlichen Diskurs gilt, begegnet durchaus auch im sozialen Nahbereich. Vgl. dazu auch Willi, Ko-Evolution, 133: „Die Partner formen sich gegenseitig durch Widerstand und Standhalten, aber auch durch Hervorrufen und Herausfordern. Zu einer so verstandenen Lebensgemeinschaft gehören auch heftige Auseinandersetzungen. Aber das dauernde Reiben und Schleifen kann jedem auch Profil geben, eine Form, die beantwortet ist.“ Vgl. auch Hondrich, Dialektik, 300 f, der beschreibt, wie kleine Irritationen einen Konsens höherer Ordnung hervorbringen können. Dass Streitigkeiten an sich die Kommunikationskultur eines Paares bestimmen und festigen können, ist eine psychosoziale Grenzfigur, die bei Schleiermacher, soweit ich sehe, nicht im Blick ist. Vgl. dazu Clement, Sex, 202: „Für manche Paare sind intensive Streits die einzige Leidenschafte [sic], die sie teilen.“ Und differenzierter Willi, Ko-Evolution, 134: „Die Polarisierung von Meinungen und Haltungen der Partner kann die dialektische Entwicklung gewisser Themen, um welche die beiden Partner in ihrem gemeinsamen Prozeß ringen, stimulieren. Sosehr sich jeder scheinbar nach Reduktion der
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Beziehung emotional ausgehöhlt.⁹⁰⁷ Die Partnerschaft verliert den Anschluss an das Leben ihrer Glieder und wird bedeutungslos oder gar lästig. Eine Stabilisierungsleistung ihrer wird für den Einzelnen jedenfalls nicht mehr zu erwarten sein, denn nur eine irritierbare Partnerschaft vermag zu konsolidieren. Die Irritation sollte dabei allerdings kein Selbstzweck sein, sondern nur ein um der Wahrheit und Offenheit willen eingegangenes Wagnis.⁹⁰⁸ Von einem Sich-interessant-machen und -halten durch das Aufbauen und Pflegen von bedeutungsvollen Geheimnissen voreinander hielt Schleiermacher nichts.⁹⁰⁹ Der Gedanke, dass man den Partner und die Partnerschaft nur stabil halten könne, wenn man ihm selbst ein anderer bleibe, wird zwar von Schleiermacher, wie wir sahen, unterschrieben; jedoch musste dies für ihn nicht durch die Schaffung (künstlicher) Distanzen und Unschärfen, wie im Falle des Geheimnisses, bewerkstelligt werden.⁹¹⁰ Denn zum einen bewertete Schleiermacher die Gefahr von Misstrauen und Entfremdung dabei sehr hoch,⁹¹¹ zum anderen verfügte er über eine so reichhaltige Vorstellung von menschlicher Individualität, dass er die Furcht vor der vollständigen Durchsichtigkeit eines anderen Menschen, und sei es des Ehepartners, für relativ unbegründet hielt.⁹¹²
Spannung sehnt, sosehr wird oft ein Entgegenkommen des Partners verhindert, weil damit die belebende Wirkung des Kampfes zerbricht.“ Vgl. H 231: „Wie oft sehen wir nicht die Ehe in einer ängstlichen Gestalt, wenn ohne alle freudige Überzeugung einer inneren Zusammengehörigkeit jeder Teil sich behutsam in seinen Schranken hält, durch zuvorkommendes Wesen, durch Nachgiebigkeit, durch entsagende Aufopferung alle Gelegenheit zum Streit zu vermeiden sucht, und die zarteste Höflichkeit die Stelle der wahren Liebe womöglich vertreten soll. Und daß auch hier nicht zwei ein Fleisch geworden sind, […] daß hier kein wahres Anhangen ist, sondern nur ein sorgfältig gehaltener Vertrag, das sehen wir leicht.“ Vgl. passend hierzu (wenn auch aus der zweiten Predigt über das Hausgesinde) H 356 f: Ein glückliches Familienleben ist nur möglich, wenn „die Wahrheit und Offenheit befördert wird, sowohl beider Teile gegeneinander, als auch jedes gegen sich selbst, und dadurch kann dann die Sicherheit und Zuverlässigkeit in dieses Verhältnis zurückkehren, deren Abwesenheit wir so oft schmerzlich fühlen. Denn solange in einem so nahen Verhältnis noch einer sich vor dem andern zu verbergen oder ihn zu täuschen sucht, kann es nicht gesund sein und dauerhaft.“ Entsprechend verpflichtet er seine Braut auf absolute Offenheit und bekennt auch selbst: „Du siehst, liebste Jette, wie es gar nicht möglich ist, daß ich jemals sollte ein Geheimniß vor Dir haben können. es ist mir so wesentlich, daß Du nun alles weißt, was in mir vorgeht und was mich bewegt, und die Armen, die sich genöthiget fühlen, Ihren Frauen vieles zu verschweigen, kann ich nicht anders als herzlich bedauern, und doch immer fühlen, daß sie nicht in einer wahren Ehe leben.“ (BB 249). Zum zeitgenössischen Kontext der Frage vgl. Weizsäcker, Eheproblem, 31 f. Vgl. dazu Nedelmann, Emotion, 191 f. Vgl. AAnm 28 – 30. Bei aller positiven Würdigung des ‚Geheimnisses‘ verweist Mitra Keller auch auf diese abgründige Seite. Vgl. dies., Geheimnisse, 55 – 59. Zur Differenzierung verschiedener Geheimnistypen vgl. ebd., 59 – 61. 64. 119 f. 312– 315. Hier tun sich durchaus Differenzen zwischen der geistigen und der leiblichen Seite auf. Dazu s. o. II.1.1.3. Ganz anders dagegen und geradezu paradigmatisch vgl. Lichnowsky, Kunstwerk, 341: „Die Undurchdringlichkeit der Ehepartner, von der oben die Rede war, sei nicht allein der Welt gegenüber beobachtet, auch einander gegenüber ist sie von großem Wert, schon deshalb, weil Unerforschtes, nicht Leichtübersehbares im Wesen des Mannes sowohl als auch der Frau einen fördernden Reiz auf
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Wir haben es oben bereits im größeren Zusammenhang aus den Monologen zitiert und können es hier als Zwischenfazit wieder aufnehmen: der Weg zum höheren Lebensglück lag für Schleiermacher darin, „zu Einem Wesen mit einer geliebten Seele“ zu „verschmelzen“.⁹¹³ Anders als sein Freund Friedrich Schlegel hielt er dabei jedoch an einer bleibenden internen Differenz fest; nicht die ‚Totalverschmelzung‘, sondern die Kommunikation in exklusiver Vertrautheit sollte das Ideal sein – in den Worten der Monologen, „daß auch auf die schönste Weise meine Menschheit auf Menschheit wirke“.⁹¹⁴
Das Glück der Einigkeitserfahrung – Wohltaten der Regression Bei aller Notwendigkeit von Differenzen, die wir uns vor Augen geführt haben und welche sogleich auch wieder ins Spiel kommen, beschreibt Schleiermacher als das Gravitationszentrum der Partnerschaft das Erlebnis der Einigkeit. Gleich einem Offenbarungsgeschehen kennt dieses ekstatische Spitzen, die Geschichte und Zukunft in ein neues Licht setzen. In den Lucindebriefen zeugt Eleonore von einem ‚göttlichen Blitz‘, „der mich fast verzehrt, eine unendliche, zusammenhängende Reihe von gleichen Gedanken und Gefühlen, die vom höchsten Himmel bis in den Mittelpunkt der Erde reicht, und mir Vergangenheit und Zukunft, und Dich und mich und Alles erleuchtet und erklärt.“⁹¹⁵ Erscheinungsort dessen ist die ruhige, intime Zweisamkeit.⁹¹⁶
den Liebenden ausübt, der immer wieder jene gefährliche Sicherheit verhindert. Ebenso gefährlich kann die Gewohnheit der beständigen Nähe werden. Undurchdringlichkeit schafft die heilsame Distanz, jene leise Spannung, die die Herzen wachsam erhält und die Liebe wachsen läßt. Haltung und Distanz von Mensch zu Mensch zu beobachten, und seien sie noch so verheiratet, ist nötig, weil die Haltung Stil und die Distanz Objektivität verbürgt, zwei wichtige Faktoren in der Ausübung einer Kunst. […] Die Beherrschung der Kunst zu lieben jenseits des Fühlens, d. h. also obgleich ein starkes Gefühl vorhanden ist, oder wenngleich kein starkes Gefühl wahrzunehmen wäre, ist condition sine qua non für beide Partner in der Ehe. Die Liebe als Naturereignis ist jederzeit in Gefahr zu erlöschen, wie sie aber auch jederzeit unvorhergesehen wieder aufzulodern vermag.“ M 47.Vgl. auch BB 372, wo Schleiermacher von dem Ziel spricht, „jeder sich ganz in den andern zu verlieren“. M 47. Vgl. dazu Nowak, Schleiermacher und die Frühromantik, 281 f. L 199 f.Weniger den herausragenden Einzelmoment fokussierend, aber in der Sache ganz ähnlich fasst Otto Friedrich Bollnow die religionsäquivalente Bedeutung dessen: „Jeder Glaube, der dem menschlichen Leben seinen Sinn und seine Kraft gibt, ist letztlich der Glaube an die Zuverlässigkeit und Unerschütterlichkeit tragender Lebensbezüge. Sei es im religiösen Sinn der Glaube an ein göttliches Wesen oder in einem allgemeineren Sinn der Glaube an die Treue eines anderen Menschen […]. Immer handelt es sich also um einen ‚Widerhalt‘, den die vom Menschen ausgehenden Lebensbezüge in einer über sein eignes Dasein hinausreichenden Realität finden.“ (Bollnow, Wesen, 91). Auch ins Negativ gewendet funktioniert diese Figur. Günter Dux erblickt gerade in der Befreiung von Sinnanmutungen die Leistungskraft der Partnerschaft. „Der Weg von der Sinnhaftigkeit des Handelns zurück in die Sinnfreiheit des Lebens ist der kurze Weg zum Glück. Diese Sinnfreiheit zu leben, in aller Sinnhaftigkeit der Lebensführung sich immer auf sie zurückgeworfen zu sehen, läßt den anderen in der
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Seiner Braut gegenüber wird Schleiermacher die Bedeutung dessen in unterschiedlichsten Wendungen und Zusammenhängen immer wieder herausstellen: die innere Erhebung und Erfrischung, die gerade aus der Möglichkeit erwachsen, einmal schwach, hilfsbedürftig und anschmiegsam zu sein.⁹¹⁷ Was die Zitate aus den Brautbriefen nur assoziativ andeuten bzw. bebildern können, fasst Jürg Willi später in den Begriff der Stabilisierung durch ‚Regression‘.⁹¹⁸ Die Erfahrung, verstanden und geschätzt zu sein, schon gar mit der Perspektive auf Konstanz, gibt die Möglichkeit, sich für einen Moment innerlich zu entlasten. Die zur Lebensbewältigung notwendige innere Spannung und Verantwortlichkeit kann an den Partner abgetreten werden, um hernach mit umso größerer Kraft wieder aufgenommen zu werden. Eine besondere Bedeutung gewinnt das Gelingen dessen, also das Gefühl des Gehaltenseins, insofern es nicht, wie im Fall der Mutter-Kind-Beziehung, selbstverständlich ist, sondern gegen mancherlei Zweifel und Kontrollreserven behauptet werden muss.⁹¹⁹
Abstützung dieser Lebensform die Bedeutung gewinnen, die er im Verhältnis der Geschlechter zu allen Zeiten gehabt hat.“ (Dux, Geschlecht, 99). „[…] wenn Du, an meine Brust gelehnt, alle Deine Freude an mir, und all Deine Sehnsucht nach dem schönen Leben, das wir im Auge haben, in der unmittelbaren Nähe meines Herzens aushauchst: dann fühlen wir auch beide am tiefsten, wie einig wir sind durch und durch […].“ (L 199). Dass gerade in der Unscheinbarkeit partnerschaftlicher Intimität Güter von herausragendem Wert wachsen können, drückt Schleiermacher in einem Brief an die Braut mit der Metapher der Perle aus. „Perlen sind der Schmukk, den ich am meisten liebe. Freilich wünschte ich, ich hätte Dir ächte schikken können; denn ächt soll alles sein, soviel möglich in unserm Leben. […] Perlen […] bedeuten das edelste, was im Verborgenen eines stillen, unscheinbaren Lebens bereitet wird.“ (BB 361). Vgl. BB 205: „[…] ich werde mich an Deine Brust lehnen und Dir meine Noth klagen und werde nicht gleich etwas anderes können, als Dir liebkosen – aber dann werde ich auch auf einmal aufspringen, noch einmal gestärkt durch einen letzten langen innigen Kuß, und dann sollen die Arbeiten wieder gehn wie geflügelt […].“ BB 220: „Es ist einmal nicht allen Menschen gegeben, immer gleich lebendig zu sein und gleich frisch alles zu fühlen – und zumal der Mensch, der noch allein ist. Ich weiß, auch mit mir wird manches besser werden, wenn Du erst da bist.“ Besonders wenn äußere Stabilisationsfaktoren, wie die politische Ordnung, prekär werden, erscheint die Ehe als Schutzraum. In BB 248 f äußert Schleiermacher, dass er nun Jette besonders bräuchte, weil die politische Lage so problematisch und unwägbar sei, dass er sich gern an ihre „Brust retten“ würde, um „meinen Kummer und meine Sorgen bei Dir auszuschütten.“ Vgl.Willi, Zweierbeziehung, 21: „In einer gesunden Paarbeziehung profitieren die Partner von der Möglichkeit, in freischwingender Balance partiell progredieren und regredieren zu können. Bald weint sich der eine regressiv beim anderen aus, der ihn – in der Mutter-Position – tröstet, bald ist es wieder der andere, der hilflos ist und den Rat und die Unterstützung des ersteren beansprucht. Da man in der Paarbeziehung mit dem Ausgleichsverhalten des Partners rechnen kann, darf man sich eher mal regressives Verhalten leisten, ohne Angst vor sozialem Abgleiten haben zu müssen. Die Bewährung in stellvertretenden Hilfsfunktionen andererseits hebt das Selbstgefühl.“ Vgl auch Kaufmann, Zukunft der Familie im vereinten Deutschland, 36: „In modernen Gesellschaften ist die Familie zum einzigen institutionalisierten Lebensbereich geworden, in dem das Äußern von Gefühlen als wünschenswert gilt, und in dem Gefühlsäußerungen als Ausdruck der Personenhaftigkeit gelten.“ Vgl. zu diesem Gedanken Bollnow, Geborgenheit, 14: „Es [sc. das ‚Seinsvertrauen‘ eines Erwachsenen – CR] wird sich schon dadurch [vom kindlichen Vertrauen – CR] unterscheiden, daß es nur in der immer neuen Anstrengung gegen den jedesmal neu andrängenden Zweifel behauptet werden
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Selbstvergewisserung und Selbstbestätigung Wenn Schleiermacher seiner Braut in Bezug auf die Verbindung mit ihr bekennt, „[…] wie ist das so lange irrende Leben auf einmal zur Vollendung gekommen!“,⁹²⁰ so mag dies als überzogene Emphase eines Verliebten erscheinen. Schließlich hatte sein Leben doch auch zuvor eine Linie, war produktiv und mit Glücks- und Bestätigungserfahrungen gesegnet. Die Würdigung, welche der eigenen Person durch den Ehepartner zuteil wird, ist gleichwohl von einer eigentümlichen Qualität, schon allein ihrer ‚äußeren‘, institutionellen Form wegen.Wer sein Leben an einen anderen in so enger, weil ausschließlicher und zeitlich entgrenzter Weise bindet – sein Leben hingibt an ihn –, allein um dessen Persönlichkeit willen,⁹²¹ der bringt damit eine Wertschätzung zum Ausdruck, die nahezu soteriologische Qualitäten besitzt.⁹²² Dem korrespondiert die Aufregung und Unsicherheit, von der entsprechende Beziehungsanbahnungen gekennzeichnet sind, schließlich findet sich hier nicht nur eine einzelne Leistung sondern die gesamte Person auf dem ‚Prüfstand‘.⁹²³ Es ist dabei allerdings nicht so, als ob der Einzelne erst durch eine solch hohe Würdigung durch den Anderen eine gute Meinung von sich selbst gewönne. Vielmehr geht diese gemeinhin voraus und sucht bloß Bestätigung in der Umwelt. Hatte Aristoteles das hehre Streben nach Ehre von niederem Ehrgeiz unterschieden,⁹²⁴ so
muß und sich so als ein zerbrechliches Gut oberhalb der Ebene der Angst und der Verzweiflung abheben wird.“ Vgl. dazu BB 255: „Manchmal […] regt sich plözlich eine Stimme in mir, die mich schauderhaft auslacht über meine Zuversicht […]. Aber sie erschreckt mich doch nicht, […] sondern ich drükke mich dann recht fest an meine tapfere muthige Jette und trage sie durch alle Stürme glüklich durch […]. Ja, süßes Kind, wissen kann niemand, wie es wird!“ BB 110. Dies können wir zumindest als vorrangig bestimmenden Faktor bei einer Beziehung, die dem romantischen Paarkonzept folgt, voraussetzen. Mit einer doppelten Reziprozitätswendung bringt Schleiermacher diesen Gedanken gegenüber seiner Braut zum Ausdruck: „Aber wenn Du mich nun wirklich verehrst, so muß es auch wahr sein, daß Du ganz geheilt bist, denn Du mußt Dich ja mit verehren. Du bist ja meine Wahl, meine Liebe, es zieht mich ja der heiligste Zug meines Herzens zu Dir hin in Deine Arme, ich kann ja nur in Dir mein Glük und meine Freude finden.“ (BB 309 f). So berichtet Schleiermacher seiner Braut, von der Aufregung, die er vor dem Heiratsantrag empfunden habe: „Es war mir etwas bänglich, ehe ich es herausbrachte, und es wurde mir schwer […] und unmittelbar darauf war mir so ruhig und schön, so erquikt und klar.“ (BB 151). Vgl. auch BB 123: „Dieselbe Ruhe und Sicherheit, dasselbe innere Glükk“ wie zur Verlobung „ist noch und bleibt in meinem Herzen […].“ Schleiermacher zeigt sich auch dankbar für die Liebesgeständnisse seiner Verehrten: „Ob Du mir noch so lieb bist nach Deinen Bekenntnissen? O ich kann Dir gar nicht sagen, wie mich Dein Brief gefreut hat, wie auch ich immer beruhigter werde über Alles und immer gewisser.“ (BB 164). Vgl. auch BB 107: „[…] ich weiß, […] es ist in Dir ganz dasselbe und auf dieselbe Weise geworden, wie in mir; aber sage es mir doch immer, es freut mich gar zu sehr.“ Vgl. AÜ 56: „Die meisten Menschen wollen aus Ehrgeiz mehr geliebt werden, als selbst lieben und daher hangen sie sich so sehr an Schmeichler. Dis nemlich sind Menschen, die sich das Ansehn geben weit unter uns zu seyn, und uns also ungleich mehr lieben, als sie von uns geliebt zu werden verlangen. […] Wer hingegen bei rechtschafnen vernünftigen Männern nach Ehre strebt, der thut es um seine eigne
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macht Schleiermacher in seinen Anmerkungen dezidiert keinen Unterschied und erkennt beide in ihrem Zusammenhang mit der menschlichen Ehre ethisch an.⁹²⁵ Niklas Luhmann bringt jenes Bedürfnis, das seine Befriedigung in der Liebesbeziehung sucht, auf den Begriff der ‚Validierung der Selbstdarstellung‘.⁹²⁶ In der Liebe und durch die Ehe wird jeder auch das Seine suchen; das muss nichts Schlechtes sein,⁹²⁷ bringt aber freilich Konfliktpotential mit sich. Dieses tritt dort zutage, wo die Bestätigung des Partners der eigenen Selbstdarstellung im Wege steht. Prominent wird das anhand der bereits problematisierten ‚Vereinbarkeitsthematik‘⁹²⁸, die hier eine ehe-interne Spezifik erhält. Sowohl die Anforderungen des Arbeitsmarktes als auch das Ideal der Selbstverwirklichung, welches mit jenem z.T. kongruiert, richten sich an den Einzelnen und müssen in einer Partnerschaft koordiniert werden. Es stellt sich die Frage: „Wieviel Raum bleibt in der selbstentworfenen Biographie mit all ihren Zwängen für einen Partner mit eigenen Lebensplänen und Zwängen?“⁹²⁹ Und wie lässt sich beides nicht nur schiedlich trennen, sondern auch noch in die aufwendige Dynamik wechselseitiger Kommunikation und Anerkennung einbinden? Schleiermacher macht seiner Braut gegenüber deutlich, wie wichtig es ihm ist, dass sie ihm auch über sein öffentliches Wirken Rückmeldung gibt, für das er zuweilen kaum Resonanzen erhält. Er macht keinen Hehl daraus, dass es ihm hierbei weniger um konstruktive Kritik, als vielmehr um wohlwollende Anerkennung zu tun ist.⁹³⁰ Die eheliche Unterstützung, nicht nur in organisatorischer, sondern auch in
Meinung von sich selbst zu bestätigen; er freut sich im Vertrauen auf das Urtheil anderer über seine eigene Vollkommenheit.“ Vgl. AAnm 18: Das „Bestreben, sei es durch Wahrheit oder durch Täuschung seine gute Meinung von sich selbst durch das Urtheil anderer zu befestigen liegt überall bei dem Trieb nach Ehre zum Grunde und eben darum ist er so unauslöschlich, so lange der Mensch noch einigen Werth in sich selbst sezt, so lange er sich noch nicht selbst verachtet.“ Luhmann, Liebe, 208. Zur Reziprozität und Virtualität dieser in der Spätmoderne siehe ebd., 208 f: „Wenn Selbstdarstellung als ‚Bildung‘ der eigenen Individualität gesellschaftlich freigegeben, also kontingent gesetzt ist, bedarf genau sie der sozialen Abstützung. Die Bewußtseinsschwelle, an der man die eigene ‚Präsentation des Selbst im täglichen Leben‘ registriert, wird unter modernen Lebensbedingungen erheblich gesenkt. Gerade dann ist man auf Takt anderer angewiesen, die gleichgültig genug sind, um Diskrepanzen von Sein und Schein nicht aufzugreifen – oder eben auf jemanden, der an die Einheit von Sein und Schein glaubt oder zumindest dies zum Gegenstand seiner eigenen Selbstdarstellung macht, an die nun wieder der andere glauben muß.“ Wir sahen dies bereits – s.o. II.3.1.2. S.o. II.2.2. Vgl. dazu Beck/Beck-Gernsheim, Chaos, 74 f, Zitat: 75 [Hervorhebung getilgt – CR]. Vgl. BB 199: „wenn Du erst hier bist, sollst Du nicht immer zu mir in die Kirche gehn, sondern auch zu andern; […] Wenn Du aber zu mir gehst, mußt Du mir immer irgend ein Wort über die Predigt sagen, was Dir dran gefallen hat oder nicht, oder was Dir als etwas besonderes aufgefallen ist, das mag ich gar zu gern. Wenn ich gar nichts höre, glaube ich gar zu leicht, daß ich unerträglich schlecht gepredigt habe.“ BB 292: „Ich habe gepredigt […]; aber ich weiß nicht wie, denn kein Mensch sagt mir etwas davon. Ich weiß, daß Sachen vorkamen, die sehr nöthig und heilsam sind zu sagen, aber wie ich sie gesagt habe, weiß ich gar nicht; nur daß es sehr lang war, und daß mich heute beim gelinden Wetter mehr gefroren hat, als öfters in der großen Kälte, und daraus ist eigentlich kein vortheilhafter Schluß zu
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inhaltlicher Hinsicht, ist nachgewiesenermaßen nicht unerheblich für den beruflichen Erfolg.⁹³¹ Sie zu geben, setzt allerdings oft eine Selbstzurücknahme des Partners voraus. Wo sich die Selbstverwirklichungsimperative nicht mehr an die Familie, sondern an den Einzelnen richten und ein Partner – in der Geschichte zumeist die Frau – den Erfolg des anderen nicht mehr auch als eigenen gesellschaftlich anerkanntermaßen verbuchen kann, ist diese Bedeutungsdimension der Ehe deutlich erschwert.⁹³² In der Verschiedenheit der Arbeits- und Sozialkontexte liegt allerdings zugleich ein potentiell fruchtbarer Differenzgenerator für die Partnerschaft.
Paarvermittelte Zuversicht, Sicherheit und Objektivität Angesichts der Anforderungen, aber auch der Wandlungen und Gefahren, die das gesellschaftliche Leben für den Einzelnen bedeuten, erscheinen Ehe und Familie als Orte der Zuflucht und Sicherheit. In den Wirren nach der Niederlage Preußens gegen das napoleonische Frankreich hält sich Schleiermacher an seine Braut. Die Bedenken, unter prekären gesellschaftlichen Bedingungen zu heiraten, schlägt er in den Wind mit dem Hinweis, doch gerade in Zeiten der Unwägbarkeit und Gefahr der wechselseitigen Unterstützung und Auferbauung zu bedürfen.⁹³³ Hierbei geht es ihm weniger um starke institutionelle und ökonomische Aspekte, als vielmehr um psychologischemotive. Besonders deutlich wird das in einem nahezu naiv anmutenden Briefzitat: So heiter, so leicht, wie Du mir einst erschienst, vornemlich auf Stubbenkammer, am Rande des Abgrundes mit mir herumhüpfend und Blumen pflückend, wirst Du auch immer mit mir am Rande dieser bedenklichen Zeit herumhüpfen und ihr alles schöne entpflükken, was sie nur darbietet.⁹³⁴
machen auf die Predigt.Wärest Du nun hier, so wüßte ich mehr.“ BB 384: „Ja, Du hast aber auch Recht, Du mußt Deine Freude haben an meiner Wirksamkeit, weil ich sie mit soviel Liebe treibe und nicht ohne Segen. Zunächst freilich an den Predigten, die Du am unmittelbarsten mitgenießen kannst, aber gewiß auch an den Vorlesungen, wenn Du erst mein Leben mit den jungen Leuten sehn wirst, und an den schriftstellerischen Arbeiten, wenn Du mich fleißig dabei besuchst, müßte es auch über den Flur sein.“ In Bezug auf die Frage nach der Bedeutung der Beziehung für die berufliche Karriere eines Partners stellen Busch u. a. heraus, dass der berufliche Aufstieg eines Partners (besonders des Mannes) deutlich wahrscheinlicher wird, wenn nicht nur er, sondern auch seine Partnerin hochqualifiziert und dazu noch im selben Berufsfeld tätig sind.Vgl. Busch u.a, Aufstiege, 17. Für die Karriere einer Frau wird ihre Entlastung durch den Mann bei der Hausarbeit als entscheidendes Moment herausgestellt. Vgl. Busch u. a., Aufstiege, 19. In der Partnerschaft Unterstützung zu erleben, ist für beide Geschlechter von hoher Bedeutung. Noch viel stärker gilt dies für das umgekehrte Verhältnis, wenn der Mann in die Rolle des Unterstützers der Frau rückt, weil diese geschichtlich fast nie gegeben war. Vgl. BB 274: „Läßt man thörichter Weise den rechten Augenblik [zur Hochzeit – CR] vorbei gehn, und kommt dann die Zeit der Gefahr später, dann soll es mir hohe Freude sein, sie unter Deinen Augen zu bestehen und mich auf Deinen Muth, auf deine Besonnenheit, auf Deine Festigkeit und Vorsicht zu verlassen.“ BB 397.
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Im kommunikativ geschützten Binnenraum von Ehe und Familie können im besten Falle Zuversicht und Frohsinn gewonnen werden, die von der gesellschaftlichen Situation her kaum indiziert erscheinen und doch zum Überstehen dieser unentbehrlich sind.⁹³⁵ Schleiermachers Vertrauen in diese Stabilisierungskraft der Ehe war zeitlebens ungebrochen. In den Hausstandspredigten heißt es: Denn eine christliche Ehe, wie wir sie uns neulich gezeichnet haben, muß ein so ruhiges Gleichgewicht, eine so unerschütterliche Sicherheit in der Seele hervorrufen, daß auch, was etwa andere Verhältnisse Störendes und Feindseliges herbeiführen, an einer so befestigten Seele gar bald seine Gewalt verlieren würde.⁹³⁶
Bereits in der Frühschrift Über den Wert des Lebens sieht Schleiermacher den „innigsten“, „geheimsten“ „Wunsch[…] [seiner] geselligen Seele“ darin, „mit wenigen auf lange Perioden des Lebens, auf Leben und Tod das festeste genaueste Band der häuslichen Gemeinschaft zu knüpfen und den Eindruck aller zufälligen Abwechslungen mit ihnen zu theilen.“⁹³⁷ Hierin klingt neben dem Motiv der Sicherheit ein weiteres an. Die Familie erscheint als primärer Deutungs- und Bewertungsrahmen, demgegenüber die gesellschaftlichen Entwicklungen als ‚zufällige Abwechslungen‘ erscheinen. Abgesehen von wenigen Zeilen in den Brautbriefen, die in eine entsprechende Richtung weisen,⁹³⁸ hat Schleiermacher m.W. das interessante sozialpsychologische Phänomen der familial vermittelten Objektivität nicht weiter verfolgt, sondern allenfalls eine anbahnende psychologische Grundlegung dafür gegeben.⁹³⁹ Um es genauer zu beschreiben, sind wir auf den Rückgriff auf spätere Autoren angewiesen. „Die Konstruktion der Wirklichkeit erhält durch die Gegenwart des Partners schärfere Konturen und ihre besondere Form.“⁹⁴⁰ Dies hat zum einen seinen Grund darin, dass in einer Ehe ten-
Vgl. BB 195: „Mein Liebchen, ich habe immer lauter fröhliche Gedanken und eine solche Sicherheit auch wegen alles dessen, was nicht von uns abhängt, wie ich gar nicht glaubte, daß ein Mensch haben könnte. Das macht alles die Liebe und das gründliche tiefe Gefühl, daß wir Beide das rechte gefunden haben.“ BB 390: „Was uns aber auch komme, es wird uns schon vereint finden, und mit derselben Ruhe, mit der ich Dir jezt meine Besorgnisse mittheile, […] werde ich Dich immer halten und tragen und uns Besonnenheit bewahren, daß wir immer unserer Liebe genießen und uns gegenseitig unserer Tapferkeit und unseres Muthes freuen können.“ In BB 123 spricht Schleiermacher von einer durch das familiale Leben vermittelten „Unbekümmerniß um die Welt“. H 248.Vgl. auch H 334: „Denn wo findet alles Bessere im Menschen mehr Haltung und Ruhe als im häuslichen Leben, wenn es nur irgend christlich oder natürlich geordnet ist?“ WL 418. Kurt Nowak erblickt hierin so etwas wie eine Prolepse des Biedermeier (ders., Schleiermacher und die Frühromantik, 78. 80). Vgl. BB 197: „Wunderbar ist es, aber hübsch, daß wir oft so zu gleicher Zeit an dieselben Sachen denken.“ BB 362: „Und sehne Dich auch, alles mit mir zu theilen, was Dein Herz bewegt – aber Du weißt ja, daß ich es alles weiß und fühle, daß ich ganz in Dir bin und Du ganz in mir.“ Zum entsprechenden Brouillon-Zitat s.u. Nave-Herz, Familiensoziologie, 153.
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denziell alles besprochen wird, was die Partner bewegt,⁹⁴¹ und schon allein die Verbalisierung von Gedanken und Problemen zu deren Schärfung und Klärung verhilft.⁹⁴² Zum anderen führt die Übereinstimmung beider Partner in der Beschreibung bzw. Bewertung eines Sachverhalts dazu, diesen als ‚objektiv richtig‘ zu empfinden, was sowohl die entsprechende Erinnerung bzw. Einstellung des Einzelnen, als auch die Identität der Gemeinschaft stabilisiert.⁹⁴³ „So mag es tatsächlich geschehen, daß eine Erfahrung nicht als völlig wirklich erscheint, solange sie nicht ‚durchgesprochen‘ ist.“⁹⁴⁴ Mit der Geburt von Kindern entwickelt sich das „eheliche Gespräch […] zu einem Familiengespräch, woraus sich konsequent ergibt, daß die Objektivierung schnell an Dichte, Plausibilität und Beständigkeit gewinnt.“⁹⁴⁵
„Während man in anderen Formen der persönlichen Beziehungen auf Gelegenheiten wartet, um Veränderungen zu enthüllen, müssen diese in Zweierbeziehungen so schnell wie möglich mitgeteilt werden. Es besteht die Verpflichtung, sich gegenseitig auf dem Laufenden zu halten.“ (Lenz, Zweierbeziehung, 172). Vgl. Nave-Herz, Familiensoziologie, 152: „[…] in der Ehe – in Folge ihres Exklusivcharakters – erfolgt die Reduktion der Komplexität der subjektiv erlebten gesellschaftlichen Realität mittels Gespräch. […] Ferner kann vor der Ehe und außerhalb dieser Gemeinschaft Erfahrenes und Wahrgenommenes im ehelichen Gespräch re-definiert werden […] und formt durch Bericht und eventuelle Gegenrede eine neue Konzeption der Wirklichkeit, die als Erinnerung gespeichert wird. Häufig wird der Partner auch erst im Gespräch zu einer Bewertung und Beurteilung von geschilderten Situationen oder von Personen ‚gezwungen‘. Ist die Stellungnahme aber erst einmal in Worte gefasst, trägt sie zur Stabilisierung von Einstellungen, auch zukünftigen, bei.“ Vgl. Nave-Herz, Familiensoziologie, 153 f. Vgl. auch Berger/Kellner, Ehe, 228: „Durch das endlose Gespräch, das von dem zehrt, was sie [sc. die Partner – CR] gemeinsam und getrennt erfahren, wird das nomische Instrument der Ehe ständig konkretisiert. […] die anhaltende und internalisierende Objektivierung durch die Ehepartner wird fortwährend und in dem Maße realer, wie sie in dem ehelichen Gespräch stets von neuem bestätigt wird. Die auf dieser Objektivierung aufgebaute Welt gewinnt gleichzeitig an Stabilität.“ Eine grundlegendere psychologische Beschreibung dessen, die mithin noch nicht auf den Paarkontext bezogen, für diesen aber sehr anschlussfähig ist, finden wir in Schleiermachers Brouillon: „Zuerst ist jeder einzelne Actus, auch ohne seinen Zusammenhang mit dem vorigen und folgenden, Combination, indem aus dem mannigfaltigen Fluctuirenden eine objective Einheit der Anschauung gebildet wird und eine subjective des Bewußtseins. Dann ist der Uebergang Combination, indem eine Stetigkeit der Zeit gebildet wird durch die Einheit des Gedächtnisses und eine Stetigkeit der Anschauung durch die Einheit der Vernunftbeziehung auf die Totalität. Das Was und Wie in allem diesem bildet sich nun durch die Individualität. Denn aus denselben Mannigfaltigkeiten können ganz verschiedene Einheiten der Anschauung entstehen und so auch ganz verschiedene Einheiten des Gefühls.“ (PhE 156 f). Berger/Kellner, Ehe, 228. Berger/Kellner, Ehe, 230. Ebd., 233 finden wir ein Fazit, welches sich auch für unsere Überlegungen als Zwischenfazit anböte: „Es trifft natürlich zu, daß die verheirateten Menschen emotionell stabiler sind (d. h. sie wirken in einem Bereich, dessen emotioneller Ausdruck stärker kontrolliert ist), daß sie reifere Ansichten vertreten (da sie eine stärker gesicherte, enge, mit Erwartungen der Gesellschaft übereinstimmende Welt bewohnen) und daß sie selbstsicherer sind (d. h. sie objektivieren eine ausgewogenere und fixiertere Eigendefinition). Hieraus folgt bei ihnen eine größere psychologische Ausgeglichenheit (d. h. sie haben einen Großteil ihrer ‚Ängste‘ begraben und ihre Ambivalenz und Bereitschaft zu neuer Eigendefinition vermindert) […].“
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Wie jede Lebensdimension von Bedeutung hat auch jene der paarvermittelten Stabilisierung ihre Abgründe. Zwei Probleme seien benannt. Auf das eine macht Hermann Ringeling aufmerksam. Er fragt – in marxistisch-revolutionär anmutender Weise – kritisch an, ob die durch den Partner geleistete Selbststabilisierung nicht auch zugleich gesellschaftlichen Veränderungstendenzen die Motivation entzieht und mithin die Verhältnisse, die das Subjekt destabilisieren, letztlich mitstabilisiert.⁹⁴⁶ Hier ließe sich die Gegenrechnung aufmachen, ob sich überhaupt eine Gesellschaft denken oder wünschen lässt, die solcher Mechanismen nicht mehr bedürfte, denn es ist ja nicht allein der harte Druck der Leistungsgesellschaft, der eine Kompensationen im privaten Leben erforderlich macht, sondern oft sowohl weichere als auch weniger beeinflussbare Anforderungssituationen.⁹⁴⁷ Das andere Problem betrifft den Gegenstand der Stabilisierung selbst. Da dieser nicht nach externen – bestenfalls höheren moralischen – Kriterien normiert wird, sondern in internen Habitualisierungs- und Aushandlungsprozessen bestimmt wird, kann er unterschiedlichste Formen annehmen. Ohne diesen Gedanken selbst weiter zu verfolgen übersetzt Schleiermacher aus der Nikomachischen Ethik: Freunden [ist] das Zusammenleben das angenehmste […]. Danach werden wir also natürlich verlangen und unsere Zeit mit unsern Freunden immer in der Beschäftigung verbringen wollen, in welcher wir am liebsten existiren, und um derentwillen wir eigentlich unser Leben lieben. Daher kommt es, daß einige mit einander zechen, andere spielen, andere ringen und körperliche Uebungen anstellen, noch andere jagen und andere philosophiren […].⁹⁴⁸
Das oben zitierte ‚Gefühl der objektiven Richtigkeit‘, welches sich durch familiale Interaktionen einstellt, kann auch Umgangsformen, Ansichten und Lebensorientierungen abstützen, die mitnichten in einem kantischen Sinne als objektivierbar gelten könnten. Die These von der Selbstreproduktion milieuspezifischer Eigenheiten ist hier bereits vorgebildet. Deren Problematiken zu diskutieren ist nicht Aufgabe dieser Studie; es sei allein das Offensichtliche bemerkt, dass sich der darin artikulierende Kreislauf nur durch umfangreichste Eingriffe seitens der Gesellschaft bzw. des Staates in die Sphäre der Familie durchbrechen ließe, wobei der Erfolg noch immer höchst fraglich bliebe.
Ringeling, Sexualität, 167 f. In enger Verbindung zu dieser Problematik steht die von Niklas Luhmann beschriebene Diskrepanz zwischen den vorbehaltlosen Anerkennungs- und Stabilisierungsimperativen, die eine Liebesbeziehung mit sich bringt und den zuweilen notwendigen Korrekturen in Bezug auf das Selbst- und Weltverhältnis des Partners (Luhmann, Liebe, 213 f). Zu den ‚Spannungsausgleichfunktionen‘, die die Familie besonders gegenüber der Arbeitswelt erfüllt, vgl. weiterführend und kritisch Nave-Herz, Familiensoziologie, 100 – 102. AÜ 80.
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Die Erfahrung der Selbstwirksamkeit bei der Spende von Stabilisierungsleistungen Wie soll man mit persönlichen Nöten und Problemen in der Ehe umgehen? Fordert nicht der Stabilisierungsimperativ, dass man den Partner schone? Andererseits hat sich doch auch der Partner verpflichtet, einen zu unterstützen, schon gar in Situationen, in denen man dessen besonders bedarf. Erwägungen dieser Art waren Schleiermacher aus seiner Aristoteleslektüre geläufig.⁹⁴⁹ In der Kommunikation mit seiner Braut scheint es, als gestehe er ihr Schwächen zu, in denen er ihr beistehen wolle;⁹⁵⁰ er selbst hingegen verpflichtet sich auf das Ideal des starken Mannes.⁹⁵¹ Dass gleichwohl manche Belastungen des Mannes auch auf die Frau übergehen werden, wie Schleiermacher in einer späteren Traupredigt dem Paar ankündigt, ändert an dieser Grundkonstellation zunächst wenig.⁹⁵² Der Mann fände nach dieser Perspektive den einzigen Halt darin, sich als ‚echten Mann‘ zu erleben. Die Virtualität der Stärke müsste fortwährend ihre eigene Realisation hervorbringen. Die eheliche Beziehung bliebe demgegenüber äußerlich, weil sie bloß einen austauschbaren Erfahrungsraum dessen darstellte. Schleiermacher deutet allerdings noch eine tiefere Dimension der Stabilisierung des (momentan) Stärkeren an, die von jenem Geschlechterdualismus unabhängig und insofern paarpsychologisch deutlich reichhaltiger ist. Gemeint ist die Vertrauensbekundung und Ehre, die ihm zuteilwird, weil er derjenige ist, dem sie sich mit ihren Schwächen und Sorgen anvertraut.⁹⁵³ Ganz exklusiv gebraucht zu werden und die Wirkmacht seines Handelns in der intimen Interaktion zu erfahren, kann ein Lohn
Vgl. AÜ 79: „Und wo wird es wol nöthiger seyn Freunde zu haben, im Glük oder im Unglük? Gesucht werden sie in beiden Fällen, da der Unglükliche Hülfe braucht, der Glükliche aber Gesellschafter und Menschen, denen er wolthun kann. Freunde zu haben ist also zwar nothwendiger im Unglük, […] weit beßer und angenehmer aber im Glük […] Auf der andern Seite aber ist es – da doch niemand gern an der Betrübniß seiner Freunde Schuld ist, traurig zu sehn, daß unser Unglük ihm Kummer macht. Daher auch Leute von starker Seele nicht einmal wollen, daß man mit ihnen und über sie trauert […].“ Vgl. BB 219: „Es thut mir recht weh, daß Du wieder einmal einen solchen Anfall gehabt hast, aber es freut mich und giebt mir eine schöne Aussicht, daß Du meinen Briefen die Kraft zuschreibst ihn zu bannen. Wievielmehr will ich sie selbst ausüben, wenn ich Dich erst hier habe. […] ich will Dich schon trösten und aufheitern.“ BB 368: „Und Du wirst ganz gewiß ganz ins Reine kommen mit Dir und zufrieden werden mit Deiner Natur, das glaube ich mit der größten Sicherheit vorhersagen zu können; dies wenigstens wird gewiß aus mir in Dich übergehen.“ Vgl. BB 249: „[…] mich heruntergebracht und niedergedrükt zu sehen; ich denke, das wäre das ärgste, was Dich treffen könnte, weil es Deine Achtung vermindern müßte für mich, und die hoffe ich mir festzuhalten für ewig.“ So prophezeit Schleiermacher in der Traupredigt für einen Amtsbruder dessen Braut, dass sie manche Anforderung, die ihren Mann treffen wird, mitzutragen haben wird und dass ihr Haus auch mit der Anmutung des Vorbildcharakters umzugehen haben wird (P 10, 516 f). Vgl. BB 255: „[…] keine andere Haltung und Sicherheit hast Du, als mich und meine Brust. Kannst Du Dir wohl denken, was für ein herrliches Gefühl mir das giebt? und wie ich mir in diesem, ja ich möchte sagen, nur durch dieses meiner selbst, aller meiner Kräfte und ihrer richtigsten Anwendung, so ganz sicher bin?“
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sein, der die emotionale und psychische Investition mehr als aufwiegt und die Partnerschaft als Ganze intensiviert und stärkt.⁹⁵⁴ Solche Erfahrungen können gleichwohl auch Retter- und Allmachtsphantasien beflügeln, in denen der aufgezeigte Mehrwert kippt.⁹⁵⁵
3.1.5 Phantasie und Scherz – Artikulationsgestalten des Unsagbaren Der Liebe wird gleich dem Gottesgedanken eine Totalität zugesprochen, die sie tendenziell unfasslich werden lässt⁹⁵⁶ und sie wird mit Leistungserwartungen belegt, die rasch die Grenze der Realisierbarkeit zu überschreiten drohen.⁹⁵⁷ Gleich den kultischrituellen Vorschriften der Religion bedarf es mithin auch eines Modus‘ des angemessenen Umgangs mit der Liebe, sowohl in epistemischer als auch in praktischer Hinsicht. Friedrich Schlegel war der Meinung, dass dieser allein in der ironischen Brechung, in der parodistischen Klammer mitsamt deren Selbstthematisierung der Uneigentlichkeit liegen konnte. Schleiermacher war hier anderer Ansicht, doch dazu in der zweiten Hälfte dieses Kapitels mehr. Eine zentrale Voraussetzung für den Scherz – erst recht in seiner elaborierten Form – war das Vermögen der Phantasie.⁹⁵⁸ Die Phantasie galt auch Schleiermacher als eine unersetzliche motivationale und bildende Kraft für menschliches Handeln und Erkennen. Theologische Symbolisierung findet diese Einsicht in der göttlichen Prädikation ihrer. Wenngleich das Feld ihrer Gegenstände prinzipiell unendlich ist, kennt die Phantasie doch Sphären, in denen sie sich als besonders kreativ erweist. Herausragend erscheinen dabei – auch und besonders für die Romantiker – das Grauen⁹⁵⁹ und eben die Liebe.
Vgl. dazu auch Lenz, Zweierbeziehung, 172: „Das ‚Anvertrauen‘ eigener Schwächen, Sorgen, Ängste u. ä. trägt auch ganz entscheidend dazu bei, dass sich die andere Person dadurch, dass ihr dies zuteil wird, geehrt fühlt. Oder anders formuliert, das Sich-Anvertrauen ist zugleich eine Form der rituellen Ehrerbietung, da dadurch die andere Person als vertrauenswürdig geadelt wird und eine besondere Nähe zum Ausdruck kommt, worauf von dieser ihrerseits in aller Regel mit einem Sich-nahfühlen geantwortet wird.“ Vgl. dazu BB 272: „Ich möchte wol, es brennte einmal so in meiner Nähe, daß ich selbst auf Retten müßte bedacht sein; ich versuchte gern, wieviel Geistesgegenwart ich wol haben würde in solchen Fällen, denn ich kenne mich darin noch gar nicht, und wie mir das schöne Leben mit Dir bevorsteht, hätte ich gern eine recht sichere Kenntniß davon, wieviel ich wol tauge für das Leben nach allen Seiten hin.“ S.o. II.3.1.1. S.o. II.3.1.3 und II.3.1.4. Gemäß Schlegels allegorisch-poetologischer Selbstbeweihräucherung war es der Verbindung des dem Scherz verwandten ‚Witzes‘ mit der ‚göttlichen Fantasie‘ zu verdanken, dass einer der vier herausragendsten Romane der Literaturgeschichte, seine Lucinde, entstehen konnte. Vgl. Schlegel, Lucinde, 16. Das Schauermärchen, allen voran aus den Federn Tiecks und Hoffmanns, erfreute sich in dieser Zeit eines breiten Interesses. Das Kreativitätspotential, welches das Beängstigend-Ahndungsvolle freisetzt, wirkte freilich zu allen Zeiten, wie sich von antiken Apokalypsen und Dystopien bis hin zu modernen Horrorfilmen beobachten lässt.
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Ethisch notwendige Öffnungspotenzen der Phantasie Ich wollte, der Teufel holte die Hälfte alles Verstandes in der Welt; meine Quota will ich auch hingeben, wiewohl ungern; und wir könnten dafür nur den vierten Theil der Phantasie bekommen, die uns fehlt auf dieser schönen Erde.⁹⁶⁰
Was ist es, das Schleiermacher die Phantasie so wertvoll erscheinen ließ, dass er dem Teufel einen so hohen Wechselkurs an barem Verstand zuzugestehen bereit war? Über die verschiedenen Stufen seiner ethischen Schriften und Vorlesungen kreiste Schleiermacher die Antwort darauf immer genauer ein.⁹⁶¹ Nach den Monologen vermag es die „Götterkraft der Fantasie […] allein[,] den Geist ins freie [zu] stell[en]“.⁹⁶² Sie schafft ihm ein virtuelles Handlungsfeld, auf dem er sich betätigen kann; Experimentier- und Bildungsmöglichkeiten, die der reale Erlebnisraum niemals in dieser Fülle und Vielgestalt bereitstellen könnte.⁹⁶³ Ihre Gegenstandsbereiche differenziert Schleiermacher in einer Notiz jener Zeit. So begegne die Phantasie als ‚Esprit‘, wenn sie sich auf Vorstellungen richte und als ‚Sentiment‘, wenn sie auf Stimmungen gerichtet sei.⁹⁶⁴ Dass sie ‚den Geist ins freie stellt‘, gilt hierbei uneingeschränkt. Anders als die Liebe, die wir auch als kreative und produktive Kraft beschrieben haben, wird die Phantasie vom jungen Schleiermacher nicht als in sich selbst höheren Normativen verpflichtet und aus intrinsischer Motivation ethisch abgefedert gedacht, sondern als das nackte Prinzip ungelenkter Freiheit. Das macht sie verdächtig. Als 24-Jähriger erklärt er sie zur Brutstätte ‚unstäter Freuden‘⁹⁶⁵ und wenn er diese Beurteilung in den Lucindebriefen dann auch mitsamt der ‚Prüderie‘ auf Distanz zu bringen sucht,⁹⁶⁶ so
Schleiermacher an Eleonore Grunow, zit. nach Dilthey, Leben I, 265. Zu romantischen Kontext der Entdeckung der ‚Aufklärungspotentiale‘ der an den ‚Peripherien der Vernunft‘ operierenden Phantasie vgl. Senkel, Phantasie, 488 – 492. M 48. Vgl. im Zusammenhang (M 48): „O wüßten doch die Menschen diese Götterkraft der Fantasie zu brauchen, die allein den Geist ins freie stellt, ihn über jede Gewalt und jede Beschränkung weit hinaus trägt, und ohne die des Menschen Kreis so eng und ängstlich ist! Wie Vieles berührt denn Jeden im kurzen Lauf des Lebens? Von wieviel Seiten müßte der Mensch nicht unbestimmt und ungebildet bleiben, wenn nur auf das Wenige, was ihn von außen wirklich anstößt, sein innres Handeln ginge?“ Präzisiert finden wir den Gedanken im Kolleg von 1812/13 (PhE 313): „Jede bestimmte Erregtheit von ihrer spontaneen Seite angesehen ist daher begleitet von einem Bilden der Fantasie als einem eigentlich darstellenden Act. […] Fantasie ist synthetisches Vermögen, und zwar auf allen Stufen. Die persönliche Sinnlichkeit ist Fantasie und die Vernunft ist auch Fantasie. […] Wie sich schon in der ersten Kindheit Geberde und Ton zeigen und vermittelst derselben sich erst der eigenthümliche Charakter der äußeren Person entwickelt, so zeigt sich auch schon früh das Bilden der Fantasie, und es entwickelt sich daraus der eigenthümliche Charakter der inneren Person, durch welchen, wie durch jenen, hernach die einzelnen Aeußerungen bedingt sind.“ Vgl. G III, 44., 129: „Der allgemeinste Begrif von Esprit ist wol Thätigkeit der Fantasie nemlich auf Vorstellungen gerichtet, und das Correlatum dazu ist Sentiment, Thätigkeit der Fantasie auf Stimmung gerichtet.“ Vgl. dazu Dilthey, Leben I, 55 f. Vgl. L 157. 192.
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zeigt doch allein die Phantasie der noch verheirateten Eleonore, mit ihm zusammen zu leben,⁹⁶⁷ dass sich die ethische Problematik durch bloße Polemik nicht loswerden lässt. In der Tugendlehre von 1804/05 beginnt Schleiermacher die Phantasie sodann ethisch einzuhegen und ihre Bedeutung und Leistungskraft im Rahmen dessen genauer zu bestimmen. Als nicht schon individuelles, sondern je vorsozial-vereinzelt gegebenes Prinzip der Spontaneität wird sie hier auf die Allgemeinheitsdimension der Vernunft verpflichtet, deren Positivitätsgarant sie im Gegenzug ist.⁹⁶⁸ Im Brouillon finden wir sie sodann als „Vernunft […] unter dem Charakter der Eigenthümlichkeit“ und als produktiv-spontane Seite und impulsgebende Kraft des Gefühls bereits ethisch vollkommen ‚eingemeindet‘.⁹⁶⁹ Etwa 10 Jahre später nimmt Schleiermacher dann noch einmal Vernunft und Phantasie stärker auseinander und koordiniert sie nun unter dem Begriff der Intelligenz. Die Stoßrichtung bleibt dieselbe. Während die Vernunft für die Orientierung im Faktischen und die Abschätzung von Optionen steht, gewährleistet die Phantasie die Eröffnung letzterer und deren individuelle Aneignung.⁹⁷⁰
Phantasie und Religion Die Phantasie vermag das Faktische und Gültige zu überschreiten. Das birgt Gefahren der Destruktion. Schleiermacher fokussiert hingegen v. a. die konstruktiven Potentiale Vgl. aus dem Brief Eleonores (L 195): „[…] wenn dann meine schwärmende Fantasie mich in die schöne Zukunft hineintrug, wo ich ganz nicht nur in Dir, sondern auch mit Dir leben werde […].“ Vgl. PhE 47: Definition der Phantasie „als Princip einer dem Einzelnen unabhängig einwohnenden Combination und Freithätigkeit“. „Beide können sich nur durch Anerkennung der Identität ihres Princips mit der andern als sittlich bewähren. Die Vernunft, welche die Fantasie nicht anerkennen will, wird negativ; die Fantasie, welche die Vernunft nicht anerkennen will, wird persönliche Willkührlichkeit.“ Vgl. PhE 99: „[…] Fantasie, die aber die Vernunft ist unter dem Charakter der Eigenthümlichkeit in der Function des Darstellens, und die Fantasie denken wir uns immer in der genauesten Verbindung mit dem Gefühl.“ PhE 156: „[…] das höhere Vermögen in seinem Einfluß auf das Organische […] ist nicht anders aufzufassen als als combinatorisches. Dies Vermögen im Individuo ist Fantasie.“ PhE 157: „[…] und so giebt es also auch in jedem durch die Individualität eine Identität der Fantasie und des Gefühls, die auch eine totale ist und sich über beide Functionen erstreckt.“ PhE 207 f: „Wenn man ferner Anschauung und Darstellung als solche entgegensetzt, so ist die Anschauung das der Erregung von außen Bedürftige, die Darstellung dagegen die von innen ausgehende Productivität und hieraus scheinen sich zwei verschiedene Stufen der Sittlichkeit zu bilden; jene, die niedere Sittlichkeit, als Sinn, diese, die höhere Sittlichkeit, als Fantasie und Genie.“ PhE 210: „[…] Gefühl mit hervortretender Receptivität = Empfindung, der Zustand ist Contemplation. […] Gefühl mit hervortretender Spontaneität [=] Fantasie; der Zustand ist Speculation. […] Speculation ist bei jeder combinatorischen Selbstverständigung.“ Vgl. PhE 479 (Ethik 1814/16): „Aus dem allgemeinen Aneignungswillen geht ein bestimmter Entschluß nur sittlich hervor aus dem Zusammentreffen von berechnender Intelligenz (Vernunft) und fortbildender Intelligenz (Fantasie). […] Die Fantasie allein kann auch keinen Entschluß hervorbringen. Sie muß gar zu vieles unbestimmt lassen. […] Das höchste Ideal ist Harmonie von Calculus und Fantasie; schließt in sich Harmonie des einzelnen Bewußtseins und des allgemeinen.“
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jener Geistesmacht. So heißt es in den Worten eines Gedankenfragments von vermutlich 1802: „Wissen vor dem Seyn ist Fantasie. Das Wesen Gottes ist also Fantasie.“⁹⁷¹ Die Schöpferkraft der reinen Spontaneität muss transzendent bleiben. Praktische Anteilhabe an jenem Vermögen ist damit freilich nicht ausgeschlossen. Sie lässt sich beobachten und ist ausgehend von dieser Ideal-Locierung vollends gerechtfertigt. Schleiermachers apologetischem Versuch, den er seiner These von der phantasievermittelten Konstruktivität der Gottesvorstellung in den Reden sogleich beigegeben hatte,⁹⁷² tritt damit ein weiteres Argument zur Seite: Ist Gottes Wesen Phantasie, so ist die konstruktive Leistung der Bestimmung eines Gottesbildes letztlich als eine Wirkung Gottes selbst im menschlichen Bewusstsein zu interpretieren. Bezogen auf die Vollzugsdynamik dessen im menschlichen Bewusstsein ergibt sich hieraus eine treibende Dynamik, ein Streben: „Der Glaube ist die unbefriedigte Sehnsucht der Vernunft nach der Phantasie.“⁹⁷³
Ehe und Familie als vorzügliche Gegenstände der Phantasie Das Horizontweitende, Göttlich-Schöpferische und Befreiende der Phantasie findet in der Liebesbeziehung und Familie ein reichhaltiges Betätigungsfeld. Nicht zufällig handelt Schlegels Lucinde, in der er metareflexiv betont, wie eng sich die Phantasie an die Poesie gebunden habe, thematisch von der Liebe.⁹⁷⁴ Die Phantasie gilt ihm hierbei nicht nur als das Geschenk der Musen, um die Liebe darzustellen, sondern auch als G V, 114., 311. Vgl. R 245: „[…] welche von diesen Anschauungen des Universums ein Mensch sich zueignet, das hängt ab von seinem Sinn fürs Universum, das ist der eigentliche Maßstab seiner Religiosität, ob er zu seiner Anschauung einen Gott hat, das hängt ab von der Richtung seiner Fantasie. […] Ihr, hoffe ich, werdet es für keine Lästerung halten, daß Glaube an Gott abhängt von der Richtung der Fantasie; Ihr werdet wißen daß Fantasie das höchste und ursprünglichste ist im Menschen, und außer ihr alles nur Reflexion über sie; Ihr werdet es wißen daß Eure Fantasie es ist, welche für Euch die Welt erschaft, und daß Ihr keinen Gott haben könnt ohne Welt.“ G V, 143., 319. Vgl. Schlegel, Lucinde, 20: Hier werden der Gesang (= die freie Rede) und die Poesie als die beiden Medien, die ‚Liebe und Wahrheit‘ zu ‚verkündigen‘ herausgestellt. „‚Du mußt das unsterbliche Feuer nicht rein und roh mitteilen wollen,‘ sprach die bekannte Stimme meines freundlichen Begleiters [d. h. des Witzes – CR]. ‚Bilde, erfinde, verwandle und erhalte die Welt und ihre ewigen Gestalten im steten Wechsel neuer Trennungen und Vermählungen. Verhülle und binde den Geist im Buchstaben. Der echte Buchstabe ist allmächtig und der eigentliche Zauberstab. Er ist es, mit dem die unwiderstehliche Willkür der hohen Zauberin Fantasie das erhabene Chaos der vollen Natur berührt, und das unendliche Wort ans Licht ruft, welches ein Ebenbild und Spiegel des göttlichen Geistes ist, und welches die Sterblichen Universum nennen.‘“ – Da Schlegel nicht ‚singen‘ kann, bestimmt er als sein Medium das geschriebene, poetische Wort (ebd., 24 f). Auch in einer Notiz Schleiermachers von 1798 heißt es: „Keine Poesie, keine Wirklichkeit. So wie es troz aller Sinne ohne Fantasie keine Außenwelt giebt, so auch mit allem Sinn ohne Gemüth keine Geisterwelt. Wer nur Sinn hat sieht doch keinen Menschen sondern nur menschliches. Dem Zauberstabe des Gemüths aber thut sich alles auf. Es sezt Menschen und ergreift sie, es schaut an wie das Auge ohne sich seiner mathematischen Operationen bewußt zu seyn.“ (G II, 8., 109).
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belebende Gestaltungskraft der wirklichen Liebesbeziehung selbst. Sie sei das entscheidende Kapital der Liebenden: […] wer Fantasie hat, kann auch Fantasie mitteilen, und wo die ist, entbehren die Liebenden gern, um zu verschwenden; ihr Weg geht nach Innen, ihr Ziel ist intensive Unendlichkeit, Unzertrennlichkeit ohne Zahl und Maß; und eigentlich brauchen sie nie zu entbehren, weil jener Zauber alles zu ersetzen vermag.⁹⁷⁵
Dass eine romantische Beziehung von der Phantasie lebt, welche die Partner in diese einbringen, liegt auf der Hand. Das Momenterleben ‚intensiver Unendlichkeit‘ hängt hiervon entscheidend ab. Wofür der Romantiker Schlegel dagegen kein Gespür hatte, war der Richtungssinn der Phantasie auf die, um es mit einem direkten Gegenbegriff zu sagen, ‚extensive Unendlichkeit‘ der Paarbeziehung. An Schleiermachers Brautbriefen können wir unmittelbar ablesen, wie sehr die Phantasie es liebt, sich die Zukunft auszumalen. Ehe und Familie bieten hierzu einen herausragenden Anlass und Anhaltspunkt. Sie sind aufs Engste mit der eigenen Person verbunden und jedes antizipierte Szenario begreift das eigene Geschick mit ein. Zugleich bieten sie allerdings deutlich mehr Variablen, Möglichkeiten und Unwägbarkeiten als der je eigene Zukunftsentwurf. Dies jedoch wiederum auf Grundlage einer festen Grundausstattung des zu Erwartenden. So ist das Personal anders als in vielen anderen Arten von Zukunftsphantasien nicht austauschbar, sondern bildet einen bekannten Rahmen, der über alle ausstehenden Veränderungsdynamiken hinweg vertraut bleiben wird. Familiales Leben ist in erster Linie Alltagsleben, gespickt mit rituellen Höhepunkten. Gerade wegen dieser grundlegenden Vertrautheit und Erwartbarkeit bieten sich viele Anhaltspunkte und Anlässe, seine künftige spezifische Gestaltung mittels der Phantasie zu antizipieren.⁹⁷⁶
Schlegel, Lucinde, 21. Vgl. BB 262: „[…] ich träume mir gar nichts [bestimmtes – CR], ich mache es wie Du, ich rufe gar nichts hervor. Es ist Ein ununterbrochenes beseligendes Gefühl davon in mir, was nur manchmal so in bestimmte Bilder ausströmt.“ Zu Alltäglichkeiten vgl. BB 196: „[…] ich male immer so fort an kleinen Zügen aus dem schönen Leben“. BB 174: „Weißt Du, daß ich mich recht drauf freue in Zukunft Dich schlafen zu sehn? Eine schlafende weibliche Gestalt von reinem Sinn, wie Du, ist fast so schön als ein Kind. Ich will auch immer recht leise heranschleichen, wenn ich bis in die Nacht hinnein gearbeitet habe, aber dann soll es mir auch ein süßer Lohn sein und mich zur herrlichsten Ruhe einladen, wenn ich Dich schlafen sehe. […] in Zukunft […] wir kosen dann erst manch süßes Wort zusammen und frühstükken mit einander, ehe mich die Geschäfte von Dir trennen.“ Ähnlich: BB 180. BB 390: „Ich denke in der Kirche immer viel an Dich und sehe in den Stuhl hinein, wo Du sizen wirst, und freue mich, daß Du Dich darauf freust.“ BB 186: „[…] oft wollen wir nun noch so gehn hier und abwechselnd Kinder tragen und führen draußen im Park herum, oder in was für schöne Gegenden wir eine Sommerausflucht machen.“ BB 185: „So, denke ich, wollen wir uns auch immer, wenn wir allein sind, Abends ein Lesestündchen halten, […] die Kinder müssen erst zu Bette sein, das versteht sich.“ BB 192: Antizipation der Haushaltung. Zu den besonderen, in ihrer Gestaltung jedoch normierten und mithin recht konkret antizipierbaren Höhepunkten vgl. BB 261: „[…] das süße herrliche Bild kommt mir doch immer wieder – […] unser
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Auch subjektive Negativerwartungen lassen sich anhand ihrer in tröstlicher Weise vorstellen,⁹⁷⁷ bis hin zum Gedanken an das eigene Ende, der für die Phantasie insbesondere dann interessant und ergiebig wird, wenn sie sich in die engsten Hinterbliebenen hineinfühlen kann.⁹⁷⁸ Wie jeder andere romantisch Veranlagte, der verliebt ist, ging auch Schleiermacher mit großen Erwartungen in seine Ehe, in der Überzeugung, dass keine noch so schöne Phantasie enttäuscht werden würde.⁹⁷⁹ Dass er sich darin geirrt haben musste, gilt wohl auch dem Nichtzyniker als erwartbar. Dabei sollte allerdings nicht unterschlagen werden, dass bei aller Fehlbarkeit die Kreativität der Phantasie eine echte Schöpferkraft ist. Sie ist nicht nur ein der Realität entkoppeltes Träumen, sondern vermag es durchaus, eigene und bessere Wirklichkeiten zu setzen. Wer nicht einmal den Gedanken wagt, ein bedeutungsvolles und erfüllendes Liebes- und Familienleben zu haben, wird über alle lebensweltlichen und alltagspragmatischen Hemmnisse hinweg auch kaum zu einem solchen gelangen; wer es hingegen erwartet, der wird nicht bloß seine Wahrnehmung, sondern auch sein Handeln daraufhin auslegen, diesem Wirkräume zu schaffen.⁹⁸⁰ Hatten sich die ‚jungen Wilden‘ nun auch darin
erstes Kind taufen“. BB 230: „So kommt es mir auch jezt als eine besondere Herrlichkeit vor, die ich nie erwartet hatte, im eignen Hause Weihnachten zu halten mit den Kindern. Liebe, ich lebe in gar nichts anderm, als dem künftigen Glükk mit Dir.“ Vgl. BB 273: „[…] wie mir beim Feuer das Bild vorschwebte, wenn ich Dich einmal oder die Kinder aus den Flammen führen könnte.“ BB 274: „Mit rechter Lust, mit ordentlicher Begier habe ich mir die Bilder einer verhängnißvollen Zeit ausgemalt, Dich immer an meiner Seite oder mich zu Hause sehnsuchtsvoll empfangend, wenn ich zurükkehrte von irgend einem Geschäft, das alle Kräfte aufgeregt und in Anspruch genommen hatte!“ BB 296: „Ich denke immer, wie ich um Dich herum sein würde, mein Herzensweib, wie tief erschüttert und doch voll fester Hoffnung in der entscheidenden Stunde und wie schwer es mir hernach werden würde, Dich nicht ununterbrochen immerwährend zu pflegen, bis Du ganz frisch und hergestellt in meinen Armen lägest.“ BB 253: „Ich kann mir manchmal allerlei Trübsal denken, die uns treffen könnten, bittere Schmerzen zwischen durch, aber doch habe ich das sichere Gefühl, daß wir uns die Heiterkeit und das Schöne des Lebens sicher erhalten,[…]“ Im weiteren beschreibt Schleiermacher, dass jedwede Zukunftsperspektive, welche Töne sie auch trägt, erhebend ist. Vgl. BB 179: „Neulich ging ich an einem Leichenwagen vorbei; da fiel mir mein eigenes Begräbniß ein, und ich sah Dich zum zweitenmal als Wittwe, aber es war mir ganz wohl und schön dabei zu Muthe; ich fühlte so innig, als nur je, die Liebe und die herzliche Theilnahme so viel trefflicher Menschen, ich wußte, Du würdest wissen, Du habest mich ganz glücklich gemacht, […] wehmüthig, aber innig wohl, und reich müßtest Du Dich fühlen in der Erinnerung und im Besiz aller Denkmäler unseres gemeinsamen und schönen Lebens.“ Vgl. BB 187: „[…] der künftige Reichthum und die Herrlichkeit, die uns bevorsteht, ist so groß, daß wir mit dem besten Gewissen und ohne Furcht uns etwas zu verderben anticipiren können, soviel sich nur thun läßt“ BB 178: „ich lebe jezt größtentheils in so schönen Hofnungen […], weil ich glaube mit Dir alles zu bekommen, womit der Himmel mich segnen kann“ BB 205: „die schöne Kraft, welche diese herrlichen Bilder [der Zukunftsvorstellungen – CR] schafft in uns, ist ja dieselbe, die auch das Leben schaffen wird.“ Über Ehrenfried, den verstorbenen ersten Mann seiner Braut schreibt Schleiermacher (BB 259 f): „Aber das kannst Du immer fühlen, daß Deine Ehe mit ihm nicht nach allen Seiten hin vollendet
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überhoben, das ‚Romantisieren‘ als ein politisches und gesellschaftliches Großprogramm anzugehen, so gingen sie in psychologischer Hinsicht doch recht darin, mit ihm mehr als eine bloße Utopie im Sinn zu haben.
Funktionen des Scherzes in der Liebe Bezeichnet die Phantasie die Antriebskraft und das Vermögen, das je eigene Erleben und Deuten explorativ zu öffnen und zu erweitern, so ist der Scherz der Kommunikationsmodus, mit dem den erkannten Überschusspotenzen und notwendig gegebenen Unschärfen begegnet werden kann. Seine Einschätzungen zur Bedeutung und ethischen Reichweite des Scherzes entwickelte Schleiermacher in Auseinandersetzung mit keinem Geringeren als Friedrich Schlegel, der in Sachen Ironie und Witz mit messianischem Anspruch auftrat und in der Forschung bis heute seine gläubigen Anhänger hat.⁹⁸¹
Ernster Scherz und scherzumspielter Ernst Wie ernst darf man es mit dem Scherz meinen? Wann wird aus Scherz bitterer Ernst? Oder ist es nur der falsche Ernst, der den Scherz bitter macht? Dieser Fragenkreis war Schleiermacher so wichtig, dass er eigentlich geplant hatte, ihm in den Vertrauten Briefen eine eigene Abhandlung zu widmen: ‚Ernsthaft an eine Freundin über den Scherz mit der Liebe‘.⁹⁸² Schlegel bot ihm mit seiner Lucinde dazu einen Anlass, der weit über bloße Kompositionskritik des stilistisch misslungenen Kapitels ‚Treue und
gewesen ist, und daß zu seiner Befriedigung gehörte, daß er hie und da in der Gegenwart durch die Zukunft sah. Welcher Liebende thäte das nicht? thun wir es nicht jezt schon immer?“ Vgl. auch BB 356: „wie naht sich schon das herrliche schöne neue Leben. Je näher es kommt, desto mehr beschäftige ich mich damit und desto mehr sehne ich mich danach; ich bin schon ganz bis ins einzelnste damit vertraut, und oft umschwebt mich ein Lächeln, was Niemand errathen kann, wenn ich mir irgend eine Kleinigkeit, einen Scherz, eine liebe Minute recht ausmale.“ Vgl. Schlegel, Lucinde, 23: „Ich schreibe und schwärme, wie du siehst, nicht ohne Salbung [eines Priesters – CR]; aber es geschieht auch nicht ohne Beruf, und zwar göttlichen Beruf. Was darf sich der nicht zutrauen, zu dem der Witz selbst durch eine Stimme vom geöffneten Himmel herab sprach: ‚Du bist mein lieber Sohn an dem ich Wohlgefallen habe.‘ – Und warum soll ich nicht aus eigner Vollmacht und Willkür von mir sagen: ‚Ich bin des Witzes lieber Sohn;‘ wie mancher Edle, der auf Abenteuer durchs Leben wanderte, von sich sagte: ‚Ich bin des Glückes lieber Sohn.‘“ Eine andere in sich gebrochene ‚Berufungsgeschichte‘ erzählt er ebd., 19: „Alles verschwand nun, und auch der Witz wuchs und dehnte sich, bis er nicht mehr war. Nicht mehr vor und außer mir, wohl aber in mir glaubte ich ihn wieder zu finden; ein Stück meines Selbst und doch verschieden von mir, in sich lebendig und selbständig.“ Dazu würdigend L 202 (Beilage zum Brief von Eleonore an Friedrich): „Solche einzelne Blitze, die bis in die innerste Tiefe hineingehn, merkt wohl fast Niemand. Wie zum Beispiel das schöne Wort vom Witz: ‚er wuchs und dehnte sich, bis er nicht mehr war‘ […].“ Vgl. Kluckhohn, Liebe, 443.
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Scherz‘ hinausging.⁹⁸³ Leider brachte Schleiermacher den Plan nicht zur Ausführung, sodass wir in der Rekonstruktion seiner Kritik auf versprengte Versatzstücke angewiesen sind. Zunächst aber gilt es, Schlegels Position zu profilieren. Ein Grundübel der Gesellschaft, das seine Krallen bis in die Liebesbeziehungen schlägt, war für Schlegel der Ernst in seiner Starrheit und unerbittlichen Bestimmtheit. Ein Scherz dagegen könne Menschen nie verletzen oder gar entzweien, wenn er nur die ihm eigentümliche Schwebelage behauptet. Leider sei dies jedoch allzu selten der Fall, sodass aus seinem schändlichen Abgleiten in ‚groben Ernst‘ oft fälschlich auf den Scherz selbst geschlossen werde.⁹⁸⁴ Was sozialethisch als notwendig erkannt ist, will Schlegel individualethisch grundieren. Die ‚von Natur […] ernsthafte Bestie‘ Mensch bedürfe – so lässt es sich vielleicht in Anlehnung an Kants Moralpsychologie charakterisieren – einer Revolution der Sinnesart; alles was die bestehenden Verhältnisse lockert und löst, sei besser als ein Verharren.⁹⁸⁵ Gegenüber dem Revolutionär Schlegel ist Schleiermacher eher ein Reformer. Auch er erblickt in Witz und Scherz einen unverzichtbaren Katalysator für gelingende soziale Interaktionen, schon gar in der ‚freien Geselligkeit‘ weitläufigerer Bekanntenverhältnisse. Der Scherz erlaubt, Gegenstände von Interesse zu kommunizieren, ohne eine potentiell verfängliche Positionierung vornehmen zu müssen. Dadurch werden die Irritationspotentiale gering gehalten und die Zusammenkunft verspricht anregend und zugleich leicht zu sein.⁹⁸⁶ Die einzige Gefahr ist, dass im Scherz doch ein zu ernster Unterton vermutet wird und er als Spott interpretiert wird.⁹⁸⁷ Für Schleiermacher gehören der Witz in der Gedankenbildung und –explikation und der Scherz im
Vgl. Treue und Scherz in: Schlegel, Lucinde, 29 – 35. Schlegel selbst hat dieses Kapitel später als misslungenen und deutlich überarbeitunsgbedürftigen Teil der Lucinde angesehen, weil Geistigkeit und Sinnlichkeit der Liebe hier in einem zu schroffen Wechsel stehen, anstatt sich in der programmatisch behaupteten Weise zu durchdringen. Vgl. dazu Eichner, Einleitung, XLI. Der eifersüchtigen Lucinde gegenüber sagt Julius: „Mit Amalien ist es gar nichts, als daß ich sie zum Scherz liebe. […] eigentlich muß man alle Frauen im Scherze lieben […], die liebenswürdig sind und die einem eben vorkommen. […] Und dann müssen die Menschen wissen, was sie tun und was sie wollen, und das ist selten der Fall. Der feine Scherz verwandelt sich in ihren Händen gleich wieder in groben Ernst.“ (Schlegel, Lucinde, 33). Vgl. Schlegel, Lucinde, 34: „[…] der Mensch ist von Natur eine ernsthafte Bestie. Man muß diesem schändlichen und leidigen Hange aus allen Kräften und von allen Seiten entgegenarbeiten. Dazu sind Zweideutigkeiten auch gut, nur sind sie so selten zweideutig, und wenn sie es nicht sind und nur einen Sinn zulassen, das ist eben nicht unsittlich, aber zudringlich und platt. Leichtfertige Gespräche müssen geistig und zierlich und bescheiden sein, so viel als möglich; übrigens aber ruchlos genug.“ Vgl. dazu ÜdA. BB 355. Zu einer gleichweisen Problematisierung dessen vgl. ThG 182. 184. Schleiermacher scheint es öfter passiert zu sein, dass ein Scherz, den er an unerwarteter Stelle machte, falsch verstanden wurde. An seine Braut schreibt er (BB 355): „Denn oft bin ich schon deshalb für irreligiös, spöttisch und grundhartherzig gehalten worden.“ Vgl. dazu auch Sym 31: „Aber laure mir nicht auf, da ich ohnehin schon um das, was ich sagen will, besorgt bin, nicht etwa, daß es zu scherzhaft ist – das wäre ja ein Gewinn und gehörte ins Bereich meiner Muse –, sondern daß es jemand als Verspottung auffaßt.“
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sozialen Umgang zur Sphäre des ‚Angenehmen‘.⁹⁸⁸ Ihre ethische Bedeutung als Kommunikationsanregung und –erleichterung ist nicht unbedeutend, aber doch nur eine mittelbare.⁹⁸⁹ Schlegel ging hier deutlich weiter, wenn er behauptete: „Die Gesellschaft ist ein Chaos, das nur durch Witz zu bilden und in Harmonie zu bringen ist; und wenn man nicht scherzt und tändelt mit den Elementen der Leidenschaft, so ballt sie sich in dicke Massen und verfinstert alles.“⁹⁹⁰ Auch die eheliche Liebe sollte ihm primär von jener Leichtigkeit getragen sein.⁹⁹¹ Schleiermacher hatte dagegen ein deutlich vieldimensionaleres Bild von der Ehe, welches einschloss, dass es einem mit ihr ‚ernst‘ sein durfte und sollte.Wohl sollte der Scherz die Liebe ‚umspielen‘, sie frisch erhalten und manche psychische Entlastung stiften.⁹⁹² Als tragfähiges Fundament eines Lebensbundes schien ihm der Scherz hingegen kaum geeignet.⁹⁹³ Dafür lassen sich einige Gründe geltend machen. Einen ersten finden wir in einem frühen Gedankenfragment, in dem es heißt: „Der Imperativ der genialischen Narrheit heißt: es soll alles Scherz werden und das Ziel worauf sie hinausgeht ist also absolute Antithese.“⁹⁹⁴ Der Scherz sucht stets das Negativ, er spielt mit dem Gegenteil und der Uneindeutigkeit zwischen einer Position und deren Umkehrung bzw. Parodie. Die Liebe hingegen haben wir auf unterschiedlichsten Ebenen als konstruktives Prinzip erblickt.⁹⁹⁵ Sie stiftet Vereinigung, während der Scherz seine Spezifik darin hat, eine solche gerade aufzulösen, um Divergenzen im Air der Mehrdeutigkeit immer weiter zu treiben. Mündet die Liebe in die Institution der
Zum Witz, der bei Schleiermacher zumeist sprachlichen Einfallsreichtum meint, vgl. PhE 59 f. 188. 223. Vgl. G I, 158., 36 f: „Um das Hören thätig zu machen wird schlechterdings Witz erfordert, in so üblem Credit er auch steht. Die Nothwendigkeit dieser Foderung zeigt sich in der allgemeinen Sucht auch das schlechte wizig vorzutragen.“ G I, 177., 40: „Der Wiz ist eigentlich eine Freilaßung des Gemüths von den mechanische AssociationsGesezen.“ Schlegel, Lucinde, 35. Vgl. dazu auch aus dem frühen Fragment (G I, 36., 14): „Der Narr allein ist nicht verrükt, denn ihm ist die ganze Welt zurecht gerükt, es gibt zu allem eine absolute Antithese daneben, die er nur aufsucht. Der Narr allein ist reich, denn er allein besizt alles zu beliebigem Gebrauch. Der Narr allein ist ein König, denn er hat sich von allen Gesezen dispensirt und diese Dispensation wird in jedem Augenblik anerkannt und erneuert.“ Vgl. Schlegel, Lucinde, 32: „In einem Augenblick ist die Liebe da, ganz und ewig, oder gar nicht. Alles Göttliche und alles Schöne ist schnell und leicht.“ In BB 346 f äußert Schleiermacher seine Freude darüber, dass nun auch Jette langsam „aus dem Schnekenhäuschen der Demuth“ herauskommt und manchen Scherz in ihren Briefen macht.Vgl. auch die Perspektive, die Schleiermacher seiner Braut für die Zeit gibt, wenn sie gemeinsam nach der Hochzeit nach Berlin kommen werden (BB 408): „Wenn wir hier ankommen, wird die Buschelei auch groß genug sein, aber ich werde viel lustiger dabei sein, weil Du eben da bist, und wir wollen recht viel Scherz damit treiben und zwischendurch der Verwirrung recht viel liebe zärtliche Augenblike abstehlen.“ Vgl. dazu auch das grundsätzliche Urteil im früheren Gedankenfragment (G III, 57., 131 f, hier 132): „Der Scherz ist zu nichts Mittel als nur ein sehr schlechtes, und an nichts Theil als vom Leben überhaupt […].“ G I, 36., 14. S.o. II.3.1.1.
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Ehe, so wird die diametrale Entgegensetzung der Stoßrichtungen zwischen ihr und dem Scherz erst recht kenntlich, was auch Schlegel selbst so einschätzte.⁹⁹⁶ Dieser Einsicht korrespondiert das Grundgefühl, dass sich wohl in der Liebe, nicht aber über die Liebe scherzen lässt. Das Argument gewinnt aus Schleiermacherscher Perspektive an Gewicht, wenn wir uns vor Augen führen, dass es mit Ernestine und Eleonore zwei Frauen sind, die diesen Einwand gegen die Lucinde in den Vertrauten Briefen vorbringen.⁹⁹⁷ Wir erinnern uns: die Frauen sind für Schleiermacher nicht nur das gefühlsbegabtere Geschlecht, sondern sie sind es auch, „in denen die Schaam als in ihrem schönsten Heiligthume wohnt […]. Nur wenn sie zeigen, daß es sie nicht verlezt, kann das Schöne und der Witz frei gegeben werden.“⁹⁹⁸ Dem Schlegelschen Konzept erteilen sie diese Freigabe nicht. Schleiermacher mildert die Kritik zwar darstellungstechnisch dadurch ab, dass er der Lucinde im Brief an Eduard sein eigenes Konzept von den Scherzen als den Gespielinnen der heiligen und ernsten Gottheit der Liebe unterschiebt;⁹⁹⁹ er hebt sie allerdings nicht auf und bietet in seinen fiktiven Antwortbriefen an die Frauen auch keine Erwiderungen zum Thema. Ein dritter Grund für Schleiermachers Ablehnung der Idee, den Scherz zum ethischen Prinzip zu erheben, mag darin erblickt werden, dass er sich der Adressatenorientierung seines eigenen ethischen Programms sperrte. Seine auf Durchsicht der Ethizität der gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse angelegte Güterethik zielt mit ihren vielfältigen Quantifizierungsmöglichkeiten auch darauf, jedem Menschen in positiver Weise seinen Platz im ethischen Gesamtgefüge anweisen zu können. Vgl. Schlegel, Lucinde, 61. Detaillierter dazu s.u. II.3.2. Vgl. L 167 (Ernestine an Friedrich): „Wenn man an die Allgemeinheit des Scherzes glaubt, und zu Allem die Ironie sucht, so entsteht freilich die Aufgabe, auch Scherz über die Liebe zu finden und zwar von und für die Liebenden selbst. Auf der andern Seite sind die ‚Elemente der Leidenschaft‘ einmal da, und mit denen kann man nichts anders machen als sie zu Scherz verarbeiten: ist deshalb der Scherz mit der Liebe, und der Scherz ‚mit den Elementen der Leidenschaft‘ einerlei? Meinem Gefühle will das nicht eingehn.“ L 201 (Beilage zum Brief von Eleonore an Friedrich): „Kann denn ein Scherz mit der Liebe, eine mimische Parodie das Höchste und Schönste sein? Der Stoff ist es freilich […]. Ganz läßt sich das aber nicht parodiren, sondern der Scherz muß […] von dem heiligsten Ernst durchdrungen sein. […] Scherzen läßt sich doch mit den kleinen Eigenheiten und zufälligen Manieren, die aus dem hervorgehn, was in Jedem noch Ungebildetes und Unvollendetes ist, und dieser Scherz kann den höchsten Genuß umspielen, eben wie sein Gegenstand an demjenigen hängt, was eigentlich geliebt und angebetet wird.“ Vgl. dazu auch später BB 236: „alle kleinen Schwachheiten, so lange man sie nun einmal hat, sind grade dazu zu brauchen, daß man Scherz darüber macht, so bringen sie doch noch etwas gutes ins Leben hinein.“ L 177. Detaillierter dazu s.o. II.2.1. Umgegossen in eine ethische Anweisung, die sich der geschlechtlichen Codierung entkleidet, bedeutet dies (H 375): „[…] wo ihr durch eine leichte aber sichere Wendung den Scherz von der Grenze des Sträflichen zurückzieht, der Fröhlichkeit die Gemeinschaft mit dem höheren Gehalt des Lebens bewahrt […] – da überall seid ihr als Engel Gottes erschienen!“ Vgl. L 194 (An Eduard): „Es ist ja Alles menschlich und göttlich darin [sc. in der Lucinde – CR], ein magischer Duft von Heiligkeit kommt aus der innersten Tiefe desselben hervor, und durchweht den ganzen Tempel, und weiht jeden ein, dessen Organ nicht in Verknöcherung übergegangen ist; und die Scherze, die ihn ebenfalls überall mit den zartesten Blumen der Weisheit spielend erfüllen, verkünden nur umso sicherer die Gegenwart der Göttin, deren treue Begleiter sie sind.“
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Jedes Glied der Gesellschaft, ob es dies selbst einsieht oder nicht, partizipiert auf seine Weise am höchsten Gut.¹⁰⁰⁰ Diesem impliziten Demokratisierungsanspruch gegenüber zeigt sich Schlegel vollkommen desinteressiert.¹⁰⁰¹ Er orientiert sich allein an einem elitären Kreis, den er dazu in der Lage sieht, im hochreflektierten Modus der Ironie sein Leben vollziehen zu können. Ein Problem, das er dabei offenbar unterschätzt hat, liegt im Bedarf des gelebten Lebens an Entlastungsfiguren, so ethisch wie intellektuell hochambitioniert es auch sein mag. Niemand kann in allen Momenten und Kontexten seines Lebens die mentale Größe und Gelassenheit und die vollkommene Freiheit aufbringen, welche die Durchführung dieser Lebensart voraussetzt.¹⁰⁰² Für Schleiermacher gilt, der Scherz soll die Liebe umspielen, als Ausdruck dessen, dass sie etwas Erfreuliches, Leichtmachendes, Öffnendes und Belebendes ist, das sie allererst so lebens- und liebenswert macht.¹⁰⁰³ Dabei mag es zuweilen auch übermütig zugehen, wie Schleiermachers Brautbriefe in für den Außenstehenden zuweilen schwer erträglicher Weise illustrieren.¹⁰⁰⁴ Doch stets bleibt die Rückbesin-
Detaillierter dazu s. o. I.3.1. Wie für die Geschlechterbilder gilt auch für das romantische Konzept der Liebe, dass es bei allem behaupteten Universalismus sehr schichtenspezifisch ist. Vgl. dazu Luhmann, Liebe, 175 f: „Dennoch kommt es in der Romantik noch nicht zu der an sich denkbaren ‚Demokratisierung‘ der Liebe im Sinne einer für alle gleichermaßen bereitgehaltenen Möglichkeit. Die Form, in der die Semantik zelebriert wird: die Einheit von Idealisierung und Paradoxierung, blockiert das, was möglich wäre. Mit ‚romantischer Ironie‘ zu lieben, das ist nicht für Arbeiter oder Dienstmädchen gedacht. Ohne schichtspezifisch ausgeflaggt zu sein, ist der Universalismus der romantischen Liebe (wie der bürgerliche Universalismus Europas überhaupt) in den vorausgesetzten Einstellungen eine hochselektive Idee.“ Ebd. 172: „Die Liebe selbst ist ideal und paradox, sofern sie die Einheit einer Zweiheit zu sein beansprucht. Es gilt, in der Selbsthingabe das Selbst zu bewahren und zu steigern, die Liebe voll und zugleich reflektiert, ekstatisch und zugleich ironisch zu vollziehen.“ Weder Stimmungen der inneren Erhebung, noch Schwäche und Krankheit, weder die Verpflichtungen, die eine berufliche Position, noch die Ansprüche welche die Familie an eine Person stellt, lassen solches zu. Vgl. BB 172: „das innerste Wesen der Liebe […] der heiligste Ernst und der süßeste Scherz, [ist] Eins […] in ihr, und alles, Andacht und Frömmigkeit. Der strengste Ernst, in dem einer für den Andern oder mit dem Andern in den Tod ginge, läßt sich gar nicht denken, als daß er zugleich in sich trägt das volle Bewußtsein aller seligen süßen Augenblikke des leichtesten fröhlichsten Lebens; so wie wir in diesem auch die ganze Kraft, die reiche Fülle und Tiefe des Daseins mit dem reinsten Ernst fühlen.“ BB 197: „Ueberhaupt wird auch unsere Ehe ebenso fromm sein als heiter […].“ BB 260: „Aber sieh nur, wie ich aus dem größten Ernst in den Muthwillen hinein gekommen bin. Magst Du das auch? Ach was wirst Du es nicht mögen, Du verstehst es ja, wie das alles Eins ist in mir, und weißt, wie die Liebe auf das schönste Ernst und Scherz, Andacht und Muthwillen bindet und einiget, eines durch das andere belebend und heiligend.“ So tadelt Schleiermacher seine Jette immer wieder zum Scherz. Vgl. BB 225: „Deinen lieben herrlichen Brief […], für den ich Dir ganz rasend danke, ohnerachtet er so fatal und unausstehlich lang ist. Nein, […] wie kannst Du Deinen [sic] vielbeschäftigten gelehrten berühmten Mann zumuthen, acht Blätter voll, ganz unbedeutende Dinge hintereinander zu lesen und das mehr als einmal? […] was möchte ich Dir die lieben Finger abküssen für all das liebe zärtliche süße Schreiben.“ Vgl. auch BB 212. 238. Schleiermacher scherzt mit Krankheitszuständen und Vorwürfen: BB 270: „Weißt Du wol, ich habe Dich im Verdacht, Du bist Schuld, daß ich jezt so unwohl bin. Du hast gewiß einmal gewünscht, ich
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nung auf die Ernsthaftigkeit der Liebe, die ihr Ruhe und Bestimmtheit gibt¹⁰⁰⁵ und deutlich macht, dass die Liebe bei aller Leichtigkeit Gewicht hat, was besonders an der Erfahrung der Sehnsucht spürbar wird.¹⁰⁰⁶
Der Scherz als Kommunikationsmodus der Liebe Je bedeutsamer und ernster einem etwas ist, desto schwerer tut man sich gemeinhin damit, darüber zu reden, weil man es damit zur Disposition stellt und der Gefahr des leichtfertigen Urteils durch Andere aussetzt. Seiner Braut bekennt Schleiermacher: […] ich kann bei meiner armen Seele keinem Menschen ein ordentliches Wort von Dir sagen. Theils ist das wohl die Natur der Liebe, theils meine besondere, theils auch in den weiten Kreisen ekelt mich der Gedanke an, daß die Leute immer den dummen Spruch im Sinne haben ‚die Liebe ist blind‘, und daß sie dann nicht wissen, wo sie anfangen sollen abzuziehn und zuzusezen, so daß es eben so gut ist, als sagte am ihnen nichts, darum kann ich ihnen auch nichts geben als Schaum und Scherz.¹⁰⁰⁷
möchte jünger sein. Warum kämen mir sonst auf einmal alle die Uebel zurük, an denen ich in meinen jüngeren Jahren gelitten habe?“ BB 273: „Ich kann auch ordentlich wünschen, daß ich noch etwas Schmerzen übrig behalte für Dich, aus reiner Eitelkeit; denn ich bilde mir ein, daß ich ziemlich liebenswürdig damit bin.“ Er spielt mit der Phantasie in der Krankheit bei ihr zu sein: „Ich möchte Dir nun so gern danken durch die zärtlichsten Liebkosungen, aber die Assa foetida [auch bekannt als Stinkasant oder Teufelsdreck – CR] stört mich so, daß ich es wirklich nicht weiter bringen kann als zu einem innigen Blikk, in dem ich alle meine Liebe ausdrükken möchte, und zu einem Kuß auf den Arm oder die Schulter oder sonst einen unbedeutenden Ort. Aber seze Dich lieber auf den Sofa und laß mich meinen Kopf auf Deinen Schooß legen, und so in Dein holdes Angesicht hinaufsehn.“ (BB 263) Weiter: BB 377: „Ich sage Dir gute Nacht, aber ich gebe Dir keinen Kuß; denn ich bin ganz durchzogen von Löffelkraut Spiritus.“ Schleiermacher droht und kritisiert: „Du hast alle Ursache, Dich in Acht zu nehmen, daß ich Dir nicht irgend einen Schabernak dabei anthue, so muthwillig bin ich, etwa Dich unversehens in die Schulter beiße nur ein ganz klein wenig, oder sonst so etwas.“ (BB 304). In BB 321 ergeht sich Schleiermacher im ironischen Ton, dass Jette gar nicht schön und geistreich sei. Und selbst mit der Hochzeitsplanung scherzt er: „Du siehst, die Sache wird nachgerade ernsthaft, liebe Jette, wenn Du noch Bedenken hast, so besinne Dich bei Zeiten. Ach, süße Jette, ich verberge mein Gesicht an Deiner Brust und bitte Verzeihung über den schlechten Spaß. Gieb sie mir in einem langen süßen lieben Kuß und sage es mir recht innig, daß Du ganz mein bist.“ (BB 349). Stets bleibt er hierbei seinem Anspruch treu, nicht über die Liebe und die Beziehung selbst, sondern bloß über Einzelheiten, kleine Schwächen und Äußerlichkeiten seine Späße zu machen. Vgl. BB 178: „[…] wie will ich Dir schmeicheln, wie will ich Dir liebkosen, wie will ich Dich auf Händen tragen, und wie tüchtig und ernst soll auch wieder das ganze Leben sein.“ BB 322: „Gieb mir nun zum sichern Zeichen einen Kuß, einen solchen, der allen Scherz und Uebermuth verzeiht und seinen Werth anerkennt.“ Vgl. BB 199: „Bist Du nicht auch manchmal ein wenig ungeduldig? ich sehr oft, aber immer auf eine lustige Art und so, daß ich mich selbst zum Besten habe. […] Aber sehnen kann ich mich dann auch recht innig, und das ist gar nicht komisch […].“ BB 381 f.
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Der Scherz begegnet hier als kommunikativer Schutzmechanismus. Er soll verhindern, dass jemand, der die individuelle Gemütslage eines Liebenden nicht nachvollziehen kann oder will, sie zu greifen bekommt und, sei es aus Gedankenlosigkeit oder Spott, entweihen kann. Im Briefzitat gibt Schleiermacher aber noch einen weiteren Hinweis: Könnte es sein, dass es in der ‚Natur der Liebe‘ selbst liegt, überhaupt nicht angemessen kommuniziert werden zu können? Steht die Liebe nicht in einer so engen Verbindung mit dem inneren Erleben, dass sie gar nicht angemessen mitgeteilt werden kann, weil sie dabei unweigerlich via eines basalen Abstraktions- und Klassifikationsverfahrens auf Distanz gebracht werden müsste?¹⁰⁰⁸ Der Scherz über die Liebe wäre in diesem Fall gleich der Strategie eines Gegenfeuers: man wehrt der Möglichkeit eines unwillkürlichen Kommunikationsfehlers, indem man ihn präventiv bewusst begeht und grenzt dessen schädliche Wirkung damit auf ein kalkulierbares Maß ein.¹⁰⁰⁹ Friedrich Schlegels Ironiekonzept und Scherzemphase hat hierin eine ihrer Begründungen. Mit ihnen reflektiert er auf die Problematizität von Kommunikation und bietet einen Modus zu deren praktischer Bearbeitung an.¹⁰¹⁰ Schlegel geht aber noch einen Schritt weiter. Für ihn ist der Scherz nicht nur der Modus für die Außenkommunikation der Liebenden, sondern bestimmt auch deren
Vgl. dazu Luhmann, Liebe, 155 f: „Inkommunikabilität ist nicht zureichend begriffen, wenn man nur an die Beschränkungen des sprachlichen Ausdrucksvermögens denkt. […] Es geht, sehr viel radikaler noch, um das Problem, ob es nicht, und zwar gerade in Intimbeziehungen, Sinn gibt, der dadurch zerstört wird, daß man ihn zum Gegenstand einer Mittheilung macht. […] Es kann […] Sinnerleben geben, das sich nicht kommunizieren läßt, weil die Behauptung einer Differenz von Mitteilung und Information sich in Bezug auf diesen Sinn selbst zerstört. Bildlich gesprochen, kann die Mitteilung nicht kühl bleiben, wenn die Information zu heiß ist.“ Im Lichte dieser Problematik erhält Schleiermachers Lob der Lucinde nochmals eine eigene Bedeutung: „Hier hast Du die Liebe ganz und aus einem Stück, das Geistigste und das Sinnlichste nicht nur in demselben Werk und in denselben Personen neben einander, sondern in jeder Aeußerung und in jedem Zuge aufs innigste verbunden.“ (L 150). Vgl. Luhmann, Liebe, 157: Im 18. Jahrhundert entsteht ein scharfes Bewusstsein für die Formabhängigkeit der Kommunikation und die Unwahrscheinlichkeit von deren Gelingen. „Nie wieder hat es ein so reichhaltiges Repertoire an Versuchen gegeben, mit solchen Situationen zurechtzukommen. Das bewußt spielerische Handhaben der Formen war eine der Möglichkeiten. Andere lagen im Paradoxieren, in der Ironie, im Zynismus. Das heißt: man sieht den Kommunikationsfehler und man übernimmt ihn als Form in die Kommunikation. Um ihn zu vermeiden, begeht man ihn bewußt. So vermeidet man zumindest den Vorwurf, man wisse nicht, was man tue, oder man sei nicht imstande, die Mittel zu beherrschen.“ Vgl. Dilthey, Leben I, 360: „Was der Witz für die Bildung war, ist in dieser Region des [sittlich – CR] schöpferischen Genies die Ironie. Sie ist das Zeichen der über jede Idee, jedes Kunstwerk, jede Gedankenform übergreifenden Macht des Unendlichen im Geist. Sie ist der Ausdruck des tiefen Bewußtseins, daß zwischen jenem Unendlichen und seiner Mittheilung auch in der vollendetsten Schöpfung eine unübersteigliche Kluft bleibt.“ Eine ähnliche Einschätzung zur Funktion der Ironie bietet auch Dux, Geschlecht, 419. Er führt fort: „In der Kehre des Blicks auf die Praxis der Lebensführung bricht sich die Ironie an der Unmöglichkeit, mit einer radikal ironisch gemeinten Welt und einem radikal ironisch gehaltenen Selbst fertig zu werden.“ Dies wiederum zu reflektieren, ist es, was ‚die Ironie der Ironie‘ auszeichnet (ebd., 420).
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Umgang miteinander. Wir haben bereits festgehalten, dass er das Verschmelzungsparadigma der Liebe vertrat. Die umfassende Einheit zweier Liebender aber macht ihre Beziehung auch für sie selbst inkommunikabel. Daher bedarf es nach Schlegel auch für sie der Uneigentlichkeit des Scherzes, um ihre Liebe fassen zu können. Anders liegt die Sache bei Schleiermacher. Weil er eine bleibende Differenz der Partner annimmt, ist es ihnen möglich, ihr Verhältnis zueinander auch in der ungebrochenen Weise der Eigentlichkeit und Ernsthaftigkeit zu thematisieren – die aller Kommunikation notwendige Operation der Differenzsetzung muss nicht künstlich herbeigeführt werden, sondern ist qua Zuständlichkeit der Partner bereits gegeben. Die unterschiedliche ethische Bewertung von Ausgelassenheit und Schamhaftigkeit, die beide Denker vornehmen, wirkt im Lichte dessen fast wie eine bloß sekundäre Folgerung: wo Differenz ist, müssen ethische Regularien in Kraft bleiben, wo Einheit ist, kennt der Übermut kein Pardon.¹⁰¹¹
3.2 Institutionalisierungstendenzen In der ersten seiner Reden über die Religion versucht Schleiermacher deren ‚Verächter‘ für sich zu gewinnen, indem er die Differenz aufzeigt zwischen der Religion als solcher und der Institution, die sie in vielerlei und durchaus mit Recht zu kritisierender Weise korrumpiert habe.¹⁰¹² Die Unterscheidung von Glaube und Kirche ist nicht allein ein rhetorisch-apologetisches Mittel, sondern verweist auf eine ernst zu nehmende strukturelle Spannungslage. Emotive Regungen und intelligible Kulturgüter streben nach sozialer und materialer Konkretion. Deshalb führt Schleiermacher in seiner vierten Rede die Kirche als notwendigen Kommunikationsort der Religion wieder ein.¹⁰¹³ Der verständliche Ausdruck bzw. die sinnvolle Manifestation von Gefühlen kann allerdings nicht unmittelbar sein, sondern folgt Kommunikationsmechanismen und Formprinzipien, die sich restriktiv auf ihren Inhalt auswirken. So entwickeln Institutionen schließlich Eigendynamiken, die sich potentiell sogar gegen ihren ursprünglich intendierten Zweck richten. Was für das Verhältnis von individuellem Glauben und institutionalisierter Kirche gilt, gilt ebenso für das Verhältnis von Liebe und Ehe. Auch hier stellt sich die Frage, inwiefern die Emotion der institutionellen Absicherung bedarf und durch diese gestärkt und sublimiert wird; inwiefern sie durch diese hingegen auch eingeengt und potentiell zum Erliegen gebracht wird. Für das romantische Konzept der ‚Liebesehe‘, die eben keinen anderen Zweck als die Liebe der Partner selbst mehr kannte, musste diese Problematik besonders drängend werden.
Vgl. Nowak, Schleiermacher und die Frühromantik, 282 f. Vgl. R 189 – 205. Vgl. R 266 – 292.
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Die Leistungskraft der Institution Ehe Anders als für den jungen Friedrich Schlegel war für Schleiermacher die Institution der Ehe ein unverzichtbares Gut. Sie verbürgte die ethische Produktivität der Liebe, die deren freie Form nicht zu generieren vermochte. An der Institution der Ehe werden die Wirkungen der Liebe manifest, die über das reine Füreinandersein der Partner hinausweisen.¹⁰¹⁴ Es war mithin nicht erst der reife Güterethiker, der Sinn für die Bedeutung von Institutionen hatte. Mit dem Wechselverweis von Liebe und Ehe gehen zugleich Verschiebungen am Konzept der Ehe einher, die sich bündeln lassen im Begriff der Verinnerlichung. Entscheidendes Datum für den Übergang in den Ehestand, so interpretiert Paul Kluckhohn die Vertrauten Briefe, sei die Aufhebung des ‚Zueinanderstrebens‘ in das ‚Bewußtsein des Einsgewordenseins‘.¹⁰¹⁵ Im Sinne dessen schreibt Schleiermacher an seine Braut, das gemeinschaftliche Gefühl der Brautleute über ihre Verbindung sei „die unmittelbare Wahrheit von der Sache“.¹⁰¹⁶ Seinen Predigten über die Ehe – sowohl den Hausstandspredigten als auch den Traureden – lässt sich die gleiche Tendenz ablesen. Die klassische Figur von der Stiftung der Ehe durch die Schöpfungsordnung, die sie vorrangig als äußerlich tätige Einstimmung in den gesellschaftlichen Gestaltungswillen der Gottheit versteht, wird von Schleiermacher abgeblendet zugunsten ihrer Reflexion anhand der mystisch-innerlichen Einheit von Christus und Gemeinde.¹⁰¹⁷ Nicht aus der Orientierung auf externe Wahrheiten, sondern aus dem wechselseitigen Füreinandersein der Partner selbst erwächst die ethische Kraft der Ehe. Der Objektivierungsfunktion der Ehe ist damit nicht widersprochen. So wie die Einheit mit Christus für die Gemeinde eine neue Lebenswirklichkeit schafft, so besitzt auch die institutionalisierte Paarbeziehung Überschusspotentiale. „Eheliche Gemeinschaft ist nicht allein die Bejahung eines Partners, sie ist auch die Bejahung einer Lebensform.“¹⁰¹⁸ Ebendiese schafft für die Emotion und den unsteten Trieb einen Stabilisationsrahmen, der von Schleiermacher nach zwei Seiten hin ausgelegt wird: dem tätigen, bildenden Leben einerseits¹⁰¹⁹ und der ‚himmlischen Seite‘ der Ehe, d. h.
Vgl. PhE 53 (zur Zitation dessen s.o. II.1.2.1). Kluckhohn, Liebe, 442. BB 150. Vgl. Trillhaas, Schleiermachers Predigt, 109. Rössler, Grundlagen, 55 [Hervorhebung getilgt – CR].Vgl. weiter ebd., 56: „In der Geschichte einer Ehe wird aus der gemeinsamen Biographie zweier Menschen eine sie umfassende und objektivere Lebenswirklichkeit, von der her wiederum gemeinsame Verhaltensformen und Einstellungen gegenüber anderen und im Verhältnis zur Gesellschaft geprägt werden.“ Vgl. auch Siebel, Herrschaft, 25: „Ihr [sc. der Ehe und Familie – CR] Leitbildcharakter ist zugleich die Basis individueller Sinnstiftung, insofern durch ehelich-familiales Zusammenleben die gesamte Biographie des einzelnen inhaltlich strukturiert wird.“ Detaillierter dazu s.u. II.3.3.4. Paradigmatisch vgl. L 164 (zur Zitation dessen s.o. II.3.1.1).
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der geistigen Gemeinschaft der Partner, die deren je momentanes Zumutesein überwölbt und orientiert andererseits.¹⁰²⁰ Dietrich Rössler vertritt die These, dass das Ineinander von Unmittelbarkeit und Ordnung bereits zum urprotestantischen Erbe gehöre und verbindet sie mit der soziologischen These von der Entlastungsfunktion der Institutionen.¹⁰²¹ „Erst die akzeptierte Ordnung macht die personale Verantwortung möglich. Denn die Ordnung bildet als Rahmen für die Verantwortung auch deren Grenze.“¹⁰²² Wie ein Kommentar zu den in Schleiermachers früher Tugendlehre beschriebenen zwei Egoismen, die mit Einseitigkeiten im Paarkonzept einhergehen,¹⁰²³ liest es sich, wenn Rössler weiter schreibt: Personale Verantwortung heißt gerade nicht, daß jederzeit das Ganze der Ehe zur Disposition und auf dem Spiel stünde. […] Der andere Mensch, der allein das sinnvolle Gegenüber im Prozeß der Verantwortung sein könnte, würde ja gerade dieser seiner Qualifikation beraubt und aus dem Spiel gebracht werden [, wenn der einzelne sich das Recht herausnähme über den Status der Beziehung als ganzer und deren Fortbestand zu befinden – CR]. […] Die durch die verbindliche Ordnung begrenzte Verantwortung ist diejenige, die sich den konkreten Aufgaben zuwenden kann, weil die Grundsätze nicht mehr zur Diskussion stehen.¹⁰²⁴
In seiner Diskussion von Schleiermachers Ehekonzept macht Hermann Ringeling darauf aufmerksam, dass die Institution der Ehe nicht nur von der Dauerentscheidung für oder gegen den Partner entlastet, sondern auch von Bewertungen, welchen Nutzwert der gegenwärtige Status der Beziehung für die eigene Entwicklung hat.¹⁰²⁵ Damit verweist er auf das Paradoxon, dass gerade durch die Dispension von Sinnanforderungen und Optimierungsimperativen, wie sie sich in der Hingabe an die Institution artikulieren, die Erfahrung des sinnhaften Getragenseins gemacht werden kann. Merkwürdigerweise meint sich Ringeling in der Antithese zu Schleiermacher zu befinden, wenn er betont, dass die Ehe keineswegs ein ‚Gefängnis‘ sein muss, sondern sich vielmehr auch als Garant der Freiheit erweisen kann, insofern ihr fester Rahmen
Vgl. Ringeling, Sexualität, 76 f: „Schleiermacher hat gewußt, wie gefährdet eine Gemeinschaft allein aus dem Eros sein würde. Er hat auch den Alltag der Ehe nicht unterschätzt. […] Schleiermacher will die Gemeinschaft der Liebenden deshalb durch zwei komplementäre Verstrebungen, gleichsam nach unten und nach oben, befestigen: durch das tätige Leben zu zweit in dieser Welt und durch die himmlische Seite der Ehe. […] Grundgedanke ist, daß die Ehe einen ‚würdigen Gegenstand‘ nötig habe.“ Vgl. Rössler, Grundlagen, 53 – 55. Rössler, Grundlagen, 53 [Hervorhebungen getilgt – CR]. Vgl. PhE 53 (zur Zitation dessen s.o. II.1.2.1). Rössler, Grundlagen, 54. Demgegenüber beobachtet Rössler in nichtehelichen Paarbeziehungen eine Tendenz zur andauernden Selbstthematisierung der Beziehung – mit der Gefahr egozentrische und neurotische Züge anzunehmen –, die an die Stelle dessen tritt, was in Ehen die verbindliche Ordnung leistet (ebd., 54 f). Ringeling, Sexualität, 82.
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es ermöglicht, „daß die Partner mehr von sich in ihr unterbringen, als ein frei bleibendes Verhältnis vertragen würde. Während nämlich das letztere dazu nötigt, sich zumindest in der Tendenz fugenlos auf das Gegenüber einzustellen, eröffnet die Dauer der Institution einen Spielraum gleichsam für den individuellen Überschuß in der Beziehung.“¹⁰²⁶ Schleiermachers Betonung der bleibenden Individualität in der Liebe und der Bedeutung der Institution, wie er sie im Gegenüber zu Friedrich Schlegel artikuliert, weist doch in genau diese Richtung.¹⁰²⁷
Der Leitbildcharakter der Ehe Angesichts der steigenden Zahlen nichtehelicher Lebensgemeinschaften und deren gesellschaftlich breiter Anerkennung in der Gegenwart mag es antiquiert erscheinen, die Bedeutungsdimensionen der Institution Ehe herauszuheben.¹⁰²⁸ Bei genauerem Hinsehen haben wir es allerdings kaum mit einem Bedeutungsverlust der Ehe zu tun. Dieser wäre nur dann gegeben, wenn die freie Partnerschaft als Gegenentwurf und Alternative zur Ehe profiliert würde,¹⁰²⁹ was hingegen kaum der Fall ist.¹⁰³⁰ Statt-
Weiter heißt es: „Gemeint sind Eigenschaften, Verhaltensweisen, Bindungen, die nicht unmittelbar auf den Ehepartner ausgerichtet und auf ihn abgestimmt, sondern von einem nicht sogleich verrechenbaren, der Gemeinschaft gutzuschreibenden Wert für den einzelnen sind.“ (Ringeling, Sexualität, 80 f). Zugespitzt finden wir die These von den Institutionen als Garanten der Individualität und der Freiheit bei Arnold Gehlen: „Der Mensch weiß nicht, was er ist, daher kann er sich nicht direkt verwirklichen, er muß sich mit sich durch die Institutionen vermitteln lassen. Gegensätze und Spannungen bedürfen nicht der Versöhnung, sondern der Institutionalisierung, um sie geregelt auszutragen, und gegen den gewaltigen Anprall der Gleichheitsregie, die herrschen will, findet man nur Schutz in Einrichtungen, die sich verteidigen lassen.“ (Gehlen, Moral, 100). Eine pointiert sexualethische Aufnahme dessen bietet Schelsky, Soziologie, 63 f. Erkennbar nicht ohne normatives Gefälle kontrastiert André Béjin gleichwohl in seiner Pointiertheit aufschlussreich die gegenwärtige Gestalt und Anerkennung nichtehelicher Partnerschaften mit deren Funktion, Gestalt und Bewertung in der Geschichte (ders., Trauschein). Zur Zunahme von Partnerschaften ohne gemeinsamen Haushalt und nichtehelichen Kohabitationen gegenüber der Ehe unter den jungen Erwachsenen (18- bis 35jährigen) im Zeitraum von 1968 bis 1988 vgl. Klein, Verbreitung. Wohl lässt sich eine Abnahme der partnerschaftlichen Institutionalisierung im Sinne der Ehe beobachten, nicht aber eine Abnahme, sondern vielmehr eine leichte Zunahme von Bindungen. Die gesellschaftliche Tendenz einer Individualisierung und Pluralisierung führt kaum zu einer Pluralisierung der Lebensformen, sondern allenfalls zu einer leichten Deinstitutionalisierung der hergebrachten Partnerschaft (Klein, Verbreitung, 89 – 91). Ob dies unmittelbar die These nach sich zieht, „Ohne sozialen Druck keine Ehe“, wie sie Hill/Kopp, Nichteheliche Lebensgemeinschaften, 13 anführen, wird unten, im Rahmen der Frage nach etwaigen intrinsischen Motivationen zur Eheschließung, zu diskutieren sein. Zur internen Aporetik eines solchen Versuchs vgl. Simmel, Geschlechter, 275: „Die Vorschläge, die Ehe durch freie Liebe zu ersetzen, entsprechen der Tendenz des Futurismus, der jetzigen religiösen Mystik usw. im Wandel der Kulturformen. Die alte Form ist ausgelebt, die neue noch nicht geschaffen, so glaubt man im formlosen den angemessenen Ausdruck für das drängende Leben zu haben. Aber es bleibt derselbe Widerspruch wie im Expressionismus. – Freilich auch hier das tragische Grundphä-
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dessen erscheint sie als Erprobungsphase, oder genauer: als nichtintendierte, potentielle Vorstufe zur Ehe.¹⁰³¹ In den seltensten Fällen entscheiden sich Paare bewusst für eine nichteheliche Lebensgemeinschaft.¹⁰³² Diese oft mehrjährige Phase in ihrer Biographie ergibt sich vielmehr aus lebenspragmatischen Gründen von selbst und wird unter Umständen, wie noch genauer zu explizieren sein wird, in eine Ehe überführt.¹⁰³³ Gegen die These vom Bedeutungsverlust der Ehe lässt sich noch ein zweiter Einwand erheben. Er ergibt sich aus der Interpretation des Befundes, dass das Heiratsalter in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich angestiegen ist und damit zugleich die Anzahl der Eheschließungen abgenommen hat,¹⁰³⁴ als Hinweis darauf, dass die Ehe nicht an Bedeutung verloren, sondern – im Gegenteil – gewonnen hat. Wer sich die Zeit für eine lange Erprobungsphase nimmt und den Mut hat, diese auch noch nach mehreren Jahren als gescheitert aufzufassen, gibt damit zu erkennen, dass er um die Reichweite der Entscheidung zur Ehe weiß.¹⁰³⁵ Bedeutungsaufladung und Brüchigkeit bzw. quantitativer Rückgang entsprechen sich also.¹⁰³⁶ Insofern Eheschließung und Familiengründung nicht mehr als ökonomische, gesellschaftliche und ethische Notwendigkeit erscheinen, gewinnen sie an identifikatorischer Valenz. Weil sie sich einem bewussten Entscheidungszusammenhang verdanken, können sie
nomen: daß das Leben sich eine Form schafft, die ihm zwar unentbehrlich ist, aber schon durch die Tatsache, daß sie Form ist, gegen die Bewegtheit wie gegen die Individualität des Lebens feindselig ist.“ Vgl. dazu auch ebd., 186. Gemäß Schulz u. a., Familienleben, 47 f ist die Mehrzahl der Verheirateten sowie der Nichtverheirateten nicht der Meinung, die gesellschaftliche Entwicklung tendiere zu einer Auflösung der Ehe. Und wenngleich die Ehe auch nicht mehr das einzig gültige Lebensmodell ist, streben die Wenigsten der Befragten ein ‚Zusammenleben prinzipiell ohne Trauschein‘ an.Vgl. auch die These bei Franz-Xaver Kaufmann, es gäbe keine (institutionelle) Alternative zur Familie: „Die tatsächlich zu beobachtende Pluralisierung familialer Lebensformen ist also nicht als Signal einer neuen Familienauffassung zu werten, sondern als Symptom für die zunehmenden Schwierigkeiten, dem nach wie vor gültigen Familienleitbild zu entsprechen.“ (Ders., Familie, 119 [Hervorhebung getilgt – CR]). Im Zeitraum von 7 bis 10 Jahren tritt eine so große Vertrautheit ein, dass signifikante Veränderungen nicht mehr zu erwarten sind. Entweder wird der Status dann als erhaltenswert eingeschätzt oder als unfruchtbar. Ausdruck dessen sind Trennung oder Eheschließung. Das sprichwörtliche ‚verflixte siebente Jahr‘ beschreibt den einschneidenden Entscheidungscharakter, der jener Partnerschaftsphase einwohnt. „Untersuchungen aus Schweden zeigen [nämlich], daß nach maximal sieben bis zehn Jahren sich die Nichteheliche Lebensgemeinschaft auflöst oder sie in eine Ehe überführt wird“ (Nave-Herz, Lebensgemeinschaft, 51). Vgl. auch Matthias-Bleck, Etablierung, bes. 69 – 71. Etwas anders verhält es sich bei Partnerschaften in reiferen Jahren. Nach einer Scheidung oder der Verwitwung sind freie Partnerschaften keine Seltenheit. Aber auch diese haben oft eher pragmatische als programmatische Gründe, wie etwa den Erhalt von Witwenrente. Vgl. Lauterbach, Dauer, bes. 301– 304. Den Zahlen dieser Studie nach werden mehr als die Hälfte aller ersten Kohabitationen wird in eine Ehe überführt. Vgl. Kaufmann, Zukunft der Familie. Stabilität, 95 – 97. Vgl. H 254– 256. Vgl. auch Schulz u. a., Familienleben, 48. Dasselbe werden wir mit Blick auf die Häufung von Scheidungen (s.u. II.3.3.2) und den Rückgang von Kinderzahlen (s.u. III.1.1) beobachten.
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als Ausdruck des individuellen Lebens- und Gestaltungswillens interpretiert werden. Der Akt der Eheschließung ist nunmehr zwar selten noch ein ‚rite de passage‘, mit dem sich die Loslösung von den Eltern, die Einrichtung eines eigenen Haushalts und die entsprechende ökonomische Autarkie verbindet; wird als ‚rite de confirmation‘, also der Bestätigung der bestehenden Paarbeziehung und dauerhaften Verpflichtung auf dieselbe, jedoch kaum als weniger bedeutsam empfunden.¹⁰³⁷
Institutionalisierungsstufen von Paarbeziehungen ¹⁰³⁸ Rückt die Eheschließung paarbiographisch nach hinten, so ist es selbstverständlich, dass Bindung und Verbindlichkeit nicht mehr erst mit ihr ins Spiel kommen. Unter dem Begriff der ‚Selbstinstitutionalisierungstendenzen‘ von Paarbeziehungen befasst Karl Lenz den Sachverhalt, dass sich eine Paareinheit bereits im Übergang von Kommunikationsmustern, wie dem Wechsel von „Ich mache morgen… und Du?“ zu „Was machen wir morgen?“ konstituiert.¹⁰³⁹ Nach den vier Stadien, die Paul Hill und Johannes Kopp bei der Intensivierung von Paarbeziehungen ausmachen, handelt es sich hierbei um den Übergang von der ersten zur zweiten Stufe, d. h. vom ‚SingleDasein‘ zur ‚Partnerschaft‘.¹⁰⁴⁰ Motiviert wird dieser Schritt v. a. durch „drei Komponenten, die sozio-emotionale, die sexuelle und die gesellschaftliche“.¹⁰⁴¹ Sie alle drängen den Einzelnen zur Partnersuche. Mit der Stabilisierung der Partnerschaft sinken sodann die ‚Such-‘ und ‚Transaktionskosten‘ und der ‚Nutzen‘ überwiegt.¹⁰⁴² Der Übergang von der Partnerschaft zur Kohabitation ist die Folge bzw. der Ausdruck einer Verdichtung der partnerschaftlichen Interaktionen.¹⁰⁴³ Durch ihn lassen sich Transaktionskosten reduzieren und es lässt sich eine Effizienzsteigerung in der Haushaltsführung erreichen. Von der Ehe unterscheidet sich die Kohabitation dadurch, dass hier typischerweise keine größeren gemeinsamen materiellen Investitionen getätigt werden und keine (gemeinsamen) Kinder vorhanden sind; schließlich
Vgl. Nave-Herz, Lebensgemeinschaft, 50 f. Mit den hier vorgenommenen Ausführungen verlassen wir Schleiermacher. Die gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Entwicklungen, die sie voraussetzen, gehen freilich über ihn und seine Zeit hinaus. Vgl. Lenz, Zweierbeziehung, 192– 194. Als dritte Stufe benennen sie die ‚Kohabitation‘ und als vierte schließlich die ‚Ehe‘. Vgl. Hill/ Kopp, Nichteheliche Lebensgemeinschaften, 22– 31. Hill/Kopp, Nichteheliche Lebensgemeinschaften, 24. Es handelt sich hierbei offensichtlich um ein markttheoretisch inspiriertes Konzept. So kühl ‚rational-choice-Modelle‘ wie die ‚Austauschtheorie‘ oder die ‚Familienökonomie‘ auch klingen, so offen erweisen sie sich doch für ethische Folgerungen. Vgl. Hill/Kopp, Nichteheliche Lebensgemeinschaften, 17– 22. Verwiesen sei auf die Interdependenz von Investitionskalkulation und emotionaler Bindung. Viele emotionale, aber auch ökonomische Güter lassen sich in einer Partnerschaft nur erwerben, wenn Sicherheit, Beständigkeit und Vertrautheit bestehen. Diese wiederum setzen der kühlen Vorteilskalkulation des Einzelnen sodann Grenzen. Vgl. hierzu Hill/Kopp, Nichteheliche Lebensgemeinschaften, 25 f.
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bietet sie kaum Absicherungen für solch nachhaltige Investitionen, da die Trennungskosten deutlich geringer sind, als im Fall der Ehe. Im Sinne dessen betont JeanClaude Kaufmann die hohe Bedeutung der gegenständlichen Haushaltswelt für die Konsolidierung einer Paarbeziehung.¹⁰⁴⁴ Mit dem Eingehen einer Ehe wird schließlich die soziale, juristische und religiöse Verbindlichkeit der Partnerschaft erhöht.¹⁰⁴⁵ Sie entspricht nach wie vor den gesellschaftlichen Erwartungen an eine reife, feste Paarbeziehung. Empirisch lässt sich dieser Schritt häufig an der Schnittstelle von der Ausbildung zum Berufseinstieg beobachten.¹⁰⁴⁶ Hier stehen sodann große Investitionen an, die der Absicherung bedürfen. Die wahrscheinlich weitreichendste und entsprechend absicherungsbedürftigste Investition ist die Familiengründung. Dies – und wahrscheinlich weniger der zunehmend an Plausibilität einbüßende ethische Makel des unehelichen Kindes¹⁰⁴⁷ – ist es, was den Befund erklärt, dass im Fall einer Schwangerschaft nicht selten, wenn auch mit abnehmender Tendenz, zeitnah geheiratet wird.¹⁰⁴⁸
Einführung der Unterkapitel In drei Hinsichten wollen wir im Folgenden den produktiven Spannungspotentialen der romantisch aufgeladenen und religiös gedeuteten Institution Ehe, wie sie Schleiermacher vorstellt, nachgehen. Sie alle leben von der unaufhebbaren und zugleich unverzichtbaren Differenz zwischen emotionaler Aufladung bzw. idealisierender Deutung auf der einen Seite und pragmatischer Charakterisierung auf der anderen Seite. Dem Ideal des exklusiven Zusammengehörens steht die Kontingenz des Zusammenfindens zweier Partner gegenüber (1.); die Liebesbeziehung, die im erfüllten Augenblick ihren Glutkern erblickt, soll in eine dauerhafte Gemeinschaft überführt
Kaufmann, Mit Leib und Seele, 69 – 73. Das romantische Liebes- und Familienideal bliebe abstrakt und würde kaum zu einer Verfestigung der Beziehung führen, wären da nicht die Dinge des Haushalts. „Die Dinge markieren eines nach dem anderen verschiedene Etappen der Produktion des Familialen.“ (Ebd., 71). „[…] das Bett als Gründungsobjekt, die Waschmaschine als Indikator für eine wesentliche Integrationsetappe, der Fußabtreter als Symbol der Etablierung in einem neuen Wertesystem, und schließlich der Gegenstand aller Gegenstände: das Haus“ (ebd., 73). Detaillierter zur paarkonstitutiven Kraft der Anschaffung einer gemeinsamen Waschmaschine: Kaufmann, Schmutzige Wäsche, 80 – 87. Vgl. hierzu Hill/Kopp, Nichteheliche Lebensgemeinschaften, 29. Es sind jedoch nicht nur Reifeprozesse, die sich begünstigend auf partnerschaftliche Institutionalisierungsprozesse auswirken. Auch das Zerbrechen bzw. Prekärwerden der Herkunftsfamilie sowie der oft damit verbundene Stress und die ökonomische Deprivation fördert die (frühe) Aufnahme und Festigung von Partnerschaften. (Kopp u. a., Institutionalisierungsprozesse, 63 – 77). Gleichwohl ist zu bemerken, dass bei der Familiengründung häufig auch Traditionalisierungsmechanismen in Kraft treten, wie wir bereits anhand der ehelichen Arbeitsteilung gesehen haben (s.o. II.2.2). Vgl. Matthias-Bleck, Ehe. Im Gegenzug erhöht eine lang andauernde Kinderlosigkeit in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft stark das Risiko einer Trennung derselben (Lauterbach, Dauer, 301).
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werden (2.); und die Partnerschaft, die ihren Zweck in sich selbst finden will, sieht sich mit lebenspraktischen Anforderungen und Zweckrationalismen konfrontiert (3.).
3.2.1 Zusammengehören und Zusammenfinden Die relative Kontingenz des Zusammenfindens Nahezu resignativ muss der ‚monologisierende‘ Schleiermacher konstatieren, dass verwandte Seelen einander nur „durch Zufall […] im engen Umkreis“ ihres „äußern Lebens“ finden.¹⁰⁴⁹ Der Heiratsmarkt schien ihm schlichtweg zu begrenzt, als dass eine annehmbare Wahrscheinlichkeit für diesen Zufall gegeben gewesen wäre. Dass es „Keines Geschäft“ ist, „die Menschen die einander bedürfen, näher sich zu bringen“,¹⁰⁵⁰ kann man angesichts der steigenden Bedeutung von Dating-Portalen inzwischen zwar nicht mehr sagen; gleichwohl bleibt es selbst, wo diese zur Hilfe genommen werden, letztlich kontingent, wer mit wem, schon gar dauerhaft, zusammenfindet. Beim „engen Umkreis“ für die Partnerwahl ist es gemeinhin geblieben. Partner werden zumeist im sozialen Nahfeld von Freundeskreis, Arbeitsplatz, Verein und Wohngebiet gefunden.¹⁰⁵¹ An Schleiermachers implizite Annahme, dass vielleicht irgendwo anders im Land – über Kulturgrenzen hinweg zu heiraten konnte auch er sich nicht vorstellen¹⁰⁵² – der passendste Partner zu finden wäre, heftet man in der gegenwärtigen Paarsoziologie ein Fragezeichen. Vielmehr hat sich hier gezeigt, dass mit der räumlichen und milieuspezifischen Nähe der ‚Heiratsmarkt‘ in einer Weise vorstrukturiert wird, welche ein Zueinanderpassen potentieller Partner in verschiedenen relevanten Zusammenhängen relativ wahrscheinlich macht.¹⁰⁵³ Die soziale Schicht bzw. das Bildungsniveau bilden das moderne Äquivalent zu den früheren Standesgrenzen,¹⁰⁵⁴ über die hinaus zwar freilich geheiratet werden darf, jedoch selten tatsächlich geheiratet wird. ¹⁰⁵⁵ M 30. M 31. Vgl. Hill/Kopp, Zwänge, 25 f. Klein/Lengerer, Gelegenheit. Zur extrem hohen Bedeutung (wohn‐) räumlicher Nähe für die Konstitution von Paarbeziehungen vgl. Lengerer, Geographie. Im Ethikkolleg von 1812/13 markiert Schleiermacher als Minimalgrenze des Heiratsmarktes das Inzesttabu (s.o. II.1.2.2) und als Maximalgrenze die Nation: „Dieses Herausgehn darf deshalb aber nicht gesezt werden als in das möglichst Ferne, sondern hat sein Maaß darin, daß eine Wahlanziehung möglich sein muß, welches eine Andeutung giebt auf die höhere gemeinschaftliche Eigenthümlichkeit, nemlich die Nationalität.“ (PhE 331, § 64). Vgl. Klein/Lengerer, Gelegenheit. Hill/Kopp, Zwänge, 25 f. In pathetischem Ton erklärt Hermann Keyserling: „Die Menschheit findet auf erhöhtem Individualisiertheitsniveau zum ewig gültigen Ideal der Standesehe zurück.“ (Ders., Gattenwahl, 237). Das bedeutet bei ihm so viel, als: „nur niveaugleiche Menschen können sich im Guten ergänzen.“ Eine gute Ehe baucht „Ebenbürtigkeit“ der Partner (ebd., 245). „Auf das lebendige Niveau kommt alles an – dessen Dasein aber wird durch keine Ahnenprobe sicher verbürgt.“ (Ebd., 246). Bei Schleiermacher finden wir dies bereits vorgezeichnet, insofern er eine Heirat über die Standesgrenze hinweg zur Gewissensentscheidung erklärt, d. h. ihre Wahl dem Einzelnen anheim-
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Faktische Wandelbarkeit und postulierte Einzigkeit Trotz entsprechender Passungsmechanismen bleibt es dabei, dass das Zusammenfinden von Partnern kontingent ist. Dies ist angesichts des Bewusstseins um die hohe psycho-emotionalen Bedeutung und Reichweite der Eheentscheidung jedoch für die Meisten schwer zu ertragen. Ihnen drängt sich die Deutung des – je nach Geschmack: prädestinierten – Zusammengehörens auf. Letzteres muss ein ausschließliches sein, wie der junge Schleiermacher seinem Freund Ehrenfried v. Willich gegenüber betont. Selbst wenn man anerkennt, dass sich im Laufe einer Biographie die Loyalitäten ändern können, sei es fatal, diese Einsicht zum Programm zu erheben und die Liebe an sich als etwas Vorübergehendes zu betrachten.¹⁰⁵⁶ Auch Schleiermacher selbst richtete seine Liebe im Laufe seines Lebens nicht nur auf eine Frau, betonte allerdings jeweils deren Einzigkeit und Unüberbietbarkeit.¹⁰⁵⁷ Die Bedingungslosigkeit von Loyalität im Kontrast zu deren lebensweltlicher Brüchigkeit zu betrachten, war kein Novum des romantischen Denkens. Bereits bei Platon fand Schleiermacher entsprechende Überlegungen.¹⁰⁵⁸ Neu war allerdings, stellt, nicht jedoch ohne auf die hierbei zu bedenkenden wirtschaftlichen, rechtlichen und sozialen Folgen, auch für das Verhältnis zu den Eltern und die Lebensverhältnisse potentieller Kinder hinzuweisen. Vgl. ChS 363 f. Zu aktuellen empirischen Befunden zur Sozial- und Bildungshomogamie vgl. Lenz, Zweierbeziehung, 59 f. Haan/Uunk, Ähnlichkeiten. Rüffer, Bildungshomogamie. Vgl. Brief 1082, 180. Schleiermacher selbst befand sich in der Situation dieses Schreibens in aussichtsloser Liebe zu Eleonore Grunow und sein Adressat war ebenfalls verliebt in eine verheiratete Frau, nahm aber Abschied davon und versuchte sich neu zu öffnen. „[…] ich fühlte und fühle noch mit meiner Liebe zugleich ihre Ewigkeit, und es kann kein Gedanke in mir aufkommen die Gaben der Natur in einem andern Verhältniß welches ohne Liebe sein müßte suchen zu wollen oder finden zu können. Dir ist es entgegengesezt ergangen. Dein Sinn war und ist lediglich darauf gerichtet die Bestimmung der Natur zu erreichen, und weil Du Deine Liebe der äußern Verhältnisse wegen im Streit mit dieser Forderung fandest, hast Du sie nur als eine Episode behandelt. Meine Ansicht ist nun daß hierin etwas unrechtes liegt weil es Dich selbst in Widerspruch sezt und Du in diesen Widerspruch noch das innere Leben eines andern Wesens versezest. – Liebe kann vielleicht in manchen Gemüthern wirklich etwas vorübergehendes sein ohne daß sie es wissen, aber sie wissend und überlegend als etwas vorübergehendes zu behandeln, das ist etwas heilloses.“ Detaillierter zur der Liebe notwendigen zeitlichen Entgrenzung ihrer Perspektive s.u. II.3.2.2. So fühlte er sich, wie wir oben sahen (s.o. I.2.2), vor seiner Ehe Eleonore Grunow in unüberbietbarer Weise verbunden, während seine Braut ihren Ehrenfried als ihr Ein und Alles ansah und dennoch deuteten beide ihre spätere Ehe als das Glück des vorherbestimmten Einsseins. Vgl. BB 252: „ich fühle es immer inniger, wie recht, wie wesentlich wir zusammen gehören, wie Du die einzige für mich warst, und wie auch Dich kein Lebender so ganz verstehn und genießen könnte wie ich, ja auch hinter Ehrenfried selbst […] möchte ich mich nicht stellen.“ BB 262: „Ein ununterbrochenes beseligendes Gefühl […]. Es ist dasselbe, was so mächtig in mir wuchs, als ich auf Rügen war, daß ich mich an Dich gebannt fühlte, auch wenn ich Dich nicht sah. Dasselbe Gefühl, daß ich ohne Dich nicht leben kann, weil ich eben in Dir lebe.“ BB 273: „Jezt laß Dir nur danken für Deinen süßen innigen Brief. Wie sehe ich wieder ganz darin das wahre einzige Weib meiner Seele!“ BB 397: „Du, nur Du kannst mit mir durchs Leben gehn.“ Vgl. dazu auch Kluckhohn, Liebe, 444 f. Vgl. Pha 21 (Sokrates relativiert hier die Rede des Lysias in Pha 15 f): „Ferner, wenn um deswillen die Liebhaber wert geachtet zu werden verdienen sollen, weil sie behaupten, ihren Geliebten am meisten ergeben zu sein, und weil sie immer bereit sind, sollten sie auch durch Wort und Tat sich
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dass die Verbindlichkeit einer Beziehung nunmehr auf emotionaler Ebene begründet werden sollte.
Das Gefühl der Zusammengehörigkeit als Äquivalent zu objektiven Bindungsgründen Als Thema für eine Traurede im Jahr 1827 notiert sich Schleiermacher: „Zeitbindende Entschlüsse beruhen auf der mf. Veränderlichkeit auf dem Bewußtsein eines unvergänglichen und die Stiftung der Ehe besonders auf dem einer alles ausgleichenden Zusammengehörigkeit.“¹⁰⁵⁹ In der Predigt hat Schleiermacher offenbar eine argumentatio a minori ad maius angestrengt: wenn bereits Entscheidungen mit begrenzter Reichweite und Dauer einen darüber hinausgehenden und diese garantierenden Rahmen voraussetzen, so gilt dies für den Eheentschluss erst recht. Ein bloß momentanes Zumutesein fällt mithin als Begründung aus. Wenn schon das Gefühl zum Konstitutivum für die Ehe erhoben wird, so ist es hinsichtlich seiner Tendenz auf Konstanz doch ein besonderes, das von Schleiermacher in Anschlag gebracht wird: das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit, welches alle möglicherweise kommenden Differenzen und die Partnerschaft irritierenden und infrage stellenden Gefühle überwölben soll.¹⁰⁶⁰ Die Begründungs- und Stabilisierungsleistung des Zusammengehörigkeitsgefühls wird v. a. durch zwei Aspekte garantiert, die eine unterschiedliche Stoßrichtung haben. Den einen spricht Schleiermacher in den Hausstandspredigten aus, wo er über die Attraktionswirkung der Frau auf den Mann bestimmt, „daß für ihr beiderseitiges ganzes Leben von der fortwährenden Wirkung dieser Kraft die rechte christliche Treue, die volle ungeschwächte Anhänglichkeit abhängt, welche einen christlichen Ehebund über alles Vergängliche und Zufällige erhebt und als ein selbst ewiges Werk der ewigen Liebe darstellt, würdig, dem heiligsten und größten Werk derselben verglichen zu werden.“¹⁰⁶¹ Damit kann – auch nach dem, was wir oben herausgearbeitet haben¹⁰⁶² – nicht gemeint sein, dass die christliche Ehe von der fortwährenden Aufrechterhaltung der sexuellen Attraktivität der Frau abhängt; denn zum Einen wehren dem Gewöhnung und Natur und zum anderen wäre damit die geistige Seite der Ehe unterbestimmt. Der Hinweis auf das ‚heiligste und größte Werk der Liebe‘, die Hingabe Jesu Christi am Kreuz, verweist im Lichte der protestantischen Ablehnung des rö-
andern verhaßt machen, ihnen gefällig zu sein, so ist leicht einzusehen, inwiefern sie wahr reden, weil sie eben den, für welchen sie späterhin Leidenschaft haben werden, höher achten müssen als die vorigen, und offenbar, wenn es jener wünscht, auch dem früher Geliebten Übles zufügen werden.“ P 10, 787. Vgl. dazu auch H 232 f: „[…] ja, denkt euch, […] es bestehe ein wahrhaft gemeinsames Leben, ja, in dem Gefühl eines wahren Zusammengehörens werden auch die Tage der Widerwärtigkeit so würdig getragen, daß, wenn sie einst vorüber sind, man sich freuen wird, sie durchlebt zu haben […].“ H 241. S.o. II.1.1.2.
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misch-katholischen Messopfers vielmehr auf etwas ganz anderes, nämlich auf das ‚Ein-für-alle-mal‘ der jeweiligen Tat der Liebe. So wie die christliche Heilsgeschichte in Tod und Auferstehung Jesu ihren Ausgang nimmt, deren Wirkungen auch bei späterer Aneignung nicht an Kraft verlieren, so findet eine Liebesgeschichte ihr Urdatum in der Attraktionswirkung der Frau, die auch dann in ihrer Begründungsleistung für die Beziehung gültig ist, wenn sie nicht mehr in dieser Weise erfahren wird.¹⁰⁶³ Der andere Aspekt liegt in der Sonderstellung des Zusammengehörigkeitsgefühls. Anders als das reine Hingerissensein der Verliebtheit, welches den Betroffenen in die Passivität des Gewahrens und Ausgeliefertseins drängt und sich rationalen Erwägungen entzieht, ist das Postulat der Zusammengehörigkeit offen für solche.¹⁰⁶⁴ Es hat emotionale Qualitäten und schließt dennoch Reflexivität ein, insofern anhand seiner nicht nur das Gegenüber, sondern auch dessen Wechselbeziehung zum eigenen Selbst präsent wird. Zudem liegt beim Bekenntnis der Zusammengehörigkeit die Frage nach den Gründen nahe, die neben emotionalen auch für intellektuelle, praktische und ständische Begründungen offen ist, während man das Attraktionserlebnis besonders dort in Reinform anzutreffen scheint, wo sich diese Frage verbietet.¹⁰⁶⁵ Funktional haben wir es beim Zusammengehörigkeitsgefühl gleichwohl mit dem deutenden Äquivalent zur naturalen Attraktivität zu tun.¹⁰⁶⁶ Beide vermitteln angesichts der Offenheit und Unwägbarkeit des Zukünftigen, die mit dem auf Personalität abzielenden Eheideal noch verstärkt werden, Bestimmtheit und Sicherheit.¹⁰⁶⁷ ‚Wir gehören zusammen‘ ist die trotzige Antwort – geradezu die psychologische Flucht
Detaillierter dazu s.u. II.3.2.2. Des Weiteren zur Bedeutung der klärenden Aussprache und Entscheidung angesichts dieses Gefühls vgl. BB 363: „[…] wie ich an nichts dachte als an Dich, […] an das übermächtige Gefühl, daß ich Dich nicht lassen dürfe und daß ich ohne Dich nicht leben könne, und sehr zweifelnd daran, ob Du es so würdest ergreifen wollen, wie ich aber doch ganz bestimmt fühlte, daß wir uns aussprechen müßten darüber und daß mein und Dein Leben sich entscheiden müsse.“ Amors Pfeil oder der lapidare Hinweis, ‚Das Herz will, was das Herz will‘ stehen für genau diese Reflexions- und Rechtfertigungsverweigerung des Attraktionserlebnisses. Bei Nietzsche finden wir eine eigentümliche Verschränkung von ekstatischem Gefühl und gedanklicher Begründung lebenslanger Zusammengehörigkeit: „Die Raum- und Zeitempfindungen sind verändert; ungeheure Fernen werden überschaut und gleichsam erst wahrnehmbar; die Ausdehnung des Blicks über größere Mengen und Weiten.“ (Nietzsche, Der Wille zur Macht, zit. n. Bollnow, Wesen, 64). Nach dieser Sicht muss der erfüllte Augenblick nicht erst mit der Dauer einer Beziehung vermittelt werden, sondern er ist der Ort, an dem diese einzig angemessen antizipert werden kann. Detaillerter zur Thematik s.u. II.3.2.2. Vgl. BB 379 f: „[…] das herrliche schöne Leben [tritt] uns immer näher […]! Du weißt nicht recht, wie Dir sein wird? Du hast recht, es geht mir auch so. Ich weiß es so ganz genau und bestimmt und dann auch wieder gar nicht. Es ist mir so unbegreiflich neu und dann auch wieder so alt und bekannt. Wenn Du aber sagst, daß Du Liebe und Ehe erst jezt recht verstehst, daß Dir das dann auch nicht durch mich, doch mit mir gekommen ist, so fühle ich mich erst ganz stolz und dann so alt hausväterlich angewurzelt, als ob ich es Dir aus meinem Schaz von alten Erfahrungen gegeben hätte.“ Vgl. weiter BB 381: „[…] wenn mir manchmal sein will, als würde Dir doch vielleicht hintennach manches fehlen an mir und bei mir, so verweht das auch gleich wieder, wenn ich es recht besehn will“.
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nach vorn – bei den vielfältigen Anfragen und Zweifeln bezüglich eines Lebensbundes.¹⁰⁶⁸
Religiöse Dimensionen der Zusammengehörigkeit Die Lebensform der Ehe greift auf alle Dimensionen des individuellen Lebens aus bzw. die personale Individualität hat sich in jedweder Hinsicht mit der entstehenden Paaridentität auseinanderzusetzen. Die große Reichweite der Ehe für das je individuelle Leben mag als die psychologische Begründung für ihren sakramentalen Charakter, der ihr in der römisch-katholischen Lehre zukommt, gelten.¹⁰⁶⁹ Schleiermacher betonte dagegen, dass die Neigung zur Ehe keine im eigentlichen Sinne religiöse Motivation hat.¹⁰⁷⁰ Eine christliche Deutung ihrer ist damit gleichwohl nicht ausgeschlossen. Bei aller Offenheit für rationale Erwägungen ist das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit schließlich, wie das Grunddatum der Religion, ein Gefühl. Mag dessen sich Sich-einstellen auch durch vielerlei Gründe vorbereitet sein, so erhebt es sich schließlich über diese und macht sich von ihnen unabhängig – in der Terminologie des § 4 der Glaubenslehre: es behauptet ‚Schlechthinnigkeit‘. Der ‚Geist Christi‘ erscheint nun als sein Grund, so fordert es die Christliche Sittenlehre. ¹⁰⁷¹ Durch diese Transzendentsetzung wird es gegen nachmalige Einwände zu immunisieren versucht. Selbst wenn gewichtige Gründe, die für die Ehe gesprochen haben, nach deren
Bei aller Betonung des Zusammengehörigkeitsbewusstseins gilt schließlich generell auch für Schleiermacher: „[…] die absolute Gewißheit kann nicht etwas in der Erscheinung heraustretendes sein; ja wer behauptet, er sei in irgend einer Beziehung absolut überzeugt, der wird entweder irgend wie beschränkt sein, oder den Gegenstand noch gar nicht von allen Seiten angeschaut haben.“ (ChS 190). Vgl. auch Hahn, Konsensfiktionen, 214: „Da wo der Partnerbeziehung keine vorgängigen institutionalisierten Rollenverständnisse stabilisierend zuhilfe kommen, läßt sich die Unsicherheit […] nur dadurch abfangen, daß ein wechselseitiger Vertrauensvorschuß gewährt wird. Der objektiven Unwahrscheinlichkeit, daß man mit einem fremden Menschen je zu einer gemeinsamen Auffassung […] kommen kann, wird das Trotzdem des Gefühls der Liebesverbundenheit entgegengesetzt.“ Hierbei „muß Vertrauen Erfahrung ersetzen. Das ist primär nur möglich, weil Liebe als leidenschaftliche Emotion weitestgehend realitätsentlastend wirkt und vor allem das Gefühl des Zueinandergehörens und Einsseins vermittelt. […] die Verschiedenheit der Biographien […] erscheint den Partnern in wichtigen Punkten gar nicht.“ Ordnungstheologien spielen dabei allerdings wahrscheinlich die größere Rolle. Vgl. umfangreich zu diesem Komplex Scola, Geheimnis. Zum Abblenden des Ordnungsparadigmas bei Schleiermacher zu Gunsten von Verinnerlichungsfiguren s.o. II.3.2.Einleitung. Vgl. ChS Beil 172: „Wenn nun diese Neigung eines einzelnen [zu einem potentiellen Ehepartner – CR] also eigentlich nicht unmittelbar von dem religiösen Interesse ausgehen kann, jedes sinnliche und selbstsüchtige aber schon ausgeschlossen ist: so bleibt nur übrig die Ueberzeugung von individueller Zusammengehörigkeit.“ Vgl. ChS 360 [Hervorhebungen getilgt – CR]: „Denn das ist unzureichend, wenn man nur sagen kann, Das und das spricht für die Verbindung und das gemeinsame Leben im Geiste wird dann auch dabei Raum finden; man muß sagen können, Der Geist Christi hat die Neigung erzeugt, das gemeinschaftliche Bewußtsein der unauflöslichen Zusammengehörigkeit, und alles, worauf sie sich sonst gründet, ist ihm untergeordnet und von ihm geheiligt.“
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Schließung entfallen sollten, tut dies der Gültigkeit der Verbindung sodann keinen Abbruch. Nach den Hausstandspredigten gewinnt das Gefühl der Zusammengehörigkeit einen Status, der dem Bekehrungserlebnis im Rahmen pietistischer Frömmigkeit analog ist. Bedarf es dort des biographisch einschneidenden Innewerdens, dass außerhalb der Gemeinschaft mit Christus kein Seelenheil zu erlangen ist, so erfordere ein heilvolles Eheleben die Erfahrung des ‚Dranges‘, „gerade dem Manne, dem Weibe anzuhangen“.¹⁰⁷² Ein weiterer, besonders für die lutherische Theologie bedeutsamer Begriff wird in der Christlichen Sitte eingeführt. Mit ihm verdeutlicht Schleiermacher wiederum, dass es beim Ehegrund v. a. um die innerliche Bestimmtheit zu tun ist. Gemeint ist der Begriff des ‚(guten) Gewissens‘.¹⁰⁷³ Wie für Luther das Heilswirken Gottes seinen Niederschlag nicht in der Objektivität des äußerlichen Kultes, sondern v. a. in der innerlichen Aneignung des Glaubens findet, wo es als Tröstung des Gewissens aufscheint, so denkt Schleiermacher sich die ‚Ueberzeugung von der Zusammengehörigkeit‘¹⁰⁷⁴ als wirkungsvolle Realisationsgestalt psychischer Entlastung durch Bestimmtheit. In sachlich engster Beziehung dazu steht sein deutlich früher im Katechismus aufgestelltes viertes Gebot: „Merke auf den Sabbath deines Herzens, daß du ihn feyerst, und wenn sie dich halten, so mache dich frey oder gehe zu Grunde.“¹⁰⁷⁵ Paul Kluckhohn interpretiert: „Sabbat des Herzens ist der Tag, da dem Menschen die wahre Liebe aufgeht. Nur diese kann eine Ehe begründen.“¹⁰⁷⁶ Die Spezifik des Sabbats als Ruhetag ist damit allerdings noch nicht im Blick; auf sie weist Jürgen Frank unter Ausgriff auf die Lucindebriefe hin: Der Sabbath des Herzens ist die Ruhe der bräutlichen Liebe. Sie ist die Freude der ersten Liebe, die noch von keiner Sorge weiß – so jedenfalls sehen es die Lucindebriefe: ‚das ist die bräutliche Ruhe, in der sie einander nur sehen in ihrer göttlichen Unverlezlichkeit und Unsterblichkeit.‘¹⁰⁷⁷
Anhand der ‚bräutlichen Ruhe‘ wird neben der Bestimmtheitsdimension wiederum vor allem der Aspekt der psychischen Entlastung deutlich. Eine Folge der Missachtung des Sabbatgebots ist die stete Geschäftigkeit, die keine Fokussierung, keine Würdigung des Bestehenden, kein bewusstes, dankbares Genießen kennt. Derselben Verflachung und von Zweifeln geplagten Unruhe anheim zu fallen, droht Schleiermacher denjenigen an, die jene Besinnung auf ihren Partner und die Güte ihrer Ehe übergehen.¹⁰⁷⁸
H 232. ChS 361. ChS 361. K 4. Kluckhohn, Liebe, 434. Frank, Selbstentfaltung, 215. Zu einer weiteren Interpretationsrichtung des Gebots s.u. II.3.3.2.
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All die genannten Aspekte lassen sich sowohl stark als auch schwach hinsichtlich der Frage nach dem Wert der religiösen Deutung für die Ehe lesen. Die starke Lesart hieße, allein die in explizit christlicher Weise geführte Ehe schöpft die Potentiale dieser Lebensform aus. Die schwache Lesart hingegen erblickt in den religiösen Symbolen und Semantiken bloß eine Artikulationsgestalt derjenigen Sinnpotentiale, die die Ehe aus sich selbst heraus entfaltet. In Schleiermachers Denken widersprechen sie sich gar nicht und haben insofern beide ihr Recht, denn das Christentum stellte für ihn einen selbstverständlichen Hintergrund der wahren Ehe dar.¹⁰⁷⁹ Als frommem Menschen war es ihm zudem ein großes Anliegen, auch explizite religiöse Vollzüge mit seiner Braut zu teilen und ihre Ehe besonders in dieser Gemeinsamkeit zu festigen.¹⁰⁸⁰ Darin, ebenso wie in seiner hohen Gewichtung konfessioneller Differenzen,¹⁰⁸¹ unterscheidet sich Schleiermacher deutlich von gegenwärtig beobachtbaren Orientierungsmustern.¹⁰⁸² Für unsere Studie sind freilich insbesondere die Beobachtungen, die sich mittels der ‚schwachen Lesart‘ machen lassen, interessant.
Die Unwahrscheinlichkeit des völligen Zueinanderpassens bei fortschreitender Individualisierung Das Postulat der exklusiven Passung von je allein zwei Menschen und dessen religiöse Deutung haben ihre Voraussetzung in der Steigerung der personalen Individualisierung.¹⁰⁸³ Je mehr Eigenheiten sich ein Subjekt an sich selbst vergegenwärtigt, umso enger wird der Kreis potentieller Partner, die als fruchtbares Gegenüber für all jene Aspekte in Frage kommen. Mit dem Abnehmen der Wahrscheinlichkeit, den einen Partner zu finden, wird die Bedeutung der Partnerschaft, in der man diesen gefunden
Allgemein war ihm ethisch-kulturelles Leben, das sich selbst recht verstand, christlich und musste sich umgekehrt das christliche Leben in ethische Vollzüge auslegen. Vgl. BB 187: „Am 27 t. communicire ich. Könntest Du das doch auch? Unsere Liebe ist so andächtig und schön, sie muß sich auch hier begegnen.“ Vgl. zu diesem Anliegen auch BB 197. 224 f. 261. 307. 354. 364. 380. 385. BB 390: „[…] laß da unsere Seelen recht innig verschmolzen sein in der gleichen Liebe zu Gott, in dem gleichen Sinne für das Ewig Schöne und Wahre.“ BB 404 (direkt nach der Kommunion): „Im Gebet habe ich unsere Ehe geheiligt zu einer christlichen, daß unser ganzes Leben von frommem Sinn und von heiliger göttlicher Liebe erfüllt sei, und unser Thun und Tichten auf das himmlische hingewendet für uns und für unsere Kinder. So habe ich uns Gott empfohlen und dargebracht und es als einen herrlichen Segen gefühlt, daß Du zu gleichen Gesinnungen Dich mir vereint hast in derselben Stunde. Ein schöner Friede und eine heitere Zuversicht für das ganze Leben ist über mich gekommen, und so innig wohl ist gewiß Dir auch. | O wie wollen wir auch immer unsere frommen Rührungen mit einander theilen, und am wenigsten soll ein heiliger Augenblik, dessen der eine sich erfreut, jemals verloren sein für den andern.“ Vgl. ChS 355 – 357. Empirisch werden Religion und Politik zumeist als dem Paarkonsens ausklammerbar und ihre Differenz mithin als erträglich erlebt. Vgl. Hahn, Konsensfiktionen, 215. Zur Beschreibung des Zusammenhangs zwischen dem Ideal der Individualität und dem „‚romantischen‘ Ideal von der Einzigkeit der Liebe“, wie Schleiermacher es in M 47 vertritt, vgl. Dilthey, Leben I, 499.
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zu haben meint, extrem gesteigert.¹⁰⁸⁴ Die Möglichkeit einer Trennung im Namen der Liebe, d. h. der Auflösung einer mäßig befriedigenden Partnerschaft oder Ehe zugunsten einer – bzw. der nun endlich gefundenen – großen Liebe, über alle Hemmnisse hinweg, hat ihren Motivations- und Akzeptanzgrund v. a. darin.¹⁰⁸⁵ Angesichts dieser Problematik finden wir bei Schleiermacher eine biographische Wende. In seiner frühromantischen Phase und der Beziehung zu Eleonore Grunow war er überzeugt davon, mit ihr die „vollkommene Symmetrie des Eigenthümlichen“ getroffen und erreicht zu haben;¹⁰⁸⁶ zwei durchgebildete Menschen die sich in jeder Lebensperspektive ergänzten.¹⁰⁸⁷ Im Verhältnis zu seiner Braut wandelte sich dies. Zwar war er auch bezogen auf sie von der Zusammengehörigkeit überzeugt, wollte diese jedoch der Einzelfallprüfung entziehen.¹⁰⁸⁸ Konstatierte er in der Beziehung zu Eleonore „das beständige Zusammentreffen im Heiligsten und Schönsten von jedem Punkte aus,“¹⁰⁸⁹ so bezeichnete er die Liebe zu Henriette als „anknüpfend an unser gesammtes Sein, nicht von irgend etwas einzelnem ausgehend; und also auch auf keine Art einseitig und unsicher.“¹⁰⁹⁰ Ihr gegenüber nimmt er auch auf den bei Platon behandelten Mythos von der Zwei-Einheit des Menschen¹⁰⁹¹ affirmativ Bezug,¹⁰⁹² den er im Brouillon als dem Individualitätsgedanken widersprechend ablehnte.¹⁰⁹³
Walter Schubart beschreibt die im Laufe der Menschheitsgeschichte und eines Einzellebens zunehmende Individuation als die Motivation der Erlösungs-, d. h. Ganzwerdungssehnsucht. So sei die Natur auf die Erlösung, d. h. die persönliche Liebe teleologisch ‚hingeordnet‘ (ders., Religion, 107 f). „Je individueller durchgebildet der Mensch ist, um so nötiger ist es, daß er ‚seinen‘ Gott und daß er den zu ihm passenden Menschen findet, und umso schwieriger ist es zugleich. […] Es wird immer unwahrscheinlicher, daß die große Liebe gelingt, aber sie wird immer wunderbarer, wo sie gelingt. Mit der Enttäuschung und der Verlassenheit der Vielen erkauft der Weltgang die Erlösung der Wenigen, der Auserlesenen.“ (Ebd., 108). – Schubart verwendet hier also den religiösen Prädestinationsgedanken und zwar sogar in seiner doppelten Gestalt. Detaillierter dazu s.u. II.3.3.2. L 208. Vgl. auch M 47: „Wo mag sie wohnen mit der das Band des Lebens zu knüpfen mir ziemt? Wer mag mir sagen, wohin ich wandern muß um sie zu suchen?“ Vgl. G II, 9., 109: „Hast du je den ganzen Umfang eines Andern mit allen seinen Unebenheiten berühren können ohne ihm Schmerzen zu machen? Ihr braucht beide keinen weitern Beweis zu führen daß ihr gebildete Menschen seid.“ Vgl. dazu auch M 21 f (zur Zitation dessen s. o. II.3.1.4). Vgl. BB 322: „Höre, Jette, wir wollen einen guten Vertrag miteinander machen […].Wir wollen uns nemlich nie mit Anderen vergleichen, es kommt nicht das mindeste dabei heraus; und wenn mir zugemuthet würde, Dich so durch Vergleichung zu beschreiben, so wüßte ich gar nicht anders zu antworten, als: ‚Ja meine Gnädigste, sie ist nicht so liebenswürdig als Sie, nicht so geistreich als eine zweite, nicht so verständig als eine dritte, nicht so liebevoll als eine vierte, nicht so unterrichtet als eine fünfte, nicht so hübsch als eine sechste, aber alles zusammengenommen ist sie doch die einzige, die ich liebe.‘“ Zu dieser Entdifferenzierung vgl. auch BB 338: „Du bist doch in den verschiedensten Zuständen und Stimmungen immer ganz dieselbe aus einem Stükk, und das ist eben so herrlich. So bilden auch alle unsere Gefühle Ein Ganzes, die Freude und die Wehmuth, die Liebe und die Trauer.“ L 208. BB 111 f. Vgl. Sym 32– 38.
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Annäherungstendenzen und ihre Deutung als Entdeckung von zuvor bereits Gegebenem Im Gegenüber zur grundlegenden Einigkeit, die mit den eigenen Kindern besteht, weil man deren Persönlichkeitsbildung verfolgt und mitgestaltet, konstatiert Schleiermacher in den Hausstandspredigten, „daß Eheleute sich erst miteinander verbinden, wenn alle Anlagen und Fertigkeiten in ihnen schon ausgebildet sind, und wie manches davon erst später wahrgenommen wird und dann den Frieden stört; […] und gar leicht jeder für den andern etwas Fremdes mitbringen, woran sie sich nur allmählich gewöhnen.“¹⁰⁹⁴ In einer Partnerschaft zu leben, bedeutet, mit diesen Differenzen umzugehen. In den meisten Fällen geschieht dies im Modus der gegenseitigen Annäherung.¹⁰⁹⁵ Harte Beziehungsarbeit gehört dazu ebenso,¹⁰⁹⁶ wie unbewusste Prozesse, die Schleiermacher in die weicheren Beschreibungsformen des ‚einen Lebens‘¹⁰⁹⁷ und des Wachstums gießt.¹⁰⁹⁸ So organisch und selbstverständlich das Zusammenfinden zweier Partner auch erscheinen mag, so komplex ist es doch. Schließlich gilt es hierbei, differente Vergangenheiten, die neben Faktizitäten auch Ansprüche an die Zukunftsgestaltung mit sich bringen, mit der Zukunft und dem Konzept eines gemeinsamen Lebens zu harmonisieren.¹⁰⁹⁹
Vgl. Brief 2435, 380 (An die frisch verwitwete Henriette v. Willich): „Die Liebe ist ja die anziehende Kraft der Geister, ihr großes ewiges Naturgesez. Liebt ihn [sc. den verstorbenen Ehrenfried v. Willich – CR] denn jemand mehr als Du? oder er einen andern mehr als Dich? Seid ihr nicht die zusammengehörenden Hälften? O so gewiß meine heilige Freude an Eurer Ehe eines der liebsten Gefühle meines Herzens ist, Ihr seid es und es wird ewig nichts zwischen euch treten können.“ Vgl. PhE 137 (zur Zitation dessen s. o. II.3.1.4). Vgl. dazu auch Kluckhohn, Liebe, 457. H 272. Wir haben bereits kurz davon gehandelt. S.o. II.3.1.4. Scherzhaft schreibt Schleiermacher an seine Braut: „Aber Du weißt, es ist eine Rede, und gewiß keine fabelhafte, daß, wenn Eheleute lange und wie sichs gebührt zusammen leben, sie einander ähnlich werden. Nun sieh zu, ob Du mich dazu nicht schon zu alt empfängst, und laß sehen, was Du noch machen kannst aus diesen schlechten Augen.“ (BB 285). In einer Längsschnittstudie über 7, 14 und 21 Jahre ließ sich nachweisen, dass sich Partner einander im Laufe der Zeit tatsächlich signifikant angleichen. Intelligenzfaktoren und Flexibilität der befragten Personen waren nach einigen Jahren ähnlicher als zum Zeitpunkt des Zusammenkommens (Bierhoff/Grau, Beziehungen, 93 – 96). Über die Differenzen in Charakter und Temperament bestimmt Schleiermacher: „Diese Ungleichheiten geben grade das schönste Spiel der Freundschaft, […] sie werden […] sich einander durch wiederholte gegenseitige Mittheilung nähern […] und […] aneinander […] abschleifen […].“ (AAnm 24, [Hervorhebung – CR]). Vgl. H 244. Vgl. L 209: „Die innige Gemeinschaft wächst ununterbrochen, und der Stoff für sie geht niemals aus.“ Vgl. paradigmatisch BB 256 u. ö.: „[…] so rechne ich daraus, daß auch Du […] die Einheit Deiner Vergangenheit und Deiner Zukunft, Ehrenfrieds Zustimmung zu unserm Bündniß und seine Verherrlichung in unserm Herzen und unserm Leben wirst gefühlt haben.“ Vgl. auch BB 385 (zur Zitation dessen s.o. II.1.1.2). Schleiermacher erinnert hier an ein Zusammentreffen mit der schwangeren Jette
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Vorteilhaft erscheint es hierbei, wenn ein klares Erwartungsbild von einem potentiellen Partner besteht.¹¹⁰⁰ Ist ein solches gegeben und es gelingt eine Partnerschaftsanbahnung mit einer dem entsprechenden Person, so kann dies – je anspruchsvoller das Bild, umso mehr – wahrhaft erlösende Dimensionen gewinnen; der ersehnte Partner existiert tatsächlich, das Ideal wird Realität.¹¹⁰¹ Annäherungs- und Kompromissbedarf besteht zwar freilich dennoch, entsprechende Prozesse und Veränderungen werden jedoch kaum bewusst. Generell lässt sich mit Alois Hahn sagen: „Für sie [sc. die Partner – CR] stellt sich die Ehe nicht als Feld der Herstellung von Konsens dar, sondern als Ort der Erhaltung von gegebener Übereinstimmung.“¹¹⁰² Etwas spröder beschreibt Schleiermacher diesen Sachverhalt in der Christlichen Sittenlehre, wo er das eheliche Leben als bloße Darstellung der im Anfang der Beziehung bereits grundgelegten Prinzipien versteht.¹¹⁰³ Alles, was sich an Neuem im Laufe des gemeinsamen Lebens ergibt, erscheint wegen seiner Rückführung auf das Postulat der Zusammengehörigkeit und wegen seiner Verwobenheit mit dem kontinuierlichen Bewusstseinsstrom des Subjekts nicht als fremd, sondern als eigentümlich vertraut.¹¹⁰⁴ Die Beziehung wird geklärt und gefestigt und doch zugleich als dieser Beund Ehrenfried, wo sich beide schon zueinander hingezogen fühlten, Schleiermacher ihr Mutterglück segnete und Ehrenfried beide zustimmend umschloss. Vgl. M 30: „Nach Liebe dürstet manches Menschen Herz, es schwebt ihm deutlich vor, wie der geartet müßte sein, mit dem er durch den Tausch des Denkens und Empfindens zur gegenseitigen Bildung und zum erhöhten Bewußtsein sich verbinden könnte […].“ Walter Schubart führt die einzigartige Liebe darauf zurück, dass schon zuvor in uns ein Bild von dem passenden Partner existiert. „Stoßen wir auf den Menschen, der ganz dem Bilde entspricht, der gleichsam als füllende Gestalt in den Rahmen des Bildes tritt, so fahren wir wohl erschrocken auf, in Verzückung zugleich und Bestürzung. Ein unfehlbarer Instinkt sagt uns, daß wir am Ziel sind. Wir haben den Eindruck, diesen einen Menschen immer schon gekannt und alles, was wir mit ihm erleben, schon einmal erlebt zu haben. Unser Dasein mutet dann wie die Wiederholung eines früheren Daseins an, weil in unserer Sehnsucht schon das gegeben war, was nachträglich in der Welt der Tatsachen seine Bestätigung findet. […] Der von der erlösenden Liebe Ergriffene liebt eigentlich nicht die Geliebte in ihrer zeitlichen Erscheinung, sondern sein eigenes Sehnsuchtsbild, das in der Geliebten Gestalt gewonnen hat. er liebt die Fleischwerdung seines Ideals.“ Diesen Gedanken entlehnt Schubart Goethe und Dante. Sachlich hat er natürlich auch Bezüge zur sokratischen Urbild-Abbild-Theorie (Schubart, Religion, 105). Hierbei besteht zugleich die Gefahr, sein Ideal in einem Menschen zu lieben, der diesem gar nicht entspricht. Die sprichwörtlich blind-machende Liebe erklärt Schubart nicht mit der Überwältigung, die eine andere Person auf uns ausübt, sondern mit der überwältigenden Kraft unseres eigenen Sehnsuchtsbildes, das sich vorschnell an eine wirkliche Person heftet. „Der unwiderstehliche Drang, das eine erlösende Vollkommene zu haben, läuft immer Gefahr, sich in der Religion an falsche Wahrheiten, in der Erotik an falsche Geliebte zu ketten, Götzendienst in beiden Fällen.“ (Schubart, Religion, 106 f). Hahn, Konsensfiktionen, 214. Vgl. ChS 364: „[…] ja das ganze Leben im Hauswesen ist nichts, als die Manifestation der Principien gemeinschaftlichen Handelns, nach welchen die Ehe geschlossen ist, nichts, als die Darstellung alles dessen, was implicite in der Schließung der Ehe lag, und nun in einer Reihe von Momenten zum Vorscheine kommt.“ Vgl. dazu das frühe Bekenntnis von Friedrich an Eleonore: „[…] das Neue, was ich in Dir entdecke, nimmt kein Ende, obgleich Nichts fremdes darin ist. Beinahe möchte ich darüber klagen, daß es
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stätigungen gar nicht bedürftig empfunden.¹¹⁰⁵ Das eigene Selbst und das Weltbild verändern sich, doch diese Wandlungen erscheinen ganz unwillkürlich wie Entdeckungen von bislang ungehobenen Eigentlichkeiten.¹¹⁰⁶
3.2.2 Erfüllung im Augenblick und dauerhafter Statuswechsel Problemstellung: Die Sperrigkeit des seligen Augenblicks gegen die Perpetuierung „Nichts wäre abwegiger als bei Liebe an Ehe zu denken.“¹¹⁰⁷ Mit diesem markanten Satz bringt Niklas Luhmann eine Problematik auf den Punkt, die jedes Konzept von Liebesheirat mitzubedenken hat, und der sich mithin auch Schleiermacher zuwendet. Liebe – mehr noch die Verliebtheit – ist ein Zustand, der oft mit Flüchtigkeit, in jedem Fall aber mit Unverfügbarkeit assoziiert wird. Auf ihn einen Lebensbund aufbauen zu wollen, erscheint daher riskant, wenn nicht gar ausgeschlossen.¹¹⁰⁸ Lässt sich der
mit der Entdeckung der Verschiedenheiten zwischen uns gar nicht fort will, die organischen ausgenommen, die wir von Anfang an kennen.“ (L 207). An seine Braut schreibt Schleiermacher: „Uebrigens, wenn ich Dir sage, daß mir immer klarer wird und sicherer, je mehr Du Dich mir aufschließest, so ist es nicht, daß mir noch etwas gefehlt hätte, etwas unruhig oder unklar gewesen wäre; sondern es ist die immer wachsende Fülle des Lebens der Liebe, das immer nach andern Seiten gewendete, immer erneute Gefühl der Glükseligkeit und Herrlichkeit.“ (BB 192). Vgl. auch BB 150 f: Schleiermacher behauptet hier, sein Gefühl zu Jette sei immer schon dasselbe; nur das Bewusstsein davon sei zunehmend klarer hervorgetreten. Er arbeitet mit dieser Figur an der Vermittlung vom Ideal des schicksalhaften Hingezogenseins auf der einen Seite und den faktischen Wandlungen und Kontingenzen im Gefühlsleben auf der anderen Seite. Eine nahezu paradoxale Extremgestalt gewinnt dies im Folgenden: „Es [sc. der Wandel vom väterlichen zum ehelichen Verhältnis zwischen Schleiermacher und Henriette] war gar kein Entgegenkommen zu einem andern Verhältniß, sondern ein reines Zusammensein in dem schon bestehenden.“ (BB 151). Vgl. hierzu pointiert Berger/Kellner, Ehe, 229 f: „Es kann gar nicht nachdrücklich genug darauf hingewiesen werden, daß dieser Prozeß seinem Charakter nach im allgemeinen nicht begriffen wird, ja fast automatisch abläuft. Die an dem Ehedrama Beteiligten handeln nicht unter dem Vorsatz, ihre Welt neu erschaffen zu wollen. Jeder von ihnen lebt weiterhin in einer ihm selbstverständlichen Welt und hält an deren als erwiesen begriffenem Erscheinungsbild trotz dessen Metamorphose fest. Die neue Welt, die die Ehepartner – prometheisch – ins Sein gerufen haben, wird von ihnen als die normale Welt, in der sie auch früher lebten, begriffen. Die neuerschaffene Gegenwart und die neu-interpretierte Vergangenheit werden als ein Kontinuum begriffen, das eine Linie mit der gemeinsam projektierten Zukunft bildet. Die eingetretenen dramatischen Veränderungen, die stattfanden, bleiben im ganzen unklar und unartikuliert. […] Es ist bezeichnend, daß die Realität, die durch das eheliche Gespräch begründet wird, als ‚Entdeckung‘ verstanden wird. So ‚entdecken‘ die Partner sich selbst und die Welt, ‚wie sie wirklich sind‘, ‚was sie wirklich glauben‘ […]. Diese Projektion der Welt, die sie selbst unermüdlich erschaffen, auf die Vergangenheit dient der Stabilisierung dieser Welt und beschwichtigt zugleich die existentielle Angst, die wohl unausweichlich die Erkenntnis begleitet, daß nur die eigenen schmalen Schultern das Universum, in dem man zu leben sich entschieden hat, tragen. Anders gesagt: Es ist psychisch leichter, sich als Kolumbus statt als Prometheus zu erfassen.“ Luhmann, Liebe, 89. Zu dieser Einschätzung vgl. auch Retzer, Vernunftehe, 40 f. Luhmann zitiert einige französische Autoren des 17. Jahrhunderts, um diese Diastase zu illustrieren: „Der Liebesgott habe in einem Wutanfall die Liebenden zur Ehe geführt und damit ins Ver-
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Anspruch nur durch ‚Flucht in Übersteigerung‘ aufrecht erhalten, wie Luhmann konstatiert,¹¹⁰⁹ um nach einer gewissen Zeit als ‚unerfüllbare Utopie‘ enttarnt, dem Zynismus Platz zu machen¹¹¹⁰ oder sich in eine Serie von zum Scheitern verurteilten Liebesversuchen auszulegen?¹¹¹¹ Zunächst einmal teilt Schleiermacher die Grundansicht, dass Verliebtheit nur von relativ kurzer Dauer sein kann¹¹¹² und Erfüllungsmomente nicht der ständige Normalfall in einer dauerhaften Beziehung sind.¹¹¹³ Bei der Einschätzung, ob man mit einem potentiellen Partner zusammenpasst, erweist sich dieser Zustand vielmehr als relativ kontraproduktiv, insofern er zum einen generell Differenzierungen verhindert¹¹¹⁴ und zum anderen Persönlichkeiten und Neigungen verschleiert. Wer sich im Rausch der Liebe um einen anderen bemüht, leistet dabei nur allzu bereitwillig Verzicht auf eigene Vorlieben. Der damit einhergehende psychische und persönliche Kraftaufwand lässt sich allerdings nur so lange aufrechterhalten, wie ihn der Reiz der Verliebtheit mit all seinen Vagheiten motiviert. Dass auf diesen nicht nur Nüchternheit, sondern Ernüchterung folgt, ist mithin umso wahrscheinlicher, je exzessiver der Verliebtheit gefrönt wurde.¹¹¹⁵ derben, liest man zum Beispiel. Das Eingehen einer Ehe sei eine ehrenvolle Art mit der Geliebten zu brechen […] Oder: wer seine Geliebte heiraten will, will sie hassen.“ (Luhmann, Liebe, 96). Luhmann, Liebe, 182. Hierzu vgl. Ringeling, Sexualität, 148 f. Zu Referat und Problematisierung der von Anthony Giddens vertretenen These, in der Moderne überwiege die Gegenwärtigkeit die Dauerhaftigkeit und Exklusivität zunehmend an Bedeutung vgl. Lenz, Liebe, 250 f. Vgl. AAnm 12 f: „[…] das Gefühl wird dem Menschen durch die Gewohnheit erschwert. […] Sei immer mäßig in dem Gebrauch des zerbrechlichsten Gutes was Deine Seele aufweisen kann, und hüte Dich vor der gefährlichen Sucht Deine Empfindungen zu überspannen; hüte Dich sie zum Zwek zu machen.“ H 233: Wir „werden immer zu glauben geneigt sein, wie es ja auch oft geschieht, dieser schöne Einklang sei nur der Glanz der ersten Neigung, der je länger je mehr verbleichen werde, wenn ein ruhiger und gewöhnlicher Zustand auf die gewaltigere Aufregung der Gemüter folgt.“ Vgl. auch BB 274: „1. Jan. [1809] Und nun sei mir gegrüßt zum neuen Jahre, geliebtes Herz. Es ist das, was uns ganz verbinden wird, das schönste meines Lebens […].“ Vgl. BB 144: „Es ist wol nicht möglich, liebes Kind, daß der Mensch immer kann in diesem schönen Gleichgewicht auf bewußte Weise leben, welches ihm wird, wenn einmal sein ganzes Wesen und alle seine Verhältnisse zugleich recht lebendig in ihm werden; dies sind die seltneren Momente, wo wirklich der Himmel im Herzen ist und die Ewigkeit in der Zeit […].“ Vgl. bebildernd hierzu BB 216: „[…] diese Briefe! Liebste Jette, Herzens Braut, ich kann in diesem Augenblikk noch gar nicht antworten, ich kann noch auf nichts einzelnes kommen, weil ich zu voll bin. Ich kann Dich nur an mein Herz drükken, Du herrliche, und Dir mit den süßesten Küssen danken für alles und Dich mehr sehn und fühlen, als hören lassen, wie selig ich bin durch Deine Liebe.“ In seinen Anmerkungen zur Nikomachischen Ethik unterscheidet Schleiermacher zwei Generalzwecke, die eine Beziehung haben kann: gefühlsmäßige Sympathie und gedankliche Vertraulichkeit. Über deren Verhältnis muss bei den Partnern Einigkeit bestehen, soll die Beziehung dauerhaft sein. „Eine Zeitlang wird die Neuheit der Verbindung bei dem einen jene Spannung der Empfindung unterhalten, welche die erste Veranlaßung davon war, und eben so lange wird vielleicht dem andern seines Freundes Bestreben nach Vertraulichkeit angenehm seyn, weil er es nur als eine Wirkung jener Gleichheit der Gefühle und als ein neues Symbol der engsten Verbindung ansieht. Allein so bald der
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Der Einsicht in die Momenthaftigkeit der Liebe entspricht die Furcht vor deren Ende,¹¹¹⁶ die sich bis in die Antizipation des Schicksalsschlages auswachsen kann, der den Höhen der Liebe im Dienste einer ausgleichenden Gerechtigkeit gegenübergestellt wird. Diesem naheliegenden Konstrukt hält Schleiermacher die christlichen Tugenden von Glaube und Hoffnung entgegen, die den Vergeltungsgedanken durchbrechen.¹¹¹⁷ Hierin scheint eine wichtige ethische Einsicht auf: die Dauer einer Beziehung ergibt sich nicht von selbst aus der Intensität ihres Anfangs, sondern muss behauptet werden.¹¹¹⁸ Die Partner stehen vor der Aufgabe, aus der Passion in die Aktion zu finden. Hinsichtlich des Verhältnisses von natürlichen Trieben und bewusster Annahme und Gestaltung derselben, haben wir uns dies bereits vor Augen geführt.¹¹¹⁹ eine anfängt in seinen natürlichen Zustand zurükzukehren, und also dasjenige zu vernachläßigen, oder doch nur für seltnere Fälle zu versparen, was der Hauptzwek des andern ist, und dieser im Gegentheil die näheren Untersuchungen des andern, welche über alle Theile der Seele sich erstreken langweilig oder beschwerlich findet so werden sie sich wundern ein anderes Original zu finden als das Bild welches sich jeder von dem andern machte, anfänglich versprach.“ (AAnm 32). Vgl. zur Problematik auch Georg Simmel, der den für Schleiermacher ebenfalls bedeutsamen Entwicklungsbegriff fokussiert: „Es gehört zu unseren tiefsten Schwierigkeiten und Verhängnissen, daß wir die Intensität eines augenblicklichen Zustandes zum Bestimmungsgrund dafür werden lassen, auf eine wie lange künftige Dauer wir eine Verfassung oder ein Verhältnis anlegen. […] Und vor allem: wie wir künftig sein werden, hängt überhaupt nicht eindeutig von jener Intensität ab; zwei Entwicklungsreihen von durchaus verschiedenen Kurven können an einem Punkt die genau gleich große Intensität zeigen. Ob dieser Punkt der echte Repräsentant unseres Entwicklungsgesetzes überhaupt ist oder nicht ist – darüber haben wir nur selten ein richtiges Urteil.“ (Simmel, Geschlechter, 274). Vgl. illustrativ BB 124: „Du hast doch auch rechte Zuversicht, daß es [sc. das schöne Glück – CR] uns nicht etwa wie ein Traum verschwinden, sondern uns zu einer langen schönen Wirklichkeit gedeihen wird.“ Weiterführend vgl. Luhmann, Liebe, 89: „Die in all diesen sachlichen und sozialen Hinsichten grenzenlose Liebe wird gleichwohl in einer anderen Hinsicht begrenzt, nämlich in der Zeit. Die Liebe endet unvermeidlich, und zwar schneller als die Schönheit, also schneller als die Natur. Ihr Ende ist nicht eingeordnet in den allgemeinen kosmologischen Verfall, sondern durch sie selbst bedingt. Liebe dauert nur kurze Zeit, und ihr Ende kompensiert das Fehlen jeder anderen Grenze. Das Wesen selbst der Liebe, der Exzeß, ist der Grund für ihr Ende; und umgekehrt […]. Fast ist die Erfüllung schon das Ende, fast muß man sie fürchten und hinauszuzögern oder zu vermeiden suchen. Als Unbedingtheit verträgt sie keine Repetition. […] Der Moment des Glücks und die Ewigkeit des Leids bedingen sich wechselseitig, sind identisch.“ Vgl. BB 291: „Nur laß keine schlimmen Ahnungen in Dir aufkommen, daß das schöne Glük Dir nicht würde zu Theil werden, daß die Götter uns deshalb nicht strafen, sondern das alles nimm aufs schnellste zurük und überlasse Dich ganz der schönen Hoffnung. […] kommt mir doch nie eine schlimme Ahnung in den Sinn, als könnte das Schiksal zwischen unsern Wunsch und die Erfüllung treten, sondern ich habe den unerschütterlichsten Glauben.“ Vgl. auch BB 305. Im Anschluss an Georg Simmel betont Birgitta Nedelmann die hohe Bedeutung der Treue für Dauerhaftigkeit bzw. fortwährende Wiederentzündbarkeit der Liebe: „Treue ist eine Emotion, die die Wiederbelebung primärer Emotionen ermöglicht. Indem sie die Zerstörung einer Wechselwirkung verhindert, obwohl die primäre Emotion erloschen ist, schafft sie Raum für die Wiederentstehung der ursprünglichen primären Emotion. Liebe wird dann zum ‚Endresultat‘ […] der Treue, ohne daß Treue als ‚Ursache‘ von Liebe zu verstehen ist.“ (Nedelmann, Emotion, 183). S.o. II.1.1 und II.1.2. Zusammenfassend können wir noch einmal Walter Schubart heranziehen: „In der echten Liebe ist das Erlösungsmotiv, das tiefe schweifende Heimweh, früher da als die leibliche
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Hier nun finden wir die Verhältnissetzung auf psychischer Ebene wiederholt. Die Erfahrung der Liebespassion kann allenfalls die Stimmung der Dankbarkeit auslösen, der ein asymmetrisches Gefälle eigen ist. Um zur Einstellung der Treue zu gelangen, bedarf es einer Emanzipation des Selbst, einer bewussten Aneignung des Erfahrenen, die dessen Gestaltung sucht.¹¹²⁰ Damit aus „fruchtbarem Wirken und fröhlichem Sichhingeben“ nicht ein „hartes äußeres Lebensgesetz“ wird, wie Emanuel Hirsch es später formuliert, bedarf es allerdings eines Präsenthaltens der Verdanktheit der Beziehung und ihrer Güter.¹¹²¹ Die basalen, auf unterschiedlichsten Ebenen liegenden Diastasen, die in einer Ehe zu vermitteln sind, erklären, warum die Dauerhaftigkeit einer – als gelungen erlebten – Paarbeziehung so unwahrscheinlich ist und warum ihr zugleich ein so hoher Wert beigemessen wird. Das Gefühl, welches goldene Paare angesichts ihrer Ehe gemeinhin haben, ist dementsprechend zumeist eine eigentümliche Kombination aus Dankbarkeit und Stolz.¹¹²²
Erfüllungsmomente im Beziehungsverlauf Es zeigt sich, dass das Verhältnis von Erfüllung und Dauer zu eng gefasst ist, wenn es allein auf die Problematik von Initiation und Fortsetzung bezogen wird. Ebenso interessant erscheinen die Erfüllungsmomente, die sich aus der Dauer der Beziehung erheben. Die Religion kann in einem Menschen ihren Anfang nehmen durch ein Erlebnis von hoher Intensität – gemeinhin Bekehrung genannt –, welches den weiteren Fortgang eines nüchterneren religiösen Lebens begründet. Was sie hingegen weit
Begierde. Werther sagt von Lotte: ‚Sie ist mir heilig, alle Begierde schweigt in ihrer Gegenwart.‘ Erst allmählich pflegt das Erlösungsmotiv aus seiner ihm eigenen geistigen Zone in die Sinnlichkeit herabzusteigen. Am Erlösungsmotiv entzündet sich der leibliche Drang. Der umgekehrte Fall ist selten.Wo die Geschlechterneigung von der Begierde ausgeht, bleibt sie am liebsten bei der Begierde, und als Begierde kann sie nicht lange bleiben.“ (Schubart, Religion, 90). Vgl. PhE 663: „Das Miteinbilden des afficirten Selbstbewußtseins in alle erfüllten Momente ist die Gemüthlichkeit, das Produciren selbständiger Symbole derselben ist die Begeisterung. Die scheinbare Seltenheit der letztern verschwindet, wenn man auch die Aneignung schon als Begeisterung ansieht.“ Zur Beschreibung der Überschneidungen und Differenzen von Dankbarkeit und Treue vgl. Bollnow, Geborgenheit, 94– 96. Vgl. Hirsch, Hauptfragen, 249. In seiner ethisch engagierten (zeit‐)historischen Analyse betont Philippe Ariès: In der Vormoderne war die Ehe ein Präzedens, das heißt die Folge eines einmal begangenen Rechtsaktes. „Es war einmal gewesen, und darum würde es immer sein; bloße Dauer könnte dem nichts hinzufügen.“ Dagegen: „Heute zählen Ursprung und Art der Bindung wenig; worauf es ankommt, ist ihre Dauer. Letztlich – und ohne daß dies ausdrücklich gesagt würde – kommt eine wirkliche Ehe, die sich übrigens kaum von einer dauerhaften freien Verbindung unterscheidet, nicht durch einen Akt auf dem Standesamt oder in der Kirche und auch nicht durch eine vorgängige und anfällige Entscheidung zustande, sondern durch die Tatsache ihrer Dauer. Die wirkliche Ehe ist eine dauerhafte Gemeinschaft, eine lebendige und fruchtbare Dauer, die dem Tode trotzt – eine untergründige Revanche der dynamischen Kontinuität in einer Gesellschaft, die dem Augenblick und dem Bruch huldigt.“ (Ariès, Liebe, 174).
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mehr im Sinne Schleiermachers ausmacht, ist die Gegenrichtung des Verhältnisses von Intensität und Kontinuität: die fortwährende Öffnung des Bewusstseins für das ‚Universum‘ aus dem alltäglichen Gang heraus.¹¹²³ In Analogie dazu lässt sich auch die partnerschaftliche Liebe beschreiben: eine Ehe hat nicht nur in einem Moment intensiver Verliebtheit ihren Ursprung, sondern besteht zugleich in der kontinuierlichen Offenheit für entsprechende Erfahrungen.¹¹²⁴ Wie die Religion ist auch die glückliche Ehe geprägt von einer Kultur der Horizontöffnung, die im Gang des Alltäglichen stets wieder das darüber Hinausweisende sucht. Solches geschieht geradezu instinkthaft und selbstverständlich, was sich bereits in dem Faktum ausdrückt, dass „man nach einer langen Trennung und Verlangen immer […] einen besonders schönen Augenblik des Wiedersehns erwartet […].“¹¹²⁵ Jedoch nicht bloß die lichthaften Momente; auch die Dauer selbst birgt Erfüllungspotentiale.¹¹²⁶ Zum einen gilt ganz grundlegend, dass die Gemeinschaft mit einem Menschen zu genießen, ein Genuss in der Zeit ist. Schon das einfache Zusammensein mit einer geliebten Person wird gemeinhin als lohnend empfunden.¹¹²⁷ Nicht allein die „feierlichen Stunden der Andacht oder der Trauer“ sondern auch die „leichteren Augenblicke[…] geselliger Ruhe und Freude“ sind dazu prädestiniert, das Lebensgefühl insgesamt zu heben und zu bessern.¹¹²⁸ Dessen innezuwerden bedarf es
Im Sinne dessen hat Schleiermacher das ‚ewig sein in einem Augenblick‘ aus der Erstauflage der Reden zum ‚ewig sein in jedem Augenblick‘ seit der Zweitauflage gewendet, was Michael Trowitzsch interpretiert als Hinweis auf die „in jedem Augenblick gegebene Möglichkeit der Religion“ (Trowitzsch, Unsterblichkeit, 430). Zur Koordination von Religion und erfüllendem Moment der Sexualität s.o. II.1.2.3. Illustrativ zum Ineinander von Naturerleben, Sehnsucht, Liebe und Religion vgl. Brief 1224, 394– 397 (An Eleonore Grunow). BB 368. Vgl. Bardeleben, Abschied, 120: Von den befragten Jugendlichen der Studie war die Gruppe derer, die in einer festen Partnerschaft mit sexueller Treue lebte, mit Abstand am zufriedensten. Diesen Befund bestätigt Kurt Starke. In seinen Studien haben im Schnitt 90 % der Befragten angegeben, orientiert zu sein an einer dauerhaften, intensiven Beziehung. Dabei gaben sogar 87 % der Interviewten an, mit ihrem aktuellen Partner ein Leben lang zusammenbleiben zu wollen. (Starke, Liebe, 97). Aus der Nikomachischen Ethik übersetzt Schleiermacher: „[…] so ist Freunden das Zusammenleben das angenehmste, denn außerdem, daß Freundschaft an sich in der Gemeinschaft besteht, so ist man auch gegen einen Freund grade wie gegen sich selbst gesinnt, und da uns das Gefühl unseres eignen Daseyns angenehm ist, so muß es auch die Empfindung von der Existenz unseres Freundes seyn und diese Empfindung erhalten wir durch den Umgang mit ihm.“ (AÜ 80). H 375 [Hervorhebung getilgt – CR]. Im sachlichen Anschluss hieran lässt sich Otto Friedrich Bollnow zitieren, der unter Bezug auf Baudelaire, Baader und Jacobi feststellt: Die gehobene bzw. glückliche Stimmung nicht rauschhafter Art, wie sie einen in der Frische des Morgens beseligen kann, aber gewiss auch durch eine erfüllende Liebesbeziehung vermittelt wird, lässt dem Menschen die Welt nicht nur schöner und kräftiger erscheinen, sondern macht ihn auch selbst besser, „milder“, „künstlerischer und gerechter, – mit einem Wort: edler.“ Darin liegt die hohe ethische Bedeutung der Ruhe (Bollnow, Wesen, 66 – 71).
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nichts weiter, als einer gewissen Aufmerksamkeit dafür.¹¹²⁹ Zum anderen ist das Bewusstsein von der Intaktheit einer Beziehung, also das institutionelle Getragensein von dieser, Anlass für das Erlebnis von Sinn. Schon das Vertrauen auf das emotive Leistungspotential einer intakten Beziehung schafft Erfüllung, selbst wenn diese ‚Leistungen‘ nur selten abgerufen werden.¹¹³⁰ Der mit dieser Beschreibung anvisierte Gehlen’sche Begriff der ‚institutionellen Hintergrundserfüllung‘ geht freilich über Schleiermacher hinaus.
Der bedeutungsvolle Augenblick als Identitätsmarker Mit dem zuletzt genannten Aspekt ist der Bogen zum ‚Augenblick‘ zurückgeschlagen. Er erscheint als Moment der Validierung einer partnerschaftlichen Verbindung.Wie in einem Brennglas wird in ihm die Bedeutungsreichweite der Beziehung erfahren, die im alltäglichen Leben nur in Teilen präsent wird. In einer im Advent gehaltenen Traupredigt vergleicht Schleiermacher den Eheanfang mit der gegenwärtigen Kirchenjahreszeit. Der Advent entfaltet seine besondere Feierlichkeit und Erwartungsspannung erst im Verhältnis zu den folgenden Sonntagen und Festen einerseits und den im gesamten Jahr quantitativ deutlich überwiegenden Werktagen andererseits; ebenso bedarf auch der Auftakt der Ehe des Lebenskreises ihrer Dauer, um seine Wirkung zu entfalten.¹¹³¹ Für die Dauer sind im Umkehrschluss die Höhepunkte von großer Bedeutung: „[…] festliche Tage nähren die Dankbarkeit gegen Gott, fachen die Glut einer reinen Liebe lebhafter an, und überstreuen das so leicht verbleichende Leben wieder mit einem frischen Glanze.“¹¹³² Auch im Blick auf seine eigene Ehe markierte Schleiermacher solche Höhepunkte. Den Verlobungstag erlebte er wie einen Geburtstag,¹¹³³ den er in seinen Briefen an
Vgl. BB 372: „Und ja wohl sollst Du übers Jahr noch glüklicher sein als jezt. Ich will zwar nicht sagen, daß sich beides gegen einander verhält, wie die Hoffnung und die Wirklichkeit. Denn ist nicht die Wirklichkeit auch jezt? haben und genießen wir einander nicht auch jezt? ist nicht jeder ganz in des andern Leben und Seele eingedrungen?“ Vgl. Tyrell, Interaktion, 384: „[…] im Alltag von Familien [geht es keineswegs] beständig um ‚Glück oder Unglück‘ […]. Wie die kulturell aufgegebene Glücksthematik in das Familienleben jeweils ‚eingearbeitet‘ wird, dafür müssen wir mit einem ungeheuren familiendynamischen Variantenreichtum rechnen. Man darf aber sagen, daß ‚intakte Familien‘ vermutlich an dieser Front weitgehend ‚entlastet‘ operieren; das ‚familiale Glück‘ ist vorzugsweise nur als ‚Hintergrundserfüllung‘ zu haben. Im Positiven bleibt die Glücksthematik – über ‚erhebende Augenblicke‘ hinaus – folglich eher latent, denn explizites Glücksstreben läßt sich schwerlich ‚veralltäglichen‘. Allerdings kann familiensubkulturell dem abrufbaren Hintergrundswissen von der eigenen ‚Intaktheit‘, also dem familialen Erfolgsbewußtsein vielfach größte Bedeutung zukommen.“ Fast erscheint die familiale Liebe wie eine ‚Stimmung‘ aus der sich momentweise ‚Gefühle der Liebe‘ erheben können. Zur Differenz von Stimmung und Gefühl vgl. Bollnow, Wesen, 22– 25. Vgl. P 8, 706 – 709. P 8, 708. Vgl. BB 123: „[…] ich [wandle] in einem neuen Leben […]. Geboren wurde es doch in dem Augenblikke, wo Du mir deine Hand gabst, aber auch die seligen Augenblikke, wo ich zuerst vorahnend
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Henriette sodann fortwährend als Referenzpunkt mitführt.¹¹³⁴ Den Ort der Verlobung betrachtet er wie ein Familienheiligtum¹¹³⁵ und selbst alltägliche Verrichtungen, wie das Baden, werden durch ihren Bezug zur Verlobung mit Bedeutung aufgeladen.¹¹³⁶
Spezifika des Gegenwärtigseins Was sich in Momenten des Glücks von selbst ergibt, bedarf im Alltag einer besonderen Aufmerksamkeit: die Gegenwärtigkeit. In seinen Frühschriften bezeichnet Schleiermacher sie als die Erlebnisdimension der Ewigkeit.¹¹³⁷ Schon bei Aristoteles fand er den Gedanken einer Höherwertung der Intensität des Lebens gegenüber dessen bloßer Dauer.¹¹³⁸ An seine Braut schreibt er später, in dieser Zeit sei „nichts, durchaus nichts sicher […], als der gegenwärtige Augenblik“.¹¹³⁹ Unter den Bedingungen politischer Unwägbarkeit, mag dies als ein Festklammern an dem letzten, was einem noch bleibt, erscheinen. Doch Schleiermacher hielt auch unter konsolidierten Verhältnissen noch daran fest. Nicht die Zukunft, sondern allein die Gegenwart ist die Zeit, in der Glück fühlte, wo es gleichsam empfangen wurde, rufe ich mir zurük mit der innigsten Freude und Dankbarkeit.“ Vgl. BB 137: Der Verlobungstag „soll uns immer ein ganz heiliger Tag sein“. Der Zeitpunkt (18.07. 1808) der Verlobung ist Schleiermacher so wichtig, dass er in vielen seiner Briefe die Wochen und Monate nach der Verlobung zählt. Vgl. z. B. BB 110. 169. 204. 255. 305. 363, ferner: 361. In BB 377 reflektiert er darüber: „Wie man bei den kleinen Kindern das Alter zuerst nach Wochen und Monaten rechnet, so auch ich bei unserer Liebe. Jeder Montag und jeder 18 t. des Monats sind mir neue Festtage.“ Vgl. BB 171: „Besuchst Du auch wol die Brunnenaue und sezest Dich an den Flek, wo Du Dich mir gegeben hast?“ BB 173: „Grüße mir die liebe Bank in der Brunnen Aue und sage ihr recht viel schönes von mir. Herzens Jette, es ist doch ein einziges Gefühl, mit dem ich an diesen Augenblik zurük denke, der, was sich so lange im Verborgenen gebildet hatte, plözlich ans Licht brachte.“ Vgl. auch BB 216, wo Schleiermacher seinem Dank über einen Blumenkranz von der Brunnenaue zu seinem Geburtstag Ausdruck verleiht. BB 176: „Und noch ganz aufs neue ist mir der symbolische Werth des Badens klar geworden in Sagard; denn unmittelbar vor dem schönsten Augenblik meines Lebens hatte ich mich ja gebadet, und Du auch. Ich hatte freilich mehr von mir zu thun und abzuwaschen als Du. […] Nun sieh nur, wie ich immer wieder auf das eine, auf den schönen Ursprung unseres neuen Lebens zurükkomme.“ Vgl. R 247. M 14. Vgl. AÜ 75: „Geld und Ehre und alle diese gepriesenen Erdengüter wird er [sc. der Rechtschaffene – CR] hingeben um das Bewustseyn einer einzigen schönen Handlung zu erkaufen, weil er das große Vergnügen eines Augenbliks dem ungleich schwächeren einer langen Zeit vorzieht, er wird lieber ein Jahr auf dem Gipfel sittlicher Vollkommenheit als eine lange Reihe von Jahren nach der gewöhnlichen Weise der Menschenkinder verleben wollen, er wird lieber eine große und edle als viele aber kleine und unbedeutende Handlungen verrichten.“ BB 108. Gleich einem Kommentar hierzu liest sich Bollnow, Geborgenheit, 139 f: „Alle bestimmte Geborgenheit gründet letztlich in einer inmitten aller Gefährdung freischwebenden Geborgenheit im Unendlichen. Dieser Mensch kann sich in allem seinem Tun nicht mehr übertrieben wichtig nehmen. Aber das bedeutet keine Gleichgültigkeit, die die Hände in den Schoß legt und alles geschehen läßt, wie es kommt, sondern grade durch die Lösung von der Selbstbefangenheit wird er freigegeben für die Hingabe an sein Werk.“
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erfahren werden kann.Wo die Chance der Gegenwart hingegen nicht ergriffen wird, ist ein zukünftiges Glück unwahrscheinlich.¹¹⁴⁰ Der klassisch eschatologischen Entgegensetzung von ‚irdischem Jammertal‘ und ‚himmlischem Freudensaal‘ setzt Schleiermacher sein Plädoyer für den Mut zur Gegenwärtigkeit entgegen.¹¹⁴¹ Schließlich besteht das Glückserleben doch gerade darin, im Moment aufzugehen, ohne sich von Lasten der Vergangenheit oder Sorgen der Zukunft beschweren zu lassen.¹¹⁴² Nun kann ein andauerndes Nur-im-Moment-Leben für Schleiermacher allerdings auch nicht als ethisches Ideal gelten. Im Zuge der Suche nach Erklärungsgründen für das Phänomen des Selbstmordes bestimmt er grundsätzlich: „Ohne ein solches [„in den Moment Versenktsein“ – CR] bis zu einem gewissen Grade ließe sich gar kein Leben denken, und wir haben es schon gefunden in einer Menge von Zuständen bei einer jeden Funktion.“¹¹⁴³ Allerdings gäbe es auch „ein Versenktsein des ganzen Lebens in den Moment, was wir, im ganzen betrachtet, angesehen haben als einen sehr untergeordneten Entwicklungszustand, insofern sich das geistige Leben noch nicht so frei gemacht hat, um sich über den Eindruck des einzelnen Moments zu erheben.“¹¹⁴⁴ Die für das Menschsein und dessen ethische Dignität konstitutive Selbstreflexion weist ja bereits über das bloße Momenterleben hinaus, indem es dieses in sein identitäres Selbstkonzept einordnet. Für den Aufbau einer Paaridentität muss dasselbe gelten. Wenngleich also die großen Momente des Lebens auch als zeitenthoben erfahren werden, dürfen sie nicht aus der Zeit gerissen werden.¹¹⁴⁵ In der Frühschrift Über den Vgl. H 345: „Vergeblich aber hofft ihr, in einen künftigen Zustand ein fröhliches Herz hinein zu bringen, wenn ihr nicht den gegenwärtigen mit fröhlichem Herzen ausfüllt.“ Vgl. H 373: „Es hieße das Reich Gottes verkennen, das sich unter uns erbauet hat, wenn wir immer seufzen wollten, die Erde wäre noch immer nichts als ein Jammertal. Solche Klagen sollen nicht aufkommen, solche Empfindungsart soll das Leben eines Christen nicht verbittern!“ Zu Glück und Zeitlosigkeit vgl. Bollnow, Wesen, 187– 191. „Es gibt bestimmte Formen eines solchen vom Lauf des sonstigen Lebens scharf abgehobenen Zeiterlebens, in denen den Menschen das Bewußtsein der Zeit überhaupt abhanden kommt. […] Aber dieses Schwinden des Zeitbewußtseins wird nicht als Mangel empfunden, sondern im Gegenteil als letzte, äußerste Erfüllung des Lebens […] und von da her bekommt die Zeitlosigkeit den positiven Charakter der Ewigkeit“ (Bollnow,Wesen, 187). Ferner zu ‚Glück und Vergessen-Können‘ vgl. Bollnow, Wesen, 132 f. Josef Pieper schreibt: „Für einen Augenblick ist, in der erotischen Liebe, die Welt des Menschen ‚heil‘ und das Dasein wohlgeraten und geglückt. Darum mag sie auch jedermann, die Liebenden.“ (Pieper, Liebe, 110). Psy 44. Psy 44 [Hervorhebung – CR]. Vgl. dazu auch Bollnow, Wesen, 196: „Es könnte zunächst scheinen, als ob der Zeitlosigkeit des reinen Glückszustands gar kein andrer Übergang in das gewöhnliche Leben möglich sei als ein einfaches Hinausfallen, bei dem der Mensch sich enttäuscht aus dem erträumten Paradies wieder […] in die frühere Alltäglichkeit des Lebens zurückversetzt findet. […] Es zeigt sich aber, daß dies keineswegs der Fall ist. Dieses enttäuschte Erwachen aus dem Traum tritt nur dort ein, wo durch ein Versagen des Menschen der fruchtbare Augenblick nicht wirklich fruchtbar geworden ist. Überall da aber, wo er wirklich gezündet hat, wächst aus der Zeitlosigkeit dieses Erlebens die Spannung hervor, welche den in sich selber ruhenden Augenblick von innen heraus sprengt und sich dann in dem tätigen Einsatz für die Verwirklichung des zuvor Erschauten entlädt.“ Detaillierter dazu s.u. in diesem Teilkapitel.
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Wert des Lebens beschreibt Schleiermacher die oft missliche Diskrepanz zwischen der ‚betrachtenden Erinnerung‘ und der ‚genießenden Gegenwart‘.¹¹⁴⁶ Nur wo beide übereinstimmten, sei die Selbstbetrachtung des Menschen angemessen. Wo diese Übereinstimmung fehlte, beobachte man hingegen oft den Mangel einer ‚gegründeten ruhigen Gleichmüthigkeit‘ und eines ‚gefaßten Geistes‘, die für eine fruchtbare Zukunftsgestaltung doch notwendig sind.¹¹⁴⁷ Auch der erzählerische Rahmen der Weihnachtsfeier handelt von der Eingebundenheit und dem Voraussetzungsreichtum der erhebenden Stimmung, die sodann alle ergreift. Ohne die liebevolle und geschäftige Vorbereitung der Frauen beim Schmücken des Hauses, der Besorgung von Geschenken usw. wäre der materiale Darstellungsrahmen für den sodann genossenen intelligiblen Gehalt überhaupt nicht gegeben und letzterer hätte wenig Anhalt für eine emotive Aneignung.¹¹⁴⁸ Zwar lassen sich Stimmungen – und schon gar die Liebe¹¹⁴⁹ – nicht herstellen, aber sie lassen sich durch die Bereitstellung von Darstellungsanlässen wahrscheinlicher machen, bzw. im Negativ verhindern. Die als besonders bedeutungsvoll erlebten Momente im ehelichen und familialen Leben gründen stets in der Dauer des Lebens und schließen sich zumeist sogar an besondere, bewusst herbeigeführte Anlässe an; bzw. noch formalisierter: familiale Interaktion ist nicht nur Produkt vorher investierter Liebe, sondern generiert diese im Gegenzug auch.¹¹⁵⁰
Die Liebe will Dauer Das Liebeserlebnis schafft nicht nur eine Entgrenzung im Erleben des Moments, sondern verlangt auch nach Dauer in der Zeit. Im Symposion stellt Platon die Doppelthese auf, dass der Eros begehrt, was er nicht hat und wenn er etwas begehrt, das er hat, so bedeutet dies, dass er begehrt, es auch in Zukunft zu haben, die eben nicht in seiner Habe ist.¹¹⁵¹ Die Spitzenthese, „die Liebe [ist] der Wunsch, das Gute für immer zu besitzen“, haben wir bereits oben zitiert.¹¹⁵² Auch Schleiermacher ist davon überzeugt, dass der Ganzheitlichkeit des Liebeserlebnisses eine Unbeschränktheit in der Zeit entsprechen muss. Über die ‚Geschlechtsgemeinschaft‘ bestimmt er im Brouillon: „Wenn nun schon bei jeder andern Gemeinschaft die Sittlichkeit innere Fortdauer verschafft, wieviel mehr bei dieser, die sich von allen andern dadurch unterscheidet, daß der eine ganz eigentlich Princip des Andern wird.“¹¹⁵³ Sittlichkeit ist für Schlei WL 403. WL 402. Vgl. dazu auch Frank, Selbstentfaltung, 121. Vgl. W 503. Vgl. dazu pointiert Schlegel, Lucinde, 32: „In einem Augenblick ist die Liebe da, ganz und ewig, oder gar nicht. Alles Göttliche und alles Schöne ist schnell und leicht. Oder sammelt die Freude sich etwa so wie Geld und andere Materien durch ein konsequentes Betragen?“ Vgl. auch ebd., 61. Vgl. hierzu Maiwald, Liebe, 178 – 181. Vgl. Sym 48 – 51. Sym 58 [Hervorhebung – CR]. S.o. II.3.1.1. PhE 133. Die Konsequenzen dessen für die Bewertung der Sexualität haben wir bereits bedacht (s.o. II.1.2.1). Für den gegenwärtigen Zusammenhang können wir Dux, Geschlecht, 141 wie einen
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ermacher, wie wir oben sahen, eine Integrations- und Balancefigur zwischen Natur und Geist, Individualität und Sozialität.¹¹⁵⁴ Die Liebe der Geschlechter entwickelt in all diesen Komponenten starke Wirkungen und verschränkt sie zugleich. Bedeutet Sittlichkeit immer Dauer, dann muss diese hier, so die Argumentation im Brouillon, besonders groß sein. Ein eng damit verbundenes, aber doch etwas anders gelagertes Argument für die Tendenz der Liebe zur Dauer finden wir in der Ethikvorlesung von 1812/13: „Die Einheit der Geschlechtsgemeinschaft mit ihrer Unauflöslichkeit zugleich gesezt ist der wahre Begriff der Ehe.“¹¹⁵⁵ Ganz ähnlich heißt es bei Fichte: „Sie [sc. Mann und Frau – CR] geben sich einander auf immer, weil sie sich einander ganz geben.“¹¹⁵⁶ Einheit bzw. Ganzheit sind klassische Prädikate Gottes, die seine Unendlichkeit beschreiben. Im Phaidon ist Platon entsprechend bemüht, die Einheit auch für die Seele aufzuzeigen, um deren Unsterblichkeit zu erweisen. Derselbe Gedanke treibt auch Schleiermacher, wenn er mit der Einheit der Ehe ihre Untrennbarkeit mitgesetzt sieht. Etymologisch ist die Ehe – althochdeutscher Wortstamm: ‚ewe‘ – ohnehin mit der Ewigkeit verbunden.¹¹⁵⁷ Aber auch psychologisch muss gelten, dass die Ausschließlichkeit des Liebesgeständnisses keine Einschränkungen verstattet,¹¹⁵⁸ schon gar keine zeitlichen. Man mag zur Kenntnis nehmen, dass die meisten Partnerschaften und auch viele Ehen nicht von Dauer sind. Dennoch ist ihr momentaner Entwurf auf Unbegrenztheit hin notwendig.¹¹⁵⁹ Ein Konstrukt wie die ‚Ehe auf Zeit‘ ist sowohl in sich begrifflich widersinnig, als auch – was noch viel entscheidender ist – dem Phänomen der Liebe und der Struktur der menschlichen Psyche unangemessen.
psychologisierenden Kommentar lesen: „Die Versicherung eines bedeutungsvollen Daseins verlangt die Kommunikation über Individuelles, und die ist an den anderen gebunden. Das Verlangen ist so dauerhaft wie das Subjekt selbst. Eben deshalb sucht sie im anderen auch die Dauer der Antwort.“ S.o. I.4. PhE 323, § 14. Illustrativ wäre hier auf den Brautbrief Schleiermachers zu verweisen, in dem er Henriette noch vor der Ehe und ihrem Vollzug den Namen nennt, den ihr gemeinsamer Sohn tragen soll: „Du siehst, ich kann nicht einmal lassen, auch schon die künftigen Verhältnisse mit Dir zu teilen, wieviel mehr noch alle gegenwärtigen.“ (BB 113). Fichte, Grundriß des Familienrechts. Erster und zweiter Abschnitt. In: Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1776), 1. Abschnitt, § 8, 311. Zit. n. Bennent, Galanterie, 120. Vgl. dazu Bayer, Ehe, 18 f. Vgl. dazu Rössler, Grundlagen, 57: „Partielle Konsum- oder Vertragsbeziehungen können durchaus mit einem Minimum an Verbindlichkeit existieren. Verbindlichkeitsreduktionen in der Ehe dagegen träfen sie in ihrem Wesen und würden sie von Grund auf deformieren. Denn die Totalität der ehelichen Wirklichkeit lebt von der Totalität der Zuwendung zu ihr. Deshalb ist eine Lehre von Ehezwecken, die außerhalb der Ehe und ihrer Wirklichkeit selbst liegen, für die lutherische Eheethik unannehmbar. […] Der Zweck der Ehe ist sie selbst.“ Vgl. dazu Dux, Geschlecht, 141. Vgl. auch Bierhoff/Grau, Beziehungen, 102 f: Als wichtigster Stabilisationsfaktor einer Paarbeziehung wurde in einer empirischen Längsschnittstudie die Ähnlichkeit in der Bindungsbereitschaft herausgestellt. Es zeigte sich, „daß eine Übereinstimmung in der Zukunftsperspektive der Partnerschaft entscheidend zum Beziehungserfolg beiträgt.“ (Ebd., 103).
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Mit phänomenologischem Scharfsinn beschreibt später Otto Friedrich Bollnow den Zusammenhang von erfülltem Augenblick und Dauer der Zeit. Im Ausgang von seinen Gedanken, lassen sich manche Figuren Schleiermachers nochmals prägnanter sehen. Grundsätzlich markiert Bollnow die menschliche Lebensaufgabe: Weil das Bewußtsein einer heilen Welt dem Menschen nie als ein gesicherter Besitz gegeben ist, sondern ihm nur in der Gnade des erfüllten Augenblicks geschenkt wird und mit ihr wieder dahinschwindet, entsteht für den Menschen die Aufgabe, sich in dieser heilen Welt zu bewahren und sich von seiner Seite aus in dem zu befestigen, was ihm zunächst nur als Geschenk von außen her zufällt.¹¹⁶⁰
Dies geschieht nicht nur durch eine innere hoffnungsvolle und ‚standhaltende Gesinnung‘, sondern auch durch äußere Handlungen, etwa den Bau eines Hauses, das Bollnow als ‚Stätte der Geborgenheit‘ beschreibt.¹¹⁶¹ Seiner Heimat kann der Mensch durchaus verlustig gehen, jedoch ist ein präventiver Verzicht darauf auch keine Lösung,¹¹⁶² denn „[n]ur indem der Mensch einen bestimmten Lebensraum besetzt und behauptet und ihn als seine eigenste Ordnung gestaltet, nur insofern gewinnt er ein echtes Sein.“¹¹⁶³ Schleiermachers ethischer Begriff des Organisierens scheint hier unmittelbar anschlussfähig, insofern auch er das äußere Wirken in der Welt in dessen Wert für die innerliche Bestimmtheit des Menschen durchsichtig macht.¹¹⁶⁴ Im glücklichen Augenblick sieht Bollnow gleichermaßen Chance und Aufgabe für das Leben. Die Chance besteht darin, dass der Mensch „die eigene Vollkommenheit und zugleich die Vollkommenheit und Beständigkeit der ihn umgebenden Welt“ hier – und ‚nur‘ hier – unmittelbar erfahren kann – eine ‚neue Gläubigkeit‘ wird in ihm gestiftet.¹¹⁶⁵ Verfliegt diese mit dem Erlebnis sogleich wieder, so bleibt ein ‚Gefühl der inneren Leere‘ zurück, ein ‚Kater‘, den Bollnow nicht in der Flüchtigkeit des Moments an sich gründen sieht, sondern darin, dass die Aufgabe, die sich mit dem Augenblick stellte, nicht erfüllt wurde:¹¹⁶⁶ [In] diesen Augenblicken des Glücks [handelt es sich] zugleich in einem tieferen Sinn um Augenblicke einer neuen Konzeption, in denen den Menschen eine neue Lebensaufgabe oder eine neue Sinngebung des Lebens aufgeht.¹¹⁶⁷
Diese will festgehalten und fruchtbar gemacht werden. „Das gesteigerte Bewußtsein der Kraft und des eignen Werts […] verlangt von sich aus nach einer Auswirkung und
Bollnow, Geborgenheit, 117. Bollnow, Geborgenheit, 117. Vgl. dazu Bollnow, Geborgenheit, 135 f. Bollnow, Geborgenheit, 138. S.o. I.4.Einleitung. Bollnow, Wesen, 195. Bollnow, Wesen, 195. Bollnow, Wesen, 195.
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Bewährung.“¹¹⁶⁸ Diesen Anspruch fanden wir auch bei Schleiermacher bereits in dem Vorwurf, die Liebe in der Lucinde sei zuweilen ‚asthmatisch‘.¹¹⁶⁹ Wie sich das religiöse Erlebnis in einen weiteren Kontext des In-der-Welt-Seins auslegen muss, was Schleiermacher in den Prolegomena zur Glaubenslehre mit der Erweiterung des ‚schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls‘ über das ‚Endlichkeitsbewusstsein‘ zum ‚Bewusstsein der Abhängigkeit alles Endlichen‘ beschreibt,¹¹⁷⁰ so kann auch die Liebe nicht beim innerlichen Moment stehen bleiben, sondern strebt zur Manifestation und Erweiterung in der Dauer. Noch schärfer wird das Verhältnis von Georg Simmel gefasst. Dem erfüllten Moment wird nicht nur entsprochen, wenn er für die Dauer fruchtbar gemacht wird; er wird im Lichte ihrer auch selbst noch vertieft: Ein subjektiver Reflex verleiht der Ehe einen eudämonistischen Erfolg, den die freie Liebe nicht besitzen kann: daß jeder Augenblick die ganze Zukunft in sich schließt, daß kein Ereignis isoliert, sondern ein Durchgangspunkt im Leben dieses Sozialindividuums zu Zweien ist, dessen weitere Entwicklungen latent in ihm liegen, von ihm mitbestimmt werden. Diese Antizipation einer unabsehbar sicheren Zukunft, die in jedem Glücksaugenblick einer monogamen Ehe liegt, bewirkt eine unvergleichliche Erweiterung, Erhöhung und Vertiefung des Gefühls. – Ähnlich im Religiösen: das Kind Gottes empfindet jeden Augenblick des Lebens nur als Durchgangspunkt zu einer unendlichen seligen Zukunft, die latent in ihm liegt und die es psychologisch antizipiert. – Kontinuität des Lebens, die die Liebe und die Religiosität schafft.¹¹⁷¹
Wir können schließen; trotz aller Schwierigkeiten, die sich mit dem Anspruch der Liebesheirat verbinden und trotz mancher Sperrigkeit und zuweilen auch gefährdenden Sprengkraft, die der Kairos der Liebe für den Chronos der Ehe besitzt, gilt das Umgekehrte der eingangs zitierten These: Nichts ist folgerichtiger, als bei Liebe an Ehe zu denken.
Bollnow, Wesen, 196. Ausführlicher beschreibt Bollnow die sich darin ergebenden Dynamiken im Anschluss: „Aus der zunächst noch rein passiven Schau der neuen Vorstellungswelt erwächst allmählich ein Ziel des Handelns, zunächst noch in einer unzugänglichen Ferne, in einem Stadium eines unverbindlichen und spielerischen Plänemachens. Aber wie von selbt nehmen diese Pläne dann eine festere Gestalt an. Allmählich wächst die Ungeduld, ans Werk zu kommen, und so entwickelt sich aus dem Zustand einer gelösten Ruhe immer mehr die innere Spannung, er lädt sich gewissermaßen mit Energie auf, bis sich dann die gesammelte Kraft dieses Zustands in der Tat, in einem neuen Werk entspannt, um danach im Vorgang der Zielverwirklichung langsam in den ruhigeren Gang eines stetigen Ablaufs überzugehen, in dem dann wiederum die gehobenen Stimmungen beim fortschreitenden Gelingen und die beklommenen Stimmungen bei auftretenden Widerständen einander abwechseln.“ (Ebd., 196 f). L 164. S.o. II.3.1.1. Vgl. CG2, § 8.2, 66 – 68. Simmel, Geschlechter, 274 f.
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3.2.3 Selbstzweckliche Gemeinschaft und Zweckgemeinschaft Nicht irgendeine rechtliche oder sittliche Forderung der Einordnung in ein gemeinschaftliches Ganzes ist für Schleiermacher das Motiv der Gemeinschaftsbildung, auch nicht die Erkenntnis von der Notwendigkeit und dem Nutzen eines organisierten Zusammenlebens und Handelns, sondern allein die Liebe […].¹¹⁷²
Mit diesen Worten meint Johannes Perle das Programm Schleiermachers auf den Punkt zu bringen und verfehlt bei aller Eingangsevidenz damit wichtige Pointen seines Denkens, um die es uns hier vorrangig gehen soll. Zu nennen wären v. a. die Differenz von Geselligkeit und Gemeinschaft hinsichtlich ihrer Zwecke und Schleiermachers Bestreitung einer schroffen Diastase zwischen Selbstzwecklichkeit und Nutzen.Worin Perle mit seiner Charakterisierung gleichwohl ins Schwarze trifft, ist die Signatur des romantischen Liebesparadigmas als solchen.
Der romantische Liebescode und sein Anspruch der Zweckfreiheit Keine ‚niederen‘ materiellen Berechnungen und keine Fortpflanzungsabsichten sollen die Partnerwahl leiten, sondern allein das ‚göttliche‘ Fatum der Liebe.¹¹⁷³ Mit dieser, die Liebesbeziehung ‚in sich selbst verabsolutierenden‘ Forderung¹¹⁷⁴ wirft sich der Frühromantiker Schleiermacher den herrschenden Verhältnissen des allzu kalkülbelasteten Heiratsmarktes programmatisch entgegen.¹¹⁷⁵ Neu waren solche Forderungen nicht. Bereits von Aristoteles kannte Schleiermacher den Versuch, das hohe Gut der Selbstzwecklichkeit von Beziehungen dadurch zu behaupten, dass er solche als kategorial eigenständige Formen der Freundschaft pries,¹¹⁷⁶ die eigentlich allein diesen Namen verdienten.¹¹⁷⁷ In klarer Differenz dazu
Perle, Individualität, 24. Vgl. K 3: „Du sollst von den Heiligthümern der Liebe auch nicht das kleinste mißbrauchen: denn die wird ihr zartes Gefühl verlieren, die ihre Gunst entweiht und sich hingiebt für Geschenke und Gaben, oder um nur in Ruhe und Frieden Mutter zu werden.“ Zu den Folgerungen dessen für die Sexualität s. o. II.1.2.3. Vgl. Luhmann, Liebe, 181: „Die Kombination Zufall/Schicksal besagt dann: daß das voraussetzungslose Beginnen die Bedeutung der Liebesbeziehung nicht beeinträchtigt, vielmehr als Unabhängigkeit von jeder Außenprägung diese Bedeutung gerade steigert, sozusagen in sich selbst verabsolutiert.“ Es wird sich zeigen, dass wir auch in der Schleiermacherexegese zwischen dem romantischen Programm und seiner Stelle und Funktion in der ethischen Beschreibung und Urteilsbildung unterscheiden müssen. Vgl. AÜ 49: „Das Wohl eines Freundes muß ihn [sc. den Liebenden – CR] aber um sein selbst willen interessiren.“ AÜ 51: „Der Liebende hat seine Lust an der Person des Geliebten, […].“ AÜ 52: „Jedoch weil einmal allgemein angenommen ist, auch die Freunde zu nennen, die durch ein gegenseitiges Interesse verbunden sind […] und eben so die, welche einander um eines gemeinschaftlichen Vergnügens willen zugethan sind, wie die Kinder – so dürfen wir beiden diesen Titel nicht absprechen, nur müßen wir den gehörigen Unterschied zwischen den drei Arten der Freundschaft
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stünden Beziehungen, die aus Nützlichkeitserwägungen oder um des Vergnügens willen geschlossen seien und ihre Existenzberechtigung verlören, wenn diese Zwecke nicht mehr erfüllt würden.¹¹⁷⁸ Aristoteles zeigte allerdings zugleich drei Anschlussstellen für Rationalismen und Zweckhaftigkeiten der selbstzwecklichen Beziehungen auf. So sei, erstens, eine gewisse soziale Gleichheit der Partner vorausgesetzt;¹¹⁷⁹ zweitens, seien besondere Attraktionsqualitäten beim Gegenüber erforderlich, nämlich moralische Güte und Bildung;¹¹⁸⁰ und drittens wird auch die selbstzweckliche Freundschaft als nützlich und angenehm anerkannt.¹¹⁸¹ Empirisch zeigt sich all dies bestätigt: Liebesbeziehungen sind weder voraussetzungslos, noch interesselos bzw. nur auf das Eigeninteresse des Gegenübers bezogen, noch unzweckmäßig. In der soziologischen ‚Austauschtheorie‘ finden wir einen Versuch, diesen Befund zu systematisieren. Im Sinne der Marktökonomie versteht sie Partnerschaft als ein wechselseitiges Geschäft der Zueignung von emotiven, psychischen, sozialen und materialen Gütern.¹¹⁸² Die Besonderheit besteht nach Edna und Uriel Foa hierbei nun darin, dass nicht jede Tauschkombination als angemessen empfunden wird.¹¹⁸³ So mag es sein, dass der eine Partner einen höheren sozialen Status in die Beziehung einbringt, dem der andere nicht direkt zu entsprechen vermag; dieser für jenen allerdings durch höhere Bildung attraktiv ist. Solches wird gemeinhin als legitim empfunden. Anders verhält es sich, wenn die Sphären des Tausches zu weit auseinanderliegen, wie etwa die ökonomische und die emotionale Sphäre. Liebe, als das denkbar persönlichste Gut will mit Gegenliebe vergolten wer-
machen, worunter ohnstreitig die Freundschaft der Tugend die erste und höchste ist und beide andre diesen Namen nur in so fern verdienen, als sie mit jener einige Aehnlichkeit haben.“ Vgl. AÜ 49: „[…] da liebt einer den andern nicht um sein selbst, sondern blos um des Gutes willen, welches er durch ihn zu erlangen hoft. Eben das läßt sich auf die Verbindungen anwenden, die ihr Daseyn blos dem Vergnügen zu danken haben.“ AÜ 50: „In dem ersten Fall also gründet sich die Liebe auf etwas, das für uns gut, im andren auf etwas, das für uns angenehm ist, und es kommt in beiden nicht auf die eigenthümliche Beschaffenheit des Gegenstandes an, sondern nur auf das Verhältniß des Nuzens oder der Annehmlichkeit, welches er gegen uns hat.“ Aristoteles wertet beide Formen der Freundschaft als „nur zufällige Verbindungen“, die „sehr leicht getrennt“ werden, ab. „Man hört auf sich zu lieben, sobald man aufhört sich nüzlich oder angenehm zu seyn.“ Vgl. AÜ 50 – 52. 80. AÜ 50: „Vollkommen ist nur die Freundschaft tugendhafter Männer, die sich im Guten ähnlich sind; hier ist auf beiden Seiten das Wolwollen gleicher Art.“ Zur Diskussion dessen bei Schleiermacher vgl. AAnm 19 – 21. Vgl. AÜ 54: „[…] der Tugendhafte ist freilich beides, nüzlich und angenehm […].“ Vgl. auch AÜ 80 (zur Zitation dessen s.o. II.3.2.2). Vgl. Schneider, Ehe, 61: „Austauschtheoretisch betrachtet heiraten Individuen dann, wenn der daraus resultierende erwartete Nutzen im Vergleich mit anderen Handlungsalternativen am größten ist. Ob und wann dies der Fall ist, entscheiden Individuen subjektiv rational, das heißt, viele Entscheidungen beruhen auf unzureichenden Informationen, überzogenen Erwartungen und falschen Einschätzungen.“ Vgl. zusammenfassend hierzu Hill/Kopp, Familiensoziologie, 84– 94. Weitergehend zu ‚ökonomischer Theorie der Familie‘ und ‚Theorie der rationalen Wahl‘ vgl. ebd., 94– 120. 131– 134.
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den.¹¹⁸⁴ Sie hingegen etwa mit dem denkbar Unpersönlichsten, nämlich Geld, in direkte Verbindung zu bringen, erscheint unpassend, auch wenn die Bedeutung ökonomischer Faktoren für das Entstehen und die Dauer einer Beziehung erheblich ist.¹¹⁸⁵ Grund dafür ist die Durchsetzung des romantischen Liebesparadigmas im Sinne einer conditio sine qua non. Die wechselseitige Liebe darf in der Ehe nicht fehlen.¹¹⁸⁶ Wo dies der Fall ist, wird ihr Existenzrecht bestritten und zwar mit psychologisch und ethisch guten Gründen.¹¹⁸⁷ Das heißt allerdings nicht, dass die Liebe die einzige Basis der Ehe wäre oder dies überhaupt sein könnte.¹¹⁸⁸ Die in Luhmannscher Diktion bereits zitierte ‚Selbstverabsolutierung‘ der Liebe kann sich maximal auf der Ebene der expliziten Kommunikation bzw. Programmatik halten, faktisch findet sie in ihrer Ausschließlichkeit keinen Anhalt. Auch Schleiermacher hatte dies bereits früh erkannt und beschrieb die Funktion der ‚freien Liebe‘ in ebenjener Weise.¹¹⁸⁹ In der Christlichen Sitte finden wir sodann neben den geisttheologisch gewendeten Passivitäts- und Passionsmomenten, die wir uns oben bereits vor Augen geführt haben,¹¹⁹⁰
Auf den Punkt gebracht finden wir dies im Gebot K 8: „Du sollst nicht geliebt seyn wollen, wo du nicht liebst.“ Niklas Luhmann behauptet ebenso, „daß Liebe nur durch Liebe zu motivieren sei: Liebe bezieht sich auf Liebe, sucht Liebe, wächst in dem Maße als sie Liebe finden und sich selbst als Liebe erfüllen kann.“ (Luhmann, Liebe, 36). Nah an Schleiermachers Würdigung der Lucinde, die ebenfalls auf Einheitlichkeit abstellt und sich gegen rationalisierende Zergliederungen der Liebe wendet, die der Komplexerfahrung jener nicht gerecht zu werden vermögen, schreibt Luhmann weiter: „Intimität wird auch nicht als Tauschverhältnis begriffen. Für alles, was geschieht, findet man Gründe beim anderen und bei sich selbst, und jede Dirigierung der Zurechnung auf Ego oder Alter ist als solche schon ein Verstoß gegen den Code.“ (Luhmann, Liebe, 69). Vgl. Illouz, Konsum, 199 – 206. So kommt auch Arnold Retzers Lob der Vernunftehe nicht ohne die These aus, die Liebe sei vernünftig und daher integraler Bestandteil der Ehe. Vgl. Retzer, Vernunftehe, 47– 50. Im Sinne der ersten Ableitung des kantischen kategorischen Imperativs diagnostiziert Jürg Willi psychologisch: „Das Bedürfnisdenken macht aus Mitmenschen Konsumware. […] Es wird die Illusion erzeugt, der Mensch habe ein Anrecht auf Befriedigung seiner Bedürfnisse und reagiere liebevoll, wenn die Bedürfnisse befriedigt, jedoch wütend und aggressiv, wenn sie frustriert würden. Diese Illusion erwies sich im Ökonomischen bereits als völlig verfehlt. Wachsende Möglichkeiten zur Bedürfnisbefriedigung erzeugen noch größere Bedürfnisse und noch geringere Bereitschaft, sich in dem Bedürfnisanspruch einschränken zu lassen. Soweit Partnerbeziehungen unter der Perspektive der Bedürfnisbefriedigung gesehen werden, verhält sich der Mensch diesbezüglich nicht anders als im materiellen Bereich.“ (Willi, Ko-Evolution, 51). Vgl. den empirischen Befund bei Schneider, Ehe, 68 f: „Liebe scheint für viele, technisch gesprochen, eine Art notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für Heirat zu sein. Erst das Zusammentreffen gefühlsmäßig fundierter Bedürfnisse und klar erkennbarer zweckrationaler Vorteile motivieren zur Heirat. So nannten […] über 90 % der befragten frisch verheirateten Eheleute ‚Liebe‘ als ausschlaggebenden Heiratsgrund, aber der größte Teil dieser Gruppe (ca. 80 %) nannte zusätzlich weitere Motive mit zweckrationalem und traditionalem Hintergrund.“ Vgl. PhE 390 Fn: „Daß die freie Liebe nirgends ganz fehlen kann, erweist sich daraus, daß sie conditio sine qua non der gebundenen ist. […] Fehlt es also einem überall an freier Liebe, so hat auch die gebundene keine Haltung an ihm.“ Vgl. ChS 360. S.o. II.1.1.1 und II.1.1.2.
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die Aufforderung zur Abwägung, paradigmatisch anhand der Frage nach dem Mitspracherecht der Eltern bei der Partnerwahl ihrer Kinder, behandelt.¹¹⁹¹ Dies muss kein Widerspruch sein, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass Liebe und rationale Faktoren nicht nur nebeneinander stehen, sondern auch ineinander greifen.¹¹⁹² In ökonomischer Hinsicht mag sich der romantische Liebescode reserviert zeigen; in anderen Perspektivnahmen tut er dies nicht. Lässt sich die Liebe auch nicht aus noch so guten Gründen generieren, so hat sie, wo sie entflammt, doch zumeist ebensolche. Schließlich entzündet sie sich an moralischen, persönlichen, bildungsspezifischen und kulturellen Faktoren, die sodann rational einholbar und hinsichtlich ihrer Zweckmäßigkeit bewertbar sind.¹¹⁹³ Eben dies ist im romantischen Liebesparadigma anerkannt, wenn es nicht primär den Widerfahrnischarakter fokussiert, sondern – wie bei Schleiermachers integrativem Ansatz – den Individualitätsgedanken stark macht, der bei allen Selbstzwecklichkeitsbehauptungen offen ist für charakterliche und ethische Konkretionen.¹¹⁹⁴
Vgl. ChS 360 f [Hervorhebungen getilgt – CR]: „Sind die Kinder mündig geworden: so ist freilich […] die Zeit der eigentlich älterlichen Zucht vorüber. Aber da die Aeltern demohnerachtet Organe der Kirche bleiben in Beziehung auf die Kinder: so verlezen sie ihre Pflicht auf die ärgste Weise, wenn sie es unterlassen, ihren Kindern bei der Schließung der Ehe mit ihrem guten Rathe beizustehen. […] Sehen die Aeltern, daß die Kinder etwas wesentliches aus dem Auge lassen: so haben sie das als Irrthum zu behandeln, und es ist ihre Pflicht, durch darstellendes Handeln zu thun, was in ihren Kräften steht, um die Kinder vom Irrthume zurükkzuführen, wobei alles darauf ankommt, daß sie sich gehörig in die Stelle der Kinder versezen und daß wirklich Wahrheit ist in dem, | was sie äußern, also daß sie sich ein gutes Gewissen bewahren.“ Die Kinder hingegen sollen dem elterlichen Rat nicht blind folgen, sondern ihre Ehrfurcht vor den Eltern „kann sich nur äußern in der sorgfältigsten Beachtung alles dessen, was die Aeltern sagen.“ Detaillierter dazu s.u. in diesem Teilkapitel. Vgl. Illouz, Konsum, 206 – 211. Vgl. auch Schneider, Ehe, 69: „Im Entscheidungsprozess, der zur Eheschließung führt, sind rational-instrumentelle, emotional-expressive und traditionale Motive und Kalküle eng miteinander verwoben.“ Weiterführend ebd., 57– 59. Soziologisch ließ sich nachweisen, dass rationale Faktoren mit der Höhe von Bildung und Status zunehmen und zwar nicht erst auf der Ebene politisch bedeutsamer Ehen. Unter Arbeitern ist das romantische, antirationale Liebesparadigma verbreiteter, während in der Mittelschicht rationale Erwägungen zunehmen, insofern hier von der Partnerschaft ein größerer Einfluss auf Erhaltung oder gar Steigerung des gesellschaftlichen Status ausgeht und auch kulturell und intellektuell mehr von der Partnerschaft erwartet wird.Vgl. dazu Illouz, Konsum, 198. Die emotionale Qualität der Ehe wird durch die soziale Schicht kaum beeinflusst. „Angehörige der Unterschicht […] und der Landbevölkerung fühlen sich etwas mehr sicher und geborgen in der Ehe, was sich vielleicht aus der zusätzlich stärkeren materiell-existentiellen Bedeutung der Ehe bei den weniger vermögende Schichten herleiten ließe. Im Gegensatz zu einem weit verbreiteten Vorurteil, daß Emotionalität bei der ländlichen Bevölkerung gegenüber den materiellen Aspekten der Eheschließung eher zurücktritt, zeigt sich, daß gerade bei der Landbevölkerung die emotionalen Grundfunktionen der Ehe tendenziell am besten erfüllt sind […].“ (Schulz u. a., Familienleben, 17).
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Die Differenz von Geselligkeit und Gemeinschaft Den Selbstzweck einer Beziehung gerade von ihrem Verhältnis zur Individualität ihrer Glieder abhängig zu machen, bringt zugleich ein scharfes Irritationsmoment in Schleiermachers Ehetheorie, weil es das eheliche und familiale Leben zunächst hinter eine andere Sozialform zurücktreten lässt: die ‚freie Geselligkeit‘. In seiner Theorie des geselligen Betragens baut er geradezu eine Diastase zwischen beiden auf: Freie, durch keinen äußern Zweck gebundene und bestimmte Geselligkeit wird von allen gebildeten Menschen als eins ihrer ersten und edelsten Bedürfnisse laut gefordert. Wer nur zwischen den Sorgen des häuslichen und den Geschäften des bürgerlichen Lebens hin und her geworfen wird, nähert sich, je treuer er diesen Weg wiederholt, nur um desto langsamer dem höheren Ziele des menschlichen Daseins. […] alle Beschränkungen der häuslichen und bürgerlichen Verhältnisse auf eine Zeitlang, soweit er will zu verbannen. Dies ist der sittliche Zweck der freien Geselligkeit, […].¹¹⁹⁵
Es stellt sich die Frage, ob Schleiermachers Zurücksetzung von Familie und Haus gegenüber dem intellektuellen Freundschaftszirkel historische oder systematische Gründe hat. D. h. können Ehe und Familie auf einer anderen gesellschaftlichen Entwicklungsstufe auch die Selbstzwecklichkeit der ‚freien Geselligkeit‘ erreichen oder stehen dem strukturelle Differenzen beider Sozialformen entgegen?¹¹⁹⁶ Für beide Interpretationsoptionen gibt es gute Argumente. Für letztere spricht, dass Ehe und Familie auf die Bildung von Einheit zielen – oben haben wir uns Schleiermachers Figurationen zum ‚Familiencharakter‘ und zur ‚gemeinschaftlichen Eigentümlichkeit von Mann und Frau‘ vor Augen geführt¹¹⁹⁷ –, während die Geselligkeit ihren Reiz gerade aus den Gegensätzen zieht.¹¹⁹⁸ Wenn die Selbstzwecklichkeit nun gerade im Spiel der Differenzen bestehen soll, kann die Ehe diese per Definition nicht erreichen.¹¹⁹⁹ Abfedernd wäre allenfalls einzuwenden, dass die ‚gemeinschaftliche Eigenthümlichkeit‘ der Partner ihre jeweilige Individualität ThG 165. Angesichts der Forderungen nach Verbindlichkeitsreduktion im partnerschaftlichen Leben und deren gelebten Vollzugsgestalten ist diese Frage keineswegs ein reines Autoren-Interpretationsproblem. S.o. I.4.1.4. Vgl. ThG 169: Anmerkung zum Begriff der ‚freien Geselligkeit‘: „Das Wort sollte nur in diesem Verstande genommen werden. In jeder durch einen äußern Zweck gebundenen und bestimmten geselligen Verbindung ist den Theilhabern etwas gemein, und diese Verbindungen sind Gemeinschaften, κοινονιαι; hier ist ihnen eigentlich nichts gemein, sondern alles ist wechselseitig, das heißt eigentlich entgegengesetzt, und dies sind Gesellschaften, συνουσιαι.“ Vgl. eine entsprechende Passage aus dem Brouillon, die hier allerdings die Freundschaft der Geselligkeit zum Gegenüber setzt (PhE 126 f): „Ferner in der freien Geselligkeit will man die einzelnen Thätigkeiten nur, um darin das combinatorische Gesez anzuschauen. Es kommt also mehr auf das freie Spiel des Gemüths an als auf die Resultate. In der Freundschaft hat man das Combinationsgesez schon im Gefühl und gebraucht nur die Individualität als Organ für das Universum. Daher es hier mehr auf die Resultate ankommt als auf das freie Spiel.“ Vgl. auch G I, 168., 38: „Die Wechselwirkung hat keinen Zweck als sich selbst. Runde Tische sind ein hölzernes Mittel gegen Vereinzelung.“
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nicht ersetzt, sondern ergänzt, womit auch die Ehe für Schleiermacher ein Ort des Wechselspiels bleibt.¹²⁰⁰ Ein weiteres Argument für die strukturelle Sperrigkeit von Ehe und Familie gegen die Selbstzwecklichkeit geselliger Kommunikation liegt schlicht in ihrer Zweckhaftigkeit.¹²⁰¹ Auch wenn Ehe und Familie im Gegenüber zur Schleiermacher-Zeit viele ihrer Funktionen und Zwecke an die Gesellschaft und den Sozialstaat delegiert haben, erfüllen sie noch immer einen Großteil davon.¹²⁰² Es stellt sich allerdings zugleich die Gegenfrage, ob diese Zwecke dem Selbstzweck der Kommunikation entgegenstehen müssen, was an sich weder zwingend ist, noch durch die Funktionsverschiebungen hin zu psycho-emotionalen Bedeutungsdimensionen indiziert scheint. Außerdem wäre zu fragen, ob es angemessen ist, das hohe Gut der Selbstzwecklichkeit allein auf die freie Kommunikation zuzuspitzen. Die klassischen Zwecke von psychischer und ökonomischer Stabilisierung, Fortpflanzung, Fürsorge usw., welche ‚Familie‘ erfüllt, als ‚äußere‘ zu diskreditieren, ist keineswegs selbstverständlich.¹²⁰³ Damit sind wir bei den Argumenten für die Interpretation, dass Schleiermachers frühe programmatische Absetzung der familialen Gemeinschaft gegenüber der ‚freien Geselligkeit‘ v. a. einer historisch bedingten Schieflage des häuslichen Lebens geschuldet ist. Hier lassen sich unmittelbar Thesen aus der Frühzeit anführen: So schreibt Schleiermacher in sein erstes Gedankenheft: „Die gute Lebensart soll nicht eine interimistische Anstalt seyn […], sondern sie soll durchgehn: ihr Ziel ist eigentlich der häußliche und bürgerliche Zustand.“¹²⁰⁴ In den Monologen ist sodann die Rede von der ‚düsteren Sklaverei‘ des Utilitarismus, die sich aller Sozialformen bemächtigt
Detaillierter zur Thematik s.o. II.3.1.4. Vgl. im Gegenüber dazu ThG 169: „Es soll keine bestimmte Handlung gemeinschaftlich verrichtet, kein Werk vereinigt zu Stande gebracht, keine Einsicht methodisch erworben werden. Der Zweck der Gesellschaft wird gar nicht als außer ihr liegend gedacht; […].“ Vgl. Schulz u. a., Familienleben, 52: Im Verhältnis zu vorigen Jahrhunderten hat die Familie einen ‚Funktionsverlust‘ bzw. eine Entlastung erfahren hinsichtlich ihrer „Produktionsfunktion, Ausbildungsfunktion, kultischen Funktion, Gerichtsbarkeit usw.“ Es bleibt in zentraler Weise die Sozialisationsfunktion, die allerdings auch durch Ganztagsbetreuung von Kindern zu schwinden droht. Gegen Arndt, Philosoph, 56: „Was hier angestrebt wird, ist das, was Kant unter der Autonomie im Sittlichen verstand. Die Tatsache jedoch, dass die moralische Selbstbestimmung dann, wenn sie im Ergebnis zugleich allgemeine Gültigkeit beansprucht, notwendig abstrakt und formell bleibt, führt hier zu der Einsicht, dass solche Autonomie nicht alle Sphären des sittlichen Lebens zu durchdringen vermag. Sie tritt daher zu den durch äußere Zwecke und Notwendigkeiten bestimmten Sphären des Handelns hinzu und realisiert sich in einer besonderen institutionellen Form der Geselligkeit und nur dort.“ G I, 156, 36. Zur Interpretation vgl. Oberdorfer, Freundschaft, 431 f: „Die hier [in der freien Geselligkeit – CR] erreichten Standards des Respekts vor und der Förderung der Entfaltung von Individualität, der Gleichheit und der Intensität der wechselseitigen | Wahrnehmung sollen ausstrahlen auf das häusliche und berufliche Leben.“
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habe und deren geistige Potentiale ersticke.¹²⁰⁵ Bildung und ‚Gewinn an neuem innerm Leben‘ erwartet Schleiermacher hier mithin auch von der Ehe.¹²⁰⁶ Nicht allein polemisch, sondern gar zynisch wird der Ton in der ‚Zueignung an die Unverständigen‘, mit der er seine Lucindebriefe versieht.¹²⁰⁷ Der ökonomischen Zweckgemeinschaft Ehe setzt Schleiermacher ihre geistigen Potentiale, die mithin nicht auf die ‚freie Geselligkeit‘ beschränkt sind, entgegen. Die Ehe generell von ihren Zwecken loszueisen, etwa durch eine Absage an das gemeinsame Wirtschaften oder die Entkopplung von Freundschaft, Sexualität, Liebe und Elternschaft musste dies gleichwohl nicht bedeuten. Vielmehr finden wir bei Schleiermacher eine Verflechtung von Selbstzwecklichkeit und Nutzen auf mehreren Ebenen, die auch für den gegenwärtigen Diskurs interessant sind.
Zweckhaftigkeit als Folge der Selbstzwecklichkeit Der Sorge um die täglichen Bedürfnisse setzt der Jesus der Bergpredigt entgegen: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.“¹²⁰⁸ Mit Blick auf die Liebe wiederholt Schleiermacher diese Forderung.¹²⁰⁹ Ihr Selbstzweck muss am Anfang stehen und dieser orientiert sodann alle
Vgl. M 32: „Es seufzet was zur beßern Welt gehört in düsterer Sklaverei! Was da ist von geistiger Gemeinschaft, ist herabgewürdigt zum Dienst der irdischen; nur dieser nüzlich wirkt es dem Geiste Beschränkung, thut dem inneren Leben Abbruch.“ Vgl. dazu auch Nowak, Schleiermacher Leben, 118 f. Vgl. M 34: „O schnöde Quelle solcher großen Uebel, daß nur für äußere Gemeinschaft der Sinnenwelt Sinn bei den Menschen zu finden ist, und daß nach dieser sie Alles meßen und modeln wollen. […] Darauf ist Alles andere auch gerichtet: vermehrten äußern Besiz des Habens und des Wißens, Schuz und Hülfe gegen Schiksal und Unglük, vermehrte Kraft im Bündniß zur Beschränkung der Andern, das nur suchet und findet der Mensch von Heute in Freundschaft, Ehe und Vaterland; nicht Hülfe und Ergänzung der Kraft zur eignen Bildung, nicht Gewinn an neuem innerm Leben.“ Dasselbe Motiv beschreibt Kurt Nowak mit Blick auf die Reden: „Die antireduktionistische Bewegung gegen ein kümmerliches und verarmtes Universum war auf der anthropologischen Ebene ein Plädoyer für die Ganzheit des Menschen. Schleiermacher forderte dazu auf, sich dem verdinglichten Kreislauf des Nützlichen zu entziehen; […] Schleiermacher verlangte gegen die Vernutzung und den Verschleiß des Menschen, dem keine zweckfreien Lebenspausen gegönnt waren, ‚ruhige hingegebene Beschauung‘, die freilich ‚aus dem Standpunkt des bürgerlichen Lebens‘ nur ‚Trägheit und Müßiggang‘ sein konnte – eine der Schlegelschen Müßigkeitsidylle in der ‚Lucinde‘ vorauslaufende Paraphrase des Themas.“ (Nowak, Schleiermacher und die Frühromantik, 195). L 147: „Vorzüglich aber habt Ihr in Absicht der Liebe eine Constitution zu vertheidigen, an der Jahrhunderte gearbeitet haben, die die reifste Frucht ist von dem schönen Bunde der Barbarei und der Verkünstelung, und der schon so viel Leben und Gedeihen geopfert ist, daß es wol thöricht wäre, nicht auch das wenige übrige noch hinzugeben, um sie aufrecht zu erhalten. Auch seid Ihr durch den reichlichen Besitz aller ökonomischen Herrlichkeiten, die sie Euch sichert, ihre zuverläßigsten und unbestechlichsten Verfechter.“ Mt 6,33. Vgl. L 158: „Aber glaube nur nicht, daß ich nur so aus Nebenabsichten das Gespräch über die Liebe empfehle, damit Dies und Jenes dadurch verhütet oder erreicht werde; ich bleibe vielmehr dabei, es um sein selbst willen zu fordern.“
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weiteren lebenspraktischen Notwendigkeiten. Wo hingegen allein Nützlichkeitserwägungen den Ausschlag zur Ehe geben, kann dieser höhere Sinn kaum erreicht werden. Zum einen fehlt für ihn dann nämlich das Sensorium.¹²¹⁰ Zum anderen mangelt es ihm an Spielräumen und Entfaltungsmöglichkeiten. Die Wirkrichtungen sind ganz entgegengesetzt: während der Nutzen dem Prinzip der Forderung folgt, sind die Güter, welche in selbstzwecklichen Lebenssphären erworben werden, freie Gaben und werden als Geschenke erlebt.¹²¹¹ Dass sie nützlich oder gar lebensnotwendig sind, ist damit nicht ausgeschlossen, jedoch ist die intentionale Bezugnahme auf sie eine andere, nämlich eine psycho-emotional deutlich fruchtbarere und belebendere. In den Monologen plädiert Schleiermacher an den ‚Jüngling‘: Alles ist deine freie Gabe: denn in deinem innern Handeln muß aufgehn der Entschluß ihr [sc. der Welt – CR] etwas zu thun; und thue nichts als was dir in freier Liebe und Lust hervorgeht aus dem Innern des Gemüthes.¹²¹²
Vgl. Brief 798, 397: Gegenüber seiner Schwester äußert sich Schleiermacher erleichtert darüber, dass Friederike zu Dohna die Verlobung mit einem ihr geistig nicht gewachsenen Mann aufgelöst hat: „Herzlich froh bin ich, das kannst Du leicht denken, es würde mich sehr geschmerzt haben wenn das herrliche Mädchen an einen verschleudert worden wäre der das Gute und Schöne nicht verstanden hätte und wenn sie ihr Leben in einer gewöhnlichen vornehmen Ehe hätte hinbringen müßen. Es giebt für mich gar keinen unangenehmeren Anblik und was mich tiefer verwundet als eine schlechte Ehe wo der Zwek nicht erreicht wird und die Leute so nebeneinander weg leben ohne Liebe – und wie oft muß man das nicht sehn“ Zu konkreten Mängelgestalten der Ehe vgl. auch H 231 f. Diesen Gedanken kannte Schleiermacher bereits von Aristoteles (AÜ 62): „Unzufriedenheit und Klagen bemerkt man allein, oder doch hauptsächlich nur in der eingennüzigen Liebe, und das kann auch nicht füglich anders seyn. Denn eigentliche wahre Freunde wetteifern in dem Bestreben einander wol zu thun, und dieser Wettstreit kann nicht Klagen und Streit gebähren, niemand ist verdrießlich über den, der ihn liebt und ihm wohltut, sondern wer Gefühl hat sucht diesen Eifer zu erwiedern, und weil auf der andern Seite auch der, welcher seinen Freund mit Wolthaten überhäuft schon eben dadurch seinen Zwek erreicht – denn bei dieser Freundschaft sucht jeder nur das, was gut ist – so wird auch er seinem Freund nichts vorzuwerfen wissen. […] Die eigennüzige Liebe hingegen ist ihrer Natur nach beständigen Zwistigkeiten ausgesezt. Da nemlich der einige Grund der Verbindung Eigennuz ist, so begehrt wol jeder mehr als ihm zukommt und glaubt weniger erhalten zu haben, […].“ AÜ 63: „Ist diese Vergeltung [der Freundschaftsdienste des eigennützig Liebenden – CR] nicht der Erwartung des Gebers gemäß, so entsteht Unzufriedenheit, das kommt daher weil die meisten Menschen das Gute und edle zwar wollen, aber ihm am Ende doch das nüzliche vorziehn; es ist edel jemand ohne Rüksicht auf Wiedererstattung wolzuthun, aber es ist nüzlicher sich wieder wolthun zu laßen.“ M 60. In ‚Jugend und Alter‘ äußert sich Schleiermacher auch noch detaillierter zur Koordination von Selbstzweck und Zweck im Bild von Blüte und Frucht: „Für die Pflanze ist das Höchste die Blüthe, die schöne Vollendung des eigenthümlichen Daseins; für die Welt ist das Höchste die Frucht, die Hülle für den Keim des künftigen Geschlechtes, das Geschenk was jedes eigene Wesen darbieten muß, daß die fremde Natur es mit sich vereinigen möge. […] ordne dir das Leben einmal für immer. […] Wo die Blüthe des Lebens aus freiem Willen eine Frucht ansetzt, da werde sie ein süßer Genuß der Welt, […]. Was du der Welt bietest, sei Frucht. Opfere nicht den kleinsten Theil deines Wesens in falscher Großmuth! Laß dir kein Herz ausbrechen, kein Blättchen pflüken, welches Nahrung dir einsaugt aus der umgebenden Welt! Treib auch nicht leeres Gewächs, ungestaltet und ungenießbar, wo etwa ein verderbliches Thierchen dich sticht; sondern Alles was nicht für dich selbst ist Wachsthum der Gestalt oder Bildung neuer Organe, das sei wahre Frucht, aus der innern Liebe des Geistes erzeugt, als freie
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Dieselbe ethische Forderung richtet er an die Kollektivperson der ehelichen Gemeinschaft:¹²¹³ Es bindet süße Liebe Mann und Frau, sie gehn den eignen Heerd sich zu erbaun. Wie eigne Wesen aus ihrer Liebe Schooß hervorgehn, so soll aus ihrer Naturen Harmonie ein neuer gemeinschaftlicher Wille sich erzeugen; das stille Haus mit seinen Geschäften, seinen Ordnungen und Freuden, soll als freie That sein Dasein bekunden.¹²¹⁴
Wo jedoch der Geist des Utilitarismus herrscht, sind diese Potentiale dahin.¹²¹⁵ Wie für Aristoteles geht auch für Schleiermacher das Nützliche und Angenehme aus dem Guten fast selbstverständlich hervor.¹²¹⁶ Wie zweckhaft das Selbstzweckliche in der Liebe ist, haben wir uns oben bereits anhand des Geschlechtsaktes vor Augen geführt: in der um ihrer selbst willen genossenen Sexualität liegt das Potential der Fortpflanzung.¹²¹⁷ Anstatt die Widersprüchlichkeit zu fokussieren, die sich auch ent-
That seines jugendlichen Lebens Denkmal. Wenn sie aber empfangen ist, tritt sie heraus aus dem Gebiet des innern Lebens, und dann werde sie weiter gebildet nach des äußern Handelns Gesez. Dann sei Klugheit um sie geschäftig und nüchterne Weisheit und kalte Besonnenheit, daß auch wirklich der Welt zu Gute komme, was freigiebig die Liebe ihr zugedacht hat.“ (M 59). Das innere Leben ist Selbstzweck. Es gibt zwar auch äußere Zwecke, denen Tribut zu zollen ist, aber dieser Tribut darf sich nicht manipulativ und hemmend auf den inneren Zweck auswirken. „Laß dir nicht gebieten von der Welt, wenn und was du leisten solltest für sie! Verlache stolz die thörichte Anmaßung muthiger Jüngling, und leide nicht den Druk.“ (M 60). Vgl. im Sinne dessen aus der Ethikvorlesung von 1812/13: „Wer in eine universelle Gemeinschaft nicht mit seiner ganzen Individualität hineintritt, tritt eigentlich nicht selbst hinein, und es giebt also nur ein Hineintreten und Darinsein mit Liebe. Jedes von dieser Seite Todte ist ein Pflichtwidriges. Die Gemeinschaft kann nur sein eine Art und Weise zu sein der Individualität.“ (PhE 414 f). Vgl. hierzu auch Frank, Selbstentfaltung, 390. M 32 [Hervorhebung – CR]. Hierzu ebenfalls s. o. II.2.3. Vgl. M 33: „Jeder hat und macht sich seinen Willen nach wie vor, abwechselnd herrscht der Eine und der Andere, und traurig rechnet in der Stille Jeder, ob der Gewinn wohl aufwiegt was er an baarer Freiheit gekostet hat. […] Es sollte jedes Haus der schöne Leib, das schöne Werk von einer eignen Seele sein, […] und Alle sind in stummer Einförmigkeit das öde Grab der Freiheit und des wahren Lebens.“ Vgl. AAnm 35: „Für wahre Freunde wird diese Ueberlegung ein süßer Augenblik seyn, und sie werden sie oft machen, sie werden sie gemeinschaftlich machen, […]. Sie würden wenn sie es könnten die Stunden zählen und den Grad ihrer Seligkeit meßen, die sie in warmen Ergießungen des Herzens vollbracht, sie werden die Fehler zählen, die sie zusammen vermieden, sie schönen Handlungen die sie zusamen gethan, die Urtheile die sie zusammen berichtigt die Vorsäze die sie zusamen gefaßt haben. Jene Stunden der Empfindung nähern sich der Natur der angenehmen Freundschaft, diese der Natur der nüzlichen.“ S.o. II.1.2.1. Vgl. PhE 132 f. Vgl. auch Luhmann, Liebe, 189: „In einem voll individualisierten, freigegebenen und doch unbemerkt gesteuerten Auswahlverfahren wird über Reproduktion und damit über die Zusammensetzung der nächsten Generation entschieden. Freiheit und Institution fallen zusammen. Die Vorstellungen, die die Liebenden sich romangemäß bilden, haben ihren Zweck nicht in sich selbst, sondern in dieser Funktion. Sie mögen wie immer paradox, unkontrolliert, unnachvollziehbar zustandekommen: sie individualisieren die Partnerwahl für eine kombinatorische Züchtung der Menschengattung, und erst diese Funktion läßt den tieferen Sinn all der Entzückungen und
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II Geschlechtsverhältnis
sprechend im Liebescode zwischen ‚freier hinströmender Liebe‘ und dem ‚ehelichen einander zum Gesetz Werden‘ niederschlägt,¹²¹⁸ betont Schleiermacher die Zusammenstimmung beider.¹²¹⁹ Sozialpsychologisch bestätigt sich Schleiermachers optimistische Sicht. So beschreibt Pierre Bourdieu anhand seines Begriffs des Habitus’,¹²²⁰ wie Menschen die romantische Liebe als spontane, selbstzweckliche Gefühlsregung erleben und durch sie meistens zugleich Partner erhalten, die ihrer sozialen Stellung und Entwicklung entsprechen.¹²²¹ Das Liebeserlebnis erscheint unter dieser Perspektive – metaphorisch gesprochen – wie die attraktive Benutzeroberfläche eines äußerst zweckhaften Betriebssystems.¹²²² Dasselbe gilt für das familiale Leben. Mag dieses sich auch mit gesellschaftlichen Anforderungen konfrontiert sehen, so gibt es für diese weder Va-
Schmerzen, all der Ängste und Nöte, all der Überschwenglichkeiten erkennen.“ Georg Simmel spricht von einem „tragischen Zug“ der „reinen, der Lebensströmung entwundenen Erotik: daß sie doch gerade aus dieser Strömung entstanden ist, daß deren eigenstes Gesetz sich erfüllt, indem sie ihr anderes, das ihr Fremde ja Gegensätzliche erzeugt.“ (Simmel, Geschlechter, 240). So geschehen bei Hirsch, Hauptfragen, 252 f: „Das christliche Ethos macht von dem Gottesbilde her, durch das es geprägt ist, eine nahezu widersinnige Idee von Liebe zum höchsten Wesen des Guten. Liebe, in der wir einander wahrhaft als Gottes Kinder begegnen, soll zugleich freies, frohes Hinströmen des Herzens und härteste, zuchtvollste Opferbereitschaft sein. […] Da wo Liebe und Ehe zwei Menschen in dauernder Lebensgemeinschaft verbinden und sie, wie doch die Regel ist, zugleich in den Vater- und Mutterstand setzen, schlingt sich in der Lebenswirklichkeit zweierlei ineinander. Das eine ist ein freies frohes Hinströmen der Herzen, welches doch das Wesen der Zuneigung zweier ganzer menschlichen Personen zueinander ausmacht. Das andre aber ist die ganze Kette der Aufopferungen eigener Wünsche und Bequemlichkeiten und Möglichkeiten an die durch Ehe und Elternstand gebotenen Notwendigkeiten. In der Ehe werden die beiden, die einander lieben, unweigerlich auch einander zum Gesetz […].“ Diese Widersprüchlichkeit sieht Eva Illouz im ‚Kapitalismus‘ wiederholt. „Die romantische Liebe geht also dem Kapitalismus als solchem voraus, bringt aber zugleich zwei Leitmotive zum Ausdruck, die später in den zentralen Ideologemen des Kapitalismus ihren Widerhall finden.“ (Illouz, Konsum, 12). „[D]ie Kultur des Kapitalismus [ist] selbstwidersprüchlich […], wenn sie von den Menschen verlangt, tagsüber hart zu arbeiten und nachts zu Hedonisten zu werden […]. Der kulturelle Widerspruch zwischen der Konsumsphäre und der Produktionssphäre liegt (sozusagen) im Herzen der modernen Bedeutungen romantischer Liebe; romantische Praktiken speisen sich gleichzeitig aus den weit verbreiteten, aber konfligierenden kulturellen Idiomen von Hedonismus und Arbeitsdisziplin.“ (Ebd., 14). Zwar beschreibt er die Differenz von freier und gebundener Liebe, meint sie jedoch in wechselseitiger Anerkennung stabilisiert zu finden. Vgl. PhE 53. „Der Habitus ist eine ‚Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmatrix‘, die man sich im Zuge der Sozialisation ‚einverleibt‘ […]. Der Habitus ist das Ensemble von Verhaltensweisen, Vorstellungen und Dispositionen, die subjektiv als persönliche Identität und persönlicher Geschmack gelebt und kommuniziert werden, objektiv jedoch durch die Stellung in der Hierarchie des kulturellen und ökonomischen Kapitals bestimmt sind. Durch den Habitus wünschen sich die Menschen nur das, was sie objektiv haben können, und machen damit ‚aus der Not eine Tugend‘.“ (Illouz, Konsum, 191). Vgl. dazu Illouz, Konsum, 192. Dem bleibenden Überschusspotential der Liebe muss diese auf Zweckhaftigkeiten fokussierte Sicht nicht widersprechen.
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lidierungsinstanzen,¹²²³ noch werden sie einfach in das Selbstverständnis übernommen. Die Familie erbringt zwar unverzichtbare Leistungen für die Gesellschaft, diese Zwecke motivieren jedoch kaum das familiale Handeln, sondern sind nur das Nebenprodukt einer familieninternen Orientierung auf Solidarität mit den Angehörigen.¹²²⁴ In all ihrer Selbstzwecklichkeit bzw. gerade durch eben diese ist die Familie äußerst zweckhaft, sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft.¹²²⁵
Zweckhaftigkeit als Fundament von Selbstzwecklichkeit Der Cyniker dürfte eigentlich gar keine Sachen haben: denn alle Sachen die ein Mensch hat, haben ihn doch in gewissen Sinne wieder. Es kömmt also nur darauf an, die Sachen so zu haben, als ob man sie nicht hätte. Noch künstlicher und noch cynischer ists aber, die Sachen so nicht zu haben, als ob man sie hätte.¹²²⁶
Wie ernst es dem jungen Schleiermacher mit seiner ironischen Fortführung des Schlegelschen Satzes von der Habe im Modus der Nichthabe war, lässt sich kaum ermitteln. Er bringt allerdings einen Nexus in den Blick, der ihm noch wichtig werden sollte: Ethische Angemessenheit kommt nicht allein durch die Verpflichtung materialer Güter auf einen höheren intelligiblen bzw. emotionalen Zweck zustande, sondern auch umgekehrt; emotionale Güter setzen bestimmte materiale Gegebenheiten voraus. Ganz basal musste Schleiermacher anerkennen, dass auch die romantische Ehe eine wirtschaftliche Unabhängigkeit des Mannes verlangte.¹²²⁷ Dabei aber blieb er nicht stehen. Vgl. Tyrell, Interaktion, 382: „[…] der in unserem kulturellen Kontext geltende Familiencode legt dem familialen Zusammenleben – unabhängig von externen Erfolgen oder Mißerfolgen der Mitglieder – etwas Selbstzweckhaftes bei, […] anders als Betriebe stehen heutige Familien nicht ‚bei Strafe des Untergangs‘ unter Druck […] außen vorzeigbare oder zu kontrollierende Resultate herzustellen. Eine solche Kontrolle gibt es nicht für das Niveau der in Familien geführten Gespräche, nicht für die Qualität der Wohnungseinrichtung […] und nicht einmal die Resultate der familialen Erziehung werden als solche extern geprüft […].“ Vgl. Tyrell, Interaktion, 382. Zur Abstufung der Schuldigkeiten gegenüber Angehörigen vgl. auch AÜ 57. 67– 69. Das Ausmaß und die Reichweite der wechselseitigen Hilfe (Unterstützung durch Betreuung, Pflege, Sozialkontakt und Geld), die die Familienmitglieder von einander erwarten und meist auch einander geben, sind kaum zu überschätzen. Vgl. dazu Kaufmann, Zukunft der Familie. Stabilität, 52– 55. Detaillierter zur Thematik s.u. II.3.3.4. Fragmente, KGA I.2, 143. Den zweiten Teil des Zitats aus den Hausstandspredigten haben wir bereits zitiert (s.o. II.1.1.2), hier aber gilt die Aufmerksamkeit dem ersten: „Der | Mann sucht sich ein Weib, sobald er imstande ist, das väterliche Haus verlassend, von Zucht und Lehre entbunden, ein selbständiges Dasein zu beginnen; er sucht; aber wehe ihm, wenn er willkürlich wählt, sei es daß irgend eine verständige Berechnung ihn leite, oder daß er sich mit der Ungeduld der Leidenschaft über seinen Gegenstand hinwerfe.“ (H 240 f). Auch in der Korrespondenz mit seiner Braut spielen wirtschaftliche Fragen immer wieder eine Rolle. Vgl. BB 205: „Das nothwendige für uns und die Kinder soll immer da sein, und was drüber
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II Geschlechtsverhältnis
In der Koordination von ‚irdischer‘ und ‚himmlischer Seite‘ der christlichen Ehe in den Hausstandspredigten macht Schleiermacher – über bloßen Pragmatismus hinausgehend – darauf aufmerksam, dass die ‚äußeren Dinge‘ nicht nur ein ‚Werk der Not‘ sind,¹²²⁸ sondern unverzichtbarer Entdeckungszusammenhang der ‚göttlichen Ordnung‘ und der darin liegenden ‚Gnade‘.¹²²⁹ Bereits in den Brautbriefen schreibt er mit Bezug auf die Lucinde: […] man bekommt ordentlichen Respekt vor ihnen [sc. den äußerlichen Dingen – CR], wenn man in die Geheimnisse der Liebe und Ehe eingeweiht wird. Das ganze Haus wird ja ein Heiligthum mit allem, was darin ist. Tische und Stühle, alles lebt mit […]¹²³⁰
Die Alltagsorganisation hat unmittelbaren Einfluss auf das Gefühlsleben und die Stimmungen, welche sich in einer Familie entfalten.¹²³¹ Wohnsituation und Einrichist, sei es nun viel oder wenig, das wollen wir froh und fröhlich mit unsern Lieben genießen.“ Ähnlich: BB 236. Weiter: BB 250: „Gott helfe uns nur, […] daß ich Dich gleich in ein ruhiges und sicheres Haus einführen kann, wiewohl ich auch das Gegentheil gewiß nicht scheuen werde.“ BB 262: „Ich bin in diesem Augenblik so arm wie ein Kirchenraze […]. Du sollst aber nur sehn, was für Berge von Geld noch ankommen werden gegen den May.“ BB 396: „Uebrigens möchte mir doch ganz schwindlich werden, wenn ich an das liebe Geld denke, denn ich begreife noch gar nicht, woher es alles kommen soll. Es wird sich noch eine eigene Geldquelle öffnen müssen, und ich sehe mich schon ganz begierig überall um. Es ist fast lächerlich, was für einen unerschütterlichen Glauben ich in solchen Dingen habe, daß doch zur rechten Zeit alles kommt, was nöthig ist.“ BB 397: „Auch soll unser Einzug liebste Jette, irdischer Dinge wegen um nichts minder fröhlich sein; das wird unser reiner Sinn nicht leiden;“ Vgl. sachlich dazu Kaufmann, Zukunft der Familie. Stabilität, 48: „Der zeitlich überwiegende Anteil aller Tätigkeiten, die sich im familialen Kontext ereignen, dient der physischen Erhaltung des Individuums: Zubereitung und Aufnahme von Nahrung, Körperpflege, Bekämpfung von Krankheiten, Erholung durch Schlaf und Freizeitaktivitäten.“ Vgl. H 237 f: Zur irdischen Seite der Ehe wird bestimmt, „daß jedes christliche Haus-|wesen in jene größere Ordnung der menschlichen Dinge verflochten sein und also auch durch würdige Tätigkeit seine Stelle darin ausfüllen solle. Darum auch wird […] jeder angehende christliche Ehemann wörtlich erinnert an die göttliche Ordnung, daß der Mann im Schweiß seines Angesichts soll sein Brot essen, und jede angehende Ehefrau, daß ihr nicht nur bestimmt ist, mit Schmerzen Kinder zu gebären, sondern auch mit angestrengter Sorge und Aufmerksamkeit ihrer und des ganzen Hauswesens zu warten und zu pflegen. Und dieses, m. gel. Fr., laßt uns daher nicht etwa nur ansehen als ein Werk der Not, oder als eine Unterbrechung unserer geistigen Freuden und Genüsse […]; sondern wie überall nur im gemeinsamen Leben dem Menschen Glück und Heil erblüht, und erst in einer zweckmäßigen Verteilung der Geschäfte jeder sich seiner Kräfte am bestimmtesten bewußt wird: so gelangen auch wir erst durch diese göttliche Ordnung zum rechten Bewußtsein der Gaben, welche der göttliche Geist in jedem Geschlecht besonders wirkt, und erst in ihrem Zusammenwirken für unsern irdischen Beruf finden wir zugleich unsere Arbeit und erfreuen uns unserer Arbeit in dem Weinberge des Herrn.“ Ähnlich lautet die These zur christlichen Gastfreundschaft, dass das Natürliche zwar dem Geistigen als seinem ‚höheren Zweck‘ dienen soll, aber ohne seinen Dienst auch nicht auskommt. Gastlichkeit ohne Bewirtung ist nicht möglich und ein reichliches Festmahl kann einen passenden Rahmen für geistigen Austausch bieten. Vgl. H 364– 367. BB 237. Vgl. Kaufmann, Zukunft der Familie. Stabilität, 49: „Es ist nicht zuletzt die Art und Weise, wie der familiale Alltag organisiert wird und wie die Familienmitglieder miteinander in der Erledigung ihrer
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tung beeinflussen die Psyche. Lebenspraktische Investitionen können emotionale Potentiale entfalten.¹²³² Georg Simmel wird den Gedanken später auf die Spitze treiben, wenn er behauptet: „Überall […] erzeugt der Besitz Liebe zum Besitz. Man bringt nicht nur Opfer für das, was man gern hat, sondern auch umgekehrt: man liebt das, wofür man Opfer gebracht hat.“¹²³³ Bei der Behandlung der emotionalen Qualitäten, die aus einem Fürsorgeverhältnis erwachsen, werden wir darauf zurückkommen,¹²³⁴ aber die These entfaltet auch im unmittelbaren Bezug auf die Paarbeziehung ihre Evidenz. „Im Verlauf des ersten Viertels des 20. Jahrhunderts wurde das Thema der Liebesromantik zunehmend mit Konsum assoziiert.“¹²³⁵ Produkte und Freizeitaktivitäten, wie das Essengehen, der Tanz oder der Kinogang, wurden mit erotischen und romantischen Bedeutungsdimensionen aufgeladen. Waren es bei Schleiermacher noch instrumentelle Güter, die eine romantische Codierung erfuhren, so ist der Konsum beim spätmodernen Rendezvous durch den Charakter des Temporären zum Selbstzweck geworden.¹²³⁶ Die produktive Differenz von materialem Zweck und intelligiblem Selbstzweck wird hier allerdings aufgehoben, was eine Gefährdung beider Sphären zur Folge hat.¹²³⁷
3.3 Exklusivität und Öffnung Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts kam es zu einer Abschließung der bürgerlichen Familiensphäre.¹²³⁸ Lebten bis dato viele Menschen mit unterschiedlichen Verhältnissen zueinander in einem Haus, so wurden die Wohnbereiche des Bürgertums nun zunehmend getrennt. Größere Häuser wurden nach Etagenwohnungen untergliedert, die ein familienfokussierteres Leben und ein neutraleres Verhältnis zu den anderen
alltäglichen Routinen umgehen, welche das Ausmaß an Spannungsfreiheit oder aber Streß der Familienbeziehungen prägt, und ebenso beeinflussen die emotionalen Beziehungen in der Regel die Qualität der Haushaltsführung und der Erholung – bis hin zur Nachtruhe.“ Damit widersprechen wir nicht der obigen These von der Unüberführbarkeit von Nutzenkalkül in höheren emotionalen Sinn, weil es dort um (innere) Einstellungen, hier hingegen um (äußere) Anlässe geht. Simmel, Geschlechter, 140. S.u. III.1.1. Illouz, Konsum, 42. Vgl. Illouz, Konsum, 71 f. Ein Extremfall ist die Assoziation von Luxusgütern mit Romantik, insofern hier (Geld‐)Mittel vernichtet werden, um den Kult des Augenblicks noch zu steigern, was sogar soweit gehen kann, dass der Konsum von Luxusgütern selbst als romantisch verstanden wird, obwohl dieser doch per se erst einmal nichts mit der Qualität einer Liebesbeziehung zu tun hat.Vgl. ebd., 128 – 134. Ähnliches gilt für Reisen: ebd., 134– 139. Eine materialiter exzessive Liebeskultur kann die ökonomische Existenz eines Menschen bedrohen und die auf Authentizität, Originalität und Kreativität angewiesene Gefühlskultur romantischer Liebe droht durch den bloßen Rückgriff auf die vom Markt gebotenen Ausdrucksmöglichkeiten in Stereotypierung zu verflachen. Zu den historischen Exklusivierungstendenzen vgl. Rosenbaum, Formen, 301– 307.
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Hausbewohnern ermöglichten und auch die Wohnungen selbst boten durch die Einrichtung von Korridoren fortan mehr Rückzugsmöglichkeiten, welche in Durchgangszimmern nicht gleichermaßen gegeben waren.¹²³⁹ Überlappten sich zuvor noch Arbeits- und Wohnbereich, so entwickelte sich durch die Auslagerung der Erwerbsarbeit das Heim nun zu einer Sondersphäre und zum Rückzugsraum vor der Gesellschaft, ihren Rationalitäten und Ansprüchen.¹²⁴⁰ Die Individualisierungstendenz der Moderne sprach sich in einer Verexklusivierung privater Lebensverhältnisse aus. Familie und häusliches Leben wurden zur Ausdruckssphäre von Individualität. Schleiermacher verweist entsprechend auf den semantischen und sachlichen Zusammenhang von (häuslichem) ‚Eigenthum‘ und (personaler) ‚Eigenthümlichkeit‘.¹²⁴¹ Die Erfüllung dieser Funktion setzte voraus, dass die Familie eine dynamische Durchlässigkeit behielt. Bei Schleiermacher drückt sich diese Einsicht in seiner Betonung des geselligen Lebens aus.¹²⁴² Wo es daran mangelt, wird das familiale Leben potentiell als repressiv erlebt und der Einzelne strebt eine Emanzipation von diesem an. Die gegenwärtige massenhafte Nutzung von digitalen Medien und Netzwerken zur Reintegration des privaten Lebens in die Sphäre der Öffentlichkeit lässt sich vielleicht als ein Reflex auf den bestehenden Mangel ebenjener Durchlässigkeit im sozialen Nahfeld interpretieren. Dabei machen nicht wenige eine Erfahrung, die ganz ähnlich auch Friedrich Schlegel mit der Veröffentlichung seiner Lucinde machte, vor der Schleiermacher und andere Freunde ihn deshalb auch gewarnt hatten. Die Hoffnung auf Stabilisierung und Selbsterweiterung, die er mit der Publikmachung seines Inneren verband, wurde enttäuscht. Zu laut und zu scharf war der sich allzu bald von Sachkritik lösende Spott, der dem Frühromantiker entgegenschlug. Der öffentliche Diskurs kann, schon gar wo er eine anonyme Beteiligung zulässt, eine irrationale und zerstörerische Dynamik entwickeln, die einen Einzelnen, wenn er sich mit seiner ganzen Persönlichkeit hineinbegibt, erschlagen kann. Es empfiehlt sich mithin, das Persönliche und Verwundbarste in demjenigen Rahmen zu kommunizieren, in dem man am ehesten auf behutsamen Umgang rechnen kann. Oft wird die Familie als ein
Selbst die Einrichtung von Salons widerspricht der These von der Intimitätssteigerung der Familie nicht. Mit ihnen war ein Rahmen für Öffentlichkeit im Haus geschaffen, von dem der Rest des Hauses aber eben gerade unberührt blieb. Ins Wohnzimmer wurden nur engste Freunde vorgelassen. Vgl. dazu Rosenbaum, Formen, 306 f. Aufwertung der Kernfamilie und Abschottung nach außen bedingen einander, denn je mehr der Mensch in der öffentlichen Sphäre mit seinen Arbeiten, Vergnügungen, Andachten usw. lebt, desto mehr muss die Bedeutung der Familie in seinem Empfinden zurücktreten. Vgl. dazu Rosenbaum, Formen, 276. Vgl. PhE 120: „Je mehr nun das Angebildete den Charakter der Eigenthümlichkeit trägt, desto unübertragbarer ist es. Setzt man nun diese Eigenthümlichkeit als Person überdauernd in die Familie oder in die Nation, so entsteht daraus das fixirte Eigenthum, das also einen bedingten sittlichen Grund hat, den aber auch gewiß jeder anerkennt.“ PhE 288: „§ 80. Wenn die Eigenthümlichkeit in dem Maaß fehlt, als wir sie fordern, bezeichnen wir dies als Gemeinheit und Schlendrian.“ Programmatischen Niederschlag findet diese in ThG und M, aber auch in den Ethiken (PhE und ChS) und der achten Hausstandspredigt (H 359 – 376) trägt er ihr Rechnung.
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solcher Schutzraum wahrgenommen, der es erlaubt, auch unfertige und im gesellschaftlichen Diskurs problematische Gedanken zu ventilieren, ohne dafür einen sozialen Ausschluss zu riskieren. Damit geht die Negativbestimmung einher, dass der Mangel bzw. die Verletzung einer solchen Vertrautheit hier am schmerzlichsten empfunden wird.¹²⁴³ Die fruchtbare Kraft des Exklusivcharakters von ehelichen und familialen Beziehungen erwächst gerade aus dem Steigerungsverhältnis zwischen der an Stärke, Reichweite und (innerlicher) Verbindlichkeit unüberbietbaren Intensität dieser Sozialgestalten auf der einen Seite und der entsprechenden Entspanntheit, die sich daraus für den Umgang mit der Mitwelt ergibt, die als Befruchtung und Erweiterung erlebt und gemeinsam gewürdigt werden kann bzw. wo diese feindlich erscheint, mit vereinter Kraft entgegnet oder in der Geborgenheit der Intimität zurückgelassen werden kann, auf der anderen Seite.¹²⁴⁴ Bevor wir uns in den Unterkapiteln den zentralen Spannungslagen und Wechselverweisstrukturen zuwenden, die sich zwischen familialer Exklusivität und Öffnung ergeben, wollen wir den Gedanken der partnerschaftlichen Exklusivität nach zwei von Schleiermacher angezeigten Hinsichten näherbestimmen. Die eine ergibt sich aus seiner Ablehnung der Polygamie: die quantitative Exklusivität der Ehe; die andere kommt durch Schleiermachers Problematisierung der Deuterogamie in den Blick: die qualitative Exklusivität der Ehe.
Die quantitative Exklusivität der Ehe Es gibt verschiedene Argumentationsmuster, die für die Monogamie angesichts der Möglichkeit – und in Teilen der Welt auch bestehenden Verwirklichung – der Polygamie ins Feld geführt werden. Mit soziologischer Nüchternheit stellt Georg Simmel fest, dass die Monogamie aus dem Sieg des demokratischen Prinzips von selbst hervorgeht. Da es immer in etwa gleich viele Männer und Frauen gibt, kann die Polygamie nur ein Privileg der Wenigen sein. Sobald eine große Masse ihr Recht auf Ehe zu behaupten vermag, ist eine Tendenz auf Monogamie unausweichlich. Deren moralische und religiöse Codierung, die das Ideal exklusiver Liebe hervorbrachte, sei demgegenüber sekundär.¹²⁴⁵ Vgl. weiter dazu Dux, Geschlecht, 453 – 455. Eine kategoriale Grundlegung dessen bietet Schleiermacher in der bekannten Weise der Mischung in der letzten Bearbeitung seiner Güterlehre (PhE 578): „Da nun Gemeinschaft und Scheidung einander ausschließen und jede doch durch jedes Sittliche gesezt sein soll, so dürfen beide nur beziehungsweise entgegengesezt sein, und nur dasjenige ist ein vollkommen für sich geseztes Sittliche, wodurch Gemeinschaft gesezt wird, die in anderer Hinsicht Scheidung, oder Scheidung, die in anderer Hinsicht Gemeinschaft ist.“ Vgl. Simmel, Geschlechter, 128. Einen weiteren Grund für die Verexklusivierung der Paarbeziehung wittert Simmel in der wachsenden Bedeutung des Erbes. So sei die sexuelle Treue der Frau an dem Punkt entscheidend geworden, als der Vater seinem Sohn etwas zu vererben hatte und sichergehen wollte, dass die Blutlinie eingehalten wurde. Vgl. Simmel, Geschlechter, 127 f.
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Eine solche, rein auf die äußeren Verhältnisse zielende Erklärung wäre dem Ethiker Schleiermacher zu wenig gewesen. Und in der Tat vermag Simmels Argument angesichts der vielfältigen bestehenden Asymmetrien in demokratischen Gesellschaften kaum zu überzeugen.¹²⁴⁶ Es bedarf mithin der Sichtbarmachung innerer Motivationen für die faktische Durchsetzung und ethische Gültigkeit der Einehe. Zwar beteiligt sich auch Schleiermacher an vergleichsweise äußerlichen Spekulationen über die Entstehung der Monogamie, etwa wenn er sie bei den alten Germanen in deren besonderer ‚Constitution des Geschlechtstriebes‘ und dem ‚Klima‘ gründen sieht.¹²⁴⁷ Er bleibt jedoch nicht dabei, sondern fragt zugleich weiter, wie sie zu einem sittlichen ‚Princip‘ erwachsen konnte und hierbei sieht er das Verdienst beim Christentum liegen.¹²⁴⁸ Die personale Heilsunmittelbarkeit seiner Erlösungslehre verstattet keine grundlegende Privilegiendivergenz zwischen den Geschlechtern, wie sie sich in einer einseitigen ethischen Polygamieerlaubnis ausspricht.¹²⁴⁹ Im ersten Gebot seines Katechismus suggeriert Schleiermacher sogar noch ein unmittelbareres Verhältnis zwischen Religion und Liebe, wenn er gleich dem Fremdgötterverbot fordert: „Du sollst keinen Geliebten haben neben ihm […].“¹²⁵⁰ Die Parallelisierung zwischen Monotheismus und Monophilie ist nicht allein im parodistischen Genus dieser Frühschrift begründet.¹²⁵¹ Wenn Schleiermacher in seinen Bemerkungen zur Ethik von 1832 bestimmt, „Polygamie ist nur ein Durchgangszustand von vager Geschlechtsgemeinschaft zur Ehe“,¹²⁵² so können wir uns mit Recht an § 8 der Glaubenslehre erinnert fühlen, wo ebenfalls von einer Stufenfolge – in diesem Falle einer solchen der Religionsformen – die Rede ist.¹²⁵³ Während sich das ‚Abhängigkeitsgefühl‘ des Menschen im Götzendienst an etwas bloß Zufälliges hängt und im Polytheismus nicht schlechthinnig, weil geteilt und damit eben relativ ist, liefert allein der Monotheismus ein angemessenes intentionales Korrelat für das Bewusstsein von der ‚Verdanktheit des eigenen Lebens‘.¹²⁵⁴ Werden die Eheformen nun damit parallelisiert, so wird deutlich, dass es bei der Monogamie nicht allein um die Anerkennung des anderen Geschlechts als gleichrangig zu tun ist, sondern auch um das Gewinnen von innerer Bestimmtheit für den Liebenden selbst. Die in der Religion, wie in der Liebe gesuchte Selbstgründung und Selbstentgrenzung ist nur durch intentionale Fokussierung erreichbar.
Warum sollte ein Mann nicht zwei Frauen haben oder umgekehrt, wenn es als legitim erscheint, dass ein Mensch über vergleichbar viel materiellen Besitz wie hunderte andere in der Gesellschaft verfügt? ChS 343. Vgl. ChS 341– 343 und ChS Beil 69. Detaillierter dazu s. o. II.2.3. K 1. Vgl. zu einer solchen Figur auch Schubart, Religion, 102. PhE 650. Vgl. dazu auch PsyG 387 f. Vgl. CG2, § 8, 64– 73. Zur ‚Verdanktheit des Lebens‘ vgl. Rendtorff, Ethik, 66 u. ö.
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In der gesellschaftlichen Wirklichkeit Preußens war die Polygamie freilich keine Option und ist es in deutschen Landen bis heute nicht. Aus der Polyamorie hingegen hätte durchaus ein Konkurrent der Ehe erwachsen können. Bekanntester Vertreter ihrer – v. a. in ihrer geistigen Form – war Jean Paul. Unter dem Begriff der ‚Simultanliebe‘¹²⁵⁵ lebte und verstand er eine zur Dauereinstellung erhobene Kultur des Flirtens, „zu warm […] für die Freundschaft und zu unreif für die Liebe“.¹²⁵⁶ So natürlich, naiv und damit harmlos sich diese auch geben mag, so gefährlich erweist sie sich doch für den inneren Frieden eines Menschen. Die Eleonore der Lucindebriefe bekennt über solch unbestimmte Anbandelungen: „Diese hätten mein Wesen zerstören können, wenn mir nicht immer das Bessere vorgeschwebt, und Du, der mir Alles sein kann, erschienen wärst.“¹²⁵⁷ In seiner Begrenztheit vermag der Mensch eben nicht eine Vielzahl von Menschen auf einmal zu lieben, zumindest nicht, wenn es sich um eine Liebe handelt, die so tief geht, dass sie sich von ihrem Geliebten in der Stärke eines ‚Einander-Alles-Seins‘ abhängig macht.¹²⁵⁸ Das hat seinen Grund nicht allein darin, dass es paradox erscheint, mehrere Totalitäten anzunehmen, die nicht an sich wiederum in einem Einheitspunkt konvergieren; es stellt zudem eine Überforderung der menschlichen Psyche dar.¹²⁵⁹ Diesen Gedanken kannte Schleiermacher bereits von Aristoteles.¹²⁶⁰ Kommen Kinder ins Spiel, wird die Sache nochmals komplizierter. Eine gelingende Erziehung setzt Einigkeit und Beständigkeit der Bezugspersonen voraus, die umso schwerer zu realisieren ist, je mehr Akteure beteiligt sind und je unterschiedlicher deren Verhältnis zueinander ist.¹²⁶¹ Im Gegenzug erhebt sich aus der familialen
Er bietet auch die Begriffe der ‚Gesammt- oder Zugleichliebe‘, der „Tuttiliebe“, der ‚Universalliebe‘, der ‚Präludierliebe‘, ‚Maskopei-Zärtlichkeit‘ und ‚General-Wärme‘ an (Richter, Hesperus, 172 f). Richter, Hesperus, 173. L 198. Vgl. PhE 133: In der sexuellen Vereinigung, in der „der Eine ganz eigentlich Princip des Andern wird“, liegt ein zwingender Grund für eine dauerhafte Monogamie. „Und in dieser völligen Autarkie des gegenseitigen Besizes kann es nun keinem Sittlichen einfallen wollen, noch einen andern eben so zu besizen.“ So lassen sich zwar die Totalität Gottes (Einheit) und die Totalität der Welt (Differenz) nebeneinander denken, jedoch sinnvoller Weise nur, insofern diese auf das Engste aufeinander bezogen werden. Bei Geliebten die ihren Zusammenhang nur in ihrem Geliebten hätten, könnte dies nicht so sein. Die Polyamorie muss, wenn sie wirklich Liebe sein soll, des Menschen Herz zerreißen. Vgl. AÜ 53 f: „So wenig man mehrere auf einmal lieben kann, eben so wenig kann man auch mit vielen auf einmal zu einer vollkomnen Freundschaft verbunden seyn; es gehört dazu eine gewiße starke Spannung der Empfindungen, welche sich der Natur nach nur auf einen Gegenstand erstreken kann. Es ist auch nicht einmal leicht möglich, daß uns viele zu gleicher Zeit außerordentlich interessiren […]. Um unsres Nuzens, um unsres Vergnügens willen, können uns aber wol viele auf einmal behagen […].“ AÜ 79: „Diejenigen, welche viele Freunde zu haben und alle in gleichem Grad zu schäzen und zu lieben scheinen, und die wir gefällig und freundschaftlich nennen, sind eigentlich der Freund von keinem unter ihnen […].“ Vgl. PhE 650: „Die Untrennbarkeit von Erzeugung und Erziehung verdammt die vage Gemeinschaft. Ehe hängt also wesentlich zusammen mit häuslicher Erziehung, und kann diese nie ganz an
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Exklusivität eine Erfahrung, die keine andere Sozialisationsform zu stiften vermag, auch keine auf Personalität abstellende religiöse Gemeinschaft: hier ist niemand ersetzbar und sollte sie jemand – aus welchen Gründen auch immer – verlassen, so bleibt er als Leerstelle präsent.¹²⁶²
Die qualitative Exklusivität der Ehe In Bezug auf Kinder und deren Verhältnis zu ihren Eltern mag die letzte These evident sein. Es stellt sich allerdings die Frage, ob sie in gleicher Weise auch für Paarbeziehungen gilt. Beschränkt sich die Einzigkeit des Liebespartners auf eine Person überhaupt oder ist sie bloß zeitlich gebunden, sodass ein Wechsel von Partnern in verschiedenen Lebensphasen als legitim erscheint? Schleiermacher gesteht letzteres zu, ohne den Anspruch von ersterem fallen zu lassen. Die Frühschriften halten das Ideal von der Fortentwicklung mit einem bestimmten Partner zu einer höheren Einheit hoch¹²⁶³ und gehen auch von der realistischen Möglichkeit einer vollkommenen und exklusiven Symmetrie der Individualitäten aus.¹²⁶⁴ Hat jemand in einer solchen Beziehung gelebt, so erscheint es Schleiermacher auch noch in den reiferen Jahren schwer denkbar, dass dieser eine zweite Ehe in Betracht ziehen könnte.¹²⁶⁵ Hat jemand seine Ehe scheiden lassen, so sei eine zweite Ehe ebenfalls kritisch zu betrachten, denn welchen Wert habe die Einwilligung in die Formel ‚Bis dass der Tod euch scheidet‘ aus dem Mund eines Menschen, der dieses den Staat überlassen.“ ChS 342: „Sind Erzeugung und Erziehung identisch: so ist auch die Erziehung eine gemeinschaftliche; und ist das: so kommt unter Voraussezung der Polygamie der Mann offenbar in Widerspruch mit sich selbst. Denn abstrahirt man von der Idee der Subordination: so ist es nicht möglich, daß die Erziehung dieselbe sei bei einer Mehrheit von Frauen.“ Vgl. Tyrell, Interaktion, 365: „Und diese Erwartungen [an Glück und Erfüllung – CR], so ist hinzuzufügen, richten sich auf die Familiengruppe in ihrer jeweils besonderen personellen Besetzung; ‚miteinander glücklich werden‘ wollen und sollen diese bestimmten Menschen: die Eheleute (und Eltern), die einander daraufhin ‚gewählt‘ und exklusiv aneinander gebunden haben, mit diesen ihren Kindern. Hier ist keiner […] verzichtbar, keiner […] auswechselbar; […] Die Familie ist also eine Gruppe, die für die Selektivität ihrer personellen Zusammensetzung in ganz besonderer Weise sensibel ist.“ Vgl. auch weiter zur Thematik Tyrell, Interaktion, 377– 385. Vgl. M 47 (zur Zitation dessen s.o. II.3.1.Einleitung und II.3.2.1). Vgl. L 197 (Eleonore an Friedrich): „[…] ich [konnte] mich doch keinem ganz mit meinen innern Eigenheiten aufschließen und hingeben; nur Du bist mir Alles geworden, was mein Herz bedarf, Geliebter und Freund.“ L 208 (Friedrichs Antwort): „Die vollkommene Symmetrie des Eigenthümlichen, das beständige Zusammentreffen im Heiligsten und Schönsten von jedem Punkte aus, wirst Du bei keinem Andern finden und sollst es auch nicht; das bleibt mein Vorrecht, in so fern ich zugleich Dein vertrautester Freund bin.“ (Zur Stelle auch s.o. II.3.2.1) Vgl. ChS Beil 136: „Wenn die christliche Ehe zur Vollkommenheit gelangt ist, giebt es weder Ehescheidung noch Deuterogamie. […] Denn wenn eine ideale Ehe auch durch den Tod getrennt ist, wird doch der übrigbleibende nicht die Möglichkeit einer zweiten anerkennen.“ Vgl. auch das Bekenntnis an seine Braut: „Jette, wie könnte ich nun nur noch leben ohne Dich.Wie wohnt meine ganze Seele in Dir, und wie möchte ich sie Dir doch noch immer mehr einhauchen durch die süßesten Küsse und sie ganz an Dich verlieren.“ (BB 206).
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Versprechen schon einmal gegeben und gebrochen habe?¹²⁶⁶ Angesichts der vielfältigen Unwägbarkeiten, die eine Ehe mit sich bringt, erscheint dieses Urteil doch allzu harsch. Gemäß Schleiermachers privaten und seelsorglichen Erfahrungen mit Liebesbeziehungen konnte es auch nicht das einzige bleiben, das er abgab. So differenziert er deutlich: Wenn das „christliche Ideal der Ehe in der Kirche realisirt ist“, wird „die Deuterogamie […] ganz von selbst aufhören.“¹²⁶⁷ Aber: „Solange die Ehen unvollkommen sind, kann man eine zweite eingehen, die andere Vollkommenheiten hat, als die erste.“¹²⁶⁸ Die Formulierung ‚andere Vollkommenheiten‘ fällt ins Auge. In den Lucindebriefen bedurfte es noch einer größeren Vollkommenheit, um eine vormalige Liebe zu verdrängen.¹²⁶⁹ Gegenüber seiner Braut spricht Schleiermacher dagegen sodann von einer ‚anderen Seite‘, die er bei ihr ansprechen werde, als es ihr erster Mann tat.¹²⁷⁰ Man mag den Wechsel darin begründet sehen, dass Eleonore unglücklich verheiratet war, während Jette ihrem verstorbenen Mann sehr nachtrauerte, aber die Formel der ‚anderen Vollkommenheiten‘ scheint nicht nur biographisch, sondern auch ethisch ergiebig zu sein. Sie bedeutet nämlich eine realistische Relativierung der eigenen Beziehung bei einem gleichzeitigen Präsententhalten des Vollkommenheitsanspruchs.¹²⁷¹ Was momentan vollkommen erscheint, kann in der Retrospektive seine
Vgl. dazu H 263 – 265. ChS 352. ChS Beil 136. Vgl. dazu auch ChS Beil 173. Vgl. auch den Zusatz am Rande von 1816 zur Philosophischen Ethik von 1812/13, wo Schleiermacher, vielleicht auch nach mancher Enttäuschung in seiner eigenen Ehe, noch deutlicher wird, was die Idealität der Einzigkeit der Liebe angeht: „Absolute Einigkeit, Ideal der romantischen Liebe, sezt Vollendung des Individuellen voraus. (Nur durch diese, also in der Wirklichkeit gar nicht, wird die Deuterogamie ausgeschlossen).“ (PhE 323, Fn 1). Vgl. L 208: „[…] wie aber eine […] Liebe, noch als Liebe zurükbleiben kann, nachdem eine bessere und vollkommenere aufgegangen ist, die von der schönsten Gegenliebe genährt wird, das ist mir völlig unbegreiflich […].“ Vgl. BB 135: „Darum bist Du aber auch mein und ganz mein; und weil ich so bin, weil ich Dein ganzes Wesen noch von einer anderen Seite in Anspruch nehme, als bei Ehrenfrieds Charakter und Laufbahn möglich war, darum kannst Du mich auch noch lieben nach ihm […].“ BB 260: „Wenn aber Deine Ehe ganz und gar vollendet gewesen wäre, so wüßte ich nicht, ob ich das Herz haben könnte, Dich in eine zweite zu führen.“ BB 324: „O traute Jette, Herzensweib, wie es mich beseligt, wenn Du mir sagst, Du liebest mich, wie Du noch nicht geliebt hast, das kann ich Dir nicht aussprechen. Als unsere Lotte mir das zuerst sagte, wies ich es von mir, doch ich sagte ihr, ich beschiede mich, daß es nur ein Nachklang sein würde von Deiner ersten Ehe – und nun, Gott, wie ist mir so großes und herrliches geworden!“ Ähnlich: BB 349. Auch gegenwärtig zeigt sich, dass der größere Realismus angesichts der Möglichkeit bzw. gar vergleichsweise hohen Wahrscheinlichkeit des Scheiterns einer Beziehung bzw. Ehe nicht zur Absage an das Konzept der Monogamie, sei sie institutionalisiert oder nicht, führt.Vielmehr leben die meisten Menschen in ‚serieller Monogamie‘, die genau die beschriebene Zwischenstellung zwischen Exklusivitätsideal und Pragmatismus erfüllt. Vgl. dazu Burkart/Kohli, Liebe, 117– 131.
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Unvollkommenheiten offenbaren.¹²⁷² Gleichwohl ist die Idealisierung der jeweils bestehenden Partnerschaft keine zu bekämpfende Chimäre, sondern motiviert einen emotionalen und sozialen Einsatz, der deren Potentiale allererst zur Entfaltung zu bringen vermag.¹²⁷³ Aufgrund der vielfältigen Verschränkungen von Lebensbezügen, Einstellungen usw., die eine eheliche Beziehung mit sich führt, kann sie einen Intensitätsgrad erreichen, der an eine Unmittelbarkeit des wechselseitigen Verständnisses und der Empathie hinanreicht.¹²⁷⁴ Demgegenüber relativieren sich andere Beziehungen, was nicht selten in der Weise erlebt wird, dass sie auf Abstand gebracht werden. Alte Freunde und Vertraute sehen sich dabei eventuell zurückgestoßen, während die Liebenden selbst diesen Distanzierungsprozess meist eher als ein natürliches und unproblematisches Auseinanderleben erfahren.¹²⁷⁵
Selbst eine tendenziell unglückliche Ehe wird dadurch gewinnen, dass sich die Partner auf jene Aspekte beziehen, die gut und ergiebig sind: kleine Vollkommenheiten in einem Konglomerat von Unzulänglichkeiten. Ob solches letztlich trägt, muss hier nicht diskutiert werden. Zur Illustration dessen vgl. BB 291: „und Du weißt auch wieder, daß ich Recht habe, so an Dir zu hängen und nicht leben zu wollen, ohne Dich und mich Dir ganz hinzugeben und Dich eben so ganz hinzunehmen.“ BB 113: „Du mußt Dich nun ansehen als vollständig in mein ganzes Leben eingeweiht; es ist nichts darin, was Dir nicht angehörte, was Du nicht theilen solltest, und was ich Dir nicht mit Freuden aufschließen werde.“ Seien es Geldsorgen oder Zukunftspläne, Krankheit oder Erfüllungsmomente, alles setzt der Liebende auch in Bezug auf seinen Partner: „Siehst Du, wie alles immer dieselbe Richtung nimmt, alles mich immer zu Dir führt. […] Ja, meine Jette, laß es Dir nur immer sagen, wie ich Dein bin und wie ich mich immerfort nach Dir sehne.“ (BB 288). Detaillierter dazu s. o. II.3.2.2. Vgl. BB 296: „Ich habe es so oft beklagt, daß die eigenthümlichen wirklichen Gefühle uns Männern doch ganz verborgen wären und hierin eine unübersteigliche Grenze der Erkenntniß läge, aber ich fühle es jezt schon so bestimmt, daß in einer liebevollen Ehe ein Grad des Mitgefühls sein muß, der wirklich an die Unmittelbarkeit grenzt.“ Vgl. illustrativ dazu BB 353: Das Problem des Hineinwirkens von Repräsentanten der Herkunftsfamilie in die neue durch Heirat begründete Familie charakterisiert Schleiermacher seiner Braut gegenüber, wie folgt: „Sie [sc. Luise v.Willich, Schwester Ehrenfrieds – CR] konnte, glaube ich, aus dem Traum von einem gewissen Alleinbesiz nicht heraus: sie konnte nicht da hinein kommen, Ehrenfrieden auch in Dir zu sehn, nicht weil Du grade Du warst, sondern wiefern Du überhaupt seine Gattin warst. In Ehrenfrieds Ehe konnte sie nicht hinein kommen. Er selbst suchte das immer zu bewirken, es war ihm aber noch nicht gelungen.“ Vgl. generalisierter Berger/Kellner, Ehe, 227: Alte Freundschaften werden durch eine Partnerschaft modifiziert, sollte es sich um ledige Freunde des Mannes handeln, oft sogar sukzessive gelöst. „Dieser Liquidierungsprozeß mittels Gesprächs ist in seiner Einseitigkeit besonders wirksam: der Mann spricht bezeichnenderweise mit seiner Frau über den Freund, nicht aber im gleichen Maße mit seinem Freund über die Frau. So wird der Freund gewissermaßen seiner Verteidigungsmöglichkeit, nämlich der Gegendefinition ihrer Beziehung, beraubt. Eines der wichtigsten Charakteristika ehelichen Gesprächs ist gerade auch diese Einseitigkeit. […] Das Paar schließt sich den Gruppen, die seine Eigendefinition und die der Welt stützen, an und vermeidet jene, die diese Definition schwächen.“
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Einführung der Unterkapitel An den zuletzt genannten Aspekt wollen wir im ersten Unterkapitel (1.) anknüpfen. Was Gültigkeit beansprucht, fordert Anerkennung. So kommt etwa Eigentum nicht allein dadurch zustande, dass der Besitzer seinen Anspruch darauf geltend macht, sondern v. a. dadurch, dass dieser Anspruch gesellschaftlich anerkannt wird. Ähnlich verhält es sich mit Paarbeziehungen. So selbstreferentiell und selbstgenügsam sie auch sein mögen; von ihrer gesellschaftlichen Anerkennung hängt viel ab. Letztere ist gleichwohl nicht selbstverständlich, denn jede Proklamation einer Paarbeziehung ist auch eine Zumutung für die Gesellschaft, besonders in Gestalt des unmittelbaren sozialen Umkreises. Das gängige Diktum, allein die Einigkeit beider Partner sei die Voraussetzung für die Güte und Legitimität einer Partnerschaft oder Ehe, erscheint mithin viel zu schlicht. Spiegelbildlich zur Problematik der Aufrichtung einer Partnerschaft verhält sich die Gefahr ihres Scheiterns mit dessen weitreichenden sozialen Folgen, was uns sodann (2.) beschäftigen soll. Die emotionale Bedeutungsaufladung der Ehe hat sie besonders anfällig gemacht, weil der soziale Bruch angesichts des andernfalls drohenden lebenslangen Verzichts auf erwartungsgeschwängerte Erfüllung nunmehr weniger schlimm erscheint. Umgekehrt lässt sich sagen: gerade weil Ehen scheitern können, wird ihre Dauer selbst als umso bedeutsamer empfunden. Die Persistenz wird zum Indikator für die Stärke und den Reichtum der Beziehung. Wenden wir den Blick vom ‚Dass‘ der Aufrechterhaltung einer Ehe zu ihrem ‚Wie‘, so erscheint im Lichte ihres Exklusivcharakters die Frage nach der Eifersucht besonders einschlägig. Hierbei (3.) gilt es, abzuwägen, in welchen Sphären und welcher Reichweite Verbindlichkeitsansprüche ihr Recht haben und gar als Indikator für Engagement und Liebe gelten können, und wo diese in Besitzansprüche pervertieren, welche als allzu repressiv und daher ethisch unzulässig erscheinen. Schließlich wollen wir die Perspektive nochmals weiten und nach dem Verhältnis dieser kleinsten Sozialform zur Gesamtgesellschaft fragen (4.). In Ehe und Familie werden Leistungen erbracht, auf die die Gesellschaft angewiesen ist; zuvorderst freilich die Reproduktion und die wechselseitige Pflege und Fürsorge. Auch wenn familiales Handeln primär binnenmotiviert ist, sind sich die Akteure dieser durch sie erbrachten Wertschöpfung bewusst und nehmen sie in ihr Selbstverständnis auf, was sich in Forderungen nach gesellschaftlicher Anerkennung in Form von Kindergeld, Mütterrente usw. ausspricht. Im Umkehrschluss hat die Gesellschaft einen großen Einfluss auf die Struktur und die Gestaltungs- und Verwirklichungsoptionen, die sich für die Familie ergeben. Das Thema der Intergenerativität kommt hierbei bereits explizit in den Blick, weshalb dieses Unterkapitel zugleich als Brücke zum dritten Teil der Studie zu verstehen ist.
3.3.1 Öffentlichkeit des Privaten Rein begrifflich zeichnet sich das Private dadurch aus, dass es gerade nicht öffentlich ist. Die Markierung von Privatsphären richtet sich jedoch genau an den Kontext, der
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hiermit ausgegrenzt werden soll und ihre interne Selbstverständigung greift notwendig auf externe Signifikationsmuster aus. Für die produktiven Dynamiken, die aus dieser Negationsdialektik erwachsen, hatte Schleiermacher einiges Gespür.
Die Ehe zwischen Öffentlichkeit und Geheimnis Die Liebe ist immer individuell und von subjektiv höchster Bedeutung. In ihrer konkreten Gestalt kann sie von keinem Außenstehenden adäquat mit- und nachempfunden werden. Das erklärt, warum sie, wie alles, was einem Menschen heilig ist, vor der Banalisierung geschützt werden will, die ihr durch eine Thematisierung durch andere droht.¹²⁷⁶ Die bedeutungsvollen Details der Liebe werden entsprechend nur sparsam nach außen kommuniziert. Sie verbleiben im Geheimnis, wodurch sie nochmals an Wert gewinnen können.¹²⁷⁷ Nun schließt die romantische Liebe immer auch eine Tendenz auf das Zusammensein der Partner ein. Das sich aus der Liebe erhebende gemeinsame Leben ihrer ist sodann allerdings mitnichten eine inkommunikable Singularität.¹²⁷⁸ Ganz im Gegenteil gibt es für das Auftreten eines Paares als Paar klare und deutbare Kommunikationscodes und selbst bei der persönlichen Interaktion des Einzelnen mit anderen gehört dessen Beziehungsstatus zu den basalsten Informationen. Wir sehen mithin eine deutliche Differenz: während die partnerschaftliche Liebe ‚geheim‘ ist, ist die Partnerschaft – und par excellence: die Ehe – ‚privat‘, d. h. sie ist ein „umschlossener, von der Außenwelt abgegrenzter Bezirk, der gleichwohl bekannt und unter gewissen Voraussetzungen zugänglich ist“.¹²⁷⁹ Für Teile der Moderne und besonders der Spätmoderne richtungsweisend trat Friedrich Schlegel hierzu in einen doppelten Widerspruch.¹²⁸⁰ Er zog zum einen die Konsequenz, dass auch die Ehe sich aller Äußerlichkeit entschlagen müsse, wenn sie Vgl. dazu Lichnowsky, Kunstwerk, 338. Vgl. dazu BB 213: „[…] ich gefiel mir sehr in dieser Stille und halben Heimlichkeit. Es war mir ordentlich bedeutend, daß die Leute nichts von dem wußten, was sie doch in ihrem Leben nicht verstehen können. Nein, die rechte Liebe und das rechte Leben verstehn sie leider gar nicht, und wer weiß, ob sie nicht in ihrer Unwissenheit noch sagen werden, wir wären doch nicht recht glüklich miteinander. Und besonders werden wir ihnen gar nicht zärtlich vorkommen, denn das wollen wir doch immer recht ins geheim sein, daß es nur die Leute im Dorfe sehn, aber sonst niemand.“ Vgl. PhE 484 (Pflichtenlehre 1814/16): „Alle individuelle Gemeinschaft muß das Universelle mit sezen. Die Ehe produziert Hauswesen.“ Detaillierter zum Wechselspiel von Individualität und Sozialität s. o. I.4.1. Ariès, Liebe, 172. Beate Rössler unterscheidet weiterführend drei Arten von Privatheit. Die ‚dezisionale‘ bezeichnet den Schutzraum persönlicher Entscheidungen und Handlungen, die ‚informationelle‘ den Schutz persönlicher Daten und die ‚lokale‘ die material-räumliche Sphäre (Rössler, Wert, 144– 304. Zusammenfassend dazu vgl. Keller, Geheimnisse, 37– 50). Stets handelt es sich um Sphären, deren Vorhandensein und oft sogar deren Gestalt und Ort zwar öffentlich bekannt sind, die aber gleichwohl legitimer Weise nicht öffentlich zu thematisieren oder zu kommentieren sind. Vgl. dazu Keller, Geheimnisse, 39. Zum Thema des Wandels ‚von der Ehe ohne Liebe zur Liebe ohne Ehe‘ vgl. Schenk, Freie Liebe.
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der Liebe Rechnung tragen wolle¹²⁸¹ und äußerte diese Position zum anderen in einem Werk, in dem er gerade die innersten Mysterien seiner eigenen Liebe veröffentlichte und zur Disposition stellte. Schlegels Programm einer Verinnerlichung des Eros bedeutete letztlich dessen öffentliche Preisgabe. Diese Paradoxie ist kein Zufall. Auch die selbstbezogenste Paarbeziehung bedarf einer Markierung nach außen und bei allem Schutz vor der Übergriffigkeit anderer will sie sich doch auch artikulieren und darstellen. In den Lucindebriefen lässt Schleiermacher Eleonore daher schreiben: „[…] achtest Du nicht schon lange die äußerlichen Dinge mehr als sonst meinetwegen?“¹²⁸² Und in der Tugendlehre von 1804/05 stellt er den innerlichen Strebungen der Liebe von sozialer Seite die ‚Pietät‘ und das ‚Rechtsgefühl‘ zur Seite.¹²⁸³ Die allzu gern im Namen der Romantik kritisierte traditionelle und rechtliche Seite der Ehe hat den großen Vorteil, dem Liebespaar diese Außenkommunikation zu ermöglichen, ohne dass es hierbei zwangsläufig sensible Informationen preisgeben muss.¹²⁸⁴ Bei einer unter dem Stern des romantischen Liebesparadigmas geschlossenen Ehe kann gleichwohl davon ausgegangen werden, dass entsprechende emotionale Dynamiken im Spiel sind. Sie werden mitartikuliert, ohne expliziert werden zu müssen. Mit der Ehe garantieren Recht und Gesellschaft einen Rahmen, dessen inhaltliche Gestaltung ganz dem Belieben der Partner anheimgestellt ist.¹²⁸⁵ Weil gerade die Ehe als eine der ersten und wichtigsten Sphären des Privaten geschichtlich identifiziert wurde, ist eine im Namen des Individualismus an sie ergehende Kritik verfehlt.¹²⁸⁶ Missbilligung verdienen für Schleiermacher hin Vgl. Schlegel, Lucinde, 61 f: „Nun hat uns die Natur inniger verbunden, ganz und unauflöslich. Die Natur allein ist die wahre Priesterin der Freude; nur sie versteht es, ein hochzeitliches Band zu knüpfen. Nicht durch eitle Worte ohne Segen, sondern durch frische Blüten und lebendige Früchte aus der Fülle ihrer Kraft. […] Ich will mich anbauen auf der Erde, […] ich will alle Kräfte brauchen, so lange es Tag ist, und mich dann am Abend in den Armen der Mutter erquicken, die mir ewig Braut sein wird.“ Vgl. dazu auch Dilthey, Leben I, 489 f. L 204.Vgl. weiter L 205: „Die erste Freude der Liebe weiß von gar keiner Sorge […].Wenn aber die äußere Welt ihnen wieder aufgeht, und jeder Acht hat für den Andern, daß sie ihn nicht unangenehm berühre, dann entstehen alle Gefühle, welche die Liebe zur Ehe machen […].“ Vgl. PhE 53. Unter den gegenwärtigen Bedingungen einer zunehmenden gesellschaftlichen und rechtlichen Gleichstellung von freien Lebenspartnerschaften mit der Ehe werden entsprechende Regularien und Erwartungen übertragen. Entgegen konservativer Befürchtungen verliert die Idee der Ehe nicht an Boden, sondern gewinnt an Bedeutung im z.T. nur noch dem Namen nach ‚nichtinstitutionalisierten‘ Bereich von Partnerschaft. Vgl. zu dieser Diagnose auch Hondrich, Dialektik, 307. Vgl. Art. 8 EMRK (Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950). Es gilt das ‚Prinzip der Nichteinmischung in private Lebensbereiche‘. „Wo immer Menschen in der Lage sind, ihre persönlichen Angelegenheiten selbst zu regeln und Probleme auch unter Beachtung des Kindeswohls zu lösen, hat das Recht in diesen Beziehungen nichts zu suchen.“ (Schwenzer, Familienrecht, 105). Gleichwohl transportiert das Recht bestimmte ethische Leitbilder von Ehe und Familie mit. „Nach wie vor wirksam ist hingegen das Bild der Ehe als einziger, exklusiver und lebenslanger Verantwortungsgemeinschaft, das über die Regeln des nachehelichen Unterhalts durchschimmert.“ (Röthel, Lebensformen, 141). Vgl. zu dieser Einschätzung auch Schild, Anmerkungen, 155: „Oft steht hinter einem solchen Verhältnis [der ‚Ehe ohne Trauschein‘ – CR] die (richtige) Erkenntnis, dass dieses wesentlich kein
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gegen diejenigen gesellschaftlichen Akteure, welche inhaltlich restriktiv in jenen Schutzraum einzudringen versuchen.¹²⁸⁷
Die Selbstdarstellung partnerschaftlicher Liebe In der Liebe fängt nichts mit einem äußerlichen Zeichen an; ihr Entstehen ist nach Schleiermacher ebenso unerforschlich, wie die Aufwallung des religiösen Gefühls.¹²⁸⁸ Dass die Liebe der Zeichen bedarf, ist damit jedoch nicht ausgeschlossen, denn das Gefühl ist sowohl intersubjektiv als auch „in der Zeit unübertragbar und unverständlich. Es kann nur durch die Darstellung Erregungsmittel werden“,¹²⁸⁹ wie es im Brouillon heißt. Wie die Religion bedarf die partnerschaftliche Liebe mithin einer Symbolik, die ihr zur Artikulation verhilft. Schleiermacher betont, dass die Darstellungsmittel hierzu nicht beliebig situativ gebildet werden können, sondern auf die ‚Idee‘ am Grunde der ‚Erscheinung‘ verwiesen sind.¹²⁹⁰ Insofern sie aber auf das Ganze einer Gefühlssphäre gehen, nähern sie sich dem Allgemeinen.¹²⁹¹ Das allgemeinste und zugleich stärkste Zeichen der Liebe, welches eine Vielzahl weiterer Symbole und ritueller Handlungen umgreift,¹²⁹² ist die Eheschließung. An seine Braut schreibt Schleiermacher hierzu: In Deinem Briefe darüber siehst Du mir diese Feier zu sehr als bloße Ceremonie an. […] Freilich als bürgerliche Handlung, als Bestätigung unseres Bundes ist sie nichts weiter, denn der ist geschlossen und besteht vor Gott und uns schon lange mit vollster Gültigkeit. Aber als kirchliche Handlung ist sie Dir doch gewiß auch viel werth, als Antheil der Gemeine an unserm Verein, als Gebet und Segen darüber. Und darum soll es bei Deiner lezten Bestimmung bleiben, daß diese Feier nicht soll so verstohlen begangen werden.
Vertrag sein kann, weshalb die Verrechtlichung gemieden wird. Dass gerade dadurch dem Recht eine ihm nicht zukommende Bedeutung (im Negativen) verliehen wird [nämlich die Ehe inhaltlich zu beeinflussen – CR], wird dabei übersehen […].“ Er denkt hierbei v. a. an die römisch-katholische Kirche. Vgl. ChS 359: „[…] die protestantische Kirche [ist] günstiger, als die katholische, weil in ihr das Gewissen frei ist und das häusliche, das gesellige und das kirchliche Leben nicht alterirt werden kann durch die Aufsicht der geistlichen, wie in der katholischen Kirche“. Vgl. L 210: Friedrich stimmt Eleonore zu, dass, „wie Du Eingeweihte ganz recht sagst, hier nichts mit einem sichtbaren Zeichen anfängt. Der Augenblik, das die Liebe zuerst ans Licht tritt, […] ist eben so unerforschlich und unbegreiflich, als jedes andere Entstehen.“ PhE 198. Vgl. PhE 198. Das erklärt, warum traditionelle und entsprechend durchgebildete Formen, etwa im Hochzeitsritus, oft würdiger erscheinen, als viele individualisierte Formen, die in der Betonung einer Besonderheit – unabhängig von ihrer ästhetischen Qualität – oft einseitig und dadurch gerade nicht vielsagend sind, obwohl sie genau das versuchen zu sein. Zu nennen wäre die Symbolik der Ringe und des Ringtauschs, die Bildung eines Familiennamens, das (zumeist) weiße Kleid der Braut mit Schleier uvm.
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Wie schon Luther unterscheidet Schleiermacher die innere und die äußere Seite der Ehe. Die innere ist bestimmt durch die Einigkeit der Partner, die äußere dagegen durch das öffentliche und rechtsgültige Bekenntnis beider zueinander.¹²⁹³ Anders als Luther gewichtet er allerdings in seiner brieflichen Argumentation die Bedeutung der kirchlichen Seite des Ritus gegenüber der bürgerlichen stärker.¹²⁹⁴ Die wechselseitige Einigkeit der Partner ist zwar die Hauptsache; gleichwohl schafft das öffentliche und rechtskräftige ‚Ja‘ für dieses Verhältnis eine oft auch emotional empfundene neue Qualität.¹²⁹⁵ Aus dem inneren Vorhaben, ausschließlich und endgültig zusammenzubleiben, wird im Hochzeitsritus ein Faktum. ¹²⁹⁶ Auch hinsichtlich ihrer bloß ‚bürgerlich bestätigenden‘ Seite war die Eheschließung für Schleiermacher letztlich deutlich aufregungsgeladener als obiges Briefzitat suggerieren mag. Des Öfteren handelt er in seinen Briefen von dem formalen und seinerzeit üblichen Akt des Aufgebots vor der Hochzeit, den er als sehr bedeutsam erlebte.¹²⁹⁷
Prinzipiell macht Luther die Ehe nicht von der äußerlichen, ‚standesamtlichen‘ Form, d. h. in jener Zeit, der Eintragung ins Kirchenbuch, abhängig – schließlich gab es auch für zu viele Menschen Ehehindernisse – sondern vom Bewusstsein, dass Gott einem seinen Partner an die Seite gestellt hat. Vgl. Fischer, Primat, bes. 352. 354. Gleichwohl fing für Luther die Ehe nicht mit einem heimlichen Versprechen, sondern mit dem öffentlichen Bekenntnis beider Partner zueinander an. Vgl. Rössler, Grundlagen, 49 – 52. Damit gibt Schleiermacher noch vor Einführung der Zivilehe einen Trend vor. Wenn nicht allein standesamtlich, sondern auch kirchlich geheiratet wird, empfinden die Paare den staatlichen Akt oft als rein bürokratischen Akt. Rituelle Handlungen, wie der Ringtausch und nachmaliges Spalier Laufen und Reis werfen werden auf den kirchlichen Kontext beschränkt. Zudem wird die standesamtliche Eheschließung dann häufig im sehr kleinen, privaten Kreis begangen, während die kirchliche einen öffentlichen Charakter hat. Vgl. dazu Nave-Herz, Hochzeit, 48 – 53. Vgl. hierzu Schwenzer, Familienrecht, 107. In herausragender Weise hat Hegel die ethische Bedeutung dessen markiert. Durch „das Schließen der Ehe als solches, die Feierlichkeit“ werde „das Wesen dieser Verbindung als ein über das Zufällige der Empfindung und besonderer Neigung erhabenes Sittliches angesprochen und konstatiert“. Zur romantischen Geringschätzung der Eheschließung als bloß ‚äußerliche Formalität‘ bemerkt Hegel dagegen: „Solche Meinung, indem sie den höchsten Begriff von der Freiheit, Innigkeit und Vollendung der Liebe zu geben die Prätension hat, leugnet vielmehr das Sittliche der Liebe, die höhere Hemmung und Zurücksetzung des bloßen Naturtriebs […]. Näher ist durch jene Ansicht die sittliche Bestimmung verworfen, die darin besteht, daß das Bewußtsein sich aus seiner Natürlichkeit und Subjektivität zum Gedanken des Substantiellen sammelt, und statt sich das Zufällige und die Willkür der sinnlichen Neigung immer noch vorzubehalten, die Verbindung dieser Willkür entnimmt […] und das sinnliche Moment zu einem von dem Wahrhaften und Sittlichen des Verhältnisses […] nur bedingten herabsetzt.“ (Hegel, GPhR § 164). Vgl. BB 394 f: „[Ich] nahm […] ein Blatt Papier und schrieb ihm [sc. dem Küster – CR] unsere Namen auf zum Aufgebot – mit einem wunderbaren Gefühl, mit unruhigem stokkenden Puls, ganz zitternder Hand – ich hätte weinen mögen, und es war doch nichts als Freude und Seligkeit. […] Gottes Segen über diesen ersten äußerlichen öffentlichen Schritt zu unserer Vereinigung. Die wenigen, wenigen Wochen bis zum lezten, wie schnell werden sie vergehn. […] Wie ich es aber aushalten werde, Sonntag über acht Tage das Aufgebot zum zweiten Mal selbst zu sprechen, das begreife ich in diesem Augenblik nicht, es kommt mir ganz unmöglich vor, daß ich auch nur ein vernehmliches Wort herausbringe.“ Aber BB 404 kann er schreiben: „Das Selbstaufgebot ist mir sehr gut von statten gegangen.
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Die Hochzeitsfeier selbst wollte Schleiermacher gleichwohl am liebsten relativ spontan und ohne aufwändiges Protokoll begehen als Ausdruck und in direkter Anknüpfung an die Spontaneität des Gefühls.¹²⁹⁸ Gesamtgesellschaftlich sollte sich jedoch ein anderer Trend durchsetzen. Die Hochzeit erwuchs dem Anspruch nach zum biographischen Höhepunkt und wird heute nicht selten als ‚der schönste Tag im Leben‘ gehandelt, der einer entsprechenden planenden und ökonomischen Aufmerksamkeit bedarf.¹²⁹⁹ Mag das alltägliche Leben die hohen Ansprüche der Romantik auch enttäuschen, so sollen sie doch wenigstens an diesem Tag erfüllt sein. Dabei handelt[…] es sich um die meistfotografierte Feier. Das Hochzeitsalbum präsentiert[…] nun das Paar auf ewig sich selbst und den Nachfahren als perfektes Paar, und dieses Bild [wird] an jedem folgenden Hochzeitstag von neuem aufpoliert.¹³⁰⁰
Für Freunde und Angehörige ist die Hochzeit ein Anlass, „ihre emotionale Zuwendung in außeralltäglicher Form gegenüber den Brautleuten zu bekunden; sie hat also eine Integrations- und Symbolfunktion im Hinblick auf die Gruppenzugehörigkeit.“¹³⁰¹ Schleiermacher drückt seine Freude darüber folgendermaßen aus: „schon im voraus ist unser gemeinsames Leben die Freude so vieler trefflichen Menschen, daß uns auch das die schönste Vorbedeutung und ein wahrer Vorgenuß sein muß […].“¹³⁰² In der Traupredigt für einen Pfarrkollegen profiliert Schleiermacher aber auch die dem korrespondierende Gegenwirkrichtung. So habe die Ehe – besonders jene im Pfarrhaus – immer auch Vorbildcharakter für das soziale Umfeld.¹³⁰³ Auch daran hat sich
Nanny sagte aber, sie hätte eine schrekliche Angst dabei gehabt.“ Ferner: zur Vorfreude Schleiermachers auf die Bekanntmachung seiner Verlobung mit Henriette vgl. BB 109 f. 126. 158. Vgl. BB 218: „Am leichtesten werden wir es noch durchsezen können, wenn wir uns an einem schönen Morgen recht plözlich, ohne daß Jemand es vorher weiß, den Willich in die Kirche führen und lassen uns trauen. Sie werden dann freilich auch noch ihr Bestes thun wollen, um alles zu arrangiren, aber sich so doch eher zureden lassen. Auch darin bin ich ganz mit Dir eins im Allgemeinen, daß das schönste und herrlichste nicht muß durch irgend etwas Aeußeres gleichsam geboten und vorherbestimmt sein. Mir sind auch die Vorbereitungen beim Abendmahl verhaßt, daß man das den Tag vorher wissen muß, und nun hernach wieder nicht recht ändern kann. Nun gar hier! ich glaube auch, daß alle nur halb ordentliche Menschen darin einerlei mit uns fühlen und handeln.“ Schleiermachers Einstellung provoziert allerdings Gegenstimmen von Nanny und anderen – vgl. BB 229 f. Zu den großen kulturellen Unterschieden der Ausgestaltung des Hochzeitsfestes vgl. Völger/ Welck, Braut. Gillis, Mythos, 236. Rosemarie Nave-Herz sieht darüber hinaus die gegenwärtig häufig anzutreffende Ausstaffierung der Hochzeitsfeier in direktem Bezug zum Mangel an einer echten lebensweltlichen Passage. „[…] mit der kirchlichen Trauung wird angestrebt, den Statusübergang von der nichtehelichen Lebensgemeinschaft zum Verheiratet-Sein, der […] inhaltlich nur noch wenige Veränderungen bringt, deshalb äußerlich umso stärker außeralltäglich auszugestalten, | öffentlich zu machen und durch Kleidung (eigentlich: durch eine Art ‚Verkleidung‘) und durch andere Hilfsmittel zu erhöhen.“ (Nave-Herz, Hochzeit, 82 f). Nave-Herz, Hochzeit, 94. BB 163. Ähnlich auch BB 115. 171. Vgl. P 10, 515 – 517.
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wenig geändert. So haben Johannes Kopp u. a. nachgewiesen, dass eine Eheschließung Paare im näheren Umfeld motivieren kann, sich auch zu trauen, während Trennungen eher einen negativen, nämlich warnenden und hemmenden Effekt hätten.¹³⁰⁴
3.3.2 Beständigkeit und Scheitern Für eine ethisch produktive Behandlung des Phänomens, dass Paarbeziehungen in einer Trennung und Ehen in einer Scheidung ihr Ende finden können, ist nicht allein vorausgesetzt, dass die konstruktiven Implikate dessen, was gleichwohl oft als Scheitern empfunden wird, gehoben werden – dazu unten mehr. Zunächst ist überhaupt die Anerkennung der Möglichkeit einer Scheidung vorausgesetzt, was nicht selbstverständlich ist.
Scheidung unter der produktiven Differenz der ‚Zwei Reiche‘ Das Ideal der Dauerhaftigkeit und Beständigkeit einer Ehe auch gegen lebensweltliche Widerstände hochzuhalten, gehört zum ethischen Grundbestand der meisten ehelich strukturierten Gesellschaften. Aus der jesuanischen Verschärfung des dekalogischen Verbots des Ehebruchs (Ex 20,14) zu einem Prohibitiv der Ehescheidung (Mk 10,9 – 12) erwuchs der christlichen Ethik jedoch eine besondere Problematik; scheint doch der Ermessens- und Abwägungsspielraum, dessen die ethische Urteilsbildung bedarf, damit gegen Null zu gehen. So hält auch Schleiermacher in der Christlichen Sitte fest: „Die Kirche für sich kann die Ehescheidung niemals als zulässig ansehen, ohne gegen das zu streiten, was sie selbst als das vollkommene anerkennt […].“¹³⁰⁵ Nun gibt es allerdings miserable Ehen, die so destruktiv auf zumindest einen der Partner wirken, dass sich der ethische Mehrwert ihrer Aufrechterhaltung kaum begründen ließe.¹³⁰⁶ Um angesichts dessen das christliche Ideal weder fallen zu lassen, noch es – sodann zwangsläufig – zynisch gegen die Leidenden zu wenden, nimmt Schleiermacher eine Unterscheidung vor, die sich wie eine Transponation der lutherischen ‚Zwei-Regimenter-Lehre‘ in die Geschlechterethik ausnimmt. Weil die Ehe „keine ausschließlich kirchliche, sondern eben so wohl eine politische Angelegenheit ist“, kann die Kirche es nicht verhindern, dass der Staat Ehen scheidet, wenn er es „dem Gemeinwohle für zuträglich hält“.¹³⁰⁷ Die generelle Aner-
Vgl. Kopp u. a., Institutionalisierungsprozesse, 101– 122. ChS 351 [Hervorhebungen getilgt – CR]. Vgl. H 262: Die Kirche hat entsprechend das „Gefühl, es könne wohl leicht ein einzelner zu hart gestraft werden, dessen eheliches Leben mehr durch allgemeine oder fremde Schuld zerstört ward als durch eigene;“ daher ist durchaus der Ausweg einer Scheidung angezeigt „damit nicht die selbstsüchtige Hartherzigkeit, die leidenschaftliche Wildheit verdorbene Menschen zu einer rohen Verbindung hintreibe, die aller göttlichen Ordnung und christlichen Sitte Hohn spricht.“ ChS 351 [Hervorhebungen getilgt – CR].
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kenntnis des Staates schließt für die (protestantische!) Kirche die Anerkenntnis von dessen Scheidungsbefugnis mit ein.¹³⁰⁸ Einen größeren institutionellen Einfluss kann die Kirche eigentlich gar nicht haben wollen, wenn sie den ‚schwarzen Peter‘ der Scheidungsverantwortung nicht zurückgeschoben bekommen will. In den Hausstandspredigten betont Schleiermacher in Bezug auf dieses Verfahren gleichwohl in Entsprechung zur Kommunikationssituation den Anspruch des Christentums. Eine staatliche Scheidung wird hier von der Kirche nicht in neutralem Sinne anerkannt, sondern die Kirche muss „geschehen lassen […], was wider des Herrn Willen geschieht“,¹³⁰⁹ sie „schweigt […] und trauert; aber nur die weltliche Gewalt ist es, welche trennt.“¹³¹⁰ Der Prediger fährt fort: „Aber indem sie es tut, gehorcht sie der Obrigkeit, und ein anderes ist gehorchen, ein anderes ist billigen.“¹³¹¹ Damit ist der Bogen fast schon überspannt, was deutlich wird, wenn es um die protestantische Gewährung der Zweitehe nach einer Scheidung geht. Dass die Kirche eine Scheidung konstatieren kann, ohne sie billigen zu müssen, leuchtet ein. Mit der Neuverheiratung – als Akt der gemeindlichen Anerkennung – spricht sie hingegen sehr wohl indirekt ihre Billigung der vorangegangenen Scheidung aus, und zwar freiwillig.¹³¹² Schließlich kann der Staat die Kirche zu keiner Einsegnung zwingen, was Schleiermacher im Zusammenhang der ‚Mischehenfrage‘ eigens betont.¹³¹³ In den Hausstandspredigten weicht Schleiermacher trotz vieler Übereinstimmungen mithin von seinem sonstigen Programm der ethischen Balancierung ab und betont v. a. die christlich-normative Seite. Während er in der Christlichen Sitte kühl gegen den Vorwurf argumentiert, dass die Ehe im Katholizismus heiliger gehalten werde als im Protestantismus,¹³¹⁴ sehen wir hier, dass er die Kritik keinesfalls für unbegründet hielt, sondern Handlungsbedarf sah.¹³¹⁵
Vgl. ChS 350. H 260. H 262. H 262. Vgl. H 263 f. Vgl. ChS 355. Der Umkehrschluss, die Religion als Scheidungsgrund zu akzeptieren, wird hingegen von Schleiermacher abgelehnt. Vgl. dazu ChS Beil 134 und ChS 339 f. Vgl. ChS 344– 354. Zum Vorwurf vgl. Staël, Deutschland, 69 f: „Es steht fest, daß die Leichtigkeit der Ehescheidung in den protestantischen Gegenden der Heiligkeit der Ehe Abbruch tut. Man wechselt dort die Gatten so friedlich, als ob es sich nur um das Arrangement der Nebenumstände in einem Drama handle. […] | Doch verlieren die Sitten und der Charakter auf diese Weise alle Festigkeit, der Widerspruchsgeist erschüttert die heiligsten Institutionen, und für alles fehlt am Ende eine feste Regel.“ Vgl. auch ebd., 73. Vgl. H 250: „Wie häufig wiederholen sich nicht noch diese traurigen Fälle [der Scheidung – CR]! Und wie gleichgültig werden sie nicht noch von vielen angesehen, wie leichtsinnig behandelt, statt daß sie als gemeinsame Schuld mit tiefer Beschämung sollten gefühlt, und das Sündliche darin von allen wahren Christen auf das strengste sollte gerügt werden!“ H 264: „Möchte nur die Stimme dieses echt christlichen Gefühls niemals verstummen vor dem Leichtsinn, der sich hie und da noch laut macht […].“ Mit der Novellierung des Familienrechts 1977 hat sich die Situation noch verschärft, insofern Scheidungen nun auch auf Begehren bloß eines der Partner leichter möglich wurden. „Faktisch,
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In seiner Praktischen Theologie verhandelt Schleiermacher den ‚Sühneversuch‘ als einen „besonderen Punkt der Seelsorge, der bei uns einen officiellen Charakter hat“.¹³¹⁶ Ging eine Ehescheidungsklage bei einem Gericht ein, so beauftragte dieses einen Pfarrer mit dem obligatorischen Versuch einer Aussöhnung der Partner. Gelang er, so wurde die Scheidungsklage zurückgezogen; misslang er, so ging das Verfahren fort. Nachdem Schleiermacher seinen Studenten diesen institutionellen Vorgang erklärt hat, schärft er ihnen ein, dass es für den Geistlichen keine bloße Formalie mit gleichwertigem Ausgang sein dürfe, sondern dass dieser mit der unbedingten Tendenz zur Einigung agieren müsse.¹³¹⁷ Die Einsicht in die Möglichkeit des Scheiterns einer Ehe schließt es nicht aus, für ihren Bestand zu kämpfen, was ohne die Markierung einer Entscheidungssituation und die Aufstellung von Normativen, die zur Auseinandersetzung und Rechtfertigung auffordern, unmöglich ist.¹³¹⁸ Bei diesen Bemühungen ist nicht allein das Paar selbst gefordert, sondern das gesamte soziale Umfeld. Schleiermachers Einsicht in die kategoriale Verschränkung von Individualität und Sozialität gewinnt hier normatives Potential für die Gesellschaft. Der Zustand der Ehen sagt nicht nur etwas über die jeweiligen Partner aus, sondern auch über die Gesellschaft. Das Scheitern einer Ehe ist mithin kein bloß individuelles Versagen, sondern steht in einem größeren und längeren Kontext von Versäumnissen, die auch andere Akteure mit zu verantworten haben. In der Christlichen Sitte folgert Schleiermacher hieraus für die Kirche Demut und Selbstkritik statt
moralisch und rechtlich ist die Gesellschaft auf die Seite derjenigen umgeschwenkt, die die Trennung wählen.“ (Hondrich, Dialektik, 303). PT 454. Vgl. PT 454. Vgl. weiterführend dazu Josuttis, Lebenslust, 138 f: Das Verbot ‚Du sollst nicht ehebrechen‘ mag angesichts der Disparatheit, die entsprechende Zusammenhänge mit sich bringen, und der Faktizitäten bezüglich der Ehe in der Moderne infantilisierend wirken, aber: „Das Verbot verlangt ja nicht einfach Gehorsam und Unterwerfung, wie man in diesem Zusammenhang sehr leicht unterstellt. Das Verbot stellt in eine Entscheidung. In einer höchst brisanten Situation formuliert es einen schrillen Appell mit abschreckender Tendenz. Indem es vor einem bestimmten Verhalten eindeutig warnt, macht es den, der sich mit dieser Warnung auseinanderzusetzen hat, zu einem erwachsenen Menschen.“ (Ebd. 139). Gegen O’Neills, die im Namen des ‚Realismus‘ Statistik und Norm zusammenschmelzen: „Scheidungen sind heute so gang und gäbe, daß die Ehe zu einer Drehtür geworden ist […] wir wollen damit ja nicht sagen, daß sie von vornherein annehmen werden, Ihr Ehepartner werde nicht Mutter oder Vater Ihres Kindes sein; wir möchten nur, daß Sie es nicht als selbstverständlich voraussetzen und daß Sie sich der Möglichkeit bewußt sind, es könnte auch anders kommen. Das ist nur realistisch gedacht. | Die Ablehnung dieses Gedankens ist Selbsttäuschung und kann den Aufbau der Beziehung zwischen den Partnern stören.“ (O’Neill/O’Neill, Ehe, 48). Unter dem Kapitel ‚Scheidung als Trauzeuge: Ehekoalitionen‘ beschreibt Beck, wie die gestiegene Gefahr einer Scheidung und ein entsprechendes Rechnen mit dieser dazu führt, dass die Ehe zunehmend als Vertrag verstanden und eingegangen wird. Die faktische Bedingtheit des Ehebundes verbietet eine bedingungslose Hingabe an den Partner (Beck/ Beck-Gernsheim, Chaos, 204– 208). „Die vertragliche Sicherheit entwertet das, was sie ermöglichen soll: Liebe.“ (Ebd., 205).
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Verurteilung und falsche Eindeutigkeit.¹³¹⁹ In den Hausstandspredigten führt er genauer aus, worin ihre Einflussmöglichkeiten bestehen. Zum einen nennt er hierbei die Prävention, also die Aufforderung zur kritischen Prüfung der Passung der Partner und Motivlage der Eheschließung; zum anderen fokussiert er die Vermittlung.¹³²⁰ Die Kirche soll nicht Anwalt eines Partners, sondern Anwalt der Ehe sein.¹³²¹ Dazu sei sie besonders prädestiniert; und zwar nicht primär, weil sie das Ganze im Blick hat, sondern weil sie die Selbstergründung der Einzelnen anleitet und damit die Spirale der wechselseitigen Schuldzuweisung, von der die meisten Trennungen bestimmt sind, von innen aufzubrechen ermöglicht.¹³²² Gesellschaftlich gängige Automatismen in der Scheidungsfrage wurden für Schleiermacher – richtungsweisend für die Moderne – unhaltbar.¹³²³ So zweifelte er
Vgl. ChS 351 f [Hervorhebungen getilgt – CR]: „Die Kirche müßte also doch erst einen größeren Einfluß gewinnen auf die Schließung der Ehen, ehe sie es für an der Zeit halten könnte, alle bestehenden Ehen für unauflöslich zu erklären, und bis dahin müssen wir denn die Möglichkeit der Scheidung für ein Document der Unvollkommenheit der Kirche in ihrer Erscheinung ansehen, und es für sehr bedenklich halten, sie aus einem | Purismus gänzlich zu negieren.“ Vgl. H 260: „Aber daß wir uns allemal von Herzen schämen, so oft ein solcher Fall sich ereignet, über den unvollkommnen Zustand unseres christlichen Gemeinwesens; daß wir uns auf das ernstlichste immer wieder verbinden, teils der Herzenshärtigkeit entgegen zu arbeiten und sie auszurotten, […] und vor allem bei der Jugend ihr vorzubauen durch Zucht und Vermahnung zum Herrn; teils aber aller derer, die sich in ähnlicher Gefahr befinden, uns treulich annehmen mit brüderlicher Warnung und Rat aus Gottes Wort, mit Besänftigung und schiedsrichterlichem Wohlmeinen, damit es nicht auch bei ihnen dahin komme […].“ Vgl. H 259: „[…] beide Teile müssen, sei es auch oft in sehr ungleichem Maße, die Schuld teilen.“ Vgl. dazu auch PT 457: „Je mehr wir uns auf den kirchlichen Standpunkt stellen, um so weniger wird sich so etwas zeigen […]: im Verhältniß beider Theile kann kein Grund sein, daß das Verhältniß getrennt werde.“ Vgl. H 256 f: „[…] wieviel Augenblicke müssen nicht kommen, wo die verirrten, aber noch nicht allen besseren Regungen abgestorbenen Herzen wehmütig aufgeregt sind, und jeder Teil mehr geneigt, seinen Anteil an dem sündlichen und verworrenen Zustande bußfertig zu bekennen, als alle Schuld dem andern zuzuschieben. Wie oft führt nicht das kirchliche Leben solche Augenblicke herbei, vornehmlich durch seine Sakramente und seine feierlichen Gedenktage! Wie oft müssen sie sich entwickeln bei frohen häuslichen Festen! Wie sehr wird die treue Liebe besorgter Freunde und Angehörigen darauf bedacht sein, sie zu vervielfältigen! Wenn dann nur einmal in einem solchen Augenblicke einer seine Gleichgültigkeit und Bitterkeit überwindet, wieviel ist dann noch zu hoffen!“ Im Preußischen Landrecht von 1794 war festgelegt, dass als mögliche Scheidungsgründe in Betracht kamen: Ehebruch (wenn beide Ehebruch begangen hatten, durfte nur der Mann die Scheidung einreichen), Nichterfüllung der ‚ehelichen Pflichten‘, ‚bösliche Verlassung‘, d. h. eine unzulässige Abwesenheit der Frau, vorsätzliche Empfängnisverhütung, körperliche und psychische Gebrechen, die Ekel erregen und so den Ehezweck behindern, dauerhafter Ausfall als Arbeitskraft bei einer Ehe, die zur wechselseitigen Unterstützung geschlossen wurde, schwerste Beleidigung und Morddrohung (nur in Ausnahmefällen), Gefahr für die Ehre des Hauses durch einen Ehepartner. Ein Novum bildet das emotionale Begründungsmuster einer ‚unüberwindlichen Abneigung‘, die allerdings wiederum bevölkerungspolitisch begründet wurde – wer sich hasst, zeugt wahrscheinlich keine Kinder. Entgegen dem gegenwärtig in Geltung stehenden Zerrüttungsprinzip, schloss dieser Fall allerdings zumeinst einen Schuldspruch mit entsprechenden Sanktionen ein (Alder, Landrecht, 213 – 216). Ähnlich be-
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an, dass die Scheidung durch einen Ehebruch innerlich vorweggenommen wurde und eine institutionelle Entsprechung zwingend erforderlich machte.¹³²⁴ Erst wenn die außereheliche Beziehung zur Fortsetzung strebte, bedeutete sie ihm die ‚factische Aufhebung der Ehe‘.¹³²⁵ Ein einziger ‚Seitensprung‘ hingegen konnte auch der Anlass für eine Arbeit an der Beziehung sein, die sie vertiefte und verbesserte.¹³²⁶ Umgekehrt akzeptierte Schleiermacher das bloße Vorhandensein von Kindern nicht als hinreichenden Grund für die Fortsetzung einer Ehe. Die strikte Differenzierung von Kirche und Staat, die eben noch die Scheidung um der Staatsraison willen erlaubte, kehrt sich hierbei um. Während der Staat im Interesse der Kinder eine Ehescheidung erschwert, behauptet die Kirche, dass es auch im Interesse der Kinder liegen könne, sie zu vollziehen.¹³²⁷ Schleiermacher denkt hierbei v. a. an die Belastung, die ein familialer Dauerkonflikt für sie bedeutet.¹³²⁸ In den Hausstandspredigten betont er allerdings, dass es nur halbwahrhaftig ist, wenn das Kindsinteresse erst
völkerungsstrategisch begründet waren die weitgehenden Rechte, die unverheirateten Müttern gegenüber ihren (potentiellen) Schwängerern zukamen. Vgl. Alder, Landrecht, 220 f. In unübertrefflicher Weise hat Theodor Fontane der Tragik jener Zwangsläufigkeit in seinem Roman ‚Effi Briest‘ ein Mahnmal gesetzt. Vgl. PT 455: „Wir haben dagegen Aussprüche Christi, der die Ehescheidung verbietet außer in dem Fall wo sie faktisch aufgehoben ist, bei dem Ehebruch. (Ev. Matth. 5,32.) […] Der Ausspruch Christi paßt auf unsere gegenwärtige Zeit nicht mehr; […].“ Vgl. auch ChS Beil 135: Die Ehe sei unauflöslich. „Aber Christus nimmt den Ehebruch aus: Dieser soll in einer christlichen Ehe gar nicht vorkommen; er ist aber eine factische Auflösung, die der andere Theil nur anerkennt.“ Einschränkend dazu bestimmt er in ChS Beil 173: „Der Ehebruch ist ein besonders dringender Scheidungsgrund nur sofern er fortgesezt werden will, und also schon an sich eine factische Aufhebung der Ehe ist.“ Vgl. PT 457: „Es giebt auch viele Fälle, wo selbst beim Ehebruch die Ehe fortzusezen wünschenswerth wäre, wo die Fortsezung der Ehe nachher besser ist als sie vorher war.“ Vgl. PT 456: „Der Staat macht überall einen Unterschied zwischen kinderlosen Ehen und solchen die Kinder hervorgebracht haben, und erschwert die Trennung der lezteren. Der Staat […] stellt die Maxime auf: der Kinder Interesse verlangt daß die Ehe nicht getrennt werde, weil sonst die väterliche oder mütterliche Aufsicht aufhört. Welches ist nun der kirchliche Standpunkt? Hier ist keine Ehe mehr auflöslich als die andere […]. Werden nun die Eltern getrennt: so hört ein sehr nachtheiliger sittlicher Einfluß auf; sie muß also die Trennung im Interesse der Kinder wünschen, wenn die Ehescheidung überhaupt zulässig ist. So kann also das was der Geistliche zu verfechten hat in offenem Widerspruch mit der Tendenz der Gesezgebung stehen.“ Vgl. PT 457 f: „Sobald die Ehe da ist: so ist auch ein Princip der Gemeinschaft | da; aber es kann ein sittliches Interesse der Trennung da sein für andere, und das sind die Kinder. Das kirchliche Interesse ist also dem politischen grade entgegen; eine kinderlose Ehe zu trennen, wird oft vom religiösen Standpunkt gar kein Motiv sein. Gesezt nun dieser Standpunkt ist da, was hat der Geistliche zu thun? Hier ist nun wol zu unterscheiden: es kann ein Interesse der Kinder sein daß eine Ehe getrennt werde, aber es ist nicht ihr Interesse daß sich ein Theil wieder verheirathet. Der Geistliche wird also nie Grund haben eine gänzliche Trennung der Ehe zu bewirken, also nur einen provisorischen Grund, und so kann es geschehen daß beide Theile wieder Motive bekommen sich wieder zu vereinen.“ Probleme wie die – vor allem kurzfristigen – Anpassungsstörungen von Scheidungskindern und die sog. ‚Scheidungstransmission‘ hat Schleiermacher hierbei wohl nicht im Blick – in letzterem Fall konnte er dies freilich auch gar nicht. Vgl. dazu Hill/Kopp, Familiensoziologie, 252– 254. Ausführlicher: Bayerl, Familie, 88 – 103. Ausführlich zur Scheidungstransmission vgl. Diefenbach, Geschichte.
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angesichts einer Trennung in den Blick kommt und das eheliche Verhältnis nicht schon zuvor orientierte.¹³²⁹
Scheidung als Negativkorrelat zur hohen Bedeutung der Ehe Die romantische Liebe ist, ähnlich wie der Gottesgedanke, mit sehr hohen Sinnerwartungen verbunden.¹³³⁰ Anders als Gott und das Himmelreich, die (weitgehend) in der Transzendenz verbleiben, ist die Paarliebe jedoch konkret auf ihre Leistungsfähigkeit überprüfbar. Das macht sie anfällig. Es scheint eine direkte Proportionalität zu bestehen: je höher die Erwartungen, die an eine Beziehung gestellt werden, desto größer die Gefahr der Enttäuschung.¹³³¹ Aus der deskriptiven Vogelperspektive lassen sich das Ideal und seine (teilweise) kontrafaktische Wirklichkeit auf die protestantisch-psychologische Kernkorrelation des ‚simul iustus et peccator‘ bringen. Für den konkreten Umgang mit der Problematik hilft diese dialektische Bestimmung allerdings nicht weiter. Dem Einzelnen ist vielmehr eine Entscheidung aufgezwungen: entweder er schleift sein Ideal an der Wirklichkeit ab oder er erhält seine hohen Ansprüche aufrecht und bringt ihnen seine reale Beziehung zum Opfer dar.¹³³²
Vgl. H 258: „Dann aber soll es wieder die Liebe zu den Kindern sein, welche den Wunsch rechtfertigt, eine Ehe aufzulösen, die ihnen nur Streit zeigt und üble Beispiele […]. Übel genug freilich, aber woher kommt euch diese Liebe und Fürsorge so spät? Hättet ihr eher einander mit sorglicher Liebe auf die Pfänder eurer Liebe hingewiesen: o, das am sichersten hätte eure eigene erstorbene Liebe wieder beleben müssen, und nur indem sich euer Herz auch gegen euere Kinder verhärtete, konntet ihr bis so weit kommen!“ S.o. II.3.1.1. In der Paarsoziologie kann diese Korrelation als common sense gelten.Vgl. Luhmann, Liebe, 124: „Ihr [sc. der Liebe – CR] Anspruch auf voll individualisierte Einmaligkeit kann nur im Außerordentlichen und nur im Negativen, im Verzicht sich dokumentieren.“ Beck/Beck-Gernsheim, Chaos, 228: „Familienidealisierung und Scheidung sind die zwei Gesichter eines modernen, in den enttraditionalisierten, individualisierten Lebenswelten um sich greifenden Liebesglaubens.“ Vgl. auch Nave-Herz, Familiensoziologie, 173. Hill/Kopp, Familiensoziologie, 229 – 232. Sowie die Zitation von René König (1969) bei Spory, Familie, 79. Eine interessante Umkehrung fügt hinzu: Nave-Herz, Familiensoziologie, 175: Trennung bedeutet nicht immer gleich Scheidung, so haben sich viele Paare vor ihrer endgültigen Scheidung bereits mehrfach getrennt. „Wenn also in der Literatur als Charakteristikum des Modernisierungsprozesses die heute umfassenderen Revisionsmöglichkeiten von individuellen Entscheidungen genannt werden […], dann ist hinzuzufügen, dass ebenso die Revision der Revision zugenommen hat.“ Vgl. prägnant dazu Hondrich, Dialektik, 306 f. Vgl. auch Ungern-Sternberg, Ehe, 232: „Noch ist uns die Vorstellung der unglücklichen Ehe geläufig; in Zukunft wird sie vermutlich eine Kuriosität sein. Denn der aktiven Persönlichkeit öffnen sich zwei Wege: entweder man löst die Ehe, oder man nimmt sie mit ihren Leiden auf sich; dann ist man aber nicht unglücklich, sondern ein Mensch, welcher sein Schicksal meistert.“ Zur letzteren obigen Option vgl. Beck/Beck-Gernsheim, Chaos, 228: „Es ist, als würde die Liebe eine Eigenrealität gegen die Realität von Ehe und Familie und gegen die Person beanspruchen, der sie zur Befreiung in die wirkliche Existenz verhelfen soll. Wer der Liebe Ehe, Familie, Elternschaft, am Ende vielleicht sogar das Wohlergehen seiner Nächsten opfert, begeht keine Sünde,
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Schleiermacher operierte mit beiden Optionen. Wenngleich sich auch hier wieder kein harter Bruch in der Werkbiographie ausmachen lässt, so überwog in jungen Jahren doch der Liebesidealismus, während in der Reife der Realismus in den Vordergrund trat. Die schärfsten Differenzen treten anhand der Frage auf, ob die Option einer anderweitigen, größeren Liebe der direkte Grund für eine Scheidung sein darf. Folgen wir einer Formulierung aus den Monologen, die ganz offensichtlich durch die Problematik von Schleiermachers Liebe zu Eleonore Grunow motiviert war, so muss die Antwort ‚ja‘ lauten: „Wo mag sie wohnen mit der das Band des Lebens zu knüpfen mir ziemt? […] Und wenn ich sie nun finde unter fremden Gesez, das sie mir weigert; werd ich sie erlösen können?“¹³³³ Auch das vierte Gebot des Katechismus lässt sich in diesem Sinne interpretieren.¹³³⁴ In der privaten Korrespondenz war Schleiermacher gleichwohl stets darauf bedacht, diese Motivlage nicht hervortreten zu lassen, sondern als Scheidungsgrund allein die Schlechtheit der bestehenden Ehe zu profilieren.¹³³⁵ Zunächst mag er bloß aus dem Grund, der öffentlichen Moral zu entsprechen, auf diese Weise argumentiert haben. Später jedoch, als er selbst verheiratet war, erkannte er, dass jede Ehe an einen Punkt kommen konnte, an dem andere Optionen attraktiver erschienen, und plädierte dafür, sich umeinander zu bemühen und wieder bewusst zu machen, was man aneinander hat und miteinander erreicht hat.¹³³⁶ In den Hausstandspredigten setzt sich Schleiermacher direkt mit der These auseinander, dass die Steigerung der Erwartungen an das eheliche Leben die Bewusstwerdung seiner Grenzen und Missstände unmittelbar mit sich führe und lehnt sie interessanter Weise strikt ab.¹³³⁷ Grund dafür ist sein Generalplädoyer in dieser Predigt
sondern vollzieht das Gesetz der Erfüllung, der Wahrheit der Gefühle, der Entfaltung des Selbst an sich und anderen.“ M 47. Vgl. K 4: „Merke auf den Sabbath deines Herzens, daß du ihn feyerst, und wenn sie dich halten, so mache dich frey oder gehe zu Grunde.“ Zur entsprechenden Interpretation (und Rüge dieser Position) vgl. Walsemann, Frauen, 462. Zwar gibt Schleiermacher zum Teil sogar zu, mit seiner Empfehlung zur Scheidung Eleonores auch eigene Interessen zu verfolgen (vgl. Brief 1113, 223; vgl. zu dieser Einschätzung auch Virmond, Liebe, 49); jedoch betont er v. a. die gänzliche Verfahrenheit dieser Ehe an sich: „Sie versicherte mich, […] ihr Leben wäre verloren und für ihn wäre nichts dabei zu gewinnen, sie könnte mit allem Rath und Beispiel seine Gesinnung nicht ändern, und auch mit aller äußeren Anstrengung und Sorgfalt sein Unglück nicht abwenden.“ (Zit. n. KGA V.3, XXXIV, Fn 83). Vgl. PhE 324: „§ 22. Die spätere Meinung also, als ob mit einer anderen Person eine vollkommenere Ehe möglich wäre, darf nicht trennen, sowol wegen des Gemeinbesizes der Kinder, als wegen des schon vorhandenen gegenseitigen Personbesizes.“ Vgl. auch H 257 f: Das Motiv, den Partner um der Liebe willen freizugeben, in der Meinung er könne in einer anderen Beziehung glücklicher werden, lehnt Schleiermacher strikt ab. „[…] wer gibt dir das Recht, ihn seiner heiligen Pflicht, die du allein ihm nicht auferlegt, sondern die er vor Gott übernommen hat, leichtsinnig zu entlassen? Ja, nur mit verhärtetem Herzen kannst du glauben, dein Gatte könne glücklicher werden als eben durch dich geschehen würde […].“ (H 258). Vgl. H 249: „Auch das könnte ich nicht annehmen, wenn jemand sagte, wo viel Licht ist, da sei auch viel Schatten. Das Christentum habe uns so sehr erleuchtet über die höhere Bedeutung des
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für ein Bemühen der Partner umeinander. Kein Argument soll gelten gelassen werden, welches eine Trennung erleichtern oder gar empfehlen würde. Der Prediger kehrt die Rationalität des Gedankens sogar um: wenn das Gefühl wirklich so sensibel ist, dass ihm manche Schieflagen einer Ehe schon unerträglich erscheinen, müsste diese Negativempfindung, die doch eine emotive Potenzierung der zugrundeliegenden Probleme darstellt, erst recht das Gefühl quälen.¹³³⁸ Die Folgerung wird von Schleiermacher nicht ausgesprochen, liegt aber auf der Hand: die übersteigerte emotionale Sensibilität müsste sich gegen sich selbst richten, da nicht der Partner, sondern sie selbst sich die größten Leiden zufügt. Die Aufforderung zur Erwartungsreduktion ist als ethische Mahnung für ein breites Publikum zu verstehen. Für die Bildungselite galten Schleiermacher andere Gesetze. Die Ungebildeten und entsprechend Wankelmütigen sollten bei Eheproblemen lieber zusammenbleiben, weil bei ihnen aufgrund ihrer ‚rohen‘ Grunddisposition nicht zu erwarten wäre, dass eine andere Ehe problemloser verlaufen würde.¹³³⁹ Bei den Gebildeteren wäre es hingegen eher angezeigt, eine mangelhafte Ehe am romantischen Ideal scheitern zu lassen, weil – so können wir anfügen – aufgrund der höheren Bestimmtheit und Durchgeklärtheit der Partner die Chance deutlich höher ist, dass sie einen passenderen Partner ausfindig machen können.¹³⁴⁰ Das Individualitätsideal bestimmt bei Schleiermacher mithin auch die Scheidungsfrage: Wo wenige Bildungschancen bestehen, soll wenigstens der soziale Kontext das Individuum befestigen – hier sei auf Beständigkeit zu insistieren. Wo hingegen hohe individuelle Bildungsmöglichkeiten gegeben sind, kann eine Trennung gewagt werden, weil der Bestand der Beziehung hier kaum produktive Bestimmtheit vermitteln würde, sondern bloß als Restriktion erfahren wird. Eine gelingende Wiederverheiratung als reines Elitenphänomen zu betrachten, wäre sicherlich überzogen; allerdings zeigt sich
heiligen Bundes, und es errege demgemäß so hohe Erwartungen, daß uns nun schon vieles als Unglück und Zerrüttung erscheine, wobei wir noch zufrieden sein würden, ja glücklich, wenn wir geringere Forderungen machten.“ Vgl. H 249: „Denn ich meine, wenn wir Recht hätten, einen großen Teil des Mißvergnügens in diesem Stande auf Rechnung eines so geschärften Gefühls zu setzen: so müßte eben dieses geschärfte Gefühl sich auch am meisten kund geben bei dem Anblick jenes Mißvergnügens.“ Empirisch zeigt sich, dass Schleiermacher seinen Adressaten passend gewählt hat. Bei niedrigerem Bildungsniveau ist ein höheres Scheidungsrisiko zu beobachten. Vgl. dazu Bierhoff/Grau, Beziehungen, 136 – 155. Vgl. auch Nave-Herz, Familiensoziologie, 170: „Je höher die soziale Schicht ist, desto geringer ist das Ehescheidungsrisiko. […] Ehen von Partnern mit mittlerem Bildungsniveau sind am stabilsten […].“ Vgl. dazu PT 783 (Manuskript 1828 – Schleiermacher hielt die Vorlesung ähnlich bereits 1821/22): „Man kann unbedingt für die Versöhnung sein, weil die Scheidung immer Skandal ist. Dann muß man das Ausfallen ansehen als Buße für die unrechte Schließung der Ehe. Man kann eben so unbedingt für die Scheidung sein, weil eine schlechte Ehe ein beständiger Skandal ist. Also muß man beides nach Umständen modificiren. Beim gemeinen Volk mehr für die Sühne, oft nur vorübergehende Rohheit, die bei jeder anderen Ehe wiederkommen wird. Bei hohen mehr für die Scheidung […].“ Zur Differenzierung von ‚individueller‘ und ‚universeller Ehe‘ vgl. auch PhE 323.
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sehr wohl, dass eine innere Durchgeklärtheit und ein realistisches Anspruchsdenken einer verheißungsvollen Paarbildung sehr zuträglich sind.
Prekäre Identität Durch das Eingehen einer Beziehung wird die eigene Persönlichkeit irritiert und modifiziert; Wandlungsprozesse setzen ein, die dem sozialen Umfeld eines Paares zuweilen deutlicher werden, als dem Paar selbst.¹³⁴¹ „Was zunächst für die Kontinuität eine hohe Belastung ist, wird dann, wenn die Zweierbeziehung gefestigt ist, zu einem wichtigen Garanten der Kontinuität.“¹³⁴² Im vierten Gedankenheft beschreibt Schleiermacher diese Dynamik, wie folgt: Liebe geht zuerst und zunächst auf die Verschmelzung der Personen, der Organe, der primitiven Eindrücke der Rechte, alles was den Menschen in der Außenwelt repraesentirt. Freundschaft auf Verschmelzung der Individualität, des Fragments welches jeder von der ganzen Menschheit in sich hat, […] Daher giebt es in der Liebe keine eigentlichen Beleidigungen in der Freundschaft aber wol.¹³⁴³
Da im romantischen Eheparadigma Freundschaft und Liebe koinzidieren, können wir die Bestimmungen als die innere und die äußere Seite der partnerschaftlichen Vereinigung interpretieren.¹³⁴⁴ Das Ehepaar bildet sowohl innerlich, was das individuelle Selbstverständnis und die Selbstdeutung angeht, als auch äußerlich, was rechtliche, verantwortungsvalente, soziale und ökonomische Faktoren betrifft, eine Einheit. Spätestens an den Problemen und Nachwirkungen einer Trennung durch Tod bzw. Scheidung wird deutlich, wie weitreichend die eheliche Einheit war.¹³⁴⁵ Das Gefühl, ‚den Boden unter den Füßen zu verlieren‘, ‚innerlich entzweigeschnitten zu sein‘ oder dass ‚die Welt zusammenbricht‘, welches oft in Trennungs- oder Todesfällen geäußert wird, beschreibt genau diese hohe Bedeutung der Beziehung für die eigene Identität, S.o. II.3.1.3 und II.3.1.4 sowie II.3.2.1. Lenz, Zweierbeziehung, 169. Treffend macht Beck-Gernsheim darauf aufmerksam, dass im Anwachsen von Optionen, die die Umwelt dem Einzelnen bietet, eine Partnerschaft nicht nur Stabilität gibt, sondern Entscheidungsprozesse auch verkompliziert, insofern nun zwei Personen in diese eingebunden werden müssen. Die Komplexitätssteigerung der modernen Lebenswelt macht eine stabilisierende Partnerschaft mithin nicht nur notwendig, sondern auch zugleich prekär (Beck/BeckGernsheim, Chaos, 73 f). G IV, 14., 135 f. S.o. II.1.2.1. Vgl. Beck/Beck-Gernsheim, Chaos, 230: „Wer sich sicher in der Alltäglichkeit seiner Liebe und Partnerschaft weiß, vergißt die Bedeutung, die dieser Glaube auch für ihn oder sie hat. Im Zentrum der Aufmerksamkeit und Sorge steht immer das Unsichere. Erst im Zerbrechen, im Absturz aus der Sicherheit zeigt die Liebe (möglicherweise) ihre Zentralität, die sie für den individuellen Lebensentwurf und Lebensaufbau manchmal vielleicht auch dann hat, wenn die bewußte Antwort dies leugnet.“ Vgl. illustrativ dazu auch BB 308: Schleiermacher will sich viel öfter Zeit nehmen, Jette zu schreiben, „aber es geht dann immer nicht, und ich seze Dich, weil ich Dich eben schon als mich selbst ansehe, nicht selten hintennach“.
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die sich nun wieder ganz neu formieren muss.¹³⁴⁶ Hinzu kommt im Fall des absichtlichen Verlassenwerdens die denkbar niederschmetterndste Verletzung, die ein Mensch erfahren kann, insofern die Fallhöhe von der Ehre, die wichtigste Person im Leben eines anderen zu sein, auf den Boden der Tatsache, ihm nun nichts mehr zu bedeuten, kaum überboten werden kann.¹³⁴⁷ Die nach einer Trennung und besonders nach einer Ehescheidung neu zu formierende Identität wird kaum eine Rückversetzung in den Zustand vor der Beziehung sein können. Die erinnerte Biographie, aber auch ökonomische Versorgungspflichten¹³⁴⁸ und erst recht gemeinsame Kinder stiften eine vielleicht aktuell negierbare aber keinesfalls gänzlich zu tilgende Verbindung zwischen zwei Menschen ‚bis dass der Tod sie scheidet‘.¹³⁴⁹ Schleiermacher hatte dies erkannt und versuchte daher seine Braut darin zu unterstützen, die Erfahrungen, Kinder und Güter, die aus ihrer ersten Ehe hervorgegangen waren, in die zweite (mit ihm) zu integrieren. In der Anerkenntnis des vergangenen Glückes der Witwe und der bleibenden Bedeutung, die jene Zeit für sie haben musste, erblickte Schleiermacher das Fundament seiner Ehe. So holte er sich symbolisch am Grab Ehrenfrieds den Segen für seine Ehe,¹³⁵⁰ Ehrenfried sollte der ‚Schutzheilige‘ ihrer Ehe sein,¹³⁵¹ seine Kinder sollten „so bald es möglich ist, lernen die Liebe der Verehrung des entschlafenen Vaters mit der Liebe zu dem lebenden zu verbinden“¹³⁵² und sogar symbolträchtige Gegenstände, wie das Ehebett, wollte Schleiermacher übernehmen.¹³⁵³ Dass dieser Übergang, so behutsam Schleiermacher ihn auch zu gestalten versuchte, eine große emotionale Herausforderung für seine Braut, aber auch für ihn selbst darstellte, bezeugen die Brautbriefe vielfältig.
Vgl. Lenz, Zweierbeziehung, 172– 177. Willi, Ko-Evolution, 128 f. Illustrativ vgl. auch die Briefzeugnisse Schleiermachers angesichts der Abweisung durch Eleonore Grunow – s. o. I.2.2. Zur Vielfältigkeit der Belastungen (emotionale, psychische, intergenerationelle, soziale, organisatorische), die mit einer Scheidung einhergehen, und meistens von beiden Partnern als drückend empfunden werden, vgl. Hahlweg, Störung, 139 – 142. Die Trennungsphasen werden von den Partnern zumeist nicht gleichzeitig erlebt. Während der Verlassene sich der Krise seiner Beziehung erst vollends bewusst wird, ist der Partner meist schon gar nicht mehr da. Es ist nicht so, dass der ‚Initiator‘ der Trennung nicht unter dieser leiden würde, nur erlebte er die intensive Phase des Trennungsschmerzes schon früher.Vgl. Lenz, Zweierbeziehung, 128 – 130. Vgl. Schild, Anmerkungen, 153: „Die Ehe kann auch nicht aufgekündigt werden. Sie kann geschieden werden, wenn sie als Lebensgemeinschaft gescheitert ist (§ 1565 BGB). Aber selbst dann wirkt die früher gelebte und wechselseitig im Vertrauen übernommene Gemeinschaft in der Härteklausel nach (§§ 1565 II, 1568 BGB).“ Zu den – in den meisten Fällen für beide Partner und eventuelle Kinder nachteiligen – ökonomischen Folgen einer Trennung vgl. Bayerl, Familie, 82– 88. Vgl. Beck/Beck-Gernsheim, Chaos, 195. Vgl. BB 107. 123. 329 f. BB 144. BB 335. BB 192.
3 Geistbasiert: Paarbeziehung
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Ehen, ‚die nicht hätten geschlossen werden sollen‘ Je weiter die Bedeutung der Ehe für die personale Identität der Partner ansteigt, umso wahrscheinlicher wird zwar eine Trennung, wie wir sahen, umso unvorstellbarer und unerklärlicher ist sie jedoch gleichwohl auch. Wo nicht nur ein hinreichendes Zueinanderpassen gefordert ist, sondern exklusive Zusammengehörigkeit, kann man sich im Falle einer Trennung eigentlich nicht zufriedengeben mit der Erklärung, man habe sich auseinandergelebt oder ähnlichem. Vielmehr fordert die totale Exklusivität der Ehe im Falle ihres Scheiterns ein Gegenurteil mit entsprechendem Totalitätsanspruch.¹³⁵⁴ Eine Ehe, die geschieden werden muss, kann nur eine solche sein, die nicht hätte geschlossen werden dürfen. Der selbstperformative Mythos der Zusammengehörigkeit hat die Tragödie der von Anfang an zum Scheitern verurteilten, falschen Ehe zur Schwester. Daher ist es nur folgerichtig, wenn Schleiermacher das Ehebruchsverbot in seinem Katechismus auf den Anfang einer Paarbiographie zurückbiegt und gebietet: „Du sollst keine Ehe schließen, die gebrochen werden müßte.“¹³⁵⁵ An dieser Figur hat er zeitlebens festgehalten. In der Praktischen Theologie bringt er sie auf die Unterscheidung, ob „ein ethisches Verhältniß da ist“ oder ob „der Act der Vollziehung selbst Null war“ und „die Ehe gar nicht [hätte] geschlossen werden müssen“.¹³⁵⁶ Wenn letzteres der Fall ist, habe der Geistliche zwar immer noch keinen Grund aktiv auf eine Trennung hinzuwirken, ihr stehe jedoch auch nichts mehr im Wege, wenn „besondere Motive dazu da wären“.¹³⁵⁷ Der vielfältigen Katholizismuspolemik zum Trotz, die Schleiermacher an den Tag legt, nimmt er in der Christlichen Sitte positiv auf ihr Konzept der ‚Scheinehe‘ Bezug. Es sei zwar insofern problematisch, als etwaige Kinder bei der Feststellung einer Scheinehe zu unehelichen würden und die Kirche hier im eigentlichen Sinne die Trennung selbst vollziehe und damit, wie wir oben sahen, gegen ihre eigenen Ideale verstoße; jedoch sei hier ganz richtig gesehen, dass „die Ehe könnte nur getrennt werden, wenn man einsieht, daß sie gar nicht hätte sollen geschlossen werden.“¹³⁵⁸
In kräftigen Farben malt Friedrich Schlegel diesen Kontrast in seiner Lucinde. Zur ‚wahren Ehe‘ bestimmt er: „Es ist Ehe, ewige Einheit und Verbindung unsrer Geister, nicht bloß für das was wir diese oder jene Welt nennen, sondern für die eine wahre, unteilbare, namenlose, unendliche Welt, für unser ganzes ewiges Sein und Leben.“ (Schlegel, Lucinde, 11). Im Negativ müsse entsprechend gelten: „Ein Mann der das innere Verlangen seiner Geliebten nicht ganz füllen und befriedigen kann, versteht es gar nicht zu sein, was er doch ist und sein soll. Er ist eigentlich unvermögend, und kann keine gültige Ehe schließen.“ (Ebd., 21). K 7. PT 457. PT 457. ChS 350. Vgl. auch weiter ChS 351 [Hervorhebungen getilgt – CR]: „Denn da das Verlangen nach Trennung der Ehe immer nur da entsteht, wo bloß die Leidenschaft oder fremde Motive sie geschlossen haben: welchen Erfolg könnten wir erwarten? Keinen anderen, als das erzwungene Fortbestehen aller der Ehen, die von Anfang an nichts waren als Scheinehen und deren Auflösung beide Theile fortwährend wünschen.“
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II Geschlechtsverhältnis
Im Konfirmandenunterricht von 1830 – 32 versuchte Schleiermacher das Zustandekommen solcher Ehen damit zu erklären „daß sich zwei Leute zusammen gaben, die sich nicht genug kannten oder nicht zusammen paßten, und nun von Anfang an einen falschen Weg gingen“.¹³⁵⁹ Solches kann dadurch geschehen, dass sehr jung geheiratet wird und nach der Eheschließung noch individuelle Entwicklungsstufen genommen werden, die die Partner einander entfremden.¹³⁶⁰ Jedoch ist auch der gegenteilige Fall beobachtbar, nämlich dass große Entwicklungsstufen, wo sie von den Partnern gemeinsam genommen werden können, die Ehe subjektiv aufwerten und befestigen. So bleibt es dabei, dass sich keine objektiven Kriterien dafür anführen lassen, ob eine Ehe zu Recht geschlossen wurde. Das Urteil darüber fällt die Zeit, d. h. die durch unterschiedlichste Parameter beeinflusste Entwicklung der Partnerschaft, auch wenn das Ehe- bzw. Scheidungs-Narrativ einen Samen im Beginn dieser Dynamik sucht, der eine Erklärung fasslicher macht.
Die ambivalenten Prozesse von Konflikt und Entfremdung Lassen sich zwei Individuen aufeinander ein, so sind Differenzerfahrungen unvermeidlich. Diese bilden ein Spannungspotenzial, das als sehr fruchtbar erlebt werden kann,¹³⁶¹ jedoch auch eine potentiell destruktive Herausforderung darstellt. Es existieren zwei Hauptmöglichkeiten, damit umzugehen: die eine liegt – um im Bilde der (elektrischen) Spannung zu bleiben – im Kurzschluss, d. h. im konflikthaften Aushandeln der Widerstände; die andere hingegen liegt in der Isolation der Spannungspole voneinander, d. h. in der Akzeptanz von Fremdheit bzw. in der Entfremdung. Konfliktpotential ist besonders in einer Ehe allenthalben gegeben, denn jedes Temperament bringt Tendenzen mit sich, die ihm leicht als Schwäche und Fehler ausgelegt werden können.¹³⁶² Wenn Schleiermacher lapidar an seine Braut schreibt,
Zit. n. Virmond, Liebe, 50. Zugespitzt gilt: „Je geringer das Heiratsalter, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Ehescheidung“ (Nave-Herz, Familiensoziologie, 170). Detailliert zur Thematik vgl. Klein, Einfluß: Eine frühe Partnerwahl ist riskant für die Dauerhaftigkeit einer Beziehung, weil zum Einen zum Führen einer Beziehung eine gewisse Reife vorausgesetzt ist; zum Anderen bedarf es einer Bestimmtheit der eigenen Person und der Partnerwahlpräferenzen, um einen geeigneten Partner zu finden. Statusübergänge, die nach dem Eingehen einer Partnerschaft liegen, riskieren deren Bestand, weil sie diese potentiell als heterogam herausstellen bzw. fixieren. Detaillierter dazu s. o. II.3.1.3 und II.3.1.4. Über die vier klassischen Temperamente bestimmt Schleiermacher entsprechend in seinen Anmerkungen zu Aristoteles: „Wollte man fragen was für ein Temperament an sich das fähigste zur Freundschaft sei so läßt sich das schwerlich beantworten […]: das phlegmatische wird sich zur Laulichkeit in äußeren Beweisen, das sanguinische zur Veränderlichkeit in seinen Gesichtspunkten, also zur Intraktabilität, das cholerische zum Eigenwillen und zur Sucht nach Uebergewicht, das melancholische hingegen zur Krittlichkeit und Eifersucht hinneigen.“ (AAnm 22).
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„Unzufrieden werden wir wol miteinander sein können, warum nicht? so gut, wie es jeder mit sich selbst ist“,¹³⁶³ so steckt darin eine besondere Pointe. Man kann mit seinem Partner ebenso unzufrieden sein, wie mit sich selbst, weil die Ehe als um ihrer selbst willen gelebte Gemeinschaft eine ebenso persönliche Sache ist, wie das Selbstverhältnis. Wird hier Kritik geäußert, so kann und wird der Partner sie evidenter maßen ‚persönlich nehmen‘.¹³⁶⁴ Damit verbindet sich das Folgeproblem, dass mit der individuellen Person immer auch die Qualität der Paarbeziehung in Frage steht.¹³⁶⁵ Das macht Konflikte hier, besonders wenn sie ins Grundsätzliche zielen – sei es explizit oder implizit –, so gefährlich. Handelt es sich hingegen um relative Belanglosigkeiten, also um Zänkerein, so lässt sich mit Schleiermacher sagen, „zanken ist auch etwas gar herrliches“,¹³⁶⁶ weil hierbei indirekt die Grundlage des Zusammenlebens geschärft und damit gestärkt wird.¹³⁶⁷ Aber auch von grundsätzlicherem Konflikthandeln gilt positiv, dass es zumindest die Möglichkeit darstellt, eine prekär gewordene Beziehung überhaupt in kommunikativer Weise aufrecht zu erhalten.¹³⁶⁸ In der Glaubenslehre finden wir übrigens eine äquivalente Grundfigur: das für das Christentum spezifische Bewusstsein der Erlösung bzw. der göttlichen Gnade wird nur präsent im Verhältnis zu seinem Negativ, der Sünde bzw. dem Übel. Wie der eheliche
BB 238. Vgl. dazu psychologisch weiterführend Coser, Konflikte, 78 – 84. Vgl. weiterführend dazu Luhmann, Liebe, 46: „Man hat seit langem gesehen, daß der hochgetriebene Individualisierungsgrad der Personen Ehen gefährdet und ganz allgemein Intimverhältnisse unter schwer zu erfüllende Anforderungen stellt. Dies gilt nicht zuletzt deshalb, weil gerade das personorientierte Kommunikationsmedium es nahelegt, alle Konflikte auf die Personen zuzurechnen, sie also nicht als bloße Verhaltens- oder Rollenkonflikte zu behandeln. Auch und gerade am Verhalten im Konfliktfalle wird Liebe getestet – und naturgemäß unter wenig günstigen Bedingungen. Mit der Personalisierung der sozialen Beziehungen fällt zugleich die Liebe selbst als Ebene der Konfliktregulierung oberhalb von Verhaltens- und Rollenerwartungen aus; denn sie ist vom Konflikt selbst betroffen.“ Weiter Luhmann, Liebe, 86, Fn 59: „Unverzeihlich sind die Fehler, die Rückschlüsse auf die Liebe zulassen; die Liebe kann ihr eigenes Fehlen nicht verzeihen, wohl aber alles andere.“ BB 172. Vgl. Coser, Konflikte, 87. Außerdem werden in einem Konflikt Verhaltensmuster und Regeln etabliert, die die Gegner miteinander verbinden. Vgl. dazu Ebd., 142– 152. In psycho- und paartherapeutischer Hinsicht wird die These ‚Streiten verbindet‘ aufgenommen bei Bach/Wyden, Streiten. Vgl. hierzu im Anschluss an Simmel Coser, Konflikte, 43 f. Inwiefern sich Erwartungen und Enttäuschungen gegenseitig verstärken und nicht selten paradoxaler Weise sich gerade das wechselseitig anzieht, was die in der Beziehung zu überwinden erhoffte Problematik perpetuiert und verstärkt, zeigt Jürg Willi mit seinem auf empirische Befunde gestützten Konzept der ‚Kollusion‘ auf (ders., Zweierbeziehung. Vgl. auch ders., Psychologie, 230 – 232). Konkretisiert wird es an vier Haupttypen: 1. dem Verhältnis von Abgrenzung und Verschmelzung der Partner – zu hohe Einigungsprätentionen befördern die Abgrenzung und umgekehrt; 2. der wechselseitigen Stabilisierung von Hilfsbedürftigkeit und Fürsorge; 3. der Spannung von Herrschen und Beherrschtwerden, die bis in ein habitualisiertes Erniedrigen des Partners führen kann, das den einzigen Zweck hat, selbst nicht in Ohnmacht zu geraten; und 4. dem paradoxalen Verhältnis zwischen Aktivität und Passivität – der Lust an der Potenz des Partners und der gleichweisen Kontrolle dieser durch Manipulation (ders., Zweierbeziehung, 61– 161).
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II Geschlechtsverhältnis
Streit die Partner einer tieferliegenden Gemeinsamkeit versichern kann, so ist zwar nicht die Sünde an sich, wohl aber das Sündenbewusstsein der Zugang zum das religiöse Dasein (lustvoll) grundierenden Gottesbewusstsein.¹³⁶⁹ Aus Furcht vor der Eskalation eines Konflikts oder gar einer Trennung kann es dazu kommen, dass im partnerschaftlichen Leben Kritik zurückgehalten wird. Handelt es sich um Probleme, die für das Selbst- und Eheverständnis der Person von Bedeutung sind, so besteht die Gefahr, dass die Ehe durch diesen Vorbehalt ausgehöhlt wird oder zumindest die Entwicklungsdynamik des Paares stagniert.¹³⁷⁰ Im Wissen darum schreibt Schleiermacher an seine Braut: „Jette, es ist köstlich, daß Du so mein bist. Ach, bleibe es nur immer; aber wenn es Dir übergeht oder wenn Du Zweifel bekommst, so sage es nur gleich.“¹³⁷¹ Noch grundsätzlicher befasst er das Problem etwas später: […] der erste Augenblik, wo ich an Deiner Seite – oder auch allein im Bewußtsein unseres gemeinsamen Lebens – einen Mangel fühlen könnte für mein ganzes Wesen, für irgend einen Sinn, irgend ein wesentliches Streben, was dazu gehört, dieser Augenblik wäre doch eigentlich der Tod unseres Glükkes – aber dieses Todes sterben wir nicht.¹³⁷²
Nicht allein die Konflikte, sondern auch die Gewöhnung und die Ernüchterung des alltäglichen Lebens können zur Entfremdung der Partner führen. In seinen Hausstandspredigten beschreibt Schleiermacher diese Problematik genauer. Die Sorge für Kinder und den Haushalt führt oft dazu, dass sich die Partner aus den Augen verlieren und nur noch, wie es häufig beschrieben wird, nebeneinander her funktionieren.¹³⁷³ Weil daheim v. a. Arbeit wartet, werden Freude und Erholung in anderen Kreisen gesucht. Werden diese Erlebnisse nicht auf die Familie kommunikativ zurückgebunden, entstehen „Gleichgültigkeit und Entfremdung! Und wenn entwöhnt voneinander, jeder durch den andern sich je länger je weniger befriedigt fühlt, wie geringer, an sich unbedeutender Veranlassung bedarf es dann oft nur, um die Auflösung der innerlich schon zerstörten Ehe herbeizuführen!“¹³⁷⁴ Vgl. dazu CG2, § 62. 64. 78. 80 – 82, 391– 394. 398 – 402. 482– 485. 488 – 511. Vgl. hierzu auch Luhmann, Liebe, 221 f: „Es ist gar nicht so abwegig, den Ausweg aus unerfüllbaren Anforderungen der Liebe in Richtung auf Monotonie zu suchen […]. Aber das heißt dann auch: Verzicht auf Optimierung der Funktion, Verzicht auf die Möglichkeit, am anderen die volle Bestätigung der eigenen Welt zu gewinnen. […] Jede Information, die in diesem System aufgenommen und verarbeitet werden kann, testet die Kompatibilität der Umwelten (wobei jeder Teilnehmer selbst zur Umwelt des anderen gehört und dadurch mitgetestet wird). Das System zerfällt (auch wenn die Partner ‚beisammenbleiben‘), wenn dies nicht mehr die gemeinsame Basis ist, die das System reproduziert, indem sie allen Informationen die Funktion gibt, das System zu reproduzieren.“ BB 133. BB 328 f. „Mit steigender Kinderzahl kommt es im Durchschnitt zu einer deutlich erniedrigten Ehezufriedenheit […], wobei in unglücklichen Beziehungen Kinder aber oftmals der einzige positive Aspekt sein können.“ (Hahlweg, Störung, 124). H 254.
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Doch nicht nur die Lebensverhältnisse dämpfen häufig die Ehezufriedenheit. Auch das Gefühl selbst lässt in seiner Intensität zwangsläufig nach.¹³⁷⁵ In seiner Beschreibung der Ermattung freundschaftlicher Gefühle im Alter,¹³⁷⁶ wie wir sie in den frühen Anmerkungen zu Aristoteles finden, wählt Schleiermacher hierfür ein interessantes Beispiel: Je öfter und stärker der Ball geworfen wird, desto eher wird er welk, desto mehr verliert er von seiner Elasticität – das ist die Auflösung des Räthsels. Alles übrige wird dem Menschen durch Gewohnheit erleichtert, das Denken und das Handeln, […] aber […] das Gefühl wird dem Menschen durch die Gewohnheit erschwert.¹³⁷⁷
Für den Umgang mit diesem Problem empfiehlt er ganz entgegen romantischer Gefühlsemphase ein Haushalten mit den eigenen Empfindungen.¹³⁷⁸ Wer seine Gefühle nicht in der Jugend (einer Paarbeziehung) überspannt, minimiert das Ernüchterungsund Enttäuschungspotential späterer Zeiten, nicht nur weil die Fallhöhe geringer ist, sondern auch weil das geliebte Gegenüber von Anfang an wahrscheinlich realistischer betrachtet wurde. Zur Realität von Paarbeziehungen, schon gar unter den Mobilitätsimperativen der Moderne, gehört auch die Problematik der Entfernung. Aristoteles bestimmte hierzu: „[…] die Entfernung hebt nicht die Freundschaft selbst, sondern nur die Thätigkeit derselben auf; nur wenn die Abwesenheit zu lange dauert, kann sie wol auch der Freundschaft selbst Abbruch thun.“¹³⁷⁹ Der junge Schleiermacher wendet dagegen ein, dass die günstige Kommunikationsinfrastruktur der Moderne auch eine längere Abwesenheit erlauben würde – was für die Gegenwart freilich noch einmal in stärkerer Weise gelten kann, so können wir anfügen. Das Hauptproblem von Beziehungen, die
Zur entsprechenden Sozialstatistik vgl. Hahlweg, Störung, 124: „Die Ergebnisse aus Querschnittstudien deuten darauf hin, daß sich die Ehequalität im Verlauf der ersten zwanzig Jahre graduell verringert […], um dann langsam wieder anzusteigen.“ Dieser Befund kann aber auch als Scheinkorrelation kritisiert werden, wenn nicht berücksichtigt wird, dass sich unzufriedene Paare im Lauf der Zeit zumeist trennen, sodass am Ende nur noch die relativ zufriedenen übrig bleiben. Eine sozialpsychologische Beschreibung der Problematik legt Hartmut Rosa unter dem Begriff der „wechselseitige[n] Resonanztaubheit“ vor. „In einem solchen Zustand verkehrt sich die resonanzverstärkende Wirkung des Verliebtseins, die bewirkt, dass die Welt zu singen anhebt und farbiger wird, in ihr Gegenteil, also in eine wechselseitige Resonanzdämpfung“ (Rosa, Resonanz, 352). Vgl. hierzu AÜ 53 f. Bereits Platon lehrte, dass Eros das Alter hasse und vor ihm fliehe. Dies bedeutete ihm zweierlei: erstens der Liebreiz ist ein Privileg der Jugend; und zweitens, wer liebt, bleibt jung. Vgl. Sym 41– 43. AAnm 12. AAnm 12 f: „Je stärker es [das Gefühl – CR] angegriffen worden ist, desto stumpfer ist es, desto weniger Reizbarkeit hat es noch übrig. […] Aber es gibt ein Mittel gegen diese traurige Trokenheit […]. Sei immer mäßig mit dem Gebrauch des zerbrechlichsten Gutes was Deine Seele aufweisen kann, und hüte Dich vor der gefährlichen Sucht Deine Empfindungen zu überspannen; hüte Dich sie zum Zwek zu machen.“ AÜ 52.
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über die Ferne erhalten werden sollen, erblickt Schleiermacher dagegen in der individuellen Entwicklung der Einzelnen. Ist diese so groß, dass sie über die Distanz nicht hinreichend kommuniziert werden kann, bzw. kennen die Freunde einander nicht hinreichend gut, um entsprechende Veränderungen noch nachvollziehen zu können, so werden sie einander fremd.¹³⁸⁰ Wir sehen also: Die „Fähigkeit des Nachempfindens [bleibt] überall das erste Erforderniß.“¹³⁸¹ Sie droht sowohl im Konflikt als auch in der innerlichen Entfremdung zu schwinden. Um sie zu erhalten, bedarf es allerdings nicht nur des Einfühlens eines Partners, sondern auch eines entsprechenden Sich-Öffnens des anderen. Ausdruck einer Verweigerung von letzterem ist das Geheimnis.¹³⁸² Der junge Schleiermacher unterscheidet Geheimnisse, die in einem bloßen Wissen bestehen von solchen die zu Handlungen motivieren. Erstere seien unproblematisch. Letztere hingegen belasten eine Beziehung.¹³⁸³ Denn sieht man sich zu Handlungen gedrungen, deren Grund der Partner nicht erfahren darf, so wird man versuchen, diese zu verstecken und beschneidet dadurch die Vertrautheit, die doch eine unbeschränkte sein soll, an einem Punkt, der immer weitere Kreise ziehen wird.¹³⁸⁴ In den Hausstandspredigten spricht Schleiermacher davon, die Ehe sei in einem solchen Fall „entweder nicht ehrlich geschlossen worden, […] oder sie ist nicht ehrlich gehalten worden, sondern, und zwar nicht unbewußt, hat einer oder der andere zurückgenommen von jenem Ja.“¹³⁸⁵ Was die geforderte Offenheit bedeuten soll und besonders, wo ihre Haken und Fallstricke liegen, soll uns im nächsten Kapitel beschäftigen.
3.3.3 Eifersucht – zwischen Liebesindikation und Besitzanspruch Liegt gerade in der Exklusivität von Paarbeziehungen ein Steigerungsmoment für das in ihnen erlebte, so kann deren Gefährdung oder gar Aufhebung nicht bedeutungslos bleiben.¹³⁸⁶ Die schöne, einsmachende und darin entgrenzende Liebe führt eine tendenziell hässliche, restriktive und argwöhnische Wächterin bei sich: die Eifersucht.
Vgl. AAnm 11. Das Spezialproblem leiblicher Bedürfnisse, die sich bei Geschlechtsbeziehungen ergeben, fasst Schleiermacher hier nicht ins Auge. AAnm 23. Zu Schleiermachers Problematisierung von Geheimnissen in der Partnerschaft siehe auch oben II.3.1.4. Vgl. AAnm 28. Vgl. AAnm 29. Bei der Offenbarung von Geheimnissen „kommt es nun darauf an, den rechten Punkt zur Mittheilung derselben zu treffen, wo das Vertrauen fest genug ist, um sie hernach nicht zu bereuen, und jung genug um sie nicht zu spät zu finden, und das ist wirklich schwer“ (AAnm 30). H 246. Bringle und Buunk machen darauf aufmerksam, dass Eifersucht nicht erst dort provoziert wird, wo einem der Partner Aufmerksamkeit entzieht, sondern bereits dort, wo man sieht bzw. annehmen muss, dass er einer anderen Person Gleiches zukommen lässt. Im Wissen darum, dass man nicht der einzige Adressat bestimmter emotionaler und sozialer Güter ist, verlieren diese an Bedeutung, was Enttäuschung auslöst (dies., Eifersucht, 80).
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Die Natürlichkeit der Eifersucht Auch wenn ihm Aristoteles dazu eigentlich keinen Anlass gab, wie Schleiermacher selbst eingesteht,¹³⁸⁷ behandelt er das Thema bereits in seinen Anmerkungen zur Nikomachischen Ethik. Hier stellt Schleiermacher zunächst fest, dass die Eifersucht – in moderatem Maße – „etwas sehr natürliches“ sei, denn „man könnte Mitgenoße der Freuden gewesen seyn, die der Freund mit einem andern getheilt hat.“¹³⁸⁸ Ebenso sei eine gewisse emotionale Konkurrenz zu anderen verständlich,¹³⁸⁹ besonders wenn die Beziehung noch jung und ungefestigt ist.¹³⁹⁰ Generell könne gelten: je intensiver ein Verhältnis ist, mit desto größerer Wahrscheinlichkeit und Stärke werden sich auch Regungen der Eifersucht einstellen.¹³⁹¹ Als Indikator für die Liebe haben Eifersüchteleien auch etwas Reizvolles an sich, weil sie ein beständiges Wechselspiel von positiven und negativen Gefühlen darstellen, was nach Kant – in seiner Terminologie: der Wechsel von Lust und Unlust – für die sinnliche Lust überhaupt entscheidend ist.¹³⁹² Außerdem bietet die Eifersucht den Reiz, Ironisierungen zuzulassen. In diesem Sinne würdigt sie Schlegel in seiner Lucinde ¹³⁹³ und in dieser Weise kommuniziert sie auch Schleiermacher an seine Braut.¹³⁹⁴
Vgl. AAnm 27: „Inzwischen fehlt es doch auch der wahren Freundschaft nicht an Gelegenheiten zur Unzufriedenheit und da unser Verfaßer sich darüber nicht näher herausgelaßen hat so sei uns erlaubt uns ein wenig dabei aufzuhalten. Das erste was uns dabei einfällt ist die Eifersucht der Freundschaft.“ AAnm 27. Vgl. AAnm 27: „Eben so natürlich ist es daß man ein jedes warmes Gefühl welches er für andern hat, der einer gleichen Verbindung fähig ist mit etwas scheelen Augen ansieht […].“ Vgl. AAnm 27 f: „Im Anfang der Freundschaft scheint jedoch ein kleiner Anstrich von Eifersucht verzeihlich; ich muß immer fürchten, daß derjenige der schon so vieles bei andern findet, nicht alles bei mir suchen wird, was ich ihm anbieten könnte, und was ich ihm von Herzen gern geben würde […].“ Vgl. AAnm 27. Vgl. Kant, Anthropologie, Erster Teil. Zweites Buch. Das Gefühl der Lust und Unlust. Von der sinnlichen Lust. § 58, 169: Die sinnliche Lust besteht nach Kant in einem Wechsel von Lust und Unlust. Besonders seine Beispiele zur These sind für unseren Zusammenhang interessant: „Warum schließt ein Liebesroman mit der Trauung, und warum ist ein ihm angehängter Supplement-Band […], der ihn […] noch in der Ehe fortsezt, widrig und abgeschmackt? Weil Eifersucht, als Schmerz der Verliebten, zwischen ihre Freuden und Hoffnungen, vor der Ehe Würze für den Leser, in der Ehe aber Gift ist; denn, um in der Romansprache zu reden, ist ‚das Ende der Liebesschmerzen zugleich das Ende der Liebe‘ […].“ Vgl. Schlegel, Lucinde, 35: „[Julius:] Aber nur unter einer Bedingung kann ich dir die Eifersucht erlauben. Ich habe oft gefühlt, daß eine kleine Dosis von gebildetem, verfeinertem Zorn einen Mann nicht übel kleidet.Vielleicht ist’s dir so mit der Eifersucht. – [Lucinde:] Getroffen! und also brauche ich sie nicht ganz abzuschwören. – [Julius:] Wenn sie sich nur immer so schön und so witzig äußerte wie heute bei dir!“ Vgl. BB 198: „Bist Du nicht ganz wunderlich, daß es Dich verlegen macht ein Paar Tage bei Herman zu sein? Habe ich Dir darauf auch noch nicht geantwortet? ich wollte Dich recht ordentlich auslachen und Dir fast sagen, nun es Dir [sic] verlegen machte, würde ich doch wol anfangen müssen eifersüchtig zu werden.“
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II Geschlechtsverhältnis
Destruktive Dynamiken der Eifersucht Wo die Eifersucht zu ernst wird, beginnt sie zu zerstören, was sie doch zu erhalten bestrebt ist.¹³⁹⁵ Das individualethische Problem der emotional fokussierten ‚Treue‘, die als dem ethischen Willen entzogen brüchig wird,¹³⁹⁶ wiederholt sich auf sozialer Ebene in der Eifersucht. Es wird mit ‚äußerlichen Mitteln‘, nämlich dem Aufstellen von Ansprüchen und dem Geltendmachen von Rechten auf Güter gezielt, die sich diesem Versuch als emotionale und innerliche kategorial sperren müssen.¹³⁹⁷ Aus dieser Diskrepanz erwächst die Erbärmlichkeit und Lächerlichkeit, die Eifersuchtsszenen oft kennzeichnet.¹³⁹⁸ Wenn der Partner nicht auf Konflikt oder Trennung aus ist, wird er mithin versuchen, alles zu vermeiden oder zu verheimlichen, was den anderen aufregen könnte. Fallen darunter auch Aktivitäten, die ihm wichtig sind und im Rahmen von Partnerschaft eigentlich als zumutbar empfunden werden, so wird er innerlich zunehmend in Opposition zum Partner geraten.¹³⁹⁹ Die Sphäre des Kommunizierbaren wird so weit eingeschränkt, dass sich der Ganzheitsanspruch der romantischen Beziehung nicht mehr aufrechterhalten lässt. Gerade der Versuch des Eifersüchtigen, den Partner ganz auf sich zu fokussieren, baut mithin paradoxerweise Barrieren auf, die dies unmöglich machen.¹⁴⁰⁰
„Einer weit verbreiteten Simmelschen These zufolge leisten antagonistische Gefühle einen größeren Beitrag zur Gruppenintegration als positive Gefühle […]; aber die Eifersucht nimmt hierbei eine Sonderstellung ein. Ihre integrative Wirkung ist zeitlich begrenzt, sie führt notwendigerweise zur Zerstörung der Wechselwirkung.“ (Nedelmann, Emotion, 196). Karl Lenz betrachtet den Bewertungswandel der Eifersucht von der Liebesindikation zur –destruktion unter einer historischen Perspektive und stellt, wenig überraschend, die Zeit um 1968 als Umschlagpunkt heraus. Konnte die Eifersucht zuvor (in moderatem Maße) noch als Indikator für Liebe gelten, so erschien sie hernach hauptsächlich als persönliches Defizit der Unsicherheit und des mangelnden Vertrauens in den Partner und die Beziehung (ders., Zweierbeziehung, 215 f). Vgl. Frevert/Schreiterer, Treue, 222: „Treue läßt sich nicht erzwingen. Das läßt ein Treueversprechen für beide Seiten des darin behandelten Verhältnisses riskant werden, weil erzwungene Treue keine ‚echte Treue‘ mehr ist. Je mehr Treue als ‚innerer Kompaß‘ wirkt, desto stärker muß sie sich daher paradoxerweise der Frage ausgesetzt sehen, aus welchem Grund wem Treue gebührt und unter welchen Umständen es legitim sein mag, die versprochene oder erwartete Treue zugunsten anderer Motive oder Rücksichten zu brechen.“ Nedelmann, Emotion, 199: „Der Eifersüchtige erhebt einen Anspruch auf Gegenliebe durch Alter. Dadurch wird ‚die Eifersucht oft zu dem erbarmungswürdigsten Schauspiel: auf Gefühle, wie Liebe und Freundschaft, Rechtsansprüche geltend zu machen, ist ein Versuch mit einem völlig untauglichen Mittel‘ (Simmel […]).“ Zur unangenehmen Lächerlichkeit von Eifersuchtsszenen vgl. Schleiermachers Platon-Übersetzung: Sym 69 f. Schleiermacher beschreibt diese Dynamik folgendermaßen: „[…] je mehr der andere die Schwachheit seines Freundes kennt, desto mehr wird er auf seiner Hut seyn und er wird in der That desto kälter werden, je weniger er es sich erlaubt gegen andere warm zu seyn.“ (AAnm 27). Zur wechselseitigen Verstärkung von Eifersucht und Untreue vgl. auch die Beschreibungen bei Willi, Zweierbeziehung, 129 – 133. Vgl. nochmals das Simmel-Referat bei Nedelmann, Emotion, 199: „‚Das Eifersuchtsgefühl legt eine ganz eigenartige, verblendende, unversöhnliche Verbitterung zwischen die Menschen, weil das
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Stärker noch als diese Kommunikationsproblematik wird von Schleiermacher die ihr zugrundeliegende ethische Frage nach der Motivationsinstanz von Eifersucht bedacht, die er – wie schon Platon¹⁴⁰¹ – in der ‚Selbstsucht‘ erblickt: Wenn ich also würklich für ihn [sc. den Freund – CR] fühle, so werd ich jeden Keim der Eifersucht unterdrüken, und meine Liebe wird sich in einem wahren und innigen Antheil an allen seinen Freuden zeigen.¹⁴⁰²
Durch diese Offenheit werde die Beziehung an Intensität und inhaltlichem Reichtum gewinnen.¹⁴⁰³ Schleiermachers Pathologisierung der Eifersucht als Ausdruck dessen, dass man entweder „seinen Werth nicht kennt“ oder von „egoistische[r] Intoleranz“ getrieben wird, wird evident unter der Maßgabe, dass es sich bei seiner Beschreibung um Tugendfreundschaften handelt.¹⁴⁰⁴ Zielt die Beziehung auf wechselseitige ethische, soziale und kulturelle Bereicherung so ist es einem gesunden Verstand schlicht unbegreiflich, warum der Andere sich entsprechenden Wirkungen entziehen sollte, bloß weil sie nicht von seinem Partner ausgehen – vielmehr muss es doch in dessen Interesse liegen, dass jener möglichst viele solcher Erfahrungen machen kann.¹⁴⁰⁵
Trennende zwischen ihnen sich hier genau des Punktes ihrer Verbindung bemächtigt hat und so die Spannung zwischen beiden dem negativen Moment das Äußerste verliehen hat, was an Schärfe und Akzentuierung möglich ist‘ […].“ Hinzukommt, dass dasjenige Verhältnis, auf welches eifersüchtig geblickt wird, durch dieses Gebärden aufgeladen und u.U. indirekt intensiviert wird. Vgl. dazu ebd., 201. Vgl. Pha 17: „[…] so hast du billig weit mehr die Verliebten zu fürchten. Denn vieles ist, was sie betrübt, und von allem glauben sie, daß es ihnen zum Nachteil geschehe. Daher verhindern sie auch den Umgang ihrer Geliebten mit andern, aus Furcht, Vermögende möchten sie an Reichtum übertreffen, Gebildete aber ihnen an Einsicht überlegen sein, und wenn sonst jemand irgendein Gut besitzt, vor dessen Wirkung hüten sie sich.“ AAnm 28. Im Gegenzug „beraubt der eifersüchtige sich selbst des schönen Vergnügens, alles das Gute hernach noch mitzugenießen was sein Freund in andern Verhältnißen gefunden hat.“ (AAnm 27). Vgl. AAnm 28. Vgl. AAnm 28: „Worüber sollte man denn auch eifersüchtig seyn. Soll er so oft wir getrennt sind seine Gefühle erstiken um sie niemand mitzutheilen als mir? Soll der Sinn für sittliche Vollkomenheit der mir ihn so werth macht gleichsam geblendet werden und gegen gute und edle Menschen die seiner werth wären seine natürlichen Wirkungen nicht äußern?“ Vgl. auch L 204: (Eleonore schreibt) „Ja, Friedrich werde Alles, was Du sein kannst, noch außerdem, daß Du der meinige bist, den Freunden und der Welt. Aber überlassen? Nein! ich muß Alles, was Du ihnen giebst, noch vollständiger haben, weil ich das Ganze habe; ich muß Dich über all verstehen, wenn ich auch hie und da die Sachen nicht verstehe.“ Auch bei Platon fand Schleiermacher diesen Gedanken: Tugendfreunde „werden nicht deine Gesellschafter eifersüchtig beneiden, sondern eher hassen die, die es nicht sein wollen, in der Meinung, von diesen geringschätzig übersehen, von den Gesellschaftern aber unterstützt zu werden“ (Pha 17). Dagegen heißt es über den Liebhaber: „Notwendig wird der von der Begierde Beherrschte und der Lust Dienende das Geliebte aufs angenehmste für sich zuzurichten suchen. Dem Kranken aber ist alles nicht Widerstrebende angenehm, Gleiches und Stärkeres aber verhaßt. Weder besser also noch ihm selbst gleich wird ein Liebhaber gern seinen Liebling leiden mögen, sondern schwächer und unvollkommener wird er ihn immer machen.“ (Pha 26).
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Bernd Oberdorfer spitzt den Gedanken in seiner Interpretation auf die Figur der Alterität zu: Gerade der Wunsch, den Andern ganz für sich haben zu wollen, vermindert mithin paradoxerweise die Wahrnehmung seiner Andersheit […] Es ist deshalb eine besonders subtile Form der Instrumentalisierung, dem Freund im Namen der Singularität der Freundschaft andere Sphären von Emphase und Tätigkeit verwehren zu wollen. So ist Eifersucht nicht nur de facto freundschaftsstörend, sondern in sich freundschaftswidrig.¹⁴⁰⁶
Nach ihrer Pathologisierung war für die Eifersucht auch in der Theologie kein Platz mehr. In der Glaubenslehre findet sich, soweit ich sehe, kein Hinweis auf diesen Gedanken, der in alttestamentlichen Theologien für die Behauptung der Einzigkeit Gottes und die Durchsetzung derselben im Kult doch zentral ist.¹⁴⁰⁷ Von Schleiermacher wird die Figur des ‚göttlichen Eifers‘ entsprechend seiner Ablehnung des Gedankens eines Leidens in Gott, konsequent ausgeblendet.¹⁴⁰⁸ Damit lässt sich zwar Fanatismen wehren, jedoch verlangt das religiöse Leben, schon gar wenn es wie von Schleiermacher exklusiv auf die emotive Ebene zurückgeführt wird, meines Erachtens auch nach einer Symbolisierung ebenjener bedeutsamen Strebungen am Orte des Absoluten selbst. Der Gedanke, dass Gott ein ‚eifernder‘ ist, ist unter der Prämisse, dass er dem Menschen zugewandt ist und der einzige ist, der sein Heil gewährleisten kann, eigentlich unvermeidlich. Welche Schlüsse daraus für das menschliche Handeln gezogen werden, zeigt sodann die große Spannbreite der Wirkungen des Eifers auf: von dem vorbehaltlosen Einsatz für das Leben und seinen Schutz bis zur mörderischen Austilgung aller Widerstände scheint der Eifer für Gott stets das Motiv abgeben zu können. Hier scheint mithin im Extrem auf, was die Eifersucht auch im ‚Kleinen‘ des partnerschaftlichen Lebens auszurichten und anzurichten vermag.¹⁴⁰⁹ Das Spektrum reicht hier von einer
Oberdorfer, Geselligkeit, 60. Vgl. Ez 16. 23, wo Israel und Juda als untreue Ehefrauen Gottes bezeichnet werden. Aus den prophetischen Büchern vgl. auch Jes 9,6; 26,11. Aus der Thora vgl. prominent die Begründung des Fremdgötterverbots (Ex 20,5): „Bete sie nicht an und diene ihnen nicht! Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott […].“ Ebenso: Ex 34,14. Dtn 4,24; 5,9; 6,15; 29,19; 32,16. Aus den vorderen Propheten vgl. Jos 24,19; 2Kön 19,31. Aus dem Psalter vgl. Ps 79,5. Vgl. CG2, §84.3, 524: „Göttliche Strafen aber können in diesem Sinne [einer Lust des Geschädigten an Wiedervergeltung – CR] nur angenommen werden auf einer sehr untergeordneten Entwiklungsstufe, wo die Gottheit noch reizbar und nicht über das Gefühl für Beleidigung und über andere leidentliche Zustände erhaben gedacht wird; und was immer bisweilen mit scheinbarem Tiefsinn über das Geheimnißvolle des göttlichen Zorns und die ursprüngliche Nothwendigkeit göttlicher Wiedervergeltung vorgetragen worden ist, lässt sich auf kein klares Bewußtsein zurükkbringen.“ Grundlegend zur Thematik vgl. auch prominent: CG2, §4, 32– 40. In seiner Parallelisierung von Liebe und Religion fasst auch Walter Schubart den Gedanken, dass der Glaubenseifer als Fanatismus in gleicher Weise eine Entartungsform der Religion darstellt, wie es die Eifersucht für die Liebe tut; beide kämen unter der Prämisse von Monotheismus und Monogamie allerdings nicht von ungefähr. Vgl. ders., Religion, 145 f.
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neuen Aufmerksamkeit und einem neuen Einsatz für den Partner bis zu dessen Gängelung und der Beschneidung seiner Freiheit.
Eifersuchtsfeindschaft und Offenheitsdiktat Seit etwa 50 Jahren reklamieren Partnerschaftsmodelle nachdrücklicher Anerkennung, die das romantische Ideal, die Individualität des Partners in all ihren Facetten zum Leuchten zu bringen, von der Exklusivität der Paarbeziehung abzulösen suchen. Es kommt gewissermaßen zu einer Hyperromantisierung durch die Integration von promiskuitiven Aspekten in das Ehekonzept.¹⁴¹⁰ Eine Verschiebung von sexueller zu sozialer Treue bzw. vom Ideal umfassender Treue hin zur Orientierung an unbedingter Offenheit geht damit einher.¹⁴¹¹ Unter dieser Perspektive erscheint nicht mehr ein Seitensprung an sich als Problem, sondern dessen Geheimhaltung.¹⁴¹² Auch für Beziehungen, in denen außereheliche Sexualkontakte nicht vorgesehen sind, bedeutet dies, dass solche an sich kaum mehr das Ende derselben bedeuten müssen, sondern nur dann ernsthaft zum Problem werden, wenn sie Rückschlüsse auf den Zustand der Ehe selbst zulassen. Davon, dass das Ehekonzept gänzlich zu überdenken sei, versuchen O’Neills in ihrer recht bekannt gewordenen Programmschrift Die offene Ehe zu überzeugen. Sie konstatieren: Heute leben wir in einer hochentwickelten, technisierten Welt, die nur den ständigen Wechsel kennt, und es dürfte klar sein, daß die alte Struktur der Ehe für die moderne Zeit nicht mehr ausreicht. Der neue und komplexere Lebensstil erfordert eine neue Form der Ehe.¹⁴¹³
Sie liberal und moralisch das Konzept auch daherkommen mag, überzeugt es doch meines Erachtens nicht. Es stellt sich erstens die Frage, ob unsere Lebenswelt wirklich so hyperdynamisch geworden ist, wie entsprechende Sozialanalysen vorgeben. Zwar
Vgl. dazu das Zitat eines in einer ‚offenen Ehe‘ lebenden Mannes bei Früchtel/Stahl, Zwei plus X, 263: „Ein wesentlicher Punkt, weshalb ich das so genieße, wenn die Astrid von einem anderen Mann geliebt wird, ist, weil ich sie da von einer anderen Seite kennenlerne, die ich nicht kenne, und die sie auch nicht kennt. Denn der andere Mann berührt sie anders, spricht andere Emotionen an, spricht eine andere Sexualität an; er spricht anderes an, was ich ihr gar nicht geben kann. Und da ist ein anderer Mann oder eine andere Frau eben hilfreich, um diese anderen Facetten, die in der Partnerschaft aufgrund der Zweierstruktur einfach gar nicht entwickelt werden können, zu entwickeln.“ Burkart und Kohli sprechen gar von einer Steigerung des Treueanspruchs: „Es gibt zwar keinen rein formalen Treue-Anspruch mehr, niemand kann seinen Partner einfach ohne Diskussion wegen eines einmaligen Seitensprungs verlassen (jedenfalls würden das die meisten Zeitgenossen nicht verstehen). Dafür gibt es aber Ansprüche auf Offenheit, Vertrauen, Wahrhaftigkeit, Rücksichtnahme, Gleichwertigkeit, Kommunikation usw. Das bedeutet, daß heutige Beziehungen einzelne Vorfälle von Untreue relativ leicht aushalten können, daß jedoch der Treue-Anspruch im Grunde gestiegen ist, weil er eingebunden wurde in einen Wertkomplex von Aufrichtigkeit, Offenheit, Vertrauen und Partnerschaftlichkeit.“ (Dies., Liebe, 217 f). Vgl. dazu Früchtel/Stahl, Zwei plus X, 253 – 256. O’Neill/O’Neill, Ehe, 13.
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hat der Mensch im ‚Kommunikationszeitalter‘ eine Vielzahl an Informationen zu verarbeiten und in der jeweiligen Erlebnisperspektive mögen sich manche Verhältnisse entsprechend besonders scharf darstellen. Dass das Leben einem ständigen, tiefgreifenden Wechsel unterworfen ist, sehe ich hingegen nicht. So – historisch erstund einmalig – flexibel und überbeschäftigt, wie der moderne Mensch sich gern sehen will, sind die meisten seiner Exponenten nüchtern betrachtet nicht unbedingt. Selbst wenn man dies jedoch zugestehen wollte, stellt sich die Frage, ob die Folgerung, es bedürfe eines komplexeren Lebensstils folgerichtig ist. Beobachten wir nicht vielmehr die Sehnsucht nach Verschlankung, insofern das Privatleben im familialen und freundschaftlichen Kreis Klarheiten und Beständigkeiten bieten soll, wenn diese anderwärts vermisst werden? Dringen wir gleichwohl weiter vor in das Konzept der ‚offenen Ehe‘, so stellt es sich uns dar als Programm der Geschlechteregalisierung im Modus einer Emanzipation der Geschlechter voneinander, die nunmehr in die Paarbeziehung selbst gelegt wird.¹⁴¹⁴ Dem Ideal der gleichen Freiheit ist hiernach allein Genüge getan, wenn die Partner kaum mehr Ansprüche aufeinander machen. Dies kann entweder dadurch geschehen, dass sie sich in ihrer Entwicklung als unabhängig voneinander verstehen; oder es kann dadurch geschehen, dass die Sphären der ‚Freiheit‘ klar markiert werden, was sodann zumeist bedeutet, dass sinnliche Erfahrungen außerhalb der Ehe freigegeben sind, während sich das Ehepaar die bedeutungsvolle Kommunikation exklusiv vorbehalten möchte. Ersteres bedeutet einen extrem hohen Anspruch an die Partner, wenn gleichwohl noch von ‚Ehe‘ die Rede sein soll, d. h. ein Konzept der umfassenden Gemeinschaft aufrechterhalten werden soll.¹⁴¹⁵ Letzteres erscheint geradezu wie eine Umkehrung des von der Antike inspirierten Schleiermacherschen Ideals der Tugendfreundschaft, welches wir uns oben vergegenwärtigt haben: sinnliche Lust soll mit anderen erlaubt sein, während Erfahrungen der echten persönlichen Bereicherung auf den Partner beschränkt bleiben sollen. Das Perfide liegt hierbei nicht bloß in der bei aller Hypermoralisierung doch plumpen Promiskuität,¹⁴¹⁶ die den
Vgl. O’Neill/O’Neill, Ehe, 24. Privilegien, wie der Graubereich außerehelicher Sexualkontake des Mannes, werden explizit thematisiert und nun auch für die Frau gefordert, wodurch die Grauzone aufhört, eine solche zu sein. Vgl. zu dieser Einschätzung auch Josuttis, Lebenslust, 124– 127. Außereheliche Erfahrungen werden lediglich als Entwicklungsmöglichkeiten gepriesen. Für Probleme, die sich dabei einstellen können, bleibt entsprechend letztlich allein das Verdikt, dass man den Partner gar nicht wirklich liebe, weil man ihn einengt und in seinen Entwicklungsmöglichkeiten behindert. Es ist die Rede von einer „Störung des Gleichgewichts“ und davon, dass „der Ehepartner, dessen Wachstum eingeschränkt ist, [dazu] neigt […], die Entwicklung des anderen übelzunehmen.“ (O’Neill/O’Neill, Ehe, 24). Vgl. auch ebd. 133: „Die Idee von der sexuell ausschließlichen Monogamie und dem gegenseitigen Besitzanspruch erzeugt eine tiefverwurzelte Abhängigkeit, kindische und kindliche Gefühle und Unsicherheiten. Je unsicherer man sich fühlt, desto mehr neigt man zur Eifersucht.“
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Partner mit Offenheitsimperativen erpressen und manipulieren kann,¹⁴¹⁷ der Ignoranz natürlicher Empfindungen¹⁴¹⁸ und der Instrumentalisierung Dritter zu bloßen Sexualobjekten,¹⁴¹⁹ sondern auch in einer ethischen Frigidität, die gerade dort Grenzen aufbaut, wo der Mensch für seine Entwicklung Offenheit braucht – gemeint ist die dezidiert bedeutungsvolle außereheliche Kommuniktion. An Schleiermacher können wir uns orientieren, wenn wir die angezeigten Problemfiguren auflösen wollen. Auch bei ihm finden wir die Assoziation von Nachlässigkeit in Liebesfragen mit persönlicher Größe.¹⁴²⁰ Entsprechend entspannt, gar miterfreut, sieht er auf Kontakte, die seine Braut knüpfen wird,¹⁴²¹ ebenso wie er selbst ihr zumutet, solche zu pflegen.¹⁴²² Selbst über seine verflossene Liebe Eleonore schreibt er ihr, dass er noch einige Male von dieser geträumt habe, nicht aber von Henriette.¹⁴²³ Dies muss allerdings eine zu große Zumutung gewesen sein, weil er später schreibt, in
Vgl. Willi, Ko-Evolution, 140: „Die meisten Lebenspartner spielen sich auf ein unausgesprochenes Einvernehmen ein, bei dem die Beachtung gewisser Spielregeln gefordert wird, jedoch eine Grauzone toleriert, wenn auch nicht offen deklariert und bejaht wird. […] Verwirrung bereitet häufig das Problem der Offenheit.“ Die ‚Doppelmoral‘ vergangener Zeiten „verkehrte sich nun aber in eine Offenheitsmoral, die genauso verlogen und heuchlerisch sein kann. Oft wird so getan, als ginge es um Offenheit, tatsächlich benützt man jedoch Geständnisse, um den Partner zu verletzen und zu verunsichern oder um ihn zur Billigung der Realisierung anderer Beziehungswünsche zu erpressen. Reagiert der Partner eifersüchtig, so sieht man darin falsche Besitzansprüche, die man ihm austreiben muß. Der Schwarze Peter liegt dann in jedem Fall beim Partner.“ Zur emotionalen und partnerschaftlichen Belastung, die mit nebenpartnerschaftlichen Sexualkontakten einhergehen, selbst wenn diese ideologisch befürwortet werden, vgl. Burkart/Kohli, Liebe, 219 f. Vgl. auch Bringle/Buunk, Eifersucht, 84: Eine Studie über sexuell offene Ehen in Holland ergab, dass gleichwohl 82 % der Frauen und 76 % der Männer Eifersucht fühlten angesichts des Verhaltens ihrer Partner. Selbst wenn die ‚offene Ehe‘ das Prinzip des sich vor allem selbst Verpflichtetseins, sprich des Egoismus, ethisch zu öffnen versucht, indem es dieses als auch der Ehe zuträglich proklamiert, bleibt es sodann bei einem Egoismus höherer Ordnung. Verhältnisse mit anderen bleiben nämlich instrumentell und den Bedürfnissen und Wünschen und Gefühlsentwicklungen, die sich bei den anderen einstellen, wenn man sich ihnen in solch tiefgehender Weise öffnet, werden schlichtweg übergangen, schließlich soll ja die Ehe die Primärbeziehung bleiben. Vgl. L 203: „Wie kann Julius nur am Ende einen Traktat mit der Eifersucht schließen? […] Und wie kann einer Frau so etwas kommen, die es dahin gebracht hat, alles so groß und so nachlässig zu nehmen!“ Gemeint sein muss hier der Abschluss von ‚Treue und Scherz‘ (Schlegel, Lucinde, 32– 35). Vgl. BB 217: „Wenn Du Dich nun zu ihm [Theodor – CR] hingezogen fühltest, war Dir denn gar nicht so, als ob, wenn ich es sähe, auch etwas davon in mich übergehn würde? Das mußt Du doch gewiß glauben und fühlen, einzige Jette, es gehört ja nothwendig mit zur Ehe…“ BB 238: „Zuerst wirst Du ihn, Steffens, ganz erstaunlich lieben, und das sollst Du auch, und ich werde gar nicht eifersüchtig sein“ BB 296: „Karoline [Wucherer – CR] bleibt doch immer das erste Mädchen in meinen Augen, und wer mich gesehen hätte mit ihr, hätte doch wol geglaubt, ich betete sie recht ordentlich an. Sie ist zu liebenswürdig, und Du hättest Dich gewiß gefreut, wenn Du dabei gewesen wärst, wie ich mir Deine Erlaubniß bei beiden [Karoline und der Schede – CR] zu Nuze gemacht habe.“ Vgl. BB 133. 180.
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einem Traum angezeigt bekommen zu haben, dass er über Eleonore hinweg sei,¹⁴²⁴ und sich bemüßigt sieht, die Qualität, die die Beziehung zu ihr hatte, deutlich von jener zu seiner Braut abzusetzen.¹⁴²⁵ Offenheit und die Versicherung der Einzigkeit greifen ineinander, wenn er schreibt: „Daß sie [sc. Eleonore – CR] jemals sollte in unser Leben gehören, kann ich mir gar nicht vorstellen. Aber gewiß steht Dir noch eine sehr interessante Lektüre bevor, wenn Du unsere Correspondenz lesen willst.“¹⁴²⁶ Was Schleiermacher im ersten Gebot seines Katechismus gefordert hatte, galt ihm zeitlebens: wenn die Liebesbeziehung exklusiv gehalten wird, wird sie durch anderweitige Freundschaften nicht gefährdet, sondern bereichert und gestärkt.¹⁴²⁷ Die Ehe ist der Sozialkontext, auf den alle anderen Eindrücke, Erfahrungen und Beziehungen bezogen werden können und zu dem sie sich in ein Verhältnis zu setzen haben.¹⁴²⁸ Diese Offenheit hat die Ansprüche und Gefühle des Partners nicht zum Gegner, sondern wird sie mit Bedacht im Blick behalten. Die Ehe wächst eben nur an außerehelichen Erfahrungen des Einzelnen, wenn diese auch wirklich vom Partner unterstützt und befürwortet sind.Wer darüber hinweggeht, zeigt damit nur, dass die Ehe für ihn weniger Bedeutung hat. Dem missbilligenden Partner in einem solchen Fall Egoismus vorzuwerfen, pervertiert die Sachlage. Eine Beziehung, die das ganze Leben begleiten und orientieren soll, ist ohne Bestimmtheit und die damit einhergehenden Grenzen nicht zu haben. Die Eifersucht, wo sie nicht selbst krankhafte Züge annimmt, ist ein berechtigter Wächter dieses hohen Gutes und ruft in hoher emotionaler Intensität die untrennbare Verschränkung von Investitionsbereitschaft und Gegenanspruch in Erinnerung.
3.3.4 Familie und Gesellschaft In Diastase und zugleich in enger Verwobenheit stehen Familie und Gesellschaft zueinander. In drei Hinsichten wollen wir dieses Verhältnis, welches auch bedeutungsvoll für die Beziehung des Individuums zur Familie ist, im Folgenden konturieren: in sozialer, in kultureller und in ökonomischer.
Vgl. BB 297. Traumdeutung war Schleiermacher durchaus nicht unbekannt. Vgl. dazu paradigmatisch BB 361: „Glaube nur nicht, daß Perlen Thränen bedeuten, denn das gilt nur im Traum.“ Systematischer zur Frage des Traumes und der Traumdeutung vgl. PsyG 348 – 365. Vgl. BB 170: „Meine Liebe zu ihr war überhaupt von ganz anderer Art als meine Liebe zu Dir […] und Deine Liebe ist die rechte einzige wahre.“ BB 346. Vgl. K 1 (zur Zitation dessen s.o. II.1.1.3 und II.3.3.Einleitung). Vgl. zudem L 196 f. 207– 209. Vgl. dazu später H 231: „Wie oft sehen wir nicht die Ehe in einer widrigen Gestalt, wenn Eheleute zwar einträchtig leben und ruhig, aber nur durch die Länge der Zeit aneinander gewöhnt, und weil jeder so wenig als möglich Ansprüche an den andern macht und seine Befriedigung [mehr] in andern Verhältnissen des Lebens und in anderm geselligen Zusammensein zu finden weiß. Daß auch in einer solchen gleichgültigen und toten Verbindung die zwei nicht ein Fleisch sind, denn das ist doch ein Lebendiges, das ist gewiß;“
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Zwischen Rückzugsraum und Salon – Familie und Geselligkeit In der Einleitung zur Predigt über die christliche Gastfreundschaft bezeichnet Schleiermacher den ‚christlichen Hausstand‘ als „Tempel Gottes“ „und von denen, die einem Hauswesen angehören, welches diesem Bilde entspricht, kann man mit Recht voraussetzen, daß sie einander genug sind und daß sie […] kein Bedürfnis haben können, aus ihrem schönen Kreise herauszugehen.“¹⁴²⁹ Eine ganz andere Einschätzung scheint er knapp 20 Jahre zuvor abgegeben zu haben, als er in der Einleitung zu seiner Theorie des geselligen Betragens moniert: Das häusliche Leben setzt uns nur mit Wenigen, und immer mit denselben in Berührung: auch die höchsten Forderungen der Sittlichkeit in diesem Kreise werden einem aufmerksamen Gemüth bald geläufig, und seine Ausbeute an mannigfaltigen Anschauungen der Menschheit und ihres Thuns wird mit jedem Tage um so geringer, je rechtlicher alles hergeht, und je mehr die sittliche Oekonomie vervollkommnet ist.¹⁴³⁰
Auf der Suche nach einer Erklärung für diese Diskrepanz stoßen wir wieder einmal nicht auf einen werkbiographischen Bruch, sondern müssen sie als die zwei Seiten derselben Medaille verstehen. Auf der einen Seite sehen wir den Sonderstatus, der der Familie als einer Exklusivgemeinschaft zukommt. In einer Notiz aus den frühen 1800er Jahren bezeichnet Schleiermacher sie als ein „Gesammtes von den ungleichartigen Entwiklungen der Menschheit“.¹⁴³¹ Das soziale Umfeld erscheint hierzu als bloße Begleitmusik.¹⁴³² Die Ehepartner sollen einander hinsichtlich der Gesamtheit des Zusammenlebens – nicht in jeder spezifischen Sach- und Interessenlage – genug sein können; diesen Anspruch vertritt Schleiermacher sodann auch seiner Braut gegenüber, was diese nicht wenig irritiert.¹⁴³³ Das eheliche und familiale Leben scheint in dieser Hinsicht für Schleiermacher eines zu sein, in dem – mit späterer Terminologie gesprochen – der Mensch keine fragmentarische Rolle mehr ausfüllt, sondern in seiner Ganzheit begriffen ist. H 359 [Hervorhebungen getilgt – CR]. ThG 165. G V, 109., 311. Vgl. weiter G V, 109., 311: „Die anschließenden Glieder sollen nur existiren als vorübergehender Zustand oder aus solchen bestehn die ihrer Natur nach Fragmente sind. Hausfreunde und Dienstboten stehen auf diesem ethischen Standpunkt ganz gleich.“ Vgl. BB 328: „Sieh, Kind, wenn ich das Gefühl hätte, daß Dir etwas fehlte, um meine Frau zu sein, und wenn ich das bei Andern suchte, so hätte ich ja doch nicht meine ganze Frau an Dir, sondern suchte ein Stük dann anderwärts. Wäre das nicht eine ganz miserable Ehe, die lieber gar nicht geschlossen werden müßte? […] Seze nur dieses recht fest bei Dir, daß die Gesellschaft in der Ehe ja ganz etwas anders ist, als die Gesellschaft in der Welt. Für die lezte muß jeder Frau etwas fehlen, weil keine Alles hat, und in dieser Gesellschaft soll Alles sein, und auch jeder Mann Sinn haben für Alles. Für die erste darf keiner etwas fehlen, wenn sie die rechte sein soll. Und so fehlt Dir auch wahrlich gar nichts, und ich weiß aufs bestimmteste, daß ich Alles an Dir habe. Du wirst in mein ganzes Leben hineingehn, wie die Frau es muß, Du wirst alles verstehn, was ich irgend wünschen kann meiner Frau mitzutheilen, Du wirst auf jede Frage eine Antwort haben, und es wird jede Kraft, jede Tugend, jede Anmuth von Dir ausgehn um mich zu beglükken.“
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Das in der Sozialpsychologie gegenwärtig gängige Beschreibungsmuster eines Nebeneinander von Berufsmensch, Ehemann, Vater, Freund, Freizeitinteressiertem, Patient usw. hätte Schleiermacher wohl nicht einfach unterschrieben, sondern mit der Rolle des Ehemanns und Vaters nochmals eine eigentümliche Integrationsfigur für die anderen Rollen behauptet. Das wohnliche Gefühl ‚Hier bin ich Mensch, hier darf ich sein‘, das eigene Heim und die eigene Familie als Rückzugsort vor den Anforderungen der Arbeitswelt und vor politisch und gesellschaftlich induzierten Unsicherheiten,¹⁴³⁴ das Gefühl der Sicherheit im gewohnten, nach außen abschließbaren Haus;¹⁴³⁵ all dies sind Ausdrucksgestalten einer Geborgenheit und Sammlung, ohne die der Mensch kaum die Sicherheit, Kraft und Bestimmtheit hätte, derer er zur Bewältigung der vielfältigen und anspruchsvollen Anforderungen seiner anderen Lebenskontexte bedarf.¹⁴³⁶
Im Anbetracht drohender Kriegsgefahr kann Schleiermacher dennoch schreiben: „Das schöne Glük [der Ehe – CR] soll wirklich angehn, und so wenig sollen äußere Dinge das wesentliche desselben stören, als an Deiner Seite und in Deinem Besiz mir irgend etwas unbefriedigtes zurückbleiben wird.“ (BB 368) Vgl. PhE 619 (Güterlehre, letzte Bearbeitung): „Wir nennen das Abgeschlossene von dem wesentlichsten Theil desselben, zu dem sich alles andere als Anhang ansehen läßt, das Haus. Denn die Verschlossenheit und Heiligkeit desselben scheint sich vorzüglich darin zu gründen, daß in demselben das sittliche Eigenthum zusammengefaßt ist.“ Zu den Belastungen, die daraus erwachsen, wenn dieser Rückzugs- und Ruheort nicht vorhanden ist oder gestört wird vgl. H 330 (Erste Predigt über das Hausgesinde) [Hervorhebungen getilgt – CR]: „[…] fremde Menschen in dasselbe [sc. das Haus – CR] als Hausgenossen aufnehmen zu müssen, das ist eine drückende Last. Schon die Stille, die jedes christliche Hauswesen nach Anweisung der Schrift suchen soll, wie muß sie nicht leiden durch den öfteren Hinzutritt neuer Mitglieder des Hauses, deren abweichende Sitten die einträgliche Ruhe stören […]! Und die christliche Erziehung der Kinder, bei der soviel darauf ankommt, daß alles in einem gleichförmigen und festen Gange fortgehe, wie muß sie nicht gestört werden durch fremde Einwirkung […]!“ Vgl. zur Thematik auch BB 290, wo Schleiermacher behauptet, ein starkes Gefühlserleben könne sich nicht im Marktgewühl einstellen. Dazu bedarf es der Ruhe und der Muße. Mithin ist vermeintliche Gefühlskälte nicht zuerst einer Unzulänglichkeit des Subjekts sondern den Umständen, die ihm keine Ruhe vergönnen, geschuldet. Vgl. weiterführend zur Thematik auch Bollnow, Geborgenheit 121– 124: „‚Die Art, wie Du bist und ich bin, die Weise, nach der wir Menschen auf der Erde sind, ist das Buan, das Wohnen. Mensch sein, heißt: als Sterblicher auf der Erde sein, heißt: wohnen.‘“ (Zitation Heideggers nach Bollnow, Geborgenheit, 121). „Der Mensch ist nur, indem er wohnt. Das bedeutet: der Mensch ist nicht einfach in dem Sinn in die Welt geworfen, daß er als ein grundsätzlich raumloses Subjekt in eine ihm grundsätzlich fremd bleibende raumhafte Welt hineingestellt wäre und daß ihm der Raum so wesensmäßig äußerlich bliebe, ein bloßes Bezugssystem, in das er an einer beliebigen Stelle hineingesetzt wäre, sondern daß er sein Sein nur gewinnt, indem er bauend seinen Raum schafft und gestaltet, indem er in diesem ursprünglichen Sinn nicht nur irgendwie im Raum ist, sondern Raum hat, d. h. Spielraum seiner Bewegung, Lebensraum im weitesten Sinn. […] ‚Das gotische ‚wunian‘ [von dem das Wort ‚Wohnen‘ stammt – CR] sagt deutlicher, wie dieses Bleiben erfahren wird. Wunian heißt: zufrieden sein, zum Frieden gebracht, in ihm bleiben‘[…].“ (Ebd., 122). Darauf, dass das Heim als Zufluchtstätte für den Mann und die Bindung von Heimatgefühlen an ein bestimmtes Bauwerk relativ junge Erscheinungen sind, macht John Gillis aufmerksam. Zu ersterem vgl. Gillis, Mythos, 187– 192. Zu letzterem vgl. ebd., 59 – 76: Vor dem 19. Jahrhundert war nicht so sehr das Haus, als vielmehr öffentliche Plätze, Bauwerke,
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Gebrochen wird die immer noch hoch in Kurs stehende Diastase von ruhigem Heim und herausfordernder Welt durch das Bewusstsein um die Anforderungen, die sich im häuslichen Leben selbst ergeben. Gerade gegenüber einem von Kindern bevölkerten Haus erscheinen öffentliche Räume der Freizeit- oder gar der Berufswelt doch manches Mal geeigneter zur individuellen Regeneration.¹⁴³⁷ Dies verweist bereits hinüber auf die ‚andere Seite der Medaille‘. Kehren wir jedoch noch einmal zurück zur eingangs zitierten Hausstandspredigt: Schleiermacher fordert hier, der Impuls zur Öffnung der Familie für die Umwelt solle aus der eigenen Fülle kommen.¹⁴³⁸ Nicht die bewusste Suche nach Erweiterung, Ergänzung oder Zerstreuung soll die Motivation sein, sondern die Selbstmitteilung des eigenen Glücks.¹⁴³⁹ Geradezu ostentativ und missionarisch erscheint es, wenn er behauptet, die ‚Gastfreiheit‘ sei weniger für die Familienglieder selbst, als vielmehr für ihre Umwelt notwendig, der durch jene der „höhere[…] Geist des christlichen Lebens offenbar[t]“ werde.¹⁴⁴⁰ Dass Liebesgeschichten sich zumeist des Interesses der Freunde und Bekannten erfreuen und dass Familienglück Strahlkraft hat, ist nicht zu leugnen.¹⁴⁴¹ Es stellt sich jedoch die Frage, was geschehen soll, wenn eine Ehe mittelmäßig läuft und das Familienleben vor allem als belastend erlebt wird. Der Prediger bestreitet nicht, dass hilfreiche Einflüsse von außen in einem solchen Fall deutlich
Bäume usw. Gegenstand der Vorstellung von Heimat und Zugehörigkeit. Erst durch Romantik und Biedermeier erfuhr das Haus seine emotionale Aufwertung als Zuhause, in dem geboren und gestorben wurde und Erinnerungen aufbewahrt wurden und Individualität gepflegt wurde. In seiner Theorie des geselligen Betragens bringt Schleiermacher dies auch unmittelbar zum Ausdruck. Vgl. ThG 165 f. Vgl. zur Thematik auch Schneider, Ehe, 51: „Die auf Schelsky zurückgehende Vorstellung von Familie als ‚Gegenstruktur zur Gesellschaft‘ […], als einem von der Außenwelt abgeschotteten, affektiv aufgeladenen Privatraum, in dem Emotionalität, Identität und Entspannung produziert werden, ist für moderne Familien mit ihren vielfältigen Außenbeziehungen zum Konsum-, Freizeit- und sozialpolitischen System nicht mehr zutreffend.“ Vgl. H 368 [Hervorhebungen getilgt – CR]: „Anfangen […] soll in einem christlichen Hauswesen die Gastfreiheit mit dem Geben und Darreichen auch im geistigen Sinne; sie geht hervor aus dem Bewußtsein der Genüge und Vollständigkeit eines solchen in sich selbst; sie ist das Bestreben, sich aufzuschließen und mitzutheilen, damit aus der Fülle […] auch andere schöpfen […] mögen.“ Vgl. H 369 f: „Dies also ist es, womit überall unter uns die christliche Gastfreundschaft anfangen soll. Fängt sie anders an; sind Heiterkeit und Freudigkeit nicht heimisch im Hause und sollen erst geweckt und aufgeregt werden durch andere; […] will man in dem größeren [Kreis – CR] die Unzufriedenheit und die Sorge vergessen […]: daraus kann keine von Gott gesegnete Gastfreiheit entstehen […].“ H 360 [Hervorhebungen getilgt – CR]. Hans-Joachim Birkner bringt es auf die Koordination: Dem Gegensatz von Obrigkeit und Untertanen im Staat, von Gelehrten und Publikum in der Wissenschaft, von ‚Klerus‘ und ‚Laien‘ in der Kirche entspricht im Haus jener von Wirt und Gästen (Birkner, Schleiermachers Christliche Sittenlehre, 42 f). Vgl. dazu auch BB 182: „Du glükliche, wie vielen Menschen machst Du Freude dadurch, daß Du Dich mir gegeben hast! in was für eine schöne Welt wirkt unser neues Leben ein, und was für ein Mittelpunkt wird es sein von Liebe und Lust.“ BB 198: „Ja, liebste Jette, wenn uns Gottes Gnade nicht verläßt, und warum sollte sie, so werden wir ein Leben führen, das Vielen zur Erbauung gereichen kann und zur Stärkung, und Allen zur Freude, die es kennen werden.“
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dringlicher sein können.¹⁴⁴² Er gibt allerdings zu bedenken, dass sie nur dann für das familiale Leben – und den einzelnen, der in diesem wieder glücklich werden will – weiterführend sind, wenn sie dessen eigene Potentiale zu wecken und zu schärfen vermögen. Dies aber gelingt nur dann, wenn die Familienglieder mit dem Bewusstsein in solche Begegnungen gehen, auch selbst Gutes und Wertvolles zu bieten zu haben, und erscheine es in noch so bescheidenem Maß.¹⁴⁴³ Nicht nur in prekären Situationen, sondern ganz generell können und sollen sich Ehe und Familie nicht vor ihrer Umwelt verschließen, womit wir zur ‚anderen Seite der Medaille‘ kommen. Da sich partnerschaftliche Liebe, d. h. die Erweiterung und der Fortbestand der Familie, nur entwickeln können, wenn man die Familienbande öffnet bzw. verlässt, eine solche Öffnung aber zugleich durch den familialen Hintergrund bedingt ist, haben wir es mit einer Gleichursprünglichkeit von Familiensinn und Geselligkeit zu tun.¹⁴⁴⁴ Auch für den schlicht existentiellen Fortbestand einer bereits konstituierten Familie ist ihre Interaktion mit der Umwelt unentbehrlich;¹⁴⁴⁵ umso mehr für ihre geistige Bildung und Selbsterkenntnis. Ebenso wie sich ohne Sozialität keine Individualität ausbilden lässt,¹⁴⁴⁶ ist auch der Familiengeist auf sein Anderes angewiesen, in Bezug auf das er sich in Formen der relativen Öffnung aber auch der Abschließung bestimmt und festigt.¹⁴⁴⁷ Die Wechselseitigkeit spielt hierbei – wie immer für Schleiermacher – eine große Rolle.¹⁴⁴⁸ Wo sich ein Paar hingegen in ro-
Vgl. H 372 f. Vgl. H 370. Vgl. PhE 135 (Brouillon): „Nächstdem die freie Geselligkeit, Sie muß vorangehn für die Liebe, aber sie kann nur entstehn durch die Familie, weil sie das Eigenthum voraussezt. Also muß die Familie als ein ursprünglich Gegebenes angesehn werden. […] Die freie Geselligkeit aber auch. Daher ist beides [Familie und freie Geselligkeit – CR] identisch. Die Familie zugleich die ursprüngliche Sphäre der freien Geselligkeit.“ Vgl. H 253: „Jede Ehe unter uns […] ruht auf einem Beruf in der bürgerlichen Gesellschaft, der für das Bestehen des Hauswesens Gewähr leistet; aber in beiden zusammengenommen soll auch der Mensch seine volle Befriedigung finden.“ S.o. I.4.1. Vgl. PhE 619 f (Güterlehre, letzte Bearbeitung): „Diese Abschließung [des Hauses – CR] führt zwar, wie oben gezeigt, nothwendig mit sich die Anerkennung der Zusammengehörigkeit. Allein wenn die Verschiedenheit absolut wäre oder gleich, so bliebe diese Anerkennung nur ein begleitender Coefficient der Abschließung, und könnte nie für sich heraustreten, noch eine besondere Thätigkeit bilden. Indem aber die Verschiedenheit ungleich gesezt wird, so muß auch das Abschließen beziehungsweise enger sein und weiter, und also beigemischt ein eben so verschiedenes Aufschließen.“ Mit letzterem zielt Schleiermacher auf die ‚Gastlichkeit‘.Vgl. weiter PhE 620: „Je weniger in einer Masse die eigenthümlich bildende Thätigkeit sich entwickelt, um desto weniger hat sie Gastlichkeit unter sich […] Und weil in demselben Maaß auch das Bewußtsein der Eigenthümlichkeit und ihres Gegensazes mit der Einerleiheit erwacht ist, so wird dem Abweichenden alle Zusammengehörigkeit abgesprochen, und jedes Eindringenwollen desselben als feindselig behandelt.“ Vgl. G I, 102., 28: „Sobald man die Gesellschaft nur als Mittel für den Egoismus braucht muß alles schief und schlecht werden.“ Das gilt nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für Familien.Vgl. dazu auch G I, 189., 43. Aus seinem Spiel der semantischen Verwandtschaft zwischen ‚Eigentümlichkeit‘ und ‚Eigentum‘ entwickelt Schleiermacher die Notwendigkeit der gegenseitigen Gastfreundschaft für die
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mantischer Selbstgenügsamkeit ergeht, da wiederhole es bloß den ethischen wie theologischen Irrtum des Zölibats und des Eremitentums, wie Schleiermacher später Über die Ehe predigt.¹⁴⁴⁹ Zwar sind Ehe und Familie eine Welt für sich, jedoch sind sie nicht die einzige Welt, in der ein Mensch leben könnte, was er bereits und besonders in seinen Frühschriften prägnant zum Ausdruck bringt.¹⁴⁵⁰ Eine interessante Vertiefung dieses Gedankens finden wir in einem Brief Schleiermachers an seine Braut: Eher als Du in diesem schönen, unbefangenen Sinn in der Gesellschaft gelebt hast, kannst Du gar noch nicht einmal wissen, ob Du geistreich und interessant bist. Denn in unserm Zusammensein kann das gar nicht so heraustreten […].¹⁴⁵¹
Im Fortgang argumentiert er, dass es zur Bewertung des anderen im Sinne eines Urteils von ‚geistreich‘ oder ‚interessant‘ einer Distanzsetzung zum anderen bedürfte, die in der ehelichen Gemeinschaft gar nicht statthat. Andere Kontexte und Kommunikationssituationen fordern die Person dazu auf, in einer Weise zu agieren und sich zu präsentieren, die sie zugleich auch für den Partner wieder interessanter machen kann. In vielfältigen weiteren Wendungen beschreibt er seiner Braut, wie sich partnerschaftliche Liebe und öffentliches Engagement wechselseitig befruchten und bestärken sollen.¹⁴⁵²
Vertiefung persönlicher Bekanntschaft, die er im Brouillon sogleich reziprok wendet.Vgl. PhE 126: „Die allgemeine Form ist also das freiwillige Eintretenlassen der Andern in die Sphäre des Eigenthums, und da überall nur der, welcher innerhalb dieser Sphäre betrachtet wird, erkannt werden kann, so muß es gegenseitig sein = gegenseitige Gastfreiheit.“ Und auch mit Blick auf die Hausstandspredigten lässt sich Trillhaas’ Fazit unterschreiben: „Nicht das bloße Stehen in seinem Stande, sondern der Wechselstrom der Liebe, der Kreislauf von Geben und Empfangen ist es, der Eltern und Kinder, Mann und Weib, Herrschaft und Dienende, Hauseltern und Gäste, Arm und Reich umschließt.“ (Trillhaas, Schleiermachers Predigt, 114). Vgl. H 236. Vgl. prominent M 26 f: „Doch es kann nicht anders dem Menschen der sich eigen bildet ergehn, […] mehr als Einer Welt gehört er an: wie könnte er in gleichförmiger Bahn mit einem Andern wandelnd, der auch ein Eigner ist, in seiner Nähe immer bleiben? Kometen gleich verbindet der Gebildete gar viele Weltsysteme, bewegt um manche Sonne sich.“ Vgl. auch aus den Leibniz-Aphorismen LA I, 68., 95: „Wenn Welt der Inbegrif desjenigen ist was sich dynamisch afficirt so wird es der gebildete Mensch wol nie dahin bringen nur in einer Welt zu leben. Die eine müßte die beste seyn, und der Glaube an sie ist etwas so heiliges wie der Glaube an die Einzigkeit in der Freundschaft und Liebe.“ Vgl. sachlich dazu Luhmann, Liebe, 221: „Die Universalität des Sinnbezugs der Liebe braucht nicht, ja kann nicht alles aktuelle Erleben und Handeln ergreifen. Ebenso wie bei der Universalität des Sinnbezugs der Religion oder des Rechts ist nichts von seiner Natur her irrelevant, andererseits aber auch kein Zwang gegeben, nun jeden Schritt nach dem Code abzustimmen. Nur wenn darauf verzichtet wird, ist Universalität im strengen Sinne erreichbar.“ BB 330. In BB 135 beteuert Schleiermacher in Bezug auf sein politisches Handeln in Königsberg: „ich werde nicht leichtsinniger und unnüzer Weise die Gefahr vermehren. Dieser Glaube wird Dir doch recht nöthig sein, liebste Jette; aber ich denke, wenn Du nur an meine Liebe zu Dir und unsern Kleinen
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John Gillis macht darauf aufmerksam, dass sich am Beginn des 19. Jahrhunderts im Bürgertum nicht bloß das ‚Wie‘ der Familie, also die Familienindividualität im Lichte ihrer Selbstpräsentation zu schärfen beginnt,¹⁴⁵³ sondern auch die Familiarität als solche. Für letztere Beobachtung war Schleiermacher zu involviert in die Prozesse, als dass er sie hätte beschreiben können. Die Sozialform der Familie ist in jener Zeit zwar sehr verbreitet, aber eben nicht mehr selbstverständlich und bietet sich mithin als Element persönlicher Selbstdefinition an. Kinder werden zur Schau gestellt und die Vaterschaft, besonders aber die Mutterschaft gewinnen gleichermaßen an öffentlicher wie persönlicher Bedeutung.¹⁴⁵⁴ Die Verhältnisse mögen sich seitdem gewandelt haben, aber die beschriebene Tendenz besteht fort. Mit den sozialen Medien steht in der Gegenwart ein Instrument bereit, das diese Form der Selbstvergewisserung nochmals auszuweiten erlaubt. Die Legionen an Mütter- und Elternblogs geben zu erkennen, wie die ‚Familie‘ durch die öffentliche Selbstpräsentation individuell definiert, erhöht und zugleich wiederum normiert wird. Im Lichte des (virtuellen) Blicks von außen gewinnt die Familie an Prägnanz, Glanz und Bedeutung, die auf die Binnenorientierung des familialen Lebens zurückstrahlen.
Zwischen Autonomie und Determiniertheit – Familie und kultureller Kontext Eine Besonderheit der Institution und Sozialform ‚Familie‘ ist es, dass sie sich zwischen naturaler Fundiertheit und geistig-kultureller Ausgestaltung bewegt. Das macht nach Schleiermacher ihre Ethizität aus.¹⁴⁵⁵ Ihr irreduzibler naturaler Grund ist es zu-
glaubst, mußt Du auch vertrauen, daß schon diese Liebe mir ein hinreichendes Maaß von Vorsicht und Besonnenheit einflößen muß.“ „Jedes [sc. ‚äußere Lage‘ und ‚unser Verein‘ – CR] erhöht das andere und bringt es in das rechte Verhältniß. Könnte ich nicht, was ich thue, und ich fühle doch nun lebendiger, daß ich es kann, so würde mir gar nicht so gewiß sein, daß ich ein Recht hätte Anspruch zu machen auf Dich, auf Dein ganzes Dasein, auf Deine Kinder. Und wiederum, hätte ich Dich nicht, so würde ich gar nicht so gewiß wissen, wie viel eigentlich wäre hinter meinem Muth und meiner Vaterlandsliebe.“ BB 172: „Darum seze das nicht so entgegen, daß unser schönes eheliches Leben Dir alles ist, mir aber nicht alles sein könne, weil mich noch die Wissenschaft in Anspruch nimmt. Das ist doch nicht so, sondern ganz anders. Mein Leben in der Wissenschaft und in der Kirche, und, so Gott will und Glükk giebt, wie mir beinahe ahndet, auch noch im Staat, soll gar nicht von Deinem Leben ausgeschlossen und Dir fremde sein, sondern Du sollst und wirst den innigsten Antheil daran nehmen. Ohne das giebt es keine recht Ehe.“ BB 274: „es ist eine herrliche Gabe Gottes, in einer Zeit zu leben wie diese; alles Schöne wird tiefer gefühlt, und man kann es größer und herrlicher darstellen. Ja, auch wenn vom reinen Genuß der Liebe die Rede ist, will ich Dich lieber in die Verhältnisse hineinführen, als in irgend ein verborgenes idyllisches Leben. Denn was kann die Liebe mehr verherrlichen, als wenn man so alles, was es großes giebt in der Welt, mit hineinzieht in ihr Gebiet.“ Vgl. ferner BB 131. 239. Auch Interieur und Haustiere sowie die Wohnhäuser mit ihren individualisierten Fassaden konnten zu Symbolen des familialen Charakters und des Ideals seiner inneren Gestalt werden. Vgl. dazu Gillis, Mythos, 125 – 127. 192– 195. Vgl. Gillis, Mythos, 120 – 123. Vgl. PhE 455 (1814/16): „Das nächste vollständige Abbild vom vollständigen Sein der Vernunft in der Natur ist die Familie. Also diese ein Gut. […] In ihr sind alle Functionen in einander, so daß, sobald
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gleich, der, mit René König gesprochen, eine „gewisse Absonderungstendenz“ mitmotiviert, die eine „Desintegration der Familie aus dem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang auslöst.“¹⁴⁵⁶ Die Familie behauptet der Gesellschaft und ihren Institutionen gegenüber stets eine relative Autonomie. Das bedeutet allerdings nicht, dass ihre Form unabhängig von historisch und aktualgesellschaftlich bedingten Konstruktionen wäre. Im Gegenteil: sie ist zu einem überwiegenden Teil deren Produkt. Schleiermacher stellt dies in Rechnung, wenn er betont, dass „eine christliche Ehe nur sein kann in der christlichen Gemeine und in der bürgerlichen Gemeine […].“¹⁴⁵⁷ Familiales Zusammenleben erwächst aus den naturalen Grundgegebenheiten nicht von selbst, sondern ist hochgradig gesellschaftlich vermittelt.¹⁴⁵⁸ Diese Vermittlung ist allerdings kein Angebot von einem Außerhalb vormaliger Lebenskontexte, sondern stellt einen kontinuierlichen biographischen Prozess dar, der mit der frühkindlichen Sozialisation beginnt. So erscheint sie als gleichsam natürlich erworben. Ihre Aufnahme und Realisierung widerspricht daher nicht der Autonomie des Individuums, sondern ist Bestandteil ebenjenes Freiheitsvollzuges, insofern dieser ein Handeln in Selbstentsprechung bedeutet, das Selbst aber geschichtlich gewachsen ist. In den Hausstandspredigten beschreibt Schleiermacher Familie und Volk als von „Gott unmittelbar zusammengefügt“.¹⁴⁵⁹ Denn jeder Mensch, wie er sich seiner bewußt wird, findet er sich in einem Hauswesen unter Eltern und Geschwistern, und das ist nicht sein Werk, sondern er ist von Gott […].¹⁴⁶⁰
Die ‚schlechthinnige Abhängigkeit‘ im Sinne eines ‚Sichselbstnichtsogesezthabens‘, wie es in der Glaubenslehre heißt,¹⁴⁶¹ konkretisiert sich im Bewusstwerden des Lebenskontextes, in den man – ohne eigenes Zutun – hineingeboren wurde. Jedweder Freiheitsvollzug setzt ein In-der-Welt-sein und ein Durch-die-Welt-bereits-umfassendbedingt-sein voraus, er ist, mit einem Wort aus dem Brouillon gesprochen, ein ‚Anknüpfen‘.¹⁴⁶²
eine Familie gesezt wäre, auch das höchste Gut als werdend gesezt wäre, und wenn eine isolirt könnte gesezt werden, würde in ihr dennoch die Erscheinung der gesamten Sittlichkeit sein.“ Detaillierter dazu s. o. I.4.Einleitung sowie I.4.2. König, Materialien, 63. H 242. Die Gesellschaft stellt Sozialformen und Handlungsnormen bereit, die die Ehe schon vor deren lebendigem Vollzug orientieren. Eheliches und familiales Leben kann recht genau antizipiert werden, noch bevor überhaupt ein Partner in Sicht ist. Vgl. dazu Berger/Kellner, Ehe, 222. 226. H 252. H 252. Vgl. CG2, §4.1, 33. Vgl. PhE 237: „Ueberhaupt giebt es auch von dieser Seite keine Willkühr, sondern die erste Thätigkeit ist ihrer Natur nach ein Anknüpfen; denn der Mensch findet sich in der Familie, aus der schon ein Antheil an einer eignen Sphäre an ihn übergeht, und so wie sich seine Organisation entwickelt, muß sich durch ein gemeinschaftliches Handeln zwischen ihm und dem Staate eine eigene Sphäre für ihn neu bilden.“
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Das Selbst in seinem So-Sein mitsamt seinen Vorstellungen von einem gelingenden Familienleben ist zwar gesellschaftlich bedingt; das bedeutet allerdings nicht, dass es deswegen einfach modifizierbar wäre.Weder tut die Einsicht in die historische Kontingenz eigener Orientierungsmuster und Wertmaßstäbe deren Geltung Abbruch, noch vermag der Gesellschaftsdiskurs unmittelbar auf den familialen Binnendiskurs auszugreifen. Die Lebensformen und ihre Gestaltung erweisen gegenüber aktuell proklamierten Einsichten, Meinungen und Handlungsoptionen stets eine (relative) traditionalisierende Persistenz. So kann der Eindruck entstehen, das partnerschaftliche und familiale Leben sei seinem Kern und Wesen nach gänzlich unabhängig von den gesellschaftlichen Umständen.¹⁴⁶³
Zwischen Binnenmotivation und gesellschaftlicher Zweckhaftigkeit – Familie und Staatsinteresse In einer ausdifferenzierten modernen Gesellschaft ist die Familie beileibe nicht alles, jedoch wäre alles nicht, wenn sie nicht wäre. Sie ist, wie Schleiermacher in Anlehnung an die aristotelische Metaphorik in seiner philosophischen Ethik betont, der Keim aller sonstigen Gemeinschaften und der Gesellschaft insgesamt.¹⁴⁶⁴ Dabei denkt er nicht nur an die naturale Reproduktionsfunktion, welche sie erfüllt, und welche auch politisch bereits erkannt war und gefördert wurde.¹⁴⁶⁵ Er hat auch die hier geleistete
Auch Schleiermacher war von einem solchen Eindruck nicht frei. An seine Braut schreibt er: „Unser Glück scheint mir so in sich selbst fest zu stehn, daß ich gar nicht auf den Gedanken kommen kann, als könnte es durch irgend etwas äußeres afficirt worden. Ich bringe auch die Weltbegebenheiten nie in irgend eine Verbindung damit, sondern jedes geht immer seinen Gang für sich allein.“ (BB 380). Vgl. weiterführend zur Thematik Luhmann, Liebe, 177 f: „Was erreicht wird, ist […] eine eigentümliche Kombination von zirkulärer Geschlossenheit und Offenheit für alles, was die Liebe anreichern kann. Gerade daß für die Liebe nur die Liebe zählt, heißt zwar, daß sie eine Welt für sich konstituiert – aber eben auch: für sich eine Welt. Es geht dabei um mehr als um wechselseitige Anpassung, um mehr auch als um wechselseitige Beglückung, die ja an der Erschöpfung der Bedürfnisse und an Gewöhnung rasch vergehen müßte; es geht um Konstitution einer gemeinsamen Sonderwelt, in der die Liebe sich immer neu informiert, indem sie das, was etwas für den anderen bedeutet, ihrer Reproduktion zu Grunde legt.“ Vgl. PhE 454 f (1814/16): „Die Familie ist das gemeinschaftliche Element aller jener Gemeinschaften, welche also in ihr ursprünglich in einander sind, und sich lediglich durch sie erhalten. Sie ist also der gemeinschaftliche Keim von allen, und giebt jedem sein besonderes Maaß ihres Verhältnisses gegen einander, ohne welches Maaß er sich in ihnen verwirren, und sein Antheil an ihnen also kein Gut sein würde.“ Vgl. auch den späteren Zusatz am Rand zum Brouillon (PhE 120): „Haus und Hof repräsentieren alle Elemente der Kultur in ihrer Verbindung mit dem einzelnen Leben.“ In Hausstandspredigten kann er auch von der Ehe als der „ursprünglichen Wurzel alles geselligen Lebens“ sprechen. (H 230 [Hervorhebung – CR]) Im 18. Jahrhundert wird die hohe Bedeutung der Bevölkerungsdichte und -verfassung für den Staat und dessen Wohlfahrt erkannt. Mithin milderte etwa Friedrich II. von Preußen die Strafen für uneheliche Mütter, wohingegen Kindsmörderinnen nunmehr die Todesstrafe zu fürchten hatten. Die bewusste Verweigerung des Kindergebärens und der kirchlich-monastische Zölibat wurden moralisch diskreditiert (Prokop, Mutterschaft, 194. 196).
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Sozialisation und Bildung im Blick. Prägnant ausgeführt finden wir dies in den Hausstandspredigten: ¹⁴⁶⁶ Die christlichen Häuser, gegründet durch den heiligen Bund […] sind nach der göttlichen Ordnung bestimmt, die Pflanzstätten des künftigen Geschlechtes zu sein. Da sollen die Seelen der Jugend, welche nach uns den irdischen Weinberg Gottes bauen wird, gebildet und entwickelt; da soll in ihnen das Verderben, welches ihnen als Kindern sündiger Menschen einwohnt, gezügelt, und ihre Reinigung von demselben vorbereitet; da soll die Sehnsucht nach der Gemeinschaft mit Gott in ihnen geweckt; da sollen sie zur künftigen Tüchtigkeit in jedem guten Werke durch Zucht und Anstrengung eingeübt werden.¹⁴⁶⁷
Mit scharfsinniger Nüchternheit konstatiert Schleiermacher, dass alle Bemühungen seitens der öffentlichen Institutionen um Ordnung und Moral wenig Aussicht auf Erfolg haben, wenn dafür nicht in der familialen Sozialisation und Bildung der Boden bereitet wurde.¹⁴⁶⁸ Gegenwärtige Forschungen zur hohen Persistenz von Sozialmilieus, die den staatlichen Bildungs- und Förderungsbemühungen oft trotzen, bestätigen dies. Auch für die Kirche gilt, dass sie ohne die Familie nicht wäre. Das führt Schleiermacher zu interessanten Spitzenformulierungen. Entgegen dem jesuanischen Selbstanspruch – „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden.“¹⁴⁶⁹ – lesen wir in den Hausstandspredigten, die Ehe sei der „Grundstein der Gemeine des Erlösers“.¹⁴⁷⁰ Und allem Bewusstsein um die hohe Bedeutung der Kirche als einer übergreifenden, letztlich universellen Institution zum Trotz heißt es in der Christlichen Sitte bescheiden: „Die christliche Kirche ist nur eine Gesammtheit von christlichen Hauswesen.“¹⁴⁷¹ In einer Traupredigt vergleicht Schleiermacher das eheliche Leben mit den Wirkungen des Erlösers. Wie dieser von unscheinbarer Stelle
Zusammenfassend vgl. H 228 f: „Diese Reihe von Betrachtungen wollen wir heute beginnen mit demjenigen, was der Grund aller anderen, einfacheren sowohl als verwickelteren, Lebensverhältnisse ist, nämlich dem heiligen Bunde der Geschlechter, den wir als die erste Stiftung Gottes, nachdem der Mensch durch das Wort seiner Allmacht hervorgegangen war, ansehen müssen. Aus diesem heiligen Bunde entwickeln sich alle andern menschlichen Verhältnisse; auf ihm ruht das christliche Hauswesen, und aus diesen bestehn die christlichen Gemeinen; auf ihm beruht die Fortpflanzung des menschlichen Geschlechts, und also auch die Fortpflanzung der Kraft des göttlichen Wortes von einem Geschlecht auf das andere.“ H 266. Vgl. H 319: „Glaubt ihr aber nicht, daß derjenige am meisten jene Ehrerbietung [für die höhere geistige Lebenskraft, die sich in der Vereinigung der Menschen offenbart – CR] fühlen wird, in dessen Seele sie schon durch das häusliche Leben befestiget ist, und daß wenig Hoffnung sei im großen bürgerlichen Leben, den in den Zügeln des Gehorsams zu halten, der sie schon im väterlichen Hause abgeworfen hat?“ Vgl. auch H 318: „[…] schon der alte Gesetzgeber [Mose – CR] wollte wohl […] auf die allgemeine Ordnung hinweisen, wie sich in einem Volke nur nach Maßgabe des häuslichen Lebens auch die andern geselligen Verhältnisse entwickeln.“ Vgl. auch H 237 f. Mk 12,10 unter Bezugnahme auf Ps 118,22. H 246. ChS 364.
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aus zum Licht der Welt geworden sei, so könne auch die christliche Familie dessen gewiss sein, dass ihre gesellschaftliche Strahlkraft und Bedeutung nicht davon abhängt, wie hoch ihre Stellung in der Gesellschaft sei.¹⁴⁷² Die gesellschaftliche Bedeutung der Familie liegt freilich nicht allein in ihrer naturalen und sozialen Fertilität, sondern auch in den Stabilisierungsleistungen, die sie für den Einzelnen als Gesellschaftsglied und ‚Berufsmenschen‘ erbringt. An seine Braut schreibt Schleiermacher, dass er durch die Verbindung mit ihr überall „freier, offner, tüchtiger“ auftritt.¹⁴⁷³ Er ist davon überzeugt, dass er gewiss nicht mehr schlecht predigen wird, wenn sie nur bei ihm ist, denn: „Du wirst mich immer auf irgend eine Art besonders begeistern, und das wahre Leben wird auch noch lebendigere Reden hervorbringen.“¹⁴⁷⁴ Das Arbeitsleben wird durch das familiale Leben deutlich stärker befördert als dass es dieses belastet, während das familiale Leben umgekehrt pragmatisch wie emotional weit mehr und negativer durch das Arbeitsleben beeinflusst wird.¹⁴⁷⁵ Die Familie ist eine Bewältigungsanstalt für viele alltägliche Probleme. Damit leistet sie eine unverzichtbare Letztintegration, die bei mangelnder Rücksichtnahme auf ihre eigenen Anforderungen allerdings leicht zu einer Überforderung und Vergiftung ihrer führen kann.¹⁴⁷⁶ Weil die Familie unentbehrliche Leistungen für die Gesamtgesellschaft erbringt, obliegt es dieser, sie zu stärken, zu schützen und zu fördern.¹⁴⁷⁷ In seinen Hausstandspredigten fokussiert Schleiermacher hierbei die Bildungsseite.¹⁴⁷⁸ Aber auch ökonomische Folgerungen werden bereits antizipiert.¹⁴⁷⁹ In einer Zeit, in der Familie Vgl. P 8, 707. BB 150. BB 199. Vgl. mit Hinweisen auf weitere Studien zum Thema Lange/Szymenderski, Arbeiten, 240. Die Betriebe, die an der ‚Kindkrankheit‘ ihrer Mitarbeiter und einer familienfreundlichen Flexibilisierung von deren Arbeitszeiten zugrunde gegangen sind, sind vermutlich gegenüber den Familien, die am Arbeitsdruck ihrer Eltern zerbrochen sind, deutlich in der Unterzahl. Zum extrem großen Umfang familialer Arbeits-, Erziehungs- und Pflegeleistungen, der das Bruttosozialprodukt der Lohnarbeit übersteigt vgl. Kaufmann, Zukunft der Familie. Stabilität, 66 f. Zum engen Zusammenhang von gesellschaftlichem und familialem Sozialkapital vgl. auch Bayerl, Familie, 135– 182. Vgl. H 267: „[…] so können wir auch mit Recht sagen, das gesamte junge Geschlecht unter uns werde erzogen von dem gesamten älteren, und es liege uns allen ob, auf die rechte gottgefällige Weise dazu das Unsrige beizutragen.“ Zur Selbstbestimmung und Freiheit gehört auch eine relative ökonomische Unabhängigkeit, wie Schleiermacher in der Hausstandspredigt zur Wohltätigkeit festhält. „[…] wenn der Reiche denkt: ‚Damit ich nur immer reicher werde, mögen jene immer mehr und mehr arbeiten müssen mit ihren Händen und Gutes schaffen für mich; wenn sie auch bei aller Arbeit nicht gewinnen, um den Dürftigen selbst etwas mitzuteilen, ich will es schon gut machen und den Dürftigen desto mehr geben; […] mögen sie auch so arm werden, daß sie selbst die Pflicht nicht mehr erfüllen können, für die Erziehung ihrer Kinder zu sorgen, ich will sie schon erziehen lassen, ich kann das sogar wohlfeiler bestellen und besser‘, – dann wird der Gegensatz zwischen den Reichen und den Armen auf eine unnatürliche Weise überspannt, und der Reiche bestiehlt den Armen um den edelsten Teil seines Daseins.“ (H 382 f [Hervorhebungen getilgt – CR]).
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planbar und entsprechend auch abwählbar geworden ist, wird es umso drängender, die Probleme der mittlerweile entstandenen Benachteiligung von Eltern gegenüber ihren kinderlosen Mitmenschen anzugehen.¹⁴⁸⁰ Diese stellten sich mit Blick auf die Demographie zu Schleiermachers Zeit so freilich noch nicht, insofern sexuelle Aktivität hier fast immer auch Nachwuchs zur Folge haben konnte und der Sozialstaat noch in den Kinderschuhen steckte. Auch wenn wohl niemand seinen Partner bzw. seine Kinder um des Staates bzw. der Gesellschaft willen gewählt bzw. bekommen hat, liebt und fürsorglich behandelt, erbringen Ehe und Familie doch gesellschaftlich unverzichtbare Leistungen. Das familiale Leben mit seinen Sinnstiftungspotenzen lebt zwar primär von seiner Binnenorientierung, es wird jedoch begleitet durch das Bewusstsein um den gesellschaftlichen Wert, der mit den hier auf sich genommenen Mühen geschaffen wird. Eine Ehe um ihrer selbst willen zu führen und Kinder um ihrer selbst willen zu lieben und zu fördern, schließt nicht aus, dafür auch ideelle und materielle Anerkennung und Unterstützung von Seiten der Gesellschaft zu fordern.¹⁴⁸¹ Auch ein als erfüllend Mit Kindern und einem entsprechend notwendig werdenden Verzicht auf einen Teil der Lohnarbeit der Partner zugunsten der Familienarbeit erwächst ihnen ein deutlicher finanzieller Nachteil gegenüber Paaren ohne Kinder. Dieser setzt sich zum Teil sogar bis in die Zeit fort, in der beide Partner wieder voll berufstätig werden können, weil Karrierechancen fahren gelassen werden mussten. Vgl. dazu Kaufmann, Zukunft der Familie. Stabilität, 111– 116. Trotz aller staatlichen Transferleistungen werden noch immer ¾ des materiellen und finanziellen Aufwandes für die Versorgung der Kinder von den Eltern selbst bestritten. Vgl. dazu Kaufmann, Zukunft der Familie. Stabilität, 66. 68 f. Vgl. auch Wingen, Beitrag, 303: „An die Stelle des alten Gegensatzes von Kapital und Arbeit ist längst eine neue Antinomie zwischen den zeitlebens Kinderlosen und denjenigen getreten, die langfristig Elternverantwortung übernehmen. Die Aufwendungen der Familien und das Auf- und Erziehen der nachwachsenden Generationen sind elementare Zukunftsinvestitionen, die als solche in das politische Bewußtsein eingehen müssen und nicht nur verbale Anerkennung, sondern ‚handgreifliche Investitionsförderung‘ verdienen, wie sie im Bereich der Wirtschaft durchaus geläufig sind.“ Ebd., 304: „Allzu lange haben Politik und Öffentlichkeit immer wieder verdrängt, daß in unserer Wirtschafts- und Sozialordnung hochgradig wirksame Anreize angelegt sind, auf Nachkommenschaft zu verzichten. Hier wird eine gesellschaftliche Ordnungspolitik ansetzen müssen, die diese in ihren demographischen Auswirkungen gemeinwohlschädlichen Anreize gezielt und nachhaltig zu beseitigen sucht.“ In Fragen der ökonomischen Familienpolitik wird wie hinsichtlich der Forderung nach höherer Vergütung in sozialen und pflegerischen Berufen gern darauf hingewiesen, dass der soziale Mehrwert, der hierbei für die Akteure entstehe, doch weit über die materielle Unterstützung bzw. Vergütung hinausgehe. So stimmt auch Dieter Schäfer letztlich in den Ton Gerd Habermanns ein, der behauptete: „Den Anhängern des Familienlastenausgleichs scheint der Lebensstandard der Junggesellen als ideales Leitbild für jedermann vorzuschweben. Sie lassen damit erkennen, daß sie zu materialistisch eingestellt sind, um zugunsten von Kindern auf Annehmlichkeiten zu verzichten, die sie sonst genießen könnten, und möchten sich ihr Familienleben von anderen Leuten bezahlen lassen.“ Vgl. Schäfer, Kinder, 205 – 207, Zitat: 205. Der individuelle und der gesellschaftliche Mehrwert des Kinderhabens werden hierbei offensichtlich gegeneinander ausgespielt und in dreister Weise denjenigen eine bloße Konsumorientierung vorgeworfen, die durch ihr praktisches Leben und ihren hohen persönlichen Einsatz doch beweisen, dass dieser Vorwurf eigentlich keinen Anhalt hat. Den vielfach Belasteten – aber dadurch eminent auch gesellschaftlich Wertschöpfenden – dasjenige als Lohn vorzuhalten, was die Gesellschaft nichts kostet, ist blanker Hohn.
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erlebter Beruf will schließlich entlohnt werden, denn einerseits ist ohne materielle Absicherung der Existenz deren sinnhafte Erhöhung, die nicht nur ein Überleben, sondern immer auch eine gewisse Muße voraussetzt, schwer möglich. Andererseits lebt das Individuum, wie wir sahen, mit seiner Familie nicht in einer Blase, sondern ist mit ihr eingestellt in eine Gesamtgesellschaft, deren Anerkennung bzw. Missachtung in die subjektiven und mikrosozialen Deutungsprozesse eingehen.
III Generationenverhältnis 1 Naturbasiert: Fortpflanzung Im Durchgang der Bedeutungsdimensionen von Paarbeziehung und Ehe hat sich das Wechselspiel von naturaler und geistiger Bestimmtheit, d. h. kultureller, sozialer, emotionaler und deutender Aneignung und Gestaltung als ethisch ausgesprochen produktiv erwiesen.¹ Dasselbe gilt es nun, anhand des Generationenverhältnisses aufzuzeigen. Die naturale Dimension soll wieder den Ausgangspunkt bilden, wobei sich sogleich Übergänge ergeben werden. So ist das biologische Faktum der Fortpflanzung nicht ohne die elterliche Fürsorge zu denken, welche beim Menschen sehr stark kulturell beeinflusst ist (1.) und selbst ein mittlerweile genetisch eindeutig bestimmbares Verwandtschaftsverhältnis wäre ohne daran geknüpfte Handlungsorientierungen und Statuszuschreibungen bedeutungslos (2.). Dass die Wahlverwandtschaft für die meisten Menschen unseres Kulturkreises gleichwohl nicht denselben Wert wie die Blutsverwandtschaft reklamieren kann und die intergenerationelle Fürsorge eine besondere Motivation durch das eigene Fortpflanzungserlebnis erhält, muss als Umkehrschluss hierbei jedoch mitbedacht werden. Beiden Aspekten wollen wir uns in diesem Kapitel zuwenden.
1.1 Fortpflanzung und Fürsorge Wird die Familie als Sinngeber benannt, so geschieht dies v. a. durch die Elterngeneration. Das hat zum einen seinen Grund im Gefälle zwischen dem erwachsenen, der Reflexion fähigen, zum kindlichen, die Metareflexion erst erlernenden Mitglied der Familie.² Kinder sind zwar in ihrer Orientierung und Stabilität viel abhängiger von ihren Eltern als umgekehrt, jedoch deuten sie dies nicht aus. Weil für Kinder – besonders für kleine – die Familie die Welt bedeutet, können sie sie gar nicht als eine besondere Sphäre wahrnehmen und entsprechend explizit mit Bedeutung aufladen.
S.o. II. Vgl. dazu bereits AÜ 60 f: „Eltern lieben ihre Kinder als etwas das von ihnen herkomt, Kinder die Eltern als diejenigen, von denen sie herrühren, aber Eltern sind sich deßen, daß sie ihren Kindern das Leben gegeben haben weit deutlicher bewust als die Kinder ihrer Abstammung von den Eltern, und so ist der Erzeuger auf eine weit nähere Art an das Erzeugte gebunden als dieses an ihn. […] Bei den Eltern komt ferner noch die Länge der Zeit hinzu, da ihre Liebe gleich bei der Geburt ihrer Kinder anfängt, diese aber sie nicht eher erwiedern können bis sie den Gebrauch des Verstandes oder wenigstens ausgebreitetere Empfindungen bekommen. Daraus erklärt sich auch die größere Liebe auf Seiten der Mütter.“ https://doi.org/10.1515/9783110682090-004
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Und selbst für Erwachsene ist die Fürsorglichkeit ihrer eigenen Eltern zumeist eine Selbstverständlichkeit.³ Ein weiterer Grund für die Generationendifferenz familialer Sinnanmutungen liegt im paradoxalen Wechselgefälle von Aktivität und Passivität. Wird ein Kind geboren, so entsteht gegenwärtig zumeist bei den Eltern der Eindruck, dass dies mit seinen Bedürfnissen, seinem Tages- und Nachtrhythmus sowie der dauerhaften Aufsichtspflicht den Takt vorgibt. Das vormals selbstbestimmte Leben wird nunmehr massiv eingeschränkt.⁴ Eltern müssen ständig reagieren oder zumindest zu einer Reaktion auf Anforderungen des Kindes bereit sein. Ihr Leben ist in eine Abhängigkeit geraten, die, um Frustrationen zu vermeiden, ausgedeutet und bestenfalls positiv besetzt werden will. Dies geschieht in Gestalt des Verantwortungsbewusstseins.⁵ Die Einschränkung von selbstbestimmter Aktivität wird gedeutet als Aktivitätssphäre höherer Ordnung. Das Steigerungsverhältnis von Schmerzen bzw. Opfern und Wertschätzung bzw. Liebe, wie es Schleiermacher bereits von Aristoteles geläufig war, spielt hierbei auch eine Rolle.⁶ Kinder sind in all ihren natürlichen und hygienischen, aber auch emotionalen und sozialen Bedürfnissen gänzlich von ihren Eltern abhängig.⁷ Erhalten Säuglinge und Kleinkinder nicht die nötige Zuwendung und Wärme, so kommt es zu schweren Entwicklungsstörungen und Krankheiten bis hin zum Tode. Die persönliche Verantwortung, der Eltern gerecht werden müssen, lässt sich mithin kaum überschätzen. Sie wird anders als in vielen anderen Sozialsphären, wo Verantwortung übernommen, aber auch wieder abgegeben werden kann, unmittelbar Die überwiegende Mehrzahl der Kindergeneration, egal welchen Alters, gibt an, sich in einer schwierigen Lage auf die Unterstützung und Hilfe der Eltern verlassen zu können. Auch im hohen Alter, wenn die Kinder selbst schon in die Elterngeneration aufgerückt sind, gilt mithin ein Fürsorgeanspruch an die Elterngeneration. Vgl. dazu Nave-Herz, Familiensoziologie, 195. Vgl. auch Nave-Herz, Familiensoziologie, 230: „Finanzielle Transfers zwischen den Generationen fließen von oben nach unten, wobei die Elterngeneration am stärksten belastet ist. […] Sie aber werden ihrerseits [nicht erst durch eine Erbschaft – CR] von ihren Eltern finanziell unterstützt […]. Hier hat – historisch gesehen – eine ‚Umkehrung‘ stattgefunden.“ Die Situation kippt u.U. erst mit der Pflegebedürftigkeit der Großeltern. Weitergehend dazu s.u. III.2.1.3. Vgl. dazu auch Claessens, Familie, 66. Vgl. dazu auch Beck/Beck-Gernsheim, Chaos, 140 f: Unter den gesellschaftlichen Bedingungen einer schwindenden Bestimmtheit in sich ausweitenden Freiheitsräumen „kann das Kind, seine Erziehung und Versorgung, neue Wert- und Sinnbezüge schaffen, ja zum Sinn-Mittelpunkt der privaten Existenz werden. Wo die Ziele beliebig und austauschbar werden, der Glaube an ein Jenseits schwindet, die Hoffnungen des Diesseits sich oft als vergänglich erweisen – da eben verheißt ein Kind auch die Möglichkeit, dem eigenen Leben Sinn, Inhalt und Anker zu schaffen.“ Vgl. AÜ 73 f: „Hiezu nehme man noch, daß, da das Lieben etwas thätiges das Geliebtwerden nur etwas leidendes ist, auch der vorzüglich thätige vorzüglich lieben, vorzüglich freundschaftlich seyn wird und daß man etwas um desto mehr liebt, je mehr Schwierigkeiten man dabei zu überwinden hatte, je thätiger man also seyn mußte, Wolthaten annehmen aber hat gar keine Schwierigkeit […]. Darin liegt auch der Grund warum Mütter ihre Kinder so ausmehmend lieben, denn außerdem, daß das Bewußtseyn, daß es die ihrigen sind bei ihnen weit stärker seyn muß hat sie auch die Geburt derselben viel Schmerzen gekostet.“ Vgl. zu dieser Figur auch Simmel, Geschlechter, 132. Vgl. dazu Claessens, Familie, 87– 94.
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erlebt und lässt sich anerkanntermaßen – von Ausnahmen abgesehen – gemeinhin nicht delegieren. Schuld und Sünde, d. h. eine Verstrickung und Schwäche, die immer wieder zum Schuldigwerden treibt, das an die eigenen Grenzen der Kräfte Gelangen, kritische Selbstprüfung, Selbstzweifel und Selbstrechtfertigung werden besonders durch die Elternschaft herausgefordert. Sich in alledem zu erleben und cum grano salis bestehen zu können, vermittelt „ein besonderes Gefühl des Gereiftseins“.⁸ Im Folgenden wollen wir anhand der drei biologisch vorgegebenen Stationen Zeugung, Geburt und ‚Brutpflege‘ die Bedeutungsdimensionen der Fortpflanzung näher in den Blick nehmen.
Zeugung – das Verhältnis von Sexualität und Fortpflanzung Die Sexualität als Bedeutungsträger der Liebe zwischen Mann und Frau soll nach Schleiermacher nicht verzweckt werden; und sei es im Sinne der Fortpflanzung. Dies haben wir uns oben vor Augen geführt.⁹ Gleichwohl lässt sich beides nicht trennen. Weder gibt es – im Regelfall – eine Sexualität ohne die Chance bzw. selbst bei Verhütung eine gewisse Gefahr der Fortpflanzung, noch gibt es beim Menschen eine Fortpflanzung ohne irgendeine Form von sexuellem Handeln, im Normalfall dem Geschlechtsverkehr.¹⁰ Sei die Sexualität also auch noch so sehr um ihrer selbst willen angestrebt, so weist sie doch über sich hinaus. Schleiermacher bringt dieses Faktum auf die Formulierung: „Das Eigenthümliche der Geschlechtsgemeinschaft ist das momentane Einswerden des Bewußtseins und das aus dem Factor der Erzeugung hervorgehende permanente Einswerden des Lebens.“¹¹ Die momenthafte Verschmelzung zweier Menschen birgt das Potential der dauerhaften Gestaltwerdung dieser in Form eines unüberbietbaren ‚Produkts‘. Die Liebe schafft sich eine Objektivation, die sie wiederum zu einem Gegenstand ihrer selbst machen kann: ein Subjekt.¹² Wenngleich im Zeugungsakt die unüberbietbar kreative Potenz des Menschen liegt, entzieht sich deren genauere Gestaltung und überhaupt ihr Gelingen der menschlichen Verfügungsgewalt. In dieser produktiven Passivität steht sie in Analogie zum religiösen Erleben. 1832 bemerkt Schleiermacher: Das religiöse Bewußtsein erwacht ursprünglich im Zusammensein beider Generationen, weil die erzeugende sich in der Erzeugung absolut abhängig findet als von aller Willkühr entblößt, und zwar abhängig nicht nur von dem Geschlechtsleben, sondern auch von dem dinglichen Sein, indem auch die äußere Natur auf die Fruchtbarkeit und ihre Bestimmungen Einfluß hat.¹³
Claessens, Familie, 157. Detaillierter dazu s.u. III.2.1.2. S.o. II.1.2. Vgl. zu dieser trivialen und gleichsam im gegenwärtigen Diskurs alles andere als selbstverständlichen Feststellung auch Herms, Institutionen. PhE 322. Detaillierter zur Thematik s.u. III.2.1.1. PhE 657.Vgl. dazu auch PhE 603 (Güterlehre. Letzte Bearbeitung): „[…] wir [können] die Vorstellung eines ersten, also nicht auf dem Wege der Erzeugung gewordenen Menschen niemals wirklich zu
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Etwas blumiger schrieb er bereits 1808 an seine Braut: „Das tiefste Geheimniß ruht auf der Erzeugung des Menschen“.¹⁴ Trotz des gesteigerten Wissens der Gegenwart über die Konstitutionsbedingungen und Verläufe von Konzeption und pränataler Entwicklung hat sich an dem Bewusstsein der meisten Eltern nichts geändert: Zeugung und Schwangerschaft werden noch immer als Wunder erfahren, denen man in einer eigentümlich verantwortungsvollen Passivität gegenübersteht. Sogar die Weiterentwicklung von pränatalen Diagnoseverfahren und assistierter Fertilisation bestätigt dies noch.¹⁵ So ambitioniert und vielfältig medizinische Projekte hier auch sein mögen: das Gelingen der In-vitroFertilisation und erst recht der Implantation entsprechender Embryonen ist in einem nach wie vor hohen Maße kontingent. Zukunftsutopien bzw. -dystopien über die ‚Machbarkeit von Leben‘ finden bislang kaum Anhalt in der Realität. Gelingende Fortpflanzung und eine gesunde pränatale Entwicklung bleiben ein Geschenk.
Geburt – Die Göttlichkeit der Natalität Die Geburt ist ein Geschehen, in dem die Mutter in gewisser Weise ausgeliefert ist, der Vater in seiner gänzlichen Ohnmacht gefühlt noch mehr; ein Vorgang, der beängstigend ist, weil er mit starken Schmerzen und nach wie vor mit einer gewissen Gefahr für Mutter und Kind verbunden ist.¹⁶ Wird diese Spannung gelöst, wenn das Kind seinen ersten Schrei tut und man sich dessen versichert, dass alles gutgegangen ist, so stellt sich geradezu selbstverständlich ein tiefes Gefühl von Dankbarkeit ein, das oft auch von sich nicht als religiös verstehenden Menschen als gleichsam religiöses Erlebnis beschrieben wird. Der hoffende, manchmal auch bangende Gang durch Schmerzen und Gefahr zu einem neuen Leben (der Eltern mit dem Kind und des Kindes an sich selbst) verdient kein geringeres Prädikat als jenes der Erlösung. Die gelingende Entbindung ist eine Erlösung in der Welt und zu der Welt hin.
Stande bringen, und sind also genöthigt die Erzeugung bei jedem menschlichen Dasein vorauszusezen. Und diesen Charakter behauptet sie auch in der Erfahrung, indem sie allerdings ein sittlicher Act ist, das Resultat desselben aber durchaus physisch bedingt erscheint, indem es von der Willkühr völlig unabhängig ist, sich auch gewiß immer so erhalten wird.“ BB 181. Die Natur verweigert das Verstehen des Entstehens von Leben: „sie nimmt dem Menschen erst die Besonnenheit, nur im süßen Rausch der Liebe treibt sie ihr heiliges Werk.“ (Ebd).Vgl. auch BB 296: „Gestern Morgens hat die Reimer ein Mädchen geboren[…]. Steif und fest hatte sie geglaubt einen Knaben zu haben. Es ist doch etwas ganz feierliches und heiliges um dieses Unbewußtsein des innern Bildens der Natur; und ich weiß nicht einmal, ob es mir gefallen würde, wenn eine Mutter hierin so untr[ü]glich wäre.“ Einen Überblick dazu bietet Bernard, Kinder machen. „Schwangerschaft und Geburt werden von mehreren befragten Vätern als Ereignisse erlebt, die ‚zusammenschweißen‘ und deshalb eine wichtige Grundlage der familialen Gemeinschaft bilden.“ (Wulf, Geburt der Väter, 81). Zu den Komplikationen und Gefahren von Schwangerschaft und besonders von Geburt im 18. Jahrhundert vgl. Prokop, Mutterschaft, 174– 178.
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In der Weihnachtsfeier legt Schleiermacher den dogmatischen Topos der Inkarnationschristologie ganz in der Weise der Kindwerdung Gottes aus. Im Halbdunkel des Heiligen Abends wird jenes Mysterium dichterisch umkreist.¹⁷ Besonders die drei Reden der Frauen erscheinen hierbei als eine Erdung der Theologie und umgekehrt.¹⁸ Erzählungen menschlicher Natalität und Mütterlichkeit erscheinen im Lichte des Religiösen und verhelfen den biblischen und klassisch-theologischen Lehren zugleich zur Aktualisierung. Der Vorrang der unsichtbaren Kirche vor der sichtbaren und der Innerlichkeitskultur vor der kalten Äußerlichkeit wird von Ernestine bebildert. Sie erzählt von einer wenig zur Versenkung einladenden Christmette, in der sie ihre Andacht allein in der Anschauung der innigen Beziehung zwischen einer Mutter mit ihrem Kleinkind, als „lebendige Gestalten zu den schönen Bildern von Maria und dem Kinde“ fand.¹⁹ Agnes berichtet von der Taufe eines Neugeborenen am Heiligen Abend.²⁰ Das protestantische ‚Sola gratia‘ konkretisiert sich in der Zueignung des Heilsgutes an ein Wesen, das seinem Entwicklungsstand nach nur empfangen kann. „Also wieder das vorige, […] nur gleichsam ein umgekehrtes negatives Christkindlein, in welches der Heiligenschein einströmt, nicht aus.“²¹ In der dritten Erzählung wird von Karoline der Umschlag zwischen Tod und Leben beschrieben. Ein todkrankes Kind findet am Heiligen Abend überraschend Genesung.²² Das „Mutterleiden“ wandelt sich in „Freude an dem göttlichen Kinde“.²³ Nach dem tiefsten Leid des persönlichen Karfreitag findet diese Marienfigur zur himmlischen Freude am Leben.²⁴ In allen drei Erzählungen scheint das Ineinander von Irdischem und Göttlichem auf.²⁵ Emanuel Hirsch resümiert dies in eindrücklicher Weise: Mit allem Kleinlichen, Mühseligen, Unvollkommenen dieses endlichen Erlebens – nichts ist so in das Endliche verstrickt wie Dasein und Wirken einer Mutter – kommt aber dennoch das Wunder des Ewigen und Unendlichen zu ihrem Herzen. Die Richtung auf das Göttliche und Heilige, die in allem menschlich-irdischen Leben angelegt ist, offenbart sich niemandem so tief wie der Mutter,
Vgl. hierzu auch Senkel, Phantasie, 498 – 501. Emanuel Hirsch betont in seiner Interpretation der Weihnachtsfeier ebenfalls, dass für Schleiermacher nicht allein die männlich zergliedernde Reflexion, sondern auch die ganzheitliche – und darin vage – Sicht auf Irdisches und Ewiges, wie sie die Frauen einnehmen, der Religion angemessen ist (ders., Weihnachtsfeier, 25 f). Vgl. W 504– 506, Zitat 506. Vgl. W 507– 511. W 511. Vgl. W 512– 515. W 515. Die vom alttestamentlichen Mythos als Folgen des ‚Sündenfalls‘ gedeuteten Geburtsschmerzen (Gen 3,16) prägten noch lange die Vorstellung von rechter Mutterschaft. Nicht so sehr die Fürsorglichkeit, sondern v. a. die Leidensbereitschaft und Tapferkeit zeichnete die gute Mutter aus. Detaillierter zur historischen Genese der Mütterlichkeit s.u. in diesem Kapitel. Vgl. Hirsch, Weihnachtsfeier, 24: „Die von ihm [sc. Schleiermacher – CR] gemeinte Frömmigkeit ist eben dadurch, daß sie das endliche Dasein dem unergründlichen und unfaßlichen Ewigen öffnet, ein echtes Ja zu der uns aus Gott geschenkten reichen Fülle des irdischen Lebens.“
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aus deren natürlichem Schoß eine eigene, dem Göttlichen und Ewigen bestimmte menschliche Seele in das Dasein sich gebiert.²⁶
Noch bevor es einer klaren Äußerung fähig ist, antizipieren Eltern in ihrem Kind dessen höhere Bestimmung.²⁷ Wie die Kirche bereits im Kind in der Krippe ihren Heiland erkennt, so fühlt und wünscht die Mutter schon beim Anblick ihres Säuglings dessen Weg zu Glück, Seligkeit und Heil;²⁸ das „alles lohnende Muttergefühl“.²⁹ Wenn Schleiermacher jede Mutter als eine Maria bezeichnet, so meint er damit nicht die göttliche Himmelskönigin, als welche sie auch von Novalis gefeiert wird, sondern die demütig staunende Mutter eines Menschen.³⁰ Maria ist für Schleiermacher ganz im Sinne Luthers nicht die erlösende Gottesgebärerin, sondern die erlöste Gottbegnadete. Nur weil sich bei dieser ihre Erhebung aus der Demut und Dankbarkeit speist, bietet sie sich ihm als Paradigma einer gesegneten Mutterschaft an. Schleiermacher deutet nicht nur die Mutterschaft religiös, sondern gebraucht sie auch umgekehrt als Sinnbild des religiösen Lebens. In den Reden beschreibt er das religiöse Grunderlebnis, das noch jenseits der Trennung von ‚Anschauung‘ und ‚Gefühl‘ liegt, als Zeugungsakt bzw. kurz darauf als „Geburtsstunde alles Lebendigen in der Religion“.³¹ Die eigentümliche Verbindung von Aktivität und Anstrengung mit der Passivität des sich Hinreißen-Lassens bzw. des Hervorgehens lässt ihn beide doch recht unterschiedlich gelagerten Metaphern zusammenbringen. Unter dem Mantel des Verborgenen und Intimen stimmen Zeugung und Geburt als geheimnisvolle Schöpfungsereignisse zusammen und scheinen ihm daher beide geeignet, das religiöse Ursprungserlebnis zu bebildern. Ganz pietistisch weist Schleiermacher ein Leben aus der religiösen Tradition, das der Konkretheit individueller Erweckungserlebnisse ermangelt, als unzureichend ab und bedient sich dazu in despektierlicher Weise der Metaphern des Kuckuckskindes und der Adoption.³² Gleich seiner Mariendeutung begegnet auch hier bereits das Motiv der Demut, allerdings nun aus der Perspektive Hirsch, Weihnachtsfeier, 23. Vgl. W 497: „Und glaubst du denn, die Liebe geht auf das, wozu wir die Kinder bilden können? Was können wir bilden? Nein, sie geht auf das Schöne und Göttliche, was wir in ihnen schon glauben, was jede Mutter aufsucht in jeder Bewegung, sobald sich nur die Seele des Kindes äußert. – Seht! […] mit diesem Sinn ist wieder jede Mutter eine Maria.“ Vgl. W 503: „Auch hat schon Agnes dies vorher geäußert, als die allgemeine Ansicht aller Frauen, daß sie in ihren Kindern, wie die Kirche es in Christo tut, schon von der Geburt an das Göttliche voraussetzen und es aufsuchen.“ W 530. Vgl. dazu auch Hirsch, Weihnachtsfeier. R 222. Vgl. R 222: „Das aber sei Euch gesagt: wenn ihr diese [Anschauungen und Gefühle – CR] noch so vollkommen versteht, wenn Ihr sie in Euch zu haben glaubt im klarsten Bewußtsein, aber ihr wißt nicht und könnt es nicht aufzeigen, daß sie aus solchen Augenbliken in Euch entstanden und ursprünglich Eins und ungetrennt gewesen sind, so überredet Euch und mich nicht weiter, es ist dem doch nicht so, Euere Seele hat nie empfangen, es sind nur untergeschobene Kinder, Erzeugniße anderer Seelen, die ihr im heimlichen Gefühl der eignen Schwäche adoptirt habt.“
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des Kindes, womit eine dritte Metapher eröffnet wird. Wie die Gebärmutter der bergende Hort für das Kind ist, an welchem ihm alles, was es brauche und erfahre mit größter Behutsamkeit zugeeignet werde, so sei dem Redner auch die Religion der Nährboden all seiner weitergehenden Welterfahrung gewesen.³³
Fürsorge – Kulturbedingte Gestaltung eines natürlichen Verhältnisses Die Einheit von Mutter und Kind während der Schwangerschaft legt die Annahme einer besonderen Verbundenheit beider auch für die Zeit nach der Entbindung nahe. In der Weihnachtsfeier schreibt Schleiermacher: „Sein [sc. des Kindes – CR] Gefühl ist noch mit dem ihrigen [sc. der Mutter – CR] vereinigt, in ihr wohnt es, und nur in ihr können wir es pflegen und erfreuen.“³⁴ Auch nach der Entbindung bleiben Mutter und Kind durch das Stillen physisch und emotional verbunden. In der Psychologie behauptet Schleiermacher, durch die Muttermilch erhalte das Kind nicht bloß Nahrung, sondern auch Anteil an den psychischen Zuständen der Mutter³⁵ – eine These, die angesichts neuerer Einsichten in die menschliche Psychosomatik gar nicht so weit hergeholt erscheint. Im Brouillon beschreibt Schleiermacher eine gegenläufige Dynamik für das Verhältnis der Eltern zu ihrem Kind. Während für die Mutter das Kind zunächst ein ‚Inneres‘ war, das sich im Laufe seiner Entwicklung zunehmend von ihr ‚abreißt‘ und ein ‚Aeußeres‘ – gemeint ist ein Gegenüber – wird, so ist es für den Vater umgekehrt zunächst ein ‚Aeußeres‘, das ihn allerdings, analog zur Attraktionswirkung der Mutter, die ihn zur Zeugung trieb, ebenfalls ‚anzieht‘ und zum Aufbau einer emotionalen Beziehung reizt.³⁶ 1812/13 konkretisiert Schleiermacher letzteren Gedanken nochmals.
Vgl. R 195: „Ihr wißt, was Religion sprechen heißt, kann nie stolz sein; denn sie ist immer voll Demuth. Religion war der mütterliche Leib in deßen heiligem Dunkel mein junges Leben genährt und auf die ihm noch verschloßene Welt vorbereitet wurde, in ihr athmete mein Geist, ehe er noch seine äußere Gegenstände, Erfahrungen und Wißenschaft gefunden hatte, sie half mir als ich anfing den väterlichen Glauben zu sichten und das Herz zu reinigen von dem Schutte der Vorwelt, sie blieb mir, als Gott und Unsterblichkeit dem zweifelnden Auge verschwanden, sie leitete mich ins thätige Leben, sie hat mich gelehrt mich selbst mit meinen Tugenden und Fehlern in meinem ungetheilten Dasein heilig zu halten, und nur durch sie habe ich Freundschaft und Liebe gelernt.“ Vgl. dazu auch Hartlieb, Geschlechterdifferenz, 271 f. W 508. Vgl. PsyG 366: „Mit der Geburt geht eine bedeutende Veränderung in dem organischen Zustande selbst vor […] wodurch es [sc. das Kind – CR] nun erst ein ganz abgeschlossenes Wesen bildet. Allerdings ist das nur der Fall im künstlichen Zustande, denn im natürlichen, wo das Kind von der Mutter genährt wird, bleibt immer noch ein Zusammenhang und dasselbe nimmt durch die Milch an den psychischen Zuständen der Mutter Theil.“ Vgl. zur Thematik auch Päd 693 – 695. Noch lange Zeit nahm man zudem an, dass dasjenige, was die Schwangere erlebte und sah, Einfluss auf Gestalt und Charakter des Kindes haben würde. Vorsicht paarte sich mit Schuldzuschreibungen. Die Macht weiblicher Generativität gab vielerlei Rätsel auf und wurde durch Restriktionen versucht, zu regulieren. Vgl. dazu Prokop, Mutterschaft, 186 – 189. Vgl. weiterführend Loux, Kind. Vgl. PhE 133 f.
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Die Mutter und die eheliche Liebe zu ihr werden zum Vermittlungspunkt der Liebe des Vaters zu seinem Kind.³⁷ Das Bewusstsein, dass er dieses Kind gezeugt hat, und die Anteilnahme, die ihm die Mutter an ihrer Dyade mit dem Kind gewährt, sind die – fallibele³⁸ – Brücke für den Vater zu seinem Kind.³⁹ Die am Beginn dieser Dynamik liegenden Gefühle werden auch gegenwärtig von frisch geborenen Vätern bestätigt. Ein Neugeborenes erscheint trotz zuvor gesehener Ultraschallbilder und ertasteter Kindsbewegungen unmittelbar nach der Geburt doch noch eigentümlich fremd. Das Postulat einer exklusiven Verbundenheit mit dem eigenen Kind konfligiert mit dem faktisch notwendigen Kennenlernen dieses auch phänotypisch noch fremden kleinen Menschen.⁴⁰ So natürlich uns die exklusive Verbindung von Mutter, (Vater) und Kind auch erscheint und so selbstverständlich die Mutterliebe als humane Form des Mutterinstinkts auch anmuten mag, sind sie es doch nicht.⁴¹ Schleiermacher kann vielmehr als einer der Exponenten einer historisch neuen Entwicklung gelten.⁴² Bis ins 18. Jahrhundert war ein Desinteresse der Mütter gegenüber ihren Kleinkindern im einfachen Volk, aber auch z.T. in höheren Kreisen weit verbreitet.⁴³ Sie galten nicht als vollwertige Menschen und andere Arbeiten erschienen wichtiger, als die kleinen Kinder zu reinigen, zu pflegen, zu betreuen und zu beaufsichtigen. Das individuelle Eingehen auf sie und die bewusste Förderung ihrer durch empathische Beschäftigung mit ihnen ist – was die Breite der Bevölkerung angeht – ein Phänomen der Moderne. Der Tod
Vgl. PhE 326: „Umgekehrt ist es [sc. das Kind – CR] dem Vater ursprünglich ein Aeußeres, wird ihm aber durch die Art, wie er die Mutter hat, ein Inneres, und der Vermittlungspunkt für die Thätigkeit seines Gefühls überhaupt.“ Wo diese Brücke nicht gebaut oder zwar gebaut, aber nicht betreten wird, entsteht ein Konfliktherd, der fast zwangsläufig irgendeine Form von Trennung oder Abgrenzung zur Folge hat. Vgl. dazu auch BB 323 f: „O Gott, wieviel schönes und herrliches sehe ich darin [sc. im künftigen Leben – CR]. Nur das Eine schönste will mir noch nicht immer klar entgegenkommen; es kommt mir zu groß vor, alles alsdenn zu vollendet in meinem Leben, als daß ich es so hoffen dürfte. Es ist als wagte ich nicht mir zuzueignen, worauf ich schon so ganz Verzicht geleistet hatte. Und doch sehe ich wieder nicht, was es hindern sollte. Aber sieh doch daraus, meine süße Geliebte, wie mir eben die Vaterfreude schlechthin das größte scheint, was mir das Leben noch geben kann. Freilich ist die Mutterfreude unmittelbarer und eben, weil sie unter Schmerz und Weh dem Geliebten das himmlische Geschenk bringt, um so größer. Aber ich kann Dir gar nicht ausdrüken, was für ein Entzüken ich mir denke in dem Augenblik. Nur fühle ich, ich würde in dem ersten Augenblik nur an Dich denken, in dem Kinde nur das Pfand Deiner Genesung, das süße Werk Deiner bildenden Kraft sehn und lieben, und erst hernach würde ich es unmittelbar lieben, die Liebe zu Dir würde immer auch dabei das erste und Höchste sein. Doch wer mag das süße Gewirr himmlischer Empfindungen so entwikkeln wollen.“ Vgl. dazu Wulf, Geburt der Väter, 77 f. Zur Bedeutung von Ultraschallbildern als ersten Familienfotos vgl. Tegethoff, Das Ungeborene sehen. Zur sozialen Konstruiertheit der Mutterliebe und der Intensivierung des elterlich-kindlichen Verhältnisses in der Neuzeit vgl. Badinter, Mutterliebe. Auch sein Umfeld war in dieser Hinsicht sehr fortschrittlich. So kommt Schleiermacher in einem Brief darauf zu sprechen, dass Henrich Steffens bei der Geburt seiner Tochter 1806 anwesend sein wollte, wie auch Ehrenfried v. Willich bei der Geburt seiner Kinder anwesend war (BB 57). Vgl. dazu Shorter, Wandel, 258 – 262.
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eines Kleinkindes erweckte oft wenig Bedauern bei Eltern und Angehörigen. Selbst das von Schleiermacher als natürlich ausgegebene Stillen des eigenen Kindes war bis ins 18. Jahrhundert in der städtischen Mittelschicht unüblich.⁴⁴ Erst in der Frühmoderne nahmen die (bürgerlichen) Frauen davon Abstand, ihre Säuglinge zu Ammen aufs Land zu schicken und übernahmen diese bis dato als vulgär geltende Aufgabe selbst. Damit ging zugleich eine Intensivierung der Mutter-Kind-Beziehung einher, die Kinderpflegebedingungen besserten sich und die Kindersterblichkeit sank rapide. Die historisch für einen langen Zeitraum zu beobachtende emotionale Reserviertheit gegenüber den eigenen Kindern hatte sicherlich mit der hohen Kindermortalität zu tun. Sich emotional stark an ein Kind zu binden, das mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit früh sterben könnte, verbot sich aus psychohygienischen Gründen gewissermaßen von selbst.⁴⁵ Edward Shorter macht darauf aufmerksam, dass diese Erklärung allerdings einseitig ist. Die Kindersterblichkeit war nämlich auch deshalb so hoch, weil es die Eltern ihren Kindern mangels emotionaler Bindung massiv an Fürsorge fehlen ließen. Falsche Ernährung, schlechte Hygiene und nachlässige Aufsicht waren für mindestens ebenso viele Todesfälle verantwortlich, wie Epidemien und andere unausweichliche Schicksalsschläge.⁴⁶ Mütterlichkeit ist sehr wohl angeerbt, jedoch nicht natural, sondern sozialisatorisch. Die Erfahrungen mit den eigenen Eltern disponieren das eigene Fürsorgeverhalten,⁴⁷ welches nochmals eingestellt ist in das weiterreichende soziale Normgefüge.⁴⁸ Herrscht in diesem nur eine geringe Aufmerksamkeit für Kinder, so überrascht es kaum, wenn auch der Umgang der einzelnen Mutter mit ihrem Kind wenig bedeutungs- und emotionsgeladen ist.⁴⁹ Die gegenteiligen Zustände zeigt die Gegenwart: Kinder sind zu Heiligtümern avanciert, denen in bestimmten Hinsichten alle Aufmerksamkeit gilt, sodass Beobachtungen und Berichte von Mutterschaft ohne Mütterlichkeit frappieren. Auch wenn an diesem emotionalen Anspruch festgehalten wird, hat sich im Zuge des Feminismus und angrenzender Diskurse jedoch das Frauenbild geändert und um viele Aspekte außerhalb der Mütterlichkeit erweitert, sodass die paradoxe Situation eingetreten ist, dass man von jungen Müttern 12 Monate
Vgl. dazu Shorter, Wandel, 263 – 271 sowie Gillis, Mythos, 243 – 249. Auch das Verschicken von Kindern höheren Alters in andere Haushalte war Gang und Gäbe. So hatte auch Schleiermacher in seiner Stolper Zeit einen ‚Pensionair‘, von dem er in einem Brief 1802 berichtet. Vgl. Brief 1297, 71. Starben einer Familie von ihren 10 Kindern im Schnitt 2 bis 5 weg, so konnte dies kein Verlust von der Reichweite sein, den ein solches Unglück gegenwärtig haben würde. Vgl. Shorter, Wandel, 275 – 287. Vgl. Dux, Geschlecht, 182– 187. Vgl. Claessens, Familie, 122: „Alle Verhaltensweisen der Mutter oder des Vaters (bzw. der Dauerpflegepersonen) orientieren sich – meist unbewußt, mindestens unreflektiert – an kulturspezifischen Verhaltensregeln, also an Normen, hinter denen wiederum Werte als Grundregulative bestehen.“ Vgl. dazu auch Gillis, Mythos, 270: „Beim traditionellen [vormodernen – CR] Geburtsritual hatte die Zeit nach der Entbindung dazu gedient, Mutter und Kind symbolisch voneinander zu trennen und die Frau wieder ihrer Rolle als Ehefrau und Partnerin zuzuführen. Jetzt symbolisierte diese Zeit eine Fusion […]“ zwischen Mutter und Kind.
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lang die größte Hingabe an ihr Kind erwartet⁵⁰ und sodann die nötige Distanziertheit, das Kind an eine (temporäre) Pflegemutter oder Einrichtung zu geben, um sich wieder der Lohnarbeit und anderen Gestalten individualpointierter Selbstentfaltung zuzuwenden. Ähnlich wie das romantische Liebesparadigma steht auch das biedermeierliche Ideal der Mütterlichkeit zu einem lebensweltlichen Pragmatismus potentiell in Spannung und zum Individualitätsideal zwar in einem affirmativen, jedoch in einem sehr passungenauen Verhältnis.⁵¹ Elternschaft ist Ausdruck und Hindernis von Individualitätsentfaltung zugleich.⁵² Elternschaft ist eine kulturelle Aufgabe, welche sich an ein natürliches Verhältnis knüpft.⁵³ In Zeugung und Schwangerschaft beginnt der Vorgang der Werdung eines Menschen allererst; er ist mit der Geburt keineswegs abgeschlossen. Schleiermachers Konstruktion der Individualität als eines offenen Prozesses⁵⁴ gewinnt hier eine eigentümliche Schärfung. Nur durch die gleichermaßen leibliche und taktile,⁵⁵ wie emotionale und mentale Zuwendung seiner Eltern kann der Mensch seine wahre, ‚kulturelle Natur‘ ausbilden.⁵⁶ Das gegenwärtig in diversen Zusammenhängen hoch in
Rosemarie Nave-Herz zitiert eine Studie von 2011 nach der „[s]ogar 88 % der Bundesbürger […] der Ansicht [sind], ‚dass sich junge Mütter in den ersten zwölf Monaten voll und ganz um ihr Baby kümmern sollten‘“ (Nave-Herz, Familiensoziologie, 188). Hartmut Rosa erblickt in dieser Spannung noch ein Steigerungspotential für emotionale Aufladung der Familie. Unter der Geschlechterperspektive konstatiert er: „So wie Frauen ihren Platz in den kompetitiv-repulsiven Sozialsphären beanspruchen, pochen Männer auf emotionale Teilhabe an der Resonanzsphäre der Eltern-Kind-Beziehung. An der Vorstellung, dass die Familie insbesondere im Blick auf die Kinder einen paradigmatischen Resonanzhafen bilden soll, ändert dies jedoch nichts – im Gegenteil, es verstärkt sie noch.“ – Nämlich insofern, als nun von beiden Partnern die unwirtliche äußere Wettbewerbswelt erfahren wird und das Heim als ‚Resonanzhafen‘ aufgebaut werden kann (Rosa, Resonanz, 349). Vgl. dazu auch ChS Beil 65, §186. Die Familie wird hier als Paradigma für das Wechselbegründungsverhältnis von Individuum und Gemeinschaft (im Verbreitenden Handeln) pointiert. Vgl. zu dieser Figur auch Lüscher, Familienpolitik, 161. Detaillierter dazu s. o. I.4.1.3. Zur hohen Bedeutung frühkindlichen taktilen Resonanzerlebens für die Ausbildung weitergehender Resonanzfähigkeiten vgl. Rosa, Resonanz, 85 – 89. Der Umgang mit Kleinkindern zwingt fürsorgliche Eltern geradezu zu körperlichen Interaktionen, angefangen mit dem Halten des Säuglings. Hierin liegt ein großer Unterschied zu sonstigen sozialen Interaktionen, welche selbst im Falle von Partnerschaft, selten (so umfangreich) körperlich-taktil bestimmt sind, sondern eher verbalsprachlich und optisch. Zu Plessners Fassung der sich auch in anderen und früheren Sozialtheorien und Anthropologien findenden These von der Kultur als der (zweiten/wahren) Natur des Menschen vgl. Claessens, Familie, 79 – 86. Mit Dieter Claessens gesprochen, bilden Konzeption, ‚Soziabilisierung‘ und Sozialisation nichtüberspringbare Stufen auf dem Weg der Subjektwerdung. ‚Soziabilisierung‘ meint hierbei den basalen Vorgang, der eine weitere Sozialisation erst ermöglicht. Zunächst bedeutet dies eine ‚emotionale Fundierung‘ der Persönlichkeit, die bereits in der Beziehung zwischen Mutter und Säugling beginnt (ders., Familie, 79).Vgl. auch Bollnow, Geborgenheit, 13: „Es scheint so, als ob alles Vertrauen zur Welt im allgemeinen und zum Leben überhaupt ursprünglich im Vertrauen zu einem bestimmten bergenden und schützenden Menschen erfahren werden muß.“
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Konjunktur stehende Konzept der ‚Ganzheitlichkeit‘ hat an der Elternschaft mithin unmittelbaren Anhalt, was für ihr Sinnstiftungspotential mitentscheidend ist. Für seine christliche Ethik zieht Schleiermacher aus dieser Einsicht die Konsequenz, dass die geistige Ausbreitung des Christentums nicht über die leiblichen Dimensionen der Fortpflanzung und Fürsorge hinweggehen darf. Bedeutet der Anbruch des Reiches Gottes auf Erden eine Durchdringung der Natur durch den Geist, so findet dieser Vorgang sein Vorbild im familialen Leben.⁵⁷ Äußerlich institutionslogisch gedacht, liefert die familiale natürliche Verbreitung des Menschengeschlechts das ‚Material‘ – Schleiermacher spricht von ‚Organen‘ – für den geistigen Prozess.⁵⁸ Genauer betrachtet ist das Familienleben allerdings nicht bloß für die extensive Verbreitung des Christentums, sondern ebenso „für den gesammten intensiven Verbreitungsprozeß“ „von unersezlichem Werthe“.⁵⁹ Die Familie bereitet eben nicht nur auf das geistige und religiöse Leben vor, sondern ist selbst ein wichtiger (und bleibender) Ort für dessen Entfaltung. Wenn es geschieht, so ist es oft die Familie, in der Religion als bedeutungsvoll – oder zumindest dazugehörig – gelernt und erlebt wird.⁶⁰ Sind natürliche und geistige Prozesse so eng miteinander verwoben, lassen sich ‚Erzeugung‘ und ‚Erziehung‘ eigentlich gar nicht trennen. Genau das war Schleiermachers Meinung.⁶¹ Zwar erziehe auch das Umfeld mit,⁶² jedoch seien die Eltern
Vgl. ChS 338 [Hervorhebungen getilgt – CR]: „Die Geschlechtsgemeinschaft ist aber eine Natursache, die Naturbedingung des menschlichen Daseins auf der Erde, […] und in sofern von ihrer sittlichen Seite angesehen besonders und wesentlich dem verbreitenden Prozesse angehörig, die ursprüngliche Form desselben; denn sie producirt neue Verbindungen der Intelligenz mit der irdischen Materie in der Form des Organismus, auf welchen nachher alles andere Durchdrungenwerden des irdischen Stoffes durch die Vernunft beruht.“ In einer Randschrift von 1827 zur Philosophischen Ethik von 1812/13 fordert Schleiermacher entsprechend: „Die leibliche Fürsorge ist nichts Abzutrennendes; es darf nur besorgt werden in Beziehung auf das Geistige. Jedes Mißverhältniß aber zwischen diesen beiden Elementen ist unsittlich.“ (PhE 389). Vgl. ChS 330 – 332: Die ‚Verbreitung der christlichen Gesinnung‘ als Zweck des ‚verbreitenden Handelns der Kirche‘ setzt immer Persönlichkeiten voraus. „Wie wird uns nun aber die einzelne Persönlichkeit gegeben? Ihr Entstehen ist bedingt durch den Naturprozeß der Fortpflanzung. […] so muß auch dieser Naturprozeß fortgesezt werden; denn ohne das würde der Verbreitungsprozeß ein Ende finden, nicht weil er wirklich vollendet wäre, sondern weil es ihm an Organen fehlte.“ (ChS 331). ChS 354. Vgl. auch ChS 346 f: „Wenn also das Leben nach der Auferstehung als der Zustand der Vollendung angesehen werden soll: so darf keine Fortpflanzung mehr sein. Aber daraus folgt durchaus keine größere Heiligkeit des ehelosen Lebens in dieser unserer Ordnung der Dinge. Denn wenn wir hier der christlichen Ansicht treu bleiben und die Fortpflanzung auf die Verbreitung der Gesinnung beziehen: so ist diese Art der Ausbreitung des Christenthums ganz parallel der anderen, es durch die Mission mitzutheilen. […] es kann keine größere Heiligkeit sein, das Christenthum nicht zu verbreiten, indem kein Antheil genommen wird an der Fortpflanzung des menschlichen Geschlechts.“ Vgl. PhE 190 (Brouillon): „Die Religion wird in der Familie eingewurzelt und individualisirt […] Daher in den vorkirchlichen Zeiten die Religion auch aus Familien = patriarchalisch. Daher muß man überall dieser Anschauung nachgehn, den Familiencharakter von seiner religiösen Seite betrachten in Gefühl und in Darstellung.“ Vgl. religionspädagogisch weiterführend zum Thema Domsgen, Familie. Vgl. ChS 341.
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„offenbar dazu die nächsten und natürlichsten Organe.“⁶³ Die platonische Idee von der strikten Trennung der natürlichen Zeugung und der staatlich organisierten Erziehung⁶⁴ lehnte Schleiermacher ab.⁶⁵ Viel zu groß waren die Potentiale, die er für Eltern und Kinder in der Einheit der naturalen mit der geistigen Zusammengehörigkeit erblickte, und viel zu pragmatisch und liberal war sein Denken, als dass er eine solche Option überhaupt für praktikabel halten konnte.⁶⁶ Gegenwärtig hat sich das Postulat dieser Einheit nochmals verstärkt; Elternschaft verweist heute mehr denn je auf Familie. Durch die Verbreitung von Kontrazeptiva und die Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs sind bereits weit vor der Geburt Möglichkeiten der Entscheidung für oder gegen ein Kind gegeben. Wird ein Kind ausgetragen, so ist es für die meisten Zeitgenossen undenkbar, es zur Adoption freizugeben oder gar auszusetzen, was vormals durchaus anders war.⁶⁷ Der relativ abstrakte Akt einer frühzeitigen Embryonen- bzw. Fötustötung im Mutterleib scheint für viele eine geringere emotionale Herausforderung darzustellen, als der sinnenfällige Akt der Weggabe eines neugeborenen Kindes, von dem man sodann sein Leben lang weiß.⁶⁸ Wie sich die Scheidung als Negativkorrelat und Steigerungselement der Bedeutungsaufladung der Ehe interpretieren lässt,⁶⁹ bestätigt das Kontrafaktum ‚Abtreibung‘ bzw. der selbstgewählten ‚Kinderlosigkeit aus Verantwortung‘ die natural rückgebundenen Implikate des Familienideals im Negativ.⁷⁰ Der hohe emotionale
Vor der Taufe eines Säuglings bekennt Ferdinand in der Weihnachtsfeier: „Nicht in der Mutter allein oder in mir wohnt jetzt noch sein religiöses Gefühl, das in ihm noch nicht sein kann, sondern in uns allen, und aus uns allen muß er es sich dereinst zueignen.“ (W 510). ChS 341. Vgl. Pol 449a-466d. Vgl. dazu EP 359 – 361, Zitat 361: Platons Staat sei aus familienethischer Perspektive ein „aus Unwahrheit und Leidenschaft zusammengekünstelte[s] Gemeinwesen“, das vielleicht im kleinen Rahmen möglich wäre zu errichten, niemals allerdings in größeren Dimensionen. Vgl. dazu auch emphatisch BB 180 f: „Eine Frau, die empfangen hat, steht auf jeden Fall auf einer ganz unmittelbaren Weise unter der Obhut und Gewalt der unendlichen bildenden Natur. […] So ist, vom ersten Augenblik an, Selbstbildung und Erziehung Eins, […] ein kräftiges wechselwirkendes Leben gesezt, wo jeder Theil eigentlich nur sein selbst wahrzunehmen hat und übrigens die heilige Natur muß gewähren lassen.“ Vgl. Nave-Herz, Familiensoziologie, 85. Damit soll nicht bestritten werden, dass eine Abtreibung für die meisten Frauen ebenfalls eine enorme emotionale Belastung darstellt. S.o. II.3.3.2. Zum Paradoxon der ‚Kinderlosigkeit aus Liebe zum Kind‘, d. h. der Entscheidung gegen ein (weiteres) Kind, aus dem Anspruch, ihm bestmögliche Lebens-, Lern- und Versorgungsbedingungen schaffen zu müssen, vgl. Beck/Beck-Gernsheim, Chaos, 142– 144. Auch Beck-Gernsheim diagnostiziert, je planbarer die Elternschaft werde und je weiter die Pränataldiagnostik voranschreite, desto drückender werde die Verantwortung, die sich an die Entscheidung für ein Kind bindet, empfunden (dies., Chaos, 145 – 160). Zum Ineinander von Rationalität und Irrationalität bei der Entscheidung für oder gegen die Elternschaft vgl. Burkart, Entscheidung, bes. 249 – 257. Die Umstände, wie das Milieu der Entscheidungsperson(en), die Verfügbarkeit eines geeigneten Partners, die berufliche Situation und
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Anspruch an das familiale Leben erlaubt keine ‚Halbherzigkeiten‘ und erzwingt auf diese Weise ein umso stärkeres Negativkorrelat. Wer nicht die Chance sieht, voller Hingabe für ein Kind da zu sein, diesen Anspruch aber nicht relativieren will, dem bleibt nur die Option, kein Kind zu haben, d. h. – wenn es bereits empfangen wurde – es abzutreiben.
Kinder – Erfüllung und Belastung der Ehe In den Lucindebriefen schreibt die (wahrscheinlich unfruchtbare) Eleonore: […] ich weiß doch, daß es nichts ist mit dieser wunderlichen Ketzerei, […] als ob das schöne Band der Liebe sich erst dann in das heiligere einer wahren Ehe verwandelte, wenn die Liebenden sich als Vater und Mutter begrüßen. Auch im Uebermaaß der schönsten und würdigsten Freude sollte Niemand so etwas sagen.⁷¹
Die partnerschaftliche Liebe soll und kann vollkommen sein auch ohne durch ein gemeinsames Kind besiegelt zu sein, so die These hier.⁷² Schleiermacher gab sie zwar heraus, sah allerdings – selbst in seiner frühromantischen Zeit – schon einen engeren Zusammenhang zwischen romantischer Liebe und familialem Leben; wir erinnern uns an die Monologen: „Es bindet süße Liebe Mann und Frau, sie gehn den eignen Heerd sich zu erbaun. Wie eigne Wesen aus ihrer Liebe Schooß hervorgehn, […].“⁷³ Ähnlich, allerdings deutlich spröder im Ton äußert er sich in der Philosophischen Ethik dazu. Im Brouillon spricht er vom ‚ehelichen Beistand‘ und einer gemeinsamen Selbstwerdung, die sich in den Kindern ‚organisch‘ fortsetzt.⁷⁴ 1812/13 bezeichnet er die Ehe gar als ein „Zusammenleben für das gemeinsame Product“.⁷⁵ Die gemeinsame Aufgabe führt die Ehepartner weiter zusammen und schafft ihrer Liebe eine neue Ausdruckssphäre. Die These von der ehestabilisierenden Kraft der Intergenerativität kannte Schleiermacher bereits von Aristoteles.⁷⁶ Auch seiner Braut gegenüber betont er die
Kosten-Nutzen-Kalküle spielen nicht nur bei der Frage nach Elternschaft überhaupt, sondern auch bei der Entscheidung für die Kinderzahl eine erhebliche Rolle. L 204. Vgl. zum Wechselverweis von Liebe, Ehe und Elternschaft auch Simmel, Geschlechter, 130: „Wie die Liebe eine Konsequenz der Ehe war, bis die Ehe eine Konsequenz der Liebe wurde, so ist die Ehe ihrerseits eine Konsequenz der Produktion der nächsten Generation, bis die jetzige umgekehrte Verfassung eintrat.“ M 32, zur weiteren Zitation s.o. II.2.3 sowie II.3.2.3. Schon unter pragmatischem Gesichtspunkt musste Schleiermacher in Rechnung stellen, dass die Aufnahme einer Intimbeziehung fast immer mit der Potenz einer Kindszeugung versehen war. Von hier aus erklärt sich auch sein Plädoyer für eine rechtliche Aufwertung des Konkubinats im Gedankenheft von 1797 (G I, 6., 4– 7). Vgl. PhE 135. PhE 322. Vgl. AÜ 62: „Noch ein neues Band sind ihre Kinder; viel schwächer viel trennbarer ist die eheliche Verbindung wo diese ausbleiben, sie sind ein beiden zugehöriges gemeinschaftliches Gut und alles gemeinschaftliche vereinigt […].“
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Einheit von ehelicher und (stief‐)väterlicher Liebe.⁷⁷ In der Christlichen Sitte bildet – neben einem auch hier nicht zu leugnenden Liebesidealismus – die Einheit von Fortpflanzung und Fürsorge den harten Kern für seine Begründung der Ehe als einer unauflöslichen, offiziellen und monogamen.⁷⁸ Auch heute wird nicht selten in Erwartung eines gemeinsamen Kindes bzw. in Rücksicht auf bereits vorhandene Kinder geheiratet.⁷⁹ In Kindern mag sich eine Ehe erfüllen und konkretisieren. Zugleich stellen Kinder jedoch auch eine besondere Belastung für eine Paarbeziehung dar.⁸⁰ In ihren Ansprüchen an die Zeit, Kraft und Aufmerksamkeit ihrer Eltern sind besonders Kleinkinder tendenziell unersättlich. Damit belasten sie nicht nur ihre Eltern je persönlich,⁸¹ sondern gefährden auch deren Ehe, insofern diese nicht im gemeinsamen Projekt ‚Kind‘ aufgeht, sondern auch der qualitativen Zweisamkeit bedarf.⁸² Die Frucht und der gemeinsame Gegenstand der elterlichen Liebe zehrt an deren Beziehung zueinander bzw. droht sie auf eine Weise umzustellen, in der ihre dyadische (relative) Selbstgenügsamkeit aufgelöst wird. Die Liebe, welche schöpferisch geworden ist, kann ihres Geschöpfes wegen nicht mehr sie selbst bleiben; ihre Entäußerung bedeutet zugleich eine Negation ihrer selbst. Noch zugespitzter ließe sich die Parallele ziehen: Wie Gott durch seine Menschwerdung eine Selbstentfremdung bis hin zum (gottverlassenen) Tod am Kreuz vollzieht, so stirbt auch die partnerschaftliche Liebe an ihrer Entäußerung und muss in der Elternschaft und über diese hinaus als eine neue – und dennoch in Kontinuität zu der vorigen – ‚auferstehen‘.
Vgl. BB 157: „Hätte ich nun nur die lieben Wesen [sc. die Stiefkinder – CR] erst ganz unter meiner väterlichen Obhut; ich sehne mich danach eben wie nach Dir selbst, und ist nicht auch beides Eins und dasselbe?“ Vgl. dazu auch BB 186. Vgl. ChS Beil 69. 135. 137. Vgl. dazu Domsgen, Familie, 96; Hill/Kopp, Familiensoziologie, 149 sowie Spory, Familie, 80 – 82. Zu den riesigen Veränderungen des Alltags und des Selbstverständnisses, die durch ein Kind eintreten vgl. eindrücklich: Kaufmann, Mit Leib und Seele, 75 – 80. Vgl. auch Rössler, Grundlagen, 58: „Eine generelle und besonders wichtige Bedeutung hat dabei die Ambivalenz, die der eigenen Situation entgegengebracht wird: Der Hoffnung auf eine andere, neue, reichere Lebensform steht der Wunsch gegenüber, die bergende, vertraute Praxis nicht aufgeben und verlassen zu müssen.“ Vgl. illustrativ dazu auch Schleiermachers Mahnungen an seine Braut: „[…] daß Du Dich quälst mit den Kindern und Dir keine ordentliche Nachtruhe machst […] das ist ganz gegen die Ordnung der Natur, denn es steht nirgends geschrieben, daß sich die Mütter sollen von den Kindern ruiniren lassen […].“ (BB 238). „Höre, laß Dich von den Kindern nicht tyrannisiren, auch nicht wenn sie krank sind.“ (BB 369). Vgl. zu diesem Thema auch BB 263. Vgl. hierzu die Befunde bei Schulz u. a., Familienleben, 30 – 33: Je mehr Kinder vorhanden sind, umso mehr beklagen die Partner einen Mangel an Freiheit, außerfamilialen Kontaktmöglichkeiten, ökonomischer Potenz und Zeit füreinander. Vgl. auch Nave-Herz, Bedeutungswandel, 25 f.
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1.2 Blutsverwandtschaft und Wahlverwandtschaften Das Wissen um ein naturales Verwandtschaftsverhältnis führt gemeinhin einen sozialen und emotionalen Verbindlichkeitsanspruch mit sich. Gleichwohl ist persönliche Nähe keine biologische Selbstverständlichkeit, sondern sie verdankt sich v. a. sozialer Interaktion. Geistige Verwandtschaft hängt nicht an Blutsverwandtschaft und dennoch macht letztere das Erlebnis von ersterer wahrscheinlich. Die Familie lässt sich im Sinne dessen geradezu paradoxal als unfreiwillige Wahlverwandtschaft bzw. als prädeterminiertes Sozialgebilde beschreiben. Die sich hier auftuende produktive Spannungslage hat Schleiermacher vielfältig bedacht.
Das Als-ob unmittelbarer Zusammengehörigkeit Wer sich in einem Verwandtschaftsverhältnis zu einem anderen sieht, suggeriert eine unmittelbare Verbindung mit diesem. Ist jemand uns verwandt, so gehört er uns an, ohne dass es eines integrierenden Kontextes bedürfte.⁸³ Blutsverwandte, insbesondere direkte Vor- und Nachfahren, scheinen, selbst wenn wir sie überhaupt nicht persönlich kennen, auf eine eigentümlich bedeutsame Weise mit uns zu tun zu haben.⁸⁴ Und dieses Postulat gilt in gewisser Weise auch für Wahlverwandtschaften. Die Seelenverwandtschaft sagt sich los von der Kontingenz des Zusammentreffens und behauptet Einheit im Modus von Vorherbestimmtheit und Fügung auch und – vielleicht sogar besonders gern – gegen alle Umstände.⁸⁵ Das Postulat der Unmittelbarkeit war es, welches Schleiermacher die Verwandtschaft in religiösen Symbolisierungsvorgängen zugleich verdächtig machte.⁸⁶ So bestreitet er in der Glaubenslehre eine generelle Gotteskindschaft des Menschen.⁸⁷ Allein
Vgl. PhE 135: „Hier sind nun die Objecte [für den Trieb, jemandem seine organisierende Kraft zu leihen – CR] unmittelbar gegeben, die Glieder der Familie, sowol die natürlichen als die freiwilligen.“ (Mit freiwilligen Gliedern sind die Ehegatten gemeint). Zur Vorbildung dieses Gedanken bei Aristoteles vgl. AÜ 60: „Alle wechselseitigen Empfindungen scheinen also auf einer Gesellschaft zu beruhn, etwa mit Ausnahme derer der eigentlichen Freundschaft und derer welche aus der Blutsverwandtschaft entstehn. […] Die Blutsfreundschaft aber greift zwar viele Arten unter sich, doch scheinen alle von dem Verhältniß der Eltern gegen die Kinder abgeleitet zu seyn.“ Illustrative Beispiele hierzu sind vielfältig und literarisch oft verarbeitet: der Schreck und das Interesse, die ein Mann erlebt, als er erfährt, dass er in einer Jahre zurückliegenden Affäre ein Kind gezeugt hat; die Scham und der Selbstzweifel, die eine Frau treffen, als sie erfährt, dass ihr Urgroßvater in die Gräuel des ‚Dritten Reichs‘ verwickelt war, die umstürzende Einsicht eines Kindes, das gesagt bekommt, als Säugling von seinen Eltern adoptiert worden zu sein; usw. Detaillierter dazu s. o. II.3.2.1. Zu dieser Interpretation vgl. auch Spiegel, Theologie, 74– 76. Zur Höherschätzung der geistigen Wahlverwandtschaft im Gegenüber zur leiblichen Familie in der jesuanischen Verkündigung vgl. prominent Mk 3, 31– 35. Zu dieser Thematik besonders mit Blick auf die Christentumsgeschichte bis ins Mittelalter vgl. auch Gillis, Mythos, 48 – 56. Vgl. CG2, § 109.1, 193: „Unsere Bezeichnung [‚Rechtfertigung‘ – CR] […] ist ohnstreitig bestimmter, aber wenn gleich der Ausdrukk Kindschaft oder Adoption bei den Glaubenslehrern häufig vorkommt,
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im „wahren Glauben an den Erlöser“, der als Einziger die unmittelbare Sohnschaft Gottes des Vaters behaupten könne, werde der Mensch von Gott adoptiert.⁸⁸ Die ‚Christusbruderschaft‘ ist das unverzichtbare Pendant zur ‚Gotteskindschaft‘.⁸⁹ Erst durch seine Beziehung zum Erlöser wird der Mensch überhaupt eine Person im religiösen Sinne – eine wichtige Einschränkung der vielgescholtenen ‚conditio-humanaThese‘ der Prolegomena.⁹⁰ Ist diese Bedingung bewusst, so lässt sich auch produktiv mit dem Gedanken, Gottes Kind zu sein, operieren. Schleiermacher bleibt ganz im Bilde, wenn er seine Bestimmungen zur Heiligung anschließt. Wer einem Haushalt angehört, der ist zur ‚freien Mitthätigkeit‘ in diesem angehalten.⁹¹ Kinder müssen dazu allererst erzogen werden, was in religiöser Terminologie ‚Heiligung‘ heißt. Erlösung und Heiligung (des adoptierten Kindes) bedingen sich wechselseitig. „Denn eine göttliche Adoption ohne Sündenvergebung wäre nichtig, da die Strafwürdigkeit Furcht erzeugt, und diese Knechtschaft; und durch Sündenvergebung ohne Adoption wäre kein constantes Verhältniß zu Gott gesezt.“⁹² Unmittelbare Einigkeit produziert Unverbrüchlichkeit. Sozialverhältnisse neigen dazu, zu schwanken, besonders wenn sie emotional aufgeladen werden. Deshalb scheint es, auch und besonders im Sinne ebenjener Beziehungen zu sein, sie auf einer Ebene zu verankern, die ihnen selbst entzogen ist.⁹³ Die Individualitäten, welche sich
doch so wenig an dieser Stelle symbolisch [d. h. bekenntnishaft – CR], daß wir auf Schriftstellen zurükkweisen mußten, in denen er auf das bestimmteste und zwar in demselben Zusammenhang begründet ist.“ Vgl. CG2, § 109, 191 (Lehrsatz): „Daß Gott den sich Bekehrenden rechtfertigt, schließt in sich, daß er ihm die Sünden vergiebt, und ihn als ein Kind Gottes anerkennt. Diese Umänderung seines Verhältnisses zu Gott erfolgt aber nur, sofern der Mensch den wahren Glauben an den Erlöser hat.“ Vgl. CG2, § 109.2, 193 f: „[…] das Bewußtsein der Kindschaft Gottes ist […] dasselbe […] mit […] der Lebensgemeinschaft mit Christo. Daß jedoch dies nicht so zu verstehen ist, als ob die Sündenvergebung auch könne vor dem Glauben hergehn, sagt der Satz selbst; sondern nur so, daß sie eben so das Ende des alten Zustandes | aussagt wie die Buße, und die Kindschaft Gottes eben so den Charakter des neuen ausspricht wie der Glaube. Beides nun ist […] von der gesammten Thätigkeit Christi abhängig, drükkt aber doch unmittelbar und an sich nur das Verhältniß des Menschen zu Gott aus.“ Vgl. CG2, § 109.4, 200 f: „[…] da mit der Sündenvergebung und Kindschaft der Mensch ein Gegenstand des göttlichen Wohlgefallens und der göttlichen Liebe ist, daß er dieses nicht eher wird, als indem er Christum gläubig ergreift. Darin liegt aber keinesweges, daß er vorher ein Gegenstand des göttlichen Mißfallens oder Zornes sei, denn dergleichen giebt es nicht. Sondern der Ausdrukk ‚übersehen‘, dessen man sich an einer andern Stelle bedient, hat hier seinen eigentlichen Gebrauch, indem der Einzelne vorher für Gott | gar keine Person in dieser Hinsicht ist, sondern nur ein Theil der Masse, aus welcher erst durch die Fortwirkung des schöpferischen Actes, aus dem der Erlöser hervorging, Personen werden.“ Vgl. CG2, § 109.2, 195. CG2, § 109.2, 195. Vgl. dazu AAnm 24 f: „[…] man kann z. B. zu gewißen Zeiten weit heißer für einen Freund fühlen, als für einen Vater oder eine Mutter, dennoch wäre es sehr Unrecht, wenn man in einem aus sich selbst schwer zu entscheidenden Falle urtheilen wollte es sei also strafbarer gegen diesen Freund zu fehlen und ihm zu versagen, als seinen Eltern. […] Man sieht hieraus wie vortheilhaft es für eine jede gesellige Verbindung ist, daß man sich nicht gewöhne eine Handlung der Pflicht blos dem Zustand des jedes-
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sozialiter wechselseitig befruchten, aber auch abstoßen können, werden in der Familie als sich einer basalen Einheit verdankend gedacht.⁹⁴ Kind seiner Eltern zu sein ist eine Rückfallposition auf die man sich berufen kann, selbst wenn man sich zerstritten oder über Jahre aus den Augen verloren hat. Verwandtschaft stellt eine Objektivation für Sozialverhältnisse dar, die unter den anarchischen Verhältnissen reiner Neigungsbestimmtheit alle nicht belastbar wären; bzw. noch pointierter gesagt: gerade unter den Bedingungen der Wählbarkeit von Optionen in nahezu allen Lebenslagen gewinnen Sozialbeziehungen, die wir nicht gewählt haben, aber die wir – und die uns – im Gegenzug auch nicht abwählen können, eminent an Bedeutung.⁹⁵
Der Zusammenhang von naturaler Abstammung und sozialer Interaktion Bereits bei Aristoteles fand Schleiermacher den Gedanken, dass die besondere Qualität verwandtschaftlicher Beziehungen auch dadurch bedingt ist, dass Verwandte zumeist viel Umgang miteinander haben; je enger der Verwandtschaftsgrad, desto mehr.⁹⁶ Insbesondere Kleinkinder sorgen dadurch, dass sie viel Zuwendung und Fürsorge fordern, dafür, dass sie rasch zu einem bedeutsamen Teil der sozialen Gruppe werden.⁹⁷ Schleiermacher betont, dass es sich hierbei um ein fluides Ge-
maligen Gefühls gemäß zu verrichten, sondern immer dabei auf den ursprünglichen Gesichtspunkt des Ganzen zurükzugehn.“ Vgl. PhE 602: „Das Eigenthümliche, als das schlechthin Geschiedene, ist in der menschlichen Natur ursprünglich geeinigt mittelst der Abstammung durch Erzeugung; […] Indem das neue Leben in der Erzeugung als Theil eines schon vorhandenen entsteht, ist es offenbar nicht nur mit diesem ursprünglich verbunden, so daß es sich erst allmählig von ihm ablöset; sondern auch in jedem aus derselben Quelle entsprungenen geschwisterlichen Leben wiederholt sich dieselbe Abhängigkeit, ohnerachtet es auch zu einem eigenen eigenthümlichen wird. Daher Eltern und Kinder sowol als Geschwister […] unter sich in einem von jedem andern specifisch verschiedenen Verhältniß unmittelbarer Verständigung stehen, indem sie das Eigenthümliche auf ein Identisches unmittelbar zurückführen können. […] Die kindliche und brüderliche Verwandtschaft prägt sich aus vor aller eigentlich sittlichen Thätigkeit hergehend in der Aehnlichkeit und der Nachahmung.“ Vgl. zu dieser Einschätzung auch Hondrich, Dialektik, 304 f. Vgl. AÜ 61: „Alle diese [verwandtschaftlichen – CR] Verbindungen haben vor jeder andern auch noch viel Annehmlichkeiten und Vortheile voraus, welche aus dem beständigen bei einander seyn entstehn. […] Bei allen übrigen Verwandtschaften sind die gegenseitigen Empfindungen immer mit dem Grad der Verbindung in gehörigem Verhältniß.“ Vgl. zur Beschreibung dessen auch Tyrell, Interaktion, 370 f: „Für das Zugehörigwerden des Kleinkindes zu der (nunmehr) Familiengruppe gilt einerseits institutionell, daß es ‚kraft Geburt‘ dazugehört, gilt aber andererseits, daß es vor allem auch über eine […] Sondertypik von Interaktion […] in seiner Familie ‚seine Heimat‘ findet: nicht nur stimuliert der Säugling allenthalben Fürsorge, mütterliche Dienstleistungen und ‚Abhilfe‘, womit er ‚dafür sorgt‘, daß man ihn beständig als einen Dazugehörigen behandelt; ebenso sehr zieht er beständige (spielerische) interaktive Zuwendung auf sich, die ihn auch im interaktiven Geschehen der Familie zu einer ‚festen Größe‘ mit persönlichem Profil werden läßt.“ Bereits Erasmus von Rotterdam betont die große Bedeutung der Sozialität für die Emotionalität der Elternschaft: „… glaubst du denn, daß eine Amme alle Unannehmlichkeiten der Säuglingspflege so in den Hintergrund drängen kann wie die eigene Mutter, daß sie bei vollen Windeln,
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schehen handelt. So erscheine in bestimmten Phasen und Hinsichten die Familie als der Nukleus des sozialen Lebens schlechthin, in anderen hingegen trete sie zugunsten anderer Beziehungen zurück.⁹⁸ „[…] Allein dieses Schwanken ist nothwendig, weil es sonst […] keine sittliche Entwickelung des Maaßes geben könnte […].“⁹⁹ Sittlichkeit ist bedingt durch die Möglichkeit zur Abwägung und Gewichtung. Diese muss mithin auch die Basis ihrer Entwicklung – die Familie selbst – betreffen. Allein dadurch, dass Kinder sich von ihren Eltern lösen und selbst eine Familie gründen, sorgen sie für den Fortbestand ihrer Familien.¹⁰⁰ Und noch ein zweites steckt im Gedanken, dass sich selbst die naturale Abstammung hinsichtlich ihrer Bedeutung sozialer Prozesse verdankt; nämlich, welche Abstammungslinie und welcher Verwandtenkreis als bedeutsam eingestuft werden, ist eminent kulturbedingt.¹⁰¹ In den Hausstandspredigten fokussiert Schleiermacher noch einen anderen Aspekt des Zusammenspiels von Verwandtschaft und sozialer Interaktion. Wo große Nähe ist, da besteht auch Konfliktpotential. Besonders seine eigenen Schwächen in der Entwicklung des Kindes wiederzuentdecken und gespiegelt zu bekommen, ärgert.¹⁰² Zugleich aber müssen Eltern in ihren Kindern auch ‚tausend [angenehme] Ähnlichkeiten‘ entdecken, die zu ‚Einverständnis und Liebe‘ reizen.¹⁰³ Bei allem Stress und Ärger, den Kinder verursachen, wird die Rückbesinnung darauf, dass sie von einem selbst herrühren, milde und dankbar stimmen. Das Bewusstsein der Verwandtschaft erweist sich als ausgesprochen förderlich für das Bemühen umeinander, vielen Differenzen zum Trotz. beim Abhalten, beim Geschrei und bei Krankheiten die notwendige Sorgfalt aufbringt? Nur wenn sie ebenso liebt wie eine Mutter, wird sie um all das besorgt sein. Dann mag es aber dahin kommen, daß dein eigenes Kind dich weniger liebt; seine natürliche Liebe muss es dann zwischen | zwei Müttern aufteilen. Auch du wirst dich nicht mit der gleichen Liebe zu deinem Kind hingezogen fühlen, wenn es heranwachsend deinen Geboten nicht recht gehorchen will, und du wirst vielleicht in deiner Zuneigung kühler werden, wenn du mitansehen mußt, wie es seiner Amme nachgerät. Denn die erste Bedingung für alles Lernen ist die wechselseitige Liebe zwischen Lehrendem und Lernenden.“ (Erasmus von Rotterdam, Vertraute Gespräche, zit. n. Prokop, Mutterschaft, 182 f). Vgl. zur Thematik auch Giddens, Wandel, 109 – 111. Vgl. PhE 603. PhE 603. Detaillierter zu diesem Umschlag s.u. III.2.1.Einleitung. Vgl. dazu auch Hill/Kopp, Familiensoziologie, 13 – 19. Vgl. H 281: „Darum, ist es doch unvermeidlich unser Los, daß wir unsere eigene und verwandte Schwächen in unsern Kindern sich entwickeln sehen: so möchten wir auch die Kräfte sehen, die ihnen manchen Kampf erleichtern und manchen Sieg beschleunigen können […].“ Eine Erbitterung zwischen Kindern und ihren Eltern sieht Schleiermacher als das ‚Unnatürlichste‘ an. [Ehepartner müssen sich erst finden.] „Wie ist nun das alles zwischen Eltern und Kindern noch ganz anders! Das ganze Wesen der Kinder ist den Eltern auf das ursprünglichste verwandt und angehörig, tausend Ähnlichkeiten sprechen uns daraus an auf das auffallendste, und mit jeder solchen Entwicklung scheinen Einverständnis und Liebe sich mehren zu müssen. In der unmittelbarsten Nähe der Eltern wachsen die Kinder heran; der erste Blick des Kindes fällt auf das liebende Auge der Mutter; […] und je mehr die Kinder sich entfalten, um desto mehr müssen sie fühlen, wie ihnen alles von den Eltern und durch sie kommt.“ (H 272 [Hervorhebung getilgt – CR]).
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Bei seinen Bemühungen um seine Stiefkinder sehen wir, dass Schleiermacher die naturalen Implikate von Verwandtschaft weit herunterstimmen konnte. Getilgt hat er sie nicht. Bereits unmittelbar nach der Geburt ihres Sohnes Ehrenfried, dem der Tod des Ehemannes und Vaters kurz vorausgegangen war, schreibt Schleiermacher an seine spätere Frau, er wolle den Kindern ein Vater bzw. väterlicher Freund sein.¹⁰⁴ In fast jedem der Brautbriefe kommt Schleiermacher sodann auch auf die Kinder zu sprechen und signalisiert sein Interesse und seine Liebe für sie.¹⁰⁵ Er schreibt stets von ‚unseren Kindern‘¹⁰⁶ und rügt seine Braut sogar scherzhaft, „daß Du immer sagst: meine Kinder. Warte nur, Du böse Jette, wenn der Brief wird angekommen sein, in dem ich zuerst darüber klage, und Du thust es noch wieder, so spiele ich den Ehemann im voraus und verbiete des Dir förmlich.“¹⁰⁷ Er macht gleichwohl deutlich, dass seine väterliche Beziehung zu den Kindern ganz von seiner Liebe zu deren Mutter und von ihrem Placet abhängt.¹⁰⁸ So formulierte er es sodann auch verallgemeinernd in den Hausstandspredigten. ¹⁰⁹ Außerdem war ihr biologischer Vater in Schleiermachers Verhältnis zu seinen Stiefkindern mitpräsent.¹¹⁰ Dass er ‚bloß‘ sozialiter ihr Vater war, veranlasste Schleiermacher sogar an einer Briefstelle zu der Gegenbehauptung: „ich glaube kaum, daß der natürliche Vater einen so magischen Zug fühlen kann zu seinen
Vgl. BB 77– 79 sowie BB 82. Zur Fürsorglichkeit für seine Stiefkinder bei deren Krankheit vgl. BB 127. 228. Schleiermacher spricht auch schon früh Probleme an, besonders in Bezug auf die Erstgeborene, welche wohl einen schwierigen Charakter hatte. „Henriettens Hauptzug ist die Einfachheit nicht, wenn ich recht sehe; aber wir wollen schon so mit ihr leben, daß die Einheit in dieser Fülle heraustreten, daß alles fest werden soll und einträchtig bei einander wohnen.“ (BB 112. Zu genaueren Erziehungshinweisen vgl. BB 136). Vgl. BB 112. 132. 134 u. ö. Im Zusammenhang seiner Ausführungen, warum Schleiermacher mit Eleonore nie hätte so glücklich werden können wie mit Henriette, führt er auch den Punkt an, dass sie wahrscheinlich keine gemeinsamen Kinder hätten haben können. „[…] und ich war ganz darauf gefaßt und wollte gleich damit anfangen, die leere Stelle mit fremden Kindern zu besezen, aber wie hätte wol an fremden meine Seele je so hängen können, wie sie an unsern hängt.“ (BB 170). Schleiermacher meint hier seine Stiefkinder! BB 144 [Hervorhebung – CR]. Vgl. BB 112 f: „Ich hatte sonst gar keinen Sinn für kleine Kinder und verstand sie nicht; bei den unsrigen erst ist er mir aufgegangen, und dies Talent in mir ist eins mit unserer Liebe, ihre erste schöne Frucht, das eigne Glük, daß ich zugleich Verlobter geworden bin und Vater.“ Vgl. H 273 [Hervorhebung getilgt – CR]: „Und ebenso ist es auch verhältnismäßig unnatürlich, wenn sich die Kinder gegen andere Erwachsene erbittern, welche auf ihr Leben einwirken und an ihrer Entwicklung mitarbeiten. Denn wenn auch nicht von Natur ihnen ebenso verwandt, so sind sie ihnen doch von den Eltern gegeben; und wirken sie mit diesen zusammenstimmend, so sind sie mit in diesen heiligen Naturkreis hineingezogen, das Kind fühlt sich durch sie gefördert und unterstützt; und daraus muß eine Anhänglichkeit entstehen, die auch manches Versagen und manche Zumutung ertragen kann.“ Vgl. BB 113: „Findest Du es auch, wie Luise, daß ich Ehrenfried ähnlich bin in meinem Wesen mit den Kindern? ich glaube kaum, daß es anders sein kann; er redet zu mir durch die Kinder und zu ihnen durch mich, und wenn ich nicht so wäre, daß ich ihnen grade ihn ersezen könnte, so könnte ich doch auch nicht recht ihr Vater sein.“
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Entsprossenen […].“¹¹¹ Wir können dies als einen Hinweis darauf deuten, dass Schleiermacher hier eben doch einen Mangel zu kompensieren hatte.
Ausblick: Die hohe Bedeutung leiblicher Verwandtschaft Die Bedeutung naturaler Verwandtschaft ist kein modernes Phänomen; sie scheint sich in der Gegenwart allerdings verstärkt zu haben. Anders wäre der Aufwand, der bei der Entwicklung von assistierter Fertilisation betrieben wird und die starke quantitative Steigerung der Nutzung solcher Verfahren in den letzten Jahren kaum zu erklären.¹¹² Paare, bei denen dies nicht auf spontane Weise gelingen will, nehmen z.T. größte emotionale, gesundheitliche und finanzielle Belastungen auf sich, um ein Kind zu bekommen, das mit ihnen verwandt ist.¹¹³ Die popularisierten wissenschaftlichen Erkenntnisse von der weitreichenden – auch psychischen – Disposition eines Menschen durch sein Genom tragen das Ihrige zur Motivation dessen bei. Auch wenn Adoptiveltern und Paare, deren Kinder aus heterologer Insemination entstanden sind, gegenüber leiblichen Eltern rechtlich gleichgestellt sind, zeigen Untersuchungen, dass diese jenen Sachverhalt tendenziell gegenüber Dritten verheimlichen, eben weil er als Makel empfunden wird.¹¹⁴ Damit ist Judith Butlers Fazit zu den neueren Entwicklungen künstlicher und assistierter Fertilisation direkt widersprochen. Sie behauptet, […] es ließe sich sagen, dass Verwandtschaftsbeziehungen eine Grenze erreichen, an der die Unterscheidbarkeit von Verwandtschaft und Gemeinschaft in Frage gestellt wird […]. Sie stellen einen ‚Zusammenbruch‘ traditioneller Verwandtschaft dar, der […] den Stellenwert von biologischen und sexuellen Beziehungen aus der Definition von Verwandtschaft verdrängt […].¹¹⁵
Vielmehr scheint doch das Gegenteil der Fall zu sein. Selbst homosexuelle Paare, die Eltern werden wollen, versuchen über die Nutzung von Samenspenden, Leihmutterschaft o. a. zu erreichen, dass ihr Kind so weit wie möglich – d. h. wenigstens mit einem von ihnen – leiblich verwandt ist. Die Postmoderne hat die Hochschätzung der Bedeutung leiblicher Verwandtschaft mithin nicht überwunden, sondern kann ihr in einer nie zuvor möglich gewesenen Weise zur Realisation verhelfen; und das, wie wir gesehen haben, durchaus auch aus einsichtigen ethischen Gründen.
BB 157. Zu genaueren Zahlen vgl. Fuchs, Kinderwunsch, 166. Zu den psychischen Problemen und dem Wechselbad der Gefühle zwischen Hoffnung und Enttäuschung bei der Nutzung reproduktionsmedizinischer Techniken, ökonomischen Faktoren sowie zu den Abwägungsfragen der Nutzung von Ei- und Samenspenden und der damit einhergehenden pluralen Elternschaft vgl. Fuchs, Kinderwunsch sowie Klein, Das Geschäft. Vgl. dazu Kaufmann, Zukunft der Familie. Stabilität, 42. Butler, Macht, 208.
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2 Geistbasiert: inter- und intragenerationelle Beziehungen In einem Dreischritt wollen wir nun die geistig-soziale Seite des familialen Lebens fokussieren. Zunächst (1.) soll es uns um die Dynamiken des intergenerationellen Lebens zu tun sein, sodann (2.) geht es um die Geschwisterliebe als Paradigma tiefer Freundschaft und schließlich (3.) um das für jedwedes Sinnerleben mitentscheidende Moment der Gegenwärtigkeit. Hiermit wird der Überschritt zum IV. Hauptteil der Studie getan.
2.1 Selbstverbreitung und Selbstrelativierung Die menschliche Persönlichkeit ist keine Entität an sich.Vielmehr bildet und erhält sie sich in einem Prozess fortwährender Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt.¹¹⁶ An einen Aspekt knüpft sie an, hinsichtlich eines anderen zeigt sie sich reserviert; in einem Verhältnis geht sie auf, in einem anderen distanziert sie sich. Schleiermacher spricht in seinem Ethikkolleg von 1812/13 vom Ineinander aus ‚sich Sezen‘ und ‚sich Aufheben‘.¹¹⁷ Die Familie bringt er als herausragende Konkretionsgestalt für dieses paradoxale Wechselverhältnis in Stellung.¹¹⁸ Es lassen sich mindestens drei Dimensionen dessen beschreiben, die alle im Fortgang des Kapitels noch eingehender bedacht werden sollen. Zunächst ist das Entstehen der Familie im Zeugungsakt zu nennen. In ihm heben sich zwei Personen auf, indem sie (momentan) zu einer Einheit verschmelzen. Diese Liebeseinheit dokumentiert sich in der Hervorbringung einer neuen Einheit, die sich als eigene Persönlichkeit der Exklusivität dieses Verweisungszusammenhangs allerdings wiederum tendenziell entzieht.¹¹⁹ Kategorial hierzu s.o. I.3.2 sowie I.4.1. Vgl. PhE 271: „§ 55. Da die Persönlichkeit, indem sie sich sezt, dieses mit ihrem ganzen Wesen thut, also auch mit ihrer Tendenz sich aufzuheben, und indem sie sich aufhebt, dies thut mit ihrer Tendenz sich zu sezen, so muß jedes Sezen ein aufhebendes Sezen und jedes Aufheben ein sezendes Aufheben sein. Also auch das ganze Gebiet gemeinschaftlicher Besiz und besessene Gemeinschaft, alles Eigenthum gesellig und alle Geselligkeit Eigenthum bildend, alles Erkennen sprachbildend, alle Sprache Erkenntniß bildend, alle Gemüthsbildung darstellend und alle Darstellung gemüthsbewegend.“ Vgl. PhE 272: „§ 60. In der Familie und durch sie ist alles in §55 Geforderte wirklich gesezt.“ Vgl. PhE 272 (1812/13): „§59. Die Persönlichkeit ist Resultat des ethischen Prozesses als Erzeugung in der Gemeinschaft der Geschlechter, und in dieser ist die ursprüngliche Identität von Sezen und Aufheben der Persönlichkeit.“ Vgl. zu diesem Gedanken auch Hegel, GPhR, §173 [Hervorhebungen getilgt – CR]: „In den Kindern wird die Einheit der Ehe, welche als substantiell nur Innigkeit und Gesinnung, als existierend aber in den beiden Subjekten gesondert ist, als Einheit selbst eine für sich seiende Existenz und Gegenstand, den sie als ihre Liebe, als ihr substantielles Dasein, lieben. – Der natürlichen Seite nach wird die Voraussetzung unmittelbar vorhandenen Personen, – als Eltern, – hier zum Resultate, – ein Fortgang, der sich in den unendlichen Progreß der sich erzeugenden und voraussetzenden Geschlechter verläuft, – die Weise, wie in der endlichen Natürlichkeit der einfache Geist
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Sodann ist das Bestehen der Familie anzuführen. Der ‚Familiengeist‘ existiert, wie alles Lebendige, nur im Vollzug.¹²⁰ Dieser Vollzug besteht in dem Wechselspiel des Einzelnen in der Familie zwischen einem darin „verschwinden und sich daraus wieder herstellen.“¹²¹ Die Einzelnen, besonders die Eltern, sehen von sich selbst ab zugunsten der anderen – zumeist der Kinder oder der pflegebedürftigen eigenen Eltern; erlangen in dieser Selbstaufgabe allerdings zugleich wiederum Bestimmtheit und Sinn.¹²² Andersherum gewendet bedeutet die Reziprozität von Familiengeist und Selbstsein: die höhere Einheit ‚Familie‘ – Schleiermacher spricht an einer anderen Stelle vom ‚Familiencharakter‘¹²³ – integriert die Vorgänge von Abgrenzung und Definition der eigenen Person im Gegenüber zu den anderen Familiengliedern. Schließlich offenbart sich das produktive Wechselverhältnis des ‚setzenden Aufhebens‘ angesichts des unausweichlichen biologischen Ausdünnens der Familie. Was es in Bezug auf die Familie bedeutet, dass „alles Eigenthum gesellig und alle Geselligkeit Eigenthum bildend“¹²⁴ ist, zeigt sich besonders prägnant anhand des Todes eines Familiengliedes. Mit seiner Familie steht der Einzelne nicht bloß zu Lebzeiten in einer Zugewinngemeinschaft. Auch sein Tod stiftet eine Gemeinschaft, insofern er als Erblasser eine Erbengemeinschaft setzt.¹²⁵ Das Aufheben des Lebens des Einzelnen setzt eine besondere Form der Gemeinschaft unter seinen Hinterbliebenen, mitsamt der entsprechend etwaigen Negativgestalt, dem Erbschaftsstreit. Dies gilt nicht nur in ökonomischer Hinsicht, sondern auch in ideeller und sozialer. Die am Sarg für den Einzelnen vorgenommene Lebensbilanz kann auch von diesem selbst in Gestalt von
der Penaten seine Existenz als Gattung darstellt.“ In sachlicher Erläuterung dazu vgl. auch prägnant Allert, Familie, 251 [Hervorhebung getilgt]: „Die Existenz des Dritten […] ist […] die Dokumentation bzw. Objektivation der Selbstgenügsamkeit [im Sexualakt des Paares – CR] ebenso wie deren latente Infragestellung. In der dichten Formulierung Simmels, der hierbei an das leibliche Kind denkt, handelt es sich um eine Dimension, die vom gattungsmäßigen Leben her die Liebe anschattet: mit ihr hat dieses Leben sich selbst transzendiert, hat aus eigenen Kräften die Untreue gegen sich selbst geboren (…).‘“ Vgl. PhE 138 (Brouillon): „Alles wird nur auf die Lebensdauer gebildet […] und das absolut Beharrliche geht gar nicht eigentlich in die Bildungssphäre herein […].“ PhE 139. Schon hinsichtlich des Geschlechtsverhältnisses haben wir gesehen: sich auf einen Partner einzulassen, bedeutet auch, dessen Grenzen anzuerkennen und sich entsprechend selbst entlang dieser Grenzen einzuschränken (s.o. II.3.1.3; II.3.1.4 sowie II.3.2.3). Die hohen Sinnzuschreibungen, die an Liebesbeziehungen gemacht werden, lassen sich unter dieser Ägide vielleicht z.T. auch als eine ‚Flucht nach vorn‘ interpretieren: Wenn etwas Opfer fordert, so muss es diese auch wert sein. Noch deutlicher wird dies wohl mit Blick auf die Intergenerativität, denn die Einschränkung der eigenen Selbstentfaltungsmöglichkeiten ist durch die Verantwortung für Kinder, alte und kranke Familienmitglieder deutlich größer und reicht weit über den vielbeachteten Aspekt der Karriereentsagung hinaus. Vgl. PhE 327. PhE 271. Vgl. dazu auch Lettke, Vererbungsabsichten, 98.
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testamentarischen Verfügungen antizipiert werden, wobei er bestehende Beziehungen und Verhältnisse bekräftigen kann oder auch versuchen kann, sie zu korrigieren.¹²⁶ Die Spannung von Selbstverbreitung und Selbstrelativierung, die sich angesichts der Verantwortungsübernahme für ein Kind einstellt, lässt sich auch exemplifizieren anhand Schleiermachers Gedanken zur Kindertaufe, die wir in der Nachschrift einer Taufansprache von 1825 finden.¹²⁷ Durch die Taufe werden Säuglinge in die kirchliche Gemeinschaft aufgenommen. Einer Gemeinschaft anzugehören, bringt Rechte und Pflichten mit sich. Rechte räumen wir unseren Kindern nur allzu gern ein. Sie sollen sich frei aus der Fülle dessen, was wir ihnen zu bieten haben, entwickeln können.¹²⁸ Hier zeigt sich die durch und durch produktive Seite der Selbstverbreitung. In einer Gemeinschaft zu stehen bringt allerdings auch Pflichten mit sich. Im Folgenden der Predigt wendet sich Schleiermacher sodann der Frage zu: „Aber wie kommen wir dazu, ihnen auch Verpflichtungen aufzulegen, ja in ihrem Namen die Erfüllung derselben zu versprechen?“¹²⁹ Er kommt zu dem Schluss, dass wir dies allein aus der Hoffnung tun können, dass unser Glaube auch in ihnen Wurzeln schlage; dass die geistige und geistliche Erziehung gelingt.¹³⁰ Hier wird das Moment der Relativierung unserer selbst und unserer Handlungsmacht angesichts der nachfolgenden Generation sehr deutlich. Um etwas von sich selbst weiterzugeben, genügt es nicht, seinen Samen so weit wie möglich zu streuen, sondern es bedarf v. a. der intensiven Zuwendung zum einzelnen Kind – darauf hat Schleiermacher, wie wir noch genauer sehen werden, eindringlich aufmerksam gemacht. Solches ist allerdings nur möglich bei einer relativ kleinen Zahl an Kindern. Die beobachtbare Reduktion der Kinderzahl in der Moderne im Gegenüber zu früheren Zeiten lässt sich von hier aus interpretieren als Ausdruck ebenjenes Bewusstseins. Der Geburtenrückgang wäre mithin kein Ausdruck von Kinderfeindlichkeit, sondern, im Gegenteil, von Wertschätzung der Kinder.¹³¹
Vgl. dazu auch Lettke,Vererbungsabsichten, 99.Weniger ernst äußert sich Schleiermacher in einer frühen Notiz zum Thema: „Das Testamentmachen ist Weihnachtsbescheren am Ende des Lebens.“ (G I, 58., 19). Vgl. P 8, 752– 754. Vgl. P 8, 752: „[…] wer eilt nicht gern, seinen Kindern Rechte, von welcher Art sie auch seyen, zuzusichern, deren Gebrauch in der Folge ihnen heilsam und ersprießlich seyn kann, deren Nichtgebrauch aber immer in ihrer Gewalt bleibt!“ P 8, 752. Vgl. P 8, 753. Vgl. dazu auch CG² § 138, 373: „Die Kindertaufe ist nur eine vollständige Taufe, wenn man das nach vollendetem Unterricht hinzukommende Glaubensbekenntniß als den lezten dazu noch gehörigen Act ansieht.“ Vgl. hierzu Nave-Herz, Bedeutungswandel, 24 sowie Schulz u. a., Familienleben, 54.
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Einführung der Unterkapitel Die Entwicklungsdynamiken und Sinnstiftungspotentiale des intergenerativen Lebens wollen wir im Folgenden in einem Dreischritt explizieren, den Schleiermacher selbst in seinem Brouillon zur Ethik vorgegeben hat: Auch die Familie selbst aber, die für den Einzelnen den Widerspruch zwischen Zeit und Ewigkeit auflöst, fällt selbst in die Zeit als ein Werdendes. Die Liebe ist ihr Gebiet, die Zeit der Erziehung ist ihr Culminationspunkt, die Manumission aller Kinder ihr Tod. […] Alsdann [wenn der ‚Familiengeist‘ überdauert – CR] werden die Eltern zulezt Laren, heilige Reliquien aus der alten Familie in der neuen.¹³²
Zunächst (1.) wenden wir uns dem Gedanken der Selbstverewigung in den Nachkommen zu, der im Zitat eine Klammer bildet. Sodann (2.) betrachten wir den ‚Culminationspunkt‘ des familialen Lebens, die Dynamiken der Erziehung in ihrem Wechselspiel aus selbstloser Liebe und sorglichen Anforderungen; aus Weitergabe des Eigenen und Förderung dessen, was sich als das dem Kind Eigene herauskristallisiert; aus Würdigung des Bestehenden und Tendenz zur Überschreitung dessen. Schließlich (3.) geht es um den ‚Tod der Familie‘, der zugleich ihre Erfüllung ist: das Heraustreten der Kinder aus ihrer Herkunftsfamilie und die Fortschreibung derselben durch ihre eigene Familiengründung; das Mündigwerden der Jüngeren, dem teilweise sogar noch eine Tendenz zur Unmündigkeit der scheidenden Generation in Krankheit und Hinfälligkeit entspricht.
2.1.1 Selbsttranszendierung im Kind ‚In meinen Kindern werde ich weiterleben.‘ Diese Hoffnung wird von vielen Eltern angesichts ihrer eigenen Endlichkeit formuliert.¹³³ Oft bewegt sie sich in einer eigentümlichen Schwebelage zwischen lebensweltlicher Konkretion und eschatologischer Vagheit. Welche Implikationen sie hat – oder haben kann – wollen wir im Folgenden entfalten.
PhE 138. Dasselbe gilt für Großeltern. Vgl. dazu Herlyn u. a., Großmutterschaft, 82: 80 % der hier befragten Großmütter meinten in ihren Enkeln weiterzuleben und 69 % gaben an, eigene Lebensauffassungen an ihre Enkel weiterzugeben. Ebd., 107: „Die Bedeutung der Großmutterschaft für die Großmütter ist […] vorab festgelegt und wird in einer latenten Erwartungshaltung in die Situation miteingebracht. Während, wie wir ermittelten, die reale Ausgestaltung stark von den gegenwärtig objektiven Bedingungen abhängt, bleibt z. B. die ideelle Bedeutung, die Großmutterschaft für Großmütter hat, relativ unberührt von den Möglichkeiten ihrer realen Ausgestaltung. Es findet auf der ideellen Ebene kaum eine Verschiebung oder Neubewertung der Relevanzbereiche statt.“
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Das Kind als Manifestation der elterlichen Liebe Niemand kann sich allein Nachkommen schaffen, sondern es bedarf hierzu immer zweier Personen, die einander – im Regelfall – in Liebe zugetan sind. Mit Blick auf die Zeugung legt sich mithin zunächst die romantische Perspektivnahme nahe, dass ein Kind weniger die Frucht oder gar Fortsetzung des individuell-eigenen Lebens ist, als vielmehr die Objektivation der partnerschaftlichen Liebe. Wir haben den Gedanken vom ‚momentanen Einswerden des Bewusstseins‘ und ‚permanenten Einswerden des Lebens‘ bereits oben beschrieben¹³⁴ und können uns daher hier auf eine Folgerung beschränken, die Schleiermacher in den Trostbriefen an seine spätere Braut zieht. Er schreibt: Ohne daß Dein Schmerz jemals verginge, wirst Du zu herrlichen Freuden wieder aufleben in Deinen Kindern. Der Sohn, die schöne Ostergabe, wird Dir den Verklärten darstellen; Du wirst sein Bild in ihm gestalten und immer schöner herauslokken, und so wird es denn Dein Wittwenstand sein, dasselbe mütterlich zu pflegen und zu schüzen, was Du bräutlich liebst und heilig hältst.¹³⁵ Glaube mir, der schöne Einklang zwischen Deinem und Ehrenfrieds Gemüth, das ganze Glükk Eurer Ehe, sie währt ja noch immer fort, wird sich in ihnen [sc. den Kindern – CR] auf das schönste abspiegeln, man wird überall Euch Beide wieder finden in einer schönen Eigenthümlichkeit verknüpft.¹³⁶
Kinder stehen bleibend in einem Verhältnis zur Beziehung ihrer Eltern zueinander. Selbst wenn ein Partner bereits gegangen ist oder die partnerschaftliche Liebe erloschen ist, zeigen Kinder durch ihre bloße Existenz an, dass es einmal anders war und tragen dies fort. Je nach gegenwärtigem Beziehungsstatus kann es erfreulich, tröstlich, oder aber irritierend und schmerzlich sein, durch sein Kind immer auch an seinen (früheren) Partner miterinnert zu werden. Im besten Falle erblickt man etwas, das man am Partner liebt, im Kind wieder und kann es in ihm auf eine eigene Art fördern.
Anteilhabe an der Zukunft durch Kinder Ein Kind motiviert den Blick zurück; viel mehr aber motiviert es den Blick nach vorn. Anhand der Antizipation seiner Entwicklung lässt sich weit in die Zukunft ausgreifen, ohne den Boden der Konkretion und den Rahmen einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu verlassen. Anders als die religiöse Eschatologie muss sich die ‚familiale Eschatologie‘ nicht letzten Endes eingestehen, in eine ‚Nacht der Bildlosigkeit‘¹³⁷ zu blicken. Im Spiel der Wünsche und Ahnungen, die man einem Kind beilegt, mischt sich der Übermut der Phantasie mit prophetischem Bedacht. Wichtige Lebensstationen, die man selbst genommen hat, wird auch das Kind einst nehmen. Es wird lernen und arbeiten, lieben und an Grenzen stoßen. Wie sich all dies genau gestalten wird, lässt
S.o. II.1.2 sowie III.1.1. BB 78. Vgl. zur Thematik auch BB 82. BB 92. Zu diesem Zentralbegriff seiner eigenen Eschatologie vgl. Hirsch, Wesen, 174.
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sich zwar gedanklich ausmalen; es kann aber zugleich erwartungsvoll der Zukunft anheimgestellt werden. In der Weihnachtsfeier verdeutlicht Schleiermacher diese Dynamiken anhand einer Erzählung über die Vorbereitungen einer Kindstaufe und die Beschenkung desselben mit allerhand zukunftsträchtigen Dingen.¹³⁸ In den Hausstandspredigten betont Schleiermacher in ganz ähnlicher Weise, dass der Glaube des Menschen nicht ohne Vorstellungen auskommt.¹³⁹ So kann sich auch die gelebte Religion in ihren Zukunftserwartungen der Konkretionen nicht vollends entschlagen. Um bei der – in jedem Fall guten und sinnvollen – Hoffnung auf bessere Zeiten gleichwohl nicht in leere Spekulationen zu verfallen, empfiehlt der Prediger, auf die eigenen Kinder zu blicken: „Aber wie können wir die Zukunft schauen als nur in unseren Kindern? Sie sind uns die Nächsten, denen wir ein Erbe beilegen können in einer besseren Ordnung der Dinge.“¹⁴⁰ Auch für das je individuelle Leben stiften Kinder eine Hoffnungsperspektive. In Zeiten großer gesellschaftlicher Wandlungen, hoher Scheidungsraten oder angesichts eines drohenden Abscheidens des Partners vor dem eigenen Tod, vermitteln Kinder die Zuversicht, in ihnen Menschen zu haben, denen man sein Leben lang emotional verbunden ist.¹⁴¹ So sehr ihre Entwicklung auch im Zeichen des Wandels stehen mag, vermittelt die Verbundenheit mit ihnen doch eine Kontinuität, die in anderen Zusammenhängen kaum erwartbar ist. Die Bedeutungsreichweite dieser durch die Kinder gegebenen Perspektive für das eigene Leben zeigt sich auch im Negativ. Frieren sie den Kontakt zu den Eltern ein, so übersteigt dieser Verlust wahrscheinlich das Zerbrechen einer Freundschaft um einiges und lässt sich auch über die Jahre hinweg kaum verwinden. Am schwersten aber wiegt der Tod eines Kindes. Mit ihm tragen die Eltern auch ihre eigene Zukunft zu Grabe. Trost zu finden und eine neue Perspektive zu entwickeln, ist bei einem solchen Schicksalsschlag nur schwer möglich.¹⁴² Mit der Fassung ringend spricht Schleiermacher am Sarg seines Sohnes Nathanael 1829: […] manche schwere Wolke ist über das Leben gezogen, – aber was von Außen kam, hat der Glaube überwunden, was von Innen, hat die Liebe gutgemacht: nun aber hat dieser Eine Schlag, der erste in seiner Art, das Leben in seinen Wurzeln erschüttert. […] Diese mir über Alles wichtige Aufgabe für mein ganzes übriges Leben, [den Sohn zu erziehen und zu unterstützen, – CR] an der mein Herz mit voller Liebe hing, ist nun unaufgelöst durchstrichen, das freundlich erquickende
Vgl.W 509: „Scherz und Ernst war darin wunderlich gemischt, wie es bei jeder Vergegenwärtigung der Zukunft nicht anders sein kann.“ Unter den Geschenken waren „Kleidungsstücke[…] für seine Knabenjahre nicht nur, sondern gar für seinen Hochzeitstag […]; zierliches Papier, worauf er den ersten Brief an ein geliebtes Mädchen schreiben sollte; Lehrbücher für die Anfangsgründe in allerlei Sprachen und Wissenschaften, auch eine Bibel […]. Viel wurde gelacht und gescherzt, aber Luise behauptete ganz ernsthaft, […] sehe sie ihn doch nun ganz lebendig und mit bestimmter Gestalt und Zügen gewiß echt prophetisch in allen Zeiten und Verhältnissen vor sich, auf welche die Geschenke hindeuteten.“ Vgl. hierzu H 281. H 281. Vgl. dazu Burkart/Kohli, Liebe, 181 sowie Bertram, Sicherheit, 96 – 112. Zur Thematik vgl. auch Rosa, Resonanz, 350 f.
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Lebensbild ist plötzlich zerstört, und alle Hoffnungen, die auf ihm ruhten, liegen hier und sollen eingesenkt werden mit diesem Sarge! Was soll ich sagen?¹⁴³
Erdgebundener Ewigkeitssinn „Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.“¹⁴⁴ Nicht zufällig wählt der Evangelist Lukas in seinem narrativen Plädoyer für die Jesus-Nachfolge Beispiele aus dem familialen Leben, um deren Hinderungsgründe anzuzeigen: der eine will zuvor noch seinen Vater begraben, der andere sich von seinen Angehörigen verabschieden. Nichts bindet den Menschen so stark an die Welt, wie Liebe, Ehe und Elternschaft; und nichts sperrt sich dem religiösen Ewigkeitssinn mithin so stark, wie der Familiensinn.¹⁴⁵ Entsprechend kann die Religion den Menschen, der sein Leben in der Welt liebt, angesichts seines eigenen Abscheidens aus dieser auch kaum trösten – was er liebt, will sie ja gerade überwinden. In seinen frühen Anmerkungen zu Aristoteles schreibt Schleiermacher, Religion und Moral könnten dem Sterbenden zwar Hoffnung geben, „[…] allein wenn er die Menschen würklich liebt, und nur ungern das System, welches er zu ihrem Besten befolgte nach und nach aufhören sieht, so bleibt ihm immer ein desto unangenehmeres Gefühl übrig, je tugendhafter er würklich war, und nichts kann ihn trösten […].“¹⁴⁶ Einzig „die Hofnung noch in künftigen Generationen seinen Geist fortwirken zu sehn“, kann ihn selig sterben lassen.¹⁴⁷ Nicht allein das Interesse an der Welt, sondern auch das Eigeninteresse der Person sperrt sich dem religiösen Ewigkeitsgedanken, wie Schleiermacher ihn fasst. Wir haben es oben bereits thematisiert: eine Unsterblichkeit der Person konnte es für ihn in religiöser Hinsicht nicht geben, sondern allein in sozialer.¹⁴⁸ Bezeichnet er ein ewiges Fortbestehen-Wollen als Person in den Reden als irreligiös,¹⁴⁹ so preist er die wechselseitige Selbstoffenbarung in den Monologen als den sichersten Weg, sich ein unzerstörbares Andenken zu verschaffen.¹⁵⁰
P 11, 508 f. Lk 9, 62. Vgl. zu dieser Einschätzung auch Hirsch, Hauptfragen, 248. AAnm 6. AAnm 7. S.o. II.3.1.Einleitung. Vgl. R 246: „Was aber die Unsterblichkeit betrifft, so kann ich nicht bergen, die Art, wie die meisten Menschen sie nehmen und ihre Sehnsucht darnach ist ganz irreligiös, dem Geist der Religion gerade zuwider, ihr Wunsch hat keinen andern Grund, als die Abneigung gegen das was das Ziel der Religion ist. Erinnert Euch wie in ihr alles darauf hinstrebt, daß die scharf abgeschnittnen Umriße unsrer Persönlichkeit sich erweitern und sich allmählich verlieren sollen ins Unendliche[…]; sie aber sträuben sich gegen das Unendliche, sie wollen nicht hinaus, sie wollen nichts sein als sie selbst, und sind ängstlich besorgt um ihre Individualität.“ Vgl. aus der Darbietung der Monologen (M 5): „Keine köstlichere Gabe vermag der Mensch dem Menschen anzubieten, als wa[s] er im Innersten des Gemüthes zu sich selbst geredet hat: denn sie gewährt ihm das Größte was es giebt, in ein freies Wesen den offenen ungestörten Blik. Keine ist
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Etwas milder äußert er sich später in der Psychologie, wo er den Gründen für den Unsterblichkeitsglauben nachgeht und ihm durchaus einen Platz in der Religion anweisen kann. Seine (wenig originäre) These lautet hier, die Vorstellung von der Fortdauer des Individuums nach dem Tod gründe im überlebenswichtigen Selbsterhaltungstrieb des Menschen, stelle allerdings eine Übersteigerung dessen dar.¹⁵¹ Der Familiensinn kann Schleiermacher als eine der sublimierteren Gestalten dieses übersteigerten Selbsterhaltungstriebes gelten, weil er nicht allein auf das Subjekt geht, sondern bereits sozial über dieses hinausweist¹⁵² – dazu sogleich mehr. Auch in der Glaubenslehre nähert er sich dem Gedanken von der Unsterblichkeit der Person an.¹⁵³ Er beziehe sein Recht aus dem „Glauben an die Unveränderlichkeit der Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur in der Person Christi“.¹⁵⁴ Von der Soteriologie her ist eine Aneignung dessen, was für Christus gilt, durch den Glaubenden vorgezeichnet, sodass diese auch in diesem Falle naheliegend sei; jedoch nicht zwingend, wie Schleiermacher betont. Er hält mithin an seiner Betonung der Vagheit von Auskünften über ein Leben nach dem Tode und seiner Universalisierungsthese aus den Reden prinzipiell fest, ist jedoch in seiner Ablehnung des eschatologischen Personalitätsgedankens nicht mehr so scharf, wie in jungen Jahren.
Familiengeist Wie der ‚Heilige Geist‘ als das Kommunikationsprinzip religiöser Güter gilt, so kann der ‚Familiengeist‘ als Voraussetzung für die Zu- und Aneignung des personalen Gedächtnisses gelten; und auch letzterer ‚weht, wo er will‘.¹⁵⁵ Schleiermacher unterscheidet in der Philosophischen Ethik von 1812/13 zwei ‚Familiencharaktere‘, den ‚demokratischen‘ und den ‚aristokratischen‘.¹⁵⁶ In ersterem dominiert die je persönliche
beständiger: denn nichts zerstört Dir den Genuß, den einmal Dir das Anschaun gewährt hat, und die innere Wahrheit sichert ihr Deine Liebe, daß Du sie gern wieder betrachtest. Keine bewahrst Du sicherer gegen fremde Lust und Tüke: denn sie ist nicht mit irgend einem Nebenwerk umgeben, das etwa anders gebraucht und mißbraucht werden könnte […].“ Vgl. Psy 38 – 42. Vgl. Psy 32– 36. Vgl. CG², §158, 458 – 465. CG², §158, 458 f. Natürlich lassen sich ebenso, wie in religiöser Hinsicht, Konstellationen identifizieren, die sein Auftreten wahrscheinlich machen; es bleiben jedoch Kontingenzen. Vgl. dazu PhE 330 [Hervorhebung – CR]: „§ 56. Die erscheinende Unsterblichkeit des Einzelnen in der Familie ist das unbestimmte Wiedererscheinen desselben Typus in ihren Generationen. | § 57. Das steigende oder fallende Wiederkehren ausgezeichneter Individuen beruht theils auf der Vortrefflichkeit des Familiencharakters selbst, theils auf der Lebenskraft der größeren Masse, welcher die Familie angehört.“ Detaillierter aus der aktuellen empirischen Sozialforschung zum z.T. milieuspezifischen unterschiedlichen Umgang mit der eigenen Herkunftsfamilie, zur Konstruktion und Gestalt der Familienerinnerungen und zur Bedeutung, die diese für die Gegenwart haben vgl. Coenen-Huther, Familiengedächtnis. Phänomenreich zur Thematik familialer Erinnerungskulturen vgl. auch Gillis, Mythos, 320 – 353.
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Individualität der Familienglieder, weshalb sowohl die Familie, als auch jeder Einzelne in ihr ‚kurzlebig‘ ist; „so hört beim Zerstreuen der Kinder und Tode der Eltern die Seele der vorigen Person auf“.¹⁵⁷ Den ‚aristokratischen Familiencharakter‘ zeichnet dagegen ‚Langlebigkeit‘ aus. Die familiale Identität bleibt hier, auch wenn die Kinder ihr Elternhaus verlassen, von bleibender Bedeutung, „ihr Leben erscheint ihnen mehr als Fortsezung des der Voreltern“.¹⁵⁸ Schleiermacher selbst versuchte letzteren privat zu etablieren.¹⁵⁹ Im Brouillon hatte er bereits eine Idealbiographie des familialen Lebens entworfen, in der er das Wirken des Familiengeistes genauer lozierte. Ausgangspunkt ist die These, dass in der Familie als „totale[r] Repräsentation der Menschheit […] aller Widerstreit zwischen Zeit und Ewigkeit selbst für den Einzelnen verschwinden“ müsse.¹⁶⁰ Ein solcher liegt v. a. in den Grenzpunkten des individuellen Lebens, Geburt und Tod. In beiden Phasen ist der Mensch ‚gegeben‘ aber noch nicht bzw. nicht mehr ‚thätig‘.¹⁶¹ In beiden Fällen aber kompensiert das Familienverhältnis jenen Mangel „und die Vernunft hat immer Zulänglichkeit“.¹⁶² Solange der Mensch noch nicht mündig geworden ist, hat er durch seine Eltern Anteil an der ethischen Welt, zunächst gleichsam physisch durch Fürsorge und Leitung.¹⁶³ Mit dem Zunehmen seiner geistigen Fähigkeiten schwingt er sich über die Familienbande hinaus, jedoch bleibt die darin gewonnene Prägung auch für seine weitergehenden Verhältnisse und die Prägung seiner eigenen Nachkommen bedeutsam.¹⁶⁴ Schließlich stirbt der Mensch und geht als Exponent und Prägegestalt des Familiengeistes in denselben ganz ein.¹⁶⁵ PhE 329. PhE 329. Vgl. BB 319: Schleiermacher bestätigt seine Braut in ihrem Wunsch, das Porträt von ihm, welches er ihr für die Zeit seiner Abwesenheit gesandt hat, zu behalten, selbst wenn sie zusammenleben: „Es liegt darin ein Familiensinn, der eigentlich für mich fast das einzige wahrhaft adeliche ist, was es giebt. Darum wollen wir denn, wenn Du erst hier bist, bei Zeiten dafür sorgen, daß wir ein Bild von Dir bekommen, welches wir unsern Kindern lassen können.“ PhE 137. PhE 137. PhE 138. Vgl. PhE 137: „In der Kindheit ist sein organisches Vermögen noch nicht selbständig gegeben; indem also das auffordernde und leitende Princip in seinen Eltern liegt, ist es doch identisch mit dem Physischen.“ Vgl. PhE 137 f: „Je mehr jener physische Zusammenhang verschwindet, in dem Maaß wird dies ersezt durch das Familienverhältniß. Ihr organisches Vermögen ist nur ein Theil des Ganzen, und ihre einwohnende Vernunft ist auch zuerst ein Theil der gemeinschaftlichen. Während des Culminationspunktes haben sie sich also organische Vermögen gebildet, die von ihnen abhingen – vermittelst der Familienindividualität noch von ihnen abhängen, die also immer zum Theil als ihre erweiterten Organe anzusehn sind. Dasselbe gilt von der Sphäre, die sie sich angebildet.“ PhE 138: „Endlich ist durch die Bildung der Sphäre, durch das Uebergehn in den Familiengeist und die Kinder die ganze Thätigkeit Geschichte geworden, welches die lezte Bestimmung jeder Erscheinung ist. Und aus dieser Geschichte tritt dann durch Zersezung der gemeinschaftlichen Individualität in späteren Generationen oft derselbe Factor bestimmt wieder hervor und hat also auch insofern Unsterblichkeit.“
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Leibliche und geistige Zeugung als Versuche, Unsterblichkeit zu erlangen Die Bedeutung der Leiblichkeit für das intergenerationelle Verhältnis haben wir uns oben bereits vor Augen geführt.¹⁶⁶ Nun gilt es, diese hinsichtlich des sozialen Unsterblichkeitsgedankens zu präzisieren. Den Ausgang können wir hierzu bei Schleiermachers Platon-Diskussion nehmen. Im Symposion unterscheidet dieser die ‚sinnlichen Menschen‘, welche versuchen, „sich durch Kinderzeugen Unsterblichkeit, Andenken und Glückseligkeit, wie sie meinen, für alle folgenden Zeiten [zu] verschaffen“, von den ‚geistigen Menschen‘, die „in geistiger Hinsicht zeugungslustig sind – denn es gibt solche, die in der Seele viel mehr zeugen wollen als im Leibe […] Weisheit und jede andere Tugend“.¹⁶⁷ Platon versteht also auch Erziehung und geistige Bildung als Zeugung und schätzt diese freilich weit mehr, weil er sie für die Anteilhabe am Ideenhimmel hält.¹⁶⁸ Schleiermacher betont gegen eine solche Diastase die Position der Diotima, das Geistige könne für sich kaum einen höheren Wert behaupten, weil es in seinem Auftreten von dem Leiblichen abhängig sei.¹⁶⁹ Liebe, Erkenntnis und Tugend mögen als sich ewig gleiche, höhere Prinzipien konstruiert werden, de facto existieren sie nur, insofern sie von leiblichen Wesen gelebt und vollzogen werden.¹⁷⁰ Sie sind nicht an sich, sondern nur durch das „Übertragen von einem auf den andern im sterblichen unsterblich.“¹⁷¹ Es ist mithin eine ‚Verzeichnung‘, dass „sterbliches in dem sterblichen nur sterbliches und vorübergehendes erzeugt“.¹⁷² Auch in seinem eigenen Leben hielt Schleiermacher beide Sphären präsent. Seine Tätigkeit als Lehrer und Professor beschreibt er als sehr erfüllend.¹⁷³ Er macht jedoch
S.o. III.1.2. Sym 62. Vgl. Sym 67: „Wer aber wahre Tugend erzeugt und aufzieht, dem ist es vergönnt, ein Freund der Götter zu werden und, wenn irgendein Mensch, so darf er unsterblich sein.“ Vgl. hierzu EP 284 f. Kategorial zur Thematik s.o. I.3.2. EP 285 [Hervorhebung – CR].Vgl. dazu auch Nom 721 b-c: „[…] man muß heiraten sobald man sein dreißigstes bis fünfunddreißigstes Jahr erreicht hat, in Erwägung dessen daß das Menschengeschlecht in gewisser Art einen natürlichen Anteil an der Unsterblichkeit und eben deshalb auch jeder Mensch so stark als möglich eine natürliche Sehnsucht nach derselben empfindet, denn (auch) die berühmt zu werden und nicht namenlos nach seinem Tode unter der Erde zu liegen ist eine solche Sehnsucht. Das Menschengeschlecht nämlich ist etwas mit der Gesamtheit der Zeit der Art Verwachsenes daß es unaufhörlich mit ihr fortläuft und fortlaufen wird, und es ist, indem es immer neue Ankömmlinge von sich hinterläßt und so stets das Eine und selbige (Menschengeschlecht) bleibt, in soweit unsterblich als das ewige Werden dessen teilhaftig genannt werden kann.“ Vgl. zu diesem Gedanken auch Aristoteles, De Anima, Buch II, 415 b: „Da nun ein Wesen am Ewigen und Göttlichen nicht ohne Unterbrechung Anteil haben kann, weil keines der sterblichen Geschöpfe persönlich am Leben bleiben kann, so nimmt ein jedes sich seinen Anteil so, wie es das vermag, mehr oder weniger, und erhält sich nicht selbst, aber seine Art, ist also nicht der Zahl nach, wohl aber der Art nach eines und dasselbe.“ EP 279 [Hervorhebung – CR] Vgl. BB 253: „Der gute Thiel in Anklam ist einer meiner ältesten und liebsten Schüler, und ich habe Ursache zu glauben, daß meine Lehre und mein Umgang einen entscheidenden Einfluß auf sein Ge-
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auch deutlich, dass der Versuch, sich bloß eine geistige Nachkommenschaft zu schaffen, letztlich eine große Ungewissheit an sich trägt. Gegen seine Chancen auf eine große öffentliche Wirksamkeit in all ihren Eitelkeiten hält er in einem Brief an die Schwester von 1801 den bescheidenen, aber letztlich vielversprechenderen Wirkungskreis der Familie.¹⁷⁴ Gegenüber seiner Braut bezweifelt er später explizit die Unsterblichkeit des Namens in Wissenschaft und Politik: Nur ein Künstler kann auf diese Art unsterblich sein, und ein solcher bin ich nun einmal nicht, und außerdem ist noch eine irdische Unsterblichkeit übrig, die des Vaters in seinen Kindern. Darum ist die Krone, die Du mir aufsezen sollst, süße Jette, die schönste, und will mirs auch nicht nehmen lassen zu sagen, daß ich Dein Geschöpf bin. Aber in was für ein Geplauder bin ich gerathen!¹⁷⁵
Interessant erscheint an diesem Zitat der Begriff des ‚Geschöpfs‘. Bestimmt Schleiermacher später in der Glaubenslehre den Schöpfungsgedanken als Konkretionsgestalt der Einsicht des Menschen in seine ‚schlechthinnige Abhängigkeit‘,¹⁷⁶ so findet sich hier bereits ein ganz ähnlicher Gedanke: Hinsichtlich seiner familialen Unsterblichkeit sieht sich Schleiermacher gänzlich abhängig von seiner Braut, die ihm die dazu notwendigen Nachkommen schenken soll; und insofern ist er ihr ‚Geschöpf‘.
müth und auf sein ganzes Leben gehabt haben. Solche Freuden können mir, wenn Gott Glükk und Segen giebt, noch viele werden.“ Vgl. auch BB 287 sowie BB 173: „mir meine Gedanken und Einsichten […] machen. Das […] ist ein herrlicher Zustand inneren Lebens und Gebährens; auch stelle ich mir wirklich vor, es muß viel Aehnlichkeit haben mit dem Gefühl einer Frau, in der sich ein Kind bildet.“ Vgl. Brief 1120, 245: „Ich kann sagen, daß ich Vielen zum Segen bin, und wenn ich Gesundheit und Kraft behalte um einige bedeutende Werke auszuführen die ich unter Händen habe so läßt sich voraussehen daß ich bald sowohl in dieser Angelegenheit als in mancherlei Wissenschaften noch mehr Einfluß gewinnen und in wenigen Jahren zu den bekannteren Menschen gehören werde deren Wort einiges Gewicht hat. So angenehm mir das auch ist, nicht nur so fern es der natürlichen Eitelkeit schmeichelt, sondern auch so fern es mir verbürgt daß ich mich einer gewissen Wirksamkeit in der Welt werde zu erfreuen haben – es verschwindet mir doch gänzlich und ist mir Alles nichts gegen die fast schon aufgegebene Aussicht auf ein stilles frohes häusliches Leben, und es würde mir gar nicht schwer werden, um dieses zu genießen, mich, wenn es nicht anders sein könnte in eine Lage zu sezen, die mich von dem Schauplaz einer größeren Wirksamkeit ganz entfernte und meinen wissenschaftlichen Fortschritten sehr hinderlich wäre. Es ist doch Alles in der Welt größtentheils eitel und Täuschung, sowol was man genießen als was man thun kann, nur das häusliche Leben nicht.Was man auf diesem stillen Wege Gutes wirkt, das bleibt, für die wenigen Seelen kann man wirklich etwas sein und etwas bedeutendes leisten.“ BB 272. Vgl. auch BB 346: Im Rahmen einer Aufhellung der Paten für die weiblichen Personen in seinen Schriften, erwägt Schleiermacher auch seiner Braut einmal ein literarisches Denkmal zu setzen, wendet dann aber ein: „Du bist Mutter, süßes Herz, und darum bedarf es gar nicht für Dich einer solchen Darstellung.“ Vgl. CG², § 36, 218 – 220.
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Selbsttranszendierung statt Selbstreproduktion Alle Aspekte, die wir bislang beleuchtet haben, sind getragen von einem Grundtenor: die Unsterblichkeit der Person in ihren Nachkommen basiert nicht auf einer einfachen Selbstreproduktion, sondern bedeutet eine Selbstüberschreitung; sie ist im wörtlichen Sinne eine Transzendierung des Selbst. Sei es die Sozialdimension der elterlichen Liebe, die im Kind manifest wird, die notwendig offene Anteilhabe an der Zukunft durch Kinder oder das Bewusstsein vom Eingebundensein in den Familiengeist: stets wird das Individuum mit seinem Vermächtnis über sich selbst hinausverwiesen. In der christlichen Erziehung wird dies zum Programm erhoben. So fordert Schleiermacher in den Hausstandspredigten von den Eltern, vor allem darum bemüht zu sein, die Wirkungen des göttlichen Geistes in ihren Kindern zu fördern: Aus dem heranwachsenden Geschlecht etwas bilden wollen zum Lohne oder zum Ebenbilde des veraltenden, das wollen wir denen überlassen, die sich selbst die nächsten sind und die höchsten, weil ihnen der herrliche Glaube an einen göttlichen Geist, der in den Menschen geschäftig ist, fehlt, und somit auch der Glaube an eine Fortschreitung in allem, was die eigentliche Würde des Menschen ausmacht.¹⁷⁷
Selbsttranszendierung im Kind bedeutet hier, dass die Kinder es nicht nur besser haben sollen als ihre Eltern, sondern auch besser sein sollen.¹⁷⁸ Nach einer Erinnerung des erzväterlichen Segens Jakobs über seine Söhne¹⁷⁹ resümiert Schleiermacher: […] mit einem reicheren und erquicklicheren Bewußtsein wenigstens kann der Mensch den Schauplatz der Erde nicht verlassen, […] so gibt es auch, wenn die Verhältnisse des Lebens uns ermüden und unsere Tätigkeit uns leid machen, kein erhebenderes Mittel als solche Aussicht auf das, was unsere Kinder werden leisten können und was ihnen zuteil werden wird.¹⁸⁰
Wie unwahrscheinlich es ist, dass die Kinder die Fehler ihrer Eltern überwinden, war Schleiermacher gleichwohl auch bewusst. An seine Braut schreibt er, es könne einem Angst machen, dass man so viel vom eigenen Wesen und gerade auch von den eigenen Schwächen an seine Kinder weitergibt.¹⁸¹ Das sozialisatorisch (und genetisch) Wei-
H 287 [Hervorhebungen getilgt – CR] Dies ist der Grundtenor von Schleiermachers Pädagogik – mehr dazu s.u. III.2.1.2.Vgl. aber auch H 281: „[…] was wir hoffen, daß die Söhne besser sein werden, und, weil besser sein, es auch besser haben, als ihre Väter.“ Sowie H 323 [Hervorhebungen getilgt – CR]: „Und ist unser Blick einmal in diese Zukunft gerichtet, so laßt uns auch das nicht übersehen, daß freilich, je mehr wir unsere Kinder lieben in dem Herrn, um desto weniger uns das genügen kann, daß sie nur in unsere Fußstapfen treten; sondern die Kinder sollen besser werden als die Eltern waren, und so ein jedes heranwachsende Geschlecht sein erziehendes überragen zu seiner Zeit; denn nur so kann das Reich Gottes gebaut werden […].“ Vgl. Gen 49. H 282 [Hervorhebungen getilgt – CR]. Vgl. BB 181.
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tergegebene lässt sich eben kaum durch explizite Erziehungsmaßnahmen korrigieren.¹⁸² Seinem Individualitätsparadigma gemäß bedeutete die am göttlichen Geist orientierte Erziehung für Schleiermacher, das Aufsuchen und Fördern der Neigungen der Kinder. Ihr Leben sollte keine Verlängerung der elterlichen Verhältnisse sein, sondern ihrem eigenen Wesen entsprechen.¹⁸³ Hier zeichnet sich bereits die Signatur der Moderne ab: Positionen und Status können nicht mehr ohne weiteres von einer Generation auf die nächste übertragen werden; vielmehr ermöglichen und verlangen Gesellschaft und Arbeitsmarkt eine deutlich größere Flexibilität in der Wahl – und den Optionen – des Berufs und der Lebensform.¹⁸⁴ Generell betont Schleiermacher ethisch wie religiös stets den Gemeingeist. Je größer der Horizont des Menschen ist, desto getroster kann er leben und sterben. So ist es Schleiermachers Psychologie nach zumindest das ‚Gattungsbewußtsein‘, bestenfalls aber das ‚Ergreifen des absoluten Seins‘, welches Seligkeit angesichts der eigenen Endlichkeit gewähren kann.¹⁸⁵ Die Idee, über die Gattung an der Unsterblichkeit teilzuhaben ist im Gegenüber zum persönlichen Weiterleben in den Kindern die weiter reichende, denn schon als Großeltern hat man gemeinhin weniger prägenden Einfluss auf die Nachkommen. Urenkel sieht man gemeinhin allenfalls noch indirekt über die Prägung der eigenen Kinder beeinflusst. Weitere Einflüsse und das Faktum, dass man den nach dem eigenen Tod geborenen Nachkommen weithin unbekannt und relativ unbedeutend ist, sorgen dafür, dass das eigene ideelle Weiterleben in ihnen zunehmend verfliegt. Der altorientalische Gedanke von der Sheol, dem Schattenreich, in dem man noch so lange präsent ist, wie der eigenen Person auf Erden gedacht wird, illustriert die relative
Es sind oft gerade die Hauptfehler, die man an sich selbst sieht, von welchen man hofft – oder gar nachdrücklich erwartet –, dass die eigenen Kinder sie vermeiden können, was aufgrund der höheren Evidenz des Vorlebens allerdings sehr unwahrscheinlich ist. Zu dieser Spannung vgl. Hess/Handel, Familienwelten, 305. Vgl. H 293 [Hervorhebungen getilgt – CR]: „Wenn Eltern, ohne abzuwarten, was für Neigungen und Fähigkeiten sich in ihren Kindern entwickeln werden, oder ohne diejenigen zu berücksichtigen, welche sich schon entwickelt haben, eigensinnig darauf beharren, sie auf dasjenige zu beschränken, was auf dem besonderen Lebenswege liegt, den sie selbst eingeschlagen haben, und ihnen nur dieses einzuimpfen, damit sie ihnen selbst so ähnlich werden als möglich, klagen wir da nicht bitterlich über eine unchristliche Gewalt, welche der Jugend geschieht?“ Vgl. dazu auch Knijn u. a., Männer, 219. Vgl. PsyG 405: „Je mehr freilich das ganze, woran sich der einzelne hält, nur selbst wieder ein Fragment ist, um so weniger kann man sagen, daß die Richtung auf das glükkliche Ende eine Vollkommenheit sei, je mehr wir uns aber von dem partiellen wegwenden und das ganze im Auge haben, und je mehr sich das Gattungsbewußtsein in uns ausbildet, desto kräftiger ist das, was den Sieg über das selbstische verleiht. Aber es ist doch das Ende nur dann recht vollkommen, wenn wir uns auch über dieses erheben und unmittelbar das absolute Sein ergreifen, denn das ist allein das, was am sichersten vor dem unglükklichen Ausgange dieser Periode, wie jeder andern, bewahrt.“ Zum Gattungsbewusstsein als Auffindungszusammenhang des religiösen Bewusstseins vgl. auch CG², § 34.1, 212– 214.
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Kurzlebigkeit des eigenen Vermächtnisses. Sich als Glied der ewigen Gattungskette zu verstehen, verspricht dem gegenüber mehr Persistenz, welche allerdings durch eine Vernachlässigung des Personalitätsgedankens erkauft ist. Dem Individualitätsgedanken angemessener erscheint demgegenüber Schleiermachers frühe wechselseitige Abbildung von Persönlichkeit und Menschheit, die er in den Reden vornimmt: Ihr selbst seid ein Compendium der Menschheit, Eure Persönlichkeit umfaßt in einem gewißen Sinn die ganze menschliche Natur und diese ist in allen ihren Darstellungen nichts als Euer eigenes vervielfältigtes, deutlicher ausgezeichnetes, und in allen seinen Veränderungen verewigtes Ich.¹⁸⁶
Soziale Konkretionsgestalten, Zwischenstufen mittlerer Reichweite und lebensweltliche Füllungen, wie im Falle der familialen Unsterblichkeit, sind hierbei freilich ausgeschlossen. Den eigentlichen Knackpunkt des Gedankens von der Selbsttranszendierung im Kind, dem alle weiteren Ausformungen dessen aufruhen, fand Schleiermacher aber schon früh bei Aristoteles auf: „Eltern also lieben ihre Kinder als sich selbst; sie kommen von ihnen her und sind nun, da sie von ihnen getrennt sind als ihr andres selbst zu betrachten.“¹⁸⁷ Die Kinder sind als ‚anderes Selbst‘ ihrer Eltern, deren Fortführung und Negation zugleich. Sie sind als deren Produkt ebenso ein echtes Gegenüber.¹⁸⁸ Das macht den entscheidenden Unterschied zu jedem anderen Werk, das von einem Menschen vollbracht werden kann oder aus einer Liebesbeziehung hervorgehen kann – vielleicht mit Ausnahme eines Kunstwerks, wie auch Schleiermacher einräumte¹⁸⁹: ein Kind entwickelt ein Eigenleben, das sich tendenziell von seinem ‚Produzenten‘ freimacht.Völliges Alleinstellungsmerkmal dieses ‚Werkes‘ aber ist es, selbst über die kreative Potenz zu verfügen, sich zu äußern, zu lieben und sich selbst wiederum in einem eigenen Kind zu transzendieren. Als Fazit können wir eine Stufung der (idealtypischen) ‚Eschatologien‘ konstatieren, die eine umgekehrte Proportionalität von personaler Konkretion und zeitlicher Reichweite aufweisen.¹⁹⁰
R 232. AÜ 61. Im Rahmen seines Resonanztheorems beschreibt Hartmut Rosa diesen Sachverhalt folgendermaßen: Durch eine fruchtbare Sexualität „hinterlassen Subjekte […] zugleich eine lebendige (und selbst resonante) Spur in der Welt, sie entäußern sich in die Welt. Das Generativitätsmotiv des Menschen, das heißt das Verlangen, nicht spurlos an der Welt vorüberzugehen, sondern durch seine Existenz einen Unterschied zu machen, lässt sich leicht als ein Resonanzverlangen re-interpretieren: Durch Kinder, aber auch durch ‚Werke‘ kann die Welt zu einer Antwort auf die eigene Existenz gebracht werden, oder anders formuliert: Durch sie schwingt die eigene Existenz in der Welt selbst nach dem Tode fort.“ (Rosa, Resonanz, 137 f). Vgl. BB 272 (zur Zitation dessen s.o. in diesem Kapitel). Zum Theorem gestufter Transzendenzen nach Luckmann und Berger, auf die sich die hier aufgestellten Eschatologien allerdings nicht unmittelbar übertragen lassen, s.o. I.1.2.
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Auf der ersten Stufe kommt die ‚familiale Eschatologie‘ zu stehen. Sie ist die konkreteste und personal anschlussfähigste, erkauft diese Stärke jedoch mit einer relativen Kurzlebigkeit. Auf der zweiten Stufe, gleichsam der Scharnierposition, kommt die ‚Eschatologie der Gattung‘ zu stehen. Sie verliert an Konkretion, gewinnt dadurch jedoch an Reichweite, denn solange die Gattung lebt, lebt der Einzelne als Exponent und Glied in ihrer Kette mit, jedoch eben nicht als Individuum, sondern als Gattungswesen. Ihrer Zwitterstellung wegen ist diese ‚Eschatologiegestalt‘ die unprominenteste. Auf der dritten Stufe kommt die ‚religiöse Eschatologie‘, wie Schleiermacher sie in seinem eigentümlich spinozanischen Mystizismus versteht, zu stehen. Personalität und Gattungszugehörigkeit spielen hierbei in letzter Konsequenz keine Rolle mehr, sondern der Einzelne befiehlt sich dem ‚Einen und Allen‘ an, ist in diesem ewig aufgehoben, wobei seine Personalität allerdings vollkommen untergeht. Was alle drei Gestalten verbindet, ist ihre psychologisch beschreibbare Funktion: sie orientieren das gegenwärtig gelebte Leben, indem sie es in einen weiteren Kontext stellen. Indem das individuelle Leben über sich hinausverwiesen wird – sei es in Anerkennung oder Aufhebung –, kommt ihm eine Perspektivierung und Würdigung zu, die eine bloße Beschreibung des Status quo oder eine biographische Rückschau nicht vermöchte.
2.1.2 Dynamiken der Erziehung In den Kindern lebt etwas von ihren Eltern weiter, was sich diesen zugleich wiederum tendenziell entzieht. Dieses dialektische Verhältnis orientiert nach Schleiermacher auch das zeitliche Zusammensein der Generationen, kann hier allerdings nicht auf der höheren, rein beschreibenden Deutungsperspektive verbleiben, sondern muss sich verpflichten lassen auf die erste und wichtigste Handlungsherausforderung, die sich mit der Hervorbringung von Nachkommen stellt: die Aufgabe der Erziehung. Hier lautet die generelle Frage: Was kann die Erziehung überhaupt ausrichten? Schleiermacher unterscheidet zwei Extrempositionen: […] einige glauben, der Mensch sei so ganz ein Werk der Erziehung, daß, wenn man es nur recht darauf anlege, […] man aus jedem Kinde alles machen könne […].¹⁹¹
Andere meinen, wir vermöchten mit aller unserer Mühe und Kunst am Ende doch nichts gegen die Gewalt der Natur […].¹⁹²
H 267 [Hervorhebungen getilgt – CR]. H 267 f [Hervorhebungen getilgt – CR].
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Weder der aufklärerische Erziehungsidealismus noch der Naturromantizismus, wie sie prominent von Locke einerseits und Rousseau andererseits vorgetragen wurden, konnten den Vermittlungsdenker Schleiermacher überzeugen.¹⁹³ Interessanterweise konzentriert er sich allerdings weder in seinen Hausstandspredigten noch in seiner Pädagogikvorlesung auf einen Abweis jener Positionen, sondern verpflichtet sie sogleich auf das höhere Ideal der Heranziehung gesellschaftstauglicher Individuen – dazu sogleich mehr.¹⁹⁴ Die sich darin ausdrückende Entspanntheit scheint zwei Gründe zu haben. Der eine liegt in Schleiermachers ausgeprägtem Pragmatismus: keine der Extrempositionen lässt sich für denjenigen durchhalten, der wirklich mit Kindern zu tun hat. Der idealistische Bildhauer wird rasch erfahren, dass sein ‚Material‘ eine z.T. starke Widerständigkeit aufweist, und der Naturromantiker, dass ein ‚naturwüchsiges‘ Kind ohne Anleitung mitnichten von Güte, Friedfertigkeit und Verständigkeit überfließt. Der andere Grund für Schleiermachers argumentative Zurückhaltung an dieser Stelle mag in seiner Bescheidenheit als Theoretiker liegen. Insbesondere die familiale Erziehung fragt vor ihrem Handeln nicht nach theoretischen Modellen, sondern sie geht mit einem Hintergrund von mehr oder weniger durchgeklärten Vorverständnissen einfach ans Werk.¹⁹⁵ Das einzige, wessen sie bedarf, ist eine Befestigung handlungsleitender Generalmaximen.¹⁹⁶ Hier lässt sich ein erstes wichtiges Sinnstiftungsmoment erblicken: wer als Elternteil Verantwortung für Kinder trägt, wird zwar kaum zur Selbstherrlichkeit neigen und sehr wohl interessiert sein an hilfreichem Rat;¹⁹⁷ er erfährt allerdings in besonderer Weise seine Selbstmächtigkeit, insofern er nicht abhängig ist von Expertenmeinungen und Erziehungstrends, sondern selbst die Letztverantwortung trägt. In Erziehungsfragen
Vgl. Brachmann, Porträt, 71: „Für Schleiermacher stellt das Kind eben nicht einfach nur ein ‚weißes Papier‘ dar, welches durch die Erziehung beschrieben wird oder das ‚Wachs, das man bilden und formen kann, wie man will‘. [J. Locke – CR.] Andererseits unterliegt er aber auch nicht den romantisch-natürlichen Verlockungen Rousseaus. Zwar meint auch Schleiermacher, dass ‚alles, was aus den Händen des Schöpfers kommt, gut ist‘. Daraus folgt für ihn dann aber nicht unbedingt zwingend, dass ‚alles unter den Händen des Menschen [auch] entarte‘. [J.-J. Rouseau – CR.]“ Zu Schleiermachers eigener Positionierung zwischen pädagogischem Allmachts- und Ohnmachtsdenken vgl. zudem Kleint, Pädagogik, 136 – 146. Kategorial zur Problematik von Natur- und Geistbestimmtheit s.o. I.4.2. Vgl. Päd 555: „Sie [sc. die Erziehung – CR] muß sich so einrichten, daß sie nicht fehlt, wenn das eine wahr ist und nicht wenn das andere wahr ist.“ Sowie H 268: „Was ist denn bei der Erziehung der Kinder in Gott getan? Wenn wir das nicht verfehlen wollen, was ihretwegen der Wille Gottes an uns ist, – was müssen wir am meisten vermeiden, worauf müssen wir am meisten sehen?“ [Hervorhebungen getilgt – CR.] Weil dem so ist, folgt alle konkretisierende pädagogische Theoriebildung der praktischen Vorgebildetheit nach.Vgl. PhE 332 (1812/13): „§ 74. Die technische Seite ist nur in der besonderen Disciplin der Pädagogik darzustellen, deren ursprüngliche Mannigfaltigkeit von den verschiedenen Formen der Familie und den verschiedenen Verhältnissen zum Staat ausgeht.“ Vgl. H 267: „Allein ein Gebäude menschlicher Weisheit und Kunst über die Erziehung unserer Kinder aufzurichten, das würde uns hier auch gar nicht ziemen; sondern nur solche Überzeugungen in uns zu erwecken und zu befestigen, die uns in jedem Augenblick richtig leiten können.“ Die Auflagenstärke der Legionen von Erziehungsratgebern spricht für sich.
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verstehen sich jeder Vater und jede Mutter, die ihre Aufgabe annehmen, als Experten und sind zugleich moralisch, wie sozial und rechtlich rechenschaftspflichtig. Elterliche Verantwortung verleiht jeder Person eine besondere, von sonstigen Statusfragen und Positionierungschancen unabhängige, gesellschaftliche Relevanz; und jedes Paar ist durch die Elternschaft mit der besonderen Chance bzw. Gefahr konfrontiert, sein ‚Zusammenwirkenkönnen‘ zu erleben.¹⁹⁸ Erziehungsverantwortung bedeutet gleichermaßen Würde und Prüfstein. Tragbar wird diese Verantwortung, insofern die Eltern in sie hineinwachsen können. Ein Säugling muss noch überhaupt nicht erzogen werden. Vielmehr stehen die ersten Monate ganz im Zeichen eines Beziehungsaufbaus, der rein intuitiv gelingt.¹⁹⁹ Generell betont Schleiermacher in dieser Hinsicht den Vorrang des ‚Lebens‘ vor der ‚Erziehung‘. Die Erziehung kann nicht nur nicht ‚ex nihilo‘ schöpferisch tätig sein, sie muss es auch gar nicht.²⁰⁰ Ihre Aufgabe liegt allein in der Verstärkung, Korrektur und Bewusstmachung, dessen, was das treibende Leben selbst hervorbringt.²⁰¹ Als solche ist sie eine wichtige, aber keine übermenschliche Aufgabe. Hier liegt das naturdeterministische Implikat von Schleiermachers Mittelposition. Es schließt die positive Perspektive ein, dass, wer erzieht, dabei dem tätigen Leben zusehen und dieses begleiten kann.²⁰²
Vgl. dazu ChS 359. Vgl. Päd 700: „Blicke und Mienen der Mutter, wodurch aus Bewußtlosigkeit die Mutter den Geist des Kindes erregt. Hier haben wir den reinen Erfolg der Wechselwirkung welche nun eigentlich nichts absichtliches – natürliche Äußerung der Mutter und natürliche Erwiderung des Kindes. Ist hier schon ein Ort, eine absichtliche pädagogische Thätigkeit an dieß rein natürliche anzuknüpfen? In Beziehung auf dieses ursprüngliche Erziehen allerdings nicht, sie ist keiner Erweiterung fähig bis zur Aneignung der Sprache.“ Vgl. PädA 57., 336: „Allgemein ist die Beziehung der Erziehung auf das chaotische Leben. Was in demselben gar nicht liegt, gehört auch nicht in die Erziehung. […]“ Sowie PädA 43., 334: „Grunderklärung. Erhöhung des Lebens nach menschlichem Typus. Das meiste kommt dem Menschen doch immer chaotisch.“ Vgl. PädA 64., 337: „Ueber die Grenze zwischen Erziehung und Leben. In sofern muß die Erziehung Ergänzung sein oder Verstärkung. In verschiedenen Zeiten manches mehr dem Leben überlassen. Erziehung ist Correctiv des Verhältnisses. Ueberall kommt das Bewußtsein durch die Erziehung.“ Vgl. zum tröstlichen Aspekt dessen auch aus der privaten Korrespondenz BB 240: „Aus meiner eignen Erfahrung heraus habe ich nun schon oft Eltern getröstet, wenn Kinder so [bedenklich – CR] hingingen, daß das Gute schon aufwachen würde, und bis jezt habe ich immer recht gehabt. So wollen wir nun auch uns nicht zuviel Sorge machen.“ Vgl. Päd 700: „Da ist auch etwas dem man bis auf einen gewissen Grad seinen Gang lassen muß denn dabey [liegt – CR] etwas Inneres zum Grunde, was man aber als Zeichen ansehen muß um das Kind in seiner natürlichen Art und Weise desto eher kennen zu lernen.“ Dasselbe Programm lässt sich in den Hausstandspredigten erblicken. Vgl. dazu Trillhaas, Schleiermachers Predigt, 106: „Die Jugend ist – gewissermaßen von Hause aus – ohne unsere besondere Bestimmung – ein Gegenstand der Wirksamkeit des göttlichen Geistes. Diese Tatsache liegt unserem Erziehungswerk voraus. Wir nehmen also nur bewußt an einem Vorgang teil und fördern ihn nach Kräften, der sich auch ohne unser Zutun abspielt.“ Mit dem Grundsatz der Erziehung als eines verantwortungsvollen Begleitens wird zugleich der gegenwärtig – mit Recht – vielgescholtenen Dauerpädagogisierung der Kinder im Dienste ihrer
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Erziehung zwischen Individualitätsförderung und sozialer Eingliederung Als ethische Zentralaufgabe wird die Erziehung von Schleiermacher auch im Raster seiner kategorial-ethischen Strukturprinzipien beschrieben. So kann sie als wichtiger Bestandteil der Durchgeistigung der Natur gelten;²⁰³ in ihr werden alle vier Hauptkultursphären angeeignet;²⁰⁴ und in ihr verschränken sich soziale Ansprüche und individuelles Eigenrecht,²⁰⁵ worauf Schleiermacher besondere Aufmerksamkeit verwendet, vermutlich, weil hier das größte Konfliktpotential besteht. Im Interesse ihres Fortbestands ist Erziehung eine der wichtigsten Aufgaben einer Gesellschaft. Je höher sie entwickelt ist, desto mehr Wissen und Fähigkeiten muss sie an die nachfolgende Generation weitergeben. Schon allein die Erhaltung des Status quo ist mithin mit einem erheblichen Bildungsaufwand verbunden, weil jeder Mensch in seiner Entwicklung und Bildung bei Null anfängt.²⁰⁶ Neben fachlicher Spezialisierung nach den Bedürfnissen des vielfältig differenzierten Gesellschaftsgeflechts bedarf es hierbei ebenso einer moralischen Ganzheitsperspektivierung jedes Einzelnen, weil sich der Zusammenhalt und Bestand des komplexen Sozialgefüges an-
‚Optimierung‘ vorgebeugt; der Problematik einer Dauerüberwachung ihrer hingegen scheint hiermit der Boden bereitet zu sein. Vgl. paradigmatisch zur Diagnose jenes Doppelproblems Beck/BeckGernsheim, Chaos, 179: „Der pädagogische Feldzug macht Kindheit immer mehr zum Programm, das sorgfältiger Überwachung bedarf, ständiger Kontrolle von Entwicklungsschritten und Defiziten. Das Kind wird zum abhängigen Wesen, das stets erwachsene Personen benötigt, die seine physischen und psychischen, gegenwärtigen und zukünftigen Bedürfnisse definieren, betreuen, verwalten.“ Vgl. PhE 606 (Güterlehre. Letzte Bearbeitung): „Von der ersten Kindheit aus oder dem Kleinsten der Ausdehnung ist das Ziel der bildenden Thätigkeit, daß die ganze menschliche Natur, und mittelst ihrer die ganze äußere, in den Dienst der Vernunft gebracht werde.“ Detaillierter zur Thematik s. o. I.4.2. Vgl. PädA 1., 327: „Erziehung nach den vier Hauptgegenden des höchsten Gutes hin: religiöse, wissenschaftliche, bürgerliche, Welt-Erziehung; jedes zwiefach, in der Familie und in den Vorverbindungen.“ Detaillierter zur Thematik s. o. I.4.Einleitung. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang auch ein Gedanke aus den Brautbriefen (BB 175): „Das Essen und das Zerstören sind die ersten Kraftäußerungen über die Dinge, und man muß sie als solche ehren, bis man allmählich edlere, das Bilden und Bearbeiten dem Zerstören und das Anschauen und Erkennen dem Essen unterschieben kann.“ Die beiden Vermögen des Symbolisierens und Organisierens bzw. des darstellenden und verbreitenden Handelns werden hier mithin bereits in ihrem Keim als (freilich der Bildung bedürftige) anthropologische Anlage beschrieben Vgl. programmatisch PädA 4., 327: „In die allgemeine Pädagogik auch die allgemeinen Principien über das Ineinandersein des universellen und individuellen, und des receptiven und spontanen.“ Detaillierter zur Thematik s.o. I.4.2. Vgl. Päd 549: „Die Differenz zwischen den einzelnen ist nie so groß, so daß man die Einwirkung des äußeren entbehren könnte. Menschen die durch Zufälle aus der menschlichen Gesellschaft entfernt worden seyen, beweisen wenig. Jede spätere Generation würde weit vor der früheren zurückbleiben wenn Eltern nicht auf die Kinder einwirken würden, und müßte ganz von vorn anfangen. Eigentlich muß jeder Mensch von vorn anfangen, aber es kommt darauf an wie bald er befördert wird. […] Je weniger wir diese beschleunigende Einwirkung als gering ansehen, desto mehr ist sie es; je mehr Geistiges in einer Generation realisirt ist desto weniger darf man sie dem Ungefähren überlassen.“
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sonsten von innen her auflösen würde.²⁰⁷ Damit ist bereits von sozialgesellschaftlicher Seite das Individualitätsparadigma in den Blick gebracht. Wo die innerliche Bildung des einzelnen Menschen übergangen wird, lässt der gesellschaftliche Verfall gewiss nicht lange auf sich warten.²⁰⁸ Wie ein kritischer Kommentar zum auch gegenwärtig oft konstatierten, wachsenden Ausgreifen der Markt- und Konsumorientierung auf die meisten Lebenssphären lassen sich die Monologen lesen: O schnöde Quelle solcher großen Übel, daß nur für äußere Gemeinschaft der Sinnenwelt Sinn bei den Menschen zu finden ist, und daß nach dieser sie Alles meßen und modeln wollen. […] Darauf ist Alles andere auch gerichtet: vermehrten äußern Besiz des Habens und des Wißens, Schuz und Hülfe gegen Schiksal und Unglük, vermehrte Kraft im Bündniß zur Beschränkung der Andern, […] nicht Gewinn an neuem innerm Leben. Daran hindert ihn [sc. den Menschen – CR] jegliche Gemeinschaft die er eingeht vom ersten Bande der Erziehung an, wo schon der junge Geist, statt freien Spielraum zu gewinnen, und Welt und Menschheit in ihrem ganzen Umfang zu erbliken, nach fremden Gedanken beschränkt und früh zur langen Sklaverei des Lebens gewöhnt wird.²⁰⁹
Zwar muss Erziehung immer eine Anpassung des Einzelnen an die Gesellschaft erzielen, nicht jedoch auf Kosten von dessen Individualität, weil in dieser nicht nur sein größtes fachliches Potential liegt,²¹⁰ sondern auch der Motor zur Überschreitung der bestehenden Verhältnisse zu ihrem besseren. Durch bloße Anpassung ihrer Glieder kann sich eine Gesellschaft kaum weiterentwickeln.²¹¹
Vgl. Päd 568: „Die Erziehung soll den Einzelnen ausbilden in der Ähnlichkeit mit dem größeren moralischen Ganzen dem er angehört. Der Staat empfängt aus den Händen der Erzieher den Einzelnen und soll den Einzelnen empfangen als ihm analog Gebildeten, so daß er in das Gesammtleben als sein Eignes eintritt.“ Vgl. pikant dazu G II, 28., 113 f: „Wie die Menschen auf dem Meere der Zeit angeschwommen kommen werden sie langsam gedörrt an schlechter Gesellschaftsluft und an dem Feuer des paedagogischen Zwanges, eingerieben mit dem Salz aller Vorutheile, und wenn sie dann eng zusammengepreßt in dem großen Gefängniß der Staatsformen beisammenliegen so entsteht aus dem ängstlichen Druk eine pikante Brühe die man den Geist der Zeit nennt. Mit den Heringen nimmt man dieselbe Procedur vor, aber erst wenn sie todt sind.“ M 34. Vgl. dazu Päd 588: „Die Erziehung hat die Aufgabe den Zögling an den Staat als einen tüchtigen abzuliefern und seine persönliche Eigenthümlichkeit mit zu entwickeln, einen jeden an alle die großen Lebensreihen als einen mit persönlicher Eigenthümlichkeit ihren Gesammtanlagen gemäß tüchtig Thätigen abzuliefern.“ Vgl. dazu auch Bollnow, Pädagogik, 105 f: „Erziehung als Anpassung an die bestehende Gesellschaft […] Schon Schleiermacher [stellte] […] die Frage […]: ‚Was will denn eigentlich die ältere Generation von der jüngeren?‘ Er sah also ihre primäre Begründung nicht im Anspruch des einzelnen Kindes auf Entfaltung seiner Kräfte, sondern in dem der älteren Generation, d. h. der vorhandenen Gesellschaft, an das Kind. […] Die Anpassung braucht […] eine ergänzende Funktion, die über die blosse Angleichung an bestehende Einrichtungen hinausweist, und zwar nicht nur um des subjektiven Rechts des einzelnen Kindes, sondern ebenso sehr um der Gesellschaft willen, die nur durch den Widerstand gegen die blosse Anpassung zum Besseren fortschreiten kann.“ Der Weg dazu liegt in der Beförderung der Entwicklung von Selbstverantwortung und Urteilsfähigkeit beim Kind. Vgl. zu letzterem Bollnow, Pädagogik, 107– 111. Vgl. zur Thematik auch Schleiermachers bissigen Kommentar zur
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Was das Eigeninteresse jedes Einzelnen anbetrifft, so gilt diese Doppelforderung freilich erst recht. In Umkehrung des Gebots der Elternehrung formuliert Schleiermacher im Katechismus der Vernunft: „Ehre die Eigenthümlichkeit und die Willkühr deiner Kinder, auf daß es ihnen wohlgehe, und sie kräftig leben auf Erden.“²¹² Nur wer sich seinen eigenen Anlagen und Neigungen gemäß entwickeln kann, kann sein ganzes Potential entfalten und bei der Erfahrung dessen glücklich werden.²¹³ Der Ausprägungsgrad der Individualität kann im Sinne dessen geradezu als Gradmesser für den Fortschritt der Erziehung gelten.²¹⁴ Damit ist nicht gesagt, dass der Sozialitätsaspekt aus dem Blick geriete – im Gegenteil, beide verschränken sich: „Die Erziehung sezt den Menschen in die Welt in so fern sie die Welt in ihn hineinversezt; und sie macht ihn die Welt gestalten in so fern sie ihn durch die Welt läßt gestaltet werden.“²¹⁵ Sozialisation bedeutet von außen betrachtet eine ‚Entpersönlichung‘ des Individuums; aus der Binnenperspektive verliert sich der Einzelne jedoch nicht an die Umwelt, sondern er nimmt „außer ihm Bestehendes in sich hinein, verinnerlicht es und macht es zum Teil seiner je individuellen Persönlichkeit“,²¹⁶ wie auch Dieter Claessens es beschreibt. Erziehung ist ein gleichermaßen unverzichtbarer Beitrag zur Menschwerdung eines Kindes, wie zum qualitativen Fortbestand einer Gesellschaft. In der Familie sind die individuelle und die soziale Seite dabei faktisch immer schon verbunden, weil das familiale Leben ohne einen gewissen Gemeinschaftssinn aller Glieder nicht funktioniert – er muss also von den Eltern vermittelt und von den Kindern angeeignet werden
Artigkeit: „Artig ist der, welcher alle Geseze beobachtet, die keiner gemacht haben will, und über die sich jeder beklagt. […]“ (G I, 52., 17). K 5. Zur reiferen Fassung dieses Gedankens vgl. PhE 618 (Güterlehre. Letzte Bearbeitung): „Die bildende Thätigkeit, sofern sie, als in jedem Einzelwesen eine andere, Unübertragbares und Zusammengehöriges hervorbringen soll, fordert das Nebeneinandergestelltsein und das Aufeinanderfolgen Ungleichbildender. | Auch dies, ursprünglich als Naturbedingung zu fordern, ist doch überall schon wirklich sittliche Thätigkeit. Daß im Kinde die Eigenthümlichkeit der bildenden Kraft, wie sie sich entwickelt, auch anerkannt wird, und nicht, indem man die identisch bildende in ihm übt, als Widerstreben gegen die vorgehaltene Norm gewaltsam zurückgedrängt, dies ist die sittliche Thätigkeit, ohne welche die Naturanlage ganz vergeblich sein würde, wie man überall sieht, wo diese Freiheit nicht waltet; ja sie würde zurückgedrängt werden, wie wir überall sehen, daß, wo die Erziehung ausschließend auf die Einerleiheit gerichtet ist, auch die Anlage zur Eigenthümlichkeit sich allmählig verliert.“ Vgl. Päd 567 f: „Nach dem Ende der Erziehung läßt sich jeder einzelne im moralischen Ganzen durch Eigenthümliches in verschiedenen Graden von den anderen unterscheiden, so daß der Grad den Unterschied macht von einer Stuffe der Bildung.Von dem jetzt aufgestellten Gesichtspunkt aus ist also die Darstellung einer individuellen | Persönlichkeit das Ende der Erziehung.“ PädA 72., 338. Claessens, Familie, 39. Vgl. zur Verschränkung von Individualitätsentfaltung und Gemeinschaftssinn im pädagogischen Handeln auch Fuchs, Grundlegung, 129 – 138.
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–, und zugleich das Individuum hier wie in kaum einer anderen Sozialform erkennbar wird.²¹⁷
Familiale und öffentliche Erziehung Erziehung ist ein komplexes Geschäft – erst recht angesichts der Anforderungen der Moderne – und das gesamtgesellschaftliche Interesse an ihrem Erfolg ist ausgesprochen hoch. Es drängt sich mithin die Frage auf: „Wer soll erziehen?“²¹⁸ Schleiermacher identifiziert – wie so oft – zwei Extreme, um sich in ihrer Mitte zu positionieren. Das eine erblickt er im Judentum: „Erziehung scheint da fast ganz in die Familie hineingefallen zu seyn“; das andere bei den Griechen: „Erziehung schon von zartem Alter an öffentlich“.²¹⁹ Bei letzterem steht freilich weniger die antike Lebenswelt als vielmehr das Ideal der platonischen Politeia Pate. Beide vermögen ihn nicht zu überzeugen: „Weder kann man in das platonische Extrem eingehen, noch auch die Jugendbildung ganz in der Familie isoliren.“²²⁰ Weil Fortpflanzung und Fürsorge für Schleiermacher unmittelbar zusammengehören, „so ist ja das natürlichste dieses, daß wo die Erziehung anfängt, sie auch fortgeht, und überall die ersten Anfänge und der Fortgang des Ganzen muß von den Eltern ausgehen.“²²¹ Die Erziehung aus der Familie herauszureißen, wäre unnatürlich, mithin unethisch, und außerdem praktisch kaum durchführbar.²²² Allerdings kann sie auch nicht ausschließlich in der Familie verbleiben, weder pragmatisch, weil die Familie selbst doch „mit dem sittlichen Verkehr, mit Staat und der Kirche in Verbindung [steht]“,²²³ noch programmatisch, denn die „Privaterziehung wird weit mehr Einseitigkeiten zum Resultat haben als die öffentliche“.²²⁴ Die familiale Erziehung muss mithin ergänzt werden. Schleiermacher wirft in diesem Zusammenhang die hochaktuelle Frage auf, ob man bei dieser Ergänzung nicht schichtenspezifisch differenzieren sollte; d. h. „die Zu dieser Einschätzung vgl. auch Kaufmann, Zukunft der Familie. Stabilität, 107: „Die Professionellen, welche in der Regel eine größere Zahl von Kindern gleichzeitig zu betreuen und zu unterrichten haben oder aber […] [mit] dem einzelnen Kind nur kurze Zeit konfrontiert sind, sind gar nicht in der Lage, in ähnlicher Weise die spezifischen Eigenarten und Bedürfnisse des einzelnen Kindes zu berücksichtigen wie die Eltern. Im Interesse des Kindes und seiner Identitätsentwicklung ist daher eine advokatorische Funktion der Eltern, d. h. die Wahrnehmung der spezifischen Interessen des einzelnen Kindes zu einer entscheidenden Erziehungsaufgabe geworden.“ Päd 592. Päd 549. PhE 665 (Bemerkungen von 1832 zur Tugendlehre von 1812/13). Päd 592. Vgl. Psy 48: „Nun ist natürlich eine Erziehung, wie Plato sie in seiner Republik darstellt, niemals ausgeführt worden, auch ist die Schwangerschaft und die nachherige Krankheit ein sehr großes Hindernis für diese beständige Richtung auf die öffentliche Erziehung […].“ Vgl. zur Thematik auch Päd 565 f. Päd 592. PädA 90., 341.
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Kinder der Gebildeten können ihre Kinder selbst erziehen hingegen die der Ungebildeten müssen sie dem Staat überlassen“.²²⁵ Hierzu prognostiziert er geradezu die gegenwärtigen Entwicklungen der staatlich garantierten und gleichermaßen ideologisch geforderten Übernahme der frühkindlichen Förderung durch die öffentliche Hand, wenn er sagt, eine solche Schichtendifferenzierung gäbe „einen unausweichlichen Zwiespalt zwischen beyden. Das wird nicht gehen, und der Staat würde die ganze Erziehung lenken.“²²⁶ Ob Schleiermacher in seiner Folgerung rechtbehält, muss die nähere Zukunft zeigen: „Hier geht ein so wesentliches Element des menschlichen Lebens verloren, daß wir sagen müssen die sittliche Macht des Menschen würde zu stark dagegen wirken.“²²⁷ Die frühkindliche Erziehung gehörte für Schleiermacher selbstverständlich in die Familie. Gegenwärtige psychologische Studien zur hohen Bedeutung familialer Intimität für die spätere intellektuelle, emotionale und psychische Entwicklung eines Kindes bestätigen diese Position.²²⁸ Zur Unterstützung in der weiteren Entwicklung sollten sodann die großen Institutionen auf den Plan treten: die Kirche zur Individualitäts- und Gesinnungsbildung; der Staat zum schulischen Unterricht und zur Talentbildung.²²⁹ Die Ablösung vollziehe sich sukzessiv.²³⁰ Ab wann und in welcher Intensität öffentliche Angebote zur Unterstützung in der Betreuung und Erziehung der Kinder von einer Familie wahrgenommen werden, beschreibt Schleiermacher ganz pragmatisch: Wo man sich in der Familie selbst mehr mit den Kindern beschäftigt hat, wird die Erziehung selbst in der Familie länger bleiben können. Wo aber die Eltern ganz in der Berufsthätigkeit aufgehen, und sich innerhalb der Familie Hülfe zu schaffen das Vermögen nicht haben, so erfolgt da das Eingehen in die öffentlichen Anstalten früher. Einen allgemeinen Grenzpunkt nicht zu bestimmen.²³¹
Die Entscheidung darüber wird eben nicht bloß nach entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten gefällt, sondern ist durch die lebensweltlichen Bedingungen der Familie oft bereits vorgegeben.
Päd 593. Päd 593. Päd 593. Selbst bei ungebildeten Eltern – wenn diese emotional stabil sind – ist ein Kleinkind i. d. R. besser aufgehoben als in einer professionellen Einrichtung, weil diese zu viele Stressoren für jenes mitbringt. Vgl. PhE 194 (Brouillon): „Die Kindererziehung (für den Staat gehört nur der Unterricht) ist also ein gemeinschaftliches Werk der Familie und der Kirche. In der Familie ist sie von Natur. Diese giebt aber als solche dem Gefühl nur das eine Element des individuellen Charakters […] und der Darstellung nur die beschränkte Harmonie ohne Virtuosität. Darum muß die Kirche hinzutreten als Princip der höheren Individualität und als höhere Kunstschule.“ Vgl. auch ChS 328 sowie ChS Beil 143. Vgl. Päd 671: „Am einen Ende ein Maximum des Einflusses der Familie und ein Minimum des Einflusses der größeren Lebensgemeinschaften und umgekehrt. Dieß gibt uns einen allmählichen Übergang […].“ Päd 690.
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Erziehung im Spannungsfeld von Öffentlichkeit und Privatheit bedeutet für die subjektive Sinndeutung zweierlei: zum Einen das Bewusstsein, dem Kind einen Lebensraum zu schaffen, in dem es sich geborgen und bedingungslos angenommen fühlen kann, in dem es wie von keiner anderen Sozialsphäre emotional getragen ist und auch gedankliche und moralische Orientierung erfährt;²³² zum anderen aber das Bewusstsein der eigenen Begrenztheit, die das Kind freigibt und motiviert, externe Bildungschancen zu ergreifen und Einflüsse wahrzunehmen, die das familiale Leben und die elterlichen Einstellungen zwar irritieren, aber dabei auch vielfältig bereichern können.²³³
Durch den Gehorsam zur Selbständigkeit Mündigkeit und Selbständigkeit können als das Generalziel modernen Erziehungshandelns gelten.²³⁴ Dem korrespondiert eine große Skepsis gegenüber dem Autoritarismus.²³⁵ Die vielfältig vorgetragene These des unmittelbaren Zusammenhangs von familialem Autoritarismus und politischem Totalitarismus lässt den Begriff des Gehorsams pädagogisch unbrauchbar, wenn nicht gar verwerflich erscheinen.²³⁶ Gehorsam erscheint als das Gegenteil von Urteilsfähigkeit. Schleiermacher bewertet die Sachlage ganz anders. Die wahre Gefahr für die Selbstmächtigkeit und Kritikfähigkeit des Menschen geht für ihn nicht vom Gehorsam, sondern von der Weichlichkeit und sinnlichen Korrumpiertheit der Geisteskraft aus.²³⁷ Vgl. dazu auch Kaufmann, Zukunft der Familie. Stabilität, 46 f: „Unter ‚modernen‘ Bedingungen sind die Sozialkontexte von Kindern im außerfamilialen Bereich durch eine hohe Fluktuation der relevanten Bezugspersonen gekennzeichnet. […] Die Eltern und Geschwister, aber in diesem Zusammenhang auch nicht zum Haushalt gehörige weitere Verwandte, stellen ein von den räumlichen und biographischen Veränderungen relativ unabhängiges Bezugssystem dar, das sich grundsätzlich besonders eignet, um die erforderliche ‚Kontinuität des Selbsterlebens‘ zu stützen und zu fördern.“ Ein ähnliches Fazit zieht auch Ringeling, Sexualität, 129: Für die Sozialisierung und gesellschaftliche Eingliederung eines Kindes ist die Kleinfamilie die beste Sozialform, insofern sie zum einen Rückhalt und Beständigkeit vermittelt, jedoch nicht so traditionsbestimmt ist, wie die Großfamilie, was Anpassungen an die sich wandelnden Anforderungen der Gesellschaft erschweren würde. Vgl. paradigmatisch aus dem Brouillon PhE 168: „Was dort [bezüglich der Familie – CR] von der Erziehung gesagt worden ist, gilt auch hier [im Falle der Schule – CR]; sie besteht bloß im erweckenden Umgang. […] Auch hier soll Selbständigkeit das Resultat der Erziehung sein, jeder soll wieder Genie werden und in dem Maaße, als sich das Wissen zur Individualität ausbildet, wird es auch jeder.“ Vgl. empirisch dazu aus der jüngeren Vergangenheit Reuband, Aushandeln. Vgl. paradigmatisch Horkheimer, Autorität, 86: „Je mehr die Abhängigkeit von der Familie auf eine rein psychologische Funktion in der Seele des Kleinkindes reduziert wird, desto abstrakter und unbestimmter wird sie im Bewußtsein des Heranwachsenden; nicht selten entwickelt sich daraus eine allgemeine Bereitschaft, jede beliebige Autorität zu akzeptieren, wenn sie nur stark genug ist.“ Vgl. W 485 (Ernestine, die Mutter Sofies, spricht): „[…] ich könnte wohl auch die Mutter des angebeteten Kindes sein, weil ich in der Tochter, wie Maria in dem Sohne, die reine Offenbarung des Göttlichen recht demütig verehren kann, ohne daß das rechte Verhältnis des Kindes zur Mutter dadurch gestört würde. – Darüber sind wir wohl alle einverstanden, sagte Agnes, daß das sogenannte Verzärten und Verziehen, das nur sich selbst zuliebe geschieht, nicht den Kindern, um sich etwas
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Schleiermachers anthropologisches Entwicklungsmodell, welches die soziale Vermitteltheit ethischer Güter stark macht, schließt das Postulat einer Phase des menschlichen Lebens ein, in der der Mensch eben noch nicht auf die Gründe seines Handelns ansprechbar ist. Moralische Rechenschaft von einem Kleinkind zu fordern, wäre eine schlichte Überforderung. In den ersten Jahren ist der Mensch in jeglicher Hinsicht abhängig von seinen Eltern, so auch in ethischer. Er kann sich keine Handlungsmaximen setzen, sondern allein durch Entsprechung zu den von seinen Eltern vorgegebenen Verhaltensnormen ethisch glänzen.²³⁸ Eine solche Entsprechung bildet den Kern von Schleiermachers Gehorsamsvorstellung. Wenngleich der Gehorsam selbst kaum als Tugend im eigentlichen Sinne gelten kann, hat er doch eine ethische Qualität, die sich an der ihm zugrundeliegenden Gesinnung bemisst. In Entsprechung zum von Kant beschriebenen emotional-moralischen Movens der ‚Achtung für das Sittengesetz‘ ist es hier die Achtung bzw. ‚Ehrerbietung‘ gegenüber den Eltern, die Schleiermacher als den rechten Grund pointiert.²³⁹ Sie basiere wiederum auf dem ‚Gefühl der Abhängigkeit‘, die zwar freilich keine ‚schlechthinnige‘ ist, wie im Falle der Religion, aber nahe an diese heranreicht.²⁴⁰ Vom derart fundierten, wahren Gehorsam ist es sodann kein weiter Weg zur Wahrhaftigkeit im moralisch qualifizierteren Sinn.²⁴¹
Unangenehmes zu ersparen, nichts zu schaffen haben kann mit dem, was du meinst.“ Vgl. auch PädA 62., 337: „Keine Behütung darf die Entwikklung der Selbständigkeit hemmen.“ So empfiehlt er seiner Braut, ihren kleinen Sohn durchaus – auch körperlich – zu fordern. Vgl. BB 263: „Daß Friedle sich etwas von Dir entwöhnt, ist mir gar nicht unlieb; erstens wirst Du dann doch offenbar weniger zertrampelt, und dann ist es nun überhaupt bald Zeit, daß der junge Mensch die Mutter vergißt und sich freier in die Welt hinaus begiebt. Mit der Selbstständigkeit kann ein Junge gar nicht zeitig genug anfangen, und je mehr Beulen und blutige Köpfe sie ihn kostet, desto besser.“ BB 405: „Verwöhne mir den Jungen [sc. Ehrenfried – CR] nicht mit tragen“ BB 93: „Trachte nur, ihn körperlich recht kräftig zu machen und recht gewandt durch Uebungen aller Art, je mehr Vertrauen Du auf seine Kraft und sein Geschikk sezen kannst, desto muthiger wirst Du ihn gewähren lassen.“ Vgl. PhE 130 (Späterer Zusatz am Rande zum Brouillon): „Zuerst ist das Leben ein Enstehendes und Verschwindendes. Die Kinder werden noch beseelt von der den Eltern einwohnenden Vernunft. Sie haben selbst den Trieb sich an die Eltern zu hängen, also schon ursprünglich gesezt in eine Gemeinschaft der Organe. Erst allmählig entwickelt sich Unabhängigkeit und Selbstständigkeit.“ Vgl. ChS 233 [Hervorhebungen getilgt – CR]: „Aber freilich, dieser Gehorsam muß ein freier sein, denn sonst kann sich keine Regung des Gewissens auf ihn beziehen; die Kinder müssen fühlen, daß nichts ihrem geistigen Zustande angemessen ist, als der Gehorsam.“ Vgl. H 315 f: „[…] die erste Grundlage dazu [sc. zur kindlichen Ehrfurcht – CR] ist ja in allen Kindern das Gefühl von der Abhängigkeit ihres Daseins, wie sie außerstande sich selbst zu erhalten und zu bewahren, immer empfangen müssen, was sie bedürfen; wie immer eine schützende Hand über ihnen waltet, und nur | unter der Leitung und Bearbeitung der Älteren ihre Kräfte sich allmählich entwickeln.“ Vgl. dazu auch BB 263. Vgl. H 318 f: „Und wie allgemein anerkannt ist nicht, daß auch das Befehlen nur recht verstehe, wer auch zuvor den Gehorsam recht geübt habe! Wer also in einem solchen großen Gemeinwesen dem zusammenhaltenden und belebenden Geist des Ganzen und den daraus hervorgegangenen Gesetzen und Ordnungen durch Ungehorsam Hohn spricht,, wer überall seinen Vorwitz und Eigendünkel walten läßt, oder immer erst äußerer Lockungen bedarf, um das zu tun, was ihm obliegt: der wird auf keinem
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Die Erzieher müssen sich im Gegenzug des Gehorsams als würdig erweisen. Ehrerbietung verdient schließlich allein eine moralisch integre Person. Das Anspruchsverhältnis zwischen Gebietendem und Gehorsamspflichtigen ist mithin ein wechselseitiges.²⁴² Der wahre Gehorsam kann sodann als Indikator für eine gute und gelingende Erziehung gelten.²⁴³ Schleiermacher macht zwei Hauptgefahren für ein in dieser Weise gelingendes Erziehungsverhältnis aus, die (selbstverständlich) beide die Erzieher zu verantworten haben: die Einmischung anderweitiger, sinnlicher Motivationen und die Gleichstellung mit dem Edukanden. Beide schleichen sich nur allzu leicht ein. Sein Kind durch die Aussicht auf eine Belohnung oder die Androhung einer Strafe zu einem gewünschten Verhalten zu bewegen, ist eine Erziehungsstrategie, die sich kaum umgehen lässt, schon gar in der ersten Zeit.²⁴⁴ Sie führt allerdings das Problem bei sich, dass das Kind sein Verhalten nicht aus dem Selbstverständnis der Loyalität zum Erzieher oder gar aus Einsicht in die Angemessenheit der Forderung motiviert, sondern aus einem externen Motiv heraus. Nicht die innere Gesinnung sondern der äußere Zwang ist hierbei maßgebend – und Zwang macht freie Ehrerbietung unmöglich.²⁴⁵ Schleiermacher stellt in Rechnung, dass Lohn und Strafe notwendig werden können, wo der Entwicklungsstand des Kindes die anderen Motive noch nicht verfügbar macht oder wo der Frieden und das Recht auf Unversehrtheit der anderen Familienglieder durch das ungehorsame Kind zu stark gestört werden. Er bleibt al-
Platz imstande sein, das Gute zu wirken […] Denn gehorchen sie uns auf die rechte Art: so wird auch dereinst die Ehrerbietung gegen das Gemeinwesen sie leiten; und befehlend oder gehorchend werden sie überall die Sicherheit und das Wohlergehen des menschlichen Lebens fördern helfen!“ Vgl. zu dieser Wendung auch Fuchs, Grundlegung, 171: „Dadurch wird deutlich, daß Schleiermachers Pädagogik nicht allein auf den mündigen Zögling zielt, sondern in ganz besonderer Weise den mündigen Erzieher erfordert und voraussetzt. Schleiermacher versteht nämlich seine Pädagogik nicht als Vermittlung von Erziehungstechniken und von jedermann mechanisch anwendbaren Methoden, sondern seine dialektische Entfaltung der Theorie der Erziehung will als eine Einführung in pädagogisches Denken und als Hinführung zu eigenverantwortlichem und eigenständigem erzieherischen Handeln gelesen werden, das eine letzte Orientierung an der regulativen Idee des höchsten Gutes findet.“ Vgl. H 310: „[…] ist der Gehorsam in den Kindern willig und lebendig, so ist auch unsere Erziehung rechter Art; schleicht sich aber der Ungehorsam ein, so muß entweder Erbitterung in ihnen entstanden sein, oder wir haben es fehlen lassen an Zucht und Ermahnung zum Herrn.“ Vgl. H 312: „Wie oft zum Beispiel geschieht es nicht, daß wir unsern Kindern den Gehorsam erleichtern wollen, indem wir ihnen Belohnungen vorhalten oder Strafen androhen. So gewöhnlich das aber ist: so ist es doch nur heilsam in den ersten Anfängen des Lebens, wo der Kinder geistiges Wesen noch so wenig erwacht ist, daß sie auch der Ehrerbietung nicht einmal fähig sind […].“ Zum Übergang von der Vorerziehung zur eigentlichen Erziehung empfiehlt Schleiermacher in einem Aphorismus die Zurücknahme der sinnlichen Befriedigungsintensität des ‚Lockmittels‘: „Man soll die Kinder lokken, aber nicht durch Kuchen: lieber durch etwas glänzendes oder sonst.“ (PädA 83., 340). Vgl. H 313: „Und die Furcht, wie sie mit der Liebe nicht besteht, so drängt sie auch die wahre Ehrerbietung zurück, welche eine so sinnliche Beimischung nicht verträgt!“ Vgl. auch ChS 237: „Wenn Strafe sollte Besserung hervorbringen können: so müßte sie Liebe erzeugen können; aber das ist unmöglich.“
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lerdings dabei, dass sie als äußerliche, gleichsam rechtliche Mittel nicht zur Erziehung im eigentlichen Sinne der Gesinnungsbildung gehören, sondern nur deren Vorform bzw. ultima ratio einer prekären Erziehungssituation sein können.²⁴⁶ Das schließt nicht aus, dass durch den Missbilligungsakt der Strafe hindurch der sittliche Anspruch des Erziehers erkennbar wird und werden sollte – eine Bestrafung, bei der sich der Erzieher in der Stimmung emotionaler Gleichgültigkeit gegen das Kind gebärdete, wie es nicht selten von Pädagogen gefordert wurde, erschien Schleiermacher unsittlich.²⁴⁷ Die andere „Corruption der Erziehung unserer Zeit“ erblickt Schleiermacher darin, den Kindern die Gründe für konkrete Forderungen zu entfalten.²⁴⁸ Das mag überraschen, soll das Erziehungsziel doch Einsicht und Selbständigkeit sein. Schleiermacher gibt allerdings zu bedenken, dass, wo der Erzieher sich gedrungen sieht, zu argumentieren, er sich mit dem Kind gleichstellt und explizit oder implizit Gegengründe zulässt.²⁴⁹ Wo aber Überzeugungen das Handeln leiten (sollen), da hört der Gehorsam auf.²⁵⁰ Kommt man in dieser Situation wiederum an den Punkt Gehorsam fordern zu müssen, weil die aufgebotenen Gegengründe eben nicht von entsprechender Reife und Weitsicht sind, so muss dies das Kind irritieren und frustrieren – eine bereits zuerkannte Würdigung wird ihm wieder aberkannt. Einer solch ‚zerstörenden Tätigkeit‘ versucht Schleiermacher mit seiner pädagogischen Forderung zuvorzukommen, man solle sich erst mit seinen Kindern auf eine Stufe stellen, wenn
Vgl. ChS Beil 115: „Der Anfangspunkt ist überall das Erwachtsein des Gewissens. […] Vorher nur Leitung durch Furcht und Hoffnung, die aber auch als Zucht nicht darf angesehen werden.“ ChS Beil 117: „Das Motiv muß allein die Erforschung und Stärkung der Willenskraft sein, ohne Furcht und Hoffnung einzumischen.“ ChS Beil 116: „Keine Hauszucht ohne Gymnastik für die Selbstbeherrschung.“ ChS Beil 118: „Es giebt also in der christlichen Hauszucht keine eigentlichen Strafen. […] Strafen finden statt, aber nur aus dem politischen Gesichtspunkte der Familie, sofern die häusliche Auctorität verpflichtet ist, jeden in seinen häuslichen Verhältnissen zu schüzen.“ ChS 235 f [Hervorhebungen getilgt – CR]: Schleiermacher differenziert genauer, „daß Strafen und Belohnungen in der Familie statt finden können, nicht sofern diese Element der Kirche, sondern sofern sie Element des Staates ist. […] Muß also der Staat strafen und belohnen, aber nicht um zu bessern, sondern nur um die Freiheit der einzelnen vor jeder Beeinträchtigung zu schüzen: so muß ein Analogon | davon auch in der Familie vorkommen […] Den Aeltern liegt beides ob, die Kinder zu bessern [kirchliche Seite – CR] und Ordnung im Hause zu erhalten [staatliche Seite]. Nichts ist gewöhnlicher, als daß beide Gebiete verwechselt werden und die Strafe also da angewandt wird, wo sie nicht hingehört.“ Vgl. dazu Fuchs, Grundlegung, 157. ChS 232. Vgl. H 314 f. Vgl. H 315. Vgl. auch BB 157: „Kinder haben ein ganz natürliches Gefühl von dem Unterschiede zwischen ihnen und den Erwachsenen und von der Auctorität der leztern, und dieses kann kaum auf eine andere Art erlöschen, als wenn diese sich selbst auf einen Fuß der Gleichheit mit ihnen sezen. Prüfe Dich nur recht, ob Du das nicht auf irgend eine Weise gethan hast, ob Du das Kind [sc. die ungehorsame kleine Jette – CR] nicht schon zu sehr als eine selbstständige Kraft anerkannt hast, die Dir wohl und weh thun, geben und nehmen kann. Suche nun auf alle Weise das Gefühl der Abhängigkeit in ihr zu nähren und zu stärken […]. Herstellen läßt sich das gewiß in ihrem jezigen Alter, wenn Du die gehörige Sorgfalt darauf wendest; aber aufschieben darfst Du es nicht.“
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sie die entsprechende Reife auch tatsächlich erworben haben;²⁵¹ deshalb: „Der Unterricht muß beredt sein, das Leben gesprächig, die Erziehung so wortkarg als möglich.“²⁵² In der sich mit der Gehorsamsforderung aussprechenden Asymmetrie zwischen Eltern und Kindern, liegt bei aller Herbheit, die sie zu haben scheint, doch viel Milde, weil sie vor Überforderung schützt, die ein Gleichheitspostulat unweigerlich mit sich bringt.²⁵³ In unterschiedlichen Zusammenhängen weist Schleiermacher auf die Notwendigkeit hin, den Entwicklungsstand des Kindes zu beachten,²⁵⁴ was eine besondere Herausforderung für die Reflexionsfähigkeit und Empathie der Elterngeneration darstellt und zugleich viele Erfolgserlebnisse, Momente des Staunens und des Stolzes verspricht. Ein Kind ist unter dieser Perspektive gegenüber einem Erwachsenen nicht einfach defizitär, sondern kann in den Koordinaten der Altersgemäßheit eigens gewürdigt werden. Der vertrauensvolle Gehorsam trägt die feste Erwartung des Kindes bei sich, dass die Eltern es gut leiten und fördern, d. h. dass sie das Ziel seiner Selbständigkeit an Vgl. Päd 713: „Eine zerstörende Thätigkeit soll nie ausgeübt werden. Daß man den Kindern einen Willen frage wies gefällt, und erst wenn sie sich weigern, sie bestimmen, da entsteht Eigensinn. In dieser Sache des Ernstes nicht zu spielen.“ Eine andere Gefahr kindlicher Hybris erblickt Schleiermacher in der Missdeutung der Dienste, die Kinder empfangen, weil sie ihrer bedürfen. Vgl. dazu Päd 716 f: „Die Kinder bedürfen Dienste. Die Dienenden erscheinen als Mittel, die denen gedient wird als der Zweck. Daher offenbar eine Umkehrung des eigentlichen Verhältnisses wenn sie sich einbilden, daß die Ältern zu ihrem Dienst da sind. […] Es kommt alles darauf an, daß sie so bedient werden, daß sie jenen falschen Schluß nicht annehmen können. Die Dienste die ihnen geleistet werden müssen von ihnen angesehen werden als Theil der Familienordnung.“ Ihre sukzessive Selbständigkeit und „Unabhängigkeit muß ihnen als ein Vorzug erscheinen. Das [ist – CR] der erste Grund zum Bewußtseyn der persönlichen Freyheit […]. Fühlt er sich immer von anderen abhängig so kann er zwar das falsche Bewußtseyn einer Herrschaft erlangen aber nicht das der persönlichen Freyheit.“ PädA 50., 335. Diesen Gedanken findet Schleiermacher bereits bei Aristoteles. Vgl. AÜ 55: „[…] die Freundschaft des Vaters gegen den Sohn ist von ganz andrer Art als des Sohns gegen den Vater […] jeder muß nach einer ganz andern Vollkommenheit streben, ein ganz anderes Betragen einschlagen; jeder liebt aus einem andern Grund, hat also auch eine andre Zuneigung.Was der eine von dem andern fordern kann, darf dieser nicht wieder von ihm begehren, sondern diese Verbindung wird nur dadurch dauerhaft und im Gleichgewicht erhalten, wenn jeder das thut, was seinen Verhältnißen gemäß ist […].“ Vgl. PädA 24., 331: „Auf der ersten Stufe muß das Kind seine Existenz ganz in der Familie haben. Die Ansprüche aller anderen Sphären gehen nur durch die Familie auf das Kind. In der Kirche ist dies anerkannt; es sollte auch anderwärts so sein. Jedes Heraustreten des Kindes aus der Familie ist ein Uebergang, den man nicht zu früh machen kann.“ Zur religiösen Erziehung bestimmt Schleiermacher in der Frage, „wie früh denn überhaupt die geschichtliche Mittheilung des Christenthums beginnen müsse“: „So früh als möglich, damit die Ausbildung des religiösen Princips nicht aufgehalten werde“, und „So spät als möglich, damit man sicher sei, daß es auch richtig verstanden und Superstition fern gehalten werde.“ (ChS 229 [Hervorhebungen getilgt – CR]). Vgl. dazu auch W 490 f: In Bezug auf die religiöse Erziehung der Sofie moniert Leonhardt: „[…] daß ihr dem Kinde sogar die Bibel gebt. Ich will hoffen, nicht ganz frei hin zum eignen Gebrauch; […] Wie soll es nun werden, wenn sie die heilige Geschichte mit den andern Feenmärchen in sich aufnimmt? Ob diese hernach ebensoviel gelten als sie, oder sie ebensowenig als jene, beides ist gleich verderblich […].“
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streben. Die Tendenz des Kindes am Gehorsam festzuhalten entspricht mithin dem Bestreben der Eltern es freizugeben. Treffen beide zusammen, so kommt es zu einer relativ konfliktarmen, sukzessiven Ablösung des Kindes von seinen Eltern.²⁵⁵ Beide Parteien können sich als Schenkende und Beschenkte erleben. Das Kind hält am besonderen Respekt seinen Eltern gegenüber fest und die Eltern ehren es mit dem Eröffnen von Perspektiven und mit Zutrauen.²⁵⁶ Schließlich, spätestens mit der Gründung einer eigenen Familie durch die Kinder, kommt es unweigerlich zu einer Ablösung vom Elternhaus und es stellt sich eine weitgehende Symmetrie zwischen ihnen ein, ähnlich einer Freundschaft.²⁵⁷
Vertrauen und Vertrauensbruch Vertrauen ist in der Erziehung alles.²⁵⁸ Wenn sich Kinder in der Obhut ihrer Eltern sicher und geborgen fühlen, so können sie sich aus diesem ‚Urvertrauen‘ heraus auch
Vgl. PhE 332 (1812/13): „§ 71. Die Bildung der Kinder ruht auf der Pietät und geht, weil ursprünglich das bildende Princip ganz in den Eltern ist, vom Gehorsam aus. | § 72. In den Eltern ist aber zugleich ein Suchen der sich entwickelnden Eigenthümlichkeit und eine Neigung in demselben Verhältniß, als diese sich entwickelt, frei zu lassen. | § 73. Da die Pietät auf die Verlängerung des Gehorsams, die elterliche Liebe aber auf die Verkürzung desselben geht, so können die natürlichen Modificationen des Verhältnisses bis zum Ende der Familiengemeinschaft sich ohne allen Zwiespalt abwickeln, worauf eben alle Sittlichkeit beruht.“ Vgl. dazu auch aus den Bemerkungen von 1832 zur Tugendlehre von 1812/ 13 PhE 665 f sowie PhE 388 f (Randschrift von 1827 zur Ethik von 1812/13): „Die gebundne ungleiche Liebe ist Fürsorge auf der einen Seite, Ehrfurcht auf der andern. […] Im menschlichen [Verhältniß] besteht die Fürsorge aus zwei Momenten: der freilassenden, welche auf die zunehmende Gleichheit geht, der leitenden, welche auf die bestehende Ungleichheit. Die freilassende beschränkt die Ungleichheit. Das Sezen der Mündigkeit geht nicht von den | Kindern aus, und so überall, sondern von den Eltern. […] Die Ehrfurcht ist Gehorsam und Scheu. Gehorsam ist die Willigkeit aus Gefühl für die überwiegende Vernunftmacht; also nicht äußerlich, sondern Gesinnung, aber weder Gerechtigkeit noch Weisheit. Scheu ist die Abneigung etwas gegen den Willen des übergeordneten Theils an sich zu haben, aber nicht als in Bezug auf ein gegebenes Gebot, sondern als Ahndung, also als eigne Construction, die aber nur Nachbildung ist. Also: soviel leitende Fürsorge in dem einen, soviel Gehorsam muß in dem andern sein, und soviel Scheu in diesem ist, soviel freilassende darf in dem andern sein.“ Vgl. H 322: „Und ob dahin unsere Zucht und Vermahnung zum Herrn sie richtig führe, das können wir am sichersten daraus erkennen, wenn auch bei zunehmender Selbstentwicklung und Freiheit sie in der Billigkeit des Gehorsams beharren. Dann können wir mit Ruhe erwarten, daß dieses Band des Gehorsams sich allmählich selbst löse, […].“ Vgl. H 320 f: „Die Kinder sollen gehorchen; aber es kommt eine Zeit, und wohl den Eltern, welche sie noch recht lange mit genießen, da die Kinder, ihre eigene Stelle einnehmend in der bürgerlichen Gesellschaft, selbst verantwortlich sind für ihr Tun, welches vielleicht in vieler Hinsicht dem der Eltern fremd und also auch ihrem Urteil weniger unterworfen ist; ja zuletzt, indem sie selbst Eltern werden, | werden sie auch ihren Eltern gleich; und dies ist also eine Zeit, wo aller Befehl sich in wohlgemeinten Rat, alles elterliche Ansehen sich in väterliche und mütterliche Freundschaft verwandelt. Die Veränderung aber erfolgt allmählich; […].“ Vgl. Päd 710: „Das natürliche Verhältniß zwischen den Kindern und den Erwachsenen soll durchaus Vertrauen seyn, das Bewußtseyn das beständig wiederkehren soll, dann bleiben sie auch in der Liebe.“
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frei und froh ihrer Umwelt zuwenden und diese erkunden.²⁵⁹ Es fällt ihnen zudem leichter, sich selbst zu öffnen, ihre eigenen Neigungen und Begabungen zu entdecken und gemeinsam mit ihren Eltern zu verfolgen und zu entwickeln.²⁶⁰ Auch Konfliktsituationen werden leichter zu bewältigen sein, wenn die Kinder in ihrer momentanen Frustration darauf vertrauen können, dass es ihre Eltern gut mit ihnen meinen und im Bemühen um ihr Bestes handeln.²⁶¹ Sich als Erzieher dieses Vertrauen zu verdienen und es zu pflegen, ist mithin eine Aufgabe, die vieler Opfer wert scheint.²⁶² Es kann eine Intimitätsqualität entstehen, wie sie in kaum einem anderen Sozialverhältnis möglich ist.
Vgl. hierzu das Referat der Platz-Nachschrift der Pädagogik Schleiermachers bei Winkler, Geschichte, 144 f: „Der Familie bedarf es […] mit unabdingbarer Notwendigkeit. Denn in ihr ist das Kind als Teil eines natürlichen Zusammenhangs geborgen und verborgen, in dessen lebendigen Wechselwirkungen es nicht nur die Bedingungen seiner physischen, sondern auch seiner psychischen Entwicklung findet. In dem ‚natürlichen Verhältnis‘ des ‚Vertrauens‘ […] gewinnt es das lebensnotwendig[e] ‚Urvertrauen‘ darauf, daß man ‚sich auf die Versorger aus der Umwelt … verlassen‘ kann und ‚daß man sich selber und der Fähigkeit der eigenen Organe, mit den Triebimpulsen fertig zu werden, vertrauen kann‘ […].“ Weiterführend zur Thematik vgl. Bollnow, Pädagogik, 39 – 47: Bollnow nennt als ‚gefühlsmässige Faktoren‘, die für das Gelingen von Erziehung ‚unerlässliche Bedingungen‘ darstellen: die ‚frühkindliche Geborgenheit‘, d. h. den durch die Eltern vorgegebenen vertrauten und sicheren Rahmen, in dem sich das Kind sinnvoll und gefahrlos bewegen und den Dingen zuwenden kann; die ‚freudige Gestimmtheit des Kindes‘, d. h. die Unbekümmertheit und relative Sorgen- und Angstfreiheit, die allererst eine Öffnung zur Welt gestattet und diese motiviert; ‚Liebe und Vertrauen des Erziehers‘, d. h. das wagnishafte Zutrauen zum Kind, die diesem die Chance geben, sich die angemuteten Haltungen und geforderten Leistungen auch selbst zuzutrauen; und ‚die Geduld‘, ein ‚letztes Seinsvertrauen‘ des Erziehers, aus dem dieser die Kraft und Zuversicht schöpfen kann, bei allen Stagnationen und Rückschlägen der kindlichen Entwicklung engagiert und zugleich ruhig zu bleiben (detaillierter dazu siehe ebd., 187– 246). Zur hohen Bedeutung des familialen Klimas für die Entwicklung des Kindes vgl. auch Neidhardt, Strukturbedingungen. Vgl. H 283: „Je mehr Spannung zwischen uns und ihnen stattfindet, um desto leichter werden wir uns über sie irren. Sind sie durch Erbitterung scheu geworden, so verschließen sie uns den Zugang zu ihrem Inneren; eine Rinde umzieht das junge Gemüt, durch welche oft auch das Auge der Weisheit und der Liebe nicht hindurchdringen kann.“ Vgl. H 273 f: „[…] so kommt dann, soll unser Werk gedeihen, alles darauf an, wie sie [sc. die Kinder – CR] sich uns zur Heilung hingeben, wie sie uns vertrauen, daß wir es wohl meinen und machen, auch mit manchem, was ihnen schwer eingeht. […] | wenn wir nur […] sicher sind, ein vertrauendes Herz zu finden, welches glaubt, wenn wir weinen, müsse es eine Ursache geben zu Tränen, wenn wir erschrecken, müsse Gefahr da sein, wenn wir harte Mittel wählen, könne es mit leichteren nicht getan sein! Steht es so, so ist noch nichts verloren; wir haben an dem ehrfurchtsvollen Vertrauen der Kinder einen Bundesgenossen in dem Platze selbst, den der Feind eingenommen; und den vereinten Kräften wird der Feind weichen müssen.“ Manches Mal widersprach Schleiermacher in seiner Hauslehrerzeit sogar offen dem Grafen zu Dohna; „er hielt doch in Differenzfällen für seine erste Pflicht, den Kindern ein Beispiel der Ehrlichkeit und Wahrheit zu geben, lieber etwas weniger klug zu handeln, als ihnen versteckt und listig zu erscheinen.“ (Dilthey, Leben I, 58).
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Gerade ebenjene Intimität ist es jedoch, welche das Aufkommen von Konflikten und das Ausagieren von Spannungen wahrscheinlich macht.²⁶³ Oft sind es gerade die guten Absichten der Eltern welche, wo sie enttäuscht werden oder ihre Wirksamkeit bedroht scheint, in ihr Gegenteil umschlagen.²⁶⁴ Wir haben es bereits mehrfach gesehen: die emotionale Aufladung der Familie macht Enttäuschungen nicht nur wahrscheinlicher sondern auch schwerwiegender und legt bei Gegenmaßnahmen eine entsprechend höhere Intensität nahe.²⁶⁵ Hinzu kommt, dass die Verantwortung für Kinder und deren Erziehung viele Eltern immer wieder an ihre Belastungsgrenze bringt. Andauerndes Gefordertsein sowie Lärm und Streit setzen dem Körper und dem Nervenkostüm zu und provozieren Härte und manchen Kontrollverlust.²⁶⁶ Die Selbsterfahrung von Verantwortung und Scheitern wird in der Familie, wie in kaum einer anderen Lebenssphäre, angestoßen. Eine Einsicht drängt sich schließlich jedem auf, der einmal die Fassung verloren hat, und erst recht dem, der beständig dazu neigt: […] erziehen können wir gar nicht durch Gewalt. […] Darum sind es auch gewöhnlich wir Eltern, die in diesem Kampf der Gewalt ermüden, früher oder später die Kinder ihrem eigenen Wege und der göttlichen Erziehung überlassen, und traurig, ja gleichsam besiegt zurückbleibend, nichts mehr haben, womit wir sie begleiten, als für sie fromme Wünsche, von denen wir nicht wissen, ob sie nicht vergeblich sind, und für uns reuige Tränen, die höchstens nur uns und andern eine Warnung werden können für die Zukunft.²⁶⁷
Ist Schleiermachers Warnung vor der Gewalt auch – mit Recht – scharf und eindringlich, indem er zu verstehen gibt, dass es ein Zu-spät für die Errichtung oder Wiederherstellung einer vertrauensvollen Eltern-Kind-Beziehung gibt, so weist er doch ganz im Sinne des christlichen Gedankens von Buße und ihrer Annahme zugleich auf die Möglichkeit zur Umkehr hin. Wo die Beziehung noch von Liebe und Vertrauen getragen ist, kann die Verfehlung bald zurückgelassen werden.²⁶⁸ Denn zum
Vgl. Honig, Gewalt, 86 – 89. Nicht zufällig betrifft eine große Zahl von Polizeieinsätzen Familienstreitigkeiten und ebenso wenig zufällig ist „‚Familienmitglied‘ […] die größte einzelne Opfer-Kategorie“ (ebd., 76). Vgl. zu dieser Diagnose auch Beck/Beck-Gernsheim, Chaos, 181. Zum Thema Schul-Ehrgeiz der Eltern und den Belastungen, die daraus für das familiale Verhältnis erwachsen vgl. auch Tyrell, Probleme, 60 – 62. Vgl. dazu Beck/Beck-Gernsheim, Chaos, 182. Zum Verhältnis von emotionalem Stress und (dem Verlieren) von Selbstkontrolle vgl. Baumeister/ Bushman, Emotionen, 609 – 611. Zu Risikofaktoren, Arten, Häufigkeit und Präventivmaßnahmen von Gewalt gegen Kinder vgl. Garbarino/Bradshaw, Gewalt, 899 – 920. Weitergehend zu Gewalt in der Familie vgl. Gelles, Gewalt, 1043 – 1077. H 276 f. Vgl. H 274: „Ja, haben wir auch, wie uns das begegnen kann und oft begegnet, einen falschen Weg eingeschlagen: sobald wir merken, daß wir neues Unheil erzeugt haben, indem wir einem alten entgegen arbeiten wollten, können wir mutig umkehren und von vorne anfangen. Zeit kann verloren sein, manche Freude kann verloren sein oder weiter hinausgesetzt; aber in der Sache ist nichts verloren, die
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einen können sich die Eltern dessen trösten, dass die menschliche Psychohygiene darauf eingestellt ist, einzelne Widrigkeiten gern zu vergessen, zum anderen „kommt uns das zustatten, daß die menschliche Seele ein ahnungsreiches Wesen ist von Jugend an“, welches gut zu unterscheiden weiß zwischen einem momentanen Geschehen und dem Grundcharakter einer Beziehung.²⁶⁹ Wo hingegen die Liebe in den Kindern erloschen und das Vertrauen in die Eltern verloren gegangen ist, da helfen nur „[u] nerschöpfliche Geduld“, „völligste Selbstbeherrschung“ und „reinste Selbstverleugnung – ein langsamer und mühevoller Weg“, um sie vom Gegenteil zu überzeugen.²⁷⁰
Die dialogische Qualität der Erziehung Der Begriff der Erziehung legt die Assoziation einer Einlinigkeit nahe; der Erzieher handelt auf den Edukanden. Damit wären allerdings sowohl das Phänomen unzureichend beschrieben, als auch wichtige Aspekte seiner Sinnstiftungskraft unterschlagen. Vielmehr handelt es sich um ein Wechselverhältnis bzw. einen ‚Kreislauf‘, wie Wolfgang Trillhaas mit Blick auf die dritte der Hausstandspredigten schreibt, welche nicht von den Erziehern, sondern von dem, was diese von ihren Kindern erwarten können, handelt, „also innerhalb des Erziehungsgedankens die Umkehrung bedeutet“.²⁷¹ Zwar ist das Verhältnis zwischen Lehrer und Lernendem hinsichtlich ihrer intellektuellen Bildung von einem relativ starken Gefälle geprägt: die ältere Generation teilt ihr Wissen mit, die Jugend eignet es sich an; allerdings gibt es auch hierbei eine Wechselwirkung, denn die Aneignung schließt selbst wiederum Aspekte der Mitteilung ein und die Mitteilung ist für den Lehrenden zugleich die Gelegenheit einer neuerlichen Aneignung.²⁷² Beide Parteien sind sich bei diesem kommunikativen Vollzug im Verhältnis zu ihrem Gegenstand letztlich nahezu gleich.²⁷³ Streitkräfte gegen das Böse sind nicht verloren, wenn nur die Liebe nicht erloschen ist und das Vertrauen feststeht.“ H 284 f. H 275. Trillhaas, Schleiermachers Predigt, 107. Vgl. PhE 290 (1812/13): „§96. Die Jugend als die Zeit der Bildung des Charakters ist in dem allmähligen und einzelnen Heraustreten der Eigenthümlichkeit aus der Identität ein Uebergewicht der Aneignung über die Mittheilung. | §97. Das Alter als Aufgehobensein der Bildsamkeit aber, als fortdauerndes Leben der persönlichen Sphäre durch bloß erhaltende Thätigkeit, ist bei der Mannigfaltigkeit derer, für welche das Eigenthum aufgeschlossen ist, ein Uebergewicht der Mittheilung. | § 98. Die Culmination des Lebens ist im Bewußtsein der eigenthümlichen Einheit das hervortretende Gleichgewicht und der rasche Wechsel der Aneignung und Mittheilung.“ PhE 308 (1812/13): „§ 196. In jedem vollendeten Act ist ein Zugleichsein beider Momente.“ Dazu ebd. (Zusatz am Rande 1827): „Die Culmination ist auch hier in zwei Brennpunkten; Maximum von Entdeckung ist Reife der Jugend; Maximum von Mittheilung ist Jugend des Alters.“ Im Ethikkolleg von 1814/16 stellt Schleiermacher eine Art Kategorischen Imperativ des Lehrens und Lernens auf: „Das Denken ist also in jedem nur sittlich, inwiefern er sich als für alle denkend, also in der Mittheilung sezt, und das Aufnehmen ist nur sittlich, insofern als das Gedachte als ein[e] auch
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Geht es nicht um die Frage von Loyalitäten oder intellektueller Bildung, sondern um die emotionalen Qualitäten des Eltern-Kind-Verhältnisses, so wird die Reziprozität erst recht deutlich. An seine Braut schreibt Schleiermacher: Gewiß ist die herrschende Stimmung der Mutter und der sich bildende eigenthümliche Geist des Kindes sehr eins und dasselbe […] nur, es ist noch gar nicht ausgemacht, ob nicht das sich bildende Wesen des Kindes eben so sehr Ursache ist an der Stimmung der Mutter als diese an jenem.²⁷⁴
In der Kommunikation mit Kindern ist zudem für Erwachsene eine Chance zu regressivem Verhalten gegeben, welche ansonsten gesellschaftlich kaum vorgesehen ist. Hier ist es erlaubt bzw. gar geboten – um dem Entwicklungsstand der Kinder gegenüber angemessen zu agieren – zu spielen und sich kindlich zu gebärden.²⁷⁵ Zugleich stellen Kinder ihre Eltern allerdings auch vor die Herausforderung, wirklich erwachsen zu werden. Nach der Adoleszenz ist es wohl vor allem die Elternschaft, welche den (jungen) Erwachsenen in die Progression drängt und Reifungspotentiale für seine Persönlichkeit bereithält.²⁷⁶ Wir haben es uns oben bereits vor Augen geführt, Kristallisationspunkt für die Ebenbürtigkeit mit den (alten) Eltern ist die eigene Elternschaft.
Gegenwärtigkeit und Zukunftsorientierung In der Erziehung spricht sich unmittelbar das Bestreben aus, einen gegenwärtigen Zustand zugunsten eines in der Zukunft angestrebten zu überwinden, man „behandelt […] jeden Moment nur als Mittel für einen künftigen.“²⁷⁷ Schleiermacher fragt in seiner Pädagogikvorlesung angesichts dessen noch einmal ganz grundlegend zurück: „Darf man einen Moment einem andern aufopfern?“²⁷⁸ Er findet hierzu eine eindeutige Antwort und wendet zu ihrer Begründung Kants erste Ableitung des Kategorischen Imperativs in die Zeit: „Offenbar Nein; so wenig man einen Menschen bloß als Mittel
im Hervorbringenden beharrliche Vernunfthandlung gesezt wird; und dies Verhältniß ist das des Lehrens und Lernens.“ (PhE 444). BB 180. Das Beispiel des Modelleisenbahn-spielenden Vaters ist ebenso klischeehaft, wie häufig realiter verifizierbar. Vgl. zur Thematik auch Claessens, Familie, 153 f. Vgl. Claessens, Familie, 154 f. Das Erlebnis der Überlegenheit gegenüber dem Kind, bei kleinen Fehltritten, Verletzungen oder Gefühlsausbrüchen nicht mit ihm der Situation ausgeliefert zu sein, sondern in Milde und Humor die Dinge leichter nehmen zu können und damit auch für das Kind tröstlich zu entschärfen, ist eine Selbsterfahrung, die auch auf den Erzieher selbst erbaulich zurückwirkt. Vgl. dazu Bollnow, Pädagogik, 242– 244. Päd 269 (1813/14). Päd 269 (1813/14) [Hervorhebung getilgt – CR].
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für den andern behandeln darf. Denn der Mensch des künftigen Moments ist nicht mehr der des vorigen.“²⁷⁹ Dem Kind deshalb die Erziehung zu verweigern, konnte freilich keine angemessene Schlussfolgerung sein. Vielmehr bedient sich Schleiermacher zur Lösung der bestehenden Diskrepanz wieder einer Mischungsfigur. „[W]as Vorbereitung ist, muß zugleich auch unmittelbare Befriedigung sein“²⁸⁰ und umgekehrt.²⁸¹ „Je mehr sich dieses durchdringt, desto vollkommener ist die pädagogische Einwirkung. […] Die Aufgabe ist also eine solche Vereinigung bey welcher gar keine Aufopferung statt findet.“²⁸² Damit ist zugleich ein Korrektiv installiert: wenn es zu schwer fällt, beide Seiten miteinander in Einklang zu bringen, wenn sich also das zukunftsgerichtete Handeln gar nicht in Übereinstimmung mit dem gegenwärtigen bringen lässt, so kann dies ein Indikator dafür sein, dass die antizipierte Zukunft den individuellen Anlagen des Kindes eben nicht entspricht. Diese sind schließlich stets zu beachten und wird ihrer Entwicklung gemäß gehandelt, so wird sich kaum ein scharfer Widerspruch einstellen.²⁸³ Was wir oben kategorial über das Verhältnis von ‚Sein‘ und ‚Sollen‘ in der ethischen Theoriebildung herausgearbeitet haben,²⁸⁴ konkretisiert sich anhand des Erziehungstelos’ der ‚individuellen Sittlichkeit‘. Ein vom Sein abgelöstes Sollen ist unmenschlich, weil es in Missachtung über das Individuum hinweggeht; ein sich vom Sollen lossagendes Sein hingegen ist ebenso unmenschlich, weil es die Potentiale des Kulturwesens Mensch verschenkt.²⁸⁵ Hinzu kommt, dass die Zukunftsorientierung an sich überhaupt nicht dem gegenwärtigen Sein der Kinder widerspricht; streben diese doch in unterschiedlichsten Hinsichten bereits von sich aus voran – wollen laufen und sprechen lernen, wollen die Welt verstehen und sich aneignen.²⁸⁶ Als Modus des auf die Zukunft perspektivierten Gegenwartsgenusses stellt Schleiermacher das übende Spiel vor. Das Spiel befriedigt die gegenwärtigen Bedürfnisse des Kindes, während die darin angelegte Übung es in seiner Entwicklung
Päd 269 (1813/14). Päd 269 (1813/14). Vgl. Päd 270 (1813/14). Vgl. dazu auch Hölzer, Übung, 47 f. Päd 581 (1826).Wo es gelingt, liegt etwas ganz Erfüllendes in diesem Verhältnis: Das gegenwärtige Leben wird genossen und dies nicht einmal auf Kosten des zukünftigen Lebens, sondern in dessen Dienst. Eine ähnliche ‚Win-Win-Situation‘ bietet der erhebende Gottesdienst, der einen gegenwärtigen ästhetischen Genuss vermittelt und zugleich eine ethische Erhöhung verspricht, die für die Zukunft bzw. das Eschaton nützlich erscheint. Vgl. dazu Päd 582 (1826). Zu Restriktion und Übergehen der gegenwärtigen Bedürfnisse und Freuden im Dienste der Ideale einer (zukünftigen) Erwachsenenwelt am Paradigma der Mädchenerziehung um 1800 vgl. Hopfner, Mädchenerziehung, 74– 90. S.o. I.3.1.1. Vgl. zur Thematik auch Fuchs, Grundlegung, 114– 118 sowie weiterführend Bollnow, Pädagogik, 33 – 35. Vgl. dazu auch Kleint, Pädagogik, 219 f.
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fördert.²⁸⁷ Schleiermacher hatte erkannt, dass Übung und Lernen in der jeweiligen Gegenwart und für den entsprechenden Verstehenshorizont des Menschen einen Sinn ergeben müssen²⁸⁸ bzw. Freude bereiten müssen, wenn sie wirksam sein und dem Menschen in seinem nicht nur individuellen sondern auch aktuellen Lebens- und Glücksanspruch gerecht werden sollen. Die motivierende Kraft des Wettstreits hat er hierbei ebenfalls im Blick.²⁸⁹ Schleiermacher bedenkt in seinen pädagogischen Erwägungen freilich v. a. das angeleitete Spiel. Die Übungs- und Lernpotentiale des freien explorativen Spiels hat er, soweit ich sehe, weniger im Blick. Sie sind es, die gegenwärtig z.T. zu schwinden drohen. Aber diese Diagnose geht freilich über Schleiermacher hinaus.²⁹⁰ Ein anderer Aspekt der Zukunftsträchtigkeit des gegenwärtigen erzieherischen Handelns wird von Schleiermacher nur am Rande in der Weihnachtsfeier gestreift. Er erscheint aber durchaus bedeutsam und soll uns zum nächsten Kapitel hinüberleiten. Gemeint ist die Vorbildwirkung des Erziehungsstils der Eltern für jenen, den die Kinder einmal selbst entwickeln werden.²⁹¹ Wer erzieht, tut dies als jemand, der selbst einmal erzogen und dadurch geprägt wurde und prägt selbst mit seinem Handeln indirekt bereits den Erziehungsstil, den seine Enkel einst erleben werden. Wieder
Vgl. Päd 583: „Was in dem kindlichen Leben die Befriedigung des Moments ist ohne eine Richtung auf die Zukunft ist Spiel im weitesten Sinn des Wortes, die Beschäftigung, welche ihre Richtung in die Zukunft hat ist Übung.“ Nähmen wir beide Aspekte zusammen, „So würden wir die Erziehung von jenem Widerspruch befreyen und mit der allgemeinen Ethischen Forderung in Übereinklang gebracht haben, der Zögling würde in vollkommenster Form als Mensch behandelt. Aber ist das möglich, die Übung an das Spiel zu knüpfen? […] Denken wir das Spiel als ein progressives, so erscheint es immer als Übung.“ Vgl. dazu auch Schleiermachers Ratschlag an seine Braut (BB 263): „[…] mache, daß Henriette ordentlich sprechen lernt. Mache ihr jeden Bonbon zur Uebung.“ Vgl. BB 309: Unterricht muss Schritt für Schritt voranschreiten, so dass jede Einheit vollkommen verstanden ist. Bei alledem ist „Selbstthätigkeit der Kinder“ sehr wichtig.Vgl. dazu auch PädA 70., 338: „Alles gute was der Zögling leistet, muß man zu einer Basis machen worauf man Forderungen gründet.“ Vgl. BB 305: „Wenn er [sc. Ehrenfried – CR] mehr Lust zum Lernen hat als Jette, so ist es desto nothwendiger, daß Du ihn bald heranziehst, damit sie durch den Wetteifer einen neuen Sporn bekommt. Ueberhaupt, sobald ein Kind anfängt zu spielen, muß es auch anfangen zu lernen, und man muss ihm jedes Spiel zu einem Unterricht machen;“ Vgl. dazu Kaufmann, Zukunft der Familie. Stabilität, 106: „Eine der nachhaltig wirksamsten Langfristentwicklungen scheint die Einschränkung der für Kinder zugänglichen Lebensräume zu sein. Insbesondere der zunehmende Kraftfahrzeugverkehr, aber auch die intensivierte Nutzung von Grund und Boden in verdichteten Siedlungsgebieten haben die Wohnumfelder der meisten Kinder anregungsärmer, gefährlicher und in größerem Umfange unzugänglich gemacht. Damit schränkt sich der ‚erspielbare‘ Erfahrungsbereich nachhaltig ein.“ Gespielt werden kann meist nur unter Aufsicht und Anleitung von Erwachsenen in von diesen künstlich geschaffenen und umfriedeten ‚Sonderumwelten‘. „Schutz und Ausgrenzung sind somit die dominierenden Haltungen, mit denen die Gesellschaft der Erwachsenen hierzulande Kindern begegnet.“ Vgl. hierzu auch den interessanten Befund der Shell-Jugendstudie (Shell, Jugend 2015, 53 – 56): 74 % der Jugendlichen sind mit dem Erziehungshandeln ihrer Eltern so zufrieden, dass sie ihre eigenen Kinder selbst einmal in ebenjener Weise erziehen wollen.
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verbinden sich Verantwortung und Wertgefühl in einer eigentümlichen Weise, wie sie Schleiermacher in der kurzen Sequenz darstellt, als die kleine Sofie zu ihrer Mutter spricht: „Gewiß, ich will auch eine solche [Mutter – CR] werden, wie du eine bist. Die gerührte Mutter hob sie auf und küßte sie.“²⁹²
2.1.3 Erwachsene Generationenbeziehungen Die menschliche Biographie zeichnet einen Bogen. Von der kindlichen Abhängigkeit und Unmündigkeit schreitet der Mensch voran zur Selbständigkeit und Selbstmächtigkeit, um im Alter schließlich wieder in eine mehr oder weniger ausgeprägte Abhängigkeit und Hilfsbedürftigkeit zurückzusinken.²⁹³ Die Familie ist diejenige Sozialsphäre, welche den Mangel, den die Endpunkte einschließen, in herausragender Weise kompensiert: das einst hilfsbedürftige Kind sorgt dereinst für seine alternden Eltern; die fürsorglichen Eltern können auf die Loyalität und Fürsorge ihrer erwachsenen Kinder im eigenen Alter rechnen.²⁹⁴ Abhängigkeit und Verantwortungsübernahme – zunächst für die eigenen Kinder, sodann für die eigenen Eltern – lösen einander u.U. nahtlos ab. Die ‚Bögen‘ überlagern sich; so bleibt das Gesamtleben auf der Höhe, wie Schleiermacher in seinem Ethikkolleg von 1812/13 formuliert: „In jeder Familie als Einheit ist eine Zulänglichkeit für den ethischen Prozeß gesezt.“²⁹⁵ Im Folgenden wollen wir beide Perspektiven, die sich aus diesen Überlagerungen für das Subjekt ergeben, eigens bedenken: zunächst die Perspektive auf die nachfolgende Generation, sodann jene auf die vorangehende.
Anerkennen und Sich-Anvertrauen – die Beziehung zu den erwachsenen Kindern Die Erziehung von Kindern ist auf die Herstellung einer Symmetrie und ihre Entlassung in die Selbständigkeit gerichtet – dies haben wir bereits eingehend bedacht.²⁹⁶ W 482. Vgl. ChS Beil 68, §191: „Beide Sphären des verbreitenden Handelns haben ihre Wurzel in der Geschlechtsgemeinschaft. […] Die Erfahrung bestätigt es noch anders. Denn mit der Entwikkelung des Geschlechtstriebes, welche doch der erste innere Anfang der Gemeinschaft ist, fängt erst alles selbständige verbreitende Handeln an, so wie es nach Erlöschung desselben allmählig aufhört. Vorher abhängige Kindheit, nachher abhängiges Alter.“ Anders als noch zu Schleiermachers Zeiten haben in der Gegenwart der Sozialstaat und weitere gesellschaftliche Institutionen viele Unterstützungs- und Absicherungsfunktionen von der Familie übernommen. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass noch immer die meisten Fürsorge- und Pflegeleistungen für Kinder und Senioren und erst recht das Gros der emotionalen Zuwendung im Rahmen der Familie erbracht werden. Detaillierter zur Thematik s. o. II.3.3.4. PhE 329, § 54. Dem Zitat folgt die Ausführung: „Zuerst, solange die Blüthe des Lebens dauert, in den Eltern selbst, wobei die Kinder nur als Annexa erscheinen; dann, während die Blüthe der Kinder beginnt und die Reife der Eltern noch fortdauert, in beiden gemeinschaftlich, das Organische mehr in den Kindern, das Geistige noch in den Eltern; zulezt nur in den Kindern, in welchen aber nun die Eltern Geschichte geworden sind und abzusterben beginnen.“ S.o. III.2.1.2.
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So selbstverständlich diese Handlungs- und Orientierungstendenz auch sein mag, so herausfordernd kann sich doch die Anerkenntnis des Abschlusses jener Dynamik darstellen. Die elterliche Sorge mit ihrer Tendenz zur Bevormundung endet nicht einfach mit dem Erwachsensein der Kinder, sondern muss zur Konfliktvermeidung unter z.T. hohem emotionalem und psychischem Aufwand transformiert werden.²⁹⁷ Die Fremdbestimmtheit des eigenen Lebens durch die Bedürfnisse der Kinder endet hingegen sehr wohl spätestens mit deren Auszug aus dem elterlichen Haushalt. Dadurch gewinnen die Eltern Freiheitspotentiale, die zu einer neuen Orientierung des Lebens auffordern. Es stellen sich Sinnfragen für die zuvor gar keine Zeit war. Gewinn und Verlust gehen hierbei zumeist Hand in Hand. Allein die subjektive und situative Perspektive entscheidet darüber, ob man das Faktum, nicht mehr so stark gefordert zu sein, positiv – ‚endlich nicht mehr so eingespannt sein‘ – oder negativ – ‚leider nicht mehr gebraucht werden‘ – interpretiert.²⁹⁸ Nach einer zunehmend längeren Phase der ‚zweiten Freiheit‘ droht schließlich die eigene Unterstützungsbedürftigkeit. Nicht erst die Inanspruchnahme von Pflegeleistungen, sondern bereits die Zuhilfenahme von Kindern und Enkeln beim Verstehen aktueller Entwicklungen oder – ganz profan – der Installation von technischen Geräten weisen auf ein Umschlagen der Asymmetrie zwischen Eltern- und Kindergeneration hin.²⁹⁹ Die eigenen Kinder bilden zunehmend das Tor zur Welt und der Kontakt zu ihnen gehört zu den wichtigsten Schutzfaktoren vor Einsamkeit. Nachkommen stiften die in vielen Fällen gedeckte Zuversicht, im Alter nicht allein zu sein, sondern noch am Leben in einem weiteren Kontext teilhaben zu können. Selbst bei größerer
Schleiermacher fokussiert v. a. das ideale Gelingen dieser Transformation als eines allmählichen Übergangs. Vgl. dazu paradigmatisch H 320 f (zur Zitation dessen s.o. III.2.1.2). Vgl. dazu auch PhE 651 (1832 – Bemerkungen zur Ethik von 1812/13): „Zu § 36. Die Emancipation der Kinder geschieht allmählig, zugleich durch äußere Verhältnisse bedingt. Berufswahl erscheint als vorbereitender, Gattenwahl als definitiver Punkt. Wenn die Einstimmigkeit zwischen beiden Theilen fehlt, so ist das Verhältniß nicht sittlich gewesen.“ Vgl. PhE 329 (1812/13): „§ 55. Der Tod ist unter diesen Voraussezungen [des Zunehmens und Abnehmens de Lebens – CR] ein genehmigtes Naturereigniß um so mehr, wenn dies Abnehmen der Organe zusammentrifft mit dem Bewußtsein in das Ganze des Bildungsprozesses nicht mehr zu passen. Wenn dieses vorangeht, ist dies die traurige Seite des Alters.“ Jean-Claude Kaufmann beschreibt dieses Abnehmen anhand des Paradigmas der Hausarbeit. Mit der ‚Nestflucht‘ der Kinder verliert auch die Haushaltstätigkeit z.T. ihren Sinn. Sie wird einfacher und zugleich schwerer zu motivieren. Eingeschliffene Abläufe können sich noch durchhalten und stabilisieren auf diese Weise das Leben. Lebte man zuvor nur für die Kinder oder hatte vor lauter Arbeit gar keine Zeit für Sinnfragen, so stellen sich diese nun umso mehr und ihre Beantwortung wird schwieriger. Vgl. Kaufmann, Mit Leib und Seele, 80 – 84. Zum ‚Redaktionsschluss‘ im Alter und dem damit verbundenen Scheiden aus der Gegenwartswelt, zu der zunehmend nur noch die eigenen Kinder Bezüge offen halten vgl. PhE 290. Bollnow weist darauf hin, dass der Umgang mit Alten nicht nur eine medizinische und soziale, sondern auch eine pädagogische Aufgabe ist. Im Schwinden ihrer Kräfte und im Wandel ihrer Aufgaben sind alte Menschen auf die Unterstützung und eben auch Leitung durch die jüngeren Generationen angewiesen, die jene nunmehr in ihrer Entwicklung zu unterstützen, d. h. zu erziehen, haben (ders., Pädagogik, 35 f).
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Entfernung oder relativ geringer Kontakthäufigkeit lässt sich diese Perspektivierung des alternden Lebens aufrechterhalten, wenn andere soziale Faktoren ergänzend hinzutreten.³⁰⁰ Der Lebenskontext ‚Familie‘ bildet damit einen Deutungshorizont, dessen Mangel durch nahezu keine sozialpolitische Anstrengung kompensiert werden kann.
Elternehre zwischen Dankbarkeit und Pflichtgefühl – der erwachsene Umgang mit den Eltern Das intergenerationelle Spannungspotential welches sich aus den biographischen Entwicklungsdynamiken ergibt, von Seiten der Nachkommen aus betrachtet, lässt Schleiermacher in einem Aphorismus zur Pädagogik in die Frage münden: „Wie bringt man das zusammen, die Jugend auf einen besseren Weg führen als wo die Alten sind, und sie doch die Achtung vor den Alten nicht verlieren lassen?“³⁰¹ Als Antwort lassen sich zwei verschiedene Orientierungsmuster ausmachen, die die Sinnstiftungspotentiale der Familie mit Blick auf die Vorfahren anzeigen. Das eine ist von Aristoteles inspiriert und stellt auf Schuldigkeit ab. Weil der Mensch seinen Eltern nicht nur den einen oder anderen Gunsterweis, sondern seine Existenz überhaupt verdankt, steht er in einer untilgbaren Schuld ihnen gegenüber. Ähnlich, wie es später (eher juridisch) in der protestantischen Satisfaktionslehre festgestellt wurde, identifiziert schon Aristoteles die Problematik eines Kredits, der durch keine Gegenleistung getilgt werden kann. Weder den Göttern, noch unseren Eltern können wir das von ihnen Empfangene in einer angemessenen Weise zurückerstatten; die einzige Möglichkeit der Gestaltung eines solch asymmetrischen Verhältnisses liegt in der Ehrerbietung.³⁰² Wem Liebe erwiesen wurde, von dem fordert man gemeinhin, dass er sich dessen erkenntlich zeigt; „So wird man z. B. demjenigen der äußerst zärtlich von seinen Eltern geliebt wird, weit weniger einen Fehltritt ver-
Vgl. Dannenbeck, Alter, 152: „Das System ‚Familie‘ leistet enorm viel, nicht nur real, sondern auch in den Köpfen. Defizite resultieren aus diesem Vertrauen auf die Familie jedoch dann, wenn diese von einer realen Erfahrung zu einem bloßen normativen Bezugssystem wird, das durch keine andersgearteten Sozialbeziehungen adäquate Entsprechungen zu finden vermag.“ PädA 49., 335. Vgl. AÜ 64: „Wer meine äußren Umstände verbessert oder meine innre Vollkommenheit vermehrt hat, dem bin ich Ehre schuldig, denn sie ist alles was ich ihm geben kann, und damit ist eine Freundschaft sehr zufrieden, welche immer mehr auf das sieht, was man eigentlich thun kann, als auf das was man eigentlich thun sollte, welches leztere oft zu leisten unmöglich ist. Wer könnte gegen die Götter, wer gegen seine Eltern auf irgend eine Art auch nur verhältnißmäßige Empfindungen haben. Man sei ihnen mit seinem ganzen Wesen zugethan so sehr man nur kann, und man wird für dankbar gehalten werden. Diese unendliche Schuld ist auch die Ursach, warum sich wol ein Vater von seinem Sohn, niemals aber ein Sohn von seinem Vater lossagen kann. Denn ein Schuldner ist gehalten zu bezahlen und ein Kind bleibt immer Schuldner; es habe gethan was es nur immer könne so kann das niemals für die empfangenen Wolthaten genug seyn.“
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zeihn, als dem, den sie mit einer gewißen Gleichgültigkeit behandeln […].“³⁰³ Aristoteles gibt allerdings sogleich zu bedenken, dass die Ehrerbietung zwar gefordert werden kann, allerdings nicht absolut.³⁰⁴ Die aus Liebe erwachsende Wohltätigkeit rechnet schließlich nicht auf Wiedererstattung, wie ein Gläubiger gegenüber seinem Schuldner, sondern hat die Fortwirkung des Wohlseins des Begünstigten im Blick.³⁰⁵ So stehen Kinder zwar in der Pflicht, sich ihren Eltern gegenüber erkenntlich zu zeigen, was v. a. emotionalen und zeitlichen Einsatz erfordert und wahrscheinlich erst in den letzten Jahren auch ökonomisch zu Buche schlägt. Diese Pflicht schließt allerdings nicht den Verzicht auf ein selbstbestimmtes Leben und eigenes Wohlsein ein, weil damit das eigentliche Ziel der vorangegangenen Liebeshandlung verfehlt wäre. Schleiermacher setzt in der Christlichen Sitte den Gedanken hinzu, dass die Schuldigkeit der Elternehre nicht zu verwechseln sei mit Unterwürfigkeit, da letztere die ethisch höher zu wertende Gewissenspflicht aufhebe.³⁰⁶ Die andere Stimmung, die mit Blick auf die Elterngeneration neben dem Pflichtgefühl herausragt und diesem auch in gewisser Weise zugrunde liegt, ist die Dankbarkeit. In seinen Anmerkungen zu Aristoteles bemerkt Schleiermacher, dass diese, so sehr sie auch eine große Nähe ausdrückt, Entfernung voraussetzt. Solange ein Kind noch ganz auf seine Eltern angewiesen ist, nimmt es auch alle von seinen Eltern erbrachten Leistungen relativ selbstverständlich hin. Erst wenn es sich eigenständig etwas zu verschaffen versteht, vermag es auch die Gaben seiner Eltern bewusst zu
AAnm 25. Interessant erscheint gegenüber der psychologisch naheliegenden Verbindung von Zuwendung auf der einen und Verpflichtungsgefühl auf der anderen Seite der Befund, dass die emotionale Qualität der Eltern-Kind-Beziehung kaum einen Einfluss auf das quantitative Vorkommen von Pflegeleistungen im Alter hat. So werden die meisten alten Menschen aus Pflichtgefühl von ihren Nachkommen gepflegt, ganz gleich welche Intensität ihre vormalige Beziehung hatte. Vgl. dazu NaveHerz, Familiensoziologie, 226 – 228. Vgl. AÜ 68: „Ja es gibt Fälle, wo die Erwiederung [sic!] einer Gefälligkeit überhaupt nicht mit Billigkeit gefordert werden kann. […] So wenig wir dem Jupiter alle Thiere opfern, so wenig müßen wir unser ganzes Vermögen zu fremder Glükseligkeit unserm Vater darbringen […] so sorgt ein jeder ganz besonders für den Lebensunterhalt seiner Eltern, weil er dasselbe ihnen ganz eigentlich schuldig ist, und in dem Stük müßen wir die, welche die Ursach unseres Daseyns sind beßer bedenken, als uns selbst. Eben so gebührt den Eltern Ehrfurcht, wie den Göttern, nur nicht alle […].“ AÜ 73: „Die Erfahrung lehrt daß man denjenigen, dem man wolgethan weit mehr liebt, als dieser seinen Wolthäter […]. Die meisten sind der Meinung, ein Wolthäter sei gleichsam ein Gläubiger, derjenige, der eine Wolthat empfangen hat ein Schuldner und so wie dieser jenem gemeiniglich nicht viel gutes anwünsche, der Gläubiger hingegen gar sehr für das Wolergehn seines Schuldners besorgt sei, so wünsche auch der Wolthäter die Fortdauer dessen dem er wolgethan um einmal seiner Erkenntlichkeit zu genießen, diesem hingegen liege es gar nicht so sehr am Herzen sie zu beweisen.“ Aristoteles gibt allerdings im Folgenden zu bedenken, dass die Liebe einen Unterschied macht. So rechnet der Gläubiger auf Wiedererstattung, der Wohltäter hingegen nicht. Vgl. ChS 361 (1824/25) [Hervorhebungen getilgt – CR]: „Ehrfurcht sind sie [sc. die mündigen Kinder – CR] den Aeltern immer schuldig; aber sie darf sich nie äußern in blinder Unterwürfigkeit, da der mündige Christ nur dann ein gutes Gewissen haben kann, wenn er selbständig seiner eigenen, nicht wenn er fremder Ueberzeugung folgt; sie kann sich nur äußern in der sorgfältigsten Beachtung alles dessen, was die Aeltern sagen.“
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würdigen. Im Umkehrschluss ist nun allerdings auch eine andere Qualität von ‚Willenscollisionen‘ möglich, die der Ausbildung von Dankbarkeit entgegenstehen.³⁰⁷ Wegen dieser Ambivalenz und um seinem Perfektibilitätsideal Rechnung zu tragen, welches eine generationenweise Verbesserung der Menschheit fordert, bevorzugt Schleiermacher in seiner philosophischen Beschreibung des sittlichen, erwachsenen Eltern-Kind-Verhältnisses den Begriff der ‚Pietät‘. Sie soll die starke und gute Jugend in der Beziehung zu ihren schwächelnden und schlechteren Eltern leiten. Zweierlei Einsichten gelten ihm als Motivatoren dieser Pietät: Erstens, weil Eltern ihren Kindern nicht nur geschichtlich als Individuen vorausgehen, sondern auch als Paar eine gemeinsame Individualität ausgebildet haben, stehen diese über ihren Kindern in der Herausbildung von deren eigener Individualität, selbst wenn diese in deren Entwicklungsverlauf eine größere Bestimmtheit erreichen sollte. Der geschichtliche und soziale Vorrang der Eltern ist von ihren Kindern nicht einholbar und verdient eine ehrende Anerkennung.³⁰⁸ Zweitens, selbst wenn die Kinder ihre Eltern letztlich überbieten sollten, so wurde das Fundament dazu doch von ihren Eltern gelegt. Der ‚Self-made-Man‘ ist bis zu einer bestimmten Stufe immer ein gemachter. Die Einsicht in die (historisch) grundlegende Verdanktheit der eigenen Person und ihrer Potentiale und Leistungen ist mithin der andere wichtige Grund für die Ehrung der Eltern, selbst wenn diese objektiv, auf der synchronen Ebene betrachtet, kaum Ehre zu verdienen scheinen sollten.³⁰⁹
Die Familiengeschichte als ‚Ursprungsmythos‘ der eigenen Persönlichkeit Die Rückbesinnung und Bewusstwerdung der Verdanktheit der eigenen Person war für Schleiermacher nicht nur anstandshalber geboten, sondern galt ihm zugleich als Garant für die Zukunftsträchtigkeit der Gegenwart. In Bezug auf die Identitätsstiftungskraft des größeren Geschichtszusammenhangs heißt es im Brouillon: „Das Studium der Antike ist auch zum Selbstverständniß der Modernität ausgeschlagen und muß es noch mehr.“³¹⁰ Dasselbe wird von vielen Zeitgenossen auch mit Blick auf den kleineren Zusammenhang ihrer Familiengeschichte empfunden. Das Mündigwerden und der selbstbewusste Umgang nun auch mit den Eltern, setzten instand, sich von ihnen abzugrenzen, aber auch ihre Lebensgeschichte in die eigene bewusst Vgl. AAnm 13 f. Vgl. PhE 328 (1812/13): „§ 47. Da jeder über dem steht, welcher universell ist, wo jener individuell, so stehn die Kinder in dieser Hinsicht nie über ihren Eltern als Eins angesehn, wenngleich das Eigenthümliche sich stärker herausbildet. Dies Gefühl ist die Wurzel der Pietät der Kinder gegen die Eltern.“ Vgl. PhE 328 (1812/13): „§ 49. Die intensive Fortschreitung des ethischen Prozesses einer Familie im allgemeinen beruht auf dem Angeborensein der Vernunft als Systems der Ideen; aber daß die folgenden Glieder gleich in den Besiz des gegebenen Zustandes gesezt werden, beruht auf der Tradition. | § 50. Daher die Kinder, auch wenn sie intensiv über den Eltern stehn, dies doch als die That der Eltern auf sie zurückführen, welches den andern Factor der Pietät ausmacht.“ PhE 199.
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als Herkunftsgeschichte zu integrieren. Die Elterngeneration und weitere Vorfahren bilden eine Rückversicherung für die eigene Identität. Ahnenforschung und das Interesse an alten Bildern und Geschichten ist nicht allein dem Interesse an den anderen geschuldet, sondern eben auch ein Konstitutivum für die eigene Identitätsbildung. Bietet die Fortpflanzung eine Art von weltimmanenter Eschatologie, so geraten Familiengeschichten umgekehrt zu Ursprungs- und Entstehungsmythen mittlerer Reichweite. Verbunden mit den großen Chancen, welche die Einsichtnahme in das Leben der eigenen Vorfahren für die Selbstbildung bietet, ist allerdings auch die Gefahr der Irritation des familiengeschichtlich rückgebundenen Selbstbildes durch das Kennenlernen problematischer oder unliebsamer Vorfahren gegeben.
2.2 Spezifika der Geschwisterlichkeit Zu den Beziehungen mit der größten Reichweite und Intensität gehört im familialen Leben neben der Paar- und der Eltern-Kind-Gemeinschaft das Geschwisterverhältnis.³¹¹ Obwohl gegenwärtig fast jede zweite Familie eine Ein-Kind-Familie ist, wachsen noch immer 75 % aller Kinder mit einem oder mehreren Geschwistern auf.³¹² Die meisten Menschen kommen also in den Genuss, in mindestens eine dieser Beziehungen gestellt zu sein, die, vorausgesetzt, der Kontakt bleibt bestehen, zumeist die längste ihres Lebens darstellt – länger als das Verhältnis zu den Eltern, zum Partner oder zu den Kindern.³¹³ Geschwister sind sich zwar in den meisten Fällen nur in der Kindheit besonders nah. In der Jugend und der langen Zeit der Erwerbstätigkeit und eigenen Familiengründung treten sie zurück. Im Alter jedoch wird der Kontakt oft wieder intensiviert.³¹⁴ Ritualisierte Kommunikationsformen und Familientreffen haben ihn aufrechterhalten, sodass nunmehr an Bestehendes angeknüpft werden kann. Bei alledem ist die Bedeutung der – mit Arnold Gehlen gesprochen – ‚institutionellen Hintergrundserfüllung‘ nicht zu unterschätzen.³¹⁵ Zwar greifen die Wenigsten, schon gar in der mittleren und höheren sozialen Schicht, tatsächlich auf Unterstützungsleistungen ihrer Geschwister zurück; mit dem Bewusstsein, in Krisen- und Notzeiten
Es lässt sich sogar beobachten, dass die außerfamilialen Netzwerke in umgekehrter Proportionalität zur Geschwisterzahl stehen. Vgl. dazu Nave-Herz/Feldhaus, Geschwisterbeziehungen, 116. Vgl. Nave-Herz, Familiensoziologie, 216: „Seit über 150 Jahre[n] ist eine stetige Reduktion der Kinderzahl in deutschen Familien zu verzeichnen. Dieser Trend hat aber bisher noch nicht dazu geführt – wie vielfach unzutreffend behauptet wird –, dass die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen geschwisterlos aufwachsen würden. Ihr Anteil beträgt nur 25 %. Mit einem Geschwisterkind wachsen 48 % auf, mit zwei Geschwisterkindern 19 % und mit drei und mehr 8 %.“ Vgl. Nave-Herz, Familiensoziologie, 217. Zu dieser biographischen Kurve vgl. Sohni, Geschwisterbeziehungen, 20 f. Rosemarie Nave-Herz spricht mit ähnlicher Intention von ‚Netzwerken zweiter Ordnung‘ (dies., Familiensoziologie, 218).
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nicht allein zu sein, sondern auf die Hilfe der Geschwister rechnen zu können, können sich gleichwohl die meisten beruhigen.³¹⁶
Ursprüngliche Verbundenheit und das Postulat der Ähnlichkeit Die Lebenslänglichkeit von Geschwisterbeziehungen muss bei allem Konfliktpotential, das sie unweigerlich mit sich führen, in einem uneinholbaren Punkt begründet und befestigt sein. Diesen identifiziert Schleiermacher in einer herkunftsvermittelten ursprünglichen Verbundenheit. Jede Beziehung bedarf eines gemeinschaftlichen Bezugs- und Identifikationspunktes, der das Differente integrierbar macht. Die Geschwisterlichkeit kann für Schleiermacher nun gerade als das Urbild der Freundschaft gelten,³¹⁷ weil hier selbst das Differente als in einer ursprünglichen, gemeinsamen Identität gründend gedacht werden kann.³¹⁸ Geschwister teilten das durch ihre Eltern vermittelte Grundgefühl des Lebens und verfügten über einen derart weitreichenden gemeinsamen Erfahrungsschatz, dass sie, sowohl, was die innere Bestimmtheit, als auch was die sozialen Umgangs- und Darstellungsformen angeht, nahezu ideal zusammenstimmen könnten. Wechselseitige Empathie und Einverständnis müssten sie sich nicht erarbeiten, sondern brächten das Potential dazu bereits – im wahrsten Sinne des Wortes – selbstverständlich mit.³¹⁹
Vgl. dazu Kasten, Geschwisterbeziehung I, 169. Zur naheliegenden Aufnahme dessen in der religiösen Semantik vgl. H 398: „Laßt uns also hier, wo wir als Brüder und Schwestern in dem einen Herrn und Meister erscheinen, hier, wo der Tisch seines Mahles mit den heiligen Zeichen seiner Gemeinschaft unter uns aufgerichtet ist, immer aufs neue uns dazu vereinigen, daß jeder an seinem Ort im Hauswesen nicht sich allein, sondern der Gemeine des Herrn lebe […].“ Vgl. auch H 370 f. Entgegen dem gemäß seiner Prägung durch die ‚Brüdergemeine‘ Erwartbaren, spielt die Metapher ‚Bruder‘ in der Glaubenslehre überraschenderweise keine Rolle. Vgl. dazu Spiegel, Theologie, 76. Vgl. PhE 136 (Brouillon): „Weiter die Freundschaft. […] Hier wieder die Familie als ursprünglich Gegebenes. Lösung der Aufgabe. Nemlich: die Geschwisterliebe ist die ursprüngliche Freundschaft zwischen den Geschlechtern. Hier giebt die gemeinschaftliche Individualität des Familiencharakters einen Beziehungspunkt, um in der unbekannten Größe einen bekannten Factor zu sezen (auch ist die Bruderliebe die ursprüngliche männliche Freundschaft, daher man dem Freunde keinen schöneren Namen zu geben weiß als Bruder.)“ Detaillierter PhE 602 (Güterlehre. Letzte Bearbeitung): „Indem das neue Leben in der Erzeugung als Theil eines schon vorhandenen entsteht, ist es offenbar nicht nur mit diesem ursprünglich verbunden, so daß es sich erst allmählig von ihm ablöset; sondern auch in jedem aus derselben Quelle entsprungenen geschwisterlichen Leben wiederholt sich dieselbe Abhängigkeit, ohnerachtet es auch zu einem eigenen eigenthümlichen wird. Daher Eltern und Kinder sowol als Geschwister, was Offenbarung und Ahndung betrifft, unter sich in einem von jedem andern specifisch verschiedenen Verhältniß unmittelbarer Verständigung stehen, indem sie das Eigenthümliche auf ein Identisches unmittelbar zurückführen können. […] Die kindliche und brüderliche Verwandtschaft prägt sich aus vor aller eigentlich sittlichen Thätigkeit hergehend in der Aehnlichkeit und der Nachahmung.“ Vgl. PhE 327 (1812/13): „§ 40. Die Gemeinschaft der Geschwister ist die ursprüngliche innere Geselligkeit. Denn hier ist eine Identität sowol des Gefühls in der durch die Eltern vermittelten Einheit des Bewußtseins, als auch der unmittelbaren Darstellung vermittelst der nach dem gleichen Typus
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Aristoteles war so weit gegangen, nicht allein eine wechselseitige Bezogenheit und ein wechselseitiges Verständnis von Geschwistern aus ihrer gemeinsamen Herkunft und Erziehung abzuleiten, sondern auch einen gleichen bzw. zumindest ähnlichen Charakter; „[…] in ruhigem Gleichgewicht mit einander“ seien „die Empfindungen ganz wechselseitig“.³²⁰ Schleiermacher sah hier mehr Konfliktstoff. Die große Nähe, in der Geschwister aufwachsen, offenbare nicht nur Ähnlichkeiten, sondern vielmehr noch Unterschiede, bis hin zu den geringfügigsten Differenzen, welche ihren (potentiellen) Zusammenklang nur allzu leicht irritieren und letztlich unvernehmbar machen könnten.³²¹ Noch viel grundlegender wird Aristoteles’ These in der Psychologie der Gegenwart widersprochen. Dass Geschwister „von den nemlichen Eltern abstammen […] und auf die nemliche Art erzogen“ werden,³²² seien rein äußerliche Übereinstimmungen. Geschwister haben zwar dieselben Eltern und dieselbe häusliche Umgebung, aber sie erleben diese ganz anders. „Viele der entscheidenden Umweltfaktoren – so wie Alter, Größe, Status, Haltung und Erziehungsstil der Eltern innerhalb einer Familie – nehmen für jedes einzelne Kind einer Geschwistergruppe eine jeweils eigene, individuelle Ausprägung an.“³²³ Dem Gemeinsamkeitspostulat widersprechen die vielfältigen faktischen Differenzen, die sich aus dem familialen Leben ergeben. So könnten Geschwister geradezu gezwungen sein, bei der Konstruktion ihrer Zusammengehörigkeit auf den gleichsam mythischen Ursprungspunkt ihrer gemeinsamen Herkunft zu rekurrieren, weil anderweitige Übereinstimmungen kaum erkennbar sind.
gebildeten Organe, und der mittelbaren durch die gemeinschaftliche Masse von Anschauungen, die die Familienerkenntniß bilden, gegeben, also ein Maaß für die Analogie. Daher ist auch die Geschwisterliebe der höchste Typus der inneren Geselligkeit.“ AÜ 60. Vgl. AAnm 26: „Wenn man auf einem Klavier mit einem Ton die Terz, Quint und Oktav greift, so gibt das einen herrlichen Akkord, wenn ich aber dazu noch die Sekunde und Quarte und Sechste und Septime anschlagen wollte, so würde der elendeste Misklang entstehn, obgleich verschiedne von diesen wiederum sehr gut harmoniren. Eben dies ist der Fall bei Geschwistern, es sind der Verhältniße worin sie mit einander stehn gar zu viele und dann ist Aehnlichkeit des Charakters zur Freundschaft noch nicht hinlänglich; es gibt gewiße Kleinigkeiten gewiße an sich geringfügige Disharmonien, welche oft bei aller Aehnlichkeit zurükstoßen, und von denen immer eine die andere hebt, eine mehrere nach sich zieht. Je mehr Verhältniße, desto mehr solcher Kleinigkeiten offenbaren sich ohne daß man auf der andern Seite mehrere Aehnlichkeiten im Charakter entdekt, die einen dafür schadlos hielten. Daher kann eine sonst aufrichtige und warme Freundschaft durch allzugroße Nähe einen Stoß leiden, […].“ AÜ 61. Frick, Geschwister, 35. Frick bringt es zu der Spitzenthese: „Geschwister haben nie dieselben Eltern oder die gleiche Umgebung, und die Eltern behandeln ihre Kinder – entgegen ihrer Absicht und Überzeugung! – ungleich.“ (Frick, Geschwister, 37).
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Schleiermachers eigene Geschwister Wie unterschiedlich geschwisterliche Beziehungen faktisch ausfallen können, illustriert ein Blick in Schleiermachers eigene Biographie. Er hatte drei Geschwister: eine drei Jahre ältere Schwester, Friederike Charlotte, oft Lotte genannt; einen vier Jahre jüngeren Bruder, Johann Carl, genannt Karl; und eine jüngere Schwester, Caroline Marie, die allerdings bereits im Kindesalter starb.³²⁴ Hinzu kamen nach dem Tod der Mutter 1783 und der Wiederverheiratung des Vaters 1785 drei jüngere Halbschwestern. Zu Anne Maria Louise, genannt Nanny, der Ältesten von ihnen, geb. 1786, hatte Schleiermacher den intensivsten Kontakt von diesen, indem er sie, obwohl er sie kaum kannte, im Juli 1805 zu sich nach Halle holte, wo sie ihm den Haushalt führte und an seinem Leben Anteil nahm. Bis zu ihrer Hochzeit mit Ernst Moritz Arndt im Jahr 1817 blieb sie ihm eine v. a. in lebenspraktischen Dingen wichtige Vertraute.³²⁵ Das tiefste geschwisterliche Verhältnis aber pflegte Schleiermacher zu seiner großen Schwester Charlotte, die ein Leben lang als Herrnhuterin ledig blieb und zeitweise auch in Schleiermachers Haushalt lebte.³²⁶ Die umfangreiche briefliche Korrespondenz, welche er mit ihr führte, gehört zu den wichtigsten Quellen für die Erforschung von Schleiermachers Innen- und Privatleben; sie wurde allerdings (wohlweislich) von seinen Erben zensiert.³²⁷ Viele Motive des geschwisterlichen Selbstverständnisses klingen in den erhalten geblieben Briefen an: Die Geschwister unterstützen sich; so half Schleiermacher seiner Schwester, die als herrnhutische Lehrerin sehr wenig verdiente, immer wieder mit Geld für die Anschaffung von Büchern aus, worüber sie sodann stets Rechenschaft ablegte.³²⁸ Die Geschwister versichern sich auch in Zeiten des Umbruchs ihrer bleibenden Treue; den vergleichsweise kurzen Brief, in dem er Charlotte von seiner Verlobung berichtet, beendet Schleiermacher mit der Formel „Imer dein alter treuer F.“³²⁹ Die Geschwister nehmen Anteil am Leben des Anderen und beziehen dieses auch auf sich selbst zurück; so ist Charlotte offenbar sehr stolz auf ihren berühmten kleinen Bruder, wie sie in einem Brief aus dem Herbst 1810 zu erkennen gibt, wo sie davon berichtet, dass sie auf ihn wegen seiner großen Predigtbegabung angesprochen worden sei.³³⁰ Und die Geschwister verbünden sich und ziehen gerade aus der Differenz zu Dritten ein größeres Einverständnis; nach dem Tod des Vaters schreibt Schleiermacher 1794 an Charlotte: Karl hat endlich auch einmal an mich geschrieben, aber es war gerade so etwas nöthig um ihn aus seinem todten ähnlichen Schlummer zu weken. Mit uns meine liebe bleibt es übrigens dabei, daß wir das Band unserer Freundschaft noch enger zusammenziehn, daß wir uns noch fester an einander halten, da wir eine solche Stüze verloren haben, und daß wir uns auf den hinweisen, der
Vgl. Nowak, Schleiermacher Leben, 15. Vgl. Schmidt, Einführung, 195. Vgl. Dilthey, Leben I, 75 f sowie Nowak, Schleiermacher Leben, 18 f. Vgl. Schmidt, Einführung, 196 – 199. Vgl. paradigmatisch dazu Brief 2758, 161. Brief 2780, 179. Vgl. Brief 3541, 524.
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uns verlaßen hat. […] Eben habe ich Deinen Brief noch einmal durchgelesen und gewißermaßen zwar meinen Schmerz verdoppelt indem ich den Deinigen mitge-|fühlt, aber auf der andern Seite mich auch daran erfreut: daß wir so recht für einander gemacht sind, daß unsere Seelen einander immer näher kommen, je näher jedes dem gemeinschaftlichen Ziel rükt nach dem wir steigen, die Verschiedenheiten schleifen sich soweit ab, daß sie sich nicht mehr unsanft berühren können, die Aehnlichkeiten entwickeln sich immer mehr, und so wird uns nichts von einander trennen können. […] Karln will ich eben nicht ausschließen, allein Du kannst doch verzeihn daß ich ihn noch nicht so nahe zu uns rechnen kann, da ich ihn bei weitem noch nicht genug kenne und er auch einen hohen Grad von Trägheit beweist.³³¹
Der Vorgang der Selbstidentifikation durch Abgrenzung wird hier gut greifbar. Er ist zwar in vielen sozialen Kontexten bestimmend, wird im Verhältnis von Geschwistern zu einander allerdings in besonderer Weise provoziert.
Die Bedeutung von Geschwistern für die Persönlichkeitsentwicklung Die personale Individualität entwickelt und schärft sich in sozialen Interaktionen und zwar nur vermittelt durch sie, wie Schleiermacher vielfältig betont.³³² Sucht man sich ab der späten Kindheit zunehmend – im Rahmen der Gegebenheiten – seinen sozialen Umgang selbst aus, so sind kleine Kinder unwillkürlich in ein Umfeld hineingestellt, das sie nicht gewählt haben. Die Menschen, mit denen sie die meiste Zeit verbringen und die daher auch am prägendsten auf sie einwirken, haben sie sich nicht ausgesucht. Zu ihnen gehören die Geschwister, mit welchen sie sich über viele Jahre unausweichlich arrangieren müssen.³³³ Geschwister dienen einander als Identifikationsund Abgrenzungsobjekt. In positiver wie negativer Bezugnahme wirken sie orientierend und individualitätsbestimmend aufeinander.³³⁴ Anders als zu den Eltern, ist das Verhältnis zu den Geschwistern ein relativ symmetrisches.³³⁵ Hieraus erwächst ein besonderes Konfliktpotential, insofern die Brief 278, 365 f. Zur gemeinsamen liebevollen Bezugnahme auf den Bruder bei gleichzeitiger Abgrenzung ihm gegenüber zum Zwecke der würdigenden Absetzung der geschwisterlichen Beziehung zwischen Friedrich Schleiermacher und Charlotte vgl. auch seinen Brief an sie vom 21. und 28.11.1799 (Brief 726, 251 f). Mit seinem Bruder verband Schleiermacher v. a. das gemeinsame Interesse an der Chemie. Vgl. Schmidt, Einführung, 195 f. Als studierter Apotheker hatte Karl hierbei die Rolle des Lehrers inne. Vgl. Brief 399, 163. S.o. I.4.1. Vgl. Kaufmann, Zukunft der Familie. Stabilität, 44: „[…] nicht nur für die vorbereitende Stufe der Sozialisation, die Soziabilisierung, ist die Familie entscheidend, sondern ebenso für die anschließende Phase der Verinnerlichung jener Personenbeziehungen, die das Kind als dauerhafte erfährt, und die damit allmählich entstehende Identifikation mit diesen Personen. In dieser Phase, so ist zu vermuten, ist die Zahl der Bezugspersonen – ob Mutter allein, Vater und Mutter, oder auch Geschwister – von nicht unerheblicher Bedeutung. Erst durch die Mehrzahl der Bezugspersonen erfährt das Kind die über die Zweierbeziehung hinausgehende Realität eines sozialen Systems […].“ Vgl. dazu Frick, Geschwister, 131– 154; Sohni, Geschwisterbeziehungen, 35 – 38. Auf Sonderformen geschwisterlicher Beziehungen und ihre Eigenarten, wie interkulturelle Geschwisterlichkeit, Mehrlinge, die Beziehung zu behinderten Geschwistern, Stief- und Adoptivge-
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Machtverteilung und Bestimmungshoheit immer wieder neu ausgehandelt werden kann. Die Gleichheit bietet allerdings auch herausragende Chancen. Gerechtigkeitssinn und Anerkennungsstreben werden von Geschwisterkindern sehr früh internalisiert und soziale Kompetenzen, wie das Teilen-können, herausgefordert.³³⁶ Konflikte können mutig ausgetragen werden, weil das ‚Dass‘ der Geschwisterbeziehung, anders als im Fall einer Freundschaft, nie auf dem Spiel steht. Zudem erlaubt die Gleichrangigkeit der Geschwister bei gleichweiser Einbezogenheit ihrer in die spezifisch hohe familiale Intimität eine besondere Möglichkeit zur Selbstöffnung und Selbsterfahrung. Mit Geschwistern können Erlebnisse, Fragen, Geheimnisse und Phantasien geteilt und bearbeitet werden, welche bei einer Offenbarung an die Eltern unliebsame Folgen wahrscheinlich machen würden; und nicht zuletzt bietet Geschwisterlichkeit die Möglichkeit, das eigene Verhältnis zu den Eltern mit einer Person reflektieren zu können, die wie keine andere Einblick in diese Beziehung hat, insofern sie selbst in diese mit einbegriffen ist.³³⁷
Das Erlebnis der Geschwisterlichkeit der eigenen Kinder Auch für die Eltern ist es eine besonders wertvolle Erfahrung, zu sehen, wie ihre Kinder eine vertraute Beziehung zueinander aufbauen. Ganz ungebrochen formuliert Schleiermacher diesen Sachverhalt mit Blick auf seine Stiefkinder: „Daß die kleine Jette nun schon an Ehrenfried bildet und erzieht, muß sich ganz köstlich ausnehmen. Gott! was wollen wir die Kinder herrlich zusammen wirthschaften lassen!“³³⁸ Geht mit einem Kind eine Selbsttranszendierung einher,³³⁹ so haben wir es hier nun gewissermaßen mit einer doppelten und insofern gesteigerten Transzendierung zu tun. Wie der Gottesgedanke reicher wird durch das Postulat seiner internen Sozialität – ausgedrückt in der Trinitätslehre – so gewinnt auch das Eltern-Kind-Verhältnis an Komplexität und Tiefe, wenn es sich in Gestalt der Geschwisterlichkeit weiter differenziert. Die Geschwister verdanken sich alle den Eltern und werden von diesen jeweils mit Wohlwollen bedacht, machen sich aber zugleich in ihrem wechselseitigen Wohltun von diesen unabhängig und erfüllen damit die Intention ihrer
schwisterlichkeit usw. können wir hier nicht eingehen. Vgl. zu dieser Thematik Kasten, Geschwisterbeziehung II. Ob die Position in der Geschwisterreihe wirklich einen großen Einfluss auf die Persönlichkeitsbildung des Menschen hat, wie am prominentesten Alfred Adler und gegenwärtig Frank Sulloway behaupten, ist umstritten. Vgl. dazu Hill/Kopp, Familiensoziologie, 215. Klosinski, Verschwistert, 10 – 13. Nave-Herz/Feldhaus, Geschwisterbeziehungen, 113 – 115. Dass bestimmte prominente Stereotypen die eigene Selbstdeutung beeinflussen, ist damit allerdings noch nicht ausgeschlossen.Vgl. dazu auch Frick, Geschwister, 77– 81. So mag sich manch Erstgeborener Eifersüchteleien gestatten oder für alles verantwortlich fühlen, manches ‚Sandwich-Kind‘ selbstverständlich aus der Reihe tanzen und manches ‚Nesthäkchen‘ verwöhnt und über Gebühr unreif zeigen. Vgl. Sohni, Geschwisterbeziehungen, 23. Vgl. Liegle, Geschwister, 94 f. BB 206. S.o. III.2.1.1.
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Eltern jenseits von deren Verfügungsgewalt.³⁴⁰ Der Sozialimpuls, den die Eltern gegeben haben, verselbständigt sich in der Interaktion ihrer Kinder und sie bekommen bei der Beobachtung dessen u.U. sogar ihr eigenes Wirken und Verhalten gespiegelt. Neben der Freude an der Interaktion der Kinder spielt noch ein anderes Motiv für deren Bedeutung eine Rolle. Nach Bank und Kahn stehen Geschwisterbeziehungen in umgekehrt proportionalem Verhältnis zu anderweitigen emotionalen Beziehungen, d. h. je mangelhafter die Eltern-Kind-Beziehung ist, desto intensiver gestalten die Geschwister ihre Beziehung untereinander.³⁴¹ Die sich hierin aussprechende Kompensationslogik lässt sich kaum verabsolutieren, schließlich sind auch das Gegenteil und viele andere Konstellationen denk- und beobachtbar. Gleichwohl kann diese Hypothese in einer etwas weicheren Form sehr wohl auch die Elterngeneration orientieren, wenn sie mehrere Kinder hat bzw. zu bekommen strebt. Die Hoffnung darauf, dass die Geschwister auch füreinander da sind, schafft eine Entlastung von dem hohen Anspruch, dem eigenen Kind alles sein und bieten können zu müssen.
2.3 Erfüllungsmomente im Lebensvollzug Selbstentgrenzung, Ewigkeit, Unendlichkeit haben ihren Ort für Schleiermacher nicht in einer allzu vagen Zukunft, sondern in der Gegenwart. Wer in dieser nicht zu leben und glücklich zu sein versteht, kann auch kaum auf Glück in der Zukunft rechnen.³⁴² Die Aufhebung der Zeit im erhebenden Moment³⁴³ und das Innewerden der Freiheit, wie sie sich in der lebendigen (Selbst‐)Tätigkeit aktualisiert,³⁴⁴ sind die beiden Di-
Dies schließt nicht aus, dass Eltern nicht auch aktiv darauf hinwirken, dass ihre Kinder in Gemeinschaft treten. Die Einladung zu Familienfeiern, bei denen alle mal wieder an einem Tisch sitzen oder die Anberaumung eines gemeinsamen Urlaubs hat meist nicht zuletzt diesen Zweck. Vgl. zu Referat und Kritik dieser These: Sohni, Geschwisterbeziehungen, 25. Vgl. H 345 (Zweite Predigt über das Hausgesinde): „Der Mißmutige findet überall Grund zur Unzufriedenheit […] Vergeblich aber hofft ihr, in einen künftigen Zustand ein fröhliches Herz hinein zu bringen, wenn ihr nicht den gegenwärtigen mit fröhlichem Herzen ausfüllt.“ Vgl. das prominente Diktum in R 247: „Die Unsterblichkeit darf kein Wunsch sein, wenn sie nicht erst eine Aufgabe gewesen ist, die Ihr gelöst habt. Mitten in der Endlichkeit Eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblik, das ist die Unsterblichkeit der Religion.“ Sowie M 7: „Sie wollen doch auch einen Punkt haben, den sie nicht ansehen als flüchtige Gegenwart, nur daß sie nicht verstehn ihn als Ewigkeit zu behandeln. Oft auf einen Augenblik bisweilen auf eine Stunde, nun gar auf einen Tag sprechen sie sich los von der Verpflichtung, so emsig zu handeln, so eifrig Genuß und Erkenntniß anzustreben, wie auch der kleinste Theil des Lebens es von ihnen verlangt, wenn er sie erinnert, daß er eben so bald Vergangenheit sein wird, als er noch kürzlich Zukunft war. Dann ekelt es sie Neues wahrnehmen, oder genießen, wirken oder hervorbringen; sie sezen sich ans Ufer des Lebens, aber können nichts thun, als in die tanzende Welle lächelnd hinab weinen. Gleich wilden Barbaren, die am Grabe des Vaters Weiber, Kinder, oder Sklaven morden, so schlachten sie am Grabe des Jahres den Tag, der in leeren Fantasien vergeht, ein vergebliches Opfer.“ Vgl. dazu auch Dilthey, Leben I, 306 – 314. Vgl. M 13 (zur Zitation dessen s.o. I.4.1.5) sowie M 14: „Durch sein bloßes Sein erhält sich der Geist die Welt, und durch Freiheit giebt er sich die Thätigkeit, die immer ein und dieselbe sein wechselndes
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mensionen des Zusammenhangs, in dem Schleiermacher die Letztbedeutung des Lebens in seinen Frühschriften lokalisiert. Diese zu erfahren, ist ‚kinderleicht‘ und daher ausgesprochen schwer für Erwachsene.
Kinder als Paradigma der Hingabe an die Gegenwart Plädiert Schleiermacher in seinen prominenten Erstlingswerken noch als Redner an sein Publikum bzw. malt ihm ein Ideal seiner selbst vor Augen, so nimmt er sich in seinem einzigen Prosaversuch als Person zurück und stellt seinen Lesern in jesuanischer Weise³⁴⁵ die Kinder zum Vorbild hin: „jede Stimmung und jedes Gefühl für sich hinnehmen und nur rein und ganz haben wollen“, das sei der ‚Kindersinn‘, „ohne den man nicht ins Reich Gottes kommen kann“.³⁴⁶ Die Kinder Anton und besonders Sofie illustrieren ihn in seiner vorbewussten Reinform in Schleiermachers Weihnachtsfeier. Ihre Aufregung und ihre Versunkenheit in die gegenwärtige Feststimmung erinnern die Erwachsenen an das Glück ihrer eigenen Kindheit.³⁴⁷ Wie eine Wiederaneignung des Kindersinns durch Erwachsene aussehen kann, zeigt Schleiermacher anhand der Figuren Friederike und Josef. ³⁴⁸ Er macht sehr deutlich, dass es ihm nicht um eine Rückkehr in die ursprüngliche Naivität zu tun ist, die sich zur echten, ersten Kindlichkeit verhielte, „wie ein widriger Zwerg zu einem schönen, lieblichen Kinde, oder wie das unstete Flackern einer verlöschenden Flamme zu dem um sich greifenden, vielfach sich verwandelnden Schein einer eben entzündeten.“³⁴⁹ Die ‚zweite Naivität‘ – um einmal in freier Weise einen Begriff Ricœurs aufzunehmen – muss eine verfeinerte Gestalt der ersten sein. Das kindlich unbedarfte Vorwärtsstreben kann kaum durch eine bloße Rückwendung angeeignet
Handeln hervorbringt: aber unverrükt schaut er zugleich jene Thätigkeit an in diesem Handeln immer neu und immer dieselbe, und dies Anschaun ist Unsterblichkeit und ewiges Leben […]. So haben sie auch gedichtet die Unsterblichkeit, die sie allzugenügsam erst nach der Zeit suchen statt neben der Zeit, […] aber es schwebt schon jezt der Geist über der zeitlichen Welt, und ihn anzuschaun ist Ewigkeit und unsterblicher Gesänge himmlischer Genuß. Beginne darum schon jezt dein ewiges Leben in steter Selbstbetrachtung; sorge nicht um das, was kommen wird, weine nicht um das, was vergeht: aber sorge dich nicht selbst zu verlieren, und weine, wenn du dahin treibst im Strome der Zeit, ohne den Himmel in dir zu tragen.“ Vgl. Mk 10, 13 – 16. W 500. Zur Kindheit als religiös aufgeladenem Sehnsuchtsort in der Weihnachtsfeier vgl. auch Baader, Idee des Kindes, 152– 155. In seinem frühen Aufsatz Über das Naive, zählt Schleiermacher unter die „besondre Art wie ein Kind die Dinge schäzt, die ganz andern Geseze nach denen es von den Gegenständen mehr oder minder gerührt und interessirt wird, die ursprüngliche Wärme, womit es alles was ihm gefällt auffasst und absondert, endlich auch das lebhafte Kolorit worin es seine kleinen Gedanken troz ihrer Einfalt darzustellen weiß“ (ÜdN 184 f). Vgl. zur Würdigung beider Gestalten auch Hartlieb, Geschlechterdifferenz, 46 f. W 501.
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werden.³⁵⁰ Die rechte kindliche Dynamik im Erwachsenen hat einen höheren Bewusstseinsgrad zum Grunde und ist daher nicht nur eine sublimiertere, sondern auch eine bedeutungsschwerere Gestalt als die ‚erste Naivität‘. Erst vor dem Hintergrund der drei theologischen Reden seiner Freunde strahlt Josefs beredte Verweigerung, eine weitere Rede beizusteuern, als etwas Besonderes; erst durch sein Bewusstsein für andere Formen der Gestaltung des Kasus gewinnt sein Plädoyer für die Hingabe an die Sprachlosigkeit und den Gesang an Prägnanz; und nur weil er die Sorgen der Erwachsenenwelt kennt, empfindet er die festlich-momenthafte Dispension von diesen als etwas Erlösendes.³⁵¹ Die höhere Einfalt bezieht ihre besondere Würde aus ihrem Gegründetsein im Differenzbewusstsein. Schleiermachers früher Aufsatz Über das Naive weist bereits in diese Richtung.³⁵²
Vgl. zur Thematik auch Bollnow, Pädagogik, 205 – 212. Er beschreibt die spezifisch kindlichen Stimmungen, an denen die Erwachsenen gern partizipieren wollen als das „Gefühl des Morgendlichen“ und die „Erwartungsfreudigkeit“, macht dabei allerdings zugleich deutlich, dass sich diese kaum konservieren lassen: „Gewiß bauen diese [kindlichen – CR] Erwartungen eine Traumwelt auf, die so nicht in Erfüllung gehen kann, und darum sind die Enttäuschungen hier auch unvermeidbar. Diese Enttäuschungen mögen oft unbemerkt bleiben, weil aus neuen Situationen neue Erwartungen auftauchen und die alten darüber vergessen werden. Trotzdem ist der Prozeß zunehmender Enttäuschung und zunehmender Ernüchterung unverkennbar. Mit zunehmendem Lebensalter nimmt die Kraft dieser freudig vorauslaufenden Erwartungen ab. Die Zukunft hat ihren verlockenden Zauber verloren. Man erwartet nichts mehr von ihr. Und in diesem Vorgang altert der Mensch.“ (Ebd., 211). Vgl. W 531 f: Josef schließt: „Ich meinesteils kann heute damit [sc. einer Rede – CR] gar nicht dienen. Alle Formen sind mir zu steif, und alles Reden zu langweilig und kalt. Der sprachlose Gegenstand verlangt oder erzeugt auch mir eine sprachlose Freude, die meinige kann wie ein Kind nur lächeln und jauchzen. Alle Menschen sind mir heute Kinder, und sind mir eben darum so lieb. Die ernsthaften Falten sind einmal ausgeglättet, die Zahlen und die Sorgen stehen ihnen einmal nicht an der Stirn geschrieben, das Auge glänzt und lebt einmal, und es ist eine Ahndung eines schönen und anmutigen Daseins in ihnen. Auch ich selbst bin ganz ein Kind geworden zu meinem Glück. Wie ein Kind den kindischen Schmerz erstickt, und die Seufzer zurückdrängt und die Tränen einsaugt, wenn | ihm eine kindische Freude gemacht wird: so ist mir heute der lange, tiefe, unvergängliche Schmerz besänftigt, wie noch nie. Ich fühle mich einheimisch und wie neugeboren in der besseren Welt, in der Schmerz und Klage keinen Sinn hat und keinen Raum. Mit frohem Auge schaue ich auf alles, auch auf das Tiefverwundende. Wie Christus keine Braut hatte als die Kirche, keine Kinder als seine Freunde, kein Haus als den Tempel und die Welt, und doch das Herz voll himmlischer Liebe und Freude: so scheine ich mir geboren und darnach zu trachten. So bin ich umhergegangen den ganzen Abend, überall mit der herzlichsten Teilnahme an allen Kleinigkeiten und Spielen, und habe alles geliebt und angelacht. Es war ein langer, liebkosender Kuß, den ich der Welt gab […] Kommt denn […] und laßt mich eure Herrlichkeiten sehn, und laßt uns heiter sein und etwas Frommes und Fröhliches singen.“ Er markiert hier zwei Seiten des Urteils, jemand sei naiv (zu dieser Interpretation vgl. Oberdorfer, Geselligkeit, 154 f). Einerseits bedeutet Naivität, als das ‚Native‘, d. h. Angeborene, etwas Natürliches und mithin Echtes, das dadurch, dass es überhaupt auffällt, die gängigen Umgangsformen als gekünstelte kritisiert. Vgl. ÜdN 181. Moralische Genies werden zu einer „gewißen Simplicität“ (ÜdN 182), wie sie das Naive kennzeichnet, neigen; „offen und unbefangen wandelt ein solcher Mensch unter den verstektesten und verdorbensten Kreaturen“ (ÜdN 183). Andererseits liegt in dem Urteil, jemand sei naiv, freilich auch ein starkes Abgrenzungsmoment. Der ‚Naive‘ scheint den sozialen Kontext, in dem er sich äußert, nicht angemessen einschätzen zu können und offenbart damit einen – für das sittliche
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Zwar schließt die Agnes der Weihnachtsfeier ihre Erzählung mit dem Fazit, „daß jede heitere Freude Religion ist, daß Liebe, Lust und Andacht Töne aus einer vollkommnen Harmonie sind, die auf jede Weise einander folgen und zusammenschlagen können.“³⁵³ Es bleibt jedoch kein Zweifel, dass damit nicht nur gemeint ist, sich wie ein Kind zu freuen, sondern insbesondere die Freude am Kind. Schließlich ging ihr diese Einsicht „tief und innig […] damals“ auf, als ihre Nichte am Heiligen Abend getauft wurde.³⁵⁴ Noch eindrücklicher wird dies anhand der vorangehenden Erzählung Ernestines deutlich. Sie berichtet davon, wie sie als Kind die innige Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem Kleinkind beobachtete. Diese schien in ihren eigenen Gedanken tief versenkt zu sein, und ihre Augen waren unverwandt auf das Kind gerichtet. […] Ihre Miene schien mir bald lächelnd, bald schwermütig, ihr Atem bald freudig zitternd, bald frohe Seufzer schwer unterdrückend, aber das Bleibende von dem allem war freundliche Ruhe, liebende Andacht, und herrlich strahlte diese aus dem großen schwarzen, niedergesenkten Auge, das mir die Wimpern ganz verdeckt hätten, wenn ich etwas größer gewesen wäre. So schien mir auch das Kind ungemein lieblich, es regte sich lebendig, aber still und schien mir in einem halb unbewußten Gespräch von Liebe und Sehnsucht mit der Mutter begriffen.³⁵⁵
Wer mit Kindern umgeht, wird in deren spezifische Weise der Gegenwärtigkeit hineingezogen. Weil Kinder oft ganz im Moment leben, motivieren sie auch die Erwachsenen, die mit ihnen interagieren, sich darauf einzulassen. Dies geschieht ganz unbewusst und stellt sich daher schon im Zusammensein von Mutter und Säugling ein. Kinder sind mithin sowohl Vorbild als auch Motivatoren für die Hingebung an den Moment.
Erquickung durch den Umgang mit Kindern Wie Feiertage (mit ihren Gottesdiensten) den Alltag unterbrechen und sich gerade dadurch als produktiv für die Bewältigung desselben erweisen, so ist auch der FeierAbend eine Zeit der Rekreation, derer der Mensch bedarf. Die Rückkehr aus der geschäftigen Welt in die befriedete Sondersphäre des Hauses setzt Schleiermacher in
Urteil bedeutsamen – Mangel an Realismus und Differenzsensibilität. „Der ‚Naive‘ verhält sich also in konventioneller Gesellschaft, als wäre er unter Freunden, bzw. er ignoriert die faktischen Deformationen und Restriktionen, und genau dies macht in den Augen der Anderen seine Naivität aus.“ (Oberdorfer, Geselligkeit, 154). „Umgekehrt eröffnet erst eine solche Wahrnehmung und bedingte Anerkennung der Verhaltenserfordernisse in unterschiedlichen sozialen Kontexten realistischere Möglichkeiten der Ausbreitung der in der Freundschaft entwickelten und reflektierten HumanitätsStandards.“ (Ders., Freundschaft, 423). W 511 [Hervorhebung – CR]. W 511. W 505.
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seinen Hausstandspredigten mit dem Eintreten in ein Heiligtum gleich.³⁵⁶ Garant für die heiligende Wirkung desselben ist für ihn hierbei nicht die Ruhe des Lesesessels oder der ehelichen Umarmung, sondern der kindliche Trubel.³⁵⁷ Gerade weil Kinder noch kein angemessenes Sensorium für die Sorgen und Beschwernisse der Berufsund Erwachsenenwelt haben, sind sie für den Versuch, diese einmal zurückzulassen, die idealen Partner.³⁵⁸ Die Einfachheit und Klarheit, in der sich ihnen die Welt darstellt, hilft auch den Eltern, sich zu ordnen und die Prioritäten und Mechanismen ihrer Weltwahrnehmung und –bearbeitung neu zu orientieren.³⁵⁹ Voraussetzung für den Genuss dieser Wohltaten ist die ‚Reinhaltung des Heiligtums‘. Denn wem es nicht gelingt, seine Sorgen und Geschäfte draußen zu lassen, gegen den verlieren die Kinder ihre Unbefangenheit und er zerstört damit seine Re-
Schleiermacher beschreibt die Gesellschaft als „einen ewig bewegten Schauplatz, ein Gedränge von mannigfaltig verworrenen Verhältnissen […] worin jeder sich […] nach allen Seiten umschauen muß, daß er nicht anstoße oder angestoßen werde.“ (H 278). Das Haus erscheint demgegenüber als Rückzugsraum. „Da soll uns die ursprüngliche ruhige Gestalt des Lebens wieder entgegentreten; da sollen wir das bunte Treiben der Welt so lange es geht vergessen; es soll uns wieder lebendig werden, daß Gott den Menschen einfältig geschaffen hat; an einem lieblichen Bilde einfacher, ungefärbter Fröhlichkeit sollen wir uns wieder erquicken und stärken.“ (H 279). Vgl. H 277: „[…] wie viel Segen für uns Erwachsene ist in dem Zusammensein mit der Jugend; und wie dieses, mehr als alles andere, uns frisch und fröhlich erhält, daß das mannigfaltig angefochtene Herz guter Dinge bleibt in seiner Arbeit; und wie es zugleich uns reiniget von verwirrenden Leidenschaften und uns weiterbringt auf dem Wege der Heiligung.“ Vgl. H 279: „Aber von wem vorzüglich können wir diese Hilfe erwarten? Nicht von den erwachsenen Hausgenossen, die entweder schon selbst untergetaucht sind in die Beschwerlichkeiten und Sorgen des Lebens, oder deren Teilnahme an uns so erfahrungsreich ist, daß ihrem geschärften Auge nicht leicht entgeht, wo uns etwas Niederschlagendes oder Begünstigendes begegnet ist. Diese führen uns natürlich nur zu oft wieder auf das zurück, wovon wir uns loszureißen wünschten. Sondern diese notwendige Vergessenheit der Welt kann uns nur die noch sorglose heitere Jugend um uns her einflößen […]. Welche stärkende Kraft in dieser heitern Einwirkung liegt, die uns auf einmal mitten in die ursprünglichsten Verhältnisse des Menschen hineinzieht, wie schnell dadurch alle Spuren auch des geschäftigsten und verwicklungsreichsten Lebens aus der Seele hinweggewischt werden: selig ist, wer dies täglich erfährt.“ Vgl. dazu auch Beck/Beck-Gernsheim, Chaos, 139: „In der hochindustrialisierten Gesellschaft werden die Menschen dauernd eingeübt auf zweckrationales Verhalten, auf die Gebote von Konkurrenz und Karriere, Tempo und Disziplin. Das Kind aber repräsentiert die andere, die ‚natürliche‘ Seite. Und das genau macht auch eine Hoffnung, eine Verheißung aus. […] Die Bindung ans Kind widerspricht […] jeder ‚Rationalität‘ im direkten Sinn. Und nicht zuletzt deshalb wird sie gesucht, als lebendiges Gegengewicht.“ Vgl. H 283: „[…] so laßt uns unsrerseits nie weichen von der hingebenden Liebe gegen die Jugend, welche nie das Unsrige sucht, sondern nur das Ihre, und welche in der Klarheit und Ruhe, die uns aus einem ungetrübten Leben mit dem jungen Geschlecht so natürlich entsteht, ihren unmittelbaren Lohn hat.“ Vgl. dazu auch W 484: Ernestine sagt über ihre Tochter Sofie: „Das engelreine Gemüt tat sich so herrlich auf, und wenn ihr versteht, was ich meine, aber ich weiß es nicht anders auszudrücken, in der größten Unbefangenheit und Unbewußtheit lag ein so tiefer gründlicher Verstand des Gefühls, daß ich überschüttet wurde von der Fülle des Schönen und Liebenswürdigen, das notwendig aus diesem Grunde emporwachsen muß.“ Vgl. auch BB 176: Kinder „sind, zumal für den Mann, die lezte, aber auch höchste und herrlichste Schule […].“
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kreationssphäre, da das familiale Klima nun selbst unter die Bitterkeiten der Gesellschaft geraten ist, die „sich bis in das Innerste des Hauses fortpflanzen und es entweihen“.³⁶⁰ Die Familie gehört zu den wichtigsten Sozialsphären der Bewältigung von Frustrationen, die das Arbeitsleben dem Einzelnen aufbürdet. Indem sie diese externen Probleme zu bearbeiten hat, wird sie allerdings z.T. übermäßig belastet und degeneriert dadurch, schließlich ist familiales Leben für sich meistens schon aufwendig und problembehaftet genug.³⁶¹ Schleiermacher empfiehlt angesichts dieses auch von der gegenwärtigen Sozialpsychologie beobachteten Problems eine klare Trennung von Berufs- und Familienwelt. Dass sich eine solche geradezu schizoid darstellen kann, sieht der Biedermeier hierbei nicht. Die Grundintention, dass das Berufsleben eine übermäßige Belastung oder gar Zerstörung der Familie nicht wert ist und die Ungleichzeitigkeiten nicht nur zu Lasten der Familie gelöst werden sollten, teilen gleichwohl auch viele Zeitgenossen;³⁶² und man sollte den Schutz der Familie – so eben Schleiermachers These – sogar im bloßen Eigeninteresse der beruflichen und gesellschaftlichen Produktivitätsanforderungen im Blick behalten. So sehr Schleiermacher insbesondere in seinen Hausstandspredigten den überschießenden Mehrwert des ungetrübten Umgangs mit Kindern herausstreicht, so sehr betont er in seiner privaten Korrespondenz dessen Eigenwert: die Erlebnisdimensionen der Ausgelassenheit und der Freude und das beglückende Empfinden der Niedlichkeit von Kindern.³⁶³ Das Zusammensein mit Kindern ist auch deshalb so wertvoll, weil es einfach Spaß macht.
H 280.Vgl. zur Destruktivität der Beschwerung des häuslichen Lebens auch H 348 (Zweite Predigt über das Hausgesinde): „Es gibt nichts Beklemmenderes, als den beständigen Anblick eines verdrossenen Menschen, dem nichts von Herzen geht und also auch nichts zu Herzen; […].“ Dies räumt Schleiermacher auch am Grab seines Sohnes ein. Vgl. P 11, 508: „Ach, Kinder sind nicht nur theure von Gott uns anvertraute Pfänder, für welche wir Rechenschaft zu geben haben, nicht nur unerschöpfliche Gegenstände der Sorge und der Pflicht, der Liebe und des Gebets: sie sind auch ein unmittelbarer Segen für das Haus, sie geben leicht eben so viel, als sie empfangen, sie erfrischen das Leben und erfreuen das Herz.“ Wir sind auf diesen Aspekt bereits kurz zu sprechen gekommen; s. o. II.3.3.4. Vgl. BB 263: „Das Wesen, was die kleinen Dinger miteinander treiben, macht mir unendliches Vergnügen, […] Ich kann ganz wild werden vor Verlangen nach dem Jungen [sc. Ehrenfried – CR] und nach allen Tollheiten, die ich mit ihm treiben werde.“ BB 356: „ich rede von Frau und Kindern, wie einer, der plözlich reich geworden ist, von seinen Tausenden.“ BB 369: „Ich werde schon müssen der Vertheidiger Deiner Freiheit gegen die Kinder werden, aber dafür sollen sie sich auch einer ganz rasenden Freiheit erfreuen. Ach, es soll eine Wirthschaft werden, an der alle Engel im Himmel ihre Freude haben, und über die die meisten verständigen Menschen den Kopf schütteln.“ BB 386: „Aber nun, süße Jette, liebstes einziges Mütterchen, laß Dir vor allen Dingen Glük wünschen zu unseres Friedchen Geburtstag. Tausend Dank, für den lieben tüchtigen Knaben, mit dem Du mir eine solche Würze meines Lebens giebst, daß ich Dir es nicht ausdrükken kann, was für eine Fülle von Segen und Freude ich von ihm für mein Leben erwarte. Und tausend Dank, daß Du ihn schon hast Vater sagen gelehrt. Gott, könnte ich Dir nur recht sagen, wie ich ordentlich begierig bin auf das Leben mit den Kindern.“
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Die Anerkennung der Kindheit als einer besonderen Lebensphase In unseren vorangehenden Überlegungen haben wir etwas vorausgesetzt, das – besonders historisch gesehen – keine Selbstverständlichkeit darstellt: die Anerkennung der Kindheit als einer spezifischen Lebensphase. Zwar hat es zu allen Zeiten Kinder gegeben und man hat natürlich (auch freudig) wahrgenommen, dass und wie sich diese von Erwachsenen unterscheiden,³⁶⁴ jedoch geriet erst im 18. Jahrhundert die Kindheit als etwas Eigenwertiges in den Blick.³⁶⁵ Voraussetzung hierfür war der bürgerliche Wohlstand, der eine Freistellung der Kinder vom häuslichen Produktionsprozess und eine lange Phase des Schulbesuchs erlaubte.³⁶⁶ Die Definition der Kindheit, als einer Zeit der Entwicklung und des Lernens ging mithin mit vielen Privilegien einher, enthielt den Keim ihrer Bestreitung jedoch bereits in sich, insofern ihr zentrales Definitionsmerkmal der Zukunftsgerichtetheit die Würdigung ihrer als einer auch für sich eigenwertigen biographischen Etappe tendenziell untergrub.³⁶⁷ Bereits Schleiermacher mahnt seine Hörer, nicht die Kindheit ihrer Kinder einem späteren Ziel zu ‚opfern‘,³⁶⁸ „als gelte es nur im Wettlauf das Ziel so schnell als möglich zu erreichen […] sei es auch auf Unkosten oft aller Lebensfreude ihrer Kinder […] – daß ihre Kinder der übrigen Jugend voranlaufen, damit ihre gute Erziehung glänze vor der Welt […].“³⁶⁹
Vgl. dazu Schnell, Sexualität, 206 – 210. Erstmals prominent vorgetragen wird die These von der ‚Entdeckung der Kindheit‘ von Philippe Ariès: Viele Jahrhunderte lebten Kinder so selbstverständlich in der (Arbeits‐)Welt der Erwachsenen, dass sie auf bildlichen Darstellungen bis ins Hochmittelalter selbst wie kleine Erwachsene dargestellt wurden. Erst seit dem 18. Jahrhundert scheint die Kindheit es der Literatur und Kunst wert zu sein, eigens gewürdigt zu werden (ders., Geschichte, 92– 111). Den Niederschlag der ‚Erfindung der Kindheit‘ im Roman des 18. Jahrhunderts untersucht: Schindler, Subjekt. Vgl. dazu Ariès, Geschichte, 457– 466. 509 f. Auch die Einrichtung von Spielzimmern, die Entwicklung von kindlicher Mode usw. trugen dazu bei, die Spezifik der Kindheit ins Bewusstsein zu heben. Vgl. dazu Weber-Kellermann, Familie, 108 – 113. Mit dem Nachlassen der ökonomischen Bedeutung der Kinder trat ihre emotionale und statusvalente in den Vordergrund der familialen Orientierung. Vgl. dazu Nave-Herz, Familiensoziologie, 198. Der ‚Entdeckung der Kindheit‘ entspricht in der dieser folgenden Pädagogisierung ein neuerliches ‚Verschwinden der Kindheit‘. Die Eigentümlichkeit der Lebensphase Kindheit wird durch das Interpretament der Entwicklungsbedürftigkeit besetzt und damit um willen der Eingliederung in die Erwachsenenwelt ihres Eigenwertes tendenziell beraubt. Vgl. dazu Brinkmann, Kindheit. Vgl. zur Thematik auch Spory, Familie, 53: „Er [sc. der Literaturwissenschaftler Dieter Richter – CR] gelangt zu der Feststellung, dass die zunehmende Beachtung, die Kindern und dem Status Kindheit in der Neuzeit geschenkt wurde, ‚nicht wachsender Nähe, sondern wachsender Distanz zwischen Erwachsenen und Kindern geschuldet‘ ist. […] Die Statusdifferenz zwischen Kind und Erwachsenen kann nur im Modus der Erziehung als eine Verwandlung und Angleichung des Kindes an die Erwachsenen überwunden werden.“ Die Erziehungsaufmerksamkeit ist mithin Folge und Bearbeitungsversuch der nunmehr vorgenommenen Unterscheidung von zivilisiertem Erwachsensein und roher, wilder Kindheit, bzw. weniger despektierlich und romantischer: der Unterscheidung zwischen entwicklungsbedürftiger kindlicher und ausgebildeter erwachsener Individualität und Persönlichkeit. Detaillierter zur Thematik s.o. III.2.1.2. H 294 [Hervorhebungen getilgt – CR].
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Zwar ging Schleiermacher nicht so weit wie Rousseau, die Kindheit als das sittliche Ideal schlechthin zu postulieren, weil er anders als dieser den reinen Naturzustand, dem die Kinder noch am nächsten seien, nicht für das Höchste, sondern für geistig entwicklungsbedürftig erachtete;³⁷⁰ jedoch war sein romantischer Entwicklungsbegriff sehr offen für eine eigene Würdigung des (gleichsam natural) Keimhaften schon an sich.³⁷¹ So spricht Ernst in der Weihnachtsfeier: […] was ist die Feier der Kindheit Jesu anders als die deutliche Anerkennung der unmittelbaren Vereinigung des Göttlichen mit dem Kindlichen, bei welcher es also keines [sittlich büßenden – CR] Umkehrens weiter bedarf.³⁷²
Die Pointierung der ‚Kindwerdung‘ Gottes gegenüber seiner ‚Menschwerdung‘ gründet in der Hochschätzung der Kindheit als einer Phase der Primitivität im positiven Sinne einer Einheitlichkeit und Ganzheit auf der einen Seite und der Offenheit für die Prozesse des Werdens auf der anderen Seite. Ganz so hatte Schlegel in der Lucinde seine Charakteristik der kleinen Wilhelmine vorgenommen, an der Schleiermacher wohl seine Sofie in der Weihnachtsfeier orientiert hat. Schlegel preist die „heitere Selbstzufriedenheit“ und Gegenwärtigkeit des kleinen Kindes als Ausdruck seiner „innere[n] Vollendung“ und verweist zugleich auf ihren „kühneren Schwung der Fantasie“ und ihre „gesunde Wißbegierde“ hin.³⁷³ In dieser Betrachtungsweise erwächst das Kind zum Ideal einer Erwachsenenwelt, die sich als in Selbstzersplitterung erstarrt erlebt.³⁷⁴ Hartmut Rosa vertritt die These, dass sich die Idealisierung der Kindheit im 20. Jahrhundert nochmals verstärkt hat. Hier setzte sich sie Vorstellung vom Kind als einem guten und schützenswerten Wesen vollends durch, die geradezu als eine „Sakralisierung der Kindheit“ bezeichnet werden kann.³⁷⁵ In eindrücklicher Weise analysiert Rosa weiter: Die Unschuld und der Schutz der Kinder scheinen in der Spätmoderne zum buchstäblich letzten Moment des ‚Kollektivbewusstseins‘ im Sinne Emile Durkheims geworden zu sein. Kinderschänder sind das letzte Objekt legitimierbaren kollektiven Hasses geworden […]. Die Resonanzsehnsucht der Moderne bündelt sich in ihrer Konzeption der intakten oder wohlbehüteten Kindheit wie in einem Brennglas: Die Familie wird als der Resonanzhafen konzeptualisiert, in dem sich Kinder geliebt, gemeint, getragen und geborgen fühlen können; sie verdienen alle Liebe ihrer Eltern (und der übrigen Verwandten).³⁷⁶
Zu Rousseaus Programmatik vgl. orientierend Baumbach, Geschichte, 96 – 98. Detaillierter dazu s. o. I.4.1.3. W 502 f. Schlegel, Lucinde, 14. Zur Gegenwärtigkeit vgl. auch die Idylle über den Müßiggang in Schlegel, Lucinde, 25 – 29. Vgl. dazu auch Baader, Idee des Kindes, 122 – 134. Rosa, Resonanz, 350. Rosa, Resonanz, 350.
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Die Unwahrscheinlichkeit familialer Muße In z.T. schroffem Gegensatz zum Ideal der heilen und erfüllenden familialen Innerlichkeit steht die Realität des familialen Lebens. Der hohe Arbeitsaufwand, den der Unterhalt einer Familie, d. h. Kinderpflege, Hausarbeit usw., bedeutet, macht dasjenige um dessentwillen sie angestrebt wird, unwahrscheinlich, nämlich die Muße der erquickenden Betrachtung und zeitvergessenen Interaktion mit den Kindern.³⁷⁷ Wer bei den vielfältigen täglich zu leistenden Verrichtungen ‚funktionieren‘ muss, wie es häufig beschrieben wird, hat eben selten Kapazitäten für die Freude am ‚Zweckfreien‘.³⁷⁸ Hinzu kommt, dass ein erfreuliches kindliches Verhalten keine Selbstverständlichkeit ist, sondern durch Erziehung, welche mit Anspannung einhergeht, befördert werden muss. Das Bild von den ‚stets lieben Kinderlein‘ kann nur derjenige aufrechterhalten, der bloß wenige, durch vorangehende Erziehungsarbeit gut vorbereitete Stunden pro Woche mit ihnen verbringt. Es handelt sich bei alledem um einen strukturellen Konflikt, der nicht nach einer Seite hin aufgelöst, sondern nur vermittelt werden kann. Dies kann auf unterschiedliche Weise geschehen. Eine erste Möglichkeit ist die Kultivierung einer Sehnsucht, wie sie Schleiermacher in einem Brief an seine Braut antizipiert: Sieh, meine einzige Sorge, wenn ich an das ganze schöne Leben denke, ist nur die, woher die Zeit kommen soll, und wie man immer alles schöne täglich und stündlich wird genießen können, was da ist! Mir wird dann immer zu Muthe sein, als wenn das Feuer auf den Nägeln brennte, und so ist mir immer am wohlsten.³⁷⁹
Das dem erlebten Mangel korrespondierende Ideal wird lustvoll bedacht, sodass die Momente der Erfüllung, d. h. die Familienzeit – wo es gut geht – als umso bedeutsamer und intensiver empfunden werden. Auch bei zeitlich umfangreichem Kontakt mit den Kindern ist die angestrebte Erlebnisdimension für Eltern nicht selbstverständlich. Es bedarf bei aller Arbeit der Fähigkeit zum kurzen Innehalten. Beifällig schreibt Schleiermacher an seine Braut: Dabei fällt mir ein, ob Du die Kinder auch wol fleißig genug badest? […] Mir ist die Taufe immer zugleich eine Assignation, die den Kindern ausgestellt wird auf die ungeheuerste Menge von Bädern, so wie jedes Bad immer eine kleine Erneuerung der Taufe ist.³⁸⁰
Die Taufe als der kultische Ort zum Ausdruck der Dankbarkeit für ein Kind und des Segenswunsches für sein gesamtes Leben wird von Schleiermacher in den profanen
Zu den vielfältigen Dimensionen der Muße zwischen Kontemplation, Achtsamkeit, Gelassenheit Selbstverwirklichung u.v.m. vgl. den instruktiven kleinen Band: Gimmel/Keiling u. a., Muße. Im unmittelbaren Zusammenhang mit dieser Problematik steht der empirische Befund einer Studie zu Großmutterschaft, dass fast drei Viertel der Befragten ihr Großmuttersein schöner als das Muttersein bewerten (Herlyn u. a., Großmutterschaft, 82). BB 240. BB 176.
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Alltag gespiegelt. Schon das bloß körperliche Reinwerden eines Kindes, kann den Eltern dazu verhelfen, es wieder in einer gewissen Weise neu zu sehen und zu schätzen. Ein dritter Versuch, mit der beschriebenen Diskrepanz umzugehen, ist die Bildung von Ritualen und die Festlegung besonderer Zeiten, in denen das familiale Leben performativ gewürdigt wird. Zu diesen zählen bereits der tägliche Feierabend³⁸¹ und der Sonntag als Familientag,³⁸² aber auch die Familienurlaube,³⁸³ Geburtstage und (kirchliche) Feiertage, besonders Weihnachten sowie die großen Kasualien von Trauung, Taufe, Konfirmation und Beerdigung. Es ist eben kein Zufall, dass in der Familie nicht nur Alltag gelebt wird, sondern dass sie zugleich auch der Rahmen, der Anlass und der Gestaltungsort der meisten Feste ist. Kirchliches Handeln wird von den meisten Zeitgenossen nur im Zusammenhang der Familienbiographie wahrgenommen.³⁸⁴ Es hilft zur Gestaltung familialer Schwellensituationen und bildet den offiziellen Auftakt zur privaten Feier. Besonders am Weihnachtsfest wird dies sehr deutlich. Die Christvesper am ‚Heiligen Abend‘ ist für viele Christen in Deutschland der einzige Gottesdienst, den sie im Jahr besuchen. Sie ist deshalb für die meisten attraktiv, weil sie in die Familientradition der Gestaltung jenes besonderen Abends gehört.³⁸⁵ Treffend resümiert Matthias Morgenroth in seiner sensiblen und aufschlussreichen Studie: An Weihnachten feiert sich die soziale Einheit der Familie selbst und inszeniert ihren eigenen Ursprungsmythos, indem sie zusammenkommt, ihre eigene Familientradition pflegt und auf eine Familie blickt, die die ‚heilige‘ Familie genannt wird.³⁸⁶
Bereits Schleiermacher gibt in seiner Weihnachtsfeier zu erkennen, dass Weihnachten in der Moderne das ‚Kinderfest‘³⁸⁷ geworden ist, anders als in seiner Darstellung ist es
„Im neunzehnten Jahrhundert dehnte sich das Familienleben stärker auf die Nacht aus. Was es durch die zentrifugalen Kräfte des Tages verlor, machte es durch die zentripetalen Augenblicke des abendlichen Nachhausekommens, des Abendessens und des Bettgehens wett.“ (Gillis, Mythos, 155). Zur Gestaltung bedeutungsvoller Familienzeit im Abend- bzw. Zu-Bett-Geh-Ritual vgl. auch die empirische Studie: Morgenthaler, Abendrituale. Zum Sonntag als Zeit außerhalb der Zeit und als eminent familial codierter Bedeutungsträger vgl. Bollnow, Geborgenheit, 149 – 154. „Der Familienurlaub erscheint im nachhinein immer besser. […] Egal, wie angespannt und enttäuschend die gemeinsam mit der Familie verbrachte Zeit auch sein mag – sie ist eine reiche Quelle von Mythen und Ritualen für die gedachte ideale Familie. […] Das angestammte Urlaubsdomizil wird immer häufiger der Ort, an dem Familienhochzeiten oder –beerdigungen stattfinden; er wird weit öfter fotografiert und mit der Videokamera aufgenommen als der eigentliche Wohnsitz der Familie.“ (Gillis, Mythos, 175 f). Zur ‚Familiarisierung‘ der Religion in der Moderne vgl. auch Hartlieb, Geschlechterdifferenz, 279. Für die meisten Menschen ist das Zusammensein mit der Familie das Wichtigste am Weihnachtsfest. Vgl. dazu Morgenroth, Weihnachts-Christentum, 28 f. Morgenroth, Weihnachts-Christentum, 156. Vgl. W 521 sowie BB 256.
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jedoch in der Gegenwart noch stärker zum exklusiven Familienfest geraten.³⁸⁸ Als solches lädt es zusammen mit der ihm folgenden, meist ruhigeren ‚Zeit zwischen den Jahren‘ zum Innewerden dessen ein, was man erlebt hat und was einem wichtig ist, wie Schleiermacher augenzwinkernd in sein Notizbuch schreibt: „In den lezten Tagen des Jahres soll sich aller Genuß und alle Erinnerungen zusammenhäufen, wie Kinder sich wenn es etwas gutes giebt den besten Bissen zulezt verwahren.“³⁸⁹ Zugleich ist das Weihnachtsfest aber auch der prominenteste Erlebniszusammenhang der Diskrepanz zwischen emotionaler Erwartungssteigerung und Enttäuschung sowie angestrebter Muße und faktischer Hektik und Mühe, wofür in Schleiermachers idealisierender Weihnachtsfeier freilich kein Platz war.
Familiales Endlichkeitsbewusstsein Verknappung und Wert stehen in einem engen Zusammenhang. Diese ökonomische Wahrheit gilt auch für das familiale Zeitbudget. Die Begrenztheit, der Zeit, die man mit den Kindern in einem Haus verbringt, sowohl ‚synchron‘, d. h. am Tag nur wenige Stunden der Wachzeit, als auch ‚diachron‘, d. h. bis die Kinder das Haus verlassen, gibt der Selbstverständlichkeit des Zusammenseins eine Brechung, die Potential für ein Wachstum an Emotionalisierung bereithält. Den ‚synchronen‘ Aspekt haben wir bereits angedacht: je weniger die Familie füreinander Zeit hat, desto wichtiger werden bestimmte und symbolisch aufgeladene Zeiten für sie.³⁹⁰ Die Bedeutungsqualität der gemeinsam verbrachten Zeit kann durch deren geringe Quantität steigen, vorausgesetzt, letztere wird nicht so gering, dass man sich aus den Augen verliert.³⁹¹ Die ‚diachrone‘ Gestalt familialen Endlichkeitsbewusstseins hat ihre große Grenze im ‚Tod‘ der Kernfamilie, dem Auszug der erwachsen gewordenen Kinder. Sie wird aber auch schon bereits an vielen Vorstufen präsent. Ein schutzloses Neugeborenes kann man in dieser Weise nur ein paar Wochen im Arm halten, dann ist bereits ein neues Alter mit neuen Charakteristiken erreicht. Bald kann das Kind essen und sprechen und ist nicht mehr so stark von seinen Eltern abhängig; wenn es in die Schule kommt, ist die Zeit der größeren familialen Flexibilität vorüber usw. – jede Entwicklungsstufe markiert auch einen Abschied von einer unwiederbringlich zurückgelassenen Phase der Familienbiographie.³⁹² Viele kleine Freuden und Eindrücke
„Der ganze Kreis der Familie feiert, und alle anderen, selbst die nächsten Freunde haben außen vor zu bleiben. Niemals sind die öffentlichen Straßen und Plätze stiller und verlassener als am heiligen Abend zur Zeit der Bescherung.“ (Morgenroth, Weihnachts-Christentum, 155). G I, 63., 20. Vgl. dazu Gillis, Mythos, 144– 155. 355 – 360. 369 – 373. Vgl. dazu auch Bertram, Individuen, 13 – 16. Vgl.W 484: In freudiger Erwartung seines ersten Kindes bedauert Ernst seine Freunde, sie könnten seine hohen Gefühle kaum nachempfinden. „Ja es kann mich schmerzen, daß nicht alle hier, so wie wir, vor einer neuen Stufe des Lebens andächtig knien, daß euch, geliebten Freunde, nichts Großes
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möchte man festhalten, tut es vielleicht auch filmisch oder auf andere Weise, aber sie verfliegen doch oder wandeln sich zur Erinnerung.³⁹³ Die lineare Taktung der Familienlebenszeit fordert ein Endlichkeitsbewusstsein heraus, welches seinerseits wiederum zu einer Bedeutungssteigerung des Erlebten, besonders in der Retrospektive, beiträgt.³⁹⁴ Die elterliche Gestimmtheit zur Kinderliebe erwächst zum Integrationsprinzip der in ihrer vielfachen Endlichkeit und Anfälligkeit durchschauten Kleinfamilie.³⁹⁵
nahe liegt […].“ Dagegen wendet Eduard ein: „Gewiß […]. Aber doch rückt eben die Begeisterung uns dir zu sehr in die Ferne. Bedenke nur, daß unser ruhiges Glück eben dasjenige ist, dem du entgegengehst, und daß jede echte Begeisterung, auch die der Liebe, etwas nie Veraltendes und immer Erregbares ist. Oder kannst du dir Ernestinens Gefühl bei dem Ausdruck kindlicher Andacht und tiefer Innigkeit in unserer Sofie als etwas Gleichgültiges, kannst du es ohne die lebendigste Tätigkeit der Phantasie denken, in welcher Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft sich umschlingen?“ Vgl. dazu Schleiermachers Notiz in G I, 42., 15 f: „Die kleinen sentimentalen Freuden welche man genießt sind der Musenalmanach der in dem Jahr heraus komt, und so wie dieser erst fürs künftige Jahr bestimmt ist, so hat uns die Natur auch jene eigentlich verliehen um sie in der Zukunft zu genießen, aber so wie dieser gewöhnlich schon vergeßen ist ehe das Jahr seiner Bestimmung angeht, so geht es den meisten Menschen auch mit diesen. Beide erlangen durch Xenien [sc. Gastgeschenke – CR] ein längeres Leben.“ Vgl. dazu auch Gillis, Mythos, 177 f. Vgl. W 497: „Ist nicht eben auch hier das Persönliche vergänglich, ist nicht ein Neugebornes den meisten Gefahren ausgesetzt; wie leicht wird die noch unstete Flamme auch von dem leisesten Winde ausgeweht? Aber die Mutterliebe ist das Ewige in uns, der Grundakkord unseres Wesens.“
IV Familientheologische Bündelung In der vorliegenden Studie sollte der These nachgegangen werden, die Familie in der Moderne sei nicht nur ein wichtiger sozialer Ort für religiöses Leben und Lernen, sondern vollbringe eine Sinnstiftungs- und Orientierungsleistung, die jener der Religion in vielerlei Hinsicht sogar analog ist. Die Familie kann der Religion dadurch als Alternative Konkurrenz machen, sie kann sich aber auch als besonders anschlussfähig für religiöse Deutungen erweisen. In unserem Durchgang durch verschiedene Bedeutungsdimensionen des familialen Lebens sind wir auf allerhand religiöse Motive gestoßen. Diese gilt es nun noch einmal zu bündeln. Zur Strukturierung mögen uns hierbei die klassischen großen Topoi der Dogmatik dienen. Beschreibt die Dogmatik nach Schleiermacher das Bemühen der Aufklärung des religiösen Bewusstseins über sich selbst mit dem Anspruch einer relativen Vollständigkeit,¹ so sollten ihre Problemstellungen und Motive auch geeignet sein, zentrale Sinndimensionen des familialen Lebens zu vergegenwärtigen. Im Sinne dessen wollen wir ihre großen klassischen Lehrstücke, wie sie auch Schleiermacher in seiner Glaubenslehre durchgearbeitet hat, im Folgenden abschreiten und den Versuch einer kleinen ‚Dogmatik der Familie‘ unternehmen.
1 Gotteslehre – Von der Allheit der Familie Zu den zentralen Prädikaten Gottes, welches auch als – vornehmlich philosophischer – Begriff für den Gottesgedanken selbst fungieren kann, gehört jenes der Absolutheit; Gott ist als der Eine allumfassend. Dem korrespondiert auf Seiten des menschlichen Subjekts der Vollzug der Religion als eines Modus der Letztintegration der unterschiedlichsten Lebensdimensionen. Trotz ihrer kulturellen und anthropologischen Provinzialität ist die Religion in ihrer Perspektive holistisch und entfaltet gerade durch ihren deutenden Ausgriff auf das Leben als Ganzes ihre Bedeutung. Schleiermacher spricht in den Reden davon, der Mensch solle „alles mit Religion thun“.² Eberhard Jüngel bringt die sich darin aussprechende Intention später auf die berühmte Formel, der Glaube sei eine „Erfahrung mit der Erfahrung“.³ Fragen wir, welche der Sozialformen über eine entsprechend große Integrationskraft verfügt, so werden wir von Schleiermacher nicht auf die Kirche, sondern auf die Familie verwiesen. „Die Familie als lebendiges Ganze enthält nun für alles bisher als unbestimmt Gefundene nicht das Begrenzungsprincip, aber die lebendige Anknüp-
In einem Brief an Friedrich Heinrich Jacobi von 1818 bezeichnet Schleiermacher die Dogmatik als eine „durch Reflexion entstandene Dolmetschung des Verstandes über das Gefühl“ (zit. n. Birkner, Schleiermacher-Studien, 185). R 219. Jüngel, Gott, 225 u. ö. https://doi.org/10.1515/9783110682090-005
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fung“,⁴ heißt es in der Philosophischen Ethik von 1812/13. Die Familie bildet den Ausgangspunkt der Entstehung und Entwicklung des Menschen, sowohl biologisch als auch sozialisatorisch.⁵ Sie ist dabei jedoch nicht bloß eine Kinderstube, sondern ein Lebenszusammenhang, der das gesamte Leben begleitet und mitbestimmt, welcher Generation man auch jeweils angehört. Wir haben es eingangs bereits aus dem Brouillon zitiert:⁶ Die Familie wird auf diese Art eine Totalität alles dessen, was sonst nur zerspalten vorhanden ist, der Geschlechter sowol als der Alter. Und eben durch diese Totalität wird nun die Zeit und der Raum gleichsam aufgehoben und die Familie eine vollständige Repräsentation der Idee der Menschheit.⁷
Streben sonst auch die Ansprüche und Erlebnisdimensionen des individuellen Lebens auseinander; im familialen Gespräch werden sie gebündelt. Hier ist alles von Interesse, was den Einzelnen bewegt und interessiert und alles kann ventiliert und zusammengebunden werden. Freilich wird das familiale Gespräch nicht jede Idee, jedes Interesse und jede Neigung eines jeden Familiengliedes würdigen und unterstützen. Konflikte, Ablehnungen und Kritik wird es immer geben.⁸ Das bedeutet jedoch nicht, dass die Familie damit als holistischer Deutungsrahmen für das individuelle Leben entfiele; besonders solange die Familienmitglieder in einem Haushalt vereint sind. Schließlich haben die meisten Lebensdimensionen Einfluss auf das familiale Zusammenleben, seien es Beruf und Schule, Freunde, Freizeitgestaltung, Ernährungspräferenzen, Haustiere, Einrichtungsgeschmäcker, finanzielle Investitionen, Hygienekultur oder sonstige Gewohnheiten und Entscheidungen. Durch die große Konkretheit all dessen ist die Konfliktgefahr innerhalb der Familie hoch, wodurch sie anfällig und brüchig wird. Jedoch bedeutet die größere Bestimmtheit auch ein größeres Relevanz- und Bedeutungspotential der Familie für den Einzelnen, als es Sozialund Deutungszusammenhänge entfalten können, die eine Kommunikationskultur von größerer Distanz und Abstraktheit gegenüber dem individuellen Leben prägt.
2 Schöpfungslehre – Kreatürlichkeit und Kreativität Die Grundstimmung des religiösen Bewusstseins erblickt Schleiermacher bekanntlich im „schlechthinige[n] Abhängigkeitsgefühl“⁹, welches an sich von ihm zunächst PhE 326, § 36. Vgl. PhE 326 f, § 37 f. S.o. I.4.Einleitung. PhE 134. Die religiöse Kulturprägung des individuellen Gebets ist demgegenüber freilich integrationsstärker, weil sie primär eine Ausdrucksform des Selbstverhältnisses darstellt, die kaum konkret sozial gebrochen wird. CG2, § 29.1, 190. Vgl. auch CG2, § 4, 32– 40.
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IV Familientheologische Bündelung
vollkommen ungegenständlich gedacht wird.¹⁰ Im lebensweltlichen, d. h. reflektierenden, Umgang wirft es jedoch die Frage nach einem ‚Wovon‘ bzw. ‚Woher‘ auf – Schleiermacher spricht vom „zurückschieben“ „unser[es] Sosein[s]“.¹¹ Durch sie wird der Gottesgedanke motiviert, der als das angemessene intentionale Korrelat der ‚schlechthinnigen Abhängigkeit‘ des Menschen gelten kann. Soll dieses Verhältnis nun näher ausbuchstabiert werden, so geschieht dies traditionellerweise – und entsprechend auch bei Schleiermacher – in den materialdogmatischen Lehrstücken von der Schöpfung und Erhaltung der Welt durch Gott.¹² In ihnen wird die unhintergehbare Verdanktheit menschlichen Lebens und menschlicher Freiheit artikuliert und konkretisiert. Eine angemessene Reichweite hat diese Reflexion – bzw. nach Schleiermachers eigenem Anspruch: dieses Gefühl – erst, wenn es nicht bloß das Subjekt allein betrifft, sondern wenn dieses sein Selbstbewusstsein auf alles Endliche erweitert, d. h. wenn es sich in seiner Verdanktheit als Repräsentant der gesamten Menschheit, gar des gesamten Kosmos, versteht und diese in sein religiöses Bewusstsein mit einbezieht.¹³ Abgesehen davon, dass Schleiermacher spätestens mit seinem Erweiterungstheorem die Grenzen einer exklusiven Gefühlsbegründung der Religion sprengt – die ‚Welt‘ ist eben ein Grenzgedanke der Vernunft und ergibt sich nicht von selbst aus dem Vermögen des Gefühls¹⁴ – ließe sich an dieser Stelle einwenden, dass sich die Frage nach dem ‚Woher‘ des eigenen Selbst sehr wohl mit einer engeren Perspektive bescheiden kann. Bleibt es bei der ganz individuellen Gestalt der Frage, Wem verdanke ich mich?, so ist die naheliegendste Antwort jedoch keine religiöse, sondern eine naturale und soziale. Den so fragenden Menschen wird es nicht zum Gottesgedanken, sondern wahrscheinlich zunächst zum Gedanken an seine Eltern, Großeltern oder auch an seinen Partner¹⁵ treiben. Natürlich ist er von diesen nicht ‚schlechthinnig abhängig‘, schon allein weil diese nicht Grund ihrer selbst sind. Die Herkunftsfamilie kann jedoch gleichwohl eine befriedigende Antwort auf die Frage nach dem eigenen ‚Woher‘ darstellen, weil sie den Vorteil besitzt, anschaulich, konkret und ausgesprochen erfahrungsgesättigt zu sein. In einer gewissen Weise kommt Schleiermacher dieser Einsicht entgegen, insofern er das ‚Schlechthinnig-abhängig-Sein‘ und das ‚In-
Kann die bewusstseinstheoretische Grundbestimmung von Religion auch darauf verzichten, so inhäriert ihrer Gewahrung im lebensweltlichen, d. h. reflektierenden, Umgang doch stets die Frage nach einem ‚Woher‘ – Schleiermacher spricht vom „zurückschieben“ „unser[es] Sosein[s]“, womit Gott als Gegenstand des Bewusstseins in den Blick kommt (CG2, §4.4, 40). CG2, §4.4, 40. Vgl. CG2, § 32– 41. 46 – 49, 201– 240. 264– 299. Vgl. CG2, §34.1. 36.1, 212– 214. 219. Nicht nur Kant, sondern auch der Schleiermacher der Dialektik haben die Idee der ‚Welt‘ in dieser Weise aus guten Gründen eingeführt. Vgl. Kant, KrV, A 405 – 567. Sowie Dia (1814/15), §218, 147. Vgl. zur Thematik auch Barth, Was heißt ‚Vernunft der Religion‘, 201 f. Dazu s.o. III.2.1.1.
2 Schöpfungslehre – Kreatürlichkeit und Kreativität
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den-Naturzusammenhang-gestellt-Sein‘, welches wir hier auf den kleinfamilialen Kontext enggeführt haben, als extensionale Äquivalente beschreibt.¹⁶ Schöpfungslehre und Erhaltungslehre drücken nach Schleiermacher ganz dasselbe aus.¹⁷ Indem er die Frage nach der Weltentstehung als eine wissenschaftliche aus dem genuinen Interessengebiet der Religion ausschließen zu können meint,¹⁸ bleibt für den religiösen Schöpfungsgedanken letztlich nur dessen Fassung als ‚creatio continua‘ übrig, welche cum grano salis mit der Vorstellung von der göttlichen Erhaltung der Welt identisch ist, der Schleiermacher schließlich den Vorzug gegenüber der Schöpfungslehre gibt. Auch das Leben in Ehe und Familie ist ein fortwährendes Neuschaffen. Georg Simmel fasst die Analogie: Wie das göttliche Erhalten der Welt eine fortwährende Schöpfung ist, so ist das Erhalten der Liebe eines anderen ein fortwährendes Neugewinnen ihrer – und das Erhalten der eigenen Liebe ein fortwährendes Neuschaffen ihrer.¹⁹
Wichtiger als der Ursprungsmythos vom Erwachen der Liebe – so wichtig er für die Selbstdeutung einer Partnerschaft auch sein mag – ist doch deren Gestaltung im Strom der Zeit. Dasselbe gilt für das intergenerationelle Verhältnis: Am und im Kreißbett wird den Eltern nicht nur die eigene Kreatürlichkeit, sondern auch die eigene Kreativität deutlich: sie erleben sich selbst als schöpferisch und können, wenn es gut geht, nach einem mühevollen Tag oder einer strapaziösen Nacht ihr ‚Werk‘ ansehen und als ‚sehr gut‘ befinden. Schon in den Ultraschalluntersuchungen und nun der Geburtsklinik wird der ‚Ursprungsmythos‘ der Familie geschrieben; das schöpferische Handeln der Eltern endet damit jedoch nicht, sondern fängt gerade erst an. In einem zuweilen schier endlosen Strom der Fürsorge erhalten sie ihr Kind und erleben so täglich – meist unterschwellig – ihre Schöpferkraft.
Vgl. CG2, § 51 Leitsatz, 308 f; ferner § 34.3, 215. Zur Herausarbeitung dessen vgl. Barth, Bewußtsein, 55 sowie Barth, Abschied von der Kosmologie, 423. Vgl. CG2, §36.1, 219: „Der Saz, daß Gott die Welt erhält, ist an und für sich betrachtet jenem [daß Gott die Welt erschaffen hat] völlig gleich […]“. Vgl. CG2, § 39.1, 229. Der Hauptgrund für die größere darstellungstechnische Angemessenheit des Erhaltungsbegriffs liegt für Schleiermacher aber wohl in der Verfasstheit des unmittelbaren Selbstbewusstseins selbst. Das Gefühl ist ein Zustandsbewusstsein. Es repräsentiert „‚[…] die unmittelbare Gegenwart des ganzen ungetheilten Daseins […]‘“ (CG2, § 3.2, Anm., 23). Auf die Zeitachse übertragen bedeutet dies, dass wir uns im Gefühl „immer nur im Fortbestehen [finden], unser Dasein ist immer schon im Verlauf begriffen“ (CG2, § 36.1, 219). Entsprechendes gilt dann auch für die Erweiterung des Selbstbewusstseins auf alles Endliche: auch die Welt kann das Selbstbewusstsein „nur in [ihrem] Fortbestehen repräsentiren.“ (Ebd). Daher gilt, dass wir „von einem Anfang des Seins […] kein [unmittelbares – CR] Selbstbewußtsein haben“ (CG2, § 39.1, 229). Simmel, Geschlechter, 280.
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3 Christologie – Die Göttlichkeit im geliebten Menschen Es kann nur einen geben! Eine wichtige Pointe der Christologie ist für Schleiermacher, dass es nur einen Menschen gibt, in dem sich Göttlichkeit und Menschheit in vollkommener Weise durchdringen.²⁰ Niemand anders als allein der Erlöser verfügt in der Menschheitsgeschichte über eine „stetige Kräftigkeit seines Gottesbewußtseins“.²¹ Deshalb sei auch er allein der vollgültige Mittler zwischen den Menschen und Gott und damit der Mittler der menschlichen Seligkeit.²² Dieses mit guten theologischen Argumenten unterfütterte Bekenntnis schließt jedoch nicht aus, dass auch andere Menschen zu besonderen Höhen des Gottesbewusstseins bringen könnten – im Gegenteil. Das christliche Leben soll ja gerade im Streben danach bestehen. Dies bedeutet aber wiederum, dass sich das Göttliche nicht allein im geschichtlich gewordenen Ideal Christi finden lässt,²³ sondern – in abgestufter, aber dafür deutlich konkreterer Weise – auch in anderen Menschen. Die Sehnsucht nach der einen Liebe oder dem bereits gefundenen geliebten Menschen kann geradezu Züge einer Messiaserwartung annehmen. Dieser soll das Leben ganz und heil machen. In seinen Monologen – wir haben es bereits oben zitiert – äußert sich Schleiermacher in ebenjener Weise, wenn er sehnsüchtig fragt: Wo mag sie wohnen mit der das Band des Lebens zu knüpfen mir ziemt? Wer mag mir sagen, wohin ich wandern muß um sie zu suchen? denn solch hohes Gut zu gewinnen ist kein Opfer zu theuer, keine Anstrengung zu groß!²⁴
Von der partnerschaftlichen Liebe, als der „heiligsten Verbindung“ verspricht sich nicht nur Schleiermacher, „auf eine neue Stufe des Lebens“ erhoben zu werden, um zu erfahren, „wie das verklärte höhere Leben nach der Auferstehung der Freiheit sich in mir bildet, wie der alte Mensch die neue Welt beginnt.“²⁵ Dieselbe Erwartungsintensität kann sich in Eltern mit Blick auf ihre Kinder einstellen. In der Weihnachtsfeier postuliert Schleiermacher „die allgemeine Ansicht aller Frauen, daß sie in ihren Kindern, wie die Kirche es in Christo tut, schon von der Geburt an das Göttliche voraussetzen und es aufsuchen.“²⁶ Das stetige Bewusstsein dieses
Vgl. CG², § 98, 90. Vgl. CG², § 94, 52. Vgl. CG², § 100 f, 104– 120. Zu CG1, § 114, 19 und CG², § 93, 41 vgl. Barth, Christologie, 259: „Die These des Zugleichs von Urbildlichkeit und Geschichtlichkeit soll inhaltlich genau an diejenige Stelle treten, die in der altkirchlich-altprotestantischen Lehrbildung die Zwei-Naturen-Lehre innehatte. Darin liegt zweifellos das Moderne dieser Christologie.“ Vgl. zur Thematik auch ChS Beil 8 f: „§ 25. Dies Bewußtsein [der Erlösung – CR] tritt auf als unmittelbare Erfahrung, also geschichtlich angeknüpft an eine Person. | Das Christentum ist wesentliche Identität des symbolischen und historischen.“ M 47. M 47. Hiermit ist bereits der Überschritt zur Soteriologie getan. Detaillierter dazu s.u. W 503.
4 Hamartiologie – Schuldigwerden am Geliebten
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Göttlichen entfaltet sich hierbei allerdings nicht im Geliebten, dem Kind, sondern in der Liebenden, der Mutter: „die Mutterliebe ist das Ewige in uns, der Grundakkord unseres Wesens.“²⁷ Diese Konstanz gewinnt sie, weil sie nicht von der faktischen, ungewissen Entwicklung der Kinder abhängt, sondern „auf das Schöne und Göttliche [geht], was wir in ihnen schon glauben […] mit diesem Sinn ist wieder jede Mutter eine Maria. Jede hat ein ewiges göttliches Kind, und sucht andächtig darin die Bewegungen des höheren Geistes.“ Kann es der Theologie der Moderne kaum mehr gelingen, den historischen Jesus mit dem dogmatischen Christus zusammenzubringen,²⁸ wodurch Jesus von Nazareth an Bedeutung für das religiöse Bewusstsein verliert und die Christusvorstellung im Gegenzug Fleisch und Prägnanz einbüßt, so hat sich die Deutungskultur der Moderne im familialen Leben neue Paradigmen der Einigung von Gottheit und Menschheit erschlossen. Diese sind zwar fallibel – spätestens wenn eine Partnerschaft zerbricht oder nicht mehr nur ‚Lieb aus dem göttlichen Mund‘ des (adoleszierenden) Kindes ‚lacht‘, hat es die Idealisierung u.U. schwer –, jedoch wiegt ihre Konkretheit manche Irritationen der göttlichen durch die menschliche Seite auf.
4 Hamartiologie – Schuldigwerden am Geliebten Totalansprüche sind unter den Bedingungen der Endlichkeit zum Scheitern verurteilt. Das gilt in religiösen, wie in sozialen Zusammenhängen. Kein (normaler) Mensch kann es zu einer ‚stetigen Kräftigkeit des Gottesbewusstseins‘ bringen. Da die Vollkommenheit religiös dennoch gefordert ist – göttliches Gebot verlangt vollständigen Gehorsam –, muss jedem Menschen ein grundlegender Mangel bescheinigt werden.²⁹ Er ergeht in Gestalt des Sündenbewusstseins.³⁰ Dieses motiviert im Verbund mit seinem Korrelat, dem Bewusstsein von der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen,³¹ das Verständnis Gottes als eines heiligen und gerechten, aber auch barmherzigen.³² Zur zentralen Aufgabe der christlichen Religion gehört für Schleiermacher neben der Artikulation des ‚schlechthinigen Abhängigkeitsgefühls‘ die Bearbeitung der Diskrepanz zwischen der intelligiblen Anteilhabe des Menschen am Göttlichen, der Lust der
W 497. Vgl. zu diesem Befund Barth, Christologie. Zwar sind alle Menschen in ihrer Fehlbarkeit gefangen, was klassischerweise mit dem Lehrstück von der Erbsünde auszudrücken versucht wird (vgl. CG², § 70 – 73, 421– 460), die Sünde kann gleichwohl nicht als Normalfall menschlichen Lebens schulterzuckend hingenommen werden. Entsprechend wird sie als „Störung der Natur“ der „ursprünglichen Vollkommenheit des Menschen“ interpretiert. Vgl. CG², § 68, 412. Das Sündenbewusstsein ist, insofern es das Böse anzeigt und dessen Geltung bestreitet, selbst gut und kann insofern als von Gott geordnet interpretiert werden. Vgl. CG², § 80, 488. Vgl. dazu interpretierend Axt-Piscalar, Freiheit, 282– 293. Vgl. dazu CG², § 71, 427. Vgl. CG², § 83 – 85, 511– 529. Vgl. dazu auch Axt-Piscalar, Freiheit, 229 f.
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Gnade, einerseits, und seiner Schuld- und Todverfallenheit, der Unlust der Sünde, andererseits.³³ Schleiermachers Lösung liegt – gut protestantisch – in der Pointierung des Christentums als einer Erlösungsreligion. Das Spannungsverhältnis von emotionalem Anspruch und ernüchternder Wirklichkeit bestimmt auch das familiale Leben. Je umfassender und aufgeladener der Anspruch, desto größer die Fallhöhe und desto wahrscheinlicher der Fall, denn kein Mensch kann sich auf dem Höhenkamm der romantischen Liebe oder des emotional vollkommen erfüllenden Familienlebens dauerhaft halten. Den (unerfüllbaren) Anspruch in seiner Geltung zu negieren, mag zwar das Problem lösen, ist jedoch mit dem Verlassen der Gesamtsphäre teuer erkauft. Wer Gott einen Lügner straft oder ihn gar vollends leugnet, ist ein religiöser Apostat; wer die Bedeutung der Familie zu weit relativiert, gibt sie als Sinnträger letztlich auf. So gehört auch im familialen Leben der Umgang mit Differenzen zu den zentralen und zugleich nicht abschließbaren Aufgaben. Mit seinen Familienmitgliedern teilt man gemeinhin einen Großteil seines Raumes, seiner Zeit und widmet ihnen viel Kraft und Aufmerksamkeit. Das macht ein Schuldigwerden an ihnen viel wahrscheinlicher als an anderen Menschen, die wegen ihrer größeren Distanz auch weniger Reibungsfläche bieten. Zugleich ist das Schuldigwerden an Menschen, die uns nahestehen, eben wegen jener Nähe allerdings besonders schwerwiegend. Die Nähe provoziert Verletzungen, die gerade im Nahfeld doch ausgeschlossen werden sollen. Damit wird die Familie zu einem der wichtigsten Soziotope individueller Schulderfahrungen.Wer seine Grenzen austesten will und sich in Extremsituationen erleben will, der gründe eine Familie! Bleiben seine Übertretungen im Rahmen des sozial Zumutbaren, so hat er die Verheißung, auch den Glanz der anderen Seite der Medaille zu genießen: die Gnade der Absolution durch seine Lieben.
5 Soteriologie – Die erlösende Kraft der Liebe In sich selbst gefangen ist der Mensch, bis die Liebe ihn zum Geliebten hin öffnet und damit (aus sich selbst) befreit. Der Geliebte erlöst ihn, indem er ihn zu sich zieht und dabei das Band seiner Selbstverstrickung zerreißt. So handelt der Erlöser am Gläubigen: er nimmt ihn „in die Kräftigkeit seines Gottesbewußtseins auf, […] dies ist seine erlösende Thätigkeit“;³⁴ und er „nimmt die Gläubigen auf in die Gemeinschaft seiner ungetrübten Seligkeit, […] dies ist seine versöhnende Thätigkeit.“³⁵ Erlösung bedeutet nicht bloß eine Vergemeinschaftung sondern eine echte Überwindung der inneren Jene Grundspannung bestimmt den gesamten zweiten Teil seiner Glaubenslehre (CG², § 62– 169, 391– 513). Die Unlust der Sünde und die Lust der Gnade können hierbei als die zwei Seiten derselben Medaille gelten. Vgl. CG², § 62 f. 80, 391– 398. 488. CG², § 100, 104. CG², § 101, 112.
5 Soteriologie – Die erlösende Kraft der Liebe
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Einsamkeit; die Befreiung aus der Vereinzelung in eine neue Ganzheit. Wo der Paarliebe dies gelingt, führt sie die Liebenden in den ‚siebten Himmel‘. Die religiöse Metapher erscheint angesichts der Bedeutungstiefe, welche die erlösende Liebe im Selbsterleben der Liebenden gewinnen kann, gar nicht so übertrieben.³⁶ Die Zerstörung der erlösenden Liebe, sei es vorzeitig durch Ablehnung, oder im Verlauf durch Scheitern oder Tod, muss im Gegenzug in ebenso starker Intensität, nämlich geradezu als Verdammnis empfunden werden. Seinem Heil entzogen stürzt der unglücklich Liebende in einen Abgrund der Leere und Verzweiflung. Die erlösende Kraft der Liebe liegt allerdings nicht allein in der hohen Erlebnisintensität des über sich hinaus Gelangens. Erlösung bedeutet auch, anerkannt zu sein, und zwar als der, der man in der Tiefe seines Herzens wirklich ist bzw. zu sein meint. Idealiter kann eine solche Würdigung der Person allein durch den ‚Herzenskündiger‘³⁷ Gott geschehen. Sozialiter wird sie am ehesten durch die Familie geleistet. Von den meisten Menschen wird man wegen irgendeines Aspekts seiner Person geschätzt (oder auch abgelehnt); ihre Anerkennung bleibt partikular und ermangelt mithin der Letztbedeutung. Die Eltern, der Partner oder auch die eigenen Kinder hingegen kennen einen so gut – mit allen Schwächen und Makeln, aber auch mit allen Vorzügen und kaum auffälligen Stärken –, dass von ihnen anerkannt, geliebt und geschätzt zu werden, weiter reicht. Anerkennung im familialen Leben zu finden, bedeutet, als ganzer Mensch angenommen zu sein. Hier hingegen auf Ablehnung zu stoßen, muss nahezu unweigerlich eine Identitätskrise auslösen. Zumeist haben wir es wohl mit Mischformen zu tun, die situativ mehr nach der einen oder nach der anderen Seite neigen. Die Erlösung bewirkt nicht weniger als eine neue Qualität des Lebens. In der klassischen Dogmatik – und mit besonderer Pointierung in der reformierten Tradition – wird diese artikuliert in den Lehren von der Wiedergeburt und Heiligung.³⁸ Der liebende Blick des Partners auf die eigene fehlerhafte Person hat eine satisfaktorische Kraft mittlerer Reichweite. Wie der Gnadenblick Gottes das ethische Potential des Sünders antizipiert und bereits im Jetzt zurechnet,³⁹ so sieht auch der liebende Mensch im anderen mehr. Er sieht den anderen so, wie dieser gern gesehen werden will oder traut ihm sogar noch mehr zu. Damit ist dieser in Zugzwang: der würdigende
Vgl. hierzu auch Schubart, Religion, 99: „Als enthusiastisches Gefühl ist die erlösende Liebe universal. Sie versöhnt den Liebenden nicht nur mit Gott und der Welt, sondern auch mit sich selbst. Sie entreißt ihn seiner inneren Zersplitterung, indem sie in einer einzigen, übermächtigen Empfindung alle anderen Gefühle sammelt und gleichsam ertränkt. Sie heilt durch ihre einigende, zusammenfügende Gewalt. Dem Ganzen zugewendet wird der Mensch selbst ein Ganzes.“ (Weiterführend zu seiner Behandlung der ‚erlösenden Liebe‘ siehe ebd., 75 – 115). Vgl. zu Kants Fassung dieses Begriffs und seiner Funktion im Rahmen der Moraltheologie: Kant, Religion, B 85. 137– 139. Vgl. CG², § 106 – 112, 164– 228. Zu dieser Figuration der Gnadenlehre vgl. Kant, Religion, B 84– 86.
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Entwurf fordert lebenspraktische Entsprechung. Geliebt zu sein, macht uns zu besseren Menschen.⁴⁰ Zugleich erleben wir uns in Liebesbeziehungen zuweilen als Retter des Partners, der uns das Vertrauen schenkt, ihn zu unterstützen und (exklusiv) zu halten.⁴¹ Dies kann bis ins Extrem der Aufopferung für den Partner gehen, wo dieser krank wird oder anderweitig einer größeren Hilfe bedürftig, als er selbst zu spenden vermag: die Partnerschaft oder die Sorge für die hinfälligen Eltern wird zum Kreuz. Zumeist allerdings haben wir es bei der partnerschaftlich und familial vermittelten Erlösung durch die Liebe mit einem reziproken Geschehen zu tun, auch wenn es sich zuweilen um ein Geben und Nehmen auf unterschiedlichen Ebenen handelt; einer wird zum Erlösten und Erlöser des anderen.
6 Pneumatologie – Vorherbestimmtes Glück und familialer ‚Gemeingeist‘ Die Lehre vom Geist findet in Schleiermachers Glaubenslehre ihren primären Ort in der Ekklesiologie.⁴² Diese firmiert im dem Erlösungsbewusstsein gewidmeten zweiten Hauptteil der Dogmatik unter dem zweiten Abschnitt ‚Von der Beschaffenheit der Welt‘.⁴³ Der Geist bildet, vereinfacht gesagt, das Kommunikationsprinzip des religiösen Bewusstseins. Von besonderem Interesse für seine Bestimmung sind die ersten Kapitel dieses Abschnitts zum ‚Entstehen der Kirche‘.⁴⁴ Er untergliedert sich in die Lehren ‚Von der Erwählung‘ und ‚Von der Mittheilung des heiligen Geistes‘. Mit dem Erwählungsgedanken wird angesichts der Entstehung der Kirche zurückgeblickt, „woher ihre Mitglieder kommen“; mit der theologischen Deutung des Mitteilungsbegriff hingegen wird nach vorn geblickt, „was in den Einzelnen der Grund ist von der Stetigkeit ihres Zusammenwirkens und Aufeinanderwirkens.“⁴⁵ Aus der reformierten Tradition war Schleiermacher mit der Lehre von der Erwählung eine große Hypothek aufgegeben, insofern sie im Sinne der Allwirksamkeit Gottes von einer doppelten Prädestination ausging: Gott allein bestimmt die einen Menschen zur ewigen Seligkeit, die anderen hingegen zur ewigen Verdammnis. Die Herbheit dieses Gedankens schreckte Schleiermacher ab, sodass er ihn umgoss in eine (doppelte) Providenz: Gott schaut das freie Glaubensleben des Menschen voraus und
Detaillierter dazu s. o. II.3.1.3. Detaillierter dazu s. o. II.3.1.4. Auf eine separate Behandlung der Ekklesiologie verzichten wir in unserem dogmatischen Kurzdurchgang und stellen sie stattdessen (relativ) analog der Weise Schleiermachers dreigeteilt dar als Lehre vom Geist, Lehre von der heiligen Schrift und den Sakramenten und Lehre von der Vollendung. CG², § 113 – 163, 229 – 493 [Hervorhebung – CR]. CG², § 115 – 125, 239 – 303. CG ², § 116, 241.
6 Pneumatologie – Vorherbestimmtes Glück und familialer ‚Gemeingeist‘
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orientiert seinen gnädigen Ratschluss am Faktum des Gesehenen.⁴⁶ Eine endgültige Verdammung kann Schleiermacher nicht denken. Sie widerspräche schon rein psychologisch der Verheißung der ewigen Seligkeit an die Erwählten, denn wie könnte eine Seele vollends selig werden bei dem Mitgefühl erregenden Wissen, dass andere davon gänzlich ausgeschlossen sein sollten?⁴⁷ Schleiermachers ethischem Postulat einer religiösen Grundanlage in jedem Menschen entspricht in der Materialdogmatik der Gedanke, Gott habe seinen Geist über die ganze Welt ausgegossen. Die beobachtbaren Differenzen in der Wirkung des Geistes seien allein den Bedingungen in der Welt geschuldet.⁴⁸ Kontingenz und höherer Sinn werden auf diese Weise koordiniert. Ähnlich werden die meisten Paare auch ihr Zusammenkommen deuten: sie fühlen, dass sie füreinander bestimmt sind; sie erkennen dabei allerdings zugleich an, dass ihr Zueinanderfinden sich der Kontingenz des konkreten Verlaufs ihres Lebens verdankt.⁴⁹ Entfiele das Kontingenzmoment, so verfiele die partnerschaftliche Selbstdeutung einer romantisch-egozentrischen Überspanntheit; leistete man auf den Bestimmungsglauben hingegen gänzlich Verzicht, so verlöre die Partnerschaft, schon gar, wenn es sich bei ihr um den Lebensbund der Ehe handelt, einen wichtigen Begründungsfaktor. Beide Aspekte zusammengenommen repräsentieren die Unverfügbarkeit des Entstehens einer Liebesgemeinschaft – der Geist weht, wo er will, und Amor verschießt seine Pfeile ohne Vorabsprache mit seinen Zielen. Zum zweiten Aspekt der Geistwirkungen beim ‚Entstehen der Kirche‘: Zielbegriff der schleiermacherschen Pneumatologie ist – wenig originär⁵⁰ – der ‚Gemeingeist‘, den er christologisch-soteriologisch zuspitzt. Treffend konstatiert Dorothee Schlenke: „[…] seine soteriologische Zentralbestimmung der ‚Lebensgemeinschaft mit Christus‘ gilt Schleiermacher gleichsam als der exemplarische Fall gelungener Intersubjektivität.“⁵¹ Die Verbundenheit mit Christus als dem personifizierten Allgemeinen ist in ihrer Sozialisierungspotenz freilich unüberbietbar.⁵² Jedoch sind auch gelungene Sozialbeziehungen auf Augenhöhe Horizonte weitend. Das Andere nicht nur als solches anzuerkennen und zu würdigen, sondern es auch in das eigene Selbstverständnis zu integrieren im Sinne innerer Gemeinschaft, gelingt allerdings freilich nicht in jedem Sozialkontakt, sondern setzt ein hohes Maß an Vertrautheit voraus. In Ehe und Familie ist diese gegeben. Wieder erblicken wir das kontradiktorische Verhältnis von Reichweite und Konkretion im Abgleich von religiöser und familialer Orientierung: die familiale Anteilgabe am Gemeingeist ist zwar weniger weitreichend
Vgl. CG², § 120, 266 – 277. Vgl. CG², § 118, 249 – 257. Vgl. weiterführend dazu Schlenke, Geist, 368 – 371. Detaillierter dazu s. o. II.3.2.1. Zur Formung des Begriffs bei Zinzendorf, Herder u. a. vgl. Schlenke, Geist, 319 – 344. Schlenke, Geist, 389. Vgl. dazu auch Diederich, Geistverständnis, 180 – 188.
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als die religiöse, dafür wird sie lebensweltlich häufiger und drängender vermittelt.⁵³ Noch ein zweites gilt es bezüglich dieses Verhältnisses festzuhalten: die Intersubjektivität mit dem Erlöser ist ein gemeinschaftlich zu deutendes Selbstverhältnis bzw. noch schärfer gesagt: der Vollzug der wechselseitigen Mitteilung der Gläubigen ist der Gemeingeist – symbolisch gedeutet, der Heilige Geist – selbst. ⁵⁴ Die Familie als ‚primäre Kirche‘⁵⁵ ist mithin auch einer der wichtigsten und anschaulichsten Exponenten jener explizit religiösen Gestalt des Geistes.
7 Heilige Schrift und Sakramente – Familiale Erinnerungskultur und Rituale Um als Kommunikationsprinzip überhaupt präsent zu werden, bedarf der Geist entsprechender Medien.⁵⁶ In der christlichen Dogmatik findet diese Notwendigkeit ihren Ausdruck in der Lehre von den ‚media salutis‘. Die Vielzahl denkbarer – und in anderen Christentümern auch praktizierter – Optionen von Heilsmedien beschränkt sich im Protestantismus auf ‚Wort und Sakrament‘. Mit ‚Wort‘ ist v. a. die Heilige Schrift und ihre aktualisierende Kommunikation in der Predigt gemeint; mit ‚Sakrament‘ das Aufnahmeritual der Taufe und das Bestärkungsritual des Heiligen Abendmahls. Auch im Dienste des Familiengeistes werden Heilige Schriften und Bilder angefertigt und geehrt und Rituale gepflegt. Ähnlich den von großen Hoffnungen getriebenen prophetischen Schriften zeugen die Liebesdichtungen und –briefe der jungen Liebe von großer Erfüllungssehnsucht.⁵⁷ Ihre Aufbewahrung und nachfühlende Lektüre stiftet sodann, wenn sich die ersehnte Liebesgemeinschaft konsolidiert hat, für diese u.U. einen interessanten Deutungsrahmen. Gleich der Lektüre eines heiligen Textes erscheint bei der Vergegenwärtigung dieser biographischen Zeugnisse manches überspannt und überwunden, manches aber auch erhebend und erweiternd. So oder so wirkt die Auseinandersetzung mit den ‚Gründungsschriften‘ identitätsschärfend und –kräftigend. Aber nicht nur erste Briefe, sondern auch spätere Zeugnisse, wie Familienerzählungen, –fotos und –videos können zu Mythen und Ikonen werden, die zur Selbst-
Detaillierter zur Thematik der Wechselbeziehung von Selbst- und Sozialverhältnis im familialen Leben s.o. II.3.1.2 und II.3.1.4; III.2.1.2, hier: „Die dialogische Qualität der Erziehung“ sowie III.2.2, hier: „Die Bedeutung von Geschwistern für die Persönlichkeitsentwicklung“. Vgl. dazu auch Diederich, Geistverständnis, 224– 265 sowie Weirich, Kirche, 86 f. Vgl. paradigmatisch ChS Beil 74, §203 sowie H 229 Der geistige Gehalt weist zwar über die leiblichen Mittel hinaus, ist aber, um in dieser Intensität präsent werden zu können, von ihnen nicht abzutrennen. Zur Artikulation dessen mit Blick auf das Abendmahl vgl. CG², § 139 – 142, 378 – 403. So wie heilige Schriften von Hoffnung getrieben sind, sind Liebesdichtungen von Sehnsucht getrieben. Geht das beschriebene Ersehnte in Erfüllung, so wird die Motivation zur kreativen Produktion aufgehoben. Daher lebten Autoren wie Jean Paul bewusst beziehungstechnisch in der Schwebe. Auch Schleiermacher verfasste seine romantischsten Texte vor seiner Ehe.
7 Heilige Schrift und Sakramente – Familiale Erinnerungskultur und Rituale
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vergewisserung der Familie beitragen und den Familiengeist nicht nur bestärken, sondern auch massiv beeinflussen. Was textlich und bildlich festgehalten wurde, prägt die Erinnerung, wer und wie man zu einer bestimmten Zeit war, weit stärker als andere Erinnerungen, die mit der Zeit immer blasser werden – ähnlich der normierenden Kraft kanonischer Texte in der Religion.⁵⁸ Schleiermacher merkt in seiner Glaubenslehre über die Bedeutung der ‚Schrift‘ außerdem an: Das Ansehen der heiligen Schrift kann nicht den Glauben an Christum begründen, vielmehr muß dieser schon vorausgesezt werden um der heiligen Schrift ein besonderes Ansehen einzuräumen.⁵⁹
Wieder zeigt sich eine Parallele zum familialen Leben; auch seine Zeugnisse haben selten einen hohen künstlerischen (und mithin ästhetisch allgemein anmutbaren) Eigenwert. Sie beziehen ihre Bedeutsamkeit allererst aus der ihnen vorangehenden und sie einbindenden lebendigen Gemeinschaft, ohne die sie weitestgehend uninteressant wären.⁶⁰ Das partnerschaftliche und familiale Leben wirkt eminent medienschöpferisch. Nahezu alles kann zu einer Reliquie von der geliebten Person werden, wenn es nur in irgendeiner Weise mit ihr oder einem bedeutungsvollen Moment der Gemeinschaft mit ihr verknüpft ist.⁶¹ So werden auch bestimmte Orte zu geradezu heiligen Stätten geweiht – wir erinnern uns an die Andacht, mit der Schleiermacher in seinen Brautbriefen der ‚Brunnenaue‘ gedenkt, auf der er sich mit Henriette verlobte.⁶² Je größer die faktische Distanz zum Familienmitglied wird, umso bedeutungsvoller werden diese symbolischen Gestalten seiner Präsenz.⁶³ Ein weiteres verbreitetes Beispiel dafür ist
Vgl. dazu CG², § 129, 320. CG², § 128, 316. Von hier aus wird auch verständlich, warum lokalen Fotowettbewerben mit dem Thema ‚Wonneproppen des Jahres‘ der Beigeschmack einer Peinlichkeit der Unangemessenheit anhaftet. Die spezifische Liebe mit der Eltern die Bilder ihrer Kinder ansehen, kann niemand nachvollziehen, der nicht selbst in diese Beziehung einbezogen ist. Er kann es allenfalls im Modus der Analogie tun. Vgl. Schubart, Religion, 110 f: „Die liebevolle Verehrung, die der Fromme der Person seiner Götter und Heiligen zollt, greift auf ihren persönlichen Umkreis über, auf die Stätte ihres Erdenwandels und ihrer ewigen Ruhe, auf die Gewänder, die sie trugen, auf die Gegenstände, die sie berührten, auf die Überbleibsel ihres sterblichen Leibes. Ebenso ist es in der Erotik. Auch der erotische Mensch treibt seinen Reliquienkult mit den Gegenständen der Geliebten. Jedes ihrer Geschenke wird mitgetroffen von dem Zauber ihrer Person. Der Ort, an dem sie weilte, verwandelt sich in ein Heiligtum. […] Eine Welle verklärenden Lichts geht von der Geliebten aus und erhellt unzählige Dinge und Begebenheiten, die wir bis dahin keiner Beachtung gewürdigt hatten. […] Es gibt einen erotischen und religiösen Fetischismus, der nicht dem magischen Zauberwillen und seiner versachlichenden Wirkung entspringt, sondern der Tendenz zur Idealisierung, mit der das Erlösungsmotiv die ins Absolute erhobene geliebte Person umkleidet.“ S.o. II.3.2.2. Vgl. dazu auch Gillis, Mythos, 120 – 122. 130 – 133.
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IV Familientheologische Bündelung
die Konservierung des Kinderzimmers nach dem Auszug des Kindes, das nunmehr zum Ort seiner symbolischen Anwesenheit wird, die bei gelegentlichen Besuchen zu einer wirklichen wird und das erwachsene Kind im Gegenzug in eigentümlich starker Weise an seine Kindheit erinnert. Sakramente sind leibliche Rituale der Vergewisserung. Die Kindertaufe und das Abendmahl mit den ‚Brüdern‘ und ‚Schwestern‘ der Gemeinde haben metaphorischfamiliale Haftpunkte. Aber auch die Familie selbst bildet vielerlei Rituale aus, wie das gemeinsame Abendessen (Abendmahl) daheim, das für viele – ob tatsächlich oder auch nur idealiter täglich vollzogen – zu den bedeutungsstärksten Fixpunkten familialer Kommunikation gehört. Hier vergewissert sich die Familie ihrer exklusiven Zusammengehörigkeit, nimmt wechselseitig Anteil an den Erlebnissen des Tages und diskutiert Gedanken zur Tagespolitik und sonstigen außerfamilialen Gegenständen und Begebenheiten von Interesse. Hier wirkt, entwickelt und befestigt sich der Familiengeist.⁶⁴ Zur Taufe bestimmt Schleiermacher in der Glaubenslehre: Die Taufe als Handlung der Kirche bezeichnet nur den Willensact, vermittels dessen diese den Einzelnen in ihre Gemeinschaft aufnimmt; insofern aber auf derselben die wirksame Verheißung Christi ruht, ist sie zugleich der Leiter für die rechtfertigende göttliche Thätigkeit, wodurch der Einzelne in die Lebensgemeinschaft Christi aufgenommen wird.⁶⁵
Auch familiale Rituale verdanken sich zumeist einer Tradition, die ihrer Aktualisierung in der jeweiligen Kernfamilie vorausgeht und ihnen eine besondere Geltung oder gar Weihe gibt. Sie sind dabei allerdings zugleich geprägt von der jeweiligen Gestaltung, die sie in der konkreten Kommunikation erhalten, und sie sind überhaupt abhängig vom faktischen Vollzug im gelebten Leben.⁶⁶ So verweisen familiale Rituale über den engen Kreis der Familie hinaus und sind zugleich deren eigenste Gestaltungsformen. Manche Aspekte familialer Binnenkommunikation sind, ähnlich der religiösen Semantik, für Außenstehende unverständlich. Die intimsten Erlebnisse und Rituale können gar, ob explizit oder implizit festgelegt, der familialen Arkandisziplin unterstellt werden. Sie sind zu bedeutungsvoll und heilig, als dass sie dem Urteil ‚Unwürdiger‘ preisgegeben werden dürften.
8 Eschatologie – Familiale Selbsttranszendierung In der Glaubenslehre widmet sich Schleiermacher der Eschatologie im dritten Hauptstück seiner ekklesiologischen Bestimmungen.⁶⁷ Er versucht hier v. a. den fu-
Vgl. dazu auch Morgenthaler/Hauri, Rituale im Familienleben. CG², § 136, 353. Vgl. zur Interpretation dessen auch Schlenke, Geist, 420 – 426. Vgl. dazu am Beispiel der Kreation von Zu-Bett-Geh-Ritualen Morgenthaler, Abendrituale, 89 – 119. Vgl. CG², § 157– 163, 456 – 493.
8 Eschatologie – Familiale Selbsttranszendierung
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turischen Aspekten jener Lehre nachzugehen, für die er in jungen Jahren kaum einen Sinn hatte. Es kann kein Zweifel sein, dass das Jenseits für Schleiermacher hierbei allein einen regulativen Charakter besitzt.⁶⁸ Die ‚Vollendung‘ ist kein erreichbares Ziel des Handelns, sondern dient nur zum Vorbild in einem lebensweltlichen Prozess der ewigen Annäherung.⁶⁹ Sehnsüchte personaler Persistenz über den Tod hinaus werden v. a. allgemein-psychologisch motiviert. Ihre theologische Deutung erscheint – bei Schleiermacher ganz bewusst – aufgesetzt und hat keinen unmittelbaren Anhalt am genuin religiösen Bewusstsein, wie es bei anderen Lehren der Fall sein soll.⁷⁰ Zudem zeigt Schleiermacher die kategorialen Widersprüche zwischen Personalität und Vollendung auf, die im Gedanken der ‚ewigen Seligkeit‘ doch zusammenstimmen sollen.⁷¹ Als angemessener Adressat für die Hoffnung, mit dem Tod als Person nicht sogleich vollends ausgelöscht zu sein, kommt für Schleiermacher mithin nicht so sehr die Religion, sondern vielmehr die Sphäre der Sozialverhältnisse in Betracht. Nicht die universale Gottesliebe, sondern die personale Liebe zu den Angehörigen verbürgt ein (freilich mitnichten ewiges) Weiterleben der Person über ihren Tod hinaus.⁷² Auf eine weitere Problematik macht Schleiermacher im Rahmen der Christlichen Sitte aufmerksam. Die gängige Identifikation von reiner Seligkeit mit höchster Lust sei inkonsequent.⁷³ Da sich Lust nur im Gegenüber zu Unlust zu profilieren vermag, bedeutet das Ende aller Unlust im Falle der vollendeten Seligkeit auch das Ende aller Lust. Die jenseitige Seligkeit, soll sie eine vollkommene sein, ist nicht als Dauerzustand des Glücks denkbar, sondern letztlich als bloße apathische Gleichförmigkeit. Mit seiner Glückssehnsucht bleibt der Mensch mithin auf sein Erdenleben verwiesen. Wird das religiöse Hochgefühl, wie Schleiermacher es erstmals prominent am Ende seiner zweiten Rede identifiziert hat,⁷⁴ als lustvoll erlebt, so verdankt sich dieses Glücksgefühl nicht primär seinem Gegenstand – es ist mithin kein ‚Ausblick in den Himmel‘ –, sondern es hängt ab vom ‚Vergleich mit dem Bewußtsein der niederen Lebenspotenz‘, anhand dessen es sich aufbaut.⁷⁵ Kann Glück kein Dauerzustand sein, so stellt sich die Frage, wie es sich lebensweltlich zumindest wahrscheinlich machen lässt. Große Momente der Selbstentgrenzung und höheren Einheit, die sich als äußerst lustvoll erleben lassen, liegen in den begeisternden Raptuserfahrungen der partnerschaftlichen Attraktionswirkung und der gelebten Sexualität.⁷⁶ Die (partnerschaftliche) Liebe, gerade weil sie nie frei
Vgl. zu dieser Interpretation auch Weirich, Kirche, 157 f. Vgl. CG², § 157, 456. Vgl. CG² § 158 f, 458 – 470. Vgl. CG², §163, 486 – 489. Detaillierter dazu s. o. II.3.1.Einleitung sowie III.2.1.1. Vgl. zur Argumentation ChS Beil 15, § 46. Vgl. R 247. ChS Beil 16, § 47. Detaillierter dazu s. o. II.1.1 und II.1.2.
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von Unlust ist, sondern stets deren mächtigste Überwindung darstellt, kann als das höchste Glück empfunden werden⁷⁷ – kaum eine gute Geschichte kommt ohne sie aus. Liegt in der Hingebung an den Moment der Erfahrungsraum der Unendlichkeit, so ist hier zudem nochmals an die Kinder zu erinnern. Ihre Selbstvergessenheit und Versunkenheit im Spiel und ihre große Gabe des Gegenwärtigseins ist eines der augenfälligsten Paradigmen für das, was religiöse Genies eine große Aufmerksamkeit abverlangt.⁷⁸ Partnerschaft und Familie sind mit Sicherheit nicht die einzigen Lebenskontexte, in denen sich futurisch und präsentisch ‚Eschatisches‘ erlangen und erleben lässt, aber verbunden mit den Erwartungsanmutungen, die wir gemeinhin an sie stellen, gehören sie doch zu den herausragenden Kandidaten, die menschliche Erfüllungssehnsucht zu beantworten.
9 Trinitätslehre – Die religiös-symbolische Deutungskraft der Familie In seiner Glaubenslehre stellt Schleiermacher die Lehre von der innergöttlichen Ökonomie hintan,⁷⁹ weil sie „nicht eine unmittelbare Aussage über christliches Selbstbewußtsein, sondern nur eine Verknüpfung mehrerer solcher“ sei.⁸⁰ Auch in unseren Erwägungen erhält sie diese Sonderstellung; allerdings aus einem anderen Grund. Haben wir bislang den Ausgang bei der religiösen Deutungskultur genommen und von ihr her das familiale Erleben beleuchtet, so zeigt sich spätestens an diesem Lehrstück, dass dieses Analogieverfahren kein einliniges ist. Vielmehr ist der christliche Symbolbestand seinerseits eminent durch das Vorbild der Familie geprägt. Schon in der alttestamentlichen Prophetie begegnet Gott als der (eifersüchtige) Ehemann des Volkes Israel,⁸¹ in Christus schließlich zeugt er einen Sohn, mit dem er gemeinsam nach westkirchlicher Tradition – Stichwort: filioque – ein Drittes hervorbringt, das gleich einem gemeinsamen intelligiblen Kind als Band der innergöttlichen Einheit und Vermittlung deren kommunikative Öffnung zur Welt hin bedeutet. Die ‚Heilige Familie‘, d. h. Josef, Maria und Jesus, gilt als irdisches Abbild innergöttlicher Selbstgenügsamkeit, die allerdings eine hohe Strahlkraft in die ‚Welt‘ besitzt. Maria selbst schließlich gewinnt in manchen Gestalten altkirchlicher, ostkirchlicher und römischkatholischer Frömmigkeit – wenngleich dies auch vom dogmatischen Lehramt spitzfindig durch die Unterscheidung zwischen Verehrung und Anbetung abgelehnt
Detaillierter dazu s. o. II.3.1.1. Detaillierter dazu s. o. III.2.3. Vgl. CG², § 170 – 172, 514– 532. CG², § 170, 514. Zudem weist er eine Reihe von Inkonsistenzen der Lehre auf (CG², § 171, 519 – 527) und kommt zu dem Schluss, dass sie weder als ausgereift gelten könne, noch bislang ein spezifisch protestantisches Gepräge im Rahmen der Lehrbildung erhalten habe (CG², § 172, 527– 532). Vgl. Ez 16. 23.
10 Anmerkung zum Schluss
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wird – geradezu den Status einer Muttergottheit, die zuweilen de facto mit dem Vater und dem Sohn angebetet wird und die göttliche Trinität nun tatsächlich zum himmlischen Spiegelbild der irdischen Kleinfamilie macht. Nimmt der Sohn den Gläubigen in seine Gemeinschaft mit Gott-Vater auf, so wird auch dieser ein Kind Gottes. Seine Religionsgenossen werden ihm von diesem Verhältnis her zu Brüdern und Schwestern und seinen kirchlichen Mentor wird er u.U. als einen Vater im Glauben ansehen. Das Christentum als ‚Familienreligion‘ zu apostrophieren wäre sicherlich zu viel gesagt, weil damit andere bedeutsame Formen christlichen Lebens ausgeschlossen wären. Es ist allerdings gewiss nicht zu viel behauptet, eine große Passlichkeit zwischen Religion und Familie zu konstatieren, die schon allein daraus resultiert, dass die meisten Christen in Familien leben und sich so beide Sphären am Orte des individuellen Lebens überlappen. Liebe, Vertrauen, Zuversicht: diese Gefühle prägen das gelungene Familienleben an erster Stelle; und das Glaubensleben auch.
10 Anmerkung zum Schluss: Protestantische Nüchternheit und die Unspektakularität der Familie Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass sich die Identifikation der Familie als eines herausragenden Sinnträgers einer großen Bedeutungsaufladung verdankt, die nicht frei von der Gefahr einer Bedeutungsüberladung ist. Gleichwohl kann ‚Familie als Lebenssinn‘ auch eine Absage an übersteigerte Sinnprätentionen darstellen. Schließlich ist sich doch jeder, der diese Orientierung behauptet, dessen bewusst, wovon er spricht.Wer sagt, die Familie sei ihm das Wichtigste, sagt dies aus konkretem Erfahrungswissen heraus. Dies schließt das Bewusstsein mit ein, dass der Partner ein endlicher – und zuweilen eben auch allzu endlicher – Mensch ist und dass die Bindung an Kinder zugleich eine große Beschränkung der individuellen Entfaltungs- und Lebensgestaltungsmöglichkeiten bedeutet. Vielleicht ist der Sinnstifter Familie nicht bloß als eine im Kontext von allerhand Bedeutungsaufladungen anderer Lebenssphären überfrachtete Sozialform zu interpretieren, sondern verweist gar auf das Gegenteil: In einer Gesellschaft, die für jedwede Banalität ein Lebensgefühl angeben (und damit verkaufen) zu können meint, herrscht bei näherem Hinsehen kaum ein tieferer Sinn. Wir leben faktisch nicht in einer sinnüberfrachteten, sondern in einer sinnentleerten Zeit. Die Familie als den persönlichen Lebenssinn anzugeben, kann unter dieser Ägide auch bedeuten, zu bekennen, dass das familiale Leben mit all seinen Beschränkungen und banalen Alltäglichkeiten immer noch bedeutungsvoller erscheint, als vieles andere. Hierin ist zugleich anerkannt, dass Sinnerleben nicht nur in Hochgefühlen besteht, sondern auch in dem schlichten Wissen darum, gebraucht, geliebt oder einfach nur, wie mit Blick auf die eigenen erwachsenen Kinder, bleibend im Horizont eines anderen zu sein – und zwar als der ganze Mensch, der man ist. Als Person gemeint zu sein, kann als ein Spezifikum des protestantischen Glaubens gelten. Auch daher steht
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die psycho-emotionale Leistung, die er zu erbringen verspricht, in besonderer Nähe zu den Sinnstiftungsqualitäten der persönlichsten aller Sozialformen: der Familie.
Literatur- und Abkürzungsverzeichnis Schleiermacher AAnm
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AC
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Brief
CG1/2
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Personenregister Alder, Doris 156, 215, 378 f. Allert, Tilman 432 Alt, Peter-André 135 Amelang, Manfred 138, 158, 257 Ariès, Philippe 21, 340, 370, 482 Aristoteles 24, 35 f., 47, 68 f., 119, 123 f., 212 f., 217 f., 232, 240, 244, 246, 263, 268, 270 f., 273 – 275, 277, 280, 285, 289 f., 300, 343, 349 f., 356 f., 365, 386, 389, 391, 406, 412, 423, 425, 427, 437, 440, 444, 457, 467f., 472 Arndt, Andreas 29, 36, 67, 69, 77, 92, 96, 354 Arndt, Ernst Moritz 473 Axt-Piscalar, Christine 493 Baader, Meike Sophia 341, 477, 483 Bach, George R. 387 Badinter, Elisabeth 418 Bake, Rita 203 Bamler, Vera 154 Bardeleben, Hans 149, 341 Barth, Karl 113 Barth, Ulrich 1, 12 – 16, 69, 74 f., 86, 94, 108, 490 – 493 Bauer, Yvonne 175, 506 – 508 Baumann, Zygmunt 160 Baumbach, Alexandra 483 Baumeister, Roy F. 460 Bayer, Oswald 346 Bayerl, Marion 379, 384, 408 Beck, Ulrich 2 – 5, 205, 243, 288, 301, 377, 380, 383 f., 412, 422, 448, 460, 480 Beck-Gernsheim, Elisabeth 2 – 5, 205, 243, 288, 301, 377, 380, 383 f., 412, 422, 448, 460, 480 Béjin, André 166, 175, 323 Benike, ‚Frau‘ 25 Benike, Gottlob Wilhelm 25 Benjamin, Jessica 168 Bennent, Heidemarie 150, 180, 184, 187 f., 190, 221, 245 f., 346 Berger, Peter L. 12 f., 283, 304, 337, 368, 405, 444 Bergold, Sebastian 192, 210 Bernard, Andreas 414 Bertram, Hans 436, 486 Beyreuther, Erich 223 https://doi.org/10.1515/9783110682090-007
Bialas, Wolfgang 86 Bierhoff, Hans W. 121, 123, 138 f., 257, 291, 335, 346, 382 Bilden, Helga 66, 70, 77, 80, 186 f., 219, 229, 252 f., 256, 308, 414, 448 Birkner, Hans-Joachim 24, 39, 44, 63, 65, 73 f., 77, 81, 103 f., 401, 488 Bohle, Evamaria 97 Bollnow, Otto Friedrich 294, 298 f., 330, 340 – 344, 347 f., 400, 420, 449, 459, 462 f., 466, 478, 485 Bolz, Norbert 6 Bourdieu, Pierre 6, 9, 358 Brachmann, Jens 446 Bradshaw, Catherine P. 460 Brinckmann, Carl Gustav v. 25, 27 Bringle, Robert G. 390, 397 Brinkmann, Wilhelm 70, 482 Brummer, Andreas 197 Burbach, Hartmut 52 Burkart, Günter 367, 395, 397, 422, 436 Busch, Anne 302 Bushman, Brad J. 460 Butler, Judith 159, 430 Buunk, Bram P. 390, 397 Carr, Anne E. 198 Claessens, Dieter 412 f., 419 f., 450, 462 Clement, Ulrich 145, 154, 296 Coenen-Huther, Josette 438 Cooper, David 2 Corsten, Michael 136 Coser, Lewis A. 387 Cramer, Konrad 94 Dabrock, Peter 165 Dalferth, Ingolf 142 Dannenbeck, Clemens 467 Dechant, Anna 202, 209 Diederich, Martin 497 f. Diefenbach, Heike 379 Dierken, Jörg 52, 60 – 62, 81, 84, 94 f., 97, 102 – 104, 108, 111, 114, 196 Dilthey, Wilhelm 20, 24 – 30, 34, 36 – 38, 44, 50, 59, 63 – 68, 76, 101, 106, 111, 124 f., 127 f., 130, 134, 163, 184, 214, 216, 228, 308, 319, 333, 371, 459, 473, 476
Personenregister
Dobash, Russell P. und R. Emerson 168 Dohna, Friederike Gräfin zu 25 f., 356 Dohna, Friedrich Graf zu 23, 459 Domsgen, Michael 1, 197, 421, 424 Durkheim, Emile 176, 201, 483 Dux, Günter 9, 233, 236, 251, 256 f., 259, 263, 298 f., 319, 345 f., 363, 419 Eberhard, Johann August 35 – 37, 64, 246 f., 263 – 265, 267, 269 f., 275 Ebertz, Michael N. 2 Eckert, Michael 69 f. Eder, Franz X. 160, 163, 166, 183, 186 Eibach, Ulrich 271 Eichner, Hans 28, 82, 164, 314 Ellis, Havelock 176 Fichte, Johann Gottlieb 7, 27, 37, 55, 69, 96 f., 150 f., 180, 184, 190, 221 f., 225, 245 f., 253, 259 f., 263 – 265, 277, 346 Fiedler, Peter 168 Fischer, Johannes 373 Fischer, Karoline 34, 286 Foi, Maria C. 140 Foucault, Michel 46, 154, 159, 161 f., 170 Frank, Jürgen 24, 38, 67 f., 72, 92, 144, 202, 216, 332, 345, 357, 475 Freund, Annegret 2, 5, 28 f., 32, 36, 38, 46, 125 f., 130, 133, 135, 145, 149, 197, 219, 232 f., 237, 243 f., 259, 263 f., 271, 273 – 276, 278 f., 285, 298, 305 f., 328, 338, 341, 349, 356 f., 362, 365 f., 368, 374, 378, 390 – 394, 400 f., 426, 429, 440, 471, 478 f., 486, 489 Frevert, Ute 392 Frick, Jürg 472, 474 f. Friedrich Wilhelm III. 23 Frodermann, Corinna 203 Frohne, August 67, 69, 75, 84 – 88, 96 Früchtel, Frank 146, 395 Fuchs, Birgitta 450, 455 f., 463 Fuchs, Martina 430 Fuhrmann, Helmuth 135 Garbarino, James 460 Gaß, Joachim Christian 31, 145 Gehlen, Arnold 13, 135, 288, 323, 342, 470 Gelles, Richard J. 460 Gerhardt, Volker 7, 12 Giddens, Anthony 338, 428
529
Gillis, John R. 374, 400, 404, 419, 425, 438, 485 – 487, 499 Gimmel, Jochen 484 Goethe, Johann Wolfgang v. 111, 135, 215, 235, 272, 336 Goffman, Erving 10, 165 Gräb, Wilhelm 47 Graf, Friedrich Wilhelm 39, 53, 60 f., 178, 459 Gräßel, Ulrike 221 Grau, Ina 121, 138 f., 257, 291, 307, 335, 346, 382 Greifenstein, Johannes 65 Grunow, August Christian Wilhelm 29 – 31 Grunow, Eleonore 24, 26, 29 – 31, 33, 123, 178, 243, 308, 328, 334, 341, 381, 384 Gutzkow, Karl 35 Haan, Jos de 328 Hahlweg, Kurt 384, 388 f. Hahn, Alois 288, 291 f., 331, 333, 336 Handel, Gerald 292, 443 Hardenberg, Georg Philipp Friedrich v. (Novalis) 27, 132, 178, 180, 197, 233, 236, 247, 251, 263, 416 Hartlieb, Elisabeth 2, 24 f., 38, 55, 139, 155, 178 – 180, 182, 185, 187, 190, 193, 196, 200, 206 f., 213, 217, 241, 245, 417, 477, 485 Hasler, Ueli 76, 94 f., 102 f., 109, 111 f., 114 Hauri, Roland 500 Haußer, Karl 87 Haym, Rudolf 27, 34, 38 Heesch, Matthias 98 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 57, 62, 196, 373, 431 Held, Thomas 207 f., 219, 222, 225 Henss, Ronald, 139 Herlyn, Ingrid 434, 484 Herms, Eilert 36, 71, 78, 102 f., 413, 506 Herodot 36 Herz, Henriette 22 f., 26 f., 30, 34, 37, 120, 123, 136, 139, 193, 206, 232, 238 Hesiod 239 Hess, Robert D. 292, 443 Hill, Paul B. 119, 122, 147, 153, 156, 208, 210, 219, 323, 325 – 327, 350, 379 f., 424, 428, 475 Hirsch, Emanuel 173, 176, 196 f., 340, 358, 415 f., 435, 437 Höfer, Renate 71 Hölzer, Hugo 463
530
Personenregister
Homer 36, 141 Hondrich, Karl Otto 69, 209, 296, 371, 377, 380, 427 Honig, Michael-Sebastian 203, 208, 210, 460 Hopfner, Johanna 463 Horkheimer, Max 453 Horstmann, Kai 65 f., 109 Huch, Ricarda 20 Huinink, Johannes J. 202, 208 f., 225 f. Huizing, Klaas 34, 120 Humboldt, Alexander v. 27 Humboldt, Wilhelm v. 27, 135 Illouz, Eva
351 f., 358, 361
Jellouschek, Hans 2 Jørgensen, Poul Henning 44 f., 54, 58, 71 f., 77, 93, 98, 101, 116, 265 Josuttis, Manfred 173, 176, 178, 377, 396 Jüngel, Eberhard 161, 488 Kant, Immanuel 7, 9, 16, 35, 37 f., 43 – 45, 47 – 49, 55, 57, 69, 71, 74, 76, 77, 88, 90, 94, 96 f., 112, 114, 135 f., 139, 141, 149, 174, 215, 221, 245, 250, 270, 305, 314, 351, 354, 391, 454, 462, 490, 495 Kapl-Blume, Edeltraud 242 Kasten, Hartmut 471, 475 Kaufmann, Franz-Xaver 299, 324, 359 f., 408 f., 430, 451, 453, 464, 474 Kaufmann, Jean-Claude 204 f., 209, 211, 326, 424, 466 Keddi, Barbara 209, 211 Keiling, Tobias 484 Keller, Mitra 297, 370 Kellner, Hansfried 283, 304, 337, 368, 405 Keupp, Heiner 71 Keyserling, Hermann 327 Klees, Karin 166, 203, 211 Klein, Jörg 168 f. Klein, Thomas 323, 386 Klein, Ursula 132 Kleint, Steffen 446, 463 Kleist, Heinrich v. 27, 191 Klosinski, Gunther 475 Kluckhohn, Paul 24, 34, 143, 148, 150, 156, 178, 215, 245, 313, 321, 328, 332, 335 Knijn, Trudie 443 Knoblauch, Hubert A. 10 Koch-Burghardt, Volker 160
Kohli, Martin 367, 395, 397, 436 König, René 5, 118, 380, 405 Kopp, Johannes 119, 122, 147, 153, 156, 208, 210, 219, 323, 325 – 327, 350, 375, 379 f., 424, 428, 475 Koppetsch, Cornelia 121 Kött, Andreas 12 Künzler, Jan 208 Lamnek, Siegfried 165 Lang, Ernst 260 Lange, Andreas 207 f., 210, 408 Lauterbach, Wolfgang 324, 326 Lautmann, Rüdiger 123, 138, 176 Lee, Byung-Ok 47, 78, 81, 89, 96, 114, 257 Lemke, Thomas 116 Lengerer; Andrea 327 Lenz, Karl 18 – 20, 142, 157 f., 190, 205, 207, 217, 277, 283, 292, 304, 307, 325, 328, 338, 383 f., 392 Lettke, Frank 432 f. Leuenberger, Martin 109 Lichnowsky, Mechtilde 265 f., 297, 370 Liegle, Ludwig 475 Loew, Wilhelm 72, 98, 105, 114 Loibl, David 121 Loux, Françoise 417 Luckmann, Thomas 6 f., 10 – 14, 444 Luhmann, Niklas 4, 6, 8 – 10, 13, 16 f., 64, 90, 146, 151, 238, 242 f., 251, 271, 278, 288, 292, 301, 305, 317, 319, 337 – 339, 349, 351, 357, 380, 387 f., 403, 406 Lüscher, Kurt 420 Luther, Martin 79, 142, 147, 226 f., 272, 332, 346, 373, 375, 416 Lütze, Frank M. 197 Maiwald, Kai-Olaf 202, 208, 211 – 213, 223, 225, 296, 345 Maiwald, Michael 122, 142 Mann, Thomas 20, 162 Marcuse, Herbert 172 Marwitz, Alexander v. d. 34, 146 Matthias-Bleck, Heike 324, 326 Mead, George H. 6, 8 – 10 Meckenstock, Günter 35, 38 f., 48, 71, 82, 110, 115 f., 126, 135 Mendelssohn, Dorothea und Henriette 27 Meuwly, Nathalie 211 Mikula, Gerold 138
Personenregister
Morgenroth, Matthias 485 f. Morgenthaler, Christoph 485, 500 Nave-Herz, Rosemarie 1, 16, 18, 119, 147, 169, 203, 219, 293, 303 – 305, 324 f., 373 f., 380, 382, 386, 412, 420, 422, 424, 433, 468, 470, 475, 482 Nedelmann, Birgitta 297, 339, 392 Neidhardt, Friedhelm 459 Neubauer, Ernst 69, 85, 96 Neugebauer, Georg 7 Nowak, Kurt 23 – 27, 33 – 35, 37, 39 f., 48, 67, 74 – 76, 82 f., 85, 88, 92 f., 106 f., 152, 215, 220, 247, 251, 298, 303, 320, 355, 473 Oakley, Ann 204 Oberdorfer, Bernd 37, 42, 67, 81 f., 84, 92, 251, 274 f., 354, 394, 478 f. O’Neill, Nena und George 377, 395 f. Otto, Rudolf 141, 198 Ovidius Naso, Publius 141 Parsons, Talcott 64 Peiter, Hermann 42, 505 Perle, Johannes 79, 81, 86, 88, 91, 247, 349, Pieper, Josef 151 f., 174, 248, 263, 271, 275, 344 Platon 17, 19, 35 – 37, 79, 82, 100, 106, 128, 133 f., 149, 159, 161, 164, 175, 224, 238 – 240, 246, 248, 256, 258, 273, 275, 328, 334, 345 f., 389, 392 f., 422, 440, 451 Pollak, Michael 162 Posch, Waltraud 121, 139 Pretzschner, Heidrun 215, 222 Prokop, Ulrike 191, 406, 414, 417, 428 Reble, Albert 64 Reese, Annegret 69 Reichardt, Louise 26, 33 Reimer, Georg Andreas 23, 30, 34, 135, 414 Rendtorff, Trutz 364 Rentschler, Petra 203 Retzer, Arnold 337, 351 Reuband, Karl-Heinz 453 Richter, Dieter 482 Richter, Jean Paul 365 Richter, Julius 77, 89 Ringeling, Hermann 18, 159, 230, 305, 322 f., 338, 453 Röhler, H. Karl Alexander 202, 208 f., 225 f. Röhr-Sendlmeier, Una 192, 210
531
Rosa, Hartmut 11, 153, 181 f., 221, 389, 420, 436, 444, 483 Rosenbaum, Heidi 19, 21, 24, 171, 361 f. Rössler, Beate 370 Rössler, Dietrich 55, 321 f., 346, 373, 424 Röthel, Anne 371 Rudder, Christian 121 f., 159 Rüffer, Wolfgang 328 Sack, Friedrich Samuel Gottfried 30, 34 Sack, Henriette 30 Savramis, Demosthenes 173 f. Schäfer, Dieter 409, 506 Scheffner, Johann Georg 136 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 43, 102, 111, 114, 180, 187, 245 Schelsky, Helmut, 125, 135, 151, 154, 159, 161, 164, 167, 175, 182, 216, 323, 401 Schenk, Herrad 370 Schild, Wolfgang 371, 384 Schiller, Friedrich 135, 140, 181 Schindler, Stephan K. 482 Schlegel, August Wilhelm 27 Schlegel, Friedrich 8, 18, 20, 24, 27– 29, 36– 38, 69, 78, 82, 96, 122, 124– 127, 130, 132f., 146, 150, 154, 164, 171, 177, 188, 190, 214, 228, 233, 240, 247, 256 f., 259, 298, 307, 310 f., 313 – 317, 319 – 321, 323, 345, 355, 359, 362, 370 f., 385, 391, 397, 483 Schleiermacher, Anne Maria Louise (Schwester, genannt Nanny) 145, 374, 473 Schleiermacher, Caroline Marie (Schwester) 473 Schleiermacher, Daniel (Großvater) 34 Schleiermacher, Ehrenfried (Stiefsohn) 424, 429, 454, 464, 475, 481 Schleiermacher, Friederike Charlotte (Schwester, genannt Lotte) 28 f., 59, 132, 137, 184 f., 356, 441, 473 Schleiermacher, Henriette, verw. v. Willich, geb. v. Mühlenfels 17, 23 f., 31 – 35, 122 f., 131, 137, 141, 143 – 146, 152 f., 167, 190, 193, 207, 215, 222, 232, 235, 238, 243, 258, 266, 268, 279, 281, 285, 290 f., 297, 299 – 302, 306, 312, 314 f., 317 f., 321, 328, 333 – 335, 337 f., 343, 346, 359 f., 366 – 368, 372, 374, 383 f., 386, 388, 391, 397 – 399, 401, 403, 406, 408, 414, 423 f., 429, 439, 441 f., 454, 462, 464, 481, 484, 499
532
Personenregister
Schleiermacher, Henriette, geb. v. Willich (Stieftochter) 424, 429, 456, 464, 475 Schleiermacher, Johann Carl (Bruder, auch geschrieben Karl) 473 f. Schleiermacher, Nathanael (Sohn) 35, 436 f. Schlenke, Dorothee 497, 500 Schmid, Pia 191, 203 Schmidt, Gunter 166 Schmidt, Sarah 473 f. Schmidtke, Sabine 287 Schneider, Norbert F. 198, 350 – 352, 401 Schnell, Rüdiger 154, 482 Scholtz, Gunter 7, 64, 67, 246, 268 Schreiber, Arndt 122, 142 Schreiterer Ulrich 392 Schubart, Walter 2, 139, 148, 150, 156, 166 f., 172 – 174, 177, 198, 216 f., 248, 256, 259, 272, 275, 334, 336, 339 f., 364, 394, 495, 499 Schultz, Werner 243, 250, 254, 256 Schulz, Wolfgang 289, 324, 352, 354, 424, 433 Schuster, Martin 122 Schütte, Hans-Walter 113 Schütz, Alfred 6 – 11 Schwartz, Pepper 202, 225 f. Schwenzer, Ingeborg 371, 373 Scola, Angelo 331 Seidenspinner, Gerlinde 209, 211 Senkel, Christian 308, 415 Shorter, Edward 418 f. Siebel, Wigand 321 Simmel, Georg 136, 163, 165, 169, 172, 176, 184, 187 f., 225, 235, 245, 247 f., 265, 279, 293, 323, 339, 348, 358, 361, 363 f., 387, 392, 412, 423, 432, 491 Sohni, Hans 470, 474 – 476 Sokrates 36 f., 82, 136, 142, 239, 328, 506 Spiegel, Yorick 269, 425, 471 Spory, Anke 183, 203, 210, 380, 424, 482 Spranger, Eduard 6, 14 f. Staël, Germaine de 22 f., 44, 72, 206, 376 Stahl, Christian 146, 395 Stamm-Kuhlmann, Thomas 23 Starke, Kurt 153, 158, 341 Steffens, Henrich 112, 397, 418 Straub, Eberhard 22 Stroebe, Wolfgang 138 Stubenrauch, Samuel Ernst Timotheus 26 Süskind, Hermann 49, 52, 111 f. Szymenderski, Peggy 207 f., 210, 408
Tegethoff, Dorothea 418 Thom, Philip 121 Thomä, Dieter 49, 87, 248, 262, 266, 270, 272 Thompson, Michael 56 Tieck, Ludwig 27, 307 Toepfer, Georg 76 Trepp, Anne-Charlott 191, 235, 242, 251, 255 Trillhaas, Wolfgang 123, 277, 321, 403, 447, 461 Trowitzsch, Michael, 99 f., 241, 341 Twesten, August 24 Tyrell, Hartmann 342, 359, 366, 427, 460 Ungern-Sternberg, Leonie Uunk, Wilfred 328
151, 380
Veit, Dorothea 22, 26, 126, 206 Viëtor, Lukas 56, 71, 76, 150, 214, 221, 246, 260 Virmond, Wolfgang 29 f., 130, 140, 187, 195, 381, 386 Völger, Gisela 374 Vorländer, Franz 24, 66, 125 Wagner, Falk 16 Waldenfels, Bernhard 8 Walsemann, Hermann 180, 185, 200, 381 Weber, Max 6 f., 175 f. Weber-Kellermann, Ingeborg 19, 21, 482 Weirich, Adele 498, 501 Weizsäcker, Hugo 32, 34, 38, 130, 152, 297 Weizsäcker, Viktor v. 76 Welck, Karin 374 Wieland, Christoph Martin 125 – 127 Willi, Jürg 232, 272 f., 278 – 280, 282 f., 286, 296, 299, 351, 384, 387, 392, 397 Willich, Ehrenfried v. 24 f., 31 – 33, 131, 232, 235, 243, 281, 284 f., 312, 328, 335 f., 367 f., 374, 384, 418, 429, 435, 453 Willich, Heinrich Christoph v. 33 Wingen, Max 409 Winkler, Michael 459 Wulf, Christoph 414, 418 Wullschleger, Otto 262 Wyden, Peter 387 Xenophon
136 f., 142
Zinzendorf, Ludwig v.
177 f., 223, 497
Sachregister Abhängigkeit 52, 94, 96 f., 105, 149, 213, 221, 348, 396, 405, 412, 427, 441, 453 f., 456, 465, 471, 490 Abhängigkeitsgefühl/-bewusstsein 59, 94, 112, 348, 364, 489, 493 Achtung 1, 48, 144, 191, 205, 250, 306, 454, 467 aktiv 128, 154, 179, 186, 209, 228, 281, 380, 385, 476 Aktivität 58 f., 112, 120, 134, 138, 142, 185 f., 241, 387, 392, 409, 412, 416 Alltag 12, 205, 213, 225, 243, 258, 322, 342 f., 360, 424, 479, 485 alltäglich 7, 10 – 12, 14, 91, 192, 204 f., 211, 213, 291, 341 – 343, 361, 374, 388, 408 Alter 3, 8, 33, 63, 110, 115 f., 119, 121, 153 f., 157, 191, 208 f., 244, 279, 343, 351, 356, 389, 392, 412, 419, 451, 456, 461, 465 – 468, 470, 472 f., 486, 489 Ambivalenz 201, 210, 227, 304, 424, 469 Amme 419, 427 f. Anerkennung 21, 81, 91, 113, 117, 124, 142 f., 148, 151, 153, 160, 168, 172, 182, 195, 201 – 203, 207, 211 f., 225 – 227, 229, 272, 292, 301, 305, 309, 323, 358, 364, 369, 375 f., 395, 402, 409 f., 445, 469, 479, 482 f., 495 Anerkennungsbegriff 81, 159 Anerkennungsgewinn 22, 203, 225 Anerkennungsstrukturen 211 Anschauung 34, 38, 46, 51, 72, 75, 78 – 80, 82, 93, 98 f., 111, 116, 133, 150, 152, 155, 177 – 179, 185 f., 237, 251, 254 f., 296, 304, 309 f., 399, 415 f., 421, 472 Arbeit 9, 18, 21, 27, 29, 40, 67, 91, 172, 202 f., 205, 207 – 211, 213, 225 f., 284, 299, 302, 317, 358, 360, 362, 378 f., 388, 408 f., 418, 435, 460, 466, 480, 482, 484 Arbeitsteilung 181, 192, 200 – 203, 208 f., 211 – 213, 216, 278, 326 ästhetisch 14 – 16, 121, 127, 135, 162, 178, 372, 463, 499 Attraktion 119, 121 – 123, 147, 226 Attraktionsspiel 122, 142 f. Attraktionswirkung 137, 329 f., 417, 501 attraktiv 3, 120 – 122, 158, 350, 358, 381, 485
https://doi.org/10.1515/9783110682090-008
Attraktivität 119, 121 – 123, 137 – 141, 144, 329 f. aufgeklärt 22 f. aufklärerisch 7, 9, 51, 95, 446 Aufklärung 8, 18, 68, 130, 171, 242, 259, 488 Augenblick/Augenblik 4, 28, 45, 56 f., 78 f., 96, 99 f., 132, 134, 141, 176, 179, 191, 231, 236, 243, 282, 290, 293, 302, 315, 326, 330, 333, 337, 340 – 345, 347 f., 357, 360 f., 372 f., 378, 388, 416, 418, 422, 446, 476, 485 Auswicklung 54, 85, 87, 229 Autonomie 106, 216, 219, 228, 354, 404 f. Bedeutungsdimension 5, 109, 160, 210, 227, 244, 302, 323, 354, 361, 411, 413, 488 Beruf 1, 6, 18, 21, 23, 49, 91, 164, 181, 191, 193, 203 f., 206, 210, 218, 272, 313, 360, 402, 409 f., 427, 443, 480 f., 489 beruflich 33, 208, 284, 302, 317, 354, 422, 482 Beständigkeit 50, 208, 271, 295, 304, 325, 347, 365, 375, 382, 396, 453 Bewusstsein/Bewußtsein 5, 8, 10, 14 f., 18, 46, 64 f., 67 f., 76 f., 79, 87, 93 f., 96 f., 99 f., 103, 107, 109, 112, 119, 129, 131, 133, 147 – 153, 155, 157, 184, 188, 194, 202, 216, 218, 227 f., 232, 234, 241 f., 249, 252 f., 259 f., 264, 269, 278 f., 283, 291, 304, 309 f., 317, 319, 321, 328 f., 331, 336 f., 341 f., 344, 347 f., 360, 364, 373, 387 f., 394, 401 f., 407, 409, 413 f., 416, 418, 426, 428, 433, 435, 442 f., 447, 453, 461, 466, 470 f., 478, 482, 488 – 490, 492 f., 496, 501, 503 bewusstseinsphänomenologisch 6 Bibel 36, 436, 457 biblisch 144, 173, 415 Bildung 16, 18 f., 21 – 23, 25, 40, 46, 67, 72, 77 f., 80, 82, 85, 87, 106, 191 – 194, 214 f., 218 – 220, 229, 237, 251 – 253, 260, 268, 274 f., 284, 301, 319, 336, 350, 352 f., 355 f., 372, 402, 407, 439 f., 448 – 450, 458, 461 f., 485 Bildungschancen 382, 453 Bildungshomogamie 328 Bildungsniveau 209, 327, 382
534
Sachregister
Blutsverwandtschaft 411, 425 Bruder 31, 59, 234, 287, 471, 473 f., 500, 503 brüderlich 378, 427, 471 Bruderliebe 176, 471 bürgerlich 19, 22, 26, 34, 37, 59 f., 63, 66, 73, 88 f., 92, 115, 157, 164, 176, 183, 191 f., 205, 210, 212, 217, 219 f., 222 f., 256, 317, 353 – 355, 361, 372 f., 402, 405, 407, 419, 448, 458, 482 Bürgertum 19, 21 f., 26, 40, 171, 191, 361, 404 christlich 3, 24, 39, 44 – 47, 50, 53 f., 57, 59, 61, 63, 65 f., 73 f., 77, 81, 84, 99, 103 f., 106, 108 – 111, 122, 131, 133 f., 155 – 157, 164 f., 167, 173, 176, 178, 197 f., 205, 217, 223, 234 f., 241, 246, 249, 264 f., 268, 270, 273, 279 f., 283, 286 f., 303, 329 – 333, 336, 339, 351, 358, 360, 366 f., 375 – 379, 385, 399 – 401, 405, 407 f., 421, 424, 442, 456, 460, 468, 492 f., 498, 501 – 503 Christologie 19, 95, 258, 287, 492 f. Christus 32, 95, 173, 195, 197, 199, 223, 264, 287, 321, 332, 379, 438, 478, 493, 497, 502 Dank 23, 142, 238, 317 f., 328, 338, 343, 350, 481 Dankbarkeit 204, 211, 266, 340, 342 f., 414, 416, 467 – 469, 484 demokratisch 363 f., 438 Demo(kra)tisierung 22, 68, 317 Deskription 111, 249 deskriptiv 41 f., 44, 48, 52, 54, 73, 105, 133, 159, 189, 265, 380 deutsch 36, 44, 170, 203, 206, 252, 292, 365, 470 Deutschland 22 f., 44, 72, 91, 208, 299, 376, 485 Deutung 13 f., 94, 176, 197, 231, 274, 292, 303, 326, 328, 331, 333, 335, 488, 496, 501 Deutungskultur 14, 493, 502 Deutungsmuster 1, 5, 288 Deutungsrahmen 13 f., 489, 498 Diesseitigkeit 3, 177 Dynamik 18 f., 41, 53, 78, 86, 115, 141 f., 237, 248, 251, 265, 272, 274, 283, 286, 288, 294, 301, 310, 348, 362, 370 f., 383, 386, 392, 417 f., 431, 434, 436, 445, 466, 478
dynamisch 55 f., 64, 110, 112, 237, 247, 295, 340, 362, 403 Ehe
2, 4 f., 7, 14, 18 – 20, 23 – 26, 28, 31 – 36, 40, 42, 57, 79, 88, 90 – 93, 111, 117, 119, 121, 124, 128, 131 – 134, 137 – 139, 143 – 145, 148 f., 151 – 159, 161 – 165, 168 f., 171, 173 f., 176, 179 – 181, 186, 189 – 192, 201, 204, 207, 209, 213 – 220, 222 – 226, 229, 231 f., 234 f., 238, 256, 263, 265 f., 271 – 273, 276 – 278, 283 – 286, 288 f., 291 – 293, 295, 297 – 304, 306, 310 – 312, 314 – 317, 320 – 338, 340 – 342, 346, 348, 350 – 356, 358 – 360, 363 – 382, 384 – 391, 393, 395 – 407, 409, 411, 417, 420, 422 – 424, 426, 431, 435, 437, 447, 467, 487, 491, 497 f. Eheleben 154, 166, 290, 295, 332 ehelich 29, 34, 90, 146 f., 151, 153 f., 157, 166, 173, 199 f., 207, 211 – 213, 215, 219, 225, 227, 230, 235, 238, 241, 253, 276 f., 280, 286, 289, 291 f., 295 f., 301, 304, 306, 315, 321, 326, 336 f., 345 f., 353, 357 f., 363, 368, 375, 378, 380 f., 383, 387, 399, 403 – 405, 407, 418, 423 f., 480 Ehescheidung 165, 366, 375 f., 379, 384, 386 Eheschließung 323 – 325, 352, 372 f., 375, 378, 386 Ehetheorie 23, 119, 122, 147, 230, 353 Ehre 37, 129, 163, 174, 214, 217, 225, 243 f., 300 f., 306, 343, 378, 384, 448, 450, 458, 467, 469 Ehrerbietung 98, 269, 307, 407, 454 f., 467 f. Ehrfurcht 230, 250, 352, 454, 458, 468 Eifersucht 273, 369, 386, 390 – 394, 396 – 398 eifersüchtig 314, 391 – 393, 397, 502 eitel 22, 96, 143 f., 441 Eitelkeit 140, 143 f., 191, 222, 268, 318, 441 Eltern 1 f., 5, 21, 202, 205, 292, 325, 328, 352, 366, 379, 403, 405, 408 f., 411 f., 414, 416 f., 419 – 422, 424 – 432, 434 – 436, 439, 442 – 445, 447 f., 450 – 454, 457 – 462, 464 – 472, 474 – 476, 480, 483 – 486, 490 – 492, 495 f., 499 Elternschaft 18, 20, 355, 380, 413, 420 – 424, 427, 430, 437, 447, 462 Emotion 39, 295, 297, 320 f., 331, 339, 392, 395, 460 emotional 12, 14, 18 f., 25, 38, 41, 61, 90, 135, 162, 171, 181, 191, 204, 207, 209, 213, 225,
Sachregister
253, 266, 290, 293, 297, 307, 325 f., 328 – 330, 350, 352, 354, 356, 359, 361, 368 f., 371, 373 f., 378, 382, 384, 390 – 392, 397 f., 401, 408, 411 f., 417, 419 f., 422, 425 f., 430, 436, 452 – 454, 456, 460, 462, 465 f., 468, 476, 482, 486, 494, 504 emotiv 47, 132, 139, 155, 226, 250, 264, 275, 302, 320, 342, 345, 350, 382, 394 Endlichkeit 229, 231, 236, 434, 443, 476, 487, 493 Endlichkeitsbewusstsein 97, 348, 486 f. Entlastung 138, 175, 226, 288, 302, 315, 332, 354, 476 Enttäuschung 30 f., 133, 226, 334, 367, 380, 387, 390, 430, 460, 478, 486 Entwicklung 2, 7, 9, 20, 24, 27, 29, 46, 50, 56, 59, 70, 78, 85, 87, 99, 110 f., 118, 135, 145, 149, 161 f., 165 f., 172, 175, 180, 183, 192, 195, 200, 220 f., 229, 235, 245, 260, 270, 272, 274, 280, 283 – 285, 296, 303, 322, 324 f., 348, 358, 386, 390, 396 f., 399, 414, 417 f., 428 – 430, 435 f., 448 f., 452, 459, 463, 466, 482, 489, 493 Entwicklungsstörung 412 Erfüllung 3, 34, 148, 151, 175 f., 210, 289, 337, 339 f., 342, 344, 362, 366, 369, 381, 423, 433 f., 478, 484, 498 Erfüllungsmoment 338, 340, 368, 476 Erfüllungspotential 226, 341 Erfüllungssehnsucht 498, 502 Erinnerung 26, 188, 257, 291, 304, 312, 345, 398, 401, 442, 486 f., 499 Erinnerungskultur 438, 498 Erleben 1 f., 11, 14 f., 23, 50 f., 58, 60, 72, 151, 161, 176 f., 202, 204, 213, 229, 231, 233, 237, 255, 278, 288, 291 – 293, 302, 306, 313, 319, 336, 344 f., 358, 403, 413, 415, 447, 458, 464, 472, 491, 494, 496, 501 f. Erlöser 111, 197, 199, 234 f., 287, 407, 426, 492, 494, 496, 498 Erlösung 134, 172, 197, 217, 223, 240, 334, 387, 414, 426, 492, 494 – 496 Erlösungsreligion 176, 197 f., 494 Ernst 23, 124, 143 f., 174, 216, 313 – 318, 320, 359, 378, 392, 433, 436, 457 Eros 134, 141, 148 f., 151, 161, 170, 173, 175 – 178, 198, 239, 246, 256 f., 259, 271 f., 289, 322, 345, 371, 389 Erotik 119, 139, 147, 158, 172, 174, 176, 198, 216, 248, 336, 358, 499
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erotisch 127, 138, 142, 145, 147, 164, 168, 172, 176, 178, 188, 198 f., 216, 344, 361, 499 erwachsen 1, 299, 323, 377, 411 f., 429, 448, 456 – 458, 462, 464 – 483, 486, 500, 503 Erwachsenenwelt 463, 478, 480, 482 f. Erwartung 1, 23, 60, 141, 160, 221, 256, 279, 289, 304, 312, 326, 350, 356, 366, 371, 380 – 382, 387, 424, 457, 478, 486 Erwartungserwartung 10 Erwerbsarbeit 21, 181, 200, 202 – 204, 206 f., 210 – 212, 362 erziehen 195, 208, 221, 408 f., 436, 447, 451 f., 460, 464, 466 Erziehung 25, 88 f., 122, 135, 155 f., 162, 173, 182, 192, 195, 201, 205, 220 f., 249 f., 359, 365 f., 400, 408, 412, 421 f., 433 f., 440, 442 f., 445 – 453, 455 – 465, 472, 482, 484, 498 eschatisch 502 Eschatologie 435, 444 f., 470, 500 eschatologisch 114, 182, 344, 434, 438 Ethik 5 – 7, 24, 35, 39, 41 – 46, 48 – 52, 54 – 58, 63 – 67, 71 – 74, 77, 81, 90, 93, 98 f., 101 – 108, 110 f., 113 – 116, 119, 123, 133, 136 f., 140, 158, 165, 176, 182, 185, 193, 200, 206, 217 f., 224, 229, 231 f., 234, 237, 241, 245 – 247, 249 f., 254, 261, 263, 265, 267 f., 270, 293, 295, 305, 309, 338, 341, 362, 364, 367, 375, 391, 406, 421, 423, 434, 438, 458, 466, 489 ethisch 2, 17, 35, 37 – 39, 41 – 49, 51 f., 54 – 59, 62, 64 f., 67 – 69, 71 f., 74, 78, 80 f., 83, 106, 108 – 110, 113 – 116, 119, 123 – 125, 127 – 130, 133 f., 136 f., 142 f., 147, 149, 152, 155, 157, 159, 161 – 163, 165 f., 169 – 171, 180 f., 185 f., 201, 213, 219, 225 – 227, 230, 237, 239 – 241, 245 – 247, 249 f., 253 – 255, 257 – 260, 263, 265 – 277, 283, 285 – 287, 291, 301, 308 f., 313, 315 – 317, 320 f., 324 – 326, 333, 339 – 341, 344, 347, 349, 351 f., 357, 359, 364, 367, 369, 371, 373, 375 f., 382, 385, 392 f., 397, 399, 403, 411, 430 f., 439, 443, 448, 454, 463 – 465, 468 f., 495, 497 Eudämonismus 43, 47, 49 eudämonistisch 45, 49, 69, 270, 348 evangelisch 54, 73, 280 ewig 38, 57, 59, 62, 73, 78, 80 f., 95 f., 99 f., 115, 141, 173, 176, 192, 208, 231, 233, 235, 249, 253, 262, 268, 306, 310, 315, 327,
536
Sachregister
329, 333, 335, 341, 345, 371, 374, 385, 415 f., 437, 440, 444 f., 476 f., 480, 487, 493, 496 f., 499, 501 Ewigkeit 13, 15, 26, 78, 86, 99 f., 240, 328, 338 f., 343 f., 346, 434, 439, 476 f. exklusiv 18, 63, 78, 91, 140, 149 f., 167, 195, 207, 257, 298, 306, 326, 333, 363, 366, 371, 385, 394, 396, 398, 418, 486, 490, 496, 500 Exklusivität 149, 227, 295, 338, 361, 363, 366, 385, 390, 395, 431
236 – 238, 240, 244 – 247, 263, 270, 273 f., 277 f., 283, 285, 290, 294, 335, 341, 349 f., 353 – 357, 365, 368, 383, 386, 389, 391 f., 394, 398, 403, 417, 425, 431, 436, 457 f., 467, 471 – 473, 475, 479 freundschaftlich 28, 169, 217, 229, 233, 257, 270, 274 f., 277, 365, 389, 396, 412 Frustration 283, 412, 459, 481 Fürsorge 162, 181, 207, 213, 221, 266, 354, 369, 380, 387, 411, 417, 419, 421, 424, 427, 439, 451, 458, 465, 491
familial 1 f., 5, 8, 15 f., 35, 47, 89, 116 f., 180, 191 – 193, 202, 208 – 211, 213, 216, 221, 226, 303, 305, 311, 321, 324, 326, 342, 345, 353 f., 358 – 360, 362 f., 365, 369, 379, 396, 399, 402, 404 – 409, 412, 414, 421, 423, 431, 434 f., 437 – 439, 441, 444 – 446, 450 – 453, 459 f., 470, 472, 475, 481 f., 484 – 486, 488 f., 493 – 500, 502 f. Familie 1 – 3, 5 – 14, 16, 19, 21, 24, 33 – 36, 39 f., 47, 55, 61, 63, 67, 70, 88 – 91, 93, 101, 109, 116 – 119, 148, 151, 155, 157, 166, 169, 171, 173, 181, 183, 192, 196 f., 200 f., 203 – 207, 210 – 212, 219 f., 223, 229, 249, 253, 257, 263 f., 266, 269, 278, 286, 288 f., 299, 302 f., 305, 310 f., 317, 321, 324, 342, 350, 353 f., 359 f., 362, 366, 368 f., 371, 379 f., 384, 388, 398 – 413, 419 – 422, 424 f., 427 f., 430 – 432, 434, 438 f., 441, 446, 448, 450 – 453, 456 – 460, 462, 464 f., 467, 469 – 472, 474, 481 – 486, 488 f., 491, 494 f., 497 – 500, 502 – 504 Fantasie/Phantasie 55, 84, 124, 127 – 129, 133, 135, 140, 166 f., 177 f., 186 f., 193, 230, 232, 236, 240, 243, 307 – 313, 318, 415, 435, 475 f., 483, 487 Fortpflanzung 57, 122, 148, 154 – 156, 162, 170 – 173, 212 f., 354, 357, 407, 411, 413 f., 421, 424, 451, 470 Freiheit 22, 26, 58, 62, 80, 90 f., 96, 109, 129, 142, 167, 172, 203 f., 206, 220 f., 224, 228 – 230, 257, 262, 277 – 279, 291, 308, 317, 322 f., 357, 373, 395 f., 408, 424, 450, 456, 458, 466, 476, 481, 490, 492 f. Freizeit 1, 6, 18, 360 f, 401, 489 Fremdverstehen 8, 85 Freundschaft 1, 6, 19, 25 – 28, 33, 36, 41, 67, 83, 88, 91 f., 101, 119, 122, 127, 139, 148, 152 – 154, 161, 168, 212 f., 215, 218, 232,
Gattung 57, 64 f., 74, 76, 81, 148, 155 f., 198, 267 f., 432, 443, 445 Gattungsbestimmtheit 84, 93, 155 Gattungsbewusstsein 84, 98, 443 Geborgenheit 245, 299, 340, 343, 347, 363, 400, 420, 459, 485 Geburt 195, 202, 208, 211, 304, 411 – 414, 416 – 418, 420, 422, 427, 429, 439, 492 Gefühl 18, 27, 39, 49, 51 – 53, 55 f., 60 f., 66, 71, 79 f., 83 – 85, 88 f., 94, 97, 100, 126 – 128, 130 – 133, 135, 140, 142 – 144, 146, 150, 153, 161, 167, 171, 174, 176 – 179, 185 – 187, 191, 193, 195, 200, 209, 222, 231 – 235, 247, 254, 262, 266, 274, 276 – 278, 282, 288 – 291, 293, 298 f., 303 – 306, 309, 311 f., 316, 320 f., 328 – 332, 334 f., 337 f., 340 – 343, 347 – 349, 353, 356, 368, 371 – 376, 381 – 383, 389, 391 – 394, 396, 398 – 400, 413 f., 416 – 418, 421 f., 427, 430, 437, 441, 452, 454, 456, 458, 469, 471, 477 f., 480, 486 – 488, 490 f., 495, 503 Gefühlsarbeit 205 – 207 Gehorsam 280, 377, 407, 453 – 458, 493 Geist 2, 9 f., 14, 26 – 28, 32, 44 f., 49 f., 56 f., 62, 66 f., 76, 79 – 81, 86, 90, 92, 99, 101 f., 106 – 116, 118, 120, 124, 126, 133 – 135, 137, 142, 148, 154 – 156, 173 f., 178, 187 f., 215 f., 218, 220, 222, 229, 231 f., 241, 259 – 262, 266 – 269, 276, 285 f., 290, 308, 310, 319, 331, 335, 345 f., 355 – 357, 360, 385, 401, 417, 421, 431, 437 f., 442 f., 447, 449, 454, 462, 476 f., 493, 496 – 498, 500 Geisteswissenschaft 45, 102 f., 105 Gemeinde 59, 199, 223, 321, 500 Gemeingeist 443, 496 – 498 Gemeinschaft 21, 23, 31, 45 f., 48, 57, 61, 70, 72, 74, 77, 80 f., 89 – 92, 114, 134, 137, 151, 153, 157, 162, 173, 176, 205, 212, 226 f.,
Sachregister
229, 252 f., 264, 268, 286, 290, 293 – 296, 303 f., 316, 321 – 323, 326, 332, 335, 340 f., 345, 349, 353 – 355, 357, 363, 365 f., 370, 379, 384, 387, 396, 403, 406 f., 414, 420, 430 – 433, 449, 454, 465, 470 f., 476, 494, 497, 499 f., 503 gender 180, 198, 201 f. Generationenverhältnis 117, 411 Generativität 8, 157, 417 Geschenk 139, 171, 194, 281, 310, 345, 347, 349, 356, 414, 418, 436, 487, 499 Geschlecht/er 17, 20, 24 f., 34, 39, 63, 117, 129, 136, 138 – 140, 143, 147 – 152, 163, 165, 169, 172, 176, 180 – 201, 206 – 208, 211, 214 – 217, 220 – 223, 225 f., 235, 242, 245, 247 f., 251, 265, 279, 293, 299, 302, 316, 323, 339, 346, 348, 358, 360 f., 363 f., 396, 407 f., 412, 423, 431, 442, 471, 480, 489, 491 Geschlechterbilder 181, 183, 208, 216, 221, 245, 317 Geschlechterdifferenz 2, 24 f., 38, 55, 117, 139, 148, 150, 155, 160, 178 – 183, 185, 187, 190, 193, 196, 199 f., 205 – 207, 213, 217, 241, 245, 417, 477, 485 Geschlechterliebe 172 f., 177, 179 Geschlechterrollen 40, 180, 187 Geschlechtsliebe 174, 178, 242, 264 Geschlechtsverhältnis 117, 119, 174 Geschöpf 191, 232, 424, 440 f. Geschwister 168, 405, 427, 453, 470 – 476, 498 Geschwisterbeziehung 470 f., 474 – 476 Geschwisterlichkeit 470 f., 474 f. Gesellschaft 11, 13, 16, 19, 22, 24 f., 27 f., 42, 48, 57, 59, 64, 66, 68, 70, 73, 88 f., 92, 116, 118, 123 f., 129, 136, 139, 151, 164, 166 f., 170, 206, 210 – 212, 216 f., 219 – 221, 229, 238, 260, 268, 274, 281 f., 299, 304 – 306, 314 f., 317, 321, 340, 353 f., 359, 362, 364, 369, 371, 375, 377, 393, 398 f., 401 – 403, 405 f., 408 f., 425, 443, 448 – 450, 453, 458, 464, 479 – 481, 503 Gewalt 73, 167 f., 207, 219, 279, 286 f., 303, 308, 376, 422, 433, 443, 445, 460, 495 Gewaltbeziehungen 221 Glück 3, 26, 48 f., 87, 191, 213, 221, 226, 233, 237, 242, 244, 248, 257, 262, 266, 270 – 272, 298, 300, 313, 328, 339, 342 – 344,
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347, 360, 366, 384, 401, 406, 416, 476 – 478, 487, 496, 501 f. glücklich 1, 7, 28, 171, 185, 225, 238, 243, 263, 285, 297, 312, 341, 347, 366, 381 f., 402, 429, 450, 476 Glückseligkeit 48 f., 51, 63 f., 246, 270, 440 Gnade 41, 111, 139, 281, 347, 360, 387, 401, 494 Gott 3, 23, 33, 51 f., 59, 62, 65, 79, 93 – 97, 99, 112, 133 f., 139, 142, 156, 161, 177, 188, 199, 217, 227, 234 f., 238 – 242, 244 f., 248 – 250, 256, 277, 310, 316, 332 – 334, 342, 346, 348, 358, 360, 365, 367, 372 f., 378, 380 f., 394, 399, 401, 404 f., 407, 415, 417 f., 424, 426, 441, 446, 475, 480 f., 483, 488, 490 – 497, 502 f. Gottesbewusstsein 88, 95, 388, 492 f. Gottesgedanke 48, 93 – 96, 111 f., 241, 307, 380, 475, 488, 490 Gottesliebe 177, 235, 240 f., 256, 501 Gottheit 95, 143, 173, 177, 198, 240, 248, 316, 321, 394, 493 göttlich 3, 36, 45, 50, 58 f., 80, 95, 97, 99, 110, 114, 133, 139 f., 155 – 157, 174 – 176, 192, 195, 213, 217, 223, 233, 238 – 241, 254, 275, 281, 298, 307, 310, 313, 315 f., 332 f., 345, 349, 360, 375, 387, 394, 407, 415 f., 426, 438, 440, 442 f., 447, 453, 460, 483, 491 – 493, 500, 503 Großeltern 412, 434, 443, 490 Güter 21, 58, 63, 207, 222, 237, 239, 241, 243, 249, 271, 273, 299, 325, 340, 350, 356, 359, 361, 384, 390, 392, 438, 454 Güterlehre 57, 63, 74, 249 f., 252, 363, 400, 402, 413, 448, 450, 471 Habitualisierung 128, 202, 281, 287, 305 Habitus 9, 128, 358 Habitusform 9, 289 Handeln 6, 8, 10, 17, 40, 42 – 45, 47 – 49, 51 – 54, 56 – 58, 60 – 66, 73, 80 f., 86 f., 91 f., 104, 107, 113, 128, 131, 139, 151, 155 – 157, 167, 174, 176, 186, 189 f., 192 f., 213, 217, 220, 242, 245 – 247, 249, 251, 253 – 255, 257, 260, 267, 274, 278 f., 286, 292, 295, 298, 306 – 308, 312, 336 f., 348 f., 352, 354, 356 f., 359, 368 f., 374, 389, 394, 403, 405, 413, 420 f., 446, 448, 450, 454 – 456, 459, 463 – 465, 476 f., 485, 491, 501
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Sachregister
Handlung 6 f., 9 f., 42, 44, 52, 56, 58 f., 62, 64, 109 f., 143, 148, 154, 204 f., 237, 240, 244, 255, 263, 271, 273 f., 278, 287 f., 343, 347, 354, 357 f., 370, 372 f., 390, 426, 466, 500 Harmonie 16, 80, 90, 140, 224, 245, 262, 278, 289, 309, 315, 357, 452, 479 Haus 21 f., 26, 31 f., 34, 47, 66 f., 145, 174, 181, 200 – 202, 204 – 207, 209 f., 220, 224, 226, 236, 286, 292, 306, 312, 326, 345, 347, 353, 357, 359 – 362, 378, 400 – 402, 406 f., 447, 456, 478 – 481, 486 Hausarbeit 202, 204 f., 208 f., 211 f., 226, 302, 466, 484 Haushalt 202 f., 205, 208 f., 292, 323, 325 f., 388 f., 419, 426, 453, 466, 473, 489 Herrnhutertum 17, 177, 214 Herrnhuter 35, 38, 59, 196 herrnhutisch 25, 68, 473 Himmel 100, 143, 233, 298, 312 f., 338, 477, 481, 495, 501 himmlisch 32, 134, 177, 182, 223, 239, 321 f., 333, 344, 360, 415, 418, 477 f., 503 Hingebung 126, 132, 195, 228, 241, 479, 502 Hochzeit 29, 31, 176, 243, 258, 302, 315, 373 f., 473 Hochzeitsfeier 374 Hochzeitsritus 372 f. Hochzeitstag 374, 436 Homosexualität 160 – 162, 166 homosexuell 5, 159 – 163, 430 Ideal
2 f., 17 – 19, 21, 23, 49, 55, 62 f., 68, 70, 72, 80, 90 – 92, 95 – 97, 101 f., 106 – 108, 112, 114 f., 121, 128, 131, 133, 140, 143, 147, 149, 153, 158, 181, 189, 198, 200, 209, 212, 214, 221, 224 f., 231, 233 f., 236, 241, 243, 250, 254, 259, 275 – 277, 279, 298, 301, 306, 309 f., 317, 326 f., 333, 336 f., 344, 363, 366 f., 375, 380, 382, 385, 395 f., 404, 409, 420, 446, 451, 463, 466, 471, 477, 480, 483 – 485, 492 Idealisierung 114, 229, 237, 317, 368, 483, 493, 499 Idealismus 17, 103, 116, 259, 292 idealistisch 17, 169, 196, 260, 446 Identität 13, 53, 56, 69 f., 85 – 87, 91, 95, 101 f., 110, 134, 149, 151, 155, 157, 160, 212, 216, 234, 251, 253 f., 261, 264, 288, 295 f.,
304, 309, 358, 383 – 385, 401, 431, 439, 461, 470 f., 492 ideologisch 72, 180, 397, 452 individual 74, 163, 269 Individualität 5, 18, 22, 34, 38, 47, 67 – 72, 74, 76 – 79, 81, 84 – 86, 88 f., 91, 93, 95 – 99, 106, 108, 111, 114, 121, 123, 130, 148 f., 152 – 154, 161, 169, 172 f., 185, 215, 221, 227, 229, 247, 251 f., 255, 266, 282 f., 286, 295 – 297, 301, 304, 309, 323 f., 331, 333, 346, 349, 353 f., 357, 362, 366, 370, 377, 383, 395, 401 f., 420, 426, 437, 439, 449 f., 452 f., 469, 471, 474, 482 individuell 13, 15, 26 f., 33, 57, 60, 64 – 67, 69 – 72, 83, 91, 95 f., 104, 106, 108, 117, 119, 123, 160, 168, 185 – 187, 189, 194 f., 204, 213, 217, 221, 228 f., 234, 237, 249, 251, 253, 271, 281, 285, 296, 309, 319 – 321, 323, 325, 331, 334, 346, 367, 370, 377, 380, 382 f., 386 f., 390, 401, 404, 409, 416, 418, 435 f., 439, 445, 448, 450, 452, 463 f., 469, 472, 489 f., 494, 503 innerweltlich 114, 177, 295 Institution 4, 6, 9, 11 f., 16, 25, 51, 106, 151, 154, 163 f., 172 f., 208, 215, 288, 315, 320 – 323, 326, 357, 376, 404 f., 407, 413, 452, 465 Institutionalisierung 4, 227, 244, 323 Institutionalisierungsprozess 326, 375 Institutionalisierungstendenz 5, 320 Interdependenz 52, 114, 154, 174, 272, 325 Ironie 313, 316 f., 319 ironisch 42, 81 f., 96, 103, 239, 307, 317 – 319, 359 Irritation 41, 161, 230, 288, 293 f., 296 f., 470, 493 Jenseits 3, 49, 55, 99 f., 214, 226, 236, 240, 247, 298, 412, 416, 476, 501 Jugend 1 f., 28, 56, 74, 110, 115, 121, 130, 154, 191, 244, 248, 257, 356, 378, 389, 407, 443, 447, 461, 464, 467, 469 f., 480, 482 jugendlich 1 f., 116, 121 f., 141, 166, 175, 341, 357, 464, 470 Jüngling 131, 161, 179, 244, 356 f. kategorial 41, 63, 73, 105, 116, 133, 349, 363, 377, 392, 431, 440, 446, 448, 463, 501 Kategorie 9, 11, 43, 47, 56, 73, 76, 105, 116, 119, 121, 132, 141, 180, 248, 250, 265, 460
Sachregister
kategorisch 43, 351, 461 f. katholisch 173, 281, 330 f., 372, 502 Keuschheit 48, 127, 133, 142, 165, 167 Kind 1, 19, 21, 27, 32 – 34, 117, 128, 142, 144 f., 149, 154, 156, 162, 165, 172, 180, 192, 195, 202, 205 f., 208, 218, 220 f., 235, 250, 263, 266, 277, 299 f., 311 f., 325 f., 328, 333, 338, 348 f., 352, 358 – 360, 365 f., 377 – 381, 384 f., 388, 399 f., 403 f., 408 f., 411 f., 414 – 420, 422 – 430, 432 – 436, 439, 441 – 460, 462 – 472, 474 – 486, 491 – 493, 495, 499 f., 502 f. Kindheit 21, 157, 169, 189, 195, 308, 439, 448, 465, 470, 474, 477, 482 f., 500 kindlich 27, 122, 141, 195, 299, 396, 411, 418, 427, 454, 457, 459, 462, 464 f., 471, 477 f., 480, 482 – 484, 487 Kindschaft 425 f. Kirche 29, 32, 46, 51, 54, 66, 73 f., 131, 139, 156, 165, 195 – 197, 204, 213, 223, 235, 280, 301, 311, 320, 340, 352, 367, 372, 374 – 379, 385, 401, 404, 407, 415 f., 421, 451 f., 456 f., 478, 488, 492, 496 – 498, 500 f. Kirchenlehre 38, 147, 156, 180 kirchlich 4, 63, 164, 196, 372 – 375, 378 f., 406, 433, 456, 485, 503 Kleinkind 57, 412, 415, 419, 424, 427, 452 – 454, 479 kognitiv 11, 131, 192 Kohabitation 323 – 325 Koitus 147, 150, 154, 158 Kommunikation 19 f., 22, 67, 78, 82, 92, 135, 148, 196 f., 211, 263, 277, 282 f., 292, 298, 301, 306, 319 f., 346, 351, 354, 395 f., 462, 498, 500 Kommunikationsform 10, 40, 84, 170, 207, 293, 470 Kommunikationsprinzip 438, 496, 498 kommunikativ 10, 16, 83, 194, 292, 303, 319, 387 f., 461, 502 Komplexität 16 f., 64, 169, 243, 304, 475 Komplexitätsreduktion 16, 288 Komplexitätssteigerung 16, 63, 383 Konsens 67, 291, 296, 336 Konsensfiktion 291 f., 331, 333, 336 Kontrolle 134, 279, 359, 387, 448 Körper 12, 77, 92, 107, 116, 121, 139, 177, 460
539
körperlich 65, 79, 92, 120 f., 124, 134, 138, 140, 149, 151, 153 f., 165, 183, 231, 273, 305, 378, 420, 454, 485 krank 6, 424, 496 Krankheit 35, 110, 239, 243, 277, 284, 317 f., 360, 368, 412, 428 f., 434, 451 kreativ 81, 186, 194, 198, 204, 206, 236, 248, 307 f., 413, 444, 498 Kreativität 312, 361, 489, 491 Kreatürlichkeit 489, 491 Krieg 22 f., 189 Kultur 22, 24, 49, 62 – 64, 125, 168 – 170, 198, 211, 215, 220, 222, 242, 341, 358, 365, 406, 420 Kulturalität 61, 181 kulturell 4, 39, 66, 109, 125, 172, 273, 316, 333, 342, 352, 358 f., 374, 393, 398, 404, 411, 420, 488 Kultursphäre 2, 13, 65, 103, 254 Kunst 8, 16, 26, 66 f., 84, 131, 136, 165, 172, 176, 185 – 187, 194, 214 f., 222, 246, 298, 445 f., 482 Kunstwerk 46, 82, 84, 90, 266, 297, 319, 370, 444 Leben 1, 3 – 7, 9 f., 13, 15 f., 20, 22 – 40, 42, 44, 47, 49 f., 54 – 57, 59 – 68, 70, 74, 76, 78, 81 – 83, 85, 87 f., 92 f., 95, 97 – 101, 106 f., 109 – 111, 113, 115 – 118, 122, 124 f., 127 f., 130, 133 f., 137 f., 140, 145 – 147, 149, 153 – 155, 157 f., 163, 165 f., 168, 172 f., 176 f., 179 f., 183 – 185, 189, 191 f., 195 f., 199 – 201, 203 – 208, 211 – 216, 220 – 224, 227 – 240, 243, 245 f., 249, 251 – 253, 255, 257 – 260, 262 – 264, 268, 271 f., 274, 276 – 281, 283 f., 286, 288, 290 f., 293 – 303, 305, 307 – 309, 311 – 313, 315 – 319, 321 – 331, 333 – 338, 340 – 345, 347 f., 353 – 358, 360 – 362, 364, 366 – 368, 370 – 372, 374 f., 378, 381, 384 f., 388, 394 – 396, 398 f., 401 – 409, 411 – 418, 420 – 423, 427 – 429, 431 – 443, 445, 447, 449 f., 452 – 455, 457, 459, 461, 463 – 468, 470 – 473, 476 f., 479 – 481, 484 – 495, 497 – 500, 503, 508 Lebensdimension 1, 165, 175, 225, 238, 278, 305, 488 f. Lebensform 5, 65, 91, 159, 162, 209, 217, 299, 321, 323 f., 331, 333, 406, 424, 443 Lebenssinn 7, 90, 257, 503
540
Sachregister
Lebenssphäre 14, 42, 49, 130, 132, 179, 188, 356, 449, 460, 503 Lehre 35 f., 54, 58, 64, 66 f., 73, 173, 194, 197, 199, 239, 246, 267, 273, 275, 287, 331, 346, 359, 375, 440, 461, 492, 496, 498, 501 f. lehren 53 f., 197, 281, 415, 461 f., 495 f., 501 Leib 12, 67, 76 – 79, 84, 92, 99 f., 106 – 111, 114 f., 134, 152, 166, 179, 182, 204 f., 211, 224, 252, 259, 326, 357, 417, 424, 440, 466, 499 leiblich 11, 100, 118, 151, 181 f., 232, 259 f., 297, 339 f., 390, 420 f., 425, 430, 432, 440, 498, 500 Leiblichkeit 106, 108 f., 440 Leid 23, 30, 40, 79, 163, 243, 295, 314, 339, 357, 370, 415, 442, 466 leiden 48, 112, 175, 191, 208, 221, 276, 285, 292, 360, 380, 382, 384, 393 f., 400, 472 Leidenschaft 20, 26, 106, 128, 140, 143, 151, 160, 174, 270, 293, 296, 315 f., 329, 359, 385, 422, 480 leidenschaftlich 174, 189, 278, 331, 375 Leidenschaftlichkeit 174, 269 lernen 27, 160, 221, 226, 281, 384, 428, 435, 447, 461 – 464, 482, 488 Liebe 2 – 5, 12, 14, 18 – 21, 24, 27, 29 f., 32 – 34, 36 f., 40, 50, 56 f., 61, 71, 76, 82, 89 f., 101, 119, 122 – 127, 130 – 134, 136 – 148, 150 – 153, 155 – 158, 160 f., 163 f., 167, 171 f., 174, 176 – 180, 184, 187 f., 190 – 192, 195, 198 f., 202, 207, 210, 212 – 218, 220 – 225, 227, 230 – 260, 263 – 273, 275 – 279, 283 f., 286 f., 290 – 293, 295 – 303, 305, 307 f., 310, 312 – 321, 323, 326, 328 – 346, 348 – 352, 355 – 358, 360 f., 363 – 365, 367, 369 – 373, 377 f., 380 – 384, 386 – 388, 390 – 399, 401 – 404, 406, 411 – 414, 416 – 418, 422 – 424, 426, 428 f., 431 f., 434 – 438, 440, 442, 455, 458 – 461, 467 f., 473, 478 – 481, 483, 487, 491 f., 494 – 496, 498 f., 501, 503 lieben 89 f., 100, 123 f., 129, 132 f., 137, 140, 143, 146, 149 f., 161, 166, 204, 206, 218, 225, 233 – 235, 239 – 241, 243, 246 – 248, 250, 256, 259, 264 – 266, 268, 270 f., 275, 284, 298, 300, 305, 314, 317 f., 336, 350, 358, 360, 365, 367, 397, 409, 411 f., 418, 424, 431, 435, 442, 444, 481, 484, 494
Lust
10, 22, 26, 48 – 50, 110, 125 f., 129, 133 – 135, 137, 141, 145, 150, 161, 163, 170 f., 175, 177, 179, 188, 193, 204, 224, 243, 250, 295, 312, 349, 356, 387, 391, 393 f., 396, 401, 438, 464, 479, 493 f., 501 lustvoll 50, 156, 198, 265, 388, 484, 501 Macht 1 f., 14, 16, 19, 24 f., 27, 29, 31, 35 f., 38, 46, 52 f., 55 – 57, 62, 65, 71, 73, 77, 81, 85, 87, 90, 92, 97, 101, 106, 111, 113, 119, 123, 129, 136, 139, 141, 145, 154, 159, 162, 164 – 166, 169 f., 173, 175, 180, 190 f., 198, 200, 205, 207, 209 – 211, 214, 217, 219, 224 f., 237, 239 f., 248 f., 251, 253 f., 259, 263, 270 f., 274, 278 – 281, 283, 288, 293, 301, 303, 305 f., 308, 313 – 320, 322, 327, 330 f., 339, 341, 347, 351 f., 357 f., 360, 362, 365, 369, 373, 376 f., 379 f., 382 f., 386 f., 391, 393, 398, 400, 404, 417, 419, 425, 429 f., 440, 444, 448, 450, 452, 454 f., 460, 468, 471, 477 – 481, 484 f., 494, 496, 501, 503 Machtverhältnis 225 Machtverteilung 207, 475 männlich 139 f., 161, 179, 183 – 187, 191 – 193, 197 f., 200, 213 f., 220 – 223, 245, 415, 471 Männlichkeit 126, 130, 140, 164, 184, 214, 217 Mischungstheorie 74 f. Mischungsverhältnis 96 Mitwelt 8, 120, 241, 363 modern/Moderne 1, 3 – 6, 9, 17, 36, 42, 63, 84, 99, 122, 157, 162, 167, 173 f., 217, 271, 288, 299, 301, 307, 327, 338, 358, 362, 370, 377 f., 380, 383, 389, 395 f., 401, 406, 418, 430, 433, 443, 451, 453, 483, 485, 488, 492 f. Musik 4, 84, 141, 176, 196, 231 musikalisch 84, 289 Mutter 15, 29 f., 141, 171, 191 f., 197, 202, 205 f., 210, 222, 263, 289, 299, 349, 371, 377, 414 – 420, 422 f., 426 – 429, 441, 447, 453 f., 462, 465, 473 f., 479, 493 Mütterlichkeit 188, 190 f., 220, 415, 419 f. Mutterliebe 191 f., 418, 487, 493 Mutterschaft 171, 191, 197, 404, 406, 414 – 417, 419, 428, 434, 484 Nachkommen 156, 232, 434 f., 439, 441 – 443, 445, 466 – 468
Sachregister
Nächstenliebe 227, 259, 263, 265 – 267, 269, 271 Natalität 414 f. Natur 16, 22, 26, 28, 44 f., 48, 50, 61, 64 – 67, 75 f., 81, 84, 91, 94 f., 101 – 116, 118, 122, 125 f., 132 f., 137 f., 140, 143, 148, 153, 155 – 157, 161, 172 – 174, 177, 180 – 182, 184 f., 187 – 189, 207, 212, 223 f., 229, 238, 241, 251 – 253, 255, 262, 266 f., 269, 278, 286, 306, 310, 314, 318 f., 328 f., 334, 339, 346, 356 f., 365, 371, 399, 403 – 405, 413 f., 420 – 422, 424, 427, 429, 438, 444 – 446, 448, 452, 487, 492 f. Naturwissenschaft 58, 102 – 105, 111, 116 Norm 203, 209, 291, 377, 419, 450 normativ 41 f., 44, 51, 155, 160, 169, 245, 247, 293, 308, 323, 376 f., 467 Obrigkeit 376, 401 öffentlich 19, 22 f., 38, 82, 126, 167, 202 – 204, 207 f., 219 f., 222, 301, 362, 369 – 371, 373 f., 381, 400 f., 403 f., 407, 441, 451 f., 486 Öffentlichkeit 23, 28, 92, 362, 369 f., 409, 453 Ohnmacht 50, 141, 387, 414 Opfer 71, 165, 238, 248, 356, 361, 380, 412, 432, 459 f., 468, 476, 482, 492 Paar
120, 126, 138, 143, 145, 155, 158, 166, 202 f., 209, 211 f., 217 f., 225 f., 277, 296, 306, 324, 340, 368, 370, 373 – 375, 377, 380, 383, 388 f., 391, 402, 409, 430, 432, 447, 469 f., 486, 497 Paarbeziehung 18, 20, 88, 119, 147, 150, 154, 157 f., 212, 227, 272, 276, 296, 299, 311, 321 f., 325 – 327, 340, 346, 361, 363, 366, 369, 371, 375, 387, 389 f., 395 f., 411, 424 Pädagogik 35, 39, 50, 88, 192, 194, 200, 442, 446, 448 f., 455, 459, 462 f., 466 f., 478, 507 pädagogisch 17, 26, 35, 166, 181, 192, 249, 446 – 448, 450, 453, 455 f., 463 f., 466 Paradox 3, 75, 84, 96, 124, 133, 159, 247, 317, 357, 365, 419 paradoxal 106, 243, 337, 387, 412, 425, 431 Partnerschaft 2 f., 5 f., 12, 20, 117, 138, 147, 149, 157 f., 166, 168, 193, 211, 214, 219, 221, 224, 226 f., 230, 245, 272, 274, 276, 279, 281 – 283, 285, 287 – 289, 291, 297 f.,
541
301 f., 307, 323 – 327, 329, 333 – 335, 341, 346, 350, 352, 368 – 371, 383, 386, 390, 392, 395, 420, 491, 493, 496 f., 502 partnerschaftlich 1, 20, 119, 134, 150, 154, 160, 167, 171, 180, 213, 216, 224 f., 229, 238, 242, 256, 265, 268, 273, 275, 299, 323, 325 f., 341 f., 353, 363, 370, 372, 383, 388, 394, 397, 402 f., 406, 423 f., 435, 492, 496 f., 499, 501 passiv 116, 120, 128, 140, 186, 226, 241, 248, 348 Passivität 58 f., 120 f., 134, 139, 141 f., 157, 185 – 187, 287, 330, 351, 387, 412 – 414, 416 Persistenz 9, 208 f., 222, 230, 281, 369, 406 f., 444, 501 Persönlichkeit 24, 45, 47, 75, 77, 86 f., 91, 97, 99 f., 152 f., 158, 160, 172, 182, 198, 229 – 231, 247, 252 f., 255, 276, 280 – 282, 294 – 296, 300, 338, 362, 380, 383, 420 f., 431, 437, 444, 450, 462, 469, 482 Persönlichkeitsbildung 182, 283, 335, 475 Persönlichkeitsentwicklung 474, 498 Pflichtenethik 43 Physiognomie 88, 292 physisch 70, 85, 106, 121, 123, 138, 161, 183, 185, 218, 253, 260, 281, 360, 414, 417, 439, 448, 459 Pietismus 25, 54, 130 pietistisch 25, 54, 223, 332, 416 Pneumatologie 496 – 498 Preußen 17, 22 f., 26, 74, 302, 365, 406 preußisch 23, 39, 89, 156, 215, 378 Progression 462 Prostitution 163 – 166 protestantisch 39, 59, 94, 113, 123, 174, 198, 217, 329, 372, 376, 380, 415, 467, 494, 502 f. Protestantismus 198, 376, 498 psychisch 9 f., 17, 70, 121, 138, 153, 179, 182, 185, 201, 211, 225, 230, 260, 273, 307, 315, 332, 337 f., 340, 350, 354, 378, 384, 417, 430, 448, 452, 459, 466 Psychologie 35, 39, 79, 86 f., 187, 195, 208, 211, 260 f., 264, 273, 280, 283, 387, 417, 438, 443, 472 psychologisch 13, 17, 51, 55, 60, 166, 169, 174, 183, 187, 195, 232, 272, 277, 302 – 304, 313, 330 f., 346, 348, 351, 380, 387, 445, 452 f., 468, 497, 501
542
Sachregister
Raptus 141 f. rational 12, 14, 84, 139, 150, 181, 195 f., 209, 325, 330 f., 350, 352 Rationalismus 207, 258, 350 Reflexion 41, 49, 55, 70, 72, 75, 78, 80, 93, 101, 132, 134, 138, 141, 143, 195, 233, 293, 310, 321, 330, 411, 415, 488, 490 reformiert 23, 114, 240, 286, 495 f. Regression 288 f., 298 f. Reich Gottes 54, 231, 239, 344, 355, 380, 421, 437, 442, 477 Reichtum/Reichthum 131, 218 f., 268, 312, 369, 393 Religion 1 – 6, 11 – 16, 35, 37 f., 40 f., 43, 50 – 53, 58 – 60, 63, 65 – 67, 70, 78, 80, 84, 88, 92 – 95, 97 – 99, 112, 119, 139, 142, 147 f., 150, 156, 165 – 168, 172 – 179, 195 – 198, 216 f., 223, 231 f., 235, 242, 248, 251, 254, 256, 259, 266, 272, 275, 307, 309, 320, 331, 333 f., 336, 340 f., 364, 372, 376, 394, 403, 415 – 417, 421, 436 – 438, 454, 476, 479, 485, 488, 490 f., 493, 495, 499, 501, 503 Religionsäquivalent 3, 298 Religionstheorie 38, 73, 79, 88, 93, 139, 182, 186, 195, 231, 295 religiös 2, 14 f., 42, 45 – 47, 50 – 53, 58 f., 61, 72 f., 75, 78 f., 83, 94 – 96, 98 – 101, 112, 134, 138, 142, 148, 155, 163, 172 – 180, 193, 195 – 198, 213, 216, 230 f., 235 f., 238, 240, 242, 249 f., 257, 262, 286, 288, 292, 295, 298, 323, 326, 331, 333 f., 340, 348, 363, 366, 372, 379, 388, 394, 413 – 416, 421 f., 425 f., 435, 437 f., 443, 445, 448, 457, 471, 477, 488 – 491, 493 – 502 reziprok 190, 213, 216, 296, 403, 496 Reziprozität 80, 92, 275, 278, 282, 301, 432, 462 Ritual 154, 162, 419, 470, 485, 498 – 500, Sakralisierung 242, 483 Sakralität 170, 177 Sakrament 378, 496, 498 – 500 sakramental 176, 331 Salon 22, 27, 206, 284, 362, 399 Salonkultur 68, 73 Scham 127 f., 179 f., 190, 275, 316, 425 schamhaft 128, 179, 231, 275 Schamhaftigkeit 124, 127 – 129, 133, 320
Scheitern 83, 257, 286, 338, 367, 369, 375, 377, 382, 385, 460, 493, 495 Scherz 257, 307, 313 – 320, 397, 429, 436 Schmerz 32 f., 35, 60, 83, 110, 126, 231, 242 f., 257, 275, 293, 312, 318, 334, 358, 360, 391, 412, 414, 418, 435, 474, 478, 486 Schöpfer 48, 111, 446 Schöpfung 58, 112, 158, 197 f., 237, 240, 319, 490 f. Schöpfungslehre 112, 489 – 491 Schuld 33, 128, 133, 211, 290, 306, 317, 375 f., 378, 413, 467, 494 Schuldigkeit 359, 467 f. Schuldigwerden 413, 493 f. Schule 27, 130 f., 197, 277, 453, 480, 486, 489 Schwäche 41, 51, 91, 98, 120, 128, 175, 195, 222, 281, 306 f., 317 f., 368, 386, 393, 413, 416, 423, 428, 442, 495 Schwärmerei 24 – 26, 34, 143 Schwester 28 f., 59, 132, 137, 169, 184 f., 356, 368, 385, 441, 471, 473, 500, 503 Seele 29, 59, 63, 78, 80, 86, 93, 100, 107, 110, 122, 134, 145, 151, 167, 171, 173, 176, 179, 182, 198, 204 f., 223 f., 226, 230 – 233, 243, 248, 252 f., 260, 264 f., 267 f., 270, 279, 294, 298, 303, 306, 318, 326 – 328, 333, 338 f., 342, 346, 357, 366, 389, 407, 416, 424, 429, 439 – 441, 453, 461, 466, 474, 480, 497 Seinsethik 43 Selbstanschauung 70, 78 – 80, 85, 88, 93, 99 Selbstbegrenzung 51, 227, 282 Selbsterhaltung 73, 260 f., 269 Selbsterhaltungstrieb 100, 260 – 262, 267, 438 Selbsterweiterung 227, 362 Selbstliebe 227, 259, 262 – 272, 275 Selbstprüfung 413 Selbstrechtfertigung 20, 413 Selbstrelativierung 228, 431, 433 Selbsttranszendierung 230, 434, 442, 444, 475, 500 Selbstverbreitung 431, 433 Selbstzweck 56, 136, 297, 353 – 357, 361 Selbstzwecklichkeit 21, 60, 92, 171, 349, 353 – 355, 359 Selbstzweifel 413, 425 Sexualität 2, 4 f., 18, 20, 119, 147 – 155, 157 – 163, 165 – 168, 170 – 177, 230, 238, 305,
Sachregister
322 f., 338, 341, 345, 349, 355, 357, 395, 413, 444, 453, 482, 501 sexuell 18, 20, 25, 122, 129, 135, 139, 145, 147, 149 – 151, 154, 158 – 162, 164 – 171, 175 f., 178, 180, 218, 289, 325, 329, 341, 363, 365, 395 – 397, 409, 413, 430 Sicherheit 101, 139, 262, 291, 294 f., 297 f., 300, 302 f., 306, 325, 330, 377, 383, 400, 436, 455, 502 Sinn 1 – 3, 6 – 12, 14 – 17, 19, 24, 26 f., 32 f., 40, 42 f., 51, 54 f., 58 f., 62, 64, 70, 75, 78, 82 f., 85 – 89, 98 f., 101, 108 f., 112, 114 f., 117 f., 120, 122, 127, 131, 133 – 137, 144, 147, 151, 153, 155, 157, 164, 166, 170, 175 – 179, 190, 192, 195, 199, 203, 205, 210, 219, 222, 228, 231, 233, 235 f., 238, 247 f., 251 f., 255, 258, 263 – 267, 271, 275, 277 – 279, 281, 284, 286, 288, 290, 294 – 296, 298, 305, 309 – 311, 313 f., 317 – 319, 321, 323, 326, 328, 331, 333, 339, 341 f., 347, 350 f., 355 – 357, 359 – 361, 376, 381, 385, 388, 391, 393 f., 399 – 401, 403, 405, 412 f., 416, 425 f., 429, 432, 442, 444, 449 f., 454, 456, 460, 464, 466, 471, 478, 480, 483, 488, 493, 496 f., 501, 503 Sinndeutung 2, 453 sinngebend 14, 411 Sinngebung 347 sinnlich 49, 69, 101, 119 f., 125 f., 134 f., 137 f., 142, 150, 152, 157, 171, 193, 250, 254, 271, 276 f., 331, 373, 391, 396, 440, 453, 455 Sinnlichkeit 6, 12, 48, 110, 119 f., 123 f., 126 f., 129, 133, 136 – 138, 151, 154, 159, 164, 170, 173, 175, 177, 186, 204, 293, 308, 314, 340 Sinnmuster 7, 17 f., 288 Sinnpotential 2, 14, 333 Sinnspender 2 Sinnverhältnis 14 Sinnzusammenhang 6 Sitte 24, 38, 44 f., 47, 50, 54, 57, 61, 63, 73 f., 81, 84, 104, 106, 108 f., 111, 131, 133 f., 156 f., 164, 167 f., 185 – 187, 197, 206 f., 214, 223, 234, 239, 264, 268, 270, 278, 332, 351, 375 – 377, 385, 400, 407, 424, 468, 501, 506 Sohn 30, 32, 35, 141, 313, 346, 363, 429, 435 f., 453 f., 457, 467, 481, 502 f. Sollensethik 43, 47 Soteriologie 438, 492, 494 – 496 soteriologisch 300, 497
543
sozial 4, 6 – 17, 19, 22, 40, 45, 54, 60 – 62, 66, 70, 73 – 75, 81, 86, 89, 91, 98, 109, 116, 118, 121, 130 f., 135, 142, 144, 146 f., 151 – 155, 159, 161, 163, 166, 169, 171, 175 f., 180, 182, 187 f., 194, 197, 201 – 203, 205 – 207, 211, 216 f., 226 – 229, 234, 251 f., 273 f., 276, 285, 287 f., 296, 299, 301, 314 f., 320, 323, 326 – 328, 339, 350, 352, 358, 362 f., 368 f., 371, 374, 377, 382 – 384, 387, 390, 392 f., 395, 398 f., 404, 408 f., 411 f., 418 – 420, 425, 427 f., 431 f., 437 f., 440, 444, 447 f., 450, 454, 466 f., 469 – 471, 474 f., 478 f., 485, 488 – 490, 493 f. Sozialform 6 f., 9, 14, 22, 40, 70, 89 f., 92, 116, 119, 173, 229, 257, 264, 278, 294, 353 f., 369, 404 f., 451, 453, 488, 503 f. Sozialität 12, 38, 67, 74, 76 f., 81, 85, 87 f., 99, 109, 114, 150, 182, 215 f., 231, 233, 251 f., 257, 263, 266, 271, 295, 346, 370, 377, 402, 427, 475 Staat 23, 66, 73, 88 – 91, 93, 118, 147, 156, 165, 204, 212, 219, 223, 264, 268, 305, 366, 375 f., 379, 401, 404 – 406, 409, 422, 446, 449, 451 f., 456, 507 staatlich 4, 42, 208, 373, 376, 407, 409, 422, 452, 456 Stabilisierung 19, 154, 230, 288 f., 294, 299, 304 – 306, 325, 337, 354, 362, 387 Stabilität 22, 189, 221 f., 288, 304, 324, 359 f., 383, 408 f., 411, 430, 451, 453, 464, 474 Status 41, 123, 138, 211, 222, 322, 324, 332, 337, 350, 352, 443, 445, 448, 472, 482, 503 Stiefkind 424, 429, 475 Subjekt 7 – 9, 11, 16 f., 21, 42, 46, 48, 50, 60, 79 – 81, 86, 95 – 97, 114, 131, 143, 148, 150, 153, 161, 179, 227, 233 f., 242, 248, 256, 259 f., 305, 333, 336, 346, 400, 413, 431, 438, 444, 465, 482, 488, 490 subjektiv 2, 4, 13, 15, 19, 37, 42, 47 f., 59, 61, 64, 73, 90, 148, 155 f., 160, 168, 171, 189, 194, 210 f., 216, 228, 231, 237, 255, 278, 292, 304, 312, 348, 350, 358, 370, 386, 410, 449, 453, 466 Subjektivität 12, 59 – 61, 67, 94, 373 Sünde 110, 113 f., 173, 222, 250, 380, 387 f., 413, 426, 493 f. Sündenvergebung 426 Sündenbewusstsein 388, 493
544
Sachregister
System 7 f., 10, 16 f., 35, 37, 49, 52, 64, 72, 74, 91, 101, 106, 111 f., 116, 219, 242, 246, 259, 388, 401, 437, 467, 469, 474 systematisch 6, 10, 35, 39, 54, 101, 118, 127, 175, 216, 353, 398 Systemtheorie 12, 16, 64 Taufe 40, 312, 415, 422, 433, 479, 484 f., 498, 500 Theologie 54, 58, 73, 93, 112, 134, 182, 195 – 197, 217, 269, 286, 332, 377, 385, 394, 415, 425, 471, 493 theologisch 45, 50 f., 79, 95, 109, 111 – 113, 155, 158 f., 175, 196, 213, 217, 223, 240 – 242, 281, 307, 403, 415, 478, 492, 496, 501 Tochter 30, 32 f., 418, 453, 480 Tod 2 – 4, 12, 31, 33, 35, 88, 92, 100, 178, 232 f., 236 f., 243, 246, 262, 303, 317, 330, 340, 366, 383 f., 388, 412, 415, 418, 424, 429, 432, 434, 436, 438 – 440, 443 f., 466, 473, 486, 495, 501 Totalität 13 f., 51, 63, 81, 110, 254, 275, 304, 307, 346, 365, 489 Totalsinn 14 f. Tradition 2, 9, 54, 72, 106, 111 – 114, 123, 155, 173, 240, 246, 416, 469, 495 f., 500, 502 traditional 272, 351 f. traditionell 9, 13, 202 f., 208 f., 213, 222, 225, 371 f., 419, 430 transzendent 48, 63, 172, 310 transzendental 108 transzendentalphilosophisch 55, 62, 112, 241 Transzendenz 11 f., 14, 380, 444 Trauung 23, 40, 374, 391, 485 Trennung 18, 51, 83, 113, 140, 154, 162, 178, 181, 268 f., 310, 324, 326, 334, 341, 375, 377 – 380, 382 – 385, 388, 392, 416, 418, 422, 481 Treue/treu 1, 18, 22, 30, 120, 147, 149, 249, 298, 313 f., 316, 318, 329, 339 – 341, 353, 363, 378, 392, 395, 397, 421, 473 Trieb 29, 35, 49, 61, 97, 106, 125, 127, 131, 133, 140, 150 f., 153, 156, 172, 175, 190, 196, 218, 234, 241, 246, 248, 251 f., 260, 264, 273, 286, 301, 321, 339, 417, 425, 454 Triebregulation 120, 123, 133 Triebregung 120, 123, 133 Trinitätslehre 94, 475, 502 f.
Trost/trösten 3, 100, 222, 232, 299, 306, 312, 332, 435 – 437, 443, 447, 461 f. Überforderung 17, 257, 365, 408, 454, 457 unbedingt 15, 43, 96, 210, 221, 263, 265, 377, 382, 395 f., 446 universal 11, 167, 249, 495, 501 universell 13, 33, 69 f., 72, 89, 234, 251, 357, 370, 382, 407, 448, 469 Universum 22, 51 f., 58 f., 67, 80, 93, 95, 97, 100, 148, 179, 197, 257, 262, 310, 337, 341, 353, 355 Untreue 167, 392, 394 f., 432 Utilitarismus 66, 354, 357 Vater 21, 30, 32, 34 f., 116, 154, 192, 199, 202, 205 f., 210, 215, 218, 266, 275, 289, 358, 363, 377, 384, 400, 414, 417 – 419, 423, 425 f., 429, 437, 441, 447, 457, 462, 467 f., 473 f., 476, 481, 503 Vaterschaft 210, 404 verantworten 209, 377, 455 Verantwortung 131, 204, 211, 278, 322, 412, 422, 432, 446 f., 460, 465 Verantwortungsübernahme 228, 433, 465 Vereinigung 91, 101, 114, 132, 134, 148, 151 – 153, 155, 177, 195, 198, 236, 252 f., 290, 294, 315, 365, 373, 383, 407, 438, 463, 483 Verlassen 30, 32, 100, 173, 176, 222, 262, 289, 294, 302, 325, 366, 384, 395, 412, 424, 435, 439, 442, 459, 486, 494 Verlassenheit 294, 334 verliebt 146, 149, 268, 300, 312, 328, 391, 393 Verliebtheit 139, 213, 258, 330, 337 f., 341 Verlobung 300, 343, 356, 374, 473 Verlobungszeit 32 f., 143, 238 Vernunft 7, 9, 38, 43 – 45, 48, 55 f., 64 – 66, 76 f., 79, 98, 101 – 105, 107 – 114, 132, 151, 155, 171, 214, 216, 236, 241, 246, 250 – 255, 267 f., 270, 284, 308 – 310, 404, 421, 439, 448, 450, 454, 469, 490 Versöhnung 262, 323, 382 Verstehen 5, 8, 14, 20, 42, 81, 84 f., 97, 102, 129, 151, 157, 159, 166, 176 f., 180, 184, 188 f., 222, 235, 242, 254, 293, 296, 339, 369 f., 382, 393, 395 f., 399, 414, 426, 444, 447, 460, 463, 466 Verstrickung 32, 41, 164, 413
Sachregister
Vertrauen 2, 291, 299, 301, 303, 331, 342, 384, 390, 392, 395, 404, 420, 454, 458 – 461, 467, 496, 503 Vertraulichkeit 289 f., 338 Vertrautheit 11, 169, 230, 258, 264, 266, 272, 298, 311, 324 f., 363, 390, 497 Vertröstung 3, 220 Vorbild 95, 164, 199, 263, 271, 421, 477, 479, 501 f. Vorwelt 8, 417 Wahlanziehung 119, 151, 168, 248, 327 Wahlverwandtschaft 27, 40, 61, 205, 235, 411, 425 Wärme 198, 225, 365, 412, 477 wechselseitig 5, 16, 18, 22, 44, 53, 56, 66, 68, 82, 90, 92, 97, 99, 103, 113, 122, 142, 144, 148 – 152, 154 – 156, 168, 176, 179 f., 182, 184, 189, 200 f., 212 – 214, 216 f., 225, 228, 230, 234 – 237, 251, 255, 273 – 275, 279 – 281, 283, 285, 287, 289 – 291, 294, 301 f., 321, 331, 339, 350 f., 353 f., 358 f., 368 f., 373, 378, 384, 387, 389, 392 f., 403, 406, 425 – 428, 437, 444, 455, 471 f., 475, 498, 500 Wechselseitigkeit 18, 213, 216, 225, 247, 264, 277, 287, 402 weiblich 25 f., 137 – 140, 143, 151, 177, 179, 183 – 187, 189 f., 192 – 198, 200 f., 206 – 209, 211, 213 – 216, 220 – 223, 245, 311, 417, 441 Weiblichkeit 122 f., 140, 178, 180, 184, 187, 191, 195, 214, 217 Weltbeziehung 11, 153
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Welterfahrung 199, 257, 417 Weltverhältnis 256, 292, 305 Wirklichkeit 3 f., 8, 13, 44 f., 60, 70 f., 73, 95 f., 102, 117 f., 221, 249, 253, 256, 274, 292, 303 f., 310, 312, 339, 342, 346, 365, 367, 380, 494 Wissenschaft 8, 54, 66, 73, 99, 101 – 106, 192, 194, 196, 215, 222, 254, 401, 404, 436, 441 Witz 25, 121, 307, 310, 313 – 316, 319 Zeugung 118, 413 f., 416 f., 420, 422, 435, 440 Zukunft 23, 220, 228, 257, 264, 285, 298 f., 309, 311, 313, 324, 335, 337, 343 – 345, 348, 359 f., 380, 408 f., 430, 435 f., 442, 451 – 453, 460, 462 – 464, 474, 476, 478, 487 Zukunftsgestaltung 335, 345 Zukunftsorientierung 462 f. Zukunftsperspektive 312, 346 zusammenfinden 326 – 328, 335 zusammengehören 326 – 329, 451 Zusammengehörigkeit 294, 297, 329 – 332, 334, 336, 385, 402, 422, 425, 472, 500 Zuwendung 7, 227, 252, 264, 266, 287, 346, 374, 412, 420, 427, 433, 465, 468 Zwang 139, 161 – 163, 174, 376, 392, 403, 420, 423, 438, 446, 449, 455 Zweck 52, 64, 92, 136, 150, 154, 156, 171, 175 f., 191, 197, 228, 268, 271, 288, 320, 327, 346, 349 f., 353 – 357, 359 – 361, 387, 421, 457, 474, 476 Zweckgemeinschaft 19, 349, 355 Zweckrationalismus 6, 21, 327, 351, 480