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German Pages [324] Year 2015
Super alta perennis Studien zur Wirkung der Klassischen Antike
Band 19
Herausgegeben von Uwe Baumann, Marc Laureys und Winfried Schmitz
Uwe Baumann / Arnold Becker / Marc Laureys (Hg.)
Polemik im Dialog des Renaissance-Humanismus Formen, Entwicklungen und Funktionen
Mit 3 Abbildungen
V& R unipress Bonn University Press
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MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-6134 ISBN 978-3-8471-0486-5 ISBN 978-3-8470-0486-8 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0486-2 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Veröffentlichungen der Bonn University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Ó 2015, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Bayerische Staatsbibliothek München, 4 Inc.c.a. 1667 a#Beibd.3, Titelblatt Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Uwe Baumann / Arnold Becker / Marc Laureys (Bonn) Einleitung: Polemik im Dialog des Renaissance-Humanismus. Formen, Entwicklungen und Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Wolfgang G. Müller (Jena) Prinzipien einer Poetik des Dialogs, dargestellt am Beispiel des Prosadialogs der englischen Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Carmen Cardelle de Hartmann (Zürich) Kirchenstreit und humanistischer Dialog: Piccolominis Libellus dialogorum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Marc Laureys (Bonn) Competence matters: Grammar and Invective in Girolamo Balbi’s Rhetor gloriosus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Arnold Becker (Bonn) Strategien polemischer Positionierung in Huttens Dialogen . . . . . . . .
87
Uwe Baumann (Bonn) Die humanistischen und kontroverstheologischen ,Streitschriften‘ des Thomas Morus als ,Polemische Dialoge‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Gislind Rohwer-Happe (Bonn) Unzuverlässiges Erzählen im englischen polemischen Dialog: Thomas Elyots The Defence Of Good Women (1540) . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Uwe Baumann (Bonn) Humanistischer Dialog als inszenierte Humanistische Historiographie: William Thomas’ The Pilgrim (1547) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
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Inhalt
Bernd Häsner (Berlin) Questo quasi arringo del ragionare – Dialektik, Disputation und Dialog bei Torquato Tasso . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Edeltraud Werner (Halle) Das Dialogmuster im italienischen Geschlechterdiskurs bis 1600. Am Beispiel von Baldassare Castigliones Il Cortegiano und Moderata Fontes Il merito delle donne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Imke Lichterfeld (Bonn) Do not banish reason – Dialog und Dialogisierung in Shakespeares Measure for Measure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Beiträgerinnen und Beiträger Index
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317
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Uwe Baumann / Arnold Becker / Marc Laureys (Bonn)
Einleitung: Polemik im Dialog des Renaissance-Humanismus. Formen, Entwicklungen und Funktionen
Im November 2011 wurde vom Centre for the Classical Tradition (CCT) mit Unterstützung der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn eine Arbeitstagung zur Erforschung der Formen, Charakteristika und Grenzen der Polemik im Dialog des Renaissance-Humanismus (1450–1650) organisiert. Diese Arbeitstagung reihte sich ein in ein größeres Forschungsvorhaben einer informellen Forschergruppe, die zunächst noch vornehmlich an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn seit 2004 unter der Bezeichnung ,Traditionen okzidentaler Streitkultur‘ Formen, Sphären und Funktionen des öffentlichen Streitens aus interdisziplinären Perspektiven kulturvergleichend untersucht und in der Folgezeit weitere Verbundforschung, darunter nicht zuletzt das Leverhulme International Network: ,Renaissance Conflict and Rivalries: Cultural Polemics in Europe, c. 1300–c. 1650‘, angeregt hat. Der Begriff ,Streitkultur‘ ist zwar ein signifikant jüngerer Terminus, für den es weder im Englischen noch im Französischen oder Italienischen eine wirkliche Entsprechung gibt, in der Sache jedoch bezeichnet er ein Phänomen,1 das für das griechisch-römische Altertum und das Mittelalter ebenso wie für die Neuzeit konstitutive Bedeutung hat und in exemplarischer Weise veranschaulicht, wie stark und nachhaltig die pagane ebenso wie die christliche Antike in Form der Classical Tradition bis zur Gegenwart gewirkt und insbesondere die gesamte westliche Welt geprägt haben.
Der im eigentliche Sinne wertneutrale Begriff ,Streitkultur‘ wird in unserem Forschungsverbund für die öffentlich verbale und dezidiert nicht bellistische Auseinandersetzung verwendet; so konzeptualisiert ist ,Streitkultur‘ ein kulturelles Phänomen, das sich als historische Konstante westlicher Gesellschaften bis in die Antike zurückverfolgen lässt:2
1 Baumann/Becker/Steiner-Weber (2008b), I. 2 Baumann/Becker/Steiner-Weber (2008b), I.
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Mit der Ilias nimmt das älteste überlieferte Werk der europäischen Literatur im Streit zwischen Achilles und Agamemnon seinen Ausgang, und der Vorsokratiker Heraklit betrachtete den Streit sogar als ,Vater aller Dinge‘ und damit als das Kardinalprinzip eines gesamten Weltverständnisses. Innerhalb der antiken Rhetorik, insbesondere seit dem Zeitalter der Sophistik, erhielt das Streiten in der öffentlichen Sphäre sukzessive eine legitimatorische Basis und wurde zu einer erlernbaren Technik in der verbalen Auseinandersetzung. Die griechischen Rhetoren entdeckten die Macht des Wortes und beschrieben die Mechanismen der Überzeugungskraft; gleichzeitig erprobten sie die gesellschaftlichen Grenzen der Austragung von Streit und Konfrontation.
Wiewohl Streitkultur sich im Rückblick als eine Konstante okzidentaler Kulturen seit der klassischen Antike darstellt, können dabei Sphären, Formen, Stellenwert und Grenzen des Streitens im öffentlichen Raum je nach gesellschaftlichen Bedingungen stark variieren. Mehrere interdisziplinäre Tagungen3 eruierten in den Jahren 2006 bis 2010 diese historisch unterschiedlichen Ausprägungen, Inszenierungen, Formen und Funktionen des öffentlichen Streitens; sie akzentuierten dabei in einer Vielzahl von Einzeluntersuchungen die Wirkmächtigkeit der Classical Tradition für die individuellen Erscheinungsformen und Konturierungen des öffentlichen Streits. Als Korollar einer ganzen Reihe von Einzelergebnissen dieser Tagungen rückten neben der prinzipiell zentralen historischen Perspektive zunehmend auch die möglichen Konventionen und rhetorischen Traditionen innerhalb einzelner literarischer Gattungen in den Mittelpunkt des Interesses, mit der Konsequenz, dass detaillierte, wenngleich exemplarische Untersuchungen einzelner ausgewählter literarischer Gattungen zum unverzichtbaren Bestandteil des gesamten Forschungsvorhabens wurden. Eine erste solche, die Gattung ,Dialog‘ fokussierende Arbeitstagung, mit den dort gehaltenen Vorträgen4 und anschließenden Diskussionen zeitigte eine ganze Reihe von Ergebnissen, die in diesem Band vorgelegt werden und die in vielen Details das bisherige Bild von okzidentaler Streitkultur speziell in der literarisch-rhetorischen Inszenierung für die Epoche der Renaissance weiter auskonturieren.5 Polemisch geprägte Dialoge in lateinischer Sprache, dann zunehmend auch in den Volkssprachen gehören zweifellos zu den bevorzugten literarischen Ausdrucksformen, die das breite Spektrum zeitgenössischer Diskurse im Renais3 Vgl. Baumann/Becker/Steiner-Weber (2008a); Laureys/Simons (2010); Laureys/Simons (2013); vgl. zuletzt auch Lines/Laureys/Kraye (2015a). 4 Für die Drucklegung wurden die bei der Arbeitstagung gehaltenen acht Einzelvorträge um zwei weitere, ursprünglich bei anderen, thematisch sehr verwandten Symposien vorgetragenen Studien ergänzt; vgl. die Beiträge von Marc Laureys (63–85) und Uwe Baumann (111–153) in diesem Band. 5 Weitere genrebezogene Arbeitstagungen zu ,Invektiven‘ und ,Pasquillen‘ sind gegenwärtig in Planung.
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sance-Humanismus geprägt haben, so die schon rein bibliographisch-quantitativ leicht verifizierbare Ausgangssituation. Für die Romania sind die Relevanz und das enorme performativ fundierte Wirkungspotential dialogischer Literatur im Kontext theoretischer Diskurse der Renaissance in zwei von Klaus W. Hempfer geleiteten Projekten innerhalb des Berliner Sonderforschungsbereichs ,Kulturen des Performativen‘ untersucht worden,6 jüngst mit speziellem Fokus auf der Dialogliteratur der Renaissance.7 Bernd Häsner schließt in seinem Beitrag (225–251) an den in Berlin erreichten Forschungsstand an, indem er die Dialog-Poetik Torquato Tassos (Discorso dell’arte del dialogo [1585]) mit einem Dialog Tassos (Il Cataneo overo de le conclusioni amorose [1590/91]) en d¦tail vergleicht. Dabei stellt er schon gleich anfangs heraus, dass der ausgewählte Dialog zwei Aspekte in besonderer Weise akzentuiert, die in der Dialog-Poetik marginalisiert, bestenfalls in dem definitorischen, wenngleich nicht näher erläuterten Lexem imitazione inkludiert sind: Das komplexe „Verhältnis von Fiktion und lebensweltlicher Realität“ und „das Verhältnis von schriftlicher und mündlicher Rede“. Insbesondere die Untersuchung des zweiten Aspekts zeitigt im Ergebnis ein Tableau von sechs pointierten, komplementären Schlussfolgerungen, die weit über Torquato Tasso hinaus im Transfer ihr Anregungspotential entfalten. Edeltraud Werner (253–289) vermag in ihrem Vergleich von Baldassare Castigliones Il Cortegiano (1528) und Moderata Fontes Il merito delle donne (1592) zu zeigen, dass polemische Rhetorik offensichtlich ein zentrales und gleichsam ,ideales‘ Strukturelement des Geschlechterdiskurses ist, wobei in den exemplarischen Analysen deutlich wird, wie die inszenierten Streitgespräche nicht nur ihren generisch vorgegebenen spielerisch-agonalen Charakter explizieren, sondern implizit und explizit polemische Argumentations- und Widerspruchsstrategien ausloten, die in Argumenten der Tradition, der klassischen Autoritäten des Geschlechterdiskurses, zugleich aber auch in den mentalitätsgeschichtlichen, soziologischen, innerweltlichen Rahmenbedingungen und Kontexten gründen. Von Seiten der Mittellateinischen Philologie8 sind ebenfalls wichtige Grundlagen geschaffen worden, von denen aus die Kontinuitäten zwischen mittelalterlichen und humanistischen lateinischen Dialogen in den Blick ge6 Einschlägig sind in diesem Kontext insbes. folgende Publikationen: Hempfer (2002, 2004, 2006); Hempfer/Pfeiffer (2002); Friedlein (2004, 2005); Hempfer/Traninger (2005, 2007, 2008); Lozar/Felfe (2006). 7 „Performativität und episteme: die Dialogisierung des theoretischen Diskurses in der Renaissance-Literatur (Italien, Frankreich, Spanien)“ und „Differenzen und Interferenzen: der Dialog in seinem Verhältnis zu anderen Gattungen des theoretischen Diskurses in der Renaissance“. Die Projektarbeiten wurden Ende 2010 abgeschlossen. 8 Siehe insbesondere die Publikationen von Peter von Moos (2006).
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nommen werden können. Insbesondere hat Carmen Cardelle de Hartmann die zwischen 1200 und 1400 verfassten lateinischen Dialoge erstmals in systematischer Weise erschlossen und literaturhistorisch untersucht.9 Ihr Beitrag in diesem Band (37–61) widmet sich diesem Spannungsfeld (mittelalterlich-scholastisch vs. humanistisch) anhand der Analyse von Enea Silvio Piccolominis Libellus dialogorum de generalis concilii auctoritate et gestis Basiliensium (1440). Struktur- und Detailanalysen konzentrieren sich auf zwei, unmittelbar mit einander verknüpfte Fragekomplexe, erstens „welche für Piccolomini die unverzichtbaren Aspekte eines humanistischen Dialogs waren, die sogar unter diesen besonderen Umständen bewahrt werden mussten“, und zweitens, seine rhetorische Strategie, sein Werk für ein primär scholastisch geprägtes Publikum annehmbar zu machen. In der rhetorischen Textur seines Dialogs verzichtet er dabei weitgehend auf juristisches Fachvokabular, bildet in seiner nicht durchgängig antikisierenden elocutio auch volkssprachliche Wendungen nach und führt Neologismen ein. Dennoch verbleibt ein explizit ,humanistischer‘ Kern, der dem äußerlichen Streitgespräch über ein höchst brisantes politisches Thema als wenigstens genauso bedeutend korrespondiert: Das inszenierte Ringen und die Diskussion um die Angemessenheit der Sprache (Wortwahl, Argumentation, Schriftlichkeit, Mündlichkeit, etc.), oder auch „wie Sprache zu Literatur und die Rede zum Dialog wird“. Auf einen in der bisherigen Forschung weitgehend vernachlässigten Aspekt der Formierungsphase des Pariser Renaissance-Humanismus in den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts konzentriert Marc Laureys seinen Artikel (63–85), indem er auf der Basis einer Struktur- und Detailanalyse von Girolamo Balbis Dialogus de glorioso rhetore (1487) den mit immer wieder harschen Worten, in polemischen Attacken und Gegenschlägen ausgetragenen Konflikt zwischen Guillaume Tardif und Girolamo Balbi (re-)konstruiert. Der ungeachtet einer beeindruckenden Variationsbreite in der Kunst der ad-hominem-Attacken aufscheinende Kern des Disputs ist die stilistische, generische und ästhetischfunktionale Angemessenheit der Sprache, des Lateins der Humanisten, wobei sich die Kontrahenten beide explizit in die Classical Tradition einordneten und diese durchgängig als res- wie stilfokussierte Modelle reklamierten. Der Beitrag Arnold Beckers (87–110) analysiert, ausgehend von Ulrich von Huttens Beteiligung an den Epistolae obscurorum virorum, der er seine Expertise in der mimetischen Satire verdankt, die Strategien polemischer Positionierung in den zwölf lateinischen Dialogen Huttens, und fokussiert in der Gesamtschau gleichermaßen typologisch-formale, literatur- und kommunikationstheoretische wie auch sozial- und mentalitätsgeschichtliche Aspekte. Das Verhältnis zwischen lateinischen und volkssprachlichen Dialogen und 9 Vgl. Cardelle de Hartmann (2007).
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damit die unterschiedlichen und nicht in jedem Fall immer distinkten Segmente von adressierten Öffentlichkeiten werden neben den romanistischen Beiträgen insbesondere auch für den englischen Bereich in den Fokus gerückt. Wolfgang G. Müller10 stellt in seinem zunächst definitorisch-strukturell ausgerichteten Beitrag (17–35) Prinzipien einer allgemeinen Poetik des Dialogs vor, grenzt die Gattung Dialog von Konversation und Traktat ab, untersucht die Relation von Fiktionalität und Realität und entwickelt insgesamt acht Kriterien, die zumindest mehrheitlich im Einzelfall für eine ,Etikettierung‘ eines Werks als ,Dialog‘ erfüllt sein sollten. An zwei weniger bekannten Dialogen von Sir Thomas Smith (A Discourse of the Commonweal of this Realm of England [1549], A Communication or Discourse of the Queen’s Highness’s Marriage [1561]) werden die theoretischen Vorgaben und Distinktionen in der interpretatorisch-praktischen Anwendung illustriert. Als besonders fruchtbar hat sich im Verlauf der Tagung erwiesen, dass die unterschiedlichen Betrachtungsweisen der beteiligten latinistischen, anglistischen und romanistischen Literaturwissenschaftler/innen, die sich polemischen Renaissance-Dialogen jeweils aus der Perspektive ihres eigenen Faches genähert haben, zusammengeführt werden konnten. Erst eine möglichst interdisziplinäre, multiperspektivische und auf einem breiten Methodenspektrum beruhende Vorgehensweise scheint für die Analyse eines so vielschichtigen und facettenreichen Phänomens, wie es die Polemik im Renaissancedialog darstellt, angemessen zu sein. Als ein weiteres Ergebnis der Tagung lässt sich festhalten, dass der Komplexität des Gegenstandes und der Variationsbreite der realen literarisch-künstlerischen Repräsentationen am ehesten durch die Verbindung von Perspektiven gerecht werden lässt, die den Gegenstand ,Dialog‘ sowohl vom Zentrum als auch von den Rändern her in den Blick nehmen. Da sich eine allzu enge Definition des Gegenstandes ,Dialog‘ von vornherein verbietet, ist hier einem breiteren Verständnis von Dialog Raum gegeben worden, in dessen Zentrum der Dialog als literarisches Genre steht, das jedoch auch dialogische Formen in anderen literarischen Genera einbezieht und so erst Analysen der Grenzverläufe zwischen den jeweiligen Genera ermöglicht. Ein erstes Beispiel für die analytisch-interpretatorische Fruchtbarkeit einer solchen begrifflichen Offenheit ist der Beitrag von Uwe Baumann (111–153). Ungeachtet ihrer zum Teil gravierenden Unterschiede in Sprache, Stil, Gattung und Argumentationsstrategie, können ausnahmslos alle sechzehn polemischen Pamphlete, Invektiven oder Streitschriften des Sir Thomas More ihrer rhetorischen Anlage, ihrem Gehalt und ihren Zielsetzungen nach als polemische Dia-
10 Siehe insbes. schon Müller (2004).
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loge konzeptualisiert werden, obwohl nur die wenigsten in einem streng generischen Sinne ,Dialoge‘ sind. Bei weiteren Untersuchungen sind auch für die Frage, inwieweit der polemische Dialog etwa im Lichte von Ergebnissen der Prototypentheorie (Rosch, Lakoff; vgl. Wittgensteins Familienähnlichkeit) als sinnvolle (Unter-)kategorie11 innerhalb der literaturwissenschaftlichen Taxonomie und Typologie dienen kann, relevante Ergebnisse erzielt worden. Das Verhältnis von literarischem Dialog und Dialogizität als grundlegender Form menschlicher Kommunikation ist dabei ebenso von Interesse wie das weitere Spannungsfeld zwischen Oralität und Literalität12 und die Frage, inwieweit die Renaissance als dialogisches Zeitalter gelten kann.13 Ausgehend vom Dialogischen als literarischer Oberflächenform stellt die spezifische Ausgestaltung diskursiver und narrativer Elemente innerhalb literarischer Dialoge ein weiteres ergiebiges Untersuchungsfeld dar. Der Beitrag von Uwe Baumann expliziert (171–223) wie ein ,Dialog‘ (William Thomas’ The Pilgrim [1547]) sich als theoriebewusster Beitrag zur humanistischen Historiographie inszeniert – eine These, die durch figurale Einzelinszenierungen in weiteren englischen Renaissance-Dialogen plausibilisiert und gestützt wird. Ob dieses ein singuläres, auf England beschränktes Phänomen ist, werden weitere Untersuchungen zeigen müssen, zumal speziell der Renaissance-Dialog in England von der Forschung bisher bei weitem nicht so gut erschlossen ist wie etwa der Renaissance-Dialog der Romania. Gislind Rohwer-Happe nutzt in ihrem Beitrag (155–169) die moderne Narratologie und ihre Theoriebildung, insbesondere das Konzept der unreliable narration zu einer detaillierten Gesamtanalyse von Sir Thomas Elyots The Defence of Good Women (1540), wobei speziell die überraschenden Detailergebnisse zur theoretisch-didaktischen Reflexion des eigenen Standpunkts, der inszenierten Positionierung und vielleicht auch zu einer neuen Konzeptualisierung der rhetorisch-erzählerischen Strategien innerhalb eines ,Dialogs‘ zurückführen. In Ergänzung bisheriger Studien zu ,Dialog‘ und ,Dialogizität‘ im Drama 11 Vgl. dazu den Beitrag von Müller in diesem Band (17–35). 12 Es war ein in seiner theoretischen Bedeutung nicht zu unterschätzendes Ergebnis der Diskussionen, in welch hohem Maße die untersuchten Texte selbst (und damit selbstreferentiell oder metaliterarisch), Sprachen wie Länder übergreifend, dieses Spannungsfeld immer wieder diskursiv ausgeleuchtet und adressiert haben. 13 Dass die europäische Renaissance insbesondere auch in höchst unterschiedlichsten Facetten von ,Streitkultur‘ ihren spezifischen Epochencharakter ausprägte, darf dabei als unstrittig gelten. Vgl. zuletzt Lines/Laureys/Kraye (2015b), 7: „We believe that this culture of opposition, contention, confrontation, and competition […] was in many ways central to the period’s cultural achievements. It was prominent in both the socio-political realm and in the literary, artistic, legal, religious, and philosophical production of the Renaissance, and functioned as a catalyst for a wide range of cultural developments“.
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Shakespeares und seiner Zeitgenossen14 konzentriert Imke Lichterfeld (291– 315) ihre Untersuchung zu William Shakespeares Problemkomödie Measure for Measure (1603/04) vornehmlich auf die Frage, ob die Berücksichtigung der gattungskonstituierenden Strukturmerkmale der Gattung ,Dialog‘ für die Deutung des Dialogs, der Dialoge speziell im fünften Akt des Dramas neue, ergänzende, vertiefende Perspektiven eröffnen. Im Ergebnis bleibt zumindest – und damit schließt sich der thematische Bogen der Beiträge – das in seinen Funktionen kaum zu überschätzende enorme performative Potential der Dialoggestaltung festzuhalten. Unter Polemik, der zweiten Untersuchungsperspektive dieses Bandes und der zugrunde liegenden Tagung, wird eine aggressive Rede- und Schreibweise verstanden, die nicht ausschließlich an sachlicher Auseinandersetzung orientiert ist, sondern auch auf weitere Wirkungen insbesondere im Kontext von soziopolitischen Formierungsprozessen abzielt. Infolge dieser Funktion sind Polemiken außer durch ihre argumentative Struktur durch den spezifischen Bezug auf das adressierte Publikum gekennzeichnet. „Ziel der Polemik ist nicht ein Sinneswandel des Gegners, sondern die Erregung von Aversionen gegen ihn beim Publikum“15. Polemische Literatur ist daher wesentlich von vielfältigen Formen der Inszenierung gekennzeichnet, denen wiederum im ,Dialog‘ besonders wirkungsvoll Ausdruck verliehen werden kann. Wie Barbara Bauer16 anhand der Entwicklung reformatorischer Diskurse zwischen 1521 und 1541 beispielhaft gezeigt hat, ist das Vordringen von Polemik wesentlich verbunden mit der Wahrnehmung von Störungen der Kommunikationssituation. Diese beruht auf der Einschätzung, dass von der gegnerischen Seite Prinzipien und Möglichkeitsbedingungen gelungener Kommunikation missachtet und verletzt werden. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Aufrichtigkeit als Voraussetzung für gegenseitiges Vertrauen in Frage gestellt und davon ausgegangen wird, dass die Kommunikation nur zum Schein geführt und die Durchsetzung von Interessen der Verständigung übergeordnet wird.17 Diese Einschätzung, dass das Kooperationsprinzip18 innerhalb der Kommunikationssituation aufgegeben wird, mag diese nun gerechtfertigt sein oder auch nicht, generiert die Erkenntnis und zukünftige Erwartung, dass rationale Überzeugungsversuche nur geringe oder keine Erfolgsaussichten (mehr) haben. In einer solchen Situation erscheinen der Übergang zu polemischen Formen und die Neuausrichtung der Kommunikation hin auf die Stabilisierung der ei14 15 16 17 18
Vgl. exemplarisch Müller (1998) und Albers (2007). Scheichl (2003), 118. Vgl. Bauer (1996), 37–71. Vgl. insbes. Bauer (1996), 53. Vgl. allgemein zum Begriff, zur Theorie und zu den pragmatischen Konsequenzen Sarangi/ Slembrouck (1992).
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genen Gruppe als insgesamt ebenso plausible Handlungsoption zur Stärkung der eigenen Position. Und so wird die polemische Textur einzelner Dialoge, ungeachtet der jeweils individuellen künstlerisch-rhetorischen Anlage, zugleich auch immer wieder zum funktionalen Medium, das Inklusion und/oder Exklusion generiert, jeweils bezogen auf die adressierten Leser- und Zuhörergruppen. Die schöne und einprägsame Junktur ,polemischer Dialog‘, die der Arbeitstagung ihren Titel gab, kann im Einzelfall einen Dialog durchaus zutreffend charakterisieren, als Untergattungs- oder gattungsähnlicher Begriff birgt sie jedoch den Nachteil, dass ein weiteres Gattungsverständnis, das den Dialog sowohl vom Zentrum als auch von den Rändern her konzeptualisiert, erschwert würde. Auf einer ganz pragmatischen Ebene zeitigt dieses konsensuale Nebenergebnis der Arbeitstagung praktische Konsequenzen für den Titel dieser Dokumentation und für den Titel des Vorworts. Ebenso pragmatisch sind im Folgenden die einzelnen Beiträge angeordnet: Dem wesentlich definitorischstrukturell ausgerichteten Beitrag von Wolfgang G. Müller folgen die übrigen neun Beiträge in der chronologischen Reihenfolge der behandelten Texte, wiewohl selbstverständlich auch andere Anordnungen möglich gewesen wären. So jedoch, mit dem Wechsel zwischen der Analyse lateinischer und volkssprachlicher, primär italienischer und englischer Dialoge, der exemplarischen Konzentration auf einzelne Dialoge oder der Würdigung eines Gesamtwerkes, wird die Dokumentation zu einem Spiegelbild der Sprachen, Länder und Fächer übergreifenden, interdisziplinären Forschungs-, Diskussions- und Streitkultur der Arbeitstagung. Die Herausgeber danken der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn für die großzügige Unterstützung der Tagung und der Drucklegung dieses Bandes, woran auch der Verlag Bonn University Press (insbesondere Susanne Franzkeit) einen über die Betreuung des Druckes hinausgehenden namhaften Anteil hat. Ein herzliches Dankeschön gilt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die uns beim Korrekturlesen in den einzelnen Stadien der Entstehung des Bandes kompetent unterstützt haben, namentlich Christina Stricker, Sarah Cordes, Sarah Fißmer und Jannik Reiners. Letzterem verdanken wir ebenfalls maßgebliche Unterstützung bei der Erstellung des Index Nominum. Großer Dank gebührt den Beiträgerinnen und Beiträgern der Tagung und des Bandes für die äußerst konstruktive und angenehme Zusammenarbeit, die sich als veritabler Gegenpol zur oft ritualisierten wissenschaftlichen Streitkultur im Vorfeld solcher Publikationsprojekte erwiesen hat. Die hier vorgelegten Ergebnisse sind ihrerseits Produkte der notwendigen ,Streitkultur‘ der Arbeitstagung, zugleich aber auch Teil der institutionalisierten, ritualisierten ,Streitkultur‘ im Rahmen der Wissenschaftsdiskurse unterschiedlicher Fach-
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richtungen, auch, oder vielleicht sogar gerade weil sich alle Beiträgerinnen und Beiträger über das Dictum des Horaz hinweg gesetzt und die dort vorgeschlagenen neun Jahre mit der Drucklegung nicht gewartet haben.19 Die hier versammelten Beiträge könnten dem interdisziplinären wissenschaftlichen Dialog über den Dialog der Renaissance im Detail die eine oder andere innovative Perspektive vermitteln und diesen vielstimmigen Dialog um einige ansonsten kaum vernehmbare Stimmen bereichern.
Bibliographie Albers, Bettina: Normabweichungen im Gesprächsverhalten in Shakespeares Komödien (Jenaer Studien zur Anglistik und Amerikanistik, Bd. 11), Trier : WVT 2007. Bauer, Barbara: „Die Rhetorik des Streitens. Ein Vergleich der Beiträge Philipp Melanchthons mit Ansätzen der modernen Kommunikationstheorie“, in: Rhetorica 14 (1996), 37–71. Baumann, Uwe; Arnold Becker; Astrid Steiner-Weber (Hgg.): Streitkultur. Okzidentale Traditionen des Streitens in Literatur, Geschichte und Kunst (Super alta perennis. Studien zur Wirkung der Klassischen Antike, Bd. 2), Göttingen: Bonn University Press 2008a. Baumann, Uwe; Arnold Becker; Astrid Steiner-Weber : „Vorwort“, in: Baumann/ Becker/Steiner-Weber (2008a), I–V (2008b). Cardelle De Hartmann, Carmen: Lateinische Dialoge 1200–1400. Literaturhistorische Studie und Repertorium (Mittellateinische Studien und Texte, Bd. 37), Leiden, Boston: Brill 2007. Friedlein, Roger : Der Dialog bei Ramon Llull. Literarische Gestaltung als apologetische Strategie, Tübingen: Niemeyer 2004. Friedlein, Roger (Hg.): El dilogo renacentista en la Pennsula Ib¦rica. Der Renaissancedialog auf der Iberischen Halbinsel, Stuttgart: Steiner 2005. Hempfer, Klaus W. (Hg.): Möglichkeiten des Dialogs. Struktur und Funktion einer literarischen Gattung zwischen Mittelalter und Renaissance in Italien, Stuttgart: Steiner 2002. Hempfer, Klaus W. (Hg.): Poetik des Dialogs. Aktuelle Theorie und rinascimentales Selbstverständnis, Stuttgart: Steiner 2004. Hempfer, Klaus W. (Hg.): Grenzen und Entgrenzungen des Renaissancedialogs, Stuttgart: Steiner 2006. Hempfer, Klaus W.; Helmut Pfeiffer (Hgg.): Spielwelten. Performanz und Inszenierung in der Renaissance, Stuttgart: Steiner 2002. Hempfer, Klaus W.; Anita Traninger (Hgg.): Macht – Wissen – Wahrheit, Freiburg i. Br.: Rombach 2005. Hempfer, Klaus W.; Anita Traninger (Hgg.): Dynamiken des Wissens, Freiburg i. Br.: Rombach 2007. 19 Wir nutzen dankbar einige Formulierungen von Baumann/Becker/Steiner-Weber (2008a), V.
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Uwe Baumann / Arnold Becker / Marc Laureys
Hempfer, Klaus W.; Anita Traninger (Hgg.): Der Dialog im Diskursfeld seiner Zeit – von der Antike bis zur Aufklärung, Stuttgart: Steiner 2008. Laureys, Marc; Roswitha Simons (Hgg.): Die Kunst des Streitens. Inszenierung, Formen und Funktionen öffentlichen Streits in historischer Perspektive (Super alta perennis. Studien zur Wirkung der Klassischen Antike, Bd. 10), Göttingen: Bonn University Press 2010. Laureys, Marc; Roswitha Simons (Hgg.): The Art of Arguing in the World of Renaissance Humanism (Supplementa Humanistica Lovaniensia, Bd. 34), Leuven: Leuven University Press 2013. Lines, David A.; Marc Laureys; Jill Kraye (Hgg.): Forms of Conflict and Rivalries in Renaissance Europe (Super alta perennis. Studien zur Wirkung der Klassischen Antike, Bd. 17), Göttingen: Bonn University Press 2015a. Lines, David A.; Marc Laureys; Jill Kraye: „Foreword“, in: Lines/Laureys/Kraye (2015a), 2015b. Lozar, Angelika; Robert Felfe (Hgg.): Frühneuzeitliche Sammlungspraxis und Literatur, Berlin: Lukas 2006. Moos, Peter von: Rhetorik, Kommunikation und Medialität. Gesammelte Studien zum Mittelalter, Bd. 2, hg. v. Gert Melville (Geschichte: Forschung und Wissenschaft, Bd. 15), Münster : Lit 2006. Müller, Wolfgang G.: „Dialogue and Dialogicity in Renaissance Drama“, in: FritzWilhelm Neumann; Sabine Schülting (Hgg.), Proceedings/Anglistentag 1998 Erfurt, Trier : WVT 1999, 211–224. Müller, Wolfgang G.: „Dialog und Dialogizität in der Renaissance“, in: Wolfgang G. Müller ; Bodo Guthmüller (Hgg.), Dialog und Gesprächskultur in der Renaissance (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung, Bd. 22), Wiesbaden: Harrassowitz 2004, 16–30. Sarangi, S. K.; S. Slembrouck: „Non-Cooperation in Communication: A Reassessment of Gricean Pragmatics“, in: Journal of Pragmatics 17 (1992), 117–154. Scheichl, Sigurd Paul: Art. „Polemik“, in: Jan-Dirk Müller (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 3, P-Z. [3. neubearb. Aufl.]. Berlin, New York: de Gruyter, Sp. 117–120.
Wolfgang G. Müller (Jena)
Prinzipien einer Poetik des Dialogs, dargestellt am Beispiel des Prosadialogs der englischen Renaissance
Das Problem Der englische Prosadialog hat, anders als der italienische und französische Dialog der Renaissance, relativ wenig Beachtung erfahren. Das zeigt sich z. B. in dem 2009 erschienenen Handbook of Tudor Literature, in dem ein eigener umfassender Artikel über den Dialog fehlt. Das Handbuch enthält zwar einen wichtigen Beitrag von Phil Withington, der sich aber nur mit zwei Dialogautoren um die Mitte des 16. Jahrhunderts befasst. Auch die Arbeit von Oliver Schoell (2004) behandelt einen begrenzten Zeitraum, 1528–1545, und unterzieht nur vier Dialoge einer genaueren Untersuchung. Eine eigene Bestimmung des Gattungsprofils des Dialogs wird nicht versucht. Die neueste Veröffentlichung über den englischsprachigen Dialog, ein von Till Kinzel und Jarmina Mildorf herausgegebener Sammelband (2011), lässt den Dialog der englischen Renaissance weitgehend unberücksichtigt. Horst Seidls knapper Beitrag zu diesem Band zieht Mores Utopia und Bacons New Atlantis heran, um das Verhältnis von fiktionalen und philosophischen Dialogen zu klären, und Jürgen Meyers Artikel zur Epoche der Renaissance versteht den Dialog in Bachtins Sinn als Kommunikation zwischen Autor und Rezipienten. Auf „the fixed genre of the dialogue proper“ geht er nicht ein.1 Was ist der Grund für die Vernachlässigung des englischen Dialogs der Renaissance? Zum einen ist diese Literaturform in England lange Zeit zu Unrecht unterschätzt worden, z. B. von Peter Mack, demzufolge die englischen gegenüber den kontinentalen Dialogen von minderer Qualität seien. Zum anderen verlangt die Untersuchung des Dialogs eine komparatistische Kompetenz, die viele Anglisten nicht besitzen. Wer sich mit dem Dialog beschäftigt, muss Kenntnisse der Antike besitzen, ohne die das Wiederaufleben des Dialogs in England nicht verständlich ist, was auf keinen Fall heißen soll, dass die englischen Dialoge nur Nachahmungen antiker Formen seien. Außerdem muss der englische Dialog im Kontext der europäischen, be1 Meyer (2011), 44.
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sonders der italienischen Dialogliteratur gesehen werden. Wer z. B. in der englischen Renaissance nach einer Poetik des Dialogs sucht, wird, abgesehen von einigen Bemerkungen in Sir Philip Sidneys Defense of Poesie (1579–80), nicht fündig werden. Man muss auf italienische und französische Poetiken zurückgreifen, insbesondere auf Speronis Abhandlung über den Dialog, was später noch getan werden soll. Was Baldassare Castigliones Dialog Il Cortegiano (1528) betrifft, so gehört dieses Werk in der Übersetzung von Sir Thomas Hoby (1561) zur englischen Literatur. Die englische Kultur der Renaissance wäre ohne diesen Text nicht denkbar. Dabei handelt sich allerdings um ein Werk, das kaum Einfluss auf den englischen Prosadialog der Epoche ausgeübt hat. Anders als der italienische Dialog gehören die englischen Vertreter der Gattung weniger in den Kontext der höfischen Kultur. Das mag ein Grund dafür sein, dass Frauen als Gesprächspartner in den englischen Dialogen mit einer Ausnahme, Sir Thomas Elyots The Defence of Good Women (1540), nicht vorkommen.2 Die englische Dialogkultur ist weitgehend Männersache, sie wird in der Hauptsache von gelehrten Männern gepflegt. Insofern tut sich hier eine Kluft auf zwischen den Vertretern der Gattung des Prosadialogs und den Dialogen etwa in Shakespeares Komödien, in denen weibliche Figuren dominieren und an Witz und Argumentationskunst ihre männlichen Gesprächspartner in den Schatten stellen. Im Folgenden sollen die historischen und kulturellen Kontexte der Gattung des Prosadialogs in der Renaissance erläutert werden, und es soll, vorwiegend mit Blick auf die englischen Vertreter der Gattung, versucht werden, die Gattungseigentümlichkeiten des Dialogs herauszuarbeiten. Der Versuch, mit Bezug auf englische Texte Grundsätze einer Poetik des Dialogs zu formulieren, soll einen Betrag zur Rehabilitierung des zu Unrecht vernachlässigten und unterschätzten englischen Dialogs leisten.
Die Renaissance als dialogisches Zeitalter In der Renaissance-Forschung gibt es eine in den letzten Jahrzehnten immer stärker gewordene Tradition, für die in der Kultur der Epoche Phänomene wie Dialog, Debatte und Konversation von zentraler Bedeutung sind und die für das Zeitalter eine stärkere Gewichtung des dialogischen Skeptizismus gegenüber
2 In ihrem Beitrag im vorliegenden Band stellt Gislind Rohwer-Happe aufgrund einer Untersuchung der unzuverlässigen Momente in der Darstellung, die auf das narratologische Konzept der unreliable narration zurückgreift, fest, dass es sich in dem Text nicht um die angekündigte Defence of Good Women handelt, sondern um das Gegenteil. Der Text bietet also nicht, was sein Titel verspricht.
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dem monologischen Dogmatismus postulieren.3 Dabei lässt sich ein Zusammenhang zwischen dem Aufschwung der Rhetorik in der Epoche und der zunehmenden Bedeutung dialogischer Ausdrucksformen feststellen. Bedeutende Forscher, allen voran Heinrich F. Plett mit seinem Werk Rhetoric and Renaissance Culture (2004), haben die Renaissance als eine rhetorische Kulturepoche bezeichnet. Wenn man aber die Renaissance als eine rhetorische Kulturepoche bestimmt – was durchaus angemessen ist –, muss man ergänzend hinzufügen, dass die Renaissance in besonderem Maße auch ein dialogisches Zeitalter ist.4 Diese beiden Bestimmungen der Kulturepoche der Renaissance stehen in engstem Zusammenhang. Der Aufschwung der Rhetorik führte geradezu zwangsläufig zu einem Aufschwung des Dialogs. Peter Burke sagt mit gutem Grund: „The rise of rhetoric during the Renaissance was another stimulus to the dialogue, which offered a dramatic presentation of arguments pro and contra […].“5 Das Prinzip des Dialogischen ist in die Kultur der Epoche eingeschrieben. Das Dialogische manifestiert sich markant in der Erziehung der Renaissance, wo großer Wert auf die von Burke genannte Fähigkeit gelegt wurde, gegensätzliche Standpunkte zu ein und demselben Sachverhalt vertreten zu können (argumentum in utramque partem disserere), und in der Literatur, die wie etwa Thomas Morus’ Utopia, Erasmus’ Ciceronianus und Castigliones Il cortegiano vielfach den Charakter eines unabgeschlossenen Dialogs oder einer offenen Debatte annimmt. Die Freude am kontradiktorischen Argument zeigt sich, um ein Einzelbeispiel anzuführen, bei dem englischen Autor Thomas Lodge in A Defence of Poetry in der Weise, dass er seinem Gegner in der Debatte, Stephen Gosson, sagt, er wolle ihm helfen und sein schwaches Argument stärker machen, nur um es, nachdem er es aufgebaut habe, wieder zu zerstören.6 Epistemologisch kann das Bewusstsein kontradiktorischer Sichtweisen auf ein und denselben Sachverhalt zu einem Relativismus und Skeptizismus führen, wie bei Montaigne, der in seinem 47. Essay im Zusammenhang mit der Koinzidenz von pro und contra von einer Unsicherheit des Urteils spricht. Der Zweifel kann aber auch als Weg zu Wahrheit aufgefasst werden wie bei Thomas Starkey, bei dem es in dem 1529 entstandenen Werk A Dialogue between Reginald Pole and
3 Vertreter dieser Tradition sind z. B. Struever (1970), Altman (1978), Kahn (1984), Sloane (1985), Kinney (1989), Müller (1999). 4 Siehe Stierle (1984). Für L. Batkin (1981), 269, ist der Dialog „eine der umfassendsten logischhistorischen Definitionen der Epoche“. Die Charakterisierung der Renaissance als dialogisches Zeitalter ist allerdings nicht unwidersprochen geblieben. Aus mediävistischer Sicht wird sie kritisiert von Peter von Moos (1989), 268. Ein Renaissanceforscher, der behauptet, dass die Renaissance vom Standpunkt der Rhetorik gesehen eine monologische Epoche sei, ist Rebhorn (1995). Hierzu Müller (2004). 5 Burke (1989), 7–8. 6 Zitiert in Smith (1904), I, 73.
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Thomas Lupset heißt: […] doubting, you know, bringeth the truth to light.7 Die Renaissance hat sich auch theoretisch mit dem Dialog auseinandergesetzt und ihn, an Aristoteles anknüpfend, als Mischgattung zwischen Prosa und Drama8 und zwischen Philosophie und Dichtung9 bestimmt. Der Dialog wird insofern vom Drama abgegrenzt, als er nicht Handlung, sondern Gedanken- und Argumentationsprozesse nachahme.
Der Dialog als humanistische Gattung Einer der Gründe für die große Präsenz des Dialogs in der Renaissance liegt in dem für die Epoche kennzeichnenden Rückgang zur Antike, was sich besonders deutlich im philosophischen Dialog zeigt, wo das dialogische Prinzip in Anlehnung an den platonischen Dialog zum Mittel der Wahrheitssuche und des Erkenntnisgewinns wird. Das antike Vorbild zeigt sich markant bei Autoren wie dem italienischen Platoniker Ficino, der Sokrates als Dialogpartner auftreten lässt, und bei dem englischen Humanisten Sir Thomas Elyot, bei dem Platon als Gesprächspartner figuriert. Mit welcher Selbstverständlichkeit die Humanisten die Antike rezipierten, zeigt sich darin, dass der zuletzt genannte Autor in seinem Dialog Of The Knowledge Which Maketh a Wise Man den Griechen Platon Englisch sprechen lässt. Neben philosophischen gibt es auch poetologische, politische und religiöse Dialoge. Auch Sachtexte, Schriften, die der Kenntnisvermittlung dienen, etwa medizinische oder juristische Texte, benutzen vielfach die dialogische Präsentationsform. Und auch in derartigen Texten ist der Bezug auf die Antike vielfach gegeben. Ein aufschlussreicher Fall ist in diesem Zusammenhang ein Text über die in England beliebte Sportart des Bogenschießens von Roger Ascham aus dem Jahre 1545 – Toxophilus –, der sich als Dialog zwischen einem Freund des Bogenschießens, Toxophilus, und einem Freund des Bücherwissens, Philologus, darstellt. Ausgerechnet der Befürworter der körperlichen Ertüchtigung durch den Sport, Toxophilus, erscheint am Beginn des Dialogs als Leser des Phaidros, eines der berühmtesten Dialoge Platons. Am Ende des Dialogs, in dem Toxophilus seinen Gesprächspartner in zunehmend traktathafter Form über die Kunst des Bogenschießens unterrichtet hat, nimmt man sich vor, den Dialog demnächst fortzusetzen. Toxophilus erklärt, er wolle dann mit Philologus über antike Philosophie, Platon, Aristoteles und die Stoiker sprechen. Als Humanist gibt sich Toxophilus auch während seiner Ausführungen über den Sport zu erkennen, wenn er Beispiele (exempla) aus der antiken 7 Starkey (1948), 41. 8 Sperone Speroni: Apologia dei dialogi (1575). 9 Sir Philip Sidney : The Defense of Poesie (1779–80).
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Literatur über das Bogenschießen anführt. Von einem Traktat unterscheidet sich Toxophilus durch seine dialogische Form, der unterschiedliche Sichtweisen der beiden Gesprächspartner entsprechen.
Dialog als allgemeines sprachliches Phänomen und als Gattung Für ein Verständnis der Gattung des Dialogs ist es von großer Bedeutung, zwischen dem normalsprachlichen Dialog und dem Dialog, wie er in den Dialogen der Renaissance erscheint, zu unterscheiden. Das Wort Dialog kommt aus griech. di-logos ,Unterredung‘, ,Gespräch‘ von zwei oder mehr Personen. Ein Dialog, an dem nur zwei Personen beteiligt sind, wäre ein „Zwiegespräch“ oder „Duolog“. Die Vorsilbe „di“, also nicht zu verwechseln mit „di“ gleich ,zwei‘, bedeutet „hindurch“, „hinüber“. Entscheidend für den Dialog ist somit das Zum-Anderen-Sprechen, und die zweite unabdingbare Eigenschaft ist der Sprecherwechsel in nicht zu langen Abständen. Grundsätzlich unterscheiden sich der normalsprachliche und der Dialog als Gattung dadurch, dass in letzterer der Sprecherwechsel weniger häufig ist. Man mag eine solche statistische Beobachtung als unerheblich bezeichnen, aber es ist von wesentlicher Bedeutung, dass die Sprecher in einem Dialog die Zeit haben, ihre Argumentationsposition zum Ausdruck zu bringen. Nur wenn das der Fall ist, kann sich die für die Gattung zentrale Diskursivität ausbilden, obwohl auch Momente vorkommen, in denen sich die Sprecherwechsel wie in einer Stichomythie von Wort zu Wort oder von Satz zu Satz vollziehen, etwa in Thomas Elyots Of the Knowledge Which Maketh a Wise Man, wo Platon in rascher Folge Fragen stellt, die sein Gesprächspartner Aristipp knapp bejahend beantwortet: PLA. […] But yet me semeth we have spoken somwhat lasse of god than we shuld do. ARI. What meanest thou therby? PLA. For sens we bothe have agreed, that he is the fyrste begynnynge and cause: we shuld have also concluded, that all goodness proceded of hym, and the he was the fountayne and principall goodness. ARI. I admit al to be true that thou sayest. PLA. Than thou grauntest, that evyll is contrarie to god. ARI. Ye verily. PLA. And all thynge that is yl, is contrarie to that thing, whiche is good? ARI. Ye, surely. PLA. Those thinges that be contrarie one to an other, be they lyke in that, wherin they be contrarie? ARI. No truely.
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PLA. Than it semeth, that they be unlyke? ARI. So it appereth.10
Ebenso nimmt der Protagonist Thomas Morus an einzelnen Stellen den Boten geradezu ins Kreuzverhör : Is there quod I any mo very chyrches of cryst than one? No mo quod he. Is not yt it quod I yt is true? Yes quod he. Be not quod I then all yt sects of heresyes false? Yes quod he. Who is lykely quod I to fayne & lye/ yt company that is the true parte or some of them yt be false/ than yt company yt is the true parte. Than false & and fayned miracles quod I/ be they lyes or not? What else quod he. Then quod I by your arguzment it semeth yt they were moche more lykely to be among euery secte of heretykes in yt chyrch. Se semeth it quod he.11
In beiden Fällen wird ein syllogistisches Argumentieren dialogisch entfaltet, wobei der Fragende eine Position der absoluten Dominanz einnimmt. Derartige Formen des Zwiegesprächs, die trotz ihres Räsonierens dem Katechismus nahekommen und in denen die Antwort gleichsam suggeriert oder gar erzwungen wird, sind in den Renaissance-Dialogen allerdings eher die Ausnahme. Ein weiteres statistisch belegbares Phänomen ist die Frage, ob jemand in den Dialogen öfter das Wort nimmt oder länger spricht, und ob jemand eher der Fragende oder der Antwortende ist. Extreme Beispiele der Dominanz des Fragenden liegen in den beiden soeben zitierten Dialogpassagen vor. In solchen Asymmetrien können sich der höhere soziale Stand oder die größere Eloquenz und das stärkere Argumentationsvermögen bekunden. Wenn die Redebeiträge in einem Dialog zu lang werden und die Sprecher geradezu monologisieren, rückt der Dialog in die Nähe des Traktats. Der Sprecherwechsel, der einhergeht mit der Formulierung unterschiedlicher oder gegensätzlicher Urteils- und Argumentationspositionen, ist eine essentielle Eigenschaft des Dialogs, wobei ein gewisser Umfang der Redebeiträge für die Etablierung der für die Gattung so wichtigen Diskursivität erforderlich ist. Gerade wenn ein Sprecher die gewünschten Antworten in der Form des Katechismus erzwingt, sind wahre Dialogizität und Diskursivität nicht gegeben.12 10 Elyot (1946), 43. 11 More (1981), 241–242. 12 Gegenüber „genuin dramatischen Texten“ weisen Dialoge u. a. „eine niedrigere Sprecherwechselfrequenz“ und „größere Replikenlänge“ und „eine Dominanz argumentbezogener
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Ein Vergleich zwischen dem allgemeinsprachlichen Dialog und dem Dialog als Gattung lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die an und für sich selbstverständliche Tatsache, dass der literarische Dialog einen Autor hat, was beim normalen Gespräch nicht der Fall ist. Zur Rolle des Autors gibt es im Wesentlichen zwei Theorien.13 Die eine Auffassung ist die, dass der Autor jeweils einen Dialogcharakter privilegiere und als sein Sprachrohr benutze. Diese Annahme ist so offenkundig falsch, dass sich eine Auseinandersetzung mit ihr erübrigt. Wenn sich die Aussage des Dialogtexts aus den Gesprächsbeiträgen einer Figur herausfiltern lassen würde, dann brauchte man den Dialog als Form der Debatte nicht, dann würde es sich um eine bloße Scheindebatte handeln. Die andere Auffassung ist die, dass der Dialogtext als ganzer als Sprachrohr des Autors zu verstehen sei. Diese Auffassung hat insofern eine gewisse Plausibilität, als der Autor ja als Aussagesubjekt des Gesamttexts gelten muss. Häsner sagt in diesem Zusammenhang, „daß der Dialogtext, wie jeder fiktionale Text, als ,Makroproposition‘ eines Autors zu behandeln wäre, die semantisch komplexer ist als jede der in ihr enthaltenen Teilpropositionen“.14 Dennoch ist es problematisch, von einer Gesamtaussage oder gar -proposition des Dialogtexts zu sprechen. Liegt nicht ein Widerspruch darin, eine Gesamtaussage eines Texts anzunehmen, in dem es unversöhnliche Argumentationspositionen gibt und der einen offenen Schluss hat? Hier tut sich eine Kluft auf zwischen einer theoretisch durchaus plausiblen Auffassung und der Realität des Texts, die diese Auffassung nicht zulässt. Wenn der Dialogtext Dialogizität im strengen Sinne verkörpert, eine wahre Pluralität unterschiedlicher und strittiger Positionen in sich trägt und zu keinem Ziel gelangt, was sollte dann die ,Makroproposition‘ des Autors sein? – eine banale Aussage wie die, dass das Problem komplex ist und unterschiedliche Meinungen herausfordert, oder die, dass man sich darauf einigt, uneinig zu sein? Vielleicht ist hier auch nur die Verwendung des Begriffs ,Proposition‘ unglücklich. An anderer Stelle spricht Häsner davon, „die ,Absenz‘ oder ,Annihilierung‘ des Autors“ sei „gerade eine strukturelle Voraussetzung makropropositionaler Komplexität und eines surplus an Bedeutung“.15 Derartige Probleme gibt es im normalsprachlichen, autorlosen Dialog nicht.
gegenüber personen- oder kontextbezogenen Repliken“ auf (Häsner (2004), 29). Siehe auch Pfister (1998). 13 Hierzu Häsner (2004), 16–17. 14 Häsner (2004), 21. 15 Häsner (2006), 171.
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Dialog und Konversation Es ist ein Unterschied zu machen zwischen Dialog und Konversation. Diesen hat Vittorio Hösle in seinen eingehenden Darlegungen allgemein so gefasst, dass die Konversation real und der Dialog fiktiv sei. Im Unterschied zur Konversation fungiere die gattungseigentümliche „Intersubjektivität“ im Dialog auf zwei Ebenen, intratextuell auf der der interagierenden Dialogpartner und extratextuell auf der des Autors und der fiktiven Gesprächspartner – es ist der Autor, der „andere Person[en] reden lässt“.16 Eine derartige doppelte Intersubjektivität gibt es in der Konversation nicht. Konversation im allgemeinen Sinne ist ein Gespräch, in dem der „Kommunikationsakt als solcher im Vordergrund steht“17 und in dem es auf Umgangsformen ankommt. Die Konversation ist dem formelhaften, aus Klischees zusammengesetzten Smalltalk entgegengesetzt, um es mit Helene von Altenwyl aus Hugo von Hofmannsthals Der Schwierige zu sagen, den Worten, „die alles Wirkliche verflachen und im Geschwätz beruhigen“ (Hugo von Hofmannstal, Der Schwierige, Akt II, Szene 1, 376). Wie ihr Vater Altenwyl sagt, ist Konversation das „nicht selbst perorieren, wie ein Wasserfall, sondern dem andern das Stichwort bringen“. Die thematische Ungebundenheit, das freie Schweben von einem Gesprächsgegenstand zu einem anderen, bei dem es auf das vollkommene Eingehen auf den anderen ankommt, steht in scharfem Gegensatz zum Dialog, der ein Thema oder einen Themenbereich aus unterschiedlichen Sichtweisen diskursiv behandelt. Höflichkeit als eine Eigenschaft der Konversation ist in den humanistischen und den höfischen Dialogen unterschiedlich ausgeprägt. In einem italienischen Dialog wie Il cortegiano sind Höflichkeit, Scherz und das Spiel mit der Kommunikation, wenn es auch um ein durchgängiges Thema geht, hier um den vollkommenen Höfling, stärker akzentuiert, als in den englischen Dialogen, die ernsthafter und intensiver auf ein kontroverses Thema orientiert sind. Sprezzatura sucht man in den englischen Dialogen vergebens.
Dialog und Traktat Eine Abgrenzung des Dialogs vom Traktat kann von hohem heuristischem Wert bei der Bestimmung der Gattung des Dialogs sein.18 Das zeigt sich nachdrücklich in der Poetik der Gattung von Sperone Speroni, Apologia dei dialogi (1575), dem komplexesten Versuch einer Theoretisierung der Gattung Dialog im Cinque16 Hösle (2006), 54. 17 Häsner (2009), 121. 18 Einen aufschlussreichen Vergleich zwischen Dialog und Essay führt Häsner (2006) durch.
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cento. Speroni schrieb selbst Dialoge und erlangte Berühmtheit, weil er seine Figuren Meinungen äußern ließ, die im Gegensatz zu allgemeingültigen, gängigen Vorstellungen standen. Für ihn schafft, um Bodo Guthmüller19 zu folgen, die Ergebnis-Offenheit des Genus Dialog einen Freiraum des Denkens und Argumentierens, der dem „discours magistral“, dem Lehrer-Schüler-Verhältnis, widerspricht. Im Dialog gehe es nicht um die wissenschaftliche Darlegung von Wahrheiten wie im Traktat, der durch die Methode der logischen Beweisführung gekennzeichnet sei. Entscheidend ist für ihn, dass im Dialog von den Gesprächspartnern divergierende Aussagen über einen bestimmten Sachverhalt geäußert werden. Erkenntnis ist nach ihm kein Besitz abgeschlossenen Wissens, sondern gemeinsam im Gespräch vollzogene offene Suche. Der Dialog ist in besonderer Weise geeignet, die Pluralität und den Widerstreit der Meinungen, aber auch die Freiheit der Meinungsbildung vor Augen zu führen. Um es in unseren Worten auszudrücken: Im Traktat und Dialog stehen sich Monologizität und Dialogizität gegenüber, monologisch-expositorische und dialogisch-multivoke Darstellungsform. Im Dialog, speziell im offenen Dialog, der Speroni vorschwebt, werden Urteils- und Argumentationspositionen immer durch unterschiedliche und gegensätzliche Redebeiträge relativiert. Während der geschlossene Dialog zu einem gültigen Ergebnis und zu einem Konsens der Beteiligten führt, legt der offene Dialog die Vielstimmigkeit und Widersprüchlichkeit der Betrachtungsweisen bloß. Vom Traktat mit seiner systematischen, linearen Argumentationsfolge unterscheidet sich der Dialog, wie Bernd Häsner darlegt, „durch die mehrstimmige Konstitution eines argumentativen topic als ein mehr oder weniger diskontinuierliches Geschehen in Raum und Zeit und damit als potentiell offener und Irritationen ausgesetzter Prozeß“.20 Vom Traktat unterscheidet sich der Dialog auch darin, dass er seine „medialen Voraussetzungen“ reflektiert, dass die „medialen Bedingungen von Kommunikation selbst präsent gehalten“ werden.21
Rezeption Der Dialog als fiktives Gespräch über ein Thema oder einen Themenbereich, in dem unterschiedliche und gegensätzliche Standpunkte zur Geltung kommen, verlangt vom Leser, dass er die vorliegenden Argumentationspositionen und den gesamten Gesprächsverlauf in einem kognitiven Prozess zu erfassen versucht und damit ein Bewusstsein der Pluralität möglicher Betrachtungs- und Argu19 Guthmüller (2004). 20 Häsner (2004), 34. 21 Häsner (2004), 27.
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mentationsweisen entwickelt. Des Weiteren ist die Gattung darauf angelegt, die eigene Urteilsbildung des Lesers und der Leserin zu stimulieren und ihn die unterschiedlichen Sichtweisen abwägen und den Grad ihrer Plausibilität bestimmen zu lassen. Aber genauso wie Dialoge vielfach ergebnisoffen geführt werden, kann man nicht unbedingt immer erwarten, dass der Leser oder die Leserin in einem Prozess des Mit- und Weiterdenkens den Dialog zu einem Abschluss bringt und die vom Autor intendierte „Wahrheit“ herausfindet, wie es Alexandre Koyr¦ (1998) an platonischen Dialogen zu zeigen versucht hat. In der Theorie zum Dialog gibt es die Auffassung, dass die Rezeption von Dialogen selbst dialogisch ist. Man könnte einerseits etwa in der Vielzahl unterschiedlicher Stellungnahmen zu Thomas Morus’ Utopia, die inzwischen eine ganze Bibliothek ausmacht, einen dialogischen Prozess sehen, würde sich damit aber sehr weit vom ursprünglichen Verständnis der Gattung als eines simulierten mündlichen Gesprächs entfernen. Andererseits könnte man, wie versucht wurde, im kulturellen Milieu z. B. der Renaissance im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit mündliche Rezeptionsmöglichkeiten für die Dialoge annehmen, die sich in kleinen Gruppen, etwa von Humanisten oder Höflingen, ergeben. Es bleibt aber festzuhalten, dass der Dialog in der Renaissance eine schriftliche Textgattung ist, die für die Rezeption durch die Lektüre gedacht ist, wenngleich sich durch den innertextlichen, fiktiven Dialog vielfältige Möglichkeiten der künstlerischen Ausgestaltung ergeben, was so weit gehen kann, dass sich wie in der Utopia der Bericht vom Inselstaat als langer monologischer Textteil verselbständigt, in dem der Dialog suspendiert ist und die Gesprächspartner eine lange Zeit in der Rolle der Hörer verharren.22 Durch die Wiederaufnahme des Dialogs am Schluss des Werks wird der Monolog des Reisenden freilich wieder unter das Gesetz des Dialogs gestellt und die Offenheit des Gesprächs erneut etabliert, eines Gesprächs, das man sich weiterzuführen vornimmt. Gerade dieser offene Schluss hat ein hohes intellektuelles Stimulationspotenzial für den Leser, der die Debatte weiterführen kann. Das Wirkungspotenzial des Dialogs ergibt sich aus der Interferenz zweier Kommunikationsebenen, der textexternen Ebene der schriftlichen Kommunikation von Autor und Publikum und der textinternen Ebene fingierter mündlicher Kommunikation.
22 Das muss so gesehen werden, obwohl Morus zuerst den Bericht über den Staat schrieb und diesen dann in die Form eines Dialogs integrierte.
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Fiktionalität und Realität Eine nicht unwichtige Frage im Zusammenhang mit der Gattungsbestimmung des Dialogs ist die Frage nach dessen Fiktionsstatus. Häsner definiert den Dialog als „eine Textform des argumentativen, insbesondere des philosophischen Diskurses, in der ein fiktives Wechselspiel zweier oder mehrerer Sprecher der Argumentationsbildung dient“.23 Diese Definition bezieht sich auf den theoretischen Diskurs, speziell den philosophischen Diskurs, der ja im allgemeinen nicht-fiktional ist, die Wechselrede, die im Dialog inszeniert wird, wird aber als fiktiv bezeichnet.24 Mit dem Dialog konkurrierende nicht-fiktionale Gattungen des theoretischen Diskurses sind etwa der Traktat, die Abhandlung, der Kommentar, der discours und der Essay. Wenn nun der Dialog als „fiktionale schriftliche Textgattung“25 bezeichnet wird, muss deren Fiktionalität in der Differenzqualität gegenüber den soeben genannten nicht-fiktionalen Gattungen begründet sein, und damit in seiner dialogischen Form. Fiktiv, d. h. simuliert, sind zum einen die Mündlichkeit des Diskurses und zum anderen die Konfiguration der Gesprächspartner. Die Fiktionalität des Texts ist auch dann gegeben, wenn der Autor reale, ihm bekannte Personen auftreten lässt. So bereitet Cicero in einem Brief an Varro den Empfänger darauf vor, dass er in einem Dialog figurieren und dort Dinge sagen wird, die er nie gesagt hat.26 An Huttens polemischen Dialogen, die bekannte Zeitgenossen wie Martin Luther und Kardinal Cajetan, aber auch seine eigene Persona auftreten und in fiktiven Gesprächen bestimmte Positionen einnehmen lassen, zeigt Arnold Becker in seinem Beitrag zu diesem Band, dass die Verwendung realer historischer Personen in einem fiktiven Kontext ein wirkungsvolles Mittel des polemischen Dialogs ist. Insgesamt ist allerdings der Fiktionsgrad des Dialogs verhältnismäßig gering. Der Dialog baut kaum eine neue Welt auf, und wenn er es tut, wie in dem Bericht des Reisenden in Thomas Mores Utopia hört er in diesem Teil des Texts auf, Dialog zu sein. In Mores Text stehen sich Dialogizität im ersten Teil und Monologizität im zweiten Teil gegenüber. Im kurzen dritten Teil kommt der Dialog wieder ins Spiel und damit wird der am Schluss zunehmend euphorisch-dogmatische Bericht des Reisenden vom Land Utopia relativiert, in die Form des Dialogs gezwungen und der Skepsis der anderen Dialogteilnehmer anheimgestellt. Man macht es sich aber zu einfach, wenn man den Bericht Hythlodays nur als Teil eines Dialogs versteht, der er zweifelsohne ist. Die Erstellung einer vollständigen fiktiven Welt ist, wenn man Hythlodays Bericht auch als ein weit 23 Häsner (2004), 121. 24 An andere Stelle spricht Häsner von „manifester Schriftlichkeit“ und „fiktiver Mündlichkeit“ (Häsner (2004), 18). 25 Häsner (2004), 18. 26 Häsner (2006), 181 (Fn. 144).
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ausgeführtes rhetorische Exemplum verstehen kann, eigentlich dem Dialog wesensfremd. Der Dialog, zumindest der englische Dialog der Renaissance, weist viele Realitätsreferenzen auf. Er ist intensiv auf die gesellschaftliche und politische Wirklichkeit der Zeit bezogen. Das zeigen z. B. der erste Teil der Utopia und die politischen Dialoge der Renaissance, die soziale Missstände anprangern. Auch die Gesprächsteilnehmer in englischen Dialogen tragen vielfach zumindest die Namen historischer Personen, wie in Thomas Starkeys A Dialogue between Reginald Pole and Thomas Lupset. In Mores Utopia tritt Thomas Morus als redende Figur auf wie auch Thomas More in A Dialogue Concerning Heresies (1528/29). Man darf die Sprecher in diesen Dialogen nicht einfach mit dem Autor gleichsetzen, aber eine Referenz auf den Autor ist doch gegeben. Das gilt auch für die Schauplätze der Dialoge, namentlich für das Tusculum in Ciceros Tusculanae Disputationes und das Urbino in Castigliones Il Cortegiano. Die Schauplätze müssen für ein Gespräch oder eine Gesprächsrunde geeignete sein, wie die Wandelhalle, der Garten oder das Herrenhaus, was den exemplarischen Charakter der Lokalität erklärt. Die deutliche Orientierung der Dialoge auf den Gesprächsgegenstand und die Profilierung der Argumentationspositionen verhindert ein zu starkes Eingehen auf die Persönlichkeit der Redenden und die Beziehungen zwischen ihnen. Horst Seidl unterscheidet zwischen „realem“ und „fiktionalem“ Dialog, je nachdem ob der Redegegenstand real oder fiktional ist. So sind für ihn Mores Utopia27 und Bacons New Atlantis mit der Darstellung erfundener Inselstaaten fiktionale Dialoge. Von Utopien sagt er, der Dialog finde in ihnen in einem Niemandsland statt.28 Das stimmt zumindest im Fall von Mores Text nicht, weil in ihm das Gespräch in Antwerpen, mit teilweise auf realen Personen verweisenden Sprechern, lokalisiert ist. Seidl konstatiert auch, dass sich der Dialog in der Utopia teilweise auf England beziehe und also partiell real sei. Ähnlich sagt er von New Atlantis, dass der Dialog dort teilweise wissenschaftsphilosophisch und deshalb streckenweise real sei. Das Problem der Fiktionalität der Gattung des Dialogs ist zum Leidwesen der Gattungstheoretiker nicht so einfach zu lösen. In den vorliegenden Überlegungen wird die Fiktionalität der Gattung an der spezifischen Art der Dialoggestaltung festgemacht. Dem Dialog ist im Unterschied zur Konversation fiktive (simulierte) Mündlichkeit und eine erfundene Figurenkonstellation zuzuschreiben, die fiktiv ist, auch wenn unter den redenden Personen reale historische Persönlichkeiten vertreten sind oder wenn sich der Leser selber unter den Gesprächspartnern findet. Gerade wegen des starken Bezugs auf den Redegegenstand und der Orientierung der Darstellung auf die 27 Seidl (2011). 28 „[…] utopias, where the dialogue takes place in a no-man’s-land.“ (Seidl (2011), 32).
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Argumentation und die Argumentationspositionen der Gesprächspartner ist die Darstellung einer Welt in der Gattung, wie bereits gesagt, Einschränkungen unterworfen. Und dennoch ist es gerade die Dialogform, die zur Quelle von Kontingenzen, Irritationen und Brüchen werden kann. Der Dialog ist ja kein Lehrgespräch oder eine reine Gelehrtendisputation. Sein Personal setzt sich vielfach aus Gesprächspartnern aus unterschiedlichen sozialen Bereichen zusammen. Ihm eignet eine gewisse Unvorhersehbarkeit. Wenn auch die Dialoge fiktiv sein mögen, ist doch der Fiktionalisierungsgrad dieser Texte, um es noch einmal zu sagen, eingeschränkt. Eine umfassende Weltdarstellung wie im Roman, etwa in Cervantes’ Don Quijote, ist im Dialog nicht möglich. Wenn auch die Darstellung einer fiktionalen Welt im Dialog in hohem Maße eingeschränkt ist und es kaum zu konkreter Realitätsdarstellung und der Wiedergabe physischer Handlung kommt, stellen die Dialoge doch fiktive Welten dar, bei denen es sich allerdings um Gesprächswelten handelt, die in der Regel nicht sehr weit von den realen Welten der Autoren und Leser der Texte entfernt sind.29 Das erkannten Theoretiker der Renaissance wie Sir Philip Sidney, die den Dialog im Grenzbereich zwischen Dichtung und Wahrheit, Fiktion und Wirklichkeit ansiedelten.30 Im Zusammenhang mit der Frage nach der Fiktionalität des Dialogs ist auch das in Rollenzuweisungen und im Rollenspiel praktizierte simulative und dissimulative Verhalten der Gesprächspartner vor allem in Texten aus dem Bereich der höfischen Kultur, namentlich in Castigliones Cortegiano, zu berücksichtigen. Im Unterschied zu anderen Gattungen des theoretischen Diskurses, speziell dem Traktat, ist, wie Häsner feststellt und veranschaulicht, „der Dialog die Domäne uneigentlicher und dissimulativer Rede“.31 Dies gilt mehr für den höfischen als für den humanistischen Dialog und mehr für den italienischen als den englischen Dialog, aber auch die Humanisten haben das Spiel mit wechselnden Argumentationsposition und Rollenzuschreibungen gepflegt.
Dialog: Die Problematik einer Gattungsdefinition Nach den bisherigen Darlegungen wäre eigentlich eine Gattungsdefinition zu erwarten. Von der Wissenschaft sollte man verlangen dürfen, dass sie ihren Gegenstand auf den Begriff zu bringen versteht. Ein solches Unterfangen wird aber im Fall des Dialogs, je mehr Texte man kennt und je besser man die Texte 29 Bernd Häsner sagt pointiert: „Die Welt der Dialogfiktion unterscheidet sich von der Welt, in der Autor und Leser des Dialogtextes existieren, zumindest darin, daß es diesen Dialogtext in ihr nicht gibt.“ (Häsner 2004, 43). 30 Hierzu Meyer (2011). 31 Häsner (2004), 38.
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kennt, umso schwieriger. Jede Definition birgt die Gefahr normativer Festlegungen, die Texte, die zweifelsfrei zu der Gattung gehören, ausschließen. Eine minimalistische Definition wie die von Phil Withington – „Dialogue can be defined as the written representation of a conversation between two or more interlocutors“32 – ist wenig hilfreich. Aus diesem terminologischen Dilemma kann Ludwig Wittgensteins Konzept der Familienähnlichkeiten heraushelfen. Eine klare, eindeutige, verbindliche Definition eines Begriffs gibt es vielfach nicht. Die Begriffe bilden vielmehr eine Familie, deren Mitglieder Ähnlichkeiten aufweisen, die also durch die sogenannten Familienähnlichkeiten mit einander verwandt sind. Dieses Konzept geht davon aus, dass es bei der Bestimmung eines Begriffs eine Mehrzahl von Kriterien gibt, die im Einzelfall nicht alle erfüllt sein müssen. Für den Dialog kämen die folgenden Kriterien in Frage: – Gespräch zwischen zwei oder mehr fiktiven oder semi-fiktiven Personen, in dem eine Gesprächswelt aufgebaut wird – schriftliche Präsentation einer fiktiven mündlichen Gesprächssituation – das Wirkungspotenzial der Interferenz zwischen manifester Schriftlichkeit und fiktionaler Mündlichkeit – Unterschiedlichkeit oder Gegensätzlichkeit der von den Dialogpartnern vertretenen Positionen – Vorhandensein eines festgelegten (kontroversen) Themas oder Themenbereichs, der philosophischer, religiöser, politischer und sozialer Art sein kann oder auch einen bestimmten Sachbezug aufweisen kann – Umfänglichkeit der Repliken als Voraussetzung der Ausbildung von Diskursivität – Vorhandensein der Bereitschaft zum Zuhören und zur Verständigung – Offenheit des Dialogs als Voraussetzung für die Fortsetzung des Dialogs über sein Ende hinaus Die ersten vier oder fünf der genannten Kriterien gehören zum Kernbereich der Gattungskriterien. Sie können als sine qua non gelten. Der Kriterienkatalog lässt auch Raum für den polemischen Dialog. In diesem fehlt das Kriterium der Bereitschaft zum Zuhören und zur Verständigung, was ja dem Prinzip der Familienähnlichkeiten zufolge nicht unbedingt erfüllt sein muss. Was den polemischen Dialog betrifft, ist Skepsis im Hinblick auf den englischen Textbefund erforderlich. Anders als etwa im deutschen Sprachraum gibt es mit Ausnahme vielleicht von Mores Dialogue Concerning Heresies kaum einen englischen Prosadialog aus der Renaissance, den man als offensiv polemischen Dialog bezeichnen könnte. Auch der didaktische Dialog, der in der Epoche ungemein
32 Withington (2009), 458.
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häufig ist, findet seinen Platz unter dem Oberbegriff des Dialogs, obwohl er noch weniger der genannten Kriterien erfüllt als der polemische Dialog.
Zwei Dialoge von Sir Thomas Smith Am Schluss soll auf zwei weniger bekannte Texte von Sir Thomas Smith Bezug genommen und damit angedeutet werden, wie von der Abstraktion des theoretischen Arguments zum konkreten Textmaterial übergegangen werden kann. Eine genauere Analyse ist im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich. Sir Thomas Smith war Gelehrter, Jurist, Diplomat und Politiker, ein politisch engagierter Humanist, wie er im Buche steht. Über seine Biographie nur so viel: In der Regierungszeit der katholischen Königin Mary 1553 bis 1558 wurde er als bekennender Protestant politisch kaltgestellt und musste sich nach dem Regierungsantritt Königin Elisabeths zunächst mühsam wieder rehabilitieren. Er war ein eifriger Verfasser von Dialogen. Die Gattung des Dialogs mit ihrem Widerstreit und der Abwägung kontrastierender Standpunkte war seinem Naturell gemäß. Der Dialog nimmt bei ihm teilweise fast den Charakter einer politischen Beratung an. Der erste Dialog, der herangezogen werden soll, ist A Discourse of the Commonweal of this Realm of England (1549), ein Werk, das als Dialog präsentiert wird: […] the boke is made by waye of a dyaloge.33 Im Vorwort („Preface“) bringt der Autor seine Auffassung explizit zum Ausdruck, dass durch das Widerspiel verschiedener Auffassungen zu einem Thema im Dialog die Verstandestätigkeit angeregt und das Hervortreten der Wahrheit begünstigt werde: Therfore nowe that kinde of resoning […] seemeth to me best, for boltinge oute […] the truthe, which is usd by waie of dialoge, or colloquie, wheare reasons be made to and fro, as well for the mattier intended, as against it. I thought it best to taike that waye in the discourse of this mattier, which is in rehersinge the common and vniuersall greifes that men complaine on now a dayes. (Smith, A Discourse, 73)
Ausgangspunkt der Debatte ist die missliche Lage Englands, der Niedergang des Landes, der sich in allen Bereichen zeige, die vor Augen gestellt und diskutiert werden müsse, the manifold complayntes of men, towchinge the decaie of this Common wealthe and Realme of England.34 Der Autor spielt zuerst mit dem Gedanken, das in Form eines Traktats zu tun – make some discourse with my selfe35 – verwirft diese Vorstellung, weil viele Köpfe eine vollkommene Beratung ergäben: that of manye heades is gathered a parfyte counsaile.36 33 Smith (1929), 60. 34 Smith (1929), 71. 35 Smith (1929), 72.
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Seit der Antike unterscheidet man zwischen zwei Formen des Dialogs, dem mimetischen Dialog, der den Leser unmittelbar mit der Wechselrede der Sprecher konfrontiert, und dem narrativen Dialog, in dem der Wortwechsel in einem erzählenden Rahmen aufgehoben ist. Der letzteren Spielart gehört Smiths Dialog an. Die Vermittlung ist hier aber aus Gründen, die zu erläutern sind, ausgesprochen kompliziert. Der Autor erzählt, er habe einmal einen Ritter getroffen. Dieser habe ihm gegenüber ein Gespräch wiedergegeben, das er mit vier Personen unterschiedlichen Standes über eben das Thema geführt habe, das den Autor beschäftige. Diese Unterhaltung habe er für erinnerungswürdig gehalten und präsentiere er nun. Warum diese aufwendige und umständliche Ätiologie des Dialogs? Es handelt sich um eine Distanzierungsstrategie. Der Autor will seine eigene Person aus dem Dialog heraushalten und das Gespräch so authentischer wirken lassen. Bedeutsam ist auch die Verteilung der Gesprächspartner auf unterschiedliche Stände, ein Adliger, ein Kaufmann, ein Arzt, ein Bauer und ein Handwerker : The persons weare theise. A knight as I first sayde, a merchaunte man, a doctor, a husbandman and a craftes man.37 Also suche persons as weare members of everie state that find theim selues greved now a dayes and touched those mattiers.38 Withington meint dazu: „This is not so much presented as a point of democratic principle as discursive common sense.“39 Ich sehe das anders. Es handelt sich hier um eine kleine Ständeversammlung, ein Beratungsgespräch nach dem bereits zitierten Prinzip: of manye heades is gathered a parfyte counsaile. Bekanntlich besagt eine verfassungsrechtliche Theorie, dass das Parlament aus der Ständeversammlung hervorgegangen ist. Im Kontext der politischen Schriften Smiths, der später selbst dem Parlament angehörte, kann man hier durchaus eine demokratische Haltung erkennen. Dem widerspricht auch nicht, dass einer der Diskutanten, der Arzt, möglicherweise ein Abbild des Autors, eine dominierende Rolle in dem Dialog spielt. Der zweite Dialogs Smiths, auf den hier noch kürzer Bezug genommen werden soll, widmet sich dem die Elisabethaner bedrängenden Problem einer Eheschließung der jungfräulichen Königin Elisabeth I, A Communication or Discourse of the Queen’s Highness’s Marriage (1561). Die Frage, um die es in diesem Dialog geht, ist, ob die Königin heiraten solle, und wenn ja, ob sie sich für einen ausländischen Adligen (a stranger) oder einen einheimischen Adligen (a subject) entscheiden solle. Die Gesprächsteilnehmer tragen je nach der Position, die sie vertreten, sprechende Namen, Spitewed, Lovealien, Homefriend. Mit der 36 37 38 39
Smith (1929), 72. Smith (1929), 60. Smith (1929), 73. Withington (2009), 459.
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höchsten Autorität ist eine Figur namens Godfather ausgestattet, welche die Gesprächsbeiträge koordiniert. Die Gesprächsteilnehmer sind hier nicht expressis verbis sozial unterschiedlich verortet wie in dem zuvor behandelten Dialog, wo sie ungeachtet ihres unterschiedlichen Rangs als Diskussionspartner gleiches Recht haben. Ein Gleichheitsprinzip ist in dem späteren Dialog insofern zu erkennen, als sich alle Gesprächspartner durch große Eloquenz und Argumentationsfähigkeit auszeichnen. Der Autor bricht angesichts dieser Tatsache in die euphorischen Worte aus, me thinke I am in Platoes Academie or Ciceroes Tusculano.40 Ausgerechnet die Figur, welche die Diskussion leitet, ist ein Stotterer, dessen Zunge nicht mitkommt: [his] tongue will not follow.41 Hier zeigt sich einmal mehr der anti-hierarchische Grundzug in Smiths Denken. Eine ähnliche, wenn auch anders gelagerte Situation findet sich in Castigliones Il Libro del Cortegiano, wo Emilia Pia den Grafen Ludovico darum bittet, ein Bild des guten Höflings (bon cortegiano) zu entwerfen, gerade weil er nicht der kompetenteste Redner ist. Das stimmt mit der Auffassung vieler Theoretiker und Verfasser von Dialogen überein, dass in der Vielfalt der Stimmen allen Meinungen, auch den unbeholfen ausgedrückten und dem allgemeinen Konsens zuwider laufenden Meinungen, ihr Recht zukomme.
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Carmen Cardelle de Hartmann (Zürich)
Kirchenstreit und humanistischer Dialog: Piccolominis Libellus dialogorum
Wie werden humanistische Ansätze mit den Erwartungen eines nicht humanistischen, gar eines scholastisch eingestellten Publikums in Einklang gebracht? Als Paul Oskar Kristeller die gelehrten Textsorten des Spätmittelalters mit denjenigen des Humanismus verglich, beobachtete er, dass die Humanisten sich in manchen Kontexten – wie bei der Abfassung von Staatsbriefen – auf eine Veränderung der elocutio, weg von traditionellen Wendungen und Mustern, hin zu einer Befolgung antiker Vorbilder, begrenzen mussten, da außerliterarische Interessen ausschlaggebend waren.1 Der humanistische Dialog erscheint ihm als eine neue Gattung, die sich nicht von einer mittelalterlichen Tradition habe absetzen müssen.2 Die neuere Forschung zum Renaissance-Dialog hat diese Meinung revidiert3 und die mittelalterlichen Dialoge als Kontrastfolie in den Blick genommen, dabei aber nur wenige mittelalterliche Texte – die außerdem manchmal aus ganz anderen Bereichen als die untersuchten humanistischen Werke stammten – berücksichtigt. Nicht beachtet wurde bisher die kirchliche Polemik; in diesem Bereich wurden im 13. und 14. Jahrhundert etliche Dialoge – einige davon mit einer großen Verbreitung bis in die Neuzeit hinein – verfasst. Die innerchristlichen Streitgespräche bilden eine gut definierte Gruppe von Texten, die im 15. Jh. vor allem im Zusammenhang mit den Polemiken um die großen Konzilien gelesen wurden; wer ein solches Streitgespräch las, hatte klare Erwartungen an den Text und dessen Gestaltung, die aus seiner Lektüre-Erfahrung erwuchsen. Ein Humanist, der einen Dialog zu einem aktuellen Streitthema schrieb, sah sich deshalb in einer ähnlichen Situation wie der humanistische Kanzler, der Staatsbriefe abfasste: Er musste der zweckmäßigen Darstellung des Inhalts Vorrang geben und auf das Publikum, das den Text vor allem aus politischem Interesse lesen würde, Rücksicht nehmen. Den wohl 1 Kristeller (1960), 231. 2 Kristeller (1960), 232–233. 3 Siehe vor allem die Arbeiten in Hempfer (2002) und Hempfer (2004). Der Impuls zur neuen Beschäftigung mit den mittelalterlichen Dialogen ging von den Arbeiten von Peter von Moos (1989, 1991, 2005) aus.
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ersten humanistischen Dialog zur kirchlichen Polemik verfasste Andrea de Santa Croce Ende 1439 oder Anfang 1440.4 Der Text beginnt mit einer Diskussion über die Rechtmäßigkeit der Überführung des Konzils von Basel nach Ferrara, geführt von Andreas und dessen Freund Ludovicus, die als der Autor und sein in Basel gebliebener Freund Ludovico Pontano identifiziert werden; darin werden die Konzilsakten von Ferrara und Florenz eingebettet. Die Aufnahme von juristischen Schriftstücken in einen Dialog ist eine durchaus geläufige Vorgehensweise, die einzige nennenswerte Innovation im Text besteht in der verwendeten Sprache. Ganz anders verhält es sich mit einem weiteren Dialog, der lediglich wenige Monate später entstanden ist: dem Libellus dialogorum de generalis concilii auctoritate et gestis Basiliensium, den Enea Silvio Piccolomini in Basel zwischen Oktober und Dezember 1440 verfasste.5 Piccolomini richtete sein Werk an ein nicht humanistisch eingestelltes Publikum, nämlich an den Rektor und die Professoren der Universität Köln, indirekt auch an die Teilnehmer des Konzils in Basel, denen der Humanismus zwar nicht fremd war, aber unter denen sich wenig Humanisten befanden.6 Er musste zwar die Erwartungen dieses Publikums berücksichtigen, verfasste aber einen Dialog, der sich klar von der Tradition distanziert. Eine Analyse dieses Textes verspricht deshalb, Aufschluss über zwei Fragen zu geben: Zum einen darüber, welche für Piccolomini die unverzichtbaren Aspekte eines humanistischen Dialogs waren, die sogar unter diesen besonderen Umständen bewahrt werden mussten; zum anderen über seine Strategie, um sie seinem scholastisch geprägten Publikum annehmbar zu machen. Dazu soll zuerst kurz die mittelalterliche Tradition charakterisiert werden, von der Piccolomini sich absetzt. Die abendländische Kirche wurde im 14. und 15. Jahrhundert von Polemiken erschüttert, die sich inhaltlich überschnitten und um die Frage des dominium kreisten. Dieses Wort bezeichnete sowohl den Besitz als auch die Machtausübung und bildet deshalb eine Klammer zwischen der Polemik um die Armut Christi, die vom Franziskanerorden ausging, und den Auseinandersetzungen um die Machtbefugnisse des Papstes, die in unterschiedlichen Zusammenhängen (Besteuerung des Klerus, Streit zwischen Papst und Kaiser) diskutiert wurden. Die ohnehin angespannte Lage der abendländischen Kirche spitzte sich 4 Andreas de Sancta Croce (1955). Die Akten umfassen die Zeit vom 9. April 1438 bis zum 6. Juli 1439, am Ende wird noch die Bulle vom 22. November 1439 (Vereinigung mit den Armeniern) hinzugefügt. 5 Terminus post quem ist die Denkschrift der Universität Köln vom 10. Oktober 1440. Meuthen vermutet, dass der Libellus im Hinblick auf den Auftritt des Cusanus beim Nürnberger Reichstag im Januar 1441 verfasst wurde (Meuthen (1970), 75). Auf jeden Fall mussten die Basler ein Interesse haben, die einflussreiche Universität Köln vor dem Nürnberger Reichstag von ihrer neutralen Position abzubringen. 6 Dazu Helmrath (2004).
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mit dem dramatischen Geschehen um die Papstwahl des Jahres 1378 noch zu, die in das Große Schisma zwischen einer avignonesischen und einer römischen Obödienz mündete.7 Nach mehreren Lösungsversuchen wurde das Schisma auf dem Konstanzer Konzil (1414–1418) mit dem Rücktritt der zwei Päpste und der Wahl eines Einheitspapstes, Martin V., beendet.8 Dem Konstanzer Konzilsdekret Frequens von 1417 folgend berief Martin V. 1431 ein Konzil nach Basel ein, verstarb jedoch vor dessen feierlicher Eröffnung. Der neue Papst, Eugen IV., legte von Anfang an eine misstrauische Haltung gegenüber dem Konzil an den Tag.9 Die Spannungen zwischen Papst und Konzil bestätigten die Aktualität der älteren Schriften um die Machtbefugnisse des Papstes.10 Martin Steinmann suchte in Handschriften, die man zweifelsfrei mit Basler Konzilsteilnehmern in Verbindung bringen kann, nach älterer theologischen Literatur und fand nicht nur etliche Traktate zu diesem Thema, sondern auch ein ganzes Dossier zum Großen Schisma11 sowie zwei selten überlieferte Schriften zu den doppelten Papstwahlen während des Investiturstreits im Hochmittelalter. An polemischen Dialogen verzeichnet er das Somnium viridarii des Êvrard de Tr¦maugon und den Dialogus Wilhelms von Ockham. Letzterer wurde offensichtlich intensiv gelesen, denn zwei Exemplare sind erhalten und es gibt Hinweise auf ein drittes. Es ist davon auszugehen, dass die Zahl der damals in Basel vorhandenen Schriften viel höher war und sich wohl einige weitere Dialoge darunter fanden.12 Die innerchristlichen Streitgespräche aus dem Spätmittelalter weisen einige Gemeinsamkeiten auf.13 Ein erster Punkt betrifft die Umstände ihrer Entstehung: Sofern die Autoren bekannt sind, handelt es sich häufig um Personen, die von einer Polemik direkt betroffen waren, entweder persönlich (z. B. Wilhelm von Ockham) oder weil sie, wie Êvrard de Tr¦maugon, an einem Hof tätig 7 Kurze Darstellung dieser Polemiken mit weiterer Literatur und Untersuchung der Dialoge, die in diesem Kontext geschrieben wurden, bei Cardelle de Hartmann (2007), 138–145; zur polemischen Literatur um die Frage der Amtskompetenz des Papstes bis Wilhelm von Ockham siehe Miethke (2008). 8 Zur Geschichte des Konstanzer Konzils siehe Frenken (1993). 9 Zur Geschichte des Basler Konzils siehe Helmrath (1987). Übersicht über die neuere Forschung zu den großen Konzilien des 15. Jh. bei Helmrath/Müller (2007), 18–29. 10 Zum Publikum dieser Traktate siehe Miethke (1980, 1981). 11 Steinmann (1978). Das Dossier ist der Codex Basel, Universitätsbibliothek, A IX 8. Eine unpublizierte Beschreibung von M. Steinmann ist zugänglich in der Universitätsbibliothek Basel. 12 Wie zum Beispiel die Epistola pacis Heinrichs von Langenstein, ein Werk, das nach Ansicht von Job Vener, dem Leiter der Kanzlei Ruprechts von der Pfalz zur Zeit des Konstanzer Konzils, zur Mindestausstattung einer Bibliothek an Schriften über Konzilsfragen gehörte, dazu Miethke (1981), 760–761. Allerdings ist die Epistola pacis in nicht so vielen Handschriften wie die beiden anderen Dialoge überliefert, nämlich in zwölf, was auf eine eher geringe Rezeption hinweist, dazu Kreuzer (1987), 168–191. 13 Folgende zwei Absätze greifen kurz einige Aspekte heraus, die bei Cardelle de Hartmann (2007), 130–160 ausführlich diskutiert werden.
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waren.14 Vor allem die Autoren dieser zweiten Gruppe reagierten mit ihrem Werk auf den Wunsch der politisch Handelnden, einen Überblick über die Argumentation oder eine profilierte Verteidigung der eigenen Position zu gewinnen. Die Schriften zur kirchlichen Polemik wurden deshalb in der Regel für ein bestimmtes Publikum, manche als Auftragsarbeit, geschrieben; Dialoge konnten sogar als Gutachten oder Stellungnahmen in einem laufenden Verfahren dienen.15 Diese enge Verflechtung mit dem politischen Leben bringt eine Technisierung der Sprache mit sich: Die Argumente werden juristisch ausgedrückt und juristisch abgesichert, sogar in Fragen mit theologischen Implikationen. Eine weitere Gemeinsamkeit ist die genaue Kenntnis der gegnerischen Argumentation, die hingegen in interreligiösen Streitgesprächen nicht selbstverständlich ist. Was die formale Gestaltung betrifft, gibt es eine große Bandbreite. Die einfachste Form ist der Doppeltraktat, in dem die Positionen beider Seiten durch Namen gekennzeichnet werden, ohne jegliche situative Bezüge. Andere Werke sind als Lehrer-Schüler-Dialoge gestaltet, mit einer einfachen Interaktion und einer minimalen Charakterisierung der Teilnehmer. Aber es gibt auch einige wenige, die sich um eine anspruchsvollere Gestaltung bemühen, was sich vor allem in einer allegorischen Rahmenhandlung zeigt. Die Abfassung eines politischen oder juristischen Traktates in Dialogform bedeutet eine literarische Ausarbeitung, die einer Erklärung bedarf. In der Epistola pacis Heinrichs von Langenstein trägt sie zur Wirksamkeit der Argumentation bei, denn im Dialog nähern sich die Verteidiger beider Päpste an, bis sie sich auf die Einberufung eines Konzils zur Lösung des Konflikts einigen. Somit wird die via concilii, die Heinrich befürwortete, als einziger konsensfähiger Weg vorgeführt. Diese Annäherung der Positionen im Gespräch stellt allerdings ein Novum dar. In vielen anderen Fällen wurden durch die Dialogform Schriften, die an eine höher gestellte Persönlichkeit gerichtet waren, gefälliger gestaltet. Jürgen Miethke meint, einige Schriften seien „Talentproben“, die von Klerikern mit Universitätsausbildung abgefasst wurden; die Autoren waren auf eine Anstellung angewiesen und konnten auf diese Weise sowohl ihr juristisches Können als auch ihre Beherrschung der lateinischen Sprache über das Fachvokabular hinaus unter Beweis stellen.16 14 Heinrich von Langenstein bildet insofern eine Ausnahme, als er an einer Universität tätig war, wo im Normalfall die universitären Textsorten wie Quaestiones oder Summae bevorzugt wurden. Seine Wahl der Dialogform könnte darauf zurückzuführen sein, dass er ein nicht universitäres Publikum ansprechen wollte. 15 Ein Beispiel dafür ist der Tractatus de triumpho Romano des römischen Gesandten am aragonesischen Hof, Perfetto Malatesta. Das noch unedierte Werk wurde als Zusammenfassung der römischen Position zuhanden des königlichen Rates von Aragûn abgefasst, dazu Cardelle de Hartmann (2007), 158, 652–655. 16 Dazu Miethke (2008), 152.
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Enea Silvio Piccolomini befand sich bei der Abfassung seines Libellus dialogorum in eben dieser Situation.17 Er war 1431 als Sekretär des Domenico Capranica nach Basel gekommen und sah sich in den folgenden Jahren aus unterschiedlichen Gründen gezwungen, mehrmals den Dienstherrn zu wechseln. Er wurde Sekretär des Bischofs von Freising, Nicodemo della Scala, des Bischofs von Novara, Bartolomeo Visconti, des Patriarchen von Aquileia, Ludwig von Tieck, und des Kardinals Niccolý Albergati. Piccolomini war zeitweilig ohne Stellung und versuchte vergeblich, zum Botschafter seiner Heimatstadt Siena auf dem Konzil ernannt zu werden. Als Laie und einfacher Sekretär war er vorerst ohne Mitspracherecht am Konzil gewesen, doch konnte er durch seine Schriften Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Dies gelang ihm ganz besonders mit einer glänzenden Rede, die er 1436 zur Verteidigung der Kandidatur Pavias als Sitz des Einigungskonzils mit den Griechen hielt.18 Daraufhin konnte er in Kommissionen Einsitz nehmen und wirkte als Zeremonienkleriker. Wenig später, 1437, erreichten die Spannungen zwischen Papst und Konzil einen Höhepunkt, da Eugen IV. das Konzil gegen den Wunsch der Konzilsteilnehmer nach Ferrara verlegte, um dort die Union mit den Griechen auszuhandeln. Es war nur ein kleiner, aber einflussreicher Teil der Konzilsteilnehmer, der ihm folgte, darunter alle Kardinäle bis auf einen, Louis d’Aleman. Die in Basel verbliebenen Konzilsteilnehmer, die sich als einziges wahres Konzil sahen, zitierten den Papst nach Basel, erklärten diesen, als er nicht erschien, für abgesetzt und wählten Herzog Amadeus VIII. von Savoyen als neuen Papst, er nahm den Namen Felix (V.) an. Nun war ein neues Schisma entstanden, und beide Päpste versuchten, sich politische Unterstützung zu sichern. Die Universität von Köln entschied in einer Denkschrift vom 10. Oktober 1439,19 dass das Konzil die oberste Jurisdiktion hatte, ließ aber unentschieden, ob die Verlagerung nach Ferrara rechtens gewesen war. Da im Januar 1440 in Nürnberg ein Reichstag stattfinden sollte, auf dem die bisherige Neutralität des Deutschen Reichs diskutiert werden musste, war es für die Basler Konzilsteilnehmer wichtig, auf diese Denkschrift zu reagieren. Die Reaktion kam von Piccolomini, der inzwischen einer von mehreren Sekretären des Konzilspapstes Felix (V.) geworden war. Die Aufgabe, die der secretarius apostolicus sich stellte, war nicht einfach. Er musste keinen Gegner, sondern einen potentiellen Verbündeten ansprechen. Einerseits musste er Wertschätzung zeigen, schließlich war ein Teil des Gutachtens für die Basler positiv ausgefallen, andererseits musste er den Beweis erbringen, dass die Ent17 Über Piccolominis Zeit in Basel und die kirchenpolitischen Geschehnisse dieser Zeit die Einführung zu Piccolomini (1967), ix–xxvi, Totaro (1990), Totaro (2006), Iaria (2003a), 65–84, und Iaria (2007). Zu Piccolominis Wechsel von Konziliaristen zum Anhänger Eugens siehe besonders Widmer (1963), dort 132–135 zum Libellus dialogorum. 18 Zu den Reden Eneas auf dem Basler Konzil siehe Helmrath (2004), 37–43. 19 Edition des Textes: RTA 15, Nr. 254, 462–467.
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scheidung der Kölner zugunsten Eugens IV. irrig war. Außerdem war er nach wie vor ein einfacher Laie, der keinen offiziellen Auftrag zur Abfassung dieses Dialogs vorweisen konnte. Dies legt nahe, dass er mit seiner Schrift ein doppeltes Publikum erreichen wollte: Zum einen die Kölner Professorenschaft, zum anderen die Basler Konzilsteilnehmer, vor denen er sich bereits durch Reden und Schriften profiliert hatte und von denen er auch in Zukunft abhängig sein konnte. Und in der Tat belegen die acht erhaltenen Handschriften, dass diese zwei Gruppen erreicht wurden, denn nach den Forschungen von Simona Iaria sind sie teils auf die Universität Köln, teils auf den Kreis der Konzilsteilnehmer zurückzuführen.20 Im Libellus dialogorum treten vier Figuren auf, die von Enea in der Praefatio als historische Personen identifiziert werden, nämlich Aeneas, der den Autor darstellt, Martinus Gallicus, ein weiterer päpstlicher Sekretär, der mit dem französischen Dichter Martin Le Franc identifiziert werden kann, Stephanus, nach den Angaben im Text der Jurist Stefano Caccia aus Novara,21 und schließlich Nicolaus Cusanus. Das Gespräch wird bereits im Vorwort supra Rheni ripam, parvo spatio a Basilea22 situiert und besteht aus einer Reihe von vierzehn Dialogen, die im Folgenden mit der Abkürzung Dial., gefolgt von einer Zahl, zitiert werden. Im ersten, ausgedehnten Dialog unterhalten sich die päpstlichen Sekretäre Aeneas und Martinus. Sie haben gerade einen freien Tag in Hüningen (heute Huningue in Frankreich, etwa 12 km von Basel entfernt) verbracht und kehren nun nach Basel zurück. Sie beobachten zwei Männer, die sich grüßen, und identifizieren sie als zwei hervorragende Juristen, Stephanus Novariensis, auch er im Dienste des Basler Papstes, und Nicolaus Cusanus, der nach Ferrara gegangen war und Eugen IV. unterstützte. Aeneas und Martinus beschließen voller Neugier, deren Gespräch zu belauschen. In der Folge bilden sich zwei Dialogreihen: In den Dialogen mit einer geraden Zahl unterhalten sich Nicolaus und Stephanus, in den anderen Martinus und Aeneas, bis im Dial. 14, nachdem Nicolaus zur Konzilspartei zurückgekehrt ist, die beiden Sekretäre aus 20 Zwei Handschriften entstanden im Umkreis der Universitäten Köln und Krakau (die enge Verbindungen nach Köln hatte), zwei im konzilsnahen Kreisen, vier weitere in den Benediktinerklöstern Melk und Tegernsee. Die Benediktiner zeigten ein reges Interesse am Konzilsgeschehen und schickten eigene Vertreter nach Basel. Iaria vermutet jedoch, dass die Vorlage für ihre Handschriften des Libellus aus der Universität Wien, wo einige Melker Mönche studierten, gekommen war. An die Universität Wien kann es direkt aus Basel gelangt sein. Dazu Iaria (2003a), 84–103 und Iaria (2007), 86–96. 21 Er stellt sich seinem Dialogpartner so vor: Nicol. […] sed excidit mente, quo nomine sis. Steph. Stephanus Cacia, Novariensis, contubernalis & amicus, ut solebas dicere, tibi inter paucis carus (Piccolomini (1762), 702). Übers.: „Nicolaus: […] aber dein Name ist mir entfallen. Stephanus: Stephanus Cacia, aus Novara, ein dir besonders lieber Freund und Gefährte, wie du gewöhnlich sagtest.“ Zu den historischen Personen Martin Le Franc und Stefano Caccia siehe Iaria (2003a), 68–69. 22 Piccolomini (1762), 693.
Kirchenstreit und humanistischer Dialog: Piccolominis Libellus dialogorum
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ihrem Versteck kommen, die ganze Gruppe nach Basel geht und ein gemeinsames Abendessen plant. Stephanus und Nicolaus erörtern in ihren Textanteilen die aktuellen Probleme: die Geschehnisse, die zur Verlegung des Konzils nach Ferrara geführt hatten, den Vorrang der maior oder der sanior pars (was zur Frage des Verhältnisses zwischen Prälaten und einfachen Klerikern führt), die Beziehung zwischen Papst und Konzil. Die beiden Sekretäre führen hingegen ein erratischeres Gespräch: Sie diskutieren Fragen der Orthographie, der Wortwahl sowie antiquarische Fragen im Zusammenhang mit der antiken römischen Kultur. Die moderne Forschung hat sich vor allem mit dem Inhalt der Dialogreihe, die den Disput der Juristen Stephanus und Nicolaus inszeniert, befasst und hat die zweite Dialogreihe mit den Sekretärengesprächen als Auflockerung gesehen, ohne auf sie besonders einzugehen.23 Im Folgenden werden wir nicht auf die Details der Argumentation eingehen, sondern lediglich abwägen, ob die literarische Ausgestaltung des Libellus dialogorum auch eine implizite Aussage zu den politischen Themen enthält. Im Mittelpunkt werden literarische Aspekte stehen, und zwar die Charakterisierung der Figuren, die Art des Gesprächs, die Verbindung beider Dialogreihen, die Situierung nach Ort und Zeit. An ihnen wird diskutiert, wie Piccolomini die neue humanistische Art, Dialoge zu schreiben, die er vor allem an den Dialogi ad Petrum Paulum Histrum von Leonardo Bruni gelernt hatte,24 mit den Erwartungen eines nicht humanistisch eingestellten Publikums in Einklang bringt. Die Figuren Martinus, Aeneas und Stephanus verweisen, wie gesagt, auf Martin Le Franc, Piccolomini und Stefano Caccia, die alle drei zu diesem Zeitpunkt in den Diensten des Gegenpapstes Felix V. standen und einander freundschaftlich verbunden waren.25 Nikolaus von Kues, das Vorbild der Dialogfigur Nicolaus Cusanus, war als früherer Konzilsteilnehmer in Basel Piccolomini zu diesem Zeitpunkt bereits persönlich bekannt, obwohl die beiden sich wohl nicht näher kannten, geschweige denn freundschaftlich verbunden gewesen wären.26 Er war vorerst durch zwei Traktate, in denen er eine konziliaristische Position einnahm, hervorgetreten, war aber 1438 mit der sanior pars, wie sich diese kleine und einflussreiche Gruppe selbst bezeichnete, nach Ferrara gezogen. Nikolaus von Kues eignete sich als prominenter Jurist der päpstlichen 23 Etwa bei Totaro (2006), 93. Widmer (1963) erwähnt diese zweite Dialogreihe nicht. 24 Zur Kenntnis des Dialogs von Leonardo Bruni durch Piccolomini und zu den Parallelen zwischen beiden Werken siehe Iaria (2003b), 15–17. Die Dialogi werden in der kritischen Edition von Baldassarri (Bruni (1994)) zitiert. Piccolomini kannte zwei weitere humanistische Dialoge, De avaritia und De infelicitate principum von Poggio Bracciolini (Iaria (2003b), 18–21), deren Einfluss jedoch im Libellus dialogorum nicht spürbar ist. 25 Ein Neffe Caccias, Gasparo da Cacci, erwähnt in einem Brief an Enea eine Ekloge, in der er die drei Freunde als Gesprächspartner habe auftreten lassen, worauf Strohm (2001), 374, im Rahmen seiner Diskussion von Martin Le Franc als Musiker (ibidem, 368–385) hinweist. 26 Baum (2002), 321, Nagel (2006), 37–44.
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Partei hervorragend für die Rolle, die Piccolomini ihm im Dialog zugedacht hat. Die Wahl des weniger einflussreichen Stefano Caccia als Gegenspieler erklärt sich wohl dadurch, dass Nikolaus von Kues und er Juristen bei demselben Dienstherrn, dem Trierer Elekten Ulrich von Manderscheid, gewesen waren, dessen Durchsetzung gegen den päpstlichen Kandidaten für den Trierer Sitz sie gemeinsam erreicht hatten.27 Ein solcher Einsatz historischer Figuren als Dialogpartner ist in den kirchenpolitischen Dialogen des Mittelalters durchaus geläufig. Dabei können die Hauptpersonen der historischen Auseinandersetzung als Figuren auftreten oder, noch häufiger, zwei Experten oder ein Experte, der einen Unwissenden belehrt. In dieser zweiten Gruppe ist eine der beiden Figuren in der Regel klar mit dem Autor zu identifizieren. Piccolomini wählt eine andere Lösung, indem er sich selbst im Dialog zum kommentierenden Zuschauer macht. Sie brachte ihm einen strategischen Vorteil, denn er verfasste zwar als Laie einen Dialog über ein brisantes kirchliches Problem, ließ es aber im Text von zwei profilierten Konzilsjuristen diskutieren. Obwohl aus der Praefatio klar wird, dass das Gespräch fiktiv ist, erweckt er doch den Eindruck, Ansichten realer Personen darin aufgenommen zu haben. In einem weiteren Punkt unterscheidet sich der Libellus von den mittelalterlichen Dialogen, die historische Personen als Figuren auftreten lassen, nämlich darin, dass eine Figur einen Sinneswandel, der keine historische Entsprechung hat, vollzieht. Der historische Nikolaus von Kues blieb nämlich der Papstpartei treu, wie die Kölner, zu denen er enge Verbindungen unterhielt, wohl wussten. Piccolomini folgt in diesem Punkt dem Vorbild von Leonardo Bruni, der Niccolý Niccoli in seinen Dialogi ad Petrum Paulum Histrum eine Position und dann ihr Gegenteil vertreten lässt, wobei die erste der Meinung der historischen Person Niccoli eher entsprach. Nun richtete sich Brunis Dialog gerade an die Personen, die darin als sozialer Kreis inszeniert werden, und war deshalb Teil einer Gruppenkommunikation, die auch in mündlicher Form ablief; Niccoli hatte daher die Möglichkeit, unmittelbar auf Brunis Text zu reagieren.28 Beim Libellus dialogorum ist die Lage etwas anders; das anvisierte Publikum ist breiter, befindet sich an verschiedenen Orten und bildet keine zusammenhängende Gruppe. Wenn Nikolaus von Kues auf den fingierten Übertritt seines Vertreters Nicolaus Cusanus zur päpstlichen Partei reagieren wollte, musste er dies schriftlich tun. Und er tat es mit einem Dialog zwischen Magister und Discipulus, in dem er die Position der Basler Partei demontiert und seine eigene Entscheidung für den Papst rechtfertigt, dem Dialogus concludens Amedistarum errorem ex gestis et doctrina concilii Basili27 Nagel (2006), 41. Meuthen (1970), 71, nennt die Wahl Stefanos als Gegenspieler des Cusanus sogar ,reichlich infam‘. 28 Über die kommunikativen Aspekte des Textes innerhalb einer Gemeinschaft siehe Häsner (2002), besonders 146–156.
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ensis.29 Auf die literarische Vielschichtigkeit des Libellus dialogorum antwortete er allerdings mit einer eindeutigen Stellungnahme, in einem Werk, das keine Zweideutigkeiten zulässt. Die Wahl bestimmter Personen als Figuren des Dialogs lässt sich zwar aus unseren Kenntnissen der historischen Situation erklären, es stellt sich aber die Frage, wie die Figuren im Dialog selbst dargestellt werden. Ihre Charakterisierung ist spärlich: die zwei Sekretäre erwähnen mehrmals ihre Aufgaben und gehen dabei besonders auf das Abfassen von Briefen ein, Aeneas spielt auf seine geringen Mittel an.30 Alle vier Männer sind offensichtlich gut bekannt und haben ihre hervorragende Beherrschung der lateinischen Sprache gemeinsam; drei von ihnen unterstützen mit Entschiedenheit die in Basel verbliebenen Konzilsteilnehmer, der vierte hingegen, Nicolaus Cusanus, ist Papst Eugen IV. nach Ferrara gefolgt. Dieser Parteiwechsel und die Inszenierung seiner Rückkehr zur Basler Konzilspartei waren im Hinblick auf die Kölner Rezipienten von zentraler Wichtigkeit, da ihnen durch Nicolaus ein Bild der Papstanhänger und ein Vorbild für den Übertritt zur Konzilspartei vermittelt werden konnten. Die Charakterisierung des Nicolaus soll deshalb näher betrachtet werden. Als die beiden Juristen sich treffen, gibt Nicolaus keine Erklärung, woher er kommt oder warum er sich in der Nähe von Basel befindet. Es heißt nur, er sei verkleidet unterwegs, wie einer, der auf der Reise ist und sich vor einem Hinterhalt fürchtet.31 Dies lässt die Situation des Nicolaus von Anfang an als eine prekäre erscheinen. Nach der Begrüßung und einem kurzen Austausch über die Lage in Italien und im Deutschen Reich, spricht Stephanus den Parteiwechsel seines Freundes offen an und will dessen Beweggründe erfahren. Nicolaus beruft sich mit Hilfe eines Cicero-Zitates auf die Freiheit des Geistes, widerruft seine früheren Schriften und sagt: optimus saepe periclitanti portus est mutatio consilii.32 Hierdurch wird der Eindruck eines taktischen Wechsels, für den keine vernünftigen Gründe vorliegen, erweckt. Nicht weniger arbiträr mag der zweite Wechsel, die fiktive Rückkehr zur Konzilspartei, anmuten. Dial. 12 endet, weil beide Juristen ihr Vespergebet verrichten wollen. Als sie danach ihr Gespräch im Dial. 14 wieder aufnehmen, gibt Nicolaus vor, ihm sei eine Erleuchtung zuteil geworden: Oranti mihi, sive divina inspiratio fuit, sive aliud quicquam, Ste-
29 Ediert von Meuthen (1970). Eine Analyse des Inhalts ibidem, 40–66. 30 Erwähnung in Dial. 1, ausführliche Diskussion vor allem Dial. 11. 31 Steph. Aut Nicolaus Cusanus aut nullus es […] quid sibi habitus iste vult? Nicol. Ipsus sum; habitus viatoris & insidias timentis est. (Piccolomini (1762), 702). Übers.: „Stephanus: Du bist doch kein anderer als Nicolaus Cusanus […] Was soll denn diese Kleidung? Nicolaus: Der bin ich. Es ist die Kleidung eines Reisenden, der sich vor einem Hinterhalt fürchtet.“ 32 Piccolomini (1762), 706. Übers.: „Ein Meinungswechsel ist häufig der beste Hafen für einen, der in Gefahr ist.“
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phane, mutata mens mutatusque animus est […].33 Totaro erklärt diesen Wechsel durch Inspiration mit der in einem Brief an Pietro da Noceto geäußerten Ansicht Piccolominis, es sei nicht einfach, zwischen den Konzilsparteien die richtige zu erkennen, nur Gott kenne sie.34 Auch im Text des Libellus dialogorum findet sich ein Hinweis auf diese Lesart, als Stephanus in Dial. 6 behauptet, nur Gott könne durch ein Zeichen zeigen, welche der beiden Parteien im Recht sei: At in Concilio necessarium est, maiori stari parti; cum nemo sit, qui merita personarum & partium rationes, nisi Deus ipse signum e coelo dederit tamquam superior, discutiat.35 Allerdings ist diese skeptische Haltung im Libellus nicht ausschlaggebend. Vielmehr zeigen Argumente in den diskutierten Fragen ihre Wirkung.36 Der einzige Punkt, in dem Nicolaus sich vorgeblich nur von einer höheren Macht bekehren lässt, ist die Illegalität der Deposition Eugens IV. durch das Konzil, das heißt, gerade der Punkt, in dem die Universität Köln gegen die Basler Stellung bezogen hatte. Hier nimmt der Verfasser Piccolomini der Universität gegenüber eine bescheidene Haltung an: Er maßt sich nicht an, ihr eine zwingende Argumentation vorzuschreiben, sondern hofft auf den Heiligen Geist. Was die Figur des Nicolaus anbelangt, ist dies aber nicht alles. Nach seiner Bekehrung zur Konzilspartei gibt es einen weiteren Hinweis im Text, warum er sie zunächst verlassen hatte. Wie wir gesehen haben, hatte er in Dial. 2 auf die größere Sicherheit beim Papst angespielt. Nun redet er deutlicher : […] molestiae mihi superest, quod principes Christianos sinistrorsum tendentes video, temporalibusque illectos commodis nihil Ecclesiae auscultare; quo fit, ut accedentem me ad vestram sententiam fortunas meas ire perditum, animam vero lucrifactum sciam.37 Wenn er finanzielle Einbußen durch den Wechsel zur Konzilspartei erleidet, kann der Leser schlussfolgern, dass er durch den vorherigen Wechsel zur Papstpartei einen finanziellen Gewinn erzielt hat. Hier mag 33 Piccolomini (1762), 787. Übers.: „Als ich betete, wurde mir entweder eine göttliche Eingebung oder etwas anderes zuteil, Stephanus, mein Geist ist gewandelt, auch mein Gemüt.“ 34 Totaro (1990) 67; Totaro (2006), 94–5. 35 Piccolomini (1762), 726. Übers.: „Aber im Konzil ist es notwendig, sich an die Mehrheit zu halten, da es keinen gibt, der die Verdienste der Personen und die Gründe der Parteien beurteilen könnte, es sei denn, dass Gott selbst, der über uns steht, ein Zeichen vom Himmel sendete.“ 36 Nur an einer Stelle wird ein übernatürlicher Einfluss angedeutet, nämlich am Ende von Dial. 6, als Stephanus behauptet, die Nähe zu Basel flöße ihm eine überragende Eloquenz ein: In argumentis tamen meis, si quid eloquentiae mixtum fuit, id non mihi, sed loco, in quo consedimus, prope Basileam adscribito (Piccolomini (1762), 734). Übers.: „Wenn sich Eloquenz in meiner Argumentation findet, schreibt dies nicht mir, sondern dem Ort, an dem wir sitzen, in der Nähe von Basel, zu.“ 37 Piccolomini (1762), 788. Übers.: „Es ärgert mich noch, dass ich sehe, wie die christlichen Fürsten verkehrt handeln, wie sie, von weltlichen Gütern verführt, der Kirche nicht gehorchen. Deshalb weiß ich, dass ich, wenn ich zu euch stoße, mein Vermögen verliere, aber meine Seele gewinne.“
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man sich an die Verkleidung in Dial. 2 erinnern: Die Unterstützung der päpstlichen Partei kann eine zum eigenen Vorteil angenommene, nur nach außen hin verteidigte Position sein, eine Verkleidung, mit der er sich schützt. Piccolomini erweist sich hier als Meister der Andeutung, denn Nicolaus wird von den anderen Figuren immer nur positiv beurteilt; die Figur desavouiert sich selbst, nicht nur bei der Frage des Parteiwechsels, sondern auch in seiner Einstellung zur Universität Köln. Beim Treffen mit Stephanus freut Nicolaus sich über das Gutachten der Universität38 und beruft sich in Dial. 4 darauf, so dass Stephanus von ,deiner Universität‘ redet.39 Im Dial. 8 aber, als Stephanus das Gutachten der Universität zu seinen Gunsten ins Feld führt, verleugnet Nicolaus diese geradewegs: STEPH. At Universitas tua fatetur, absque consensu suo non posse transferri concilium: hic vero non consensisse Patres iam ostendimus. NIC. Nihil ad me quid universitas dicat.40 Die Botschaft an die Adresse der Universität Köln ist klar : Nicolaus – und mit ihm die päpstliche Partei – sind unzuverlässige Verbündete, die außerdem von materiellen Interessen geleitet werden. Die vier Dialogteilnehmer vermitteln der Universität Köln nicht nur eine politische Botschaft, sondern auch die Werte des italienischen Humanismus. Die Juristen und die Sekretäre erscheinen als verständige Männer, die sowohl die lateinische Sprache als auch die Kunst der Rhetorik beherrschen und sich dadurch von ihren Zeitgenossen absetzen. Dieses Thema zieht sich durch das ganze Werk und verbindet beide Dialogreihen miteinander. Es kündigt sich kurz im Dial. 1 an, mit einer Klage des Martinus über die zeitgenössischen Philosophen, die sich mehr um den Schein als um Tugend und Lehre kümmern.41 Klarer wird es in Dial. 3 entfaltet, in dem Martinus und Aeneas die beiden Juristen gleichermaßen wegen ihrer Wissenschaft (doctrina) und ihrer Eloquenz bewundern, um dann in eine Klage gegen andere Gesetzeskundige auszubrechen, die sich nur in auswendig gelernten Formeln, deren Bedeutung sie nicht ganz ver-
38 Piccolomini (1762), 705. 39 […] tua conclusio est. NIC. Universitatis, non mea, ne erres. STEPH. Haec est ergo tuae Universitatis sententia? NIC. Haec eadem (Piccolomini (1762), 711). Übers.: „[…] diese ist deine Schlussfolgerung. Nicolaus: Nicht meine, sondern die der Universität, täusche dich nicht. Stephanus: Diese ist also die Meinung deiner Universität? Nicolaus: So ist es.“ 40 Piccolomini (1762), 738. Übers.: „Stephanus: Aber deine Universität gibt zu, dass das Konzil ohne dessen Einverständnis nicht verlegt werden kann, und wir haben bereits gezeigt, dass die Konzilsteilnehmer nicht zugestimmt haben. Nicolaus: Was kümmert mich, was die Universität sagt.“ 41 Non enim virtute ac studiis, ut habeantur philosophi, laborant, sed vultum, & tristitiam, & dissentientem a caeteris habitum pessimis moribus praetendunt (Piccolomini (1762), 698). Übers.: „Sie streben nicht nach Tugend und wissenschaftlicher Beschäftigung, um als Philosophen zu gelten, sondern verdecken mit einem Äußeren, das sie von den anderen abhebt, ihre schlechten Gewohnheiten.“ Der Satz ist in eine längere Passage mit Bezügen auf Pythagoras und auf Quintilian eingebettet.
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stehen, ausdrücken können.42 Stephanus vergleicht sie mit Raben, Elstern und Papageien, und nennt sie aselli bipedes. Diese Vergleiche mit Tieren gipfeln in Aeneas’ Behauptung, sie seien kaum Menschen zu nennen.43 Im Dial. 5 wird das Thema kurz wieder aufgenommen, als Martinus fürchtet, Stephanus sei nicht in der Lage, die Argumentation des Nicolaus zu widerlegen. Aeneas tröstet ihn: Stephanus sei nicht einer dieser Juristen, die sich lediglich auf ihr Gedächtnis verlassen können. Während die Sprachbeherrschung von Nicolaus und Stephanus ausdrücklich thematisiert wird, führen die Sekretäre ihre eigene Sprachbeherrschung kommentarlos vor, indem sie immer wieder die genaue Bedeutung von Wörtern diskutieren, wodurch auch die Dialogreihen miteinander verbunden werden.44 Die vier Dialogteilnehmer legen eine elitäre Haltung an den Tag, wie sie bei den Humanisten üblich ist. Es stellt sich allerdings die Frage, wie das Publikum der Schrift, in ihrer großen Mehrheit keine Humanisten, dies wohl aufgenommen hat.45 Die Vehemenz der Invektive mag paradoxerweise zu deren positiver Aufnahme beigetragen haben. Sie scheint nämlich auf einige extreme Fälle abzuzielen, während die Leser Piccolominis gerade durch ihre Lektüre sich zu den Gebildeten zählen konnten. Wenn diese Erklärung für die Basler Leser greift, ist die Lage bei den Kölnern, die bis dahin wenig bis keinen Kontakt mit Huma42 Horum doctrina alia est, quam illorum, qui formis & terminis quibusdam, ut servi glebae adscripti, nihilo plus corvis sapiunt […] (Piccolomini (1762), 708). Übers.: „Sie haben ein anderes Wissen als jene, die an Formeln und Wendungen kleben, wie Leibeigene an der Scholle, und nicht mehr wissen als Raben.“ Raben können bekanntlich einzelne Wörter lernen und wiederholen. 43 Ne mihi, obsecro, istorum facito mentionem, quos nec ego in numero hominum habeo […] (Piccolomini (1762), 708). Übers.: „Erwähne ja nicht diese Leute, die ich gar nicht zu den Menschen zähle […] “ Hier hat Iaria (2003b, 24–28) Berührungspunkte und sogar sprachliche Parallelen (aselli bipedes, Verneinung des menschlichen Charakters) mit Lorenzo Vallas Epistola contra Bartolum festgestellt. 44 In Dial. 5 werden die Worte des Nicolaus am Ende von Dial. 4 kommentiert, der von Stephanus verlangt, religiose zu argumentieren. Martinus und Aeneas diskutieren die Bedeutung von religiosus und grenzen es sorgfältig von ähnlichen Ausdrücken wie sacer oder sanctus ab. In Dial. 7 kommentieren sie Stephanus’ Anspielung auf den genius loci, der seine Argumentation inspiriert habe, und diskutieren die Verwendung und genaue Bedeutung des Wortes genius in der Antike. In Dial. 9 erörtern sie die letzten Worte des Nicolaus, der auf die heraufziehende suprema tempestas anspielt, was zu einem gelehrten Diskurs über die Bestimmung der Tagesdauer in der Antike und die korrekten Bezeichnungen der Tageszeiten im Lateinischen führt. 45 Helmrath (2004), 40, warf diese Frage in Bezug auf die Rede zugunsten Pavias auf, die Piccolomini vor dem Konzil hielt. Darin findet sich ebenfalls dieselbe abschätzige Haltung gegenüber denjenigen Konzilsteilnehmern, die sich nur auf ihre juristischen Quellen verstanden und denen vertiefte Kenntnis der Sprache und Beherrschung der Rhetorik fehlten. Freilich wissen wir nicht, ob die Rede genau in dieser Form gehalten wurde, aber schriftlich zirkulierte sie so und hatte keine gegenteilige Wirkung, sondern verschaffte Piccolomini vielmehr Aufmerksamkeit und Wertschätzung.
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nisten hatten und die Schrift wegen ihres politischen Inhalts lasen, eine andere. Ein Signal ihnen gegenüber liegt in der ausdrücklichen und wiederholten Inklusion von Nicolaus, dessen historisches Vorbild Nikolaus von Kues enge Beziehungen zur Kölner Universität unterhielt, in die Gruppe der Verständigen. Eine weitere Taktik dürfte dazu beigetragen haben, der Universität die Wichtigkeit von hervorragenden Sprachkenntnissen zu vermitteln: Im Dialog wird nämlich betont, dass das Sprachwissen nützlich und den Juristen dienlich sei, und es wird vorgeführt und diskutiert, wie eine nutzbringende rhetorische Praxis geartet sein muss. Nicolaus und Stephanus zeigen die juristische Relevanz einer vertieften Kenntnis der lateinischen Sprache, wenn sie die genaue Bedeutung einer Dekretale vom Bezug des Adverbs facile abhängig machen.46 Im Dial. 7 kritisieren die Sekretäre die mangelnde Kunstfertigkeit der zeitgenössischen Redner, die sich in unnötige Details verlieren,47 dadurch ihr Ziel, ihre Zuhörer zu überzeugen, verfehlen und daher als Gesandte nicht mehr nützen quam elingues & mutos.48 Der elfte Dialog beginnt mit einer ausführlichen Diskussion über die Qualitäten des guten Sekretärs, die in dem Argument der Nützlichkeit gipfelt: Eugen IV. hat die besseren Sekretäre, was ihm einen Vorteil gegenüber Franzosen und Deutschen verschafft.49 Martinus und Aeneas reflektieren, in welcher Form Rhetorikkenntnisse im juristischen Alltag umgesetzt werden können. Am Beispiel des Stephanus wird dargelegt, was eine gute Rede ausmacht: ipsus verus elegans est, remque ut decet breviter & dilucide narrans, & argumenta suis locis disponens, officium non iurisconsulti solum, sed oratoris implevit, huncque ego mitti legatum vellem […].50 In den Schriften eines guten Sekretärs soll es lepos, facetiae, & eruditio (Anmut, Witz und Bildung) geben, der Inhalt seiner Briefe soll composite, ornate, memoriter, & prudenter (wohlge-
46 Piccolomini (1762), 764. In Dial. 4 hatte Stephanus über die Juristen geklagt, die nicht in der Lage sind, den passenden Ausdruck zu finden: […] nec verba tamen rebus bene accommodant, nec vim novere vocabulorum … (Piccolomini (1762), 710). Übers.: „ […] weder sind sie in der Lage, ihre Worte den Inhalten anzupassen, noch kennen sie die Bedeutung der Begriffe.“ 47 Was recht drastisch ausgedrückt wird: Dies, recessus, itineris incommoda, quotiens potarunt, quotiens pransitarunt, quasi ad focum anus, commemorant; vix quoque quotiens minctum, aut ructatum ab eis sit, ne dicam, quod est ultimum, silent (Piccolomini (1762), 734). Übers.: „Wie eine Alte am Herd schildern sie die Etappen, die Unterkünfte, die Unannehmlichkeiten der Reise, wie oft sie tranken, wie oft sie aßen; sie verschweigen kaum, wie oft sie pissten oder rülpsten, um das, was am Ende kommt, nicht zu erwähnen.“ 48 Piccolomini (1762), 735. 49 Piccolomini (1762),755–756. 50 Piccolomini (1762), 735. Übers.: „Er selbst hat Eleganz, schildert die Angelegenheit kurz und klar, wie es sein soll, setzt die Argumente an den passenden Ort ein und erfüllt so nicht nur die Aufgabe eines Juristen, sondern auch diejenige eines Redners; ich wünsche, er würde als Legat gesandt […].“
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ordnet, geschmackvoll, aus dem Gedächtnis und klug) ausgedrückt sein.51 Dazu muss der Sekretär die Sprache beherrschen, sie einsetzen können, um Leidenschaften zu beruhigen oder hervorzurufen, die Antike kennen, um passende Exempel anführen zu können, und auch Kenntnisse des Rechts vorzuweisen haben. Wir sehen, wie an beiden Stellen rhetorische Qualitäten aufgerufen werden: die richtige Dispositio, eine Argumentation, die sich auf die juristischen Kenntnisse wie auf die passenden Exempla stützt, eine Elocutio, die von Korrektheit, Klarheit, Kürze und Eleganz geprägt ist, die Fähigkeit zu überzeugen und zu bewegen, der richtige Einsatz des Gedächtnisses. Die Reflexion über die Sprachbeherrschung und über den richtigen Einsatz der Rhetorik verweist wieder auf Brunis Dialogi ad Petrum Paulum Histrum, in denen die Diskussion über den Wert der disputatio einen breiten Raum einnimmt, bevor es im Text zu einer Disputatio in utramque partem kommt. Im Unterschied zu Brunis Dialogi steht im Libellus dialogorum nicht der Wert der Disputation im Mittelpunkt, sondern die nützlichen Aspekte der Rhetorik. Der mündliche Austausch wird ebenfalls thematisiert und vorgeführt, und zwar in zwei verschiedenen Formen, nämlich als freundschaftliches Gespräch und als Disput. Zu diesem zweiten Bereich gehören die Dialoge zwischen den beiden Juristen nach dem Begrüßungsabschnitt. Nicolaus und Stephanus nehmen ausdrücklich Bezug auf ihr Tun. Gleich am Anfang sagt Stephanus: Socratico more contendemus; atque ita facillime, vel quod verum, vel quod verisimillimum est, inveniemus.52 Was unter Socratico more zu verstehen ist, wird nicht weiter erläutert und ist zum Teil durch die ausgewogene Verteilung der Gesprächsanteile auf beide Partner, die dadurch als gleichberechtigt erscheinen, zu erklären. Lediglich einmal versucht einer der Disputanten (wieder Stephanus), seinen Kontrahenten zu unterbrechen: STEPH. Siste vocem! Nolo, ulterius pergas.53 Zum Socratico more dürfte auch die innere Einstellung beider Disputanten gehören, die im vierten und fünften Dialog erwähnt wird. Dial. 4 endet nämlich mit den Worten des Nicolaus: Tu si quid habes responde, sed religiose.54 Das Wort religiose wird daraufhin von Aeneas ausführlich diskutiert, der zu dem Schluss kommt: Cum ergo religiosum se velle responsum Nicolaus ait, id nempe responsum significat, quod a viro boni & mali perito, id est a sapiente, sit dandum.55 51 Piccolomini (1762), 754. 52 Piccolomini (1762), 707. „Wir werden nach sokratischer Art miteinander ringen und so ganz einfach entweder das Wahre oder das Wahrscheinlichste finden.“ 53 Piccolomini (1762), 712. Übers.: „Sei ruhig! Ich will nicht, dass du weiter machst.“ 54 Piccolomini (1762), 715. Übers.: „Wenn Du etwas vorzubringen hast, antworte, aber religiose.“ Wie dieses religiose zu verstehen sei, wird anschließend diskutiert. 55 Piccolomini (1762), 718. Übers.: „Als Nicolaus sagte, dass er eine Antwort mit Verstand und Gewissen will, meinte er damit eine Antwort, wie sie von einem Mann, der das Gute und das Böse kennt, das heißt, von einem Weisen, gegeben werden soll.“ Ich versuche, mich mit der
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Wir sehen hier übrigens, dass Aeneas ein antikes Wort, das mit einer veränderten Bedeutung (religiös) zu seiner Zeit gebräuchlich ist, dem im Mittelalter in diesem Sinn gebräuchlichen discrete vorzieht. Besonders eingehend überlegen Nicolaus und Stephanus, welcher Art die Argumente in ihrer Diskussion sein sollen, was auch eine inhaltliche und politische Dimension hat. Im Dial. 8 wollen sie den Vorrang von Konzil oder Papst diskutieren, und Stephanus schlägt eine Reihenfolge der Argumente vor, zuerst sollen die auctoritates, dann die Vernunftgründe (rationes) erörtert werden. Nicolaus findet aber, dass allein die Vernunftgründe eines freien Mannes würdig seien. Diese Frage beschäftigt nun vorerst die Disputanten, die sich beide auf Augustinus berufen. Für Augustinus, sagt Stephanus, wirken beide Formen der Argumentation zusammen: Die autoritativen Aussagen gehen voraus und bilden einen ersten Einstieg, der auch den weniger Gebildeten zugänglich sei, dann sei es Aufgabe der Vernunft, sie nachzuvollziehen. Nicolaus bringt aber zwei Zitate aus De vera religione vor, in denen Augustinus den Vorrang der Vernunft über die Autorität postuliert.56 Stephanus argumentiert seinerseits mit der Demut des Christen, der das Irren der Vernunft dann erkennen müsse, wenn diese nicht mit der Bibel kompatibel sei. Nachdem Nicolaus ihn verdächtigt, auf den Autoritäten zu beharren, da ihm wohl Vernunftgründe fehlten, beginnen sie doch damit ihre Diskussion. Dieser Abschnitt nimmt den Rest von Dial. 8 sowie Dial. 10 ein, und endet in Dial. 12 mit einem erneuten Protest des Nicolaus: […] viros doctos, ut videri nos volumus, non decet auctoritatibus disputare. Iuvenum est hic mos, & eorum qui popularem captant favorem: ac maxime nostri temporis legistarum, quibus non dico textuum, sed glossarum dicta, pro cortina & tripodibus sunt Apollinis […]57
Diese Ablehnung der auctoritates kann mit Sicherheit nicht auf jede autoritative Aussage, die als Argumentationshilfe eingesetzt wird, bezogen werden (Nicolaus selbst stützt sich ja auf Augustinus), sondern nur auf bestimmte auctoritates. Die Wendung ,mit Verstand und Gewissen‘ der Bedeutung zu nähern, die hier religiose zugewiesen wird. 56 Piccolomini (1762), 743. Es handelt sich um folgende Zitate: auctoritas fidem flagitat et rationi praeparat hominem. Ratio ad intellectum cognitionemque perducit […] (Avg. vera relig., 122, Übers.: „Die Autorität verlangt Glauben und bereitet den Menschen auf die Vernunft vor. Die Vernunft führt ihn zum Verstehen und zur Erkenntnis.“) und ipsi rationi purgatioris animae, quae ad perspicuam ueritatem peruenit, nullo modo auctoritas humana praeponitur […] (Avg. vera relig., 129, Übers.: „Der Vernunft einer reinen Seele, die zu einer klaren Wahrheit gelangte, wird auf keinen Fall eine menschliche Autorität vorgezogen.“). 57 Piccolomini (1762), 766–767. Übers.: „ […] es ziemt sich nicht für gebildete Männer – und als solche wollen wir erscheinen – mit Autoritäten zu argumentieren. Dies ist eine Gewohnheit der Jüngeren und derjenigen, die das Wohlwollen des Volkes gewinnen wollen, und vor allem der Rechtskundigen unserer Zeit, welche die Sprüche nicht nur der Rechtstexte, sondern sogar der Kommentare für das Orakel des Apoll halten.“
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Zitate, die hier angeführt werden und in der Kritik stehen, sind ohne Ausnahme Aussagen von Päpsten aus der Vergangenheit. Woher rührt deren Autorität, die abgelehnt wird? Es gibt am Ende von Dial. 12 eine Stelle, die weiteres Licht in diese Frage bringen kann. Als die Legalität der Deposition Eugens IV. durch das Konzil diskutiert wird, zählt Nicolaus die Botschafter von Fürsten auf, die sich dagegen ausgesprochen haben: […] oratores Imperatoris, regis Franciae, regis Castellae, regis Aragonum & ducis Mediolani, qui tuus est dominus. Dagegen protestiert Stephanus: […] iamque hic contra institutum non rationibus, sed auctoritatibus agis.58 Da Nicolaus den Gang der Geschehnisse erörtert hatte, ist der Einwand des Stephanus nicht ganz gerecht, zeigt uns aber, welche Autorität abgelehnt wird, nämlich diejenige, die sich durch ihre politische Macht durchsetzen kann. Es wird also suggeriert, dass der Position der Päpste nur deshalb ein besonderes Gewicht zukommt, weil sie Macht ausüben. Aber auf dem Niveau der Argumentation müssen päpstliche Aussagen der kritischen Reflexion unterzogen werden, und so muss sich auch der Papst der im Konzil vertretenen Kirche unterordnen. Dieser Zusammenhang wird nicht offen angesprochen, sondern nur suggeriert und kann den Leser umso besser lenken, da die Kritik an den auctoritates vom Parteigänger des Papstes vorgebracht wird. In der Frage der Heranziehung autoritativer Quellen gibt es eine Distanzierung von der gängigen juristischen Praxis, die ihre Entsprechung im sprachlichen Ausdruck hat. Während die Sprache der traditionellen kirchenpolemischen Dialoge durch die Verwendung juristischer Fachtermini und Ausdrucksformen geprägt ist, weist der Disput der beiden Juristen im Libellus dialogorum eine gegenläufige Tendenz auf. So werden häufig Vergleiche eingesetzt, die eine Situation oder einen Sachverhalt veranschaulichen sollen. Sie werden der alltäglichen Erfahrung,59 der Literatur60 oder der römischen Geschichte61 entnommen, wie an diesen Beispielen beobachtet werden kann: STEPH. Ab eventu arguis; Sapiens autem, sicuti placet Senecae, consilium rerum omnium, non exitum expectat.62 58 Beide Zitate Piccolomini (1762), 777. Übers.: „Entgegen unserem Beschluss gehst Du jetzt nicht mit Vernunftgründen vor, sondern zählst Autoritäten auf.“ 59 […] fortasse avarum illum imitari volebas, qui usuras idcirco publice detestabatur, ut solus omnibus fieret foenerator, Piccolomini (1762), 713. Übers.: „ […] vielleicht wolltest Du jenen Habgierigen nachahmen, der in der Öffentlichkeit die Zinsen verwünschte, um unter allen der einzige Wucherer zu werden.“ 60 Itaque moram ipsi accusabant, cuius erant causa, ac si Aeneam obiurget Mercurius Elisae desertorem, Piccolomini (1762), 714. Übers.: „So warfen ihm die Verzögerung vor, die sie verursacht hatten, als würde Mercurius Eneas das Verlassen von Dido vorwerfen.“ 61 Am ausführlichsten tut dies Nicolaus, wenn er in einem Exkurs über den römischen Senat argumentiert, dass nicht einmal in der Republik die reine Zahl für die Entscheidungsfindung reichte, sondern auch die Qualität der Personen eine Rolle spielte (Piccolomini (1762), 728). 62 Piccolomini (1762), 725. Übers.: „Du argumentierst vom Ergebnis her, der Weise aber, wie
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STEPH. Hic ergo me intelligas oro, supra pennas ventorum volantem.63 NICOL. Si eo pergis non te sequor, terrae haereo; vides, sicut humectum est corpus & ponderosum; vix hodie mille passus deambulavi.64 NICOL. Antiquo igitur modo laboras, & cum Basiliensibus, ut soles, deliras; vis tibi ut lavem caput?65
In diesem Zusammenhang verwenden die Juristen auch Worte und Vergleiche, die eine bewaffnete Auseinandersetzung evozieren. Damit stehen sie in einer langen Tradition, welche die Disputation mit einem Zweikampf gleichsetzt.66
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Seneca will, betrachtet die Überlegung, die hinter den Handlungen steht, und nicht deren Ergebnis.“ Es ist ein leicht abgeändertes Zitat aus Sen., epist. 14,16 (denique consilium rerum omnium sapiens, non exitum expectat). Ps. 17, 11. Übers.: „Ich bitte Dich, mich so aufzufassen, wie einen, der über die Flügel des Windes schwebt.“ Zuvor hat Stephanus Nicolaus vorgeworfen, politische Probleme mit den Maßstäben des Privatrechts anzugehen. Sein bildhafter Ausdruck bedeutet, dass er sich nicht bei juristischen Quisquilien aufhalten will, denn nicht nur spielt er damit auf die Bibel an, sondern auch auf das Sprichwort Aquila non capit muscas (zu diesem Sprichwort Thesaurus proverbiorum Medii Aevi, Bd. 1, 42). Piccolomini (1762), 723. Übers.: „Wenn du so weiter gehst, kann ich dir nicht folgen, ich hefte am Boden; du siehst, wie feucht und schwer mein Körper ist, kaum bin ich heute tausend Schritte gegangen.“ Piccolomini (1762), 707. Übers.: „Du plagst dich in der alten Art und Weise und faselst wie die Basler. Willst Du etwa, dass ich Dir den Kopf wasche?“ Dieser Ausdruck stammt wohl aus dem Italienischen. Der Dizionario della Crusca in der dritten Edition von 1691 nimmt den Ausdruck auf: §. Figuratamente: Lavare il capo altrui, significa Dirne male, arrecarli pregiudizio con biasimarlo (konsultiert über www.lessicografia.it). Auch im Französischen sind die Wendungen laver quelqu’un und laver la teste quelqu’un in der Bedeutung ,rügen‘, ,tadeln‘ belegt. Der Dictionnaire du Moyen FranÅais bringt für letztere Wendung einen Beleg aus den M¦moires de Philippe de Commynes (Art. „Laver“, B.3, über www.atilf.fr/dmf/). Im Libellus dialogorum kommt es ein zweites Mal vor: Sed habeo quoque adversus te irascendi caussam, qui in ea epistola, cui Christus est caput, Eugenio, ut par erat, non lavisti caput (Martinus spricht zu Aeneas, Piccolomini (1762), 783). Dieser Vergleich ist im Mittelalter sehr gängig, findet sich aber bereits in der Antike und in der Spätantike (vgl. ThLL vol. 5,1, c. 1441, l. 40–54). Zwei Beispiele aus dem Libellus: Nicol. Itaque do victam manum, nisi mihi campum in aliud certamen servas. Scis moris esse gladiatorum, ut victi lancea, gladio pugnent aut securi. (Piccolomini (1762), 733). Übers.: „Dann reiche ich dir die besiegte Hand, es sei denn, dass Du mir den Platz für einen weiteren Kampf einräumst. Du weißt, dass es Gewohnheit bei den Gladiatoren war, dass diejenigen, die mit der Lanze besiegt worden waren, mit dem Schwert oder mit der Axt weiter kämpften.“ Nicol. Miseret me tui, qui tam cito mihi ut victo insultas hosti; quin age, si quid telorum in pharetra est, deprome totum, clypeus mihi Ajacis est, de quo Virgilium dicere putant: Dic quibus in terris, & eris mihi magnus Apollo, / tres pateat caeli spatium non amplius ulnas (Piccolomini (1762), 721). Übers.: „Ich bemitleide dich, der du mich so schnell als besiegten Gegner beschimpfst. Auf, auf, wenn du Geschosse in deinem Köcher hast, hol alles hervor! Ich habe das Schild des Ajax, von dem Vergil gesagt haben soll: ,Sag mir, und du wirst mir wie der große Apoll sein, für wen auf der Erde der Himmel einen Platz von nicht mehr als drei Ellen einnimmt.‘“ Verg., ecl. 3,104–5 wird zitiert. Die Lösung, auf die hier angespielt wird, nämlich dass es sich um den Schild des Ajax, auf dem der Himmel dargestellt werde, handele, findet sich im Kommentar des Junius Philargyrius (Philarg. Verg. ecl. 3,103 rec. I).
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Häufig sind auch die Vorwürfe, zu träumen und zu phantasieren, das heißt, gegen die Vernunft zu verstoßen, die in der Diskussion als der wichtigste Maßstab definiert wird. So werden die Reaktionen der Griechen auf die Vorschläge des Konzils mehrmals mit Wörtern wie delirare oder deliramenta bewertet.67 Trotz dieser Wortwahl wird der Disput nie zu einem persönlichen Angriff, es sind immer nur die Argumente des Kontrahenten, die kritisiert werden, nie seine Beweggründe oder seine Person. Dass manche Parteigänger des Papstes lediglich wirtschaftlichen Gewinn suchen, wird – wie wir gesehen haben – nur suggeriert, nicht offen ausgesprochen. Auch am Ende der Diskussion, als die Verdienste der zwei konkurrierenden Päpste verglichen werden, äußern Stephanus und Nicolaus ihre Urteile in maßvoller Art und Weise. Martinus kritisiert sogar diese Milde: Stephani vero tam laudantis, quam vituperantis sobrietas, mihi permolesta fuit.68 Aeneas ist aber der Meinung, dass in einem kirchenpolitischen Disput Mäßigung walten soll: Recte; ultra quam reris, concilio semper modestus sermo collibuit; nec, si Eugenius obloquendo desipiebat, delirare propterea vel Concilium, vel Felicem decebat.69 Beide Sekretäre äußern sich allerdings viel offener in ihrer Kritik an Papst Eugen IV. Die gerade besprochene Stelle ist ein Beispiel dafür, dass ein Gespräch zwischen Freunden, wie die beiden Sekretäre es führen, anderen Regeln folgt als ein Disput über eine Sachfrage. Wenngleich diese Regeln nicht so offen und ausführlich dargelegt werden wie beim Disput der zwei Juristen, wird das Gespräch unter Freunden durch ein Zitat aus den Saturnalia des Macrobius, der auf dessen Wert hinweist, als unterschiedliche Form des mündlichen Austauschs klar markiert: Neque enim recte institutus animus requiescere, aut utilius, aut honestius potest usquam, quam in aliqua oportunitate docte ac liberaliter colloquendi, interrogandique & respondendi comitate, ut apud Macrobium videtur Decio.70
Der programmatische Wert dieses Zitats liegt nicht nur in seiner Stellung in Dial. 1, sondern auch darin, dass es Piccolominis Libellus von seinem Vorbild, Brunis Dialogi, abgrenzt. Bruni hatte es nämlich abgeändert und auf den Disput umgemünzt, die einzige Gesprächsform, die in den Dialogi thematisiert wird: 67 Piccolomini (1762), 713. Zwei Beispiele aus anderen Stellen im Dialog: Nic. Non intelligis, quod pace tua sit dictum, Gelasius quid velit […] Steph. Minus tu, qui per somnia & inania pergis phantasmata (Piccolomini (1762), 750); Nic. Deliras […] Steph. Divinationibus & somniis agis mecum, ego verbis haereo (Piccolomini (1762), 765). 68 Piccolomini (1762), 783. 69 Piccolomini (1762), 783. 70 Piccolomini (1762), 699. Übers.: „Ein gebildeter Geist kann sich nirgends nutzbringender und geziemender erholen als bei einem klugen und freundschaftlichen Gespräch und bei einem leutseligen Fragen und Antworten, wie Decius bei Macrobius meint.“ Das Zitat findet sich in Macr., sat. 1,2,4.
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Quid est quod animum fessum atque labefactum et haec studia longitudine otii et assiduitate lectionis plerumque fastidientem magis reparet atque redintegret quam sermones in corona coetuque agitati, ubi vel gloria, si alios superaveris, vel pudore, si superatus sis, ad legendum atque perdiscendum vehementer incederis?71
Das Gespräch der Sekretäre behandelt mit Vorliebe gelehrte Fragen, dabei stellen sie sich gegenseitig Fragen zur Wortwahl, zur Grammatik und zur antiken Kultur, um ihr Wissen zu teilen. Der Gang ihres Gesprächs unterscheidet sich vom Disput der Juristen: In ihrem Austausch fehlt jeder Hinweis auf eine Auseinandersetzung, die Höflichkeitsformeln hingegen sind häufig. Hier sind auch lange Redebeiträge erlaubt, Martinus rügt sogar seinen Freund, wenn dieser eine lange Rede mit einer Frage unterbricht: Audies, si potis es tacere.72 Assoziative Themenwechsel und Exkurse sind möglich und werden nur dann gerügt, wenn sie zu sehr von der ursprünglichen Fragestellung abweichen.73 Beide Dialogreihen scheinen in manchen Punkten gegensätzliche Ansichten zu vermitteln, was mit der unterschiedlichen Praxis im Disput und im freundschaftlichen Gespräch zusammenhängt. Dies ist in der Frage der auctoritates klar zu sehen. In der Diskussion der Juristen wird der Einsatz autoritativer Zitate abgelehnt; die Sekretäre hingegen nehmen überaus häufig Bezug auf antike und spätantike Autoren. Der Unterschied liegt in der Quelle der Autorität. Während die von den Juristen zitierten Päpste ihre Autorität aus der politischen Macht ihres Amtes beziehen (wie suggeriert wird), stammt die Autorität der antiken Autoren aus ihrer sprachlichen Kompetenz. Sprache und Politik folgen unterschiedlichen Regeln, wie man in einer weiteren Frage sehen kann. Im dritten Dialog, als sie ihre Invektive gegen die aselli bipedes führen, erwähnt Aeneas deren schlechte Orthographie und führt als Beispiel die Praxis an, abundo mit h zu schreiben, trotz der gegenteiligen Meinung von Hugutio, einer traditionellen und allgemein anerkannten Autorität. Martinus verteidigt diese Praxis durch die Gewohnheit, die consuetudo, die nach Quintilian in Fragen der Orthographie maßgeblich sei. Dagegen wehrt sich Aeneas heftig: Die maßgebliche Gewohnheit sei die Übereinkunft der Verständigen (eruditorum […] consensum), auf keinen Fall das, was die meisten machen (id quod plures faciunt). Häufig hätten sie 71 Bruni (1994), 238. Übers.: „Was kann den müden und schwachen Geist, der die wissenschaftliche Beschäftigung wegen langen Nichtstuns und wegen häufiger Lektüre ablehnt, mehr erholen und wiederherstellen als die Gespräche, die in der Gruppe und in Gesellschaft geführt werden, bei denen man zum Lesen und Lernen mit Eifer kommt, entweder für die Ehre, wenn man andere besiegt, oder aus Scham, wenn man besiegt wird?“ 72 Piccolomini (1762), 756. 73 So tadelt Martinus an einer Stelle Aeneas: Hoc tamen ab eo, quod quaesivi, longe abest (Piccolomini (1762), 747). Übers.: „Aber dieses führt zu weit weg von dem, was ich gefragt habe.“) und er ruft sich andernorts selbst zur Ordnung: Mart. […] Sed pergo ad institutum. Aen. Laudo (Piccolomini (1762), 756). Übers.: „Martinus: […] Aber ich komme nun zu dem, was wir festgelegt haben. Aeneas: Das lobe ich mir.“
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gehört, wie die Mehrheit im Konzil sich unlateinisch ausdrückte. Hier kündigt sich kontrapunktisch eines der Hauptthemen im Libellus an, nämlich das Verhältnis zwischen der maior und der sanior pars. Die Lösung ist jedoch gegensätzlich: Für die Orthographie ist die sanior, für die Kirche die maior pars maßgeblich. Die zwei Dialogreihen sind auf unterschiedliche Art und Weise miteinander verbunden: Manche Themen – wie die Verteidigung der Rhetorik – ziehen sich durch beide, in anderen Aspekten – wie der Art des mündlichen Austauschs – kontrastieren sie miteinander. Die konkrete Verbindung zwischen angrenzenden Dialogen geschieht vor allem durch zwei Verfahren: indem die Sekretäre eine Aussage im vorausgehenden Juristendisput kommentieren74 oder indem ein szenischer Hinweis am Ende des Sekretärengesprächs die Wiederaufnahme des Disputs einleitet.75 Die zwei ersten Dialoge sind durch eine wichtige inhaltliche Entsprechung verbunden, die den Dialogleser auf eine Parteinahme für die Basler Partei einstimmen soll. Am Anfang des Libellus kehren die Sekretäre von ihrem Ausflug zurück und unterhalten sich über unterschiedliche Themen, zuletzt über den Kontrast zwischen dem Landleben und dem Stadtleben. Der wichtigste Unterschied hier sei, dass die Stadtbewohner mehr unter Krieg und Unruhe zu leiden hätten. Bei der schwärmerischen Beschreibung des Landlebens verschmelzen die Zeithorizonte: Aeneas zieht antike Autoren, vor allem Vergil heran, wodurch die Stadt als das antike Rom erscheint, erwähnt aber unter den Gründen für die Unruhe eine aktuelle Frage, summorum Pontificum […] caussas (700). Martinus bezieht sich in seiner Antwort auf den Aufruhr in der curia, die er als Romana curia bezeichnet, obwohl er am Hof des Basler Papstes tätig ist. Dem Leser bleibt der Eindruck, Rom sei der Herd der Unruhe. Das Thema wird im nächsten Dialog wieder aufgenommen. Als sich Nicolaus und Stephanus treffen und erkennen, wundert sich Nicolaus, Stephanus in der Nähe von Basel zu sehen, und fragt nach dem Grund, weshalb er Italien verlassen habe. Daraufhin lobt er ausführlich dieses Land. Stephanus hingegen beklagt die ständigen Kriege und die Unsicherheit in Italien, die er dem Frieden und der Sicherheit in den deutschen Ländern gegenüberstellt. Die vorherige Diskussion wird hier gespiegelt, wobei Italien mit der Stadt, das Deutsche Reich mit dem Land parallel gesetzt werden. Das Lob des Papstanhängers für Italien und des 74 Einige Beispiele haben wir in Anm. 44 gesehen. 75 Im Dial. 5 vermerken die Sekretäre, dass Stephanus sich hinter eine Hecke zurückgezogen hat, ihr Gespräch endet mit seiner Rückkehr : Sed ecce Stephanum! Laetus redit ad certamen; audiamus (Piccolomini (1762), 719). Auch die Dialoge 9, 11 und 13 enden mit szenischen Hinweisen: Mart. Plurima hic sciscitari vellem, nisi Stephanum iam resumere sermonem cernerem, quem audire satius est (Piccolomini (1762), 749); […] Sed eccum Nicolaum; ipsi aures praestemus (Piccolomini (1762), 763); […] Sed iam illi vesperas finierunt (Piccolomini (1762), 787).
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Konzilsanhängers für die deutschen Länder haben wohl eine politische Motivation, die jedoch nicht expliziert wird. Dadurch erscheint die päpstliche Partei in Italien als die Partei des Unfriedens, die Konzilspartei in Basel als diejenige des Friedens. Der informierte Leser, auf den Piccolomini zielt, wird auf das Vorhandensein dieser zweiten Verständnisebene durch eine Unstimmigkeit zwischen den Angaben im Text und seinem Wissen über die gegenwärtige Situation hingewiesen. Die Dialogfigur Stephanus ist von Italien nach Basel gekommen, was nicht auf die historische Person Stefano Caccia, sondern auf Nikolaus von Kues (der von Nicolaus repräsentiert werden soll) zutrifft: Er war nämlich um diese Zeit aus Florenz in das Gebiet des Deutschen Reiches gekommen.76 Die Bedeutung von Italien als Sitz von Papst Eugen IV. wird in Dial. 12 wieder aufgenommen, in dem deutlich gesagt wird, Eugen sei für den gegenwärtigen Unfrieden in Italien verantwortlich. Aufenthaltsorte und örtliche Bezüge haben hier eine übertragene Bedeutung und es stellt sich deshalb die Frage, ob dies auch für die Situierung der Handlung in Ort und Zeit gilt. Im Gegensatz zu traditionellen Gesprächen, die entweder außerhalb von Raum und Zeit oder aber in einem allegorischen Rahmen angesiedelt sind, befinden sich die Figuren des Libellus dialogorum an einem Ort, der präzise lokalisiert wird, nämlich etwa fünfhundert Schritt von Basel entfernt und somit eindeutig in der realen Welt.77 Beide Juristen sitzen am Ufer des Rheins, beide Sekretäre hinter dem Riedgras,78 im Dial. 5 wird eine Hecke erwähnt. Über die Zeit werden weniger präzise Angaben gemacht: Der Tag muss fortgeschritten sein, denn die Sekretäre kehren bereits von ihrem Ausflug zurück. Am Ende des Dial. 8 wird darauf hingewiesen, dass der Sonnenuntergang naht: […] ea tamen lege, ut prius finias, quam suprema tempestas emergat.79 Daraufhin erinnert Aeneas daran, dass die Stadttore bald geschlossen werden und dass es keine Unterkunft außerhalb der Stadt gebe. Dial. 12 endet mit den Worten iam fugit tempus.80 Schließlich, nach dem Parteiwechsel des Nicolaus, eilen alle in die Stadt, weil der Wächter schon zum dritten Mal gerufen hat. Durch die wiederholten Hinweise auf die Stadttore erscheint Basel als der sichere Hafen, der erreicht werden muss. In seiner Umgebung treibt sich Nicolaus in Verkleidung herum, in einer Parteizugehörigkeit, die seiner wahren Meinung – wie der Text suggeriert – nicht entspricht. Meines Erachtens gibt es hier auch eine zweite, 76 Dazu Meuthen (1970), 30–36. 77 […] adhuc plus quingentis passibus ab urbe distamus (Piccolomini (1762), 699). 78 Nicol. […] Sedeamus hic in ripa fluminis, disputemusque solis occasum usque, cuius per autumnum vis calori non ardori est (Dial. 2, Piccolomini (1762), 707). Mart. Sedeamus nos etiam hic post carecta (Dial. 3, Piccolomini (1762), 707). 79 Piccolomini (1762), 745–746. Übers.: „ […] aber unter der Bedingung, dass Du zum Schluss kommst, bevor der Sonnenuntergang einsetzt.“ 80 Piccolomini (1762), 781.
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allegorische Ebene: Basel steht für das in Piccolominis Augen rechtmäßige Konzil, das die Kirche vertritt.81 Nicolaus (und mit ihm die Universität Köln) hat noch Gelegenheit, zur richtigen Partei zurückzukehren, aber die Zeit drängt – wie sie in der Lebenswirklichkeit der Leser tatsächlich drängte, stand doch der Reichstag in Nürnberg unmittelbar bevor. Die letzten Worte des Dial. 8 sind absichtlich mehrdeutig formuliert. Der Ausdruck suprema tempestas kann auch als der ärgste Sturm verstanden werden und somit auf einen drohenden Konflikt großen Ausmaßes hinweisen. Dass die eigentliche Bedeutung ,Sonnenuntergang‘ nicht geläufig war, zeigt die ausführliche Erklärung der beiden Sekretäre. Nun haben die Orte, an denen Autoren der Renaissance Dialoge stattfinden lassen, eine symbolische Bedeutung,82 doch dürfte eine solche allegorische Aufladung wie im Libellus dialogorum selten sein; auch in Brunis Dialogi konnte Piccolomini in dieser Beziehung nur ein schwaches Vorbild finden.83 Er hat hier die Lesegewohnheiten eines Publikums berücksichtigt, das es gewohnt war, mehrfache Bedeutungsebenen aufzuspüren. Wir haben gesehen, wie der Libellus nicht nur auf der argumentativen Ebene versucht, die Kölner umzustimmen: Die Papstanhänger werden als Profiteure, unzuverlässige Alliierte und Unruhestifter dargestellt. Auf subtile Weise macht Piccolomini Werbung für die humanistisch gebildeten Redner und Sekretäre, wie er selbst einer war, indem er die Nützlichkeit der Sprach- und Rhetorikkenntnisse vorführt. Nun können wir auf die eingangs gestellte Frage zurückkommen: Wie werden humanistische Ansätze mit den Erwartungen des Publikums in Einklang gebracht? Die Leser in Basel und in Köln waren an politische Dialoge mit literarischen Ansprüchen gewöhnt, sie waren deshalb für eine solche Einbettung der eigentlichen juristischen und politischen Argumentation empfänglich; allerdings geht Piccolomini weiter als andere Autoren kirchenpolitischer Dialoge, denn er begrenzt die Ausgestaltung nicht auf einen Rahmen, sondern schreibt einen ganz und gar literarischen Dialog. Der Einsatz von Figuren, die als historische Personen erkennbar sind, ist dabei nicht ungewöhnlich, doch wird der Papstanhänger Nicolaus durch seine Worte und Handlungen auf subtile Weise so charakterisiert, dass die päpstliche Partei und ihre Anhänger in ein ungünstiges Licht gestellt werden. Ebenso subtil ist die Art, wie Piccolomini die genaue Situierung im Hier und Jetzt durch eine zweite Bedeutungsebene erweitert. Dabei weicht er auf der Oberfläche von der gängigen und beliebten allegorischen Umrahmung polemischer Dialoge ab, kann aber mit der verständigen Lektüre eines Publikums rechnen, das daran gewöhnt war, hinter 81 Deshalb fühlt sich Stephanus von der Nähe zu Basel geradezu inspiriert, s. o. Anm. 36. 82 Dazu Föcking (2009), 97–100. 83 Zur symbolischen Bedeutung der Orts- und Zeitangaben in Brunis Dialogi ad Petrum Paulum Histrum siehe Zorzi Pugliese (1995), 59–70.
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einer historischen eine allegorische Ebene zu entdecken. Piccolomini unterstreicht die Priorität von Vernunftgründen. Einen ähnlichen Ansatz findet man bei Wilhelm von Ockham mit seiner Betonung der notwendigen Abwägung aller Argumente durch jeden Christen. Das Neue bei Piccolomini liegt vor allem in der radikalen Abkehr von einem juristischen Fachvokabular. Dabei ist seine elocutio durchaus nicht durchgängig antikisierend; denn er verwendet nicht nur klassische Ausdrücke, sondern bildet auch volkssprachliche Wendungen nach und verteidigt sogar die Bildung neuer Wörter für neue Bedeutungen. Unter all diesen Aspekten kommt Piccolomini seinem Publikum entgegen, indem er seine eigenen humanistischen Vorlieben mit dessen Lesegewohnheiten verbindet. Aber es gibt im Dialog einen ausschließlich humanistischen Kern, der ihm seine besondere Prägung verleiht: Es ist die Reflexivität der Sprache und der literarischen Praxis. Sei es die Wortwahl, die Argumentation, die richtige Art, Briefe zu schreiben und Reden zu halten, zu plaudern und zu streiten: All dies wird diskutiert und gleichzeitig von den Figuren umgesetzt. Neben einem äußeren politischen Thema, dem Streit zwischen Papst und Konzil, hat der Libellus dialogorum auch einen inneren Gegenstand, nämlich, wie Sprache zu Literatur und die Rede zum Dialog wird.
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Marc Laureys (Bonn)
Competence matters: Grammar and Invective in Girolamo Balbi’s Rhetor gloriosus
Franco Simone, one of the most authoritative 20th-century specialists on early Renaissance humanism in France, devoted one of his pioneering articles to “Robert Gaguin e il suo cenacolo umanistico”.1 The focus of this study is on the collaborative efforts of Robert Gaguin and his network of friends and colleagues to establish Renaissance humanism in Paris. Although Simone’s analysis is still substantially valid, it tends to gloss over one particular characteristic of the humanistic scene in late 15th-century Paris, namely the intense rivalry and competition, which led to nasty clashes between several key players, provoked ever shifting coalitions and forced some protagonists to abandon their position and leave Paris altogether.2 The global picture of the emergence and consolidation of Renaissance humanism in Paris is not as harmonious, in other words, as it would seem to appear from Simone’s account. This lack of attention for the contentious side of the early humanist environment in Paris is a telling illustration of the fact that controversy and invective, which marked the social dynamics of the humanist movement from the very start, have for a long time been somewhat downplayed as petty quarrels of “curmudgeons in high dudgeon”3, rather than regarded and investigated as a decisive instrument in the selfdefinition and self-positioning of Renaissance humanists. This paper is devoted to the conflict that evolved between Guillaume Tardif and Girolamo Balbi in the 1480s and focuses in particular on one specific polemical text that to date has not been analyzed in any detail, namely Balbi’s This article is the revised version of a paper, held at the 2013 Annual Meeting of the Renaissance Society of America in San Diego. I have maintained the language, in which the paper was delivered, in this publication. 1 Simone (1939). 2 This point is well made by Charrier (1996), 71–73. The most instructive general survey of early French humanism is offered by Müller (2002). Earlier overviews include Cecchetti (1987) and Beltran (1992). 3 To quote the title of Rao (2007), which in itself hardly suggests a positive appraisal of the whole phenomenon.
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Dialogus de glorioso rhetore.4 Born in Venice around the middle of the 15th century, Girolamo Balbi5 received his education in Rome, where he was a student of Pomponio Leto. He arrived in Paris probably in the second half of 1485 and soon integrated into the milieu of humanists in Paris, which centered at that time around Robert Gaguin, arguably the leading humanist in Paris after the departure of Guillaume Fichet for Italy.6 General of the order of the Trinitarians, employed by the royal court for diplomatic missions, and a professor of rhetoric and canon law at the Sorbonne, Gaguin entertained a wide network of relationships with dignitaries close to the royal crown, members of the high clergy, as well as university professors and other people from the academic environment.7 The two volumes of epigrams that Balbi published in Paris in 1487 and 1488, respectively, document his ties with various persons from these different circles.8 By 1487, however, Balbi had also become embroiled in a first – and certainly not the last – conflict. His opponent was Guillaume Tardif,9 who, incidentally, does not seem to have had any particular connection with Robert Gaguin. At the time of Balbi’s arrival in Paris, Tardif had been a professor of rhetoric for more than 20 years, for some time – it seems from a letter of Johannes Reuchlin10 – at the famous CollÀge de Navarre, but from the early 1480s Tardif ’s working terrain gradually shifted to the royal court, where he became the tutor of the dauphin Charles, son of King Louis XI; once King (Charles VIII), Charles appointed Tardif as his “lecteur” (or “domesticus lector”) in 1484, when Charles was still only 14 years old. From about 1473 Tardif produced treatises on grammar and rhetoric, which went through several editions and appeared to have been quite popular for some decades.11 On 14 March 1487 Balbi submitted an official request to the authorities of the Sorbonne that Tardif ’s grammar be scrutinized by a commission of experts, because in Balbi’s eyes this grammar was totally flawed and useless; six days later Tardif filed a complaint with the law faculty for defamation by a “certain stranger, [who had] newly arrived in Paris” (quidam 4 Balbi, Dialogus (1487). The text was reprinted in: de Retzer (1791), also available via books.google.com; my quotations are from this reprint. 5 For a bio-bibliographical survey see Rill (1963), Tournoy-Thoen (1985), and Klecker (2008). 6 See the recent assessment of this humanist by Collard (2005), as well as his earlier monograph from 1996. 7 For a very detailed survey of Gaguin’s network see Charrier (1996), 33–73. 8 For bibliographical details and an accurate analysis of their date of publication see Tournoy (1978), 70–71. 9 The most recent survey of Tardif’s life and writings is offered by Mombello (2005), 733–745; among older studies see above all Beltran (1986). 10 Ep. 227 (Reuchlin [2003], 422, with notes 14 and 15). 11 The best overview of Tardif ’s publications can be found in Ruelle, Apologues (1986), 15–27; for the editions of his treatises on grammar and eloquence see ibid., 17–19.
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advena Parisius noviter advenerat).12 Various attempts to settle the dispute peacefully and two solemn promises forced upon Balbi to cease his polemics did not prevent the conflict from continuing over the next years. The first edition of Balbi’s epigrams, sometime in the first half of 1487, prompted Tardif to write a fierce Antibalbica, a vitriolic speech, in which Tardif castigated the epigrams and vilified their author. Before that, Balbi had further compounded matters, since he originally intended to dedicate his collection of epigrams to Tardif, but later – probably around the time of the legal proceedings just mentioned – chose another dedicatee, Guillaume de Rochefort, Chancellor of France, while adding at the same time some offensive epigrams against Tardif to the collection. Still in the same year, 1487, Balbi replied with his Rhetor gloriosus, in which he staged Tardif as a snooty and self-complacent teacher, after the model of Plautus’s Miles gloriosus; a second edition of his epigrams followed at the beginning of 1488. Tardif reacted two years later with an expanded version of his Antibalbica, published at the end of 1489; this version was reprinted, with only minor additions, in 1495; by that time, however, Balbi had been forced to leave Paris on account of new clashes with other rivals.13 The entire exchange between Tardif and Balbi is a typical example of a humanist feud and the concerns that fuelled them. Recent attempts at defining the essential characteristics of Renaissance humanism have invited us to look not only at the way the humanists delineated and put into practice their fields of competence, the studia humanitatis, or how they chose specific normative concepts, such as Classical Antiquity or nationhood, in order to find specific roles and functions for their cultural movement in contemporary society, but to pay attention also to the techniques, procedures and strategies of their selfexpression and interaction.14 The significance of this last approach goes well beyond the by now familiar notion of self-fashioning. It may be argued that the humanists constituted essentially a community, whose members explicitly or 12 I quote the text from Andrelini (1982), Livia, 36, n. 1. Beltran (1986), 12–13, thought that Tardif and Balbi started quarrelling even before Balbi’s arrival in Paris, and Mombello (2005), 739–740, at least partly concurred. This theory is based, however, on the idea that Tardif ’s In invidiosam falsamque detractionem ubicumque gentium lateat verissima responsio ac defensio, published before ca. 1478, was directed against Balbi – for which there is no indication whatsoever. The mere title of this apologetic piece rather suggests a more general reaction on the part of Tardif against real or possible criticism. In his later Eloquencie benedicendique sciencie studium suadens oracio, in which he refers to this verissima responsio ac defensio (see Beltran (1986), 38: invidiose detractioni ubicumque gentium lateat responsivam edidi orationem), he also anticipates criticism of a fictitious opponent; see Beltran [1986], 32: nescio quis dicet calumniator. Tardif adopts here the rhetorical figure of the praesumptio. 13 The chronological sequence of all these writings has been accurately determined by Tournoy (1978), 70–71. 14 See, among other recent contributions, Hirschi (2010), especially 38–47.
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implicitly agreed to pursue the same literary, educational, and moral ideals, and shared the same linguistic and aesthetic standards in their (primarily Latin) communication; on that basis the community as a whole arrived at a common self-image and self-understanding.15 Praise and blame were essential ingredients of this communication both within the community of humanists and between humanists and other individuals or groups; through these exchanges the community was constantly re-established and re-confirmed or re-oriented and redefined. The larger and smaller networks, which continuously took shape within the community, were based on both ideological and professional grounds, since humanists not only cultivated common ideals and aspirations, but also often competed in a relatively narrow professional market. Networks were consolidated through personal connections and literary (above all epistolary) practice, which also involved explicit and implicit procedures of inclusion and exclusion.16 In this context, competence in Latin grammar and style, mastery of the correct norms and standards of Latinity was always the supreme qualification for the status of humanist, the most convincing proof of membership in the community of humanists. The most notorious confrontation in the history of Italian Renaissance humanism, the conflict between Poggio Bracciolini and Lorenzo Valla, which took place at the Roman curia in the years 1451–1453, is an excellent case in point.17 This conflict, furthermore, shows very vividly how even the most acrimonious exchange could serve as a catalyst of both scholarly progress and literary creativity. For although both antagonists constantly resorted to the most outrageous ad hominem attacks, still the first extended historical-critical analysis of humanist Latin arose in the midst of their heated debates. In addition, both authors obviously strove to mould their polemical texts into literary masterpieces and displayed their full command of various rhetorical techniques, stylistic registers, and satirical modes of writing. It seems, generally speaking, to be above all this productive force of humanist polemical literature – always related to the classical tradition of praise and blame – that made even the most ferocious invective into a fundamentally acceptable and accepted mode of communication. The possibilities of a literary culture of contention would only gradually be confined within ever narrower boundaries in the course of the early modern age. As soon as Renaissance humanism found its way across the Alps, national and – especially in the German Empire – religious concerns added new dimensions 15 See above all Helmrath (2005), 542–543, and (2010), 264–265, where he proposed the term “corona” for this community of humanists. 16 See Laureys / Simons / Becker (2013). 17 The most recent analysis is Helmrath (2010), especially 265–277.
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to humanist polemics. With regard to France, Petrarch had set the tone by repeatedly deriding French culture as backward and corrupted by Scholasticism, and about a century later the controversies he had launched were certainly not yet forgotten.18 But in the meantime Lorenzo Valla, and in particular his Elegantiae, printed in Paris as early as 1471, had become a more important point of reference for early French humanism.19 Tardif studied Valla’s Elegantiae quite carefully. In the composite editions of his grammar and rhetoric20 he added a separate section, entitled Elegantia, on correct Latin usage, drawn from Valla, but boiled down to an alphabetized list of terms with minimal explanation, just as in numerous other adaptations of Valla’s treatise.21 In addition, he also picked up key notions from the programmatic prefaces of the Elegantiae, which in many other adaptations were simply dropped, and reformulated them in his Eloquencie benedicendique sciencie studium suadens oracio, which opened the entire work. In this oration Tardif, like Valla, emphasized the restoration of classical Latinity as an indispensable prerequisite for a renewal of culture and learning, stressed the fundamental importance of rhetoric, and contrasted the universal prestige and supremacy of classical Latin with the barbarism of those unable or unwilling to abide by its standards. In taking over the discourse of barbarism from Valla, Tardif chose to ignore the nationalistic claims inherent in it and promoted himself, just as Valla had done in the Elegantiae, as an advocate of cultural renewal, perfectly equipped and prepared to repel any barbarian influences.22 When Balbi questioned the soundness of Tardif ’s grammar, he effectively tried to destroy the partnership Tardif had implicitly constructed between Valla and himself, and strove to exclude Tardif from the ranks of the humanists, into which Tardif had invited himself by linking his grammar with Valla’s enterprise. In the polemical writings Tardif and Balbi exchanged, competence in Latin grammar and eloquence was the essential yardstick by which they demonstrated, each in turn, their own intellectual superiority and denigrated the other’s barbarism – the implication throughout being that the linguistic ineptitude of the opponent revealed no less than his debased character and suspect religious convictions.23 The sole criterion of Latinity sufficed to pass a comprehensive judgment over the whole personality of the adversary. 18 See Cooper (1997). 19 On this shift of attention from Petrarch to Valla in early French humanism see Simone (1950). Similar observations have been made by Sottili (1986) for the case of early German humanism. 20 See Tardif, Apologues (1986), 18–19 (Nr. 7–13). 21 For Northern European adaptations of Valla’s Elegantiae see above all Moss (2003), 35–63. 22 See Simone (1939), 440–456, and (1950), 269–270. 23 In his Antibalbica Tardif tried to incriminate Balbi by pointing out that Balbi breached the
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As in all humanist polemical writing, the classical tradition served Balbi and Tardif as a normative reference framework on multiple levels. One of these levels was the recourse to classical literary forms and genres as well as their formal and functional transformation for the case at hand. And here Balbi made an interesting choice which sets off his Rhetor gloriosus from Tardif ’s Antibalbica. Tardif ’s literary model was the classical invectiva oratio, for which the late antique grammarians Diomedes and Priscian pointed out Cicero’s Catilinarians as an example.24 Tardif ’s Antibalbica is constructed as a forensic oration, in which Tardif defends himself against Balbi’s charges and launches a counterattack in kind. This oration thus seems to be meant as a continuation with literary means of the legal proceedings, undertaken at the Sorbonne.25 Balbi opted for a different model, which he explains at some length in the preface of his work.26 Balbi insists that he is writing neither a comedy, “because there is no laetus exitus”, nor a tragedy, “because all characters except for the protagonist are meant to rejoice and applaud”, nor – Balbi adds, thinking of Plautus’s Amphitruo (59 and 63) – a tragicocomoedia.27 Whereas he does not expatiate in any further detail on these three categories, he adds a humoristic touch by ruling out explicitly three variants of comedy, for which he gives each time tongue-in–cheek explanations:
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rules of fasting during Lent and continued to harass Tardif despite having sworn a solemn oath to the contrary ; see Tardif (1791), Antibalbica, 444–445. In this passage Tardif explicitly linked Balbi’s dubious lifestyle and faulty writings in his list of charges: Te erroneum haeresis, suspectum, perfidum, periurum, scandalosum, famosum doctorum bonorum mei detractorem et proinde infamem, scripta tua barbara, incongrua, falsa, haeretica probabo, atque sic probabo, ut te talem titulo dicant, digito monstrent omnes (repeated ibid., 495, in the last paragraph of the Antibalbica). On the original context of the term “invective” see Ludwig, Ritter und Tirann (2004), 609–611; Ludwig (ibid., 609, n. 6) aptly pointed out that throughout Antiquity the term invectiva (sc. oratio) remained limited to oratorical prose. See also Laureys (2003), 12–14. At one point in the Dialogus, ‘Tardivus’ refers to his Antibalbica and calls it – in the genuine classical sense of the term – an invectiva: Balbi (1791), Dialogus, 293. The canonical parts of a forensic oration can all be recognized in the Antibalbica: [1] Exordium (Tardif [1791], Antibalbica, 430), [2] propositio (ibid.), [3] narratio, reaching from the events ante rem to the events post rem (ibid., 432–434), [4] partitio, called here distributio dicendorum (ibid., 435), [5] argumentatio, which consists of five preliminary observations (ibid., 435–437), a refutatio of Balbi’s earlier criticisms of Tardif ’s grammar (ibid., 437–444), and a defence of his first Antibalbica as well as a rebuttal of Balbi’s Rhetor gloriosus (ibid., 444–495), [6] peroratio, called here conclusio and illatio (ibid., 495). Balbi (1791), Dialogus, 281–283. This locus (Balbi [1791], 282) seems to be one of the first mentions of this term in humanist literature. The first humanist tragicomedy, Marcellino and Carlo Verardi’s Fernandus servatus (on King Ferdinand’s narrow escape from a murder attempt in Barcelona and his ultimate triumph over anti-Christian forces), appeared in Rome in 1493; see most recently Beyer (2013). On the slow development of early modern tragicomedy and its theoretical foundation see, e. g., the succinct survey in Bareiß (1982), 353–369.
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Quodsi forte comoedia dici posset, non tamen togata diceretur. Quid enim toga opus esset, ubi serena sunt omnia? Ea utantur, qui sibi ab imbribus et nive metuunt; nos in placidissimis musarum antris alacrius diversantes ab omni tempestate tuti sumus. Propterea nec palliata posset appellari; pallium namque sponte reiecimus, qui omnia manifestissime dicere volebamus. Porro nec planipes recte censeretur ; nobis enim non planis ambulare pedibus permissum est, quippe qui soccis et quidem fortissimis ad conculcandas sermonis illius durissimi spinas indigemus.28 If at all my work could have been called a comedy, it could definitely not have been called a comoedia togata. For why should a toga be necessary, when everything is clear? Only those, who want to protect themselves from rain showers or from the snow, use a toga, whereas we dwell quite happily in the most peaceful caves of the muses and are safe from any storm. It could not, therefore, have been called a comoedia palliata either, because we have rejected out of our own accord a cloak (pallium), and wanted to spell out everything with all clarity. Nor could it have been correctly considered a comoedia planipes, since we could not allow ourselves to walk barefoot (planis pedibus), but needed to wear a most sturdy pair of comedians’ shoes (socci) to trample the thorns of that most testing conversation.
In passing, then, Balbi shows that he is familiar with the various types of ancient drama, attested in classical sources, such as Diomedes’ Ars grammatica (3: ed. Keil, 1, 487–492), and Evanthius’ De fabula and De comoedia (6, 1–2: ed. Wessner, 25–26), transmitted along with Donatus’s commentary on Terence.29 At the same time he manages to make three fundamental points about his work by way of a playful interpretation of three of these types: he feels protected by the Muses (and can, therefore, speak with authority on grammar and style), he sees no reason to cover up anything (because he is convinced he is right and can, therefore, speak freely, that is to say with the libertas of the satirist30), and he is only reacting against an earlier attack (and thus proffers the usual justification for resorting to invective). Instead, Balbi continues, he has written “a mere dialogue” (dialogum tantum), and he has limited his use of comedy to a sprinkling of “witticisms, loved by comical authors” (amatae comicis facetiae), while at the same time preserving the decorum in the portrayal of his characters. With this emphasis on decorum, Balbi may have wanted to mark the limits of his reception of Plautus; in a well28 Balbi (1791), Dialogus, 281–282. 29 Balbi’s familiarity with Evanthius and Donatus, rediscovered in 1433 by Giovanni Aurispa, most likely goes back to his studies in Rome with Pomponio Leto, whose interest in ancient comedy is well-known; see Stäuble (1968), 212–214. Balbi also picks up the rare term protatica persona (Balbi [1791], Dialogus, 293) from Donatus (commentary to Terence’s Andria, praef., 1, 8: ed. Wessner, 36–37). The Miles gloriosus belonged to the works of Plautus that were recovered by Nicolaus Cusanus only five years before Aurispa unearthed Evanthius and Donatus. 30 From Horace (Sat., 1, 4, 5) and Quintilian (Inst., 10, 1, 65) Balbi knew that this satirical libertas had also been the hallmark of ancient Greek comedy.
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known passage from his Epistles (2, 1, 170–176), Horace had criticized Plautus for failing to respect the decorum precisely in the representation of his characters. Balbi presents his decision to employ only urbane wit (and not to probe all registers of the Plautine vis comica) as proof of the fact that he is not driven by indignation or revenge,31 but this decision is understandable also in view of the dialogue partners he strategically chose to stage, namely Charles Fernand,32 a fellow humanist and at that time a close friend of Balbi, and Pierre de Courthardy,33 who is congratulated at the beginning of the dialogue for his recent appointment as advocatus regius (counsellor to the King).34 At the start of the Dialogus, these two enter into a discussion with ‘Tardivus’ himself and take him to task for his crude Latin. In addition, Balbi points out that de Courthardy – wholly in accordance with his new position – will also be the judge of the debate that will unfold in the Dialogus. At the end of the preface, Balbi highlights two more characteristics of his dialogue. First of all, he has added “most beautiful sententiae of moral philosophers, so that also the learned ears of the most eminent men may find something to take delight in”. And finally, while refuting all of Tardif ’s strictures on Balbi’s grammar and style, Balbi will nonetheless refrain from any foul language and slander – a standard assurance in any polemical exchange (but often, of course, an empty promise).35 In his preface, then, Balbi makes clear that he draws on several literary traditions and classical models to characterize his Dialogus de glorioso rhetore. He is, effectively, one of many humanist authors who in the course of the 15th and 16th centuries looked for new literary forms and techniques to try and exploit the polemical potential of dialogue. The title, Dialogus de glorioso rhetore, suggests that he aims at a combination of dialogue and Plautine comedy. The basic literary framework of the Dialogus is that of the debate, in which two parties, each in turn, make their point about a specific issue and try to gain the upper hand in the discussion by winning over or cornering the adversary. In 31 Balbi (1791), Dialogus, 283: Ut autem luce clarius intelligi queat me nec acriori percitum indignatione nec ulciscendarum iniuriarum, quas tamen ab homine infestissimo cumulatissimas accepi, libidine raptum huiusmodi contexuisse libellos, vel [ex] hoc argumento maximo esse potest, quod venustioribus salibus ad minuenda lectori fastidia magna ex parte opus conditum est. 32 See Charrier (1996), 58–61. 33 See Charrier (1996), 64. 34 Balbi (1791), Dialogus, 285. 35 Balbi (1791), Dialogus, 283: Addidimus praeterea pulcherrimas philosophorum moralium sententias, ne huic deesset opusculo, quod eruditas gravissimorum quoque virorum aures oblectaret. Ceterum, quae ab adversario inconsideratissime reprehensa fuerant, (ut aequum erat) confutavimus, non sine gravissima maiorum nostrorum auctoritate; sumque eo pacto orationem moderatus omnem, ut in ea nihil maledicti, nihil conviciorum immiscuerim. Itaque iudicaturum puto neminem (cui sana erit, inquam, censura), in his libellis a me scriptum esse quidpiam, quo merito credendus sim ab honesti viri officio recessisse.
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classical literature this scheme of antagonistic discourse is best known from stichomythic passages in drama, both tragedy and comedy, and from shepherds’ contests in bucolic poetry. Especially the examples from pastoral poems were instrumental in the creation of the conflictus or debate poetry, which emerged in the Carolingian era and remained popular throughout the Middle Ages.36 In Rome, additional inspiration could be drawn from the rhetorical altercatio, a practice used above all in forensic oratory.37 In his description of this technique, Quintilian (Inst., 6, 4) underlines, among other things, the importance of “restraint (moderatio) and sometimes even indulgence (patientia)”, the effectiveness of clever wit (urbanitas) in order to disparage whatever the opponent says (Inst., 6, 4, 10), and the need to focus on the matter itself and refrain from emotional outbursts (Inst., 6, 4, 13). In early modern times, all these observations were stock elements in any theoretical reflection on polemical discourse. The forensic context itself of the altercatio proved appealing to various types of literary altercations, in which quite often a judge or moderator sets the rules of engagement, oversees the debate and pronounces a final verdict. Many of Balbi’s preliminary observations, discussed above, can be linked to this specific literary context. One further interesting indication crops up towards the end of the preface, where he labels his Dialogus a disputatiuncula.38 While in the Renaissance disputatio could be considered a mere lexicographical variant, in fact the Latin equivalent, of the Greek term dialogus,39 Balbi surely also had the academic disputatio in mind and thus referred to one more form of ritualized debate, which left its mark on the literary fashioning of polemics. At the start of the actual debate, when ‘Petrus’ (Pierre de Courthardy) calls to order the two adversaries, ‘Tardivus’ (Guillaume Tardif) and ‘Carolus’ (Charles Fernand), and invites them to engage in an properly regulated scholarly discussion,40 ‘Petrus’ emphasizes how human thought can be refined and sharpened in an exchange of arguments: Adde, quod hoc disceptandi genus non est omnino repudiandum, modo absit malevolentiae fraudisque suspicio. Limatur enim et acuitur in disputatione hominum cogitatio.41
36 There is one isolated late antique example, the Iudicium coci et pistoris iudice Vulcano, datable to the 4th century. On the conflictus see, alongside the extensive study of Walther (1920), the brief surveys of Schmidt (1993) and Stotz (1999). 37 See Volkmann (1885), 189–190. 38 Balbi (1791), Dialogus, 283. 39 Ludwig (2004), 385, n. 13, quotes Ambrogio Calepino’s Latin dictionary, in which the lemma Dialogus reads: Dialogus graece … latine disputatio. 40 Balbi (1791), Dialogus, 291: Missa isthaec faciatis potiusque ad aliquam doctrinae speciem vestra traducatur oratio. 41 Balbi (1791), Dialogus, 292.
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Consider further that this kind of discussion should not entirely be rejected, if only there is no suspicion of malevolence and fraud. For human thought is refined and sharpened in a disputation.
Similar appraisals of the positive force of a polemical exchange, which ultimately go back to Hesiod’s fundamental distinction between good and bad Eris (Works and Days, 11–24), can be found throughout the early modern age; they bear witness to the importance Renaissance humanists attached to an art of arguing, reinvigorated by classical notions, forms, and techniques of debate. Ideally, humanist dialogues aimed to reflect and recreate the Ciceronian culture of learned conversation, in which friends discussed freely with each other, without any prejudices or constraints and with the sole purpose of arriving at a solution or a result, acceptable to all participants.42 In practice, however, as the example of Balbi’s Dialogus shows, the dialogue could blend with other literary traditions and be moulded into a formidable instrument of polemical discourse. In the dialogue itself the two opponents first discuss a numbers of problems concerning Latin orthography, grammar and style, before turning their attention to specific lines from Balbi’s epigrams,43 in which ‘Tardivus’ attempts to expose errors against Latin grammar and usage. On all counts ‘Tardivus’s explanations are rebutted by ‘Carolus’, to whom ‘Petrus’ has given the task of defending his friend Balbi “within the limits of equity”.44 Throughout the discussion not only ancient authorities, such as Varro,45 Asconius Pedianus,46 Festus,47 Quintilian,48 Aulus Gellius,49 Servius,50 Donatus,51 Nonius Marcellus,52 Diomedes,53 and Priscian,54 but also Lorenzo Valla’s Elegantiae55 are quoted several times. Particularly in the opening section of his Dialogus, Balbi takes care to enliven 42 For the pivotal role played by Leonardo Bruni’s Dialogi ad Petrum Paulum Histrum in the recovery of this Ciceronian culture of communication see Häsner (2002). 43 The first quotation from Balbi’s epigrams appears in Balbi (1791), Dialogus, 337. 44 Balbi (1791), Dialogus, 293: Tuum erit, Carole, partes tui Balbi, quousque patitur aequitas, tueri. 45 Balbi (1791), Dialogus, 303, 310–311, 376, 399, 406. 46 Balbi (1791), Dialogus, 376–377. 47 Balbi (1791), Dialogus, 324, 370, 396, 401, 410. 48 Balbi (1791), Dialogus, 297, 300, 301–302, 310, 331, 340, 345–346, 351, 363, 386, 391, 397, 405, 413, 414. 49 Balbi (1791), Dialogus, 331–332, 345, 355, 381, 382, 386, 400, 401, 406. 50 Balbi (1791), Dialogus, 297–298, 304, 329, 359, 361, 383, 395, 400, 404. 51 Balbi (1791), Dialogus, 329, 335, 355, 395. 52 Balbi (1791), Dialogus, 383, 399. 53 Balbi (1791), Dialogus, 299, 328, 349, 364, 405–406. 54 Balbi (1791), Dialogus, 323, 328, 337–338, 362, 378, 382, 386, 388. 55 Balbi (1791), Dialogus, 301, 323, 330, 335, 346, 351–354, 361, 388. At Balbi, Dialogus, (1791), 409, there is a reference to Valla’s invective against Antonio da Rho.
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the interplay between the three characters by incorporating various elements of ancient Roman comedy into the dialogue. Even before the start of the dialogue itself, Balbi adds an Argumentum totius operis,56 composed in jambic senarii after the models of Plautus and Terence. Balbi effectively combines the Plautine type of the argumentum, focussed on the plot, and the Terentian type of the prologus, in which literary questions are dealt with: In the first 32 verses he describes the content of his work, and in the final 11 verses he adds a few remarks about the nature of his Dialogus (followed by a characteristic concluding appeal to the audience, as in all six of Terence’s plays: Verborum plus satis consumpsimus; | Opus, si scire vis quae restant, perlege). In this last passage he defines his Dialogus in yet another manner : Isthaec pannosa est comoedia, | Comoedia dici si quoquo modo potest (v. 36–37). The concept of the “ragged comedy” is a humoristic play on the vestimentary imagery, implied in comoedia palliata, togata, and praetextata, and refers at the same time to the purpureus pannus (“purple patch”), known from Horace’s Art of Poetry (15–16); Balbi proposes this (as far as I know unparalleled) characterization as a captatio benevolentiae to account for the diversity of style in his Dialogus: Pannosam potius hanc stili diversitas | Facit. The introduction of ‘Tardivus’ in the dialogue is fashioned as a genuine appearance on a stage. ‘Tardivus’ is noticed by ‘Petrus’ and ‘Carolus’, even as they talk about his recent quarrel with Balbi, and immediately called over and invited to explain himself:57 PETR. Eccum in sermone lupum! CAR. Quid spectas? PETR. Ecce video Tardivum pleniori gradu adventare. Certum est, nisi quid aliud statuas, hominem alloqui sollertiusque percontari, quibus praesidiis saeptus ad doctos oppugnandos prosiluerit. CAR. Id ipsum ego cupio; quod si mihi congrediendi facultas detur, ita hominem contusum reddam, ut huius loci et temporis atque mei semper poeniteat. PETR. Heus, heus, Tardive! TARD. Quis me vult? Perii, Phernandum video. PETR. Nil mihi respondes? TARD. Quid iubes? PETR. Propius accede. TARD. Hodie mihi est iudicium; ad forum propero. CAR. Vis elabi? Veni, bone vir, veni! Et quid te pudet? TARD. Malis avibus huc me contuli. PETR. Veni, inquam! TARD. Non est mihi otium. PETR. Adesdum, ni mavis. TARD. Nullum video diverticulum. PETR. Cave, nisi adsis. TARD. Consilium ex tempore capere oportet. En adsum; quid me vis?58 PETR. When you speak of the devil…! CAR. What do you notice? PETR. Look, I see Tardif approaching at quite a good pace. For sure, if you don’t have anything else in mind, we should talk to him and ask him subtly, with what protection he has sheltered himself to jump forward and harass learned men. CAR. That is precisely what I want to do. And if I would get a chance to engage in a clinch with him, I would beat him up so 56 Balbi (1791), Dialogus, 283–284. 57 Balbi (1791), Dialogus, 290–291. 58 Balbi (1791), Dialogus, 290–291.
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badly that he’d forever repent having met me here at this time. PETR. Hey there, Tardif! TARD. Who wants me? I’ll be damned, I see Fernand. PETR. Aren’t you answering me? TARD. What do you need from me? PETR. Come closer! TARD. I have a trial to go to; I am rushing to the forum. CAR. Do you want to sneak away from us? Come over here, good man, come over here! And what are you ashamed of ? TARD. I took myself over here under bad omens. PETR. Come over here, I am telling you! TARD. I don’t have time. PETR. Come here, unless you don’t feel like it. TARD. I don’t see any escape route. PETR. Watch out now and get yourself over here! TARD. I need to improvise a plan right now – here I am; what do you want from me?
This is a genuinely dramatic scene, which can be acted out on a stage. It is marked by a rapid exchange of short and incisive phrases, and much of what ‘Tardivus’ says is to be understood as side remarks, not meant to be heard by the others. In addition, several instances of the typical vocabulary of ancient Roman comedy immediately leap to the eye: Eccum in sermone lupum (Plautus, Stichus, 577); perii (exclamation of despair, frequently attested in Plautus and Terence); adesdum occurs only in Terence, Andria, 29; accede propius is taken over from Terence, Hecyra, 316 (the imperative accede in conjunction with other words occurs several times in Plautus and Terence). Similar passages of an equally high dramatic nature are interspersed throughout the dialogue, but alternate with sections, in which the debate itself takes place according to the set pattern of statement and counterstatement, as well as with sometimes rather longish passages, in which especially ‘Carolus’ and ‘Petrus’ develop more general reflections on stock themes of Renaissance humanism, such as friendship, the active and contemplative live, true nobility, and the requirements of speech (sermo). Balbi may have inserted these passages to avoid too much monotony in the debate and to reach out to a wider reading audience beyond the Parisian intelligentsia. Various moralizing sententiae, which pepper the Dialogus,59 also evince a certain pedagogic interest on the part of Balbi. Balbi was surely aware of Cicero’s characterization of comedy as a mirror of real life, a representation of human experience: imitatio vitae, speculum consuetudinis, imago veritatis (reported in Evanthius’ De comoedia, 5, 1: ed. Wessner, 22); to Balbi’s mind, too, conveying moral truths seemed to have been one of the hallmarks of this genre. Be that as it may, Balbi’s most important borrowings from comedy are – as announced in the preface and suggested by the title of his work – various puns and witticisms, which are meant to add a comical, and particularly Plautine, flavor to the Dialogus, particularly in the more lively and dramatic sections of the dialogue.60 Obviously, this word-play is almost always exploited at the ex59 E. g., Balbi (1791), Dialogus, 291: Ex sola virtute laus vera proficiscitur ; ibid., 390: Ut humanum est peccare, sic humanum est ignoscere. 60 This particular facet of Balbi’s Dialogus was noted by a French student, Germain Maciot, who
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pense of Tardif. When ‘Tardivus’, e. g., boasts that he represents the summum fastigium artis oratoriae, ‘Carolus’ retorts that he is just one letter off the mark: his correct designation should be summum fastidium artis oratoriae.61 A little further, ‘Carolus’ closes his discussion of a particular grammatical problem by saying Iam est tempus, ut receptui canam (after Caes., Gall., 7, 47); Tempus est, ‘Tardivus’ approves, ut recipias canem, apage, apage, thus revealing his ignorance of the expression receptui canere with its exquisite final dative.62 When the moderator, ‘Petrus’, asks ‘Tardivus’ if he “has ever dipped into the law” (iusne aliquando praelibasti?), ‘Tardivus’ replies: “Even better, I gulped it down all the time – often in the kitchen” (Immo frequenter absorpsi – in culina saepe), obviously thinking of sauce, rather than of the law.63 Sometimes Balbi inserts more specific allusions to Plautus: when ‘Tardivus’ complains to ‘Carolus’: nimium morologos sermones habes,64 he is referring to Plautus, Pseudolus, 1264. In terms of content Tardif ’s Antibalbica and Balbi’s Rhetor gloriosus look very much alike. The main body of both texts consists of a linguistic analysis of selected passages from Balbi’s epigrams, and the review process of the Latinity of Balbi’s poems proceeds in a similar fashion. By choosing a different literary format, however, Tardif and Balbi intended to produce with their respective work an entirely different effect on the conflict at hand. Whereas Tardif simply copied the legal framework of the actual dispute into his Antibalbica and assumed in his oration the same role as a defendant responding to Balbi’s charges, Balbi looked for a both more effective and more entertaining literary procedure to destroy Tardif ’s case. The mere presentation, already discussed above, of the dialogue partners in the preface of the Rhetor gloriosus suggests the enactment of a polemical exchange according to a set procedure in a standard three-party communicative situation. For Balbi announces that Pierre de Courthardy (‘Petrus’) will preside as a judge over the altercation between the two contenders, Charles Fernand (‘Carolus’), who is defending Balbi, and Guillaume Tardif (‘Tardivus’), who is cast in the role of the rhetor gloriosus;65 the reassurance on the part of Balbi to refrain from personal abuse66 as well as the solemn verdict, pronounced by the judge ‘Petrus’ at the end of the dialogue,67 belong to the ritualized facets of such a dispute.
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took over some of Balbi’s puns in his own letters and in a dialogue on nobility (De nobilitate contentio); see Pendergrass (1997), especially 205–210. Balbi (1791), Dialogus, 306. Balbi (1791), Dialogus, 312. Balbi (1791), Dialogus, 316. Puns on the double meaning of “ius” are, of course, legion in Latin literature. Balbi (1791), Dialogus, 409. Balbi (1791), Dialogus, 282. Balbi (1791), Dialogus, 283. Balbi (1791), Dialogus, 422–423.
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In this literary framework, Balbi manages – without participating himself in the dialogue – to strip Tardif of every credibility, even before Tardif appears on the scene and has the opportunity to expound his views on Balbi’s Latin. Tardif is first mentioned by ‘Carolus’, who introduces him and comments on his earlier conflict with Balbi in the following terms: Vetus ille rhetor, Tardivus (de eius vita et moribus consultius est tacere quam pauca loqui), nuper Balbi libellos, nec sale vacuos neque lepore, ad pauca prospiciens corripere vel (ut rectius loquar) corrumpere tentavit.68 That old rhetor, Tardif (about his life and morals it is wiser to remain silent than to say even only a few things), tried not long ago to disparage or (to say it more correctly) to destroy Balbi’s collection of poetry, not devoid of wit and charm, by focussing only on a few details.
From the very start, Tardif ’s persona is reduced to a stock character, inspired above all by Plautus’s miles gloriosus, Pyrgopolinices. This is how ‘Tardivus’ characterizes himself early in the dialogue:69 Nihil opto praeter famam et gloriam … Qui exsistunt, qui fuerunt quique futuri sunt, omnes sapientia antecedo (“I do not wish anything but fame and glory … I surpass in wisdom anyone who exists, who has existed and who will exist”). The next exchange that contains an explicit reference to Plautus is very subtly constructed by Balbi: TARD. Cum loquor, Musas ipsas Latine loqui credunt. PETR. Scio, quasi alterum Plautum natum putant. TARD. Insigne atque memorabile spectaculum omnibus exhibeo.70 TARD. When I speak, one believes that the Muses themselves speak Latin. PETR. I know, one thinks another Plautus, as it were, has been born. TARD. I deliver an illustrious and memorable spectacle for all.
‘Tardivus’ first quotes Pliny’s elegant praise of his friend Voconius Romanus (Epist., 2, 13, 7: epistulas quidem scribit, ut Musas ipsas Latine loqui credas). Then ‘Petrus’ makes clear that he knows that Pliny’s praise is in fact an adaptation of the compliment Aelius Stilo paid to Plautus (reported from Varro by Quintilian, Inst., 10, 1, 99: Musas Plautino sermone locuturas fuisse, si Latine loqui vellent) – a compliment which ‘Petrus’ applies ironically to ‘Tardivus’. The reaction of ‘Tardivus’ shows, however, that he does not know the literary connection and does not understand the ironical flavor ; instead, he interprets the compliment as a reference to the “spectacle” he offers, when he demonstrates his supposed wisdom. A little later, ‘Carolus’ associates ‘Tardivus’ directly with the 68 Balbi (1791), Dialogus, 289. 69 Balbi (1791), Dialogus, 302. 70 Balbi (1791), Dialogus, 306.
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character, already evoked in the title: Semperne imitaberis militem gloriosum?71 (“Will you always imitate the swaggering soldier?”). Throughout the dialogue ‘Tardivus’ confirms his image of a swaggering rhetor,72 consumed by envy against his rival and incapable of producing sound arguments in favour of his ideas on Latin usage. ‘Tardivus’ appears so selfengrossed that he even categorically dismisses all classical authorities and accepts only himself as his own standard. When ‘Petrus’ observes: Gloriosum semper fuit maiorum vestigia sequi, si modo recto itinere praecesserunt (“It has always been more glorious to follow in the footsteps of our ancestors, if only they have gone ahead on the right path”), Tardif counters: Mea sequi vestigia multo gloriosius erit (“It will be far more glorious to follow in my own footsteps”).73 That is why testimonies from, e. g., Catullus, do not impress him at all: Quisquis sit iste Catullus, iniurato scio plus credere mihi omnes quam iurato illi (“Whoever that Catullus might be, I know everybody will rather believe me without an oath than him with an oath”).74 When somewhat later a few passages from Ovid are discussed, he states: Hae auctoritates nil me movent; pluris equidem vacuam nucem existimo quam omnes poetarum coetus (“These authorities do not impress me at all. I, for one, value an empty nut higher than all the gatherings of poets”).75 Repudiating the normative value and authority of the classical authors, however, meant as much as breaking away from the consensus, on which the community of humanists was founded. In this way, Tardif ’s persona in the dialogue implicitly cast himself out of this community and relinquished every right to argue as a peer about Latin grammar. In the staging of Tardif ’s undoing, the scorn he is made to shower on the classical authorities in the Dialogus is perhaps the most powerful stroke Balbi could imagine. For this strategy Balbi surely had one specific model in mind, namely the conflict between Poggio and Valla. Throughout his first invective against Valla, Poggio attacks Valla for exactly the same reason: Non miror hallucinatorem quendam fanaticum ac dementem in me insaniam suam evomuisse, qui propter innatam mentis imbellicitatem, propter infixam cordis vesaniam, propter insitam animi perversitatem omnes priscos illos doctissimos viros, quorum memoria omnibus saeculis summa laudis celebratione venerata est, fera quaedam immani protervitate contemnit, reprehendit, culpat, aspernatur; tamquam fortunae rotam in manu tenens sursum deorsum volvit et versat omnia et ad suum 71 Balbi (1791), Dialogus, 307. 72 Balbi (1791), Dialogus, 314: Maxima est de me admiratio; prioris eloquentiae sum omnibus exemplar. 73 Balbi (1791), Dialogus, 339. 74 Balbi (1791), Dialogus, 333; Balbi is quoting Plautus, Amphitruo, 437. Compare ibid., 406: Quisquis iste sit Catullus, eum oculus meus numquam vidit. 75 Balbi (1791), Dialogus, 347.
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arbitrium trahit … omnesque tam gentiles quam Christianos viros in omni doctrinarum genere praestantes sub una eademque inscitiae nebula comprehendit.76 Iste vesanus conviciator, superorum omnium auctoritate semota, nova sensa verbis indidit, novum scribendi morem introducit, tanta praesumptione usus, ut sibi soli plus quam reliquis omnibus tribuit auctoritatis.77 I am not surprised that a certain frantic and insane lunatic vomited out his madness all over me. On account of his innate mental incapacity, the frenzy imprinted on his heart, the inborn perversion of his mind he despises, disparages, incriminates, and scorns like some kind of wild beast with grotesque impudence all those most learned men of old, whose memory has been venerated throughout all ages with the highest bestowal of praise; as if he held the wheel of fortune in his hand, he twists and turns everything up and down and drags it along, as he deems fit … He envelops all men, both pagan and Christian, who stand out in every domain of scholarship, in one and the same cloud of ignorance. After having discarded the authority of all these men, whom I have just named, that crazy slanderer endows words with new meanings and introduces a new style of writing with so much arrogance, that he attributes more authority to himself alone than to all others.
For Poggio, it was from there but a small step to portray his opponent as a dissolute person in any respect. Balbi suggested the same implication, but, more concerned as he was about decorum, did not spell it out in equally graphic language. Balbi drew on the invectives of Poggio and Valla in more than one way. Besides tactical and procedural similarities, there are also direct references. The opening of Poggio’s first invective against Valla, e. g., is tacitly quoted, when ‘Petrus’ and ‘Carolus’ explain that it may in some cases be better to remain silent, even if it is justified to repel slander in order to safeguard one’s own reputation: PETR. Nam licet omnium consensu sit permissum iniuriam propulsare, tamen quandoque tacere satius est, praesertim adversus furiosos et mente captos … CAR. Prudentis tamen viri esse reor, ubi eius existimationis laus a malevolis in discrimen adduci videtur, contumeliam totis viribus propulsare, cum quidem secundum Sallustii sententiam malus fieret improbior, ubi negligas (Sallustius, Bellum Iugurthinum, 31, 28).78
76 Poggio (1538), Opera, 189. 77 Poggio (1538), Opera, 203. 78 Balbi (1791), Dialogus, 289–290; compare Poggio (1538), Opera, 188: Si quibus in rebus honestum est consensuque omnium permissum iniuriam propulsare, in his maxime prudentis officium hominis esse debet, ut contumeliam depellat, in quibus honoris et existimationis laus aut ingenii fama a malivolis in discrimen adduci videatur … Faterer satius esse quandoque tacere adversus animo et mente captos, nisi secundum Sallustii sententiam malus fieret improbior, ubi negligas.
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PETR. For although it is unanimously permitted to ward off injustice, it is nonetheless sometimes preferable to remain silent, especially against raging and insane people … CAR. I believe nonetheless that it is the hallmark of a wise man to ward off calumny with all his power, when the commendation of his good name seems to be brought into danger by malevolent men, since according to Sallust’s maxim a wicked person would become more impudent, when you ignore him.
But the most interesting point is no doubt the dramatization of a dispute about Latin language and usage, which through the constellation and the interaction of the characters is turned into a mockery of grammatical incompetence. Balbi must have learnt this modus operandi from Valla’s Apologus, a satirical dialogue, which Valla wrote after he had heard of Poggio’s second, third, and fourth invective orations.79 This Apologus, arguably the most inventive of the whole sequence of invectives, exchanged between Valla and Poggio, was published in Paris as early as 1479 by the printing house of Louis Simonel and his associates (Au Soufflet Vert), as a companion piece to the In Laurentium Vallam invectiva, Poggio’s first invective against Valla, published at the same time with the same printer. Especially the first of the two acts of Valla’s Apologus, in which two German (read: barbarian) servants of Guarino da Verona, his cook Parmeno and his stableboy Dromo, scrutinize passages from Poggio’s correspondence and chastize Poggio for his bad Latin, served Balbi as an example of how to turn a linguistic debate into dramatic invective; the mere names of the cook and the stableboy are typical slave names, taken from Plautus and Terence, and show that Roman comedy was a source of inspiration for Valla. When we want to identify classical models for a setting of quarreling grammarians as characters in a dialogue, we must turn to Lucian, rather than to Roman comedy. In three of his satirical dialogues, Lexiphanes, Soloecista, and Pseudologista, Lucian ridicules the incompetence and misguided judgment of contemporary grammarians; references to discussions of grammar and usage appear in other dialogues as well. But however popular Lucian may have been as a source of inspiration for satirical dialogues, he does not seem to have played any substantial role in the fashioning of Valla’s Apologus or Balbi’s Rhetor gloriosus. Instead, these texts constitute a new departure; they seem to have helped establish a typical variant of scenic dialogue, in which a person, not seldom a teacher or supposed expert in matters of language and style, is unmasked and ridiculed for his blatant ignorance of the rules of correct Latin. Nearly all dialogues that focus on this theme reveal a conspicuous influence of Roman 79 The text can be found in Camporeale (1972), 471–534. Camporeale’s book is still fundamental reading for anyone who delves into the conflict between Poggio and Valla. For a new edition and discussion of Valla’s Apologus (limited, though, to the first act) see Valla (2006), Apûlogo.
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comedy, in terms of language, character portrayal and dramatic technique. Even the scene of the altercation between the grammarians Pedanus and Theanus in Giovanni Pontano’s otherwise very Lucianic dialogue Charon is marked by traits derived from Plautus and Terence, such as the escalation of the dispute into a physical brawl.80 While Valla’s Apologus is an early example, indeed perhaps the starting point of this particular type of polemical dialogue, dialogues of this kind appear in quick succession from the 1480s onwards. Only two years after Balbi’s Rhetor gloriosus, Erasmus, e. g., wrote his Conflictus Thaliae et Barbariei, a critique (put forward by ‘Thalia’) of the educational standards of the school founded by the Brethren of the Common Life in Zwolle (represented by ‘Barbaries’); the text is shaped along the lines of the medieval debate poetry, but at the same time skillfully dramatized in order to accentuate the contrast between elegant Latin and barbarism through the two personified characters.81 Several of these dialogues are so-called school comedies, of which the best known early examples originated in the German Empire.82 These comedies were pedagogical works, intended for a school audience, and devised with the express purpose of inculcating in a lively and amusing manner the principles of a humanist education into pupils’ minds. Quite often a stark contrast was set up between two opposing views or spheres, such as scholastic and humanist culture, and language was not surprisingly one of the key issues.83 Two examples even precede Balbi’s Rhetor gloriosus. Already in 1480 Jakob Wimpfeling described in his Stylpho an examination of the main character, Stylpho, who is eager to obtain prebends and therefore needs to document his learning at his bishop’s request; the result of the exam, conducted by Stylpho’s old teacher Petrucius, is, of course, catastrophical. In 1485 Johannes Kerckmeister, head of a humanist school in Münster, staged in
80 The ‘comical’ nature of this particular scene in Pontano’s Charon is mentioned, but not analyzed in detail by Marsh (1998), 136. Müller (2003) offers a broad analysis of Pontano’s ideas on Latin language and style in his dialogues. 81 See the most recent edition by Hoven (2013). 82 The example of Germain Maciot (see n. 60) shows that Balbi’s Rhetor gloriosus, too, was read and studied by students. 83 See Meier (2004), especially 254–257, and Rädle (2004), especially 270–273, on pieces like Jakob Wimpfeling’s Stylpho (1480), Heinrich Bebel’s Comoedia de optimo studio iuvenum (1501), Andrea Guarna’s Bellum grammaticale (1511), Nikodemus Frischlin’s Priscianus Vapulans (1578), and Jakob Gretser’s Regnum humanitatis (1587–1590); see also Meier (2007). Another text that belongs to this category is Tilmann Conradi’s Comedia Teratologia (1509); see on this little-known work Kipf (2008), 51–54. On the closely related tradition of school dialogues and their relationship to school drama see the recent illuminating case studies of Cardelle de Hartmann (2008) and P¦deflous (2013).
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his Codrus a scholastic teacher, who is derided and manhandled by humanistic students in Cologne.84 Further research will be necessary in order to elucidate the possible connections between all these writings. Balbi’s Rhetor gloriosus is one of the early texts that mark a phase of experimentation – running from the 1480s until the 1520s – with different forms of scenic dialogue, in which various facets of Roman comedy are imitated for polemical purposes. The role of Valla’s Apologus as a possible model still needs to be clarified; at any rate, this work was available in print north of the Alps from 1479 onwards and was associated with a conflict that had gained notoriety well beyond Italy by that time. The discussion of correct Latinity through a hilarious interaction of characters drawn from Roman comedy is the common characteristic that allows all of these works to be seen as a specific category of polemical dialogue. A perfect mastery of the rules and principles of Latin grammar and style was the foundation on which the entire agenda of Renaissance humanism was built. Balbi’s Rhetor gloriosus, then, reflects both a didactic interest and a strategic self-presentation by way of contrast with an individual opponent. Remarkably enough, Balbi does not emphasize the nationalistic perspective, which often pervaded similar clashes, in which the professional competence of rival humanists from different countries was at stake.85 He shares, on the other hand, one peculiarity with Valla in this context: both exploited the polemical potential of this literary setting more specifically for ad hominem vilification. In this sense Valla and Balbi both made an original contribution to the impressive literary range of humanist invective.
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Arnold Becker (Bonn)
Strategien polemischer Positionierung in Huttens Dialogen
Im literarischen Werk des Humanisten Ulrich von Hutten1 (1488–1523) nehmen seine zwölf fiktionalen Dialoge als distinkte Gruppe in mehrfacher Hinsicht eine zentrale Stellung ein. Während Hutten in seiner ersten Werkphase als Autor lateinischer Dichtung von Rang hervorgetreten ist, markiert die Publikation seines ersten Dialogs Phalarismus (1517) Huttens Übergang zu lateinischer fiktionaler Prosa. Dabei handelt es sich um eine Verlagerung des Arbeitsschwerpunktes: Einerseits hat Hutten auch in der Folgezeit noch lateinische Dichtung verfasst,2 andererseits ist er schon vor 1517 als einer der anonymen Verfasser der Epistolae obscurorum virorum (EOV) an der Abfassung dieser Prosasatiren beteiligt gewesen, hat sich zum Publikationszeitpunkt jedoch ebenso wenig wie die Mitverfasser Crotus Rubeanus und Hermann von dem Busche, mit denen Hutten seit seinen studentischen Wanderjahren verbunden war, der Öffentlichkeit als Autor zu erkennen gegeben.3 In seiner Ausprägung des polemischen Dialogs hat Hutten die mimetische Satire, die ein wesentliches Merkmal der EOV bildet, aufgegriffen und dadurch weiterentwickelt, dass er diese Form aus den fiktiven Briefen der Dunkelmänner in fiktive Gespräche überführt hat. Ein wichtiger Unterschied besteht allerdings darin, dass diese nicht von obskuren Personen geführt werden, vielmehr besteht der Teilnehmerkreis der Dialoge ganz überwiegend aus prominenten Zeitgenossen des Autors. Die Wahl des Personals machte schon Huttens ersten Dialog hoch brisant, da die Schrift polemisch gegen Herzog Ulrich von Württemberg, einen amtierenden Landesherrn, gerichtet ist und diesen durchgängig zum 1 Zu Leben und Werk Huttens vgl. die wegen ihrer Materialfülle immer noch grundlegende Monografie von Strauss (1860) sowie Bernstein (1988), Best (1969), Grimm (1971), Holborn (1968), Honemann (1989), Könneker (1979), Walser (1928), Wulfert (2009), zu den polemischen Dialogen insbesondere Becker (2013 und 2015). 2 Zu den nach 1517 veröffentlichten lateinischen Gedichten zählen der Nemo (1518) und der im gleichen Jahr pseudonym publizierte, allgemein Hutten zugeschriebene Triumphus Capnionis. 3 Vgl. Becker (2012) mit weiterer Literatur.
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Arnold Becker
Tyrannen erklärt. Zur Brisanz seiner Dialoge hat Hutten sich als Autor freilich ganz anders als im Fall der EOV verhalten: Er hat nicht die Anonymität gesucht, sondern sich über die namentliche Autorschaft hinaus dadurch besonders exponiert, dass er seine eigene persona an mehreren seiner Dialoge hat teilnehmen lassen.4 Die zentrale Bedeutung des fiktionalen Prosadialogs für Huttens Werk lässt sich auch an einer weiteren literarischen Entwicklung festmachen, die Hutten als literarischer Autor in seinem Dialogwerk vollzogen hat: Hutten ist von der lateinischen zur deutschen Sprache übergegangen, indem er Anfang 1521 im Gespraechbuechlin deutsche Übersetzungen eigener Dialoge (der beiden FieberDialoge, des Vadiscus und der Inspicientes) publizierte, die er zuvor auf Latein veröffentlicht hatte. Hutten hat damit das Wirkungspotenzial dieser Dialoge auch auf Leser ausgeweitet, die des Lateinischen nicht mächtig waren.5 Wie die Verlagerung von Dichtung zu Prosa bedeutet auch diese Entwicklung eine Erweiterung der literarischen Ausdrucksmittel, da Hutten fortan das Lateinische nicht aufgegeben, sondern sowohl lateinisch als auch deutsch publiziert hat. Dass Hutten, anders als nach dieser Ausweitung zu erwarten, seinen nächsten Dialogband Dialogi novi ausschließlich lateinisch publiziert und nicht durch deutsche Übersetzungen ergänzt hat, bleibt ein erstaunlicher Aspekt in seinem Werk. Der Sachverhalt dokumentiert, dass Hutten auch bei seiner letzten Dialogpublikation dem Lateinischen Priorität vor dem Deutschen einräumte.6
4 Ein weiteres Beispiel für die Brisanz der Dialoge kann der erste Fieber-Dialog (Febris prima) bieten. Die darin zum Ausdruck kommende Kritik an „gewissen Halbgöttern“ führte, wie Erasmus offenbar mit Blick auf Kardinal Cajetan in seinem Brief an Hutten vom 23. April 1519 (Erasmus, Epist. 951, Allen III, 553f.) berichtet, zu einem Verkaufsverbot des Dialogs in Leuven. 5 Das Zielpublikum deutscher Übersetzungen der Dialoge unterschied sich von dem der ursprünglichen lateinischen Versionen insbesondere dadurch sehr stark, dass der Autor eine humanistische Prägung dieser Leser nicht voraussetzen konnte. Die deutschen Praefationes zeugen von den Schwierigkeiten, die Hutten darin sah, Leser einer volkssprachlichen Fassung in eine Ausgangslage zu versetzen, die er für die Rezeption angemessen hielt. Zum Verhältnis von Latein und Deutsch in Huttens Schriften vgl. Kuhlmann (1986) und Becker (2013), 209–213, zum Verhältnis der Humanisten zu den Volkssprachen Füssel (1985). 6 Die genauen Motive, aus denen Hutten auf die Publikation von Übersetzungen dieser Dialoge ganz verzichtet hat, müssen freilich, mangels Einlassungen des Autors zu seiner Entscheidung, spekulativ bleiben. Huttens besondere Lebenssituation in der Hochphase seiner Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche kann dabei nicht unberücksichtigt bleiben.
Strategien polemischer Positionierung in Huttens Dialogen
Dialogi Novi (Straßburg 1521?), Titelblatt
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Gesprächbuechlin (Straßburg 1521?), Titelblatt
An den beiden angesprochenen Erweiterungstendenzen zeigt sich die große Relevanz, die Hutten als Autor der Ausweitung des Wirkungspotenzials7 seiner polemischen Texte beigemessen hat. Ohne eine adäquate Berücksichtigung dieser Kategorie lässt sich die Konzentration auf die literarische Dialogform, die in der Zeit zwischen 1517 und 1521 Huttens bevorzugtes literarisches Ausdrucksmittel darstellte, nicht erklären. Wie stark Hutten auch von seinen Zeitgenossen mit der Dialogform verbunden und vor allem als Autor literarischer Dialoge wahrgenommen wurde, wird beispielhaft an dem Epicedion deutlich, das Eobanus Hessus auf seinen toten Freund Ulrich von Hutten verfasste.8 Hessus hat das Gedicht als Gespräch zwischen dem Tod und Hutten gestaltet und auf diese poetische Weise den Dialog als die literarische Form gewürdigt, die für ihn den Kern von Huttens literarischem Werk ausmachte. Die für Hutten maßgeblichen Umstände und Impulse, die ihn bei der Abfassung seines ersten Dialogs beeinflusst haben, sind durch briefliche Äußerungen gut dokumentiert: 1516 hielt Hutten sich zum zweiten Mal in Bologna auf, um seine juristischen Studien zum Abschluss zu bringen. Dies gelang ihm zwar ebenso wenig wie bei seinem ersten Studienaufenthalt in Italien in den Jahren 1511–13, der zweite Italienaufenthalt markiert für Huttens literarisches Schaffen aber einen bedeutsamen Einschnitt. In Bologna studierte er Aristo7 Zum Wirkungspotenzial und der funktionsgeschichtlichen Analyse von Texten vgl. Sommer (2000) und Fluck (2005). 8 Lat. Text mit Übersetzung und Kommentar bei Kühlmann / Seidel / Wiegand (1997), 284–293.
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phanes und Lukian ausgiebig im griechischen Original,9 und insbesondere seine intensive Beschäftigung mit Lukian stellt die Initialzündung für die Abfassung von literarischen Dialogen und damit für die zentrale Phase seines Werks dar : Bis Januar 1521 verfasste Hutten 12 lateinische Dialoge und publizierte sie, mit Ausnahme des Arminius, der erst 1529 postum erschienen ist. Gerade in diese Zeit, in der Hutten sich zum Prosaschriftsteller entwickelte, fällt seine Krönung zum poeta laureatus, die Kaiser Maximilian am 12. Juli 1517 in Augsburg vornahm.10 Thematisch hat Hutten mit seinen polemischen Prosadialogen vor allem Beiträge zu den Diskursen um die Reform der Kirche und die Unabhängigkeit Deutschlands zwischen 1517 und 1521 geleistet, nicht ohne immer wieder sehr persönliche und private Interessen mit den verschiedenen Diskurssträngen zu verknüpfen. Die Dialogform hat es ihm ermöglicht, über inhaltliche Zuweisungen hinaus weitere Positionierungen der Akteure vorzunehmen und in die verschiedenen Diskurse einzubringen. In neun der zehn polemischen Dialoge (die Ausnahme bildet der Arminius) treten prominente Zeitgenossen, darunter auch Huttens eigene persona, auf und positionieren sich im Laufe der Gespräche sowohl inhaltlich als auch im weitesten Sinne sozial. Dies geschieht durch die Art, in der sie mit den übrigen Gesprächspartnern interagieren und Informationen von sich preisgeben. Zwar handelt es sich im eigentlichen Sinn um fiktive Positionierungen, die Hutten als Autor dieser fiktionalen Dialoge vornimmt, auf der Gesprächsebene des jeweiligen Dialogs wirken sie allerdings als Positionierungen, die die Gesprächsteilnehmer untereinander vornehmen. Diese werden wegen der Dialogform weniger deutlich als Zuschreibungen des Autors wahrgenommen, die Grenze zwischen intra- und extradiegetischer Ebene erscheint weniger scharf.11 Unter Positionierung12 wird hier ein dynamischer Prozess verstanden, der das statische Rollenkonzept ersetzt. Dabei ist schon in der dramaturgischen Metapher der Rolle angelegt, dass dieses Konzept von einem existierenden Handlungsmuster ausgeht, das sich in verschiedenen Instanzen manifestiert. Die Analogie zum Theaterwesen liegt in der vom Autor vorgegebenen Rolle, die zwar erst beim Auftritt auf die Bühne gebracht und damit sichtbar wird, aber schon vorher existiert. Im Gegensatz zu diesem älteren Modell hebt das Konzept der 9 Pirckheimer, Briefe Nr. 395, III, 27. 10 Vgl. Arnold (1988). 11 Dies fällt besonders beim direkten Vergleich zwischen einem polemischen Dialog und invektivischen Reden auf. Eine günstige Konstellation in Huttens Werk ermöglicht einen solchen Vergleich zwischen dem Phalarismus und Huttens fünf invektivischen Reden gegen Herzog Ulrich. Vgl. dazu Becker (2013 b). 12 Vgl. zum Konzept der Positionierung den Band Harr¦ / van Langenhove (1999), zum Vergleich mit dem Rollenmodell darin Davies / Harr¦ (1999).
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Positionierung auf die einzelnen Positionierungen als performative Akte ab, die sich erst in Interaktion mit anderen Personen vollziehen. Positionierungen erfolgen ihrem Wesen nach dialogisch; eine Position ergibt sich aus und sie besteht in einer Folge von Selbst- und Fremdpositionierungen. Dieser Prozess kann nicht monologisch sein, da er nur als Interaktion mit anderen Bedeutung erhält. Das dialogische Wesen der Positionierung macht dieses Konzept als Rahmen für die Untersuchung dialogischer Texte und insbesondere auch für die Analyse literarischer Dialoge höchst geeignet. Das gilt umso mehr für solche Dialoge, deren Wirkungspotenzial nicht zuletzt auf der Positionierung der beteiligten Gesprächsteilnehmer, wie der personae prominenter Zeitgenossen im Fall der polemischen Dialoge Huttens, beruht. Zu den prominenten Teilnehmern an Huttens Dialogen gehören neben Huttens eigener persona hochrangige Gegner (Herzog Ulrich von Württemberg im Phalarismus, Kardinal Cajetan in der Febris prima und den Inspicientes) aber auch Mitstreiter in der jeweiligen Kontroverse (Franz von Sickingen im Monitor secundus und in den Praedones); dazu zählen aber auch Personen, die sich nicht nach einem klaren Freund-Feind-Schema einordnen lassen, sondern um deren Zustimmung und Unterstützung Hutten besonders wirbt (Kaiser Karl V. in der Bulla), oder von denen er sich im jeweiligen Kontext distanziert, wie von Martin Luther im ersten Warner-Dialog (Monitor primus). Seiner eigenen persona freilich räumt Hutten den breitesten Raum unter den prominenten Zeitgenossen ein: In fünf seiner zehn polemischen Dialoge (Febris I & II, Vadiscus, Bulla und Praedones) tritt Hutten als Figur auf und nutzt als Autor die Möglichkeiten des literarischen Dialogs intensiv dazu, nicht nur die Bilder von Gegnern und Mitstreitern zu beeinflussen, sondern auch das Hutten-Bild zu prägen. Dieses korrespondiert in erster Linie mit der Hutten-persona des jeweiligen literarischen Dialogs, lässt sich jedoch kaum von dem Bild ablösen, das der Leser von Hutten als Autor oder von der historischen Person Huttens schlechthin gewonnen hat.13 Freilich können auch die Dialoge, in denen Hutten seine eigene persona auftreten lässt, nicht als autobiographisch aufgefasst werden, da der Autor seine polemischen Dialoge in lukianischer Tradition mit vielfältigen Signalen als fiktional charakterisiert hat.14 Wohl aber verwirklicht Hutten auf
13 Vgl. das Konzept des Modell-Autors Eco (1987), 72 und die Kritik an diesem Konzept bei Nünning (1998), 14–17. 14 Besonders prägend für die Wahrnehmung der Dialoge Huttens wird die Fiktionalität im Phalarismus inszeniert, den der Autor in der Tradition Lukians in der Unterwelt angesiedelt hat. An den Fieber-Dialogen ist neben Hutten ebenso eine Personifizierung beteiligt wie in der Bulla. Im Vadiscus lässt sich die Fiktionalität an der triadischen Struktur der Redebeiträge festmachen. In den Praedones finden sich keine vergleichbar deutlichen Signale. Damit
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performative Weise in diesen Dialogen „das Recht, über sich selbst zu reden, über sich selbst das Sagen zu haben, sich selbst zu konstituieren“15, das autobiographische Texte grundlegend kennzeichnet. In Huttens Fall ist diese Haltung allerdings dadurch ausgeweitet, dass der Autor in seinen fiktiven Dialogen am Bild seiner eigenen persona ebenso arbeitet wie an dem anderer lebender oder, wie im Fall des Arminius, toter Personen. Typisch für Huttens polemische Texte und keineswegs auf seine Dialoge beschränkt ist die enge und gezielte Verquickung persönlicher und sachlicher Aspekte. Diese Strategie, Konflikte nicht zu versachlichen und zu objektivieren, sondern im Gegenteil einerseits sachliche Auseinandersetzungen durch eine persönliche Komponente aufzuladen und zuzuspitzen und andererseits persönliche Konflikte durch die gezielte Verbindung mit diskursfähigen Themen in die Öffentlichkeit zu tragen, lässt sich schon in Huttens literarischem Erstlingswerk, den 1510 veröffentlichten Querelae in Lossios, den so genannten Lötzte-Klagen, beobachten.16 Hutten hat diese Strategie in seinen polemischen Dialogen besonders intensiv verfolgt und für das Wirkungspotenzial der Positionierungen und der entsprechenden Dialoge ist dieser Aspekt von großer Bedeutung. Dies kann an Huttens erstem literarischen Dialog, dem 1517 erschienenen Phalarismus gut gezeigt werden. Der Phalarismus ist Teil des literarischen Kampfes, den Ulrich von Hutten gegen Herzog Ulrich von Württemberg führte. Hutten unterstützte mit diesem Dialog und fünf gegen den Herzog gerichteten Invektiven seine Familie im Streit mit dem Herzog: Dieser hatte Huttens Vetter Hans, der Stallmeister an seinem Hof war, ermordet, weil er eine Beziehung mit der Frau seines Höflings beginnen wollte. Für Herzog Ulrich wurde die Lage bedrohlich, als ein Aufstand der schwäbischen Ritterschaft drohte und ihn seine Frau, Herzogin Sabine von Bayern, eine Nichte Kaiser Maximilians, verließ und ins Exil nach München ging. Damit verlor Herzog Ulrich die Unterstützung des Kaisers und hatte in der folgenden auch mit militärischen Mitteln geführten Auseinandersetzung die Wittelsbacher gegen sich.17
lässt sich in Huttens polemischen Dialogen eine Tendenz zu abnehmender Fiktionalisierung festhalten. 15 Enenkel (2008), 14. 16 Vgl. Becker (2008). 17 Vgl. zu Herzog Ulrich von Württemberg Press (1985), zu Huttens literarischem Kampf gegen den Herzog Ludwig (2004).
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Phalarismus (1517), Titelblatt
Die Publikation des Phalarismus ist ein deutliches Beispiel für Huttens oben umrissene polemische Entgrenzungsstrategie, da er den privaten, oder in diesem Fall familiären, Streit um den Tod seines Verwandten in den größeren diskursiven Zusammenhang um die Tyrannenherrschaft und den Sturz eines amtierenden Landesherrn stellt und damit die Sphären des Öffentlichen und des Privaten vermengt. Dass es sich dabei um eine bewusste Strategie Huttens handelt, lässt sich an einer Stelle aus dem 1520 erschienenen Dialog Vadiscus ablesen,18 an dem Hutten seine eigene persona als Dialogpartner teilnehmen lässt. Gegen Ende dieses Dialogs, in dem die Verhältnisse an der römischen Kurie auf schärfste kritisiert werden, steigert sich die Entrüstung von Huttens Gesprächspartner Ernholdus so weit, dass Hutten feststellt, er müsse seinen Dialogpartner erzürnt zu seiner Frau zurückschicken, von der er sich besänftigen lassen werde. Ernholdus: … Hic non arma expedient Germani? non ferro ac igni invadent? … Quin resipiscimus tandem, et opprobrium hoc nostrum, publicam calamitatem ulciscimur; a quo religionis ante opinio et pietatis reverentia detinuit, eo necessitas adigit nunc et compellit. Huttenus: Iratum te uxori tuae remitto. Ernholdus: Quid non irascar? Aut quis tam patiens est, quem haec non commoveant? 18 Zum Vadiscus s. u. S. 100.
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Huttenus: At sines ab illa placari. Ernholdus: Etiam iocaris in re tanta. Huttenus: Tunc quidem non iocabor, cum licebit manu exequi negotium hoc. Ernholdus: Nec minus infense quam contra Suevicum nuper tyrannum expedieris? Huttenus: Immo infensius, illa enim gentilitia tantum ac domestica et privata, haec patriae est et publica caussa.19
Diese Stelle ist gleich in mehrfacher Hinsicht von Interesse. Zunächst fällt auf, wie klar Huttens persona hier verschiedene Sphären unterscheidet und sie entsprechend dem vorliegenden Kontext gewichtet: auf der einen Seite das Private, auf der anderen Seite die Angelegenheit von öffentlichem, ja nationalem Interesse, bei der Hutten die Intensität der Auseinandersetzung noch über das im privaten Bereich Erlaubte ausdehnen will. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht mindestens ebenso interessant ist die Beobachtung, dass Huttens persona innerhalb des Dialogs Aussagen über Hutten als Autor trifft, so dass an dieser Stelle eine Transgression vorliegt. Die Trennung zwischen diesen beiden Ebenen kann insbesondere deshalb nicht problemlos aufgehoben werden, da es sich wie bei allen Dialogen Huttens auch beim Vadiscus um einen fiktionalen Dialog handelt, dessen fiktionaler Charakter deutlich durch die triadische Struktur der Redebeiträge signalisiert wird. G¦rard Genette hat diese Art von narratologischem Kurzschluss zwischen der intra- und der extradiegetischen Ebene als narratologische Metalepse beschrieben und dieser „eine bizarre Wirkung, die mal komisch ist […], mal phantastisch“20 bescheinigt. Einen Erklärungsansatz sieht er in der „inakzeptablen und doch so schwer abweisbaren Hypothese, wonach das Extradiegetische vielleicht immer schon diegetisch ist und der Erzähler und seine Adressaten, d. h. Sie und ich, vielleicht auch noch zu irgendeiner Erzählung gehören“.21 Im Kontext der Dialoge Huttens erscheint mir ein anderer Erklärungsansatz 19 Vadiscus § 250ff., Op. IV, 256f. [Ernholdus: Werden die Deutschen sich nicht rüsten hierfür? Werden sie nicht mit Feuer und Schwert angreifen? […] Wann kommen wir endlich zur Vernunft und rächen den Schimpf und die öffentliche Schande? Wovon uns zuvor die religiöse Haltung und die fromme Ehrfurcht abgehalten haben, dazu bewegt und treibt uns nun die Notwendigkeit. Hutten: Ich schicke dich erzürnt zu deiner Frau zurück. Ernholdus: Wie soll ich da nicht zornig werden, oder wer ist so geduldig, dass ihn diese Dinge nicht bewegen? Hutten: Aber du wirst dich von ihr besänftigen lassen. Ernholdus: Sogar in einer so bedeutenden Angelegenheit treibst du Scherze. Hutten: Dann jedenfalls werde ich nicht scherzen, wenn es erlaubt sein wird, diese Aufgabe handgreiflich zu erledigen. Ernholdus: Nicht weniger erbittert als neulich gegen den schwäbischen Tyrannen willst du vorgehen? Hutten: Noch erbitterter, jenes war nämlich nur eine familiäre, häusliche und private Angelegenheit, diese Angelegenheit betrifft das Vaterland und sie ist öffentlich.]. 20 Genette (1998), 168. 21 Genette (1998), 169.
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erwägenswert, mit dem sich die Gewichtung dahin verschiebt, dass weniger auf die Textualität des Extradiegetischen, sondern stärker auf das performative Wirkungspotenzial des Diegetischen abgezielt wird. Dafür lässt sich an einem auch für Genette wichtigen Ausgangspunkt anknüpfen, der Metalepse des Autors: Diese besteht in der Setzung, dass der Autor das, was er beschreibt, auch bewirke.22 In Huttens Dialogen ist die Grenze zwischen dem fiktionalen Text und der außertextuellen Realität besonders deutlich an obiger Stelle verwischt, so dass die Äußerungen, die Huttens persona im Dialog tätigt, die Verhältnisse in der außertextuellen Realität, insbesondere seine eigene Positionierung, umso leichter beeinflussen und mitgestalten können. Huttens persona nimmt die Position des Autors ein und kommentiert dabei das Verhältnis zwischen den beiden Dialogen so, wie es Autoren sonst üblicherweise in Paratexten tun, um das Verständnis des Textes zu lenken und Einfluss auf die Leser auszuüben. Was hier am Beispiel von Huttens eigener persona in diesem Fall besonders deutlich wird, gilt ganz analog für die personae anderer prominenter Personen, die er in seinen Dialogen auftreten lässt. Auch deren Positionierungen innerhalb der Dialoge haben Rückwirkungen auf die Positionierungen der realen Personen: Nachdem Hutten sie in einem Dialog hat auftreten lassen, werden auch die realen Personen von den Lesern anders wahrgenommen, ihnen werden in sachlicher und sozialer Hinsicht andere Positionen zugeschrieben als zuvor. Auf diesen Zusammenhang geht das performative Wirkungspotenzial der Dialoge Huttens ganz wesentlich zurück, hierauf beruht die besonders enge Verbindung zwischen der diegetischen und der außerdiegetischen Ebene. Wie wir gesehen haben, macht Hutten gleich in seinem ersten Dialog mit Herzog Ulrich von Württemberg einen amtierenden Landesherrn zur Zielscheibe seiner Polemik. Dieser tritt während des ganzen Dialogs nicht unter seinem Namen, sondern in der persona des ,Tyrannen‘ auf. Herzog Ulrich wird somit durchgängig und wirkungsvoll in diesem Dialog das stigmatisierende Label des Tyrannen schlechthin zugeschrieben. Huttens Tyrann hat von Jupiter das Privileg zu einer Art Bildungsreise in die Unterwelt erhalten, wo er sich von Phalaris, dem antiken Prototypen aller Tyrannen, in der Kunst, ein Tyrann zu sein, fortbilden lassen kann. Wie alle seine Dialoge lässt Hutten auch den Phalarismus ohne eine Rahmenerzählung direkt mit dem Gespräch beginnen: Charon spricht Merkur darauf an, dass sich ein lebendiger Mensch in seinem Kahn befindet, der daraufhin als deutscher, in 22 Genette (1998), 167 greift dabei auf ein Zitat das Grammatikers Pierre Fontanier zurück, so dass auf diese Weise der Ursprung der Metalepse in der klassischen Rhetorik (vgl. Burkhardt [2001]) angedeutet ist. Diese Entwicklung zeichnet Genette (2004) detailliert nach, zur Metalepse des Autors Genette (2004), 10.
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Schwaben regierender Tyrann eingeführt und in das Gespräch einbezogen wird. Auf diese Weise ist der Tyrann eindeutig als der amtierende Herzog Ulrich von Württemberg identifiziert. Dem einführenden Gespräch zwischen Charon und Merkur (§§ 1–2) kommt die Funktion zu, den Kontext des Dialogs zu klären, insbesondere also den Tyrannen, als einzige nicht allgemein bekannte Person vorzustellen und seine Vorgeschichte zu berichten. Diese Aufgabe erfüllt Charon, der sich im Gespräch mit Merkur daran erinnert, dass er unlängst schon einmal von einem solchen Tyrannen gehört hat, folgendermaßen: Charon: […] Et quod subit, is forte est de quo miserrime conquerentem nuper quandam umbram transvexi, Francum equitem aiebat fuisse sese, et in huius aula versatum annos aliquot, deinde ab eo nihil tale meritum crudelissime interfectum: longa fuit historia: ipse factum dolui. Venit paulopost iuvenis pater, venerandus senex, qui cum in hac cymba innocentis filii casum deploraret nobisque totam rem ut gestam dicebat ordine recenseret, omnium in se aures atque oculos convertit, omnes perculsos reddidit, denique omnium commiserationem meruit. nihil ea tragoedia lugubrius visum est, me quidem vehementer movit.23
Nach diesem erzählerischen Beginn setzt Hutten den Dialog mit einer argumentativen Passage als Wortwechsel fort, in dem sich der Tyrann auf der einen und Charon zusammen mit Merkur auf der anderen Seite gegenüberstehen. Gleich bei seinem ersten Auftritt im Dialog zeigt der Tyrann wider Willen, dass er diese Bezeichnung völlig zu Recht trägt, obwohl er sich gegen sie verwahrt: Charon. […] Ut gravis est! Proinde hunc remum accipe, Tyranne. Tyrannus. Mortuis ista tuis! nam mihi nondum praecipies tu aliquid; atque audin’, ad nautica Suevorum principem? Charon: Te talem aio, quem ego paulopost videbo multo his indigniora et servilia magis ferre, Tyrannus cum sis. Tyrannus. Minime Tyrannus, sed in regnum natus et legitime imperans. Mercurius. Sic est hoc quidem, Charon, ut dicit. Sed disce, o Germane, non eos tantum vocari Tyrannos, qui in libera aliquando civitate regnum invaserunt, verum eos quoque, qui relictis iustitia, liberalitate, fortitudine, pietate, temperantia, mansuetudine et clementia, regiis scilicet virtutibus, haec usurpaverunt, crudelitatem, avaritiam, 23 [Charon: Da fällt mir ein, der hier ist es wohl, von dem ich neulich erfuhr, als ich seine Seele ins Schattenreich führte, die dabei erbärmlich klagte. Die Seele sagte, sie sei ein fränkischer Ritter gewesen, und habe einige Jahre an seinem Hof gelebt, dann sei sie von ihm äußerst grausam ermordet worden, obwohl sie nichts Derartiges verdient habe. Es war eine lange Geschichte, und ich selbst war über die Tat betrübt. Wenig später kam der Vater des Jungen, ein ehrwürdiger Greis. Als dieser in diesem Kahn das Schicksal seines unschuldigen Sohnes betrauerte und die ganze Sache der Reihe nach, so wie er sagte, dass sie geschehen sei, durchging, richtete er aller Ohren und Augen auf sich, erschütterte alle und verdiente schließlich aller Mitgefühl. Nichts erschien mir trauriger als diese Tragödie, mich jedenfalls hat sie heftig bewegt.].
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ignaviam, feritatem, mollitiem, libidinem ac immanitatem et his similia vitia. Tyrannus: Tibi et deo et duci aliquid in me liberius fortasse licet: hunc vero nautam quis ferat obstrepentem principibus? Mercurius. Reverentius, Tyranne, quia et deus est iste et suum hic habet imperium. Charon. Age age ad remum, et scapham promove! quae mora? vin’ ab ista deturbari cymba?24
Der Tyrann lässt sich mit seinen beiden göttlichen Gesprächspartnern auf ein Wortgefecht um die Deutungshoheit über seine eigene Position und um die Meinungsführerschaft ein, obwohl dieses Unterfangen in einem Gespräch mit Göttern von vornherein aussichtslos erscheinen muss. Anfangs gebärdet er sich herrisch und hochmütig, will aber dennoch nicht als Tyrann gelten. Dieser performative Widerspruch wird schnell dadurch aufgelöst, dass der Tyrann den Anweisungen seiner göttlichen Gesprächspartner Folge leisten und sein herrisches Verhalten aufgeben muss. Insbesondere Charon demonstriert seine eigene Macht, indem er den Tyrannen demütigt. Merkur, dessen übergeordnete Rolle nie infrage steht, kann deutlich souveräner auftreten und aufgrund seiner natürlichen Autorität das Machtgefüge zwischen Charon und dem Tyrannen klären. Auch im Streit darüber, ob der Tyrann diese Bezeichnung zu Recht trägt (mithin in einer Frage, der für das Wirkungspotenzial des ganzen Dialogs eine nicht unerhebliche Bedeutung zukommt), behauptet Merkur die Deutungshoheit. Der Tyrann muss sich belehren lassen, dass er sich im Irrtum befindet, wenn er glaubt, nur deshalb kein Tyrann zu sein, weil er auf rechtmäßige Weise in sein Amt gekommen sei. Merkur präsentiert sich auch bei der moralischen Bewertung seines Gesprächspartners als die entscheidende Instanz und nimmt die Position ein, die von dem Gott in diesem Kontext zu erwarten ist. Den Hauptteil des Dialogs bildet das Gespräch zwischen dem Tyrannen und Phalaris. Gleich nach der vertrauten Begrüßung erzählt der Tyrann als Schüler 24 Op. IV, 6f.: [Ch: Wie schwer er ist! Nimm also dieses Ruder, Tyrann. T. Mit deinen Toten kannst du so umspringen! Denn mir wirst du noch nicht irgendetwas befehlen! Und, hörst du, zu Schiffsarbeit zwingst du den Fürsten der Schwaben? Ch. Ich heiße dich so, weil ich wenig später sehen werde, dass du viel unwürdigere Dinge als diese und viele sklavischere erträgst, weil du ein Tyrann bist. T. Keineswegs bin ich ein Tyrann, sondern in die Königswürde hineingeboren und ein legitimer Herrscher. M. Es ist zwar so, Charon, wie er sagt. Aber lerne, Deutscher, dass nicht nur diejenigen Tyrannen genannt werden, die irgendwann in einem freien Gemeinwesen die Herrschaft an sich gerissen haben, sondern auch diejenigen, die die Gerechtigkeit, die Freiheit, die Tapferkeit, die Frömmigkeit, die Mäßigung, den Sanftmut und die Milde, die königlichen Tugenden also, aufgegeben haben und stattdessen Grausamkeit, Habgier, Faulheit, Wildheit, Weichheit, Ausschweifung und Unmenschlichkeit ausüben.T. Dir als Gott und Führer ist vielleicht erlaubt, allzu freimütig mir gegenüber zu sein. Doch wer soll ertragen, dass sich dieser Seemann gegen Fürsten auflehnt? M. Etwas demütiger, Tyrann, denn auch er ist ein Gott und hat hier sein Reich. Ch. Los ans Ruder, und bewege den Kahn! Was gibt’s da zu zögern: Willst du vom Kahn hier geworfen werden?].
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seinem Lehrer Phalaris, wie er Hans von Hutten ermordet hat, und betont, dass er sich bei der Ausführung genau nach den Anweisungen seines verehrten Lehrers gerichtet habe (ut monuisti; ex tuo instituto). Phalaris reagiert folgendermaßen auf die Schilderung: Phalaris: Tale quiddam ego quidem nec feci umquam, nec meditatus sum: semper enim eos occidebam, qui aut delati apud me essent ut insidiatores, aut quos aliqua mea suspicio reos fecisset: atque in hoc tibi concesserim, novitio Tyranno vetulus.25
Mit dem Mord an Hans von Hutten ist dem Tyrannen, der sich zu Beginn des Dialogs so heftig gegen diese Bezeichnung wehrte, nach dem Urteil seines Lehrers das Meisterstück gelungen, mit dem er sich im Kreis der Tyrannen etablieren kann. Für Herzog Ulrich trug die Polemik dieses Dialogs zur Schwächung seiner Position bei, zumal sein Ruf auch durch andere Stellungnahmen immer nachhaltiger beschädigt wurde. Im kirchenkritischen Kontext ist es unter den hohen Klerikern insbesondere Kardinal Cajetan, der Gesandte der Kurie auf dem Augsburger Reichstag von 1518, der zur Zielscheibe von Huttens Satire wird. In seinem 1520 erschienenen Dialog Inspicientes (Die Anschauenden) lässt Hutten den Sonnengott Sol und seinen Sohn Phaethon vom Himmel aus die Geschehnisse in der nördlichen Hemisphäre beobachten und besprechen. Ihr besonderes Augenmerk legen die beiden göttlichen Beobachter dabei auf den Augsburger Reichstag. Am Schluss des Dialogs (§77) lässt Hutten Kardinal Cajetan als dritten Gesprächsteilnehmer auftreten. In dem furiosen Finale dieses Dialogs fährt Kardinal Cajetan voller Hochmut und Zorn gegen den Sonnengott in den Himmel, um sich über das anhaltend schlechte Wetter zu beschweren, das in Deutschland gegen seinen ausdrücklichen Befehl herrsche. Der Kardinal bedroht Sol als Ungläubigen mit dem Bann, da der Gott sich nicht an Cajetans Anweisungen gebunden fühlt und auch die Autorität des Papstes in Frage stellt. Der Kardinal positioniert sich selbst damit so, als stehe er jenseits der göttlichen und der menschlichen Sphäre und entlarvt damit seine Hybris. Seine Anmaßung steht im starken Kontrast zu der Positionierung durch Sol und Phaethon, die über ihn nur als homuntio sprechen. Sol: Mihi succenset: audi vero quid loquatur homuntio: quiddam minatur sublato supercilio insolenter. […] Sol: Neque hoc animadverti, quid praeciperes mihi, neque unquam scivi quemquam mortalem soli imperare. 25 Phalarismus § 8, Op. IV, 11 [Phalaris: Eine solche Tat habe ich jedenfalls niemals begangen, ja nicht einmal erwogen. Denn ich habe immer nur die ermordet, die mir als mögliche Attentäter angezeigt worden waren oder die eine meiner Verdächtigungen zu Angeklagten gemacht hatte. In diesem Punkt nun muss ich dir wohl das Feld räumen, der alte Tyrann dem Nachwuchs-Tyrannen.].
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Caietanus: Non scivisti tu? atque hoc ignoras, episcopum Romanum (qui nunc omnem suam in me vim transfudit legatum a latere) et caelo quae velit et terra ligare potenter ac solvere? Sol: Audieram, sed non credebam esse quod ille iactitaret, neque enim adhuc quenquam mortalium quicquam hic immutare vidi. Caietanus: Etiam non credis, male Christiane, tu? quem oportet, talis cum sis, excommunicatum statim Satanae tradi.26
Dialogi novi Eine ganz andere Art von Positionierungen als die satirische Selbstentlarvung der Gegner Huttens, die wir – ausgehend von den EOV – in seinen Dialogen bisher verfolgt haben, findet sich in den beiden Warner-Dialogen (Monitor primus und Monitor secundus), die Hutten Anfang 1521 in der Sammlung der vier Dialogi novi publiziert hat. In beiden Dialogen führt ein Exponent der Reformation (im Monitor primus die persona Luthers, im Monitor secundus diejenige Franz’ von Sickingen) mit der Figur des Warners ein Gespräch in ruhiger Atmosphäre. Im ersten der beiden Warner-Dialoge versucht ,Luther‘ – letztlich erfolglos – den Warner von den eigenen Positionen zu überzeugen, obwohl dieser das Gespräch nur zu dem Zweck sucht, um ihm die Gefolgschaft aufzukündigen. Im zweiten Warner-Dialog gelingt es Sickingens persona, seinen Gesprächspartner von den eigenen Positionen zu überzeugen. Der Kontrast zu Luthers fehlgeschlagenem Überzeugungsversuch wird umso deutlicher, da die beiden Dialoge als ein erster und zweiter Teil aufeinander bezogen sind. Im Monitor primus betont der Warner die Gefahr und die Schande, die allen Parteigängern Luthers drohe. Er will sich selbst vor diesen Bedrohungen in Sicherheit bringen, indem er sich gleich mit seiner ersten Äußerung von Luther lossagt.27 Dieser performative Akt bildet die Grundlage für den gesamten folgenden 26 Inspicientes Op. IV, 301–303 [Sol: Er zürnt mir : Höre aber, was das Männlein zu sagen hat: Er droht etwas und zieht dazu ganz stolz die Augenbrauen nach oben […] Sol: Ich habe weder auf das geachtet, was du mir vorschreiben wolltest, noch habe ich je davon gewusst, dass ein Sterblicher Mensch der Sonne befehlen kann. Caietanus: Das hast Du nicht gewusst? Und auch das ist dir unbekannt, dass der Bischof von Rom, der jetzt alle seine Gewalt auf mich als den Legaten von seiner Seite übertragen hat, im Himmel und auf der Erde, was er will, binden und lösen kann? Sol: Gehört hatte ich davon, aber ich glaubte nicht, dass es sich so verhalte, wie er sich rühmte. Dennoch nie habe ich einen Sterblichen etwas hier oben verändern sehen. Caietanus: Glaubst du noch immer nicht, du schlechter Christ? Dich muss ich, da Du so bist, sofort exkommunizieren und dem Satan übergeben.]. 27 Monitor : Ego me ab his vero partibus, ubi non citra discrimen aditur etiam infamia, ac in tutum aliquo me dabo.
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Dialog, in dem es der persona Luthers darum geht, den abtrünnigen früheren Anhänger wieder für die eigene Sache zu gewinnen. Luthers persona verfolgt damit das Ziel, die Aufkündigung der Gefolgschaft zu verhindern und in einem weiteren performativen Akt28 ein neues Versprechen der Gefolgschaft zu erreichen. Erst am Schluss des Dialogs wird deutlich, dass ,Luthers‘ Überzeugungsversuche von Beginn des Dialogs an zwangsläufig zum Scheitern verurteilt waren: Mit seinem letzten Redebeitrag erklärt der Warner, dass er bald Kardinal sein werde. Für ,Luther‘ ist damit der für ihn unbefriedigende Verlauf des Gesprächs geklärt: Der Warner ist korrupt, um den Preis der Kardinalswürde hat er seine Seele verkauft.29 Am Ende dieses Dialogs wird die Erkenntnis evident, dass der Warner eine Information zurückgehalten hat, der für das ganze Gespräch von Beginn an entscheidende Bedeutung zukommt: Der Dialog wäre völlig anders verlaufen, wenn die kurz bevorstehende Ernennung des Warners zum Kardinal von Anfang an bekannt gewesen wäre. Unter dieser Prämisse nämlich hätten sich die intensiven Bemühungen ,Luthers‘, den Warner doch noch zu überzeugen, kaum plausibel darstellen lassen. Dem entspricht die Erwartungshaltung des Lesers, der bei seiner Lektüre davon ausgehen muss, dass ein Gesinnungswandel des Warners möglich ist und dass dieser im Verlaufe des Dialogs wahrscheinlich vorgeführt wird. Der Gesprächsverlauf im ersten Warnerdialog macht eine gestörte Kommunikationssituation offenkundig, auf die Luthers persona nicht adäquat reagieren kann.30 Anders als Luther hat Hutten aus dieser Situation, in der kein diskursiver Fortschritt mehr möglich scheint, die Konsequenz gezogen, dass eine weitere Eskalation der Auseinandersetzung unter Einschluss von physischer Gewalt, unvermeidbar sei, und seine Pläne zu einem Pfaffenkrieg vorangetrieben.31
Huttens Selbstpositionierung in seinen polemischen Dialogen Auch wenn das vorherrschende Hutten-Bild wohl bis heute vor allem auf die Figur des streitbaren Ritters und Poeta laureatus zurückgeht, zu dem Hutten sich maßgeblich in seinen späten Dialogen selbst stilisiert hat,32 ist die Posi28 Zur kulturwissenschaftlichen Konzeption des Performativen vgl. Wirth (2002), zum Performativen in der Dialogform vgl. Hempfer (2002). 29 Monitor primus § 60, Op. IV, 349 Monitor : Proxime Cardinalem videbis me. Lutherus: Habeo tandem: hoc precio rem inaestimabilem vendidisti, animam; miserias! Itaque migra, nobis curandum est interim, ut pro te perdito alios statim duos aut tres lucrifaciamus Christo. 30 Zur gestörten Kommunikationssituation im Kontext der Reformation vgl. Bauer (1996). 31 Zu Huttens Plänen für einen Pfaffenkrieg unter starker Beteiligung Sickingens s. Walser (1928), 45–54. 32 Vgl. das Titelblatt der Dialogi novi, auf dem Hutten sich mit der Umschrift Germanae libertatis propugnator hat abbilden lassen, o. S. 87.
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tionierung von Huttens eigener persona in seinen Dialogen insgesamt komplexer und von einer Entwicklung gekennzeichnet: Die einseitige Betonung der Wehrhaftigkeit ist mit der Zuspitzung der reformatorischen Auseinandersetzung (deutlich in den Dialogi novi) verbunden, während sich in den früheren Dialogen deutliche Abweichungen von dieser Positionierung zeigen.33 In den beiden lateinischen Fieber-Dialogen (Febris prima und Febris secunda) aus den Jahren 1518/1519, den ersten Dialogen, in denen ,Hutten‘ selbst auftritt, positioniert der Autor seine persona merklich anders als in den späteren. In beiden Dialogen versucht das personifizierte Fieber, die persona des Autors zu befallen, indem es ,Hutten‘ die Vorzüge als Krankheit anpreist. Dieser bemüht sich, das Interesse des Fiebers auf andere Ziele, zu lenken, vor allem auf Kleriker, die es mit Armut und Keuschheit nicht allzu eng sehen. Hutten belässt es nicht bei einer bloß typisierenden Form der Kleriker-Satire, sondern empfiehlt dem Fieber als besonders lohnenswertes Opfer Kardinal Cajetan, der während des Augsburger Reichstags von 1518 durch sein Auftreten und seinen Lebenswandel hinreichend Stoff für satirische Kritik geboten hatte. Hutten ironisiert andererseits aber auch seine eigene Figur, so dass der unverkennbar polemischinvektivische Zug nicht zum alleinigen Charakteristikum dieses Dialogs wird, den Hutten zudem in die Tradition des paradoxen Enkomiums stellt.34 Das Fieber versucht, Hutten davon zu überzeugen, welche Vorteile es mit sich bringe: Es mache den Betroffenen fleißig und scharfsinnig und verhelfe nach seinem Abklingen dem Kranken letztlich zu besserer Gesundheit. Hutten als Autor kann diese Behauptungen aus seiner eigenen Erfahrung widerlegen: Zur Abfassungszeit der Fieber-Dialoge unterzog er sich jener Guajak-Kur, die er durch seine ebenfalls 1519 erschienene Monographie bekannt gemacht hat. Entsprechend nah sind sich der Autor und seine persona, wenn diese im Dialog äußert, auch nach dem Abklingen des Fiebers noch viele Jahre dauerhaft unter den späten Folgen gelitten zu haben.35 Hutten setzt die Ironisierung seiner eigenen persona gleich zu Beginn des zweiten Fieber-Dialogs in Szene, als das Fieber, das am Ende des ersten Dialogs nur vorläufig abgewehrt worden ist, nur noch intensiver den Kontakt mit ,Hutten‘ sucht. Dieser bemüht sich, zusammen mit seinem Knappen das Fieber abermals abzuweisen. Im Gesprächsverlauf kann Hutten das Fieber schließlich davon überzeugen, dass es dringend zur Bereinigung der Verhältnisse in Rom gebraucht wird, so dass es endgültig von Hutten ablässt. Am Anfang des Dialogs ist dieser Ausgang jedoch keineswegs sicher. 33 Zur zunehmenden Polemik in Huttens Dialogen s. Könneker (1979). 34 Vgl. zur literarischen Tradition des paradoxen Enkomiums von der Sophistik bis in die Renaissance Billerbeck / Zubler (2000), insbes. 1–52. 35 Zu den Auswirkungen der Syphilis auf Huttens Werk s. Jillings (1995); Peschke (1988).
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Huttenus: Audin’ hos, puer, adpulsus? atque hunc audin’ ostii fragorem? Audin’? Audin’? Sinis has nobis effringi fores? Verum heus tu, de fenestra foras prospice, tum siquid importuni est, dic non esse domi me. Febris. Non esse domi te vero quem haec ego loquentem audio? Quin aperis atque hoc a vento, his imbribus intro admittis. Puer. Febris est, here. Pro Christe, pro salus, qui muniemur hac a peste? Vin’ lapidibus exturbem? vin’ telis atque armorum genere omni? Huttenus: Fenestram occlude primum, nequem nobis inspiret sursum ut ante, venenatum, puer, halitum. Occlude statim atque accurate.36
Sprachlich und in der Art der Darstellung ist die Anlehnung an entsprechende Anklopfszenen bei Plautus deutlich.37 Die Figuren scheinen einer Komödie entsprungen zu sein und auch Huttens eigene persona, die es noch nicht einmal schafft, sich verleugnen zu lassen, trägt stark komödienhafte Züge. Ein Diskursereignis, das zweifellos zur weiteren Verschärfung der reformatorischen Prozesse beigetragen hat, stellt die Veröffentlichung von Huttens fünf Dialogi im April 1520 dar. In dieser Sammlung sticht der Dialog Vadiscus sive Trias Romana wegen der unerhört heftigen, freimütigen und umfassenden Kritik an Rom heraus. Hutten hat diese Einschätzung in einem Brief an Eobanus Hessus38 sowie in der Praefatio zum Dialog selbst geäußert.39 Dort positioniert Hutten sich als Freiheitskämpfer, indem er beansprucht, er habe als Autor die Freiheit aus den päpstlichen Fallstricken gelöst und sie aus der Verbannung zurückgeführt. Der Titel Vadiscus sive Trias Romana geht darauf zurück, dass die persona Huttens dem zweiten Gesprächsteilnehmer Ernholdus all die Übel weitererzählt, die ein gewisser Vadiscus nach seiner Rückkehr aus Rom berichtet hat. Dieser Bericht umfasst 58 ,litaneihafte‘ Dreiergruppen (Triaden), zu denen die Verfehlungen in Rom zusammengefasst sind. Insbesondere wegen dieser Publikation hat Hutten die Aufmerksamkeit von 36 Febris II §1, Op. IV, 103, Hutten: Hörst du das Pochen, Knabe? Hörst du, wie die Tür kracht? Hörst du’s, Hörst du’s? Willst du, dass uns die Türe eingeschlagen wird? Doch halt, sieh erst zum Fenster hinaus, und wenn es ein ungelegener Besuch ist, sag, ich sei nicht daheim. Fieber : Du seist nicht daheim, den ich dies selbst sagen höre? Warum öffnest du mir nicht und lässt mich aus diesem Wind und diesem Regen hinein. Knabe: Herr, es ist das Fieber : Bei Christus, beim Heil, wie wollen wir uns vor diesem Unheil schützen? Soll ich es mit Steinen vertreiben, mit Geschossen und jeder Art von Waffen? Hutten: Schließ zuerst das Fenster, damit es uns nicht wie zuvor einen giftigen Hauch oben reinbläst. Mach sofort zu und fest. 37 Vgl. zu entsprechenden Formen der Komik bei Plautus Sander-Pieper (2007), insbes. 60–65. 38 Hutten in seinem Brief an Eobanus Hessus vom 3. August 1519: Cuditur mihi nunc dialogus cui titulus ,Trias Romana‘, quo nihil vehementius, nihil liberius adhuc editum est in Romanos aurisugas (Op. I, 302). 39 Vgl. die auf den 13. Februar 1520 datierte Praefatio, die Hutten an seinen Schwager Sebastian von Rothenhan gerichtet hat (Op. I, 322 § 2f).
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Papst und Kurie auf sich gezogen. Hutten wird zwar nicht in der Bannandrohungsbulle Exsurge Domine, mit der Papst Leo X. Luther und seinen Anhängern die Exkommunikation androht, namentlich erwähnt, wohl aber in der Instruktion, in der Leo X. am 16. Juli 1520 seinen Legaten Hieronymus Aleander mit der Durchsetzung der Bulle beauftragte.40 Die Veröffentlichung der Bulle markierte für Huttens Leben und Werk eine nachhaltige Zäsur. Mit mehreren Publikationen hat er auf die Bulle, die seinen publizistischen Kampf gegen die römische Kirche auf eine neue Grundlage stellte, reagiert.41 Unter diesen ragt der Dialog Bulla vel Bullicida (Die Bulle oder der Bullentöter) literarisch als der wohl dramatischste und effektvollste unter seinen Dialogen heraus. Etwa vier Fünftel des Dialogs bestreitet Huttens persona mit den Personifikationen der Deutschen Freiheit, Libertas Germana, und der Bulle. Erst im Schlussteil treten als personae Franz von Sickingen, Kaiser Karl und Stromer hinzu. Der Dialog beginnt mit einer ähnlich turbulenten Szene wie der zweite Fieberdialog: Die Deutsche Freiheit muss sich gegen die handgreiflichen Übergriffe der Bulle verteidigen und ruft als letzten Ausweg die Deutschen zu Hilfe. Auf diese Weise verschafft Hutten seiner persona einen dramatischen Auftritt: Er tritt auf als einziger Retter der bedrängten Deutschen Freiheit, mit der er sofort wie ein alter Bekannter ins Gespräch kommt. Libertas: Vestram fidem, Germani; auxilio este, cives; eripite adflictam libertatem. ecquis suppetias audet ferre mihi? ecquis vere liber est? ecquis honesto studet, aequm diligit, fraudem odit, fas amat, scelus detestatur? ecquis vere Germanus est? Huttenus: Haec me vox cuiuscuius est, evocat: atque igitur videbo quid rerum foris sit. profecto Libertas agitur, quantum audio: excurram ocius; quid hic agitur? quis est? quis clamat? Libertas: Libertas opprimitur, Huttene: ipsa ego sum, ipsa clamo; haec illa est quae me opprimit, Decimi Leonis Bulla. ea non alio vineas pluteosque agit, quam ut irretitam me teneat, deinde strangulet.42 40 Vgl. zu der Bannandrohungsbulle Exsurge Domine gegen Luther und seine Anhänger vom Sommer 1520, in deren Begleittexten Hutten auch persönlich genannt wird Fabisch / Iserloh (1991), insbes. 317–483. 41 Hutten hat eine glossierte Fassung der Bulle mit Epilog an Papst Leo X. publiziert Fabisch / Iserloh (1991), 413–434. 42 Bulla § 9f, Op. IV, 313. [Freiheit: Euren Beistand, ihr Deutschen! Zu Hilfe, ihr Mitbürger, rettet die bedrängte Freiheit! Wagt das keiner, mir beizuspringen? Ist kein wahrhaft Freier da? Keiner, der nach Tugend strebt, das Gute liebt, Betrug hasst, das Recht in Ehren hält, das Verbrechen verabscheut, der wahrhaft ein Deutscher ist? Hutten: Dieser Ruf, von wem er auch kommen mag, geht mich an. Ich will also schauen, was es draußen gibt. Tatsächlich, um die Freiheit handelt es sich, soviel ich höre. Ich will schnell heraus. Was gibt es hier? Wer ist da? Wer ruft? Freiheit: Die Freiheit wird unterdrückt, Hutten: Ich selbst bin es, ich rufe. Die dort ist es, die mich unterdrückt, des zehnten Leo Bulle. Auf nichts Geringeres legt sie es an, als mich in ihre Strecke zu bekommen und dann zu erwürgen.
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Im weiteren Verlauf des Dialogs wird die symbolische Macht der römischen Kirche, die von der Bulle verkörpert wird, immer weiter untergraben. Huttens persona führt im Gespräch vor, dass die Bulle nicht in der Lage ist, die von ihr erhobenen Ansprüche argumentativ zu vertreten oder sich gegen Kritik zu verteidigen. Huttenus: […] Bulla es. sed quae nominis tibi caussa est? an quia inanis es, et tu flatu excitata, sic momento evanescens? […] Bulla: Atqui inanem venire huc lex est, gravem redire Romam perdecet. Huttenus: Quam ob caussam? Bulla: Putare licet hanc rationem, disputare non licet.43
Hutten rückt seine persona damit in eine klassisch rationalistische Dialog-Position: Er fordert von der Bulle Rechenschaft abzulegen: kºcom didºmai – logon didonai, könnte man mit Blick auf die sokratische Position auch sagen. Die Bulle wiederum ist dieser Aufgabe nicht gewachsen, sie erweist sich als nicht diskursfähig: Alles soll beim Alten belassen und nicht hinterfragt oder diskutiert werden. Nachdem deutlich geworden ist, dass ein ernsthaftes und sachorientiertes Gespräch mit der Bulle nicht geführt werden kann, greift Hutten zu massiveren Formen der Verspottung der Bulle. Er macht sich dazu die ursprüngliche Bedeutung des lateinischen Wortes bulla, Blase, zunutze. Huttenus: Atqui non bullam esse te, undecumque sit hoc nomen, arbitror, sed bulgam: nam pecuniam aufertis hinc, et viaticum istis Romae creaturis asportare soletis. praeterea recenteis efflagrare videris tu mihi avaritiae flammas. ecce autem scortea es, plane convenit. Bulla: Dubito an oculos habeas, cui, membrana cum sim, scortea videor, ne me bulgam vero dixeris, ne quis obscoene dictum id accipiat. Huttenus: Neque non valde obscoenam te videmus, sis bulla tamen aut ampulla sis.44 43 Bulla § 22 f, Op. IV, 316. [Hutten: […] Du bist eine Bulle. Aber welchen Grund hat dieser Name? Etwa weil du leer bist und du, so wie du durch Aufblasen erzeugt worden bist, in einem Augenblick wieder verschwindest. […] Bulle: Aber leer hierhin zu kommen, ist das Gesetz, und es gehört sich, schwer beladen wieder nach Rom zurückzukehren. Hutten: Aus welchem Grund? Bulle: Glauben muss man an diese Vorgehensweise, erörtern darf man sie nicht.]. 44 Bulla § 27, Op. IV 317: Hutten: Doch ich meine, du seist gar keine Bulle, woher auch immer dieser Name kommen mag, sondern ein Balg: Denn ihr tragt ja Geld von hier fort und bringt gewöhnlich den Kreaturen in Rom die Beute. Außerdem scheinen mir ganz frische Flammen der Habsucht aus dir herauszuschlagen. Und siehe da, du bist ja aus Leder, das passt ganz gut. Bulle: Du hast wohl keine Augen im Kopf, dass du mich, obwohl ich aus Pergament bin, für ledern hältst. Nenn mich auch nicht Balg, damit niemand einen anstößigen Sinn vermutet. Hutten: Allerdings sehen wir dich als anstößig, seist du nun eine Bulle oder schwülstige Ampulle.
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Auch Papst Leo X. ist an einer späteren Stelle im Dialog vor Verspottung seines Namens nicht sicher : Auf die Frage der Bulle, ob er den Herrschaftsanspruch Leos X. verachte, antwortet Hutten: nicht nur des zehnten, sondern auch von 10 Leos, wenn sie Unrechtes befehlen.45 In scharfem Kontrast zu derartigem Namensspott steht Huttens Selbstvorstellung.46 Zunächst bezeichnet er sich mit seiner Funktion in diesem Dialog als Bullentöter (Bullicida), was die Bulle zu Recht als Drohung und ungutes Omen für ihr weiteres Schicksal auffasst. Huttens persona definiert sich selbst stark über die ritterliche Abstammung und die Verbindung zu Franz von Sickingen. Das Stammhaus der Familie Sickingen, die Ebernburg, erklärt er zum Hort der Gerechtigkeit und erläutert dies mit einem Katalog ritterlicher Tugenden und Werte, die alle dort ihren Ausgangspunkt und Hort haben. Als Vorkämpfer für dieses ritterliche, wehrhafte und durch und durch männliche Ideal stellt Hutten seine eigene persona dar. Teil dieser Positionierung ist, dass er vom sicheren Rückhalt der Ebernburg und der Unterstützung durch Franz von Sickingen und die übrige Ritterschaft, die von diesem Ort symbolisiert werden, ausgehen kann. Offensichtlich sollen andererseits die Ritter moralisch vereinnahmt und zu einer gemeinsamen Haltung verpflichtet werden. Nach dieser ritterlichen Positionierung bedroht Huttens persona die Bulle immer massiver. All ihre Hilferufe, seien sie an Personen, Institutionen oder Gruppen gerichtet,47 bleiben ebenso unerhört wie ihr Flehen um Gnade (§§ 79f.). Auch die Versuche der Bulle, Hutten durch Formen der Bestechung zu entkommen, scheitern. Weder gelingt es ihr, Hilfe gegen Hutten zu kaufen (§ 66f.), noch Hutten selbst mit Geld der Fugger zu bestechen (§ 81). Mit äußerstem Nachdruck wirbt Huttens persona mit einem eindringlichen 45 Bulla § 56, Op. IV, 323. Vgl. Huttens Praefatio zu seiner Edition von Vallas Widerlegung der Konstantinischen Schenkung (Op. I, 155–161). Hutten hat diese für das Papsttum brisante Neuausgabe auf sehr hintergründige Weise Papst Leo X. gewidmet und variiert dort die Anrede Leo decime (§ 6) mit vere pontifex Leo (§ 12) oder beatissime Leo (§ 25, 31). 46 Bulla § 30ff, Op. IV, 318: Bulla: […] Sed dic tu mihi, quo nomine et unde gentium agis te? Huttenus: Bullicidae nomen est. Bulla: Non placet nominis omen. Huttenus: Ab illo autem adsum tibi aequitatis receptaculo Ebernburgo, ubi pretium est equis et armis, contemptus otio et ignaviae; ubi viri strenue viri sunt; ubi et bonum et malum digno habetur loco; ubi ut meretur quis, sic illum accipiunt homines; ubi Dei cultus est, hominum cura et charitas, ubi virtutibus honor, avaritiae non est locus; unde ambitio exulat, perfidia et scelus longe absunt, ubi liberaliter liberi sunt viri; ubi pecuniam contemnunt homines, et magni fiunt; ubi fas sequuntur iidem qui abominando nefas fugiunt; ubi pactis statur, fides colitur, religio suspicitur, innocentia propugnatur, viget probitas, foedera valent: hoc illud est aequitatis receptaculum. 47 Mehrfach wird Johannes Eck von der Bulle wegen ausbleibender Unterstützung beschimpft (§ 47 fucate theologe, improbe tergiversator; § 51: ubi proditor Eccius; § 77: veh desertori Eccio). Weder von der Kurie und den Höflingen, die sich in deren Umfeld tummeln, (§ 50) noch von den Sachsen und Polen (§ 73) kann sie Unterstützung erlangen. Mehrfach wendet sich die Bulle an die Deutschen, ohne eine Reaktion zu erfahren.
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Appell gegen Ende der Bulla48 dafür, dass seine Landsleute sich zum gemeinsamen Freiheitskampf gegen Rom zusammenschließen. In der für Huttens polemische Schriften so typischen Verquickung von Privatem und Öffentlichem erklärt ,Hutten‘ diesen Freiheitskampf, der spätestens nach Huttens Erwähnung in der Bulle ebenso stark sein persönliches Anliegen ist, zu einer öffentlichen Angelegenheit im Dienste der Allgemeinheit.49 Wie auch an anderen Stellen seines Werkes instrumentalisiert Hutten die Bedrohung durch die Türken und erklärt, dass die römische Kirche im Vergleich zu den Türken die größere Gefahr für Deutschland darstelle.50 Im Kampf gegen diese Gefahr, soll auch der Einsatz von Gewalt legitimiert erscheinen: Einen Marsch von 100.000 Mann unter der Führung von Franz von Sickingen sieht Hutten schon heraufziehen als Zeichen dafür, dass Deutschland zur Besinnung gekommen ist und auf Freiheit sinnt.51 Hutten führt dieses Szenario weiter aus, indem er imaginiert, das Wirkungspotenzial des Dialogs habe sich schon erfüllt: Die Anhänger des Papstes ergreifen die Flucht und die Deutschen kommen unter der Führung von Kaiser Karl zu einer großen Versammlung zusammen, zu der Hutten spricht. Huttenus: […] Placet conventus mihi; agetur Germaniae caussa. Alloquar : Pugna fuit mihi cum hac Bulla, principes ac viri Germani, quae cum Libertatem oppressum nostram huc venisset, magnis cum minis magnoque cum terrore a me repressa est, donec sisterem huc vos. quod per amorem communis patriae oro, ne diutius ludibrio esse sinatis urbi Romae nationem hanc; sic habeatur Bulla haec, ut metus sit omnibus post hac Bullis transire Alpes; videant excitatam dormientem Germaniae virtutem exteri: hoc fortitudinis vestrae argumentum date.52
Diese fiktive Reichstagsrede lässt die Mittel und Strategien, mit denen Hutten seinen Kampf gegen Rom führt, noch einmal ganz deutlich erkennen: Er schafft eine Drohkulisse, indem er die eigene Wehrhaftigkeit inszeniert und sich selbst als Teil einer viel größeren Bewegung Gleichgesinnter vorführt, die zahlenmäßig und durch ihre gemeinsame Gesinnung eine Gegenmacht zu Rom darstellen 48 Bulla §§ 84–86, Op. IV, 329. 49 Bulla § 84, Op. IV, 329: communis res agitur, publico consulitur. 50 Huttens elaboriertester Beitrag zum Türkendiskurs besteht in seiner für den Augsburger Reichstag von 1518 verfassten, aber dort nicht gehaltenen Rede Ad principes Germanos ut bellum in Turcas concorditer suscipiant exhortatoria (Op. V, 101–134). 51 Bulla § 86, Op. IV, 329. 52 Bulla § 88, Op. IV, 329: Die Versammlung gefällt mir, es wird um die deutsche Sache gehen. Ich werde sie ansprechen: Ich stand im Kampf mit dieser Bulle, deutsche Fürsten und Männer, die, obwohl sie hierher gekommen war, um die deutsche Freiheit zu unterdrücken, mit großen Drohungen und unter großem Schrecken von mir unterdrückt worden ist, bis ich euch hier aufstellen konnte. Darum bitte ich euch bei der Liebe zum gemeinsamen Vaterland, dass ihr nicht länger zulasst, dass diese Nation Rom zum Spott dient. So soll diese Bulle hier behandelt werden, dass alle Bullen nach ihr Angst bekommen, die Alpen zu überschreiten. Die Ausländer sollen sehen, dass die schlafende Tugend Deutschlands aufgewacht ist. Gebt dies als Veranschaulichung eurer Tapferkeit.
Strategien polemischer Positionierung in Huttens Dialogen
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können. Die Dialogform erweist sich als besonders gut geeignet zu diesem Zweck, da Hutten die verschiedenen Beteiligten und die Veränderungen in Szene setzen kann. Das Finale dieses Dialogs bietet den gebührenden Knalleffekt. Die Bulle platzt letztlich von selbst, über alle Maßen aufgebläht von Zorn und Ehrgeiz. Auf diese Weise erfolgt die abschließende Enttarnung der Bulle in Form einer Selbstentlarvung: Durch ihr Platzen wird ihr Innerstes nach außen gekehrt und wie bei einer öffentlichen Obduktion liegen ihre Innereien den Gesprächsteilnehmern vor Augen. Mit allen Mitteln rhetorischer evidentia werden alle Übel und Untugenden, die der Bulle zuzutrauen wären, von Hutten auch dem Leser vor Augen geführt.53 Huttens Kalkül, dass er mit eben den Mitteln starker publizistischer Positionierung, die zu seiner Erwähnung in der Bannandrohungsbulle geführt hatten, diese persönliche Bedrohung und Gefährdung auch meistern könne, bewahrheitete sich: Huttens Name wurde aus dem Text der folgenden eigentlichen Bannbulle Decet Romanum pontificem gestrichen.54 Aus den Briefen des päpstlichen Legaten Aleander, der in Deutschland die Verbreitung der Bulle gewährleisten sollte, geht hervor, dass er sich vor den Konsequenzen fürchtete, die ihm persönlich während seines Aufenthalts in Deutschland aus der namentlichen Nennung Huttens erwachsen könnten.55 Für die Wirkung, die Huttens Dialoge entfalten konnten, kommt der Positionierung der prominenten Gesprächsteilnehmer, nicht nur von Huttens eigener persona, große Bedeutung zu. Die Positionierungen der Figuren, die Hutten in seinen Dialogen vornimmt, Herzog Ulrich von Württemberg der Tyrann, der wenig überzeugende und durchsetzungsfähige Luther im Kontrast zu Franz von Sickingen und schließlich die sehr wehrhafte, vom Autor zum Vorkämpfer der deutschen Freiheit stilisierte Hutten-Figur, reichen über die intradiegetische Ebene hinaus und besitzen deshalb ein hohes Wirkungspotenzial. Die im Beitrag analysierte Metalepse verdeutlicht die Relevanz dieses Wirkungszusammenhangs für Huttens polemische Dialoge. Durch die Verschärfung der reformatorischen Konflikte sind Facetten insbesondere von Huttens eigener Positionierung in den früheren Dialogen zugunsten einer klareren und eindeutigeren, aber damit auch eindimensionalen Positionierung in den späteren Dialogen gewichen. Auch in dieser Hinsicht ist Hutten zum Objekt einer von ihm selbst mit initiierten Dynamik geworden.
53 S. die Schlussszene Bulla §§ 100–103, Op. IV, 331. 54 Zur Rolle des Legaten Aleander bei der Zurückziehung und Neufassung der Bulle s. Fabisch / Iserloh (1991), 445–490. 55 Vgl. Kalkoff (1886), 121; Balan (1884), Nr. 61, 158; und Fabisch / Iserloh (1991), 449.
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Strategien polemischer Positionierung in Huttens Dialogen
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Uwe Baumann (Bonn)
Die humanistischen und kontroverstheologischen ,Streitschriften‘ des Thomas Morus als ,Polemische Dialoge‘
I.
Prolog
In seinem berühmten Briefporträt, das Erasmus von Rotterdam am 23. Juli 1519 an Ulrich von Hutten sandte1, attestiert Erasmus dem Freund Thomas Morus (1477/8–1535) eine in besonderer Weise ausgeprägte Fähigkeit zur Freundschaft und Freundesliebe:2 Ad amicitiam natus factusque videtur, cuius et syncerissimus est cultor et longe tenacissimus est. Nec ille metuit pokuvik_am ab Hesiode parum laudatam. Nulli non patet ad necessitudinis foedus. Nequaquam morosus in deligendo, commodissimus in alendo, constantissimus in retinendo. Si fors incidit in quempiam cuius viciis mederi non possit, hunc per occasionem dimittit, dissuens amicitiam, non abrumpens. Quos synceros repperit et ad ingenium suum appositos, horum consuetudine fabulisque sic delectatur vt his in rebus praecipuam vitae voluptatem ponere videatur. Nam a pila, alea, chartis caeterisque lusibus, quibus vulgus procerum temporis taedium solet fallere, prorsus abhorret. Porro vt propriarum rerum est negligentior, ita nemo diligentior in curandis amicorum negociis. Quid multis? Si quis absolutum verae amicitiae requirat exemplar, a nemine rectius petierit quam a Moro. [Zur Freundschaft scheint er geboren und geschaffen. Er ist ihr lauterster Diener und hält vor anderen zäh an ihr fest. Und er fürchtet auch nicht pokuvik_am, den Besitz vieler Freunde, den Hesiod allzu wenig lobt: Einem jeden ist er offen für den Bund der Freundschaft. Er ist keineswegs eigen im Wählen, er ist der Gefälligste, sie zu fördern, der Beständigste im Festhalten. Gerät er zufällig an einen, dessen Fehler er nicht heilen kann, so entlässt er ihn bei Gelegenheit, die Freundschaft auflösend, nicht abbrechend. Die er als rein empfindet und seiner Art gemäß, an deren Verkehr und Erzählungen erfreut er sich so, dass er hierin die vornehmste Lebensfreude sieht. Denn dem Ballspiel, dem Würfel, den Karten und den übrigen Spielen, mit denen die Masse der 1 Vgl. Erasmus (Allen IV. Nr. 999); vgl. auch die deutsche Übersetzung von Büchner in Erasmus von Rotterdam (1948). Eine neuere deutsche Übersetzung in Roper (1986), 97–108, ist bedauerlicherweise lückenhaft und macht diese Auslassungen nicht einmal immer kenntlich. 2 Erasmus (Allen IV, Nr. 999), Z. 97–110; deutsche Übersetzung nach Erasmus von Rotterdam (1948), 37–39. Vgl. ebenfalls Erasmus (1987), Nr. 999, Z. 98–114.
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Vornehmen ihren Ekel vor der Zeit zu täuschen pflegt, ist er ganz abhold. Wie er weiter weniger auf die eigenen Dinge sieht, so ist niemand sorgfältiger im Besorgen von Freundesangelegenheiten. Was soll ich viele Worte machen? Wenn jemand ein vollkommenes Vorbild wahrer Freundschaft sucht, wird er es bei niemandem besser finden als bei Morus.]
Angesichts dieses außergewöhnlichen Charakterzuges, geradezu für Freundschaft geboren und bestimmt zu sein („[a]d amicitiam natus factusque videtur“) was als zentrales Element der Charakterisierung des Thomas Morus ebenso bereits in den Morus-Biographien der Renaissance3 und durch seine Korrespondenz4 eindrucksvoll weiter ausdifferenziert, konkretisiert und dokumentiert wird, ist es zunächst vordergründig irritierend, welchen großen Anteil ,Streitschriften‘5 in seinem literarischen Werk haben, wie die folgende Übersicht zeigt:
Thomas Morus: Streitschriften Datierung Humanist. Streitschriften 1505/6 1. [Declamatio] 1515 1518, März
Kontroverstheol. Streitschriften6
2. Brief an Martin van Dorp 3. Brief an Universität Oxford
1518–1520 4. Briefe an Edward Lee 1518–1520 5. Epigramme & Brief an Germain de Brie (Brixius) 1519/20 6. Brief an einen Mönch 1523
7. Responsio ad Lutherum
1526
8. Brief an Johann Bugenhagen
3 Vgl. More, C. (1828); Harpsfield (1932); Ro. Ba. (1950); Roper (1935); Stapleton (1966). 4 Vgl. insbes. More (1947); More (1961); More (1994). Vgl. einige Details in Baumann (1984), bes. 166ff. 5 Mit der vergleichsweise unspezifischen Bezeichnung ,Streitschriften‘ fasse ich Invektiven, polemische Dialoge und Traktate, polemische humanistische und / oder kontroverstheologische Traktate, Briefe, usw. zusammen, die in ,private‘ wie ,öffentliche‘ Kontroversen eingreifen, Stellung beziehen und damit selbst bedeutender Teil dieser Kontroversen werden. Der frühere Gebrauch dieser allgemeinen Bezeichnung (Baumann (1984), bes. 86ff. und 110ff.) für einige Epigramme und Briefe erfuhr eine willkommene Bestätigung durch die Konzeption einzelner Bände der ,Complete Works‘ und der Vorworte in More (1990, CW 7) und More (1986, CW 15). 6 Die Datierungen folgen jeweils den detaillierten bio-bibliographischen Analysen und Begründungen in den Vorworten der Bände der ,Yale Edition of the Complete Works of St. Thomas More‘: More (1974, CW 3,1); More (1984, CW 3,2); More (1969, CW 5); More (1981, CW 6); More (1990, CW 7); More (1973, CW 8); More (1979, CW 9); More (1988, CW 10); More (1985, CW 11); More (1986, CW 15); vgl. zur Datierung der Briefe auch More (1947).
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,Streitschriften‘ des Thomas Morus
(Fortsetzung) Datierung Humanist. Streitschriften
Kontroverstheol. Streitschriften6
[1528, 7. März: Cuthbert Tunstall, Bischof von London, beauftragt Morus offiziell, die gefährlichen Schriften der Häretiker zu lesen und in englischer Sprache zu widerlegen.7] 1529, Juni
9. Dialogue Concerning Heresies (2. Aufl. Mai 1531)
1529, vor 24. Okt. 1532, vor Mai
10. Supplication of Souls
1532, Ende, vor 24. Dez. 1533, Anfang
12. Brief an John Frith (veröffentlicht Anfang 1533)
1533, vor Ostern 1533, vor 1. Nov.
14. The Apology 15. The Debellation of Salem and Bizance
1533, Ende
16. Answer to a Poisoned Book (veröffentlicht Anfang 1534)
11. The Confutation of Tyndale’s Answer I
13. The Confutation of Tyndale’s Answer II
Die Übersichtstabelle bezeugt nicht nur die beeindruckende Vielzahl und Vielfalt der ,Streitschriften‘ des Thomas Morus,8 sie zeitigt zugleich einige allgemeine – freilich zunächst nicht neue – Ergebnisse: Zuerst ist die Sprache der ,Streitschriften‘ Latein (vgl. die Nr. 1–6), woran auch die Reformation (ca. 1521) zunächst nichts ändert (Nr. 7 und 8); und das intendierte Publikum dieser ,Streitschriften‘ ist die res publica litterarum der Humanisten Europas, wenn man den noch zu diskutierenden Sonderfall der Briefe einmal ausklammert. Von kaum zu überschätzender Bedeutung für das literarische Werk des Thomas 7 Vgl. More (1947), 386–388, R. 160. 8 Man sollte in diesem Kontext nicht vergessen, dass Thomas Morus in seinen wohl bekanntesten humanistischen Werken, der Utopia und der History of King Richard III, jeweils in zentralen Passagen Streitgespräche über humanistische Fragen, etwa ob ein Philosoph als Berater eines Herrschers agieren sollte (vgl. More (1965, CW 4), 54/8ff.), Berichte über Streitgespräche über soziale Fragen, über das Diebesunwesen und die soziale Situation in England (vgl. More (1965, CW 4), bes. 60/5ff.), oder juristisch-rhetorische (und zugleich hochpolitische) Machtkämpfe, etwa über die Legitimität des Aufenthaltes in der Londoner Freistatt (vgl. More (1963, CW 2), 27/19ff.), präsentiert. Desgleichen sind auch die sog. Towerwerke nicht völlig frei von polemischer Rhetorik (vgl. etwa für den Dialogue of Comfort (More (1976, CW 12) die Analyse von Jones (1975)).
114
Uwe Baumann
Morus ist der konkrete, offizielle Auftrag von Bischof Cuthbert Tunstall, die insbesondere für das einfache Volk überaus gefährlichen reformatorischen Häresien in englischer Sprache zu widerlegen (vom 7. März 1528), wie die lange Reihe der englischen kontroverstheologischen ,Streitschriften‘ zwischen 1529 und Ende 1533 verdeutlicht (Nr. 9–16). Ebenso eindeutig wie diese klare Entwicklung von lateinischen ,Streitschriften‘ zu englischen ,Streitschriften‘ ist die – der Reformation geschuldete – Fokus-Verschiebung von humanistischen zu kontroverstheologischen ,Streitschriften‘ zu konstatieren, so dass als Motive und intendierte Ziele für die ,Streitschriften‘ des Thomas Morus festgehalten werden können: (1) Verteidigung der humanistischen Grundpositionen (u. a. Bekenntnis zu den ,artes liberales‘, zur Nützlichkeit des Griechischen) und bibelphilologischen Konzepte des Freundes Erasmus von Rotterdam (Nr. 2, 3, 4, 6),9 (2) Verteidigung der ,Wahrheit‘ als Grundlage humanistischer Historiographie (fides historica) und des Ansehens der englischen Nation (Nr. 5), (3) Verteidigung des rechten Glaubens gegen die reformatorischen Häresien (Nr. 7 und 8) in lateinischer, und (4) Verteidigung des rechten Glaubens gegen die reformatorischen Häresien (Nr. 9–16) in englischer Sprache, um damit zugleich England vor den in häretischen Anschauungen gründenden sozialen und politischen Unruhen zu bewahren, und (5) Verteidigung der eigenen Person gegen Vorwürfe der Bestechlichkeit und der grausamen Verfolgung / Folterung von Häretikern (Nr. 14). Signifikant schwieriger ist es, die ,Streitschriften‘ des Thomas Morus nach literarischen und / oder rhetorischen Gattungen zu differenzieren, sie in Gattungstraditionen einzuordnen, oder ihr Innovationspotential vor dem Hintergrund der Gattungsgeschichte zu bestimmen. Aber im Einzelnen, in gebotener Kürze und in chronologischer Reihenfolge der ,Streitschriften‘.10
9 Wenn man so will, ist dies eine schöne Bestätigung der (nahezu gleichzeitigen) direkten Charakterisierung durch Erasmus, dass niemand sich so leidenschaftlich für die Belange seiner Freunde einsetzt wie Thomas Morus (Erasmus (Allen IV, Nr. 999, Z. 108): „ita nemo diligentior in curandis amicorum negociis“). 10 Wie es die Erkenntnisinteressen des Beitrags (literarische / rhetorische Strukturen und ,Gattungen‘) erfordern, liegen detaillierte inhaltliche Analysen der ,Streitschriften‘ des Thomas Morus nicht im Fokus des Interesses.
,Streitschriften‘ des Thomas Morus
II.
Die ,Streitschriften‘ des Thomas Morus
1.
Declamatio Lvcianicae Respondens (1505/6)
115
Lukians Schrift, auf die Morus – in freundschaftlicher Konkurrenz zu Erasmus – antwortet, ist eine declamatio, eine primär in den antiken Rhetorenschulen griechischer Provenienz gebräuchliche Übungsrede.11 Sie ist eine fiktive Zivilprozessrede der überaus reichen Überlieferung, in der die mit Tyrannengesetzen verknüpften, höchst komplexen juristischen Probleme Schülern zu Übungszwecken vorgelegt wurden.12 Die schon in der Antike gegen eine solche realitätsferne Art der Erziehung gerichtete Kritik wird auch Morus nicht unbekannt gewesen sein;13 dennoch verfasste er eine Antwort, eine eigene declamatio, auf Lukians declamatio Tyrannicida.14 Gerade das Ungewöhnliche war es, was ihn dazu bewog, weil er – wie Erasmus überliefert – der Meinung war, dass die Beschäftigung mit ungewöhnlichen Stoffen den Geist besonders kräftige:15 Declamationibus praecipue delectatus est, et, in his, materiis adoxis, quod in his acrior sit ingeniorum exercitatio. Vnde adolescens etiamnum dialogum moliebatur, in quo Platonis communitatem ad vxores vsque defendit. Luciani Tyrannicidae respondit; quo in argumento me voluit antagonistam habere, quo certius periculum faceret ecquid profecisset in hoc genere. [An Übungsreden (declamationes) hat er großen Gefallen gefunden und dabei besonders an ungewöhnlichen Stoffen, weil bei denen die geistige Übung kräftiger und fordernder ist. Daher schrieb er als junger Mann auch noch einen Dialog, in dem er Platos Gemeinschaftsleben bis zu den Frauen hin verteidigt. Auf den Tyrannenmörder Lukians hat er eine Entgegnung geschrieben. Bei diesem Stoff wollte er mich zum Rivalen haben, um umso sicherer die Probe zu machen, welche Fortschritte er in dieser Gattung erreicht hätte.] 11 Vgl. Lausberg (1973), I, 548, § 1147, mit der weiteren Ausdifferenzierung: „Die declamationes […] des genus iudiciale heißen scholasticae controversiae (Quint. 4,2,92). Sie behandeln inhaltlich einen fiktiven Rechtsfall […]. Hierbei bringt der Unterrichtsbetrieb in der Stellung der materia zwei Steigerungstendenzen mit sich: am beliebtesten werden wegen des Pathos grausige Stoffe (Tyrannenmilieu, Kinderraub, Piraten, Giftmorde), wegen der intellektuellen Zuspitzung spitzfindige controversiae (Quint. 7,9,4; 7,9,8 […]). Jede controversia kann nach den beiden Parteistandpunkten […] der Anklage und der Verteidigung behandelt werden. Der Übende übernimmt also die Rolle des Anklage-Anwalts oder des VerteidigungsAnwalts“. Die declamationes des genus deliberativum, die suasoriae (Quint. 3,8,58) können wir für unsere Zwecke übergehen. 12 Vgl. Bonner (1949), insbes. 84–132. Vgl. insgesamt auch Baumann (1986), bes. 44–49. 13 Vgl. u. a. Petr. Sat. 1; Tac. dial. 35,5 und Juv. Sat. 7,150f. 14 Vgl. insgesamt zur Konzeptualisierung und zur Diskussion der Tyrannis im humanistischen Werk des Thomas Morus: Baumann (1985 und 2015a); Grace (1981 und 1985); Fenlon (1981); Guy (2012); Logan (2011b); Wegemer (1996 und 2012). 15 Erasmus (Allen IV, Nr. 999), Z. 251–256; die deutsche Übersetzung nach Erasmus von Rotterdam (1948), 53; vgl. auch Erasmus (1987), Nr. 999, Z. 273–279.
116
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Ohne auf die – nach den Regeln der antiken Rhetorik brillant konzipierte – declamatio des Thomas Morus und ihre Argumente detailliert eingehen zu müssen,16 wird man festhalten dürfen, dass er die Rolle des Verteidigungs-Anwalts sehr überzeugend spielt, eine Rolle, wie dies seiner persönlichen Disposition17 und dem Charakter der declamatio entspricht. Aber nicht nur aus sprachlich-rhetorischen Gründen war diese declamatio für Morus eine willkommene „exercitatio ingeniorum“, er konnte zugleich im Rollenspiel seine rhetorischen Fähigkeiten für den eigenen Brotberuf, die Juristerei, weiter vervollkommnen. Völlig zu Recht hält daher – freilich ohne Rekurs auf die declamatio Lvcianicae respondens – J. P. Trapp fest:18 Thomas More’s first experience of controversy, decisive for his methods throughout his life, was in the law. Later, he examines the books he is dealing with as if they were witnesses, and he always retains a barrister’s ability to score a point.
Beschränkte sich Thomas Morus in seiner declamatio Lvcianicae respondens auf die Rolle des Verteidigungs-Anwalts (der Antrag lag ja mit dem Text der declamatio Lukians vor), so wird man vermuten können, dass er in der von Erasmus erwähnten – und leider nicht erhaltenen – Schrift dialogu[s] […] in quo Platonis communitatem ad vxores vsque defendit noch einen Schritt weiter ging und Rollenfiguren schuf, die das Für und Wider des platonischen Gemeinschaftslebens im Dialog (dialogus) ausloteten, wobei die Argumentation des Dialogs insgesamt auf eine Verteidigung Platons hinauslief („defendit“). Das anwaltliche Rollenspiel in der declamatio Lvcianicae respondens und die Notiz des Erasmus über den verlorenen Dialog des Thomas Morus konstituieren – obwohl sie selbstverständlich rhetorische ,Trockenübungen‘ bleiben – erste Indizien für wohl generelle Praktiken und rhetorische Inszenierungen des Thomas Morus in seinen ,Streitschriften‘.
16 Vgl. Baumann (1985); Baumann (1986), bes. 44–49. Vgl. zum Vergleich mit der sehr ähnlich argumentierenden, aber gut doppelt so langen declamatio des Erasmus Rayment (1959). 17 Vgl. Erasmus (Allen IV, Nr. 999, Z. 113–116; deutsche Übersetzung nach Erasmus von Rotterdam (1948), 39: „Iam inde a puero sic iocis est delectatus vt ad hos natus videri possit, sed in his nec ad scurrilitatem vsque progressus est, nec mordacitatem vnquam amauit. Adolescens comoediolas et scripsit et egit“. [„Schon von Kindheit an freute er sich so an Scherzen, dass er dazu geboren zu sein schien. Aber dabei ging er niemals bis zum Possenreißen und er liebte auch die bissige Satire nicht. Als junger Mann hat er kleine Komödien geschrieben und ist bei ihren Aufführungen aufgetreten“.] Vgl. auch Erasmus (1987), Nr. 999, Z. 117–120. 18 J. B. Trapp im Vorwort zu More (1979, CW 9), xx–xxi.
,Streitschriften‘ des Thomas Morus
2.
117
Brief an Martin van Dorp (R. 15)19
Ausgangspunkt für die briefliche Verteidigung des Erasmus durch Thomas Morus (1515) ist eine bereits seit mehr als einem Jahr ,schwelende‘ Kontroverse zwischen Martin van Dorp (1485–1525), dem späteren Theologieprofessor in Löwen, und Erasmus, die sich primär an der Verspottung von Geistlichen im Encomion Moriae des Erasmus und an den erasmischen Grundsätzen der Bibelphilologie – noch bevor das Neue Testament des Erasmus überhaupt vorlag – entzündet und sukzessive verschärft hatte. Ohne die im Detail anregenden und spannenden Darlegungen des Thomas Morus, die auf eine klare Absage an die Auswüchse scholastischer Dialektik und stattdessen auf die Konzeptualisierung eines humanistisch-erasmischen Bildungsprogramms (der ,artes liberales‘) hinausliefen, würdigen zu müssen:20 Thomas Morus wählt für seine Verteidigung des Freundes und seiner humanistischen und bibelphilologischen Grundsätze die Form des Briefes, den er zwar Erasmus zur Kenntnis bringt, es aber ansonsten Martin van Dorp überlässt, darauf zu reagieren: den Brief als Privatbrief vertraulich zu beantworten, oder auch – im Kreise seiner Freunde oder eines größeren (?) Publikums – öffentlich zu machen. Ob Dorp von Erasmus oder Morus überzeugt wurde, oder sich erst behutsam von den übrigen Löwener Theologen emanzipieren konnte, sicher ist, dass Dorp um den 6. Juli 1516, in seinen Erklärungen der Paulus-Briefe, von seinen früheren Auffassungen Abstand nimmt, sich für die Nützlichkeit von Kenntnissen des Griechischen und Hebräischen ausspricht und die Grundsätze der erasmischen Bibelphilologie für die Arbeiten am Text des Neuen Testaments ausdrücklich gutheißt.21 Mit der ,Gattung‘ Brief hatte Morus jedenfalls ein Medium gewählt, das die prinzipielle Unsicherheit zeitigte, Vertraulichkeit oder Veröffentlichung (in welchen Kreisen? im Druck?) nicht mehr in der eigenen Hand zu haben, es sei denn, man entschied sich von vornherein, den eigenen Brief selbst in den Druck zu geben.
19 Vgl. More (1947), Nr. 15 und More (1986, CW 15). 20 Vgl. dazu jeweils mit reichen Materialien de Vocht (1934), bes. 154ff.; Mesnard (1963); Holeczek (1975), bes. 138ff.; Baumann (1983); Baumann (1984), bes. 110–118; Kinney (1981) und Kinney im Vorwort zu More (1986, CW 15), xix ff; Schmidt (2009), bes. 57ff. 21 Vgl. hierzu Baumann (1983); Baumann (1984), bes. 117–118; Heilen (1988); Kinney (1981); Marc’hadour (1980a) und Mesnard (1963); vgl. ebenso Einleitung und Kommentar von Kinney in More (1986, CW 15), xivff. und 496ff.
118
Uwe Baumann
3.
Brief an die Universität Oxford (R. 60, März 1518) und
4.
Briefe an Edward Lee (R. 48, 75, 84 und 85)
So interessant es wäre, die Argumente zur Verteidigung des Griechischstudiums genauer zu betrachten, oder auch die den Brief des Thomas Morus (R. 60) beschließende Aufforderung an die Universität, das Studium des Griechischen nicht weiter zu behindern, was der Reputation zu gute käme, die Oxford im Inund Ausland (noch) genieße, eingehender zu würdigen, oder die Argumentation mit anerkannten Autoritäten (von den frühen Kirchenvätern bis zu Thomas Wolsey, William Warham und König Heinrich VIII. höchst selbst) herauszustellen, für unsere Erkenntnisinteressen ergibt sich nichts Neues: Für seinen Versuch, den in Oxford eskalierenden Streit zwischen Traditionalisten (Trojanern) und Vertretern erasmischer Innovationen beizulegen,22 wählt Thomas Morus einen in vorzüglichem Humanistenlatein geschriebenen Brief. Gute Einblicke in den prinzipiell zwischen ,vertraulich-privat‘ und ,öffentlich‘ oszillierenden Charakter der ,Gattung‘ Brief vermittelt die (Vor-)Geschichte der Lee-Erasmus-Kontroverse,23 in der Morus zwar zu vermitteln suchte, aber in der Sache eindeutig Position für Erasmus bezog.24 Edward Lee (ca. 1482–1544) hatte mehrfach Ergänzungen und Korrekturen zur Ausgabe des Neuen Testamentes des Erasmus verfasst, eine erste Sammlung dieser Korrekturen auch direkt an Erasmus gesandt,25 die Manuskripte seiner weiteren Einwände und Ergänzungen später – im Herbst 1518 – aber nur noch im Freundeskreis zirkulieren lassen; alle Versuche des Erasmus, bei Lee direkt oder durch Vermittlung der Humanistenfreunde, eines dieser Manuskripte einzusehen, scheiter-
22 Vgl. zu Brief (More (1947), R. 60) und Kontext Baker (1974); Baumann (1984), bes. 156–158; Baumann (2003); Carlson (1992); D’Alton (1997); Kinney im Vorwort zu More (1986, CW 15), xxviiff.; Scott-Craig (1948) und insbes. Schmidt (2009), 80–83, mit dem Resümee (83): „Mores und Erasmus’ sprach- und wissenschaftstheoretisches Reformprogramm war – trotz, oder vielleicht gerade wegen seiner moralisch-philosophischen Dimension – in jener Übergangsepoche, in der sich der englische Frühhumanismus allmählich institutionell zu verankern begann, mit sehr konkreten gesellschaftspolitischen Zielen verwoben und daher auf die Unterstützung der Mächtigen – nicht nur in finanzieller Hinsicht – angewiesen. Es ging More folglich mit seiner umfassenden Verteidigung des erasmischen Wissenschaftskonzepts darum, die humanistische Philologie als Grundlage aller Disziplinen im wahrsten Sinne des Wortes ,hoffähig‘ zu machen“. Die zwei weiteren Briefe des Thomas Morus an die Universität Oxford (More (1947), R. 133 und R. 150) können wir übergehen. 23 Vgl. die Details in Kinneys Vorwort zu More (1986, CW 15), bes. xxxi–xli. 24 Vgl. die Briefe More (1947), R. 48, 75, 84 und 85; eine Neu-Edition (mit englischer Übersetzung) auch in More (1986). 25 Vgl. Erasmus (Allen III, 750). Eine erweiterte Fassung wurde Erasmus von Martin Lypsius zugeschickt, auf die Erasmus in einem ausführlichen Brief antwortete (Allen III, 843).
,Streitschriften‘ des Thomas Morus
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ten.26 Als ,Schiedsrichter‘, im übrigen so auch von Lee gewünscht, greift Morus in diese Kontroverse ein, versichert Lee seiner ungebrochenen Freundschaft, und stellt sich in der Sache uneingeschränkt – und rhetorisch an Argumente aus der Auseinandersetzung mit Dorp anknüpfend – an die Seite des Erasmus. Insgesamt läuft die Argumentation des Thomas Morus speziell in Brief R. 75 auf die überzeugend begründete Aufforderung an Edward Lee hinaus, auch durchaus im eigenen Interesse seine Annotationes ungedruckt zu lassen, einen Rat, den Lee bekanntlich nicht befolgte; er ließ seine Annotationes Mitte Februar 1520 in Paris drucken, auf die Morus bereits am 27. Februar 1520, nach Lektüre der ersten Kapitel antwortet (R. 84), einige seiner Argumente wiederholt und insbesondere die Behauptung Lees, Erasmus sei für den entbrannten Streit der Schuldige, zurückweist. Nachdem Morus wiederum zwei Tage später (29. Februar 1520) das Buch Lees mit einem Begleitbrief des Freundes von diesem persönlich erhalten hatte, repliziert er erneut (R. 85), indem er u. a. auf die päpstliche Befürwortung der erasmischen Edition des Neuen Testamentes hinweist, einen Schutzschild, den sich Erasmus gewisslich nicht aus den Händen winden lasse,27 zumal alle wahrhaft Gelehrten bekennen würden, wie die Mühen des Erasmus ihr Verständnis für die Heilige Schrift gefördert hätten.28 Für unsere Belange von besonderem Interesse an diesen Briefen an Edward Lee ist der mit ihnen mittelbar und unmittelbar gut dokumentierte sachlogische Zusammenhang von Humanistenbriefen, die sowohl als privat-vertraulich als auch im Freundeskreis zirkulierend, somit für eine kleine Öffentlichkeit ,veröffentlicht‘, gelten konnten, mit humanistischen Veröffentlichungen (der Annotationes und der Replik, der Apologia des Erasmus) im Druck.29 Zugleich verweisen die Briefe des Thomas More an Lee auf die Schnelligkeit, bisweilen aber auch nachdrücklich auf die Schwierigkeiten der Kommunikation innerhalb des Kreises der Humanisten.
26 Vgl. Erasmus (Allen III, 765; IV, 998 (Lee); IV, 1026 (Lupset); IV, 1029 (Tunstall); IV, 1030 (Fisher)). 27 Vgl. More (1947), R. 85, Z. 74ff. Morus bezieht sich auf Erasmus (Allen II, 519 und III, 864). 28 Vgl. More (1947), R. 85, Z. 97–99: „Etenim qui malum ab illo stabilierit opinionum, hactenus nullum vidi, at cotidie video passim studiosus, qui se laboribus eius mire iam nunc fatentur adiutos in campo Scripturarum“. 29 Vgl. in diesem Kontext auch die im Mai 1520 als Buch veröffentlichte Sammlung von primär deutschen und englischen ,Erasmianern‘ verfassten Briefen zur Verteidigung des Erasmus gegen die Vorwürfe Edward Lees, Epistolae aliquot eruditorum (vgl. D. Kinney im Vorwort zu More (1986, CW 15), xliii–xliv), eine Briefsammlung, in der auch der Brief des Thomas Morus an einen Mönch (siehe dazu: unten) abgedruckt wurde.
120 5.
Uwe Baumann
Epigramme & Brief an Germain de Brie (Brixius) (R. 86)
Im Verlauf des englisch-französischen Krieges kam es im August 1512 vor SaintMah¦ zu einem Seegefecht zwischen einem englischen (,The Regent‘) und einem französischen Kriegsschiff (,La CordeliÀre‘), in dessen Verlauf beide Schiffe in Flammen aufgingen.30 Im Jahre 1513 veröffentlichte Germain de Brie (Brixius) ein panegyrisches Kleinepos, Chordigerae navis conflagratio,31 in dem Brixius einerseits die Tapferkeit und den Heldenmut des französischen Kapitäns panegyrisch pries, und andererseits, da er sich der französischen Königin Anne de Bretagne empfehlen wollte, seinen patriotischen Nationalstolz sehr deutlich herausstellte. Beides empörte Thomas Morus und noch während der hitzigen Atmosphäre des englisch-französischen Krieges32 wandte er sich mit einigen Epigrammen33 gegen diese Deutung der Ereignisse, mit Epigrammen, die er – trotz einiger Bedenken34 – sehr viel später (1518) in seinen Epigrammata veröffentlichen ließ. Im Stil und mit ihren Vorwürfen sarkastisch und bitter, wie dies von Morus 1516 selbst auch so eingeschätzt worden war („quaedam amarulentiora“), provozierten diese Epigramme Brixius zum literarischen Konter, einem langen Gedicht, dem Antimorus (Anfang 1520), „in dem er in polemischer Distanzierung von Morus’ Aussagen seine Ansichten über die Qualitäten und Merkmale guter Poesie darlegte“.35 Wie nicht anders zu erwarten, erfolgte – ungeachtet der vermittelnden Versuche des Erasmus, den Konflikt seiner Freunde beizulegen36 – der Gegenkonter des Thomas Morus unverzüglich, mit seinem noch im Frühjahr 1520 gedruckten Brief (Epistula ad Germanum Brixium)37 und mit vier neuen Epigrammen, die er der Neuausgabe der Epigramme im Dezember 1520 hinzufügte.38 Der zentrale Aspekt dieses erbittert geführten humanistischen Streits „war 30 Vgl. die sorgfältige Analyse von S. M. Foley im Vorwort zu More (1984), 429–438. Vgl. ebenso die Materialien in Proveni (2004). 31 Vgl. die moderne Edition von S. M. Foley in More (1984), 429–465. Vgl. auch Stone (1980). 32 Vgl. Erasmus (Allen IV, 1087), Z. 9ff. und 181ff. 33 Vgl. More (1984), Nr. 188–195 und Nr. 209. Vgl. zu den Epigrammen allgemein Baumann (1984), bes. 17ff.; Baumann (1985); Grace (1981 und 1985); Wegemer (1996 und 2012). 34 Vgl. Erasmus (Allen II, 461); bes. Z. 20–22: „Si edas posthac Epigrammata mea, tu expende tecum an putes ea premenda que scripsi in Bryxium, nempe in quibus sund quaedam amarulentiora; …“. 35 Laureys (2013), 145. Vgl. die moderne Edition des Antimorus von D. Kinney in More (1984), 469–547. 36 Vgl. dazu D. Kinney im Vorwort („Erasmus’ Role in the Quarrel“) zu More (1984), 562–572. 37 Vgl. More (1947), R. 86; vgl. auch die glänzende Neu-Edition von D. Kinney in More (1984), 549–659. 38 Vgl. More (1984), Nr. 266–269. Vgl. insgesamt zur More-Brixius Kontroverse Baumann (1984), bes. 86ff. und 121ff.; Gilman (2005); Laureys (2013); Lavoie (1976); Schmidt (2007) und Schmidt (2009), bes. 85ff.
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die Frage nach den grundlegenden Merkmalen der Dichtung und den wesentlichen Anforderungen an den Dichter“.39 Unmittelbar mit dieser Kernfrage verknüpft, wenn man den kleinlichen Zank um Versmaß, Skandierung und lexikalische Fehlleistungen ausklammert, ist der Streit um die klassisch rhetorische Kategorie des aptum, das Kriterium, das für das rechte Verhältnis von res und verba Sorge trägt.40 Und genau in diesem Punkt, fides poetica und / oder fides historica,41 so wird man nach neueren Untersuchungen konstatieren dürfen, stehen Morus und Brixius in unterschiedlichen dichtungstheoretischen und sprachethischen Lagern,42 zwischen denen eine Harmonisierung nur schwer möglich ist. „Die Schärfe der Auseinandersetzung zeigt die zentrale Bedeutung dieses Diskussionsthemas in der humanistischen Gelehrtenrepublik der Frühen Neuzeit“.43 Die Epigramme und der Brief an Brixius dokumentieren – so wird man zusammenfassen dürfen – für die weiteren ,Streitschriften‘ des Thomas Morus bereits richtungweisende rhetorisch-polemische Charakteristika: gelehrte und zugleich spöttische Analysen ausgewählter Zitate des Gegners, bittere, gallige Schmähungen des Widersachers, die übernommene Rolle des VerteidigungsAnwalts der eigenen Nation, des Wahrheitsanspruchs in der Historiographie,44 und schließlich der eigenen Werke. Für unsere Erkenntnisinteressen können wir mit Daniel Kinney festhalten:45 In the ferocity of its invective, the Letter to Brixius is quite without parallel in More’s work before 1520; had this letter not been written and read, More would probably not have been chosen to write the invective Responsio to Luther’s attack on King Henry. In the Responsio More borrows extensively enough from this letter and its long companion addressed to Erasmus to make it quite clear that in 1523 More still found his retorts against Brixius’ divisive mendacity well suited for such a headstrong adversary as Luther.
39 Laureys (2013), 146. 40 Vgl. Quint. Inst. XI,1,1ff.; Cic. de orat. 3,10,37; vgl. ebenfalls Lausberg (1973), 153f. § 464 und 465. 41 Vgl. insbes. das Epigramm More (1984), Nr. 188, das in knappster Form die Grundposition des Thomas Morus expliziert. 42 Vgl. Baumann (1984), 121–127; Schmidt (2007 und 2009); Laureys (2013). 43 Laureys (2013), 146. 44 Vgl. dazu Baumann (1984), bes. 86ff. und 121ff. Vgl. ebenfalls den zweiten Beitrag in diesem Band (171–223). 45 D. Kinney im Vorwort in More (1984), 589. Der von Kinney erwähnte Brief des Thomas Morus an Erasmus (Allen IV, 1087), in dem Morus seine Sicht des Disputs darlegt, ist nicht weniger scharf im Urteil über Brixius.
122 6.
Uwe Baumann
Brief an einen Mönch (R. 83)
In diesem Brief an einen Mönch, wohl den Kartäuser John Batmanson,46 zwischen März und September 1519 verfasst und im Mai 1520 als substantieller Teil der Epistolae aliquot eruditorum gedruckt,47 verteidigt Morus erneut die von Erasmus in seiner Edition des Neuen Testamentes so erfolgreich vorgeführte Methodik der kritischen Bibelphilologie. In der Sache also nichts wirklich Neues,48 aber die Tonlage des Briefes ist deutlich aggressiver, derber, kämpferischer als etwa im Brief gegen Dorp; Thomas Morus widerlegt Punkt für Punkt die ausführlich referierten (oder auch (vorgeblich ?) zitierten) Vorwürfe des Mönchs gegen Erasmus: dieser habe nicht den rechten Glauben (Z. 56 ff und 98 ff),49 seine fachlichen Kenntnisse – nicht nur die theologischen – seien völlig unzureichend (Z. 459 ff und 1024 ff), sein Charakter sei insgesamt verdorben, wie dies auch in seinem Stil deutlich zum Ausdruck komme (Z. 255 ff; 688 ff und 983 ff). Der Titel, den Morus für den Druck seines Briefes wählte, wird zum Programm:50 ERVDITISSIMA EPISTOLA CLARISSIMI VIRI DOMINI Thomae Mori, qua respondet indoctis ac virulentis Litteris monachi cuiusdam, qui inter alia, etiam illud insectatus est stolidissime quod Erasmus verterit, ,In principio erat sermo, etc,‘ [A learned epistle from a man of renown, Master Thomas More, in response to a certain monk’s ignorant and virulent letter, a senseless invective, belaboring, among other issues, Erasmus’ translation, ,In the beginning was Speech, etc.‘]
Noch pointierter ist der für die 2. Ausgabe, Basel, August 1520, gewählte Titel, „EPISTOLA CLARISSIMI VIRI THO / mae Mori, qua refellit rabiosam maledicentiam / monachi cuiusdam iuxta indocti atque / arrogantis“,51 indem er dem Mönch explizit Dummheit, Arroganz und in Tollheit gründende Schmähungen vorwirft. Getreu dieser Charakterisierung seines Opponenten häuft Morus De46 Vgl. Knowles (1959), 469. 47 Vgl. D. Kinney im Vorwort More (1986, CW 15), bes. xliiiff. 48 Vgl. insgesamt Holeczek (1975); Murphy (1980); Baumann (1984), bes. 118–121; Kinney in Vorwort und Kommentar zu More (1986, CW 15). 49 Vgl. More (1947), R. 83 (danach auch die weiteren Verweise). 50 In der typographischen Gestaltung ausnahmsweise nach More (1986, CW 15), 198/199. 51 More (1986, CW), 198: kritischer Apparat; More (1947), 165–206, R. 83, hier : 165.
,Streitschriften‘ des Thomas Morus
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tail auf Detail, beweist wieder und wieder die Unredlichkeit und Unwissenheit des Mönchs, sei es in den grammatischen und / oder lexikalischen Aspekten des Lateinischen, oder sei es in Fragen der theologischen Exegese und Dogmatik. Aber – der Brief des Mönchs ist nicht erhalten, so dass man für die (Re-)Konstruktion seiner Argumente ausschließlich auf die ausführlichen Referate und (vorgeblichen ?) Zitate des Thomas Morus angewiesen bleibt. Ob diese doxographischen Referate immer korrekt und auch die Zitate authentisch sind, mag hier durchaus offen bleiben; die rhetorische Praxis, Argumente und Positionen des zu widerlegenden Opponenten erst einmal zu referieren, bevor sie ausführlich, Detail für Detail, widerlegt werden, gründet bekanntlich in juristischer Praxis52 und sie wird stilbildend für die weiteren ,Streitschriften‘ des Thomas Morus. Mit einem Wort: Thomas Morus schlüpft in seinem Brief an den Mönch in die Rolle des Verteidungs-Anwalts des Erasmus, und wie es diesem rhetorischen Rollenspiel entspricht nimmt er es – wie schon im Brief an Dorp53 – mit der Wahrheit nicht immer ganz genau.54
7.
Responsio ad Lutherum
Begonnen hatte die englische Auseinandersetzung mit den Thesen Martin Luthers mit der öffentlichen Verbrennung seiner Schriften am 12. Mai 1521 an St. Paul’s Cross; die – nur wenige Tage später mehrfach gedruckte und auch ins Lateinische übersetzte – Predigt anlässlich dieser Bücherverbrennung hielt John Fisher, in der er den Reformator in die lange, konventionelle Reihe gefährlicher Häretiker einordnete.55 Zur gleichen Zeit (1521) vollendete der englische König seine eigene Widerlegung zentraler lutherischer Positionen, die Assertio Septem 52 Vgl. die satirisch-parodistische Porträtskizze eines englischen Rechtsgelehrten in der Utopia (More (1965, CW 4), 70/12–15). Vgl. insgesamt auch Baumann (2012), bes. 239–243. Vgl. ebenso J. B. Trapp im Vorwort zu More (1979), bes. xixff. 53 Vgl. insbes. zu den ungerechtfertigten Vorwürfen, Dorp favorisiere die spätscholastischen Spitzfindigkeiten der grammatica speculativa, die Diskussion bei Baumann (1983) und Baumann (1984), bes. 110–118. 54 Zumindest in einem Punkt ist dieses auch für den Brief an einen Mönch nachweisbar. Der Mönch hatte in seine pauschalen Vorwürfe gegen Erasmus auch dessen Encomion Moriae und den Dialog Julius Exclusus e Coelis mit einbezogen (vgl. R. 836ff.). Hinsichtlich des Julius Exclusus behauptet Morus, sich wenig Gedanken über die Identifizierung des Autors zu machen (Z. 877ff.), selbst die Annahme, dass Erasmus der Verfasser sei, würde nichts gegen diesen aussagen, da der Dialog eindeutig in satirischer Absicht geschrieben sei (Z. 892ff.). Diese zwar literaturtheoretisch (,Satire‘) nicht uninteressante hypothetische Argumentation verschweigt, dass Morus schon länger um die Verfasserschaft des Erasmus wusste; bereits 1516 hatte er von Lupset ein Manuskript des Julius Exclusus in der Handschrift des Erasmus erhalten (More (1947), R. 30 = Erasmus (Allen II, 502), Z. 10ff.). 55 Vgl. hierzu Baumann (2008a), bes. 135–138.
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Sacramentorum (adversus M. Lutherum), in der Heinrich VIII. mit persönlichen Schmähungen gegen Luther nicht geizte.56 Die Aufgabe, auf Luthers überaus derbe Antwort an den König (Contra Henricum Regem Angliae) wiederum zu antworten, übernahmen John Fisher und Thomas Morus, wobei die Responsio ad Lutherum des Thomas Morus sich – wie auch der König und Luther zuvor – den rhetorischen Strategien der Polemik seiner Zeit bedient und speziell in seinen Argumenten ad hominem die Responsio zu einer erlesenen Sammlung von klassischen – zumeist aus der Antike und ihrer christlichen Polemik übernommenen – ,Schimpfworten‘ werden lässt.57 Wie schon in seinem Brief an einen Mönch referiert und zitiert Morus ausführlich – teils auch typographisch abgesetzt – aus den Werken Luthers (insbesondere aus De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium und Contra Henricum Regem Angliae), und zieht durchgängig die Assertio Septem Sacramentorum seines Königs als zusätzliche argumentative Stütze heran. Er deckt Luther immer wieder mit ganzen Schimpfkanonaden ein und zerpflückt die Argumente des als leib- und lasterhafte Person imaginierten Widersachers nach allen Regeln kritischer Bibelphilologie und humanistischer Aussagenlogik.58 Ein einziges, knappes Zitat mag exemplarisch den derb-aggressiven Ton des gesamten Werks verdeutlichen:59 Atque haec est domini doctoris posterioristice qui, quum sibi iam prius fas esse scripserit, coronam regiam conspergere et conspurcare stercoribus: an non nobis fas erit posterius, huius posterioristicae linguam stercoratam, pronunciare dignissimam: ut uel meientis mulae posteriora lingat suis prioribus: donec rectius ex prioribus, didicerit posteriores concludere, propositionibus. [Und dies ist die Prämisse a posteriori des geehrten Doktors. Da er geschrieben hat, dass er a priori ein Recht habe, die königliche Krone mit Scheiße zu bespritzen und zu beschmieren, haben wir da nicht im Nachhinein das Recht zu erklären, die vollgeschissene Zunge dieses Logikers a posteriori sei höchst geeignet, mit ihrem Vordersten
56 Vgl. insgesamt Henry VIII (2008). 57 Vgl. Baumann (2008a), bes. 138ff. Eine detaillierte Analyse der copia lateinischen Schimpfwortguts in der Responsio ad Lutherum und ihrer antiken und spätantiken Quellen in der vornehmlich christlichen Polemik ist ein Desiderat der Forschung. Vgl. insgesamt zur Würdigung der Responsio ad Lutherum aus theologischer Perspektive E. Baumann (1993). 58 Vgl. einige Bespiele bei Baumann (1988 und 2008a). Die Be- und Verurteilung Luthers durch Thomas Morus sollte – wie auch noch im Brief an Johann Bugenhagen – vor dem Hintergrund gesehen werden, dass Morus verhältnismäßig wenige authentische Lutherschriften kannte, und dass die Schriften, die Morus zweifelsfrei gelesen hat, eher polemische Streitschriften als grundlegende Werke waren (vgl. Holeczek (1975), bes. 284ff.). 59 More (1969, CW 5), 180/7–15. Deutsche Übersetzung nach Baumann (1988), 570. Vgl. auch die direkt neben diese Passage gesetzte Randglosse: „Digna retalio eo viro: qui reges stercoribus consparsurum se minetur“ [„Eine angemessene ,Vergeltung‘ für den Mann, der damit droht, Könige mit Scheiße zu beschmieren“ (Übersetzung U.B.)].
,Streitschriften‘ des Thomas Morus
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das wahre Hinterste eines pissenden Maultiers zu küssen, bis er es besser gelernt haben wird, korrekte Konklusionen aus vorgegebenen Prämissen abzuleiten?]
Entstanden ist die Responsio zwischen dem 1. Januar 1523 und Dezember 1523, in zunächst zwei anonymen Fassungen, die nach den gewählten Pseudonymen als ,Baravellus‘- (Eruditissimi Viri Ferdinandi Baravelli opus elegans …), bzw. ,Rosseus‘- (Eruditissimi Viri Guilielmi Rossei opus elegans …) Fassungen bekannt sind; mit der generischen Bezeichnung Responsio Ad Convitia Martini Lutheri erscheint der Text in den Opera Omnia, gedruckt in Louvain (1565: K3-V3 v), und ebenso in den Opera Omnia, gedruckt in Frankfurt (1589: D2-Tv).60 Die Klassifizierung des Werkes als Responsio (,Antwort‘, ,Bescheid‘, ,Entgegnung‘, ,Erwiderung‘) korrespondiert sowohl in der Struktur der Argumentation wie auch in der polemischen Rhetorik dem Buch in geradezu idealtypischer Weise: Es ist die angemessene Antwort des Verteidigers des Königs61 auf die gefährlichen Häresien und den beleidigenden, alle Grenzen des Anstands überschreitenden, unverschämten Stil Luthers.
8.
Brief an Johann Bugenhagen (R. 143)
Mit seinem Brief an Johann Bugenhagen, geschrieben etwa 1526 und wohl für eine sofortige Veröffentlichung geplant, jedoch erstmals 1568 in Löwen gedruckt, antwortet Morus auf Bugenhagens kleine Schrift Epistola Sanctis qui sunt in Anglia aus dem Jahre 1525.62 Den nur vier Blättern der Schrift Bugenhagens setzt Morus immerhin 55 Druckseiten (1568) (oder modern 1488 Druckzeilen)63 entgegen. Inhaltlich konzentriert er sich auf zwei Punkte: Entgegen Luthers Auffassung vom unfreien Willen folgt er Erasmus’ De libero arbitrio und als politische Konsequenz der lutherischen Häresie sieht er ,Tumulte, Schlachten, und Plünderungen‘ bedrohlich heraufziehen, wie die deutschen Bauernkriege bereits zeigten.64 Interessant für unsere Belange ist, dass Morus 60 Vgl. zur Chronologie der Entstehung und zur Textgeschichte J. Headley im Vorwort zu More (1969, CW 5), bes. 832–845. 61 Darüber hinaus lässt sich der Begriff der ,responsio‘ leicht mit dem Begriff der ,responsa‘ (oder im Singular : ,responsum‘), dem klassischen terminus technicus für zunächst sakralrechtliche Bescheide oder Gutachten der römischen Priesterkollegien, später für allgemeinere juristische ,Antworten‘ und ,Bescheide‘ (vgl. dazu T. Giaro, „Responsa“ in: Der Neue Pauly), assoziieren, was wiederum die Vorstellung des Rollenspiels als Verteidigungs-Anwalts akzentuiert. 62 Vgl. zum Kontext Manley im Vorwort zu More (1990, CW 7), xviiff. Vgl. insgesamt auch Schmidt (2009), bes. 161–168. 63 More (1947), 323–365, R. 143. 64 Vgl. Crawford (1968 und 1970); Rogers (1977); Baumann (1984), bes. 127–129; Schulte Herbrüggen (1985), bes. 71–72; Manley im Vorwort zu More (1990, CW 7), xliiff.
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seine Argumentationstechnik,65 die wie schon im Brief an den Mönch (R. 83) und in der Responsio ad Lutherum, den zu widerlegenden Text ausführlich und typographisch abgesetzt referiert (und damit nahezu vollständig in den eigenen Text integriert) explizit macht:66 „Respondebo igitur singulis Epistolae tuae partibus, quo facilius scire possis, quantum quaque parte profeceris“ [„And so I will answer the parts of your epistle one by one, and let you see readily enough what you have accomplished in each“]. Diese Technik, die die eigene Argumentation der Gliederung des zu beantwortenden, des zu widerlegenden Textes unterordnet und damit den Text des Kontrahenten quasi objektiv (im Zitat) würdigt, lässt sich bis zu den apologetischen Schriften der Kirchenväter (Hieronymus, Augustinus und Origenes) zurückverfolgen;67 sie wird damit – ungeachtet der für die eigene Argumentation rhetorisch möglicherweise nachteiligen Folgen68 – zum durch das klassische Vorbild nobilitierten Modell, das zugleich die klassische Rechtsmaxime des ,audiatur et altera pars‘ einlöst. Die stereotype Argumentation, der derb-rüde Ton des Briefes, Irrtümer in der Zuordnung dogmatischer Positionen zum Verständnis des Abendmahls wie auch die historisch nicht haltbare Interpretation der Bauernkriege machen die Lektüre des Briefes an Bugenhagen, ungeachtet des eleganten Lateins, zu einer entsagungsvollen Lektüre, wie auch Frank Manley, Herausgeber des Briefes in den ,Complete Works of St. Thomas More‘, einräumt:69 The flaws in More’s Letter to Bugenhagen are obvious and need no emphasis here. Like most of More’s polemical works, it fails to speak beyond the immediate concerns of its own age, primarily because More does not conceive of his opponents as men like himself reaching out in their blindness and stupidity toward God. They are not ordinary people driven by their own complex need for grace and a sense of wholeness in their lives. They are idiots and madmen possessed by forces beyond their control and thus both more and less than human. As heretics, they gave themselves over to evil and became transfigured by it.
65 66 67 68
Vgl. Pineas (1968), bes. 31–35; Manley im Vorwort zu More (1990, CW 7), xliiff. More (1947), R. 143, Z. 28–30; vgl. auch More (1990, CW 7), 14/5–6. Vgl. die Belege bei J. Headley in den Materialien zu More (1969, CW 5), 804f. Vgl. die – nicht unberechtigte – Kritik von F. Manley im Vorwort zu More (1990, CW 7), xlii: „More’s Letter to Bugenhagen does not seem to have a form of its own. In choosing to respond to Bugenhagen point by point, using the device of quotation and response, More committed himself to following the same pattern, the same general arrangement of material in more or less the same chronological order, and the form – whatever form it has – seems to be merely parasitic or symbiotic“. 69 F. Manley im Vorwort zu More (1990, CW 7), lxiii.
,Streitschriften‘ des Thomas Morus
9.
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Dialogue Concerning Heresies (1529)
Nachdem die Versuche von Krone und Kirche, durch Einschüchterung der Buchhändler und wiederholt inszenierte öffentliche Bücherverbrennungen die Verbreitung reformatorischer Schriften einzudämmen, die auf dem Kontinent gedruckt und nach England geschmuggelt wurden, gescheitert waren, galt es, auf diese Traktate und Bücher (von u. a. William Tyndale, John Rycke, William Roye und Jerome Barlowe)70 auch in englischer Sprache zu reagieren. Am 7. März 1528 erhielt Thomas Morus von seinem Bischof, Cuthbert Tunstall, ein Bündel mit häretischen Büchern und den Auftrag, die ,aufdringlichen und degenerierten Opuscula dieser Häretiker in unserer Sprache und auch einige der Bücher Luthers, mit der die ganze Häresie ihren Anfang nahm‘71 zu widerlegen, sei doch niemand dazu besser geeignet als er, im Lateinischen wie im Englischen ein wahrer Demosthenes, der sich für dieses Unterfangen den König selbst zum Vorbild nehmen könne und auf himmlische Belohnung hoffen dürfe. Dieser Auftrag und die notwendige Lizenz, die entsprechenden häretischen Bücher zu besitzen und zu lesen, hielt vermutlich nur eine zuvor mündlich bereits erzielte Vereinbarung zwischen Bischof Tunstall und Thomas Morus fest,72 eine Vereinbarung, die Morus zum einen Rechtssicherheit gab und zum anderen seiner Herzensangelegenheit,73 dem Kampf gegen die reformatorischen Häresien, einen unbestreitbar offiziellen Charakter verlieh. Nur gut ein Jahr später (im Juni 1529) erschien das erste, umfangreiche kontroverstheologische Werk des Thomas Morus in englischer Sprache, ein Werk, das sich bereits mit seinem Titel gattungsmäßig eindeutig einordnet, der 70 Vgl. das Vorwort von J. B. Trapp (More (1979)), bes. xxv–xxvii. 71 More (1947), 386–388, R. 160. 72 Vgl. J. B. Trapp im Vorwort zu More (1979), xxvif: „No doubt this letter was only a formal expression of an agreement previously reached. There were obvious advantages in confiding the task to More. He had already had great experience in the examination of heretics, both face-to-face and through their writings and he was well-known for his able advocacy of the church’s cause when it came under public attack. Moreover, he was a layman. The disaffected could call him a friend to priests, but never accuse him of actually being one of their number – and later More was to take care, by refusing monetary reward from the spirituality, to preserve his position. He must also have had the reputation of a man who, once he had accepted an obligation to his church, would carry it through to his utmost“. 73 Vgl. hierzu aus dem Epitaphium des Thomas Morus (Erasmus (Allen X, 2831, Z. 93–94)): „furibus autem, homicidis haereticisque molestus“ [,doch war er eine Plage den Dieben, Mördern und Häretikern‘], wobei die Reihenfolge Diebe – Mörder – Häretiker auch eine klare Rangfolge in der Verabscheuungswürdigkeit der Verbrechen signalisiert. Vgl. die gleiche Reihung von Verbrechern in der Apology (More (1979), 120/8–9: „And yet by all the theuys, murderers, and heretyques, that euer came in my handes, […]“ Vgl. auch J. B. Trapp in seinem Vorwort zu More (1979), xxxi: „It was part of his duty to hunt down and correct heresy and if, in the end, correction meant destruction, so be it“. Vgl. die Häresie-Statuten in More (1979), Appendix C, 247–260. Vgl. auch More (1979), 45/29–34.
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Dialogue Concerning Heresies.74 Gleich eingangs wird – ungeachtet der insgesamt hoch komplexen Struktur des Werkes75 – der spezifische Charakter dieses Dialogs expliziert: Das ,Inhaltsverzeichnis‘ mit seinen Kapitelzusammenfassungen verdeutlicht, dass es sich nicht um einen ,offenen‘ Dialog handelt, in dem um einen Standpunkt gerungen wird, sondern dass eine ,richtige‘ und eine ,falsche‘ Position vorgeführt werden soll. In dieser Hinsicht knüpft der Dialogue an eine katholische Tradition an, denn seit Augustinus und seinem Contra academicos bis in das Mittelalter war die Dialogform immer wieder zur Abrechnung mit Gegnern verwendet worden. So offenbart sich auch der Dialogue concerning Heresies früh als ein offen parteiisches Werk, in dem kein Hehl daraus gemacht wird, dass es um eine Bekräftigung des katholischen Standpunktes gehen wird.76
Der Dialogue Concerning Heresies greift nahezu alle wichtigen Streitpunkte zwischen Reformatoren und Traditionalisten auf; es war wohl – wie Thomas M. C. Lawler77 – betont, das Ziel des Thomas Morus, einen kompakten, vollständigen Überblick über alle Irrtümer vorzulegen, mit denen sich die Öffentlichkeit in den Büchern und Predigten der reformatorischen Häretiker konfrontiert sehe. Für unsere Erkenntnisinteressen mag das bereits genügen: Thomas Morus legt mit seinem Dialogue Concerning Heresies einen polemischen Dialog vor, der trotz der zwischen den Dialogpartnern (More und Messenger) zeitweise bewiesenen, oder zur Schau gestellten Konzilianz, seinen polemischen Charakter nie verleugnet,78 der aber insbesondere in seiner strukturellen Anlage und der 74 Vgl. More (1981, CW 6); vgl. hierzu – neben den Biographien des Thomas Morus – Billingsley (1984); Bradshaw (1985); Curbet (2003); D’Alton (2002); Dillon (1976); Fabiny (2007); Fudge (2003); Gilman (2003); Gordon (1973, 1978 und 1980); Holeczek (1975); King (2009); Lakowski (1993); Marc’hadour (1980b); Mason (1970); Martz (1979 und 1990); McCutcheon (1991a und 1993); Meyer (2010); Minns (1980); Pineas (1960, 1961, 1968 und 1982); Prescott (2003); Schaeffer (2001); Schoell (2004a, 2004b); Schulte Herbrüggen (1985); Simpson (2009); Sodeman (1978). 75 Vgl. Lakowski (1993), bes. 125–174 und Schoell (2004a), bes. 41–60. 76 Schoell (2004a), 30; vgl. ebenso Pineas (1968), bes. 81ff. 77 Vgl. T. M. C. Lawler im Vorwort zu More (1981, CW 6), 439: „Most of the major issues of the Reformation are dealt with, for More’s purpose was to give a comprehensive review of the errors to which the public would be exposed by heretical books and sermons“. 78 Vgl. insbes. den Triumph der Persona More, wenn sie gegen Schluss des Dialogs festhält (More (1981, CW 6), 435/24–29): „[…] we may by the very fayth of Crystes catholyke chyrche so walke with charyte in the way of good warkes in this wretched worlde / that we maye be parteners of the heuenly blysse / whiche the blood of goddes owne sonne hath bought vs vnto. And this prayer quod I seruynge vs for grace / let vs nowe syt downe to dyner. Which we dyd“. Vgl. andererseits – neben Passagen, in denen die Figur More wie ein Anwalt den Messenger quasi in ein Kreuzverhör zwingt (vgl. dazu Schoell (2004), 52–53) – exemplarisch die ,Würdigung‘ William Tyndales und seiner Werke durch die Persona More (More (1981, CW 6), 303/13–24): „For Tyndall (whose bookys be nothyng ellys in effecte but the worst heresyes pycked out of Luthers workes and Luthers worst wordys translated by Tyndall and put forth in Tyndals owne name) doth in his frantyke boke of obedyence (wherein he rayleth at large agaynst all popes / agaynst all kyngys / agaynste all prelates / all prestys / all relygyous / all the
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Figurenkonzeption – im Unterschied zur Responsio ad Lutherum und zum Brief an Bugenhagen – zweifellos literarische Qualitäten offenbart:79 Aus ästhetischer Sicht kann der Dialogue trotz seiner Längen und Wiederholungen durchaus gefallen. Das gilt vor allem dann, wenn man gerade die Abschweifungen als Kennzeichen des polemischen Dialogs anerkennt […]. In vielerlei Hinsicht ist der Dialogue concerning Heresies ein kunstvoller Dialog, was gerade auch Stilmerkmale wie die Gestaltung des Gesprächsbeginns, die Einschübe, der Humor, der komplexe Aufbau und die Darstellung der Redesituation insgesamt zeigen. Doch vor allem handelt es sich um ein effektives Instrument im Glaubenskampf. Diese Instrumentalisierung der Gattung bringt es mit sich, dass die Stimme der Orthodoxie, jene des ,katholischen‘ Standpunkts, erheblich besser vernehmbar ist als die Gegenstimme.
10.
Supplication of Souls (1529)
Die Supplication of Souls des Thomas Morus, geschrieben und vollendet vor dem 24. Oktober 1529, antwortet auf die kurze, schnell populär gewordene Schrift von Simon Fish, Supplicatyon for the Beggers.80 Fishs als Bittschrift der Armen und Bettler an den König fiktionalisiertes Büchlein zielte in doppelter Weise auf gesellschaftliche Veränderungen: Theologisch konzeptualisierte sie die traditionelle Lehre vom Fegefeuer als Aberglauben, der vom Klerus zur eigenen Bereicherung erfunden worden sei; die mittels dieses Aberglaubens und durch den Ablasshandel der Bettelmönche Ausgenommenen und Verarmten wenden sich an König und Parlament, mit der radikalen Bitte, der König und sein Rat „sollten rigoros einschreiten, das Kirchengut konfiszieren und den aufgehäuften Reichtum unter die Armen verteilen und die Kleriker zur Heirat zwingen“.81 Die rhetorisch geschickt inszenierte Verknüpfung reformatorischer Ideen mit konkreten sozialpolitischen Forderungen musste 1529 brisant, ja gefährlich wirken, zumal zu befürchten stand, dass sie die antiklerikale Stimmung weiter anheizte. Thomas Morus antwortet – wie so häufig in seinen Streitschriften – mit einer laws / all the sayntys / agaynst the sacramentys of Crystys chyrche / agaynste all vertuous workys / agynst all dyuyne seruyce / and fynally agaynst all thynge in effecte that good is) in that boke I say Tyndall holdeth that prestys must haue wyuys“. 79 Schoell (2004a), 63. Vgl. auch Schulte Herbrüggen (1985), 74: „Möglicherweise hat More in diesem die Meinungen geradeheraus sagenden und realistisch gestalteten Dialog an eigene häusliche Auseinandersetzungen mit seinem Schwiegersohn William Roper anknüpfen können, der Anfang der zwanziger Jahre zu Mores größtem Kummer ein fanatischer Anhänger und Propagandist Luthers gewesen war“. 80 Vgl. zur Datierung G. Marc’hadour im Vorwort zu More (1990, CW 7), lxvf. 81 Schulte Herbrüggen (1985), 76. Vgl. bes. den Schluss von Fishs Supplicacyon, der eine recht gute Vorstellung von der nicht unattraktiven persuasiven Rhetorik des Büchleins vermittelt, in More (1990, CW 7), Appendix B, 411–422, bes. 421/21–422/31.
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rund zehnmal längeren, 2 Bücher (und modern 120 Druckseiten82) umfassenden Erwiderung, der Supplication of Souls, gelehrten Darlegungen, die er als Bittschrift den armen, im Fegefeuer schmachtenden Seelen in den Mund legt:83 To all good Crysten people. In most pytuouse wyse continually calleth & cryeth vppon your deuout cherite & moste tender pyte / for helpe cumfort & relyefe / your late aquayntaunce / kindred / spouses / companions / play felowes / & frendes / & now your humble & vnacquaynted & and halfe forgoten supplyauntys / pore prysoners of god ye sely sowlys in purgatory / here abydyng & endurying ye greuouse paynys & hote clensynge fyre / yt freteth & burneth owte ye rustye & filthy spottes of our synne / tyll ye mercy of almighty god ye rather by your good & cherytables meanes / vowchesaufe to delyuer vs hense.
Mit Germain Marc’hadour, dem Herausgeber der ,Yale Edition‘, kann man die ,Argumentation‘ knapp resümieren:84 […] If the doctrine of purgatory is false, then the whole fabric of chantries and prayers for the dead becomes unnecessary. The result, More explains again and again, will be the sundering of the Christian community, which for More consists of both the living and the dead. Hence the vivid sense, at the close of More’s treatise, of the nearness of the souls in purgatory to the living: the cry of the souls to the living stands as an emblem of More’s sense of the Christian community. The dead need the help of the living; the living need the help of the dead. Thus the refutation of Fish’s charges against the clergy requires not only the social, political and financial rebuttal given in the first part of the Supplication of Souls; ultimately, the refutation requires a defense implicit in the voices of the very souls in purgatory crying out for their release from the purifying fire. The king, as More points out (162/29–163/1), has long since taken his stand against the Lutherans; he is Defender of the Faith. Though the possession of church lands and the increase of royal power may be attractive to a grasping monarch, the thought that such proposals are prompted by heretics may give the king some pause.
Der nicht unkluge Einfall, seine Erwiderung von den im – von Fish als abergläubische Erfindung ,entlarvten‘ – Fegefeuer leidenden armen Seelen vortragen zu lassen, ist natürlich auch strukturell eine Replik auf Fishs Bittsteller, die Armen und Bettler Englands, aber es ist eine Replik, die letztlich weniger realistisch wirkt als Fishs Konzeption, „da die [a]rmen Seelen wohl kaum gelehrte Erörterungen über Rechtsfragen der Toten Hand und über den Geldwert anstellen oder lustige Geschichten erzählen“.85 82 Im Vergleich dazu hat in der gleichen modernen Edition (More (1990, CW 7), 411–422) die Schrift Fishs nur 12 Druckseiten. 83 More (1990, CW 7), 111/1–11. 84 G. Marc’hadour im Vorwort zu More (1990, CW 7), lxix. 85 Schulte Herbrüggen (1985), 76. Vgl. insgesamt neben den reichen Materialien in Vorwort und Kommentar zu More (1990, CW 7) und den Morus-Biographien von Marius (1984) und Martz (1990) zur Supplication of Souls: Levin (1990); Pineas (1967 und 1968); Rogan (1952).
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Wichtiger freilich für uns ist der Titel der Erwiderung (The supplycacyon of soulys […] Agaynst the supplycacyon of beggars), der expliziert, dass Thomas Morus seine Supplication einer anderen Supplication entgegensetzt. Wiewohl also auch in der Titelwahl primär eine sehr konkrete Replik auf Simon Fish anzunehmen ist, weist der Begriff der ,supplication‘ bereits um 1500 ein interessantes Bedeutungsspektrum auf, wie das OED jeweils mit bis in das Spätmittelalter zurückreichenden Belegen dokumentiert: (1) A humble plea; an earnest request or entreaty, esp. one made deferentially to a person in a position of power or authority. (2) The action of addressing a solemn request to God (or a god); prayer. (3) The action of supplicating; humble or earnest pleading or entreaty. (4) A formal, usually written, petition made to a king, official, court, etc. Now chiefly Law. Thomas Morus wählt, wiewohl von Fish nahegelegt, einen Titel für seine Erwiderung, der mit dem Gattungsbegriff ,supplication‘ ganz bewusst auf die einerseits religiös sakralen86 und anderseits die explizit juristischen Begriffsbedeutungen rekurriert; der gewählte sakrale und juristische terminus technicus korrespondiert der essentiellen Bedeutung des Streits, wie die Schlussworte der armen, schmachtenden Seelen nochmals verdeutlichen mögen:87 Now dere frendys remember how nature & crystendom byndeth you to remember vs. If eny poynt of your old fauour / eny pece of your old loue / eny kindnes of kinred / eny care of acquayntance / eny fauour of old frendshyp / eny spark of charyte / eny tender poynt of pyte / eny regard of nature / eny respect of crystendum / be left in your brestys: let neuer the malyce of a few fond felows / a few pestylent persons born toward presthood / relygyon / and your crysten fayth: race out of your hartys the care of your kynred / all force of your old frendys / and all remembraunce of all crysten soulys. Remember our thurst whyle ye syt & drynk: our honger whyle ye be festing: our restlesse wach whyle ye be slepyng: our sore and greuouse payn whyle ye be playing: our hote burning fyre whyle ye be in plesure & sportyng: so mote god make your ofsprynge after remember you: so god kepe you hens or not long here: but brynge you shortely to that blysse / to whych for our lordys loue help you to brynge vs / and we shall set hand to help you thyther to vs.
86 Vgl. zur Bedeutung der römischen supplicatio A. V. Siebert, „Supplicatio“, Der Neue Pauly. 87 More (1990, CW 7), 228/11–28.
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11.
The Confutation of Tyndale’s Answer I (1532) und
13.
The Confutation of Tyndale’s Answer II (1533)
So interessant es wäre, die Antworten des Thomas Morus auf William Tyndales An answere unto Sir T. Mores dialoge (Antwerpen, 1531), ihrerseits die polemische Reaktion auf den Dialogue Concerning Heresies (1529), inhaltlich zu Fragen von Exegese, Dogmatik, oder Bibel- und Übersetzungsphilologie, oder stilistisch und / oder rhetorisch-polemisch zu würdigen,88 strukturell ergibt sich im Grunde nichts Neues: Die Argumentationstechnik ist wiederum die schrittweise, Detail auf Detail häufende Widerlegung von Tyndales Text, satzweise oder auch in ganzen Absätzen; erst in Teil II emanzipiert sich die Widerlegung des Thomas Morus zu konzisen Darstellungen größerer Zusammenhänge. Wie schon mehrfach (Responsio ad Lutherum; Brief an Bugenhagen) praktiziert, wird dabei der zu widerlegende Text (zumeist William Tyndales, in Buch VIII jedoch auch Robert Barnes’ A supplicatyon … unto kynge henrye the eyght [Antwerpen, 1531])89 über Inhaltsreferate oder typographisch abgesetzte Zitate in den eigenen Text einbezogen,90 und nach allen Regeln der polemischen Praxis auseinandergenommen:91 Mit der gekonnten Meisterschaft des Advokaten untersucht More jedwedes Beweismittel auf Zuverlässigkeit und Tragfähigkeit und antizipiert alle eventuell vorstellbaren Fluchtwege des Gegners und blockiert sie. Diese überwältigende Methode zeigt dem Leser auf jeder Seite, wie sehr Tyndale und die neue Lehre im Unrecht, die alte Religion im Recht ist.
Der Titel der Erwiderung auf Tyndale, Confutation, verweist bereits unmissverständlich auf die von Morus schon so oft gewählte Rolle des VerteidigungsAnwalts. Das OED differenziert – jeweils mit Belegen der 1530er Jahre – zwei Wortbedeutungen: „1. The action of confuting; disproving, disproof, overthrow in argument; 2. The complete argument, statement, or treatise, in which anything is confuted“. Der lateinische Terminus ,confutatio‘ ist, wie insbesondere die Rhetorica ad Herennium bezeugt, der terminus technicus für den fünften Teil der Gerichtsrede, der explizit als die vollständige Zerstörung / Widerlegung der 88 Vgl. dazu die glänzenden, weit ausgreifenden Essays von L. A. Schuster, „Thomas More’s Polemical Career, 1523–1533“, in More (1973, CW 8, III), 1135–1268 und R. C. Marius, „Thomas More’s View of the Church“, in More (1973, CW 8, III), 1269–1363. 89 Vgl. dazu J. P. Lusardi, „The Career of Robert Barnes“, in: More (1973, CW 8, III), 1365–1415. 90 Diese Referate und Zitate sind natürlich mit für die (in der modernen Edition der ,Yale Edition‘) mehr als 1030 Seiten Umfang der in neun Büchern gegliederten (I–IX) Confutation of Tyndale’s Answer I und II verantwortlich. Vgl. zur Editions- und Textgeschichte J. P. Lusardi im Vorwort zu More (1973, CW 8, III), 1417–1450. 91 Schulte Herbrüggen (1985), 75.
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Argumente des Gegners definiert wird: „Confutatio est contrariorum locorum dissolutio“ (I,3,4).92 Und, so möchte man hinzufügen, die klassische Rhetorik klassifiziert die Rolle des Verteidigungs-Anwalts als die signifikant schwierigere Rolle (Quint. Inst. V,13,2–3): Non sine causa tamen difficilius semper est creditum, quod Cicero saepe testatur, defendere quam accusare. […] ideoque accusationibus etiam mediocres in dicendo suffecerunt, bonus defensor nemo nisi qui eloquentissimus fuit. nam ut, quod sentio, semel finiam, tanto est accusare quam defendere, quanto facere quam sanare vulnera facilius. [Nicht ohne Grund indessen hat man es immer für schwieriger angesehen – Cicero bezeugt es oft genug –, zu verteidigen als anzuklagen. […] Und deshalb haben für die Anklage auch mittelmäßige Redner genügt, ein guter Verteidiger musste immer ein Meister der Beredsamkeit sein. Denn, um es mit einem Wort auszudrücken, wie ich hierüber denke: In dem Maße, wie es leichter ist, Wunden zu schlagen als zu heilen, ist auch anzuklagen leichter als zu verteidigen].
12.
Brief an John Frith (R. 190)
John Frith (1503–1533, in Smithfield als Ketzer verbrannt) hatte im Juli 1529 sein The Revelation of Antichrist veröffentlicht, ein Buch, das in großen Teilen eine Übersetzung von Luthers Offenbarung des Endchrists und eines weiteren lutheranischen Traktats bot; er hatte ebenso auf dem Kontinent vertrauensvoll mit Tyndale zusammengearbeitet, war aber nicht wirklich als radikaler Anhänger der reformatorischen Häresien in Erscheinung getreten.93 1532 war er nach London zurückgekehrt und auf Veranlassung des Lordkanzlers Sir Thomas More verhaftet und in den Tower geworfen worden. Im Tower, wo er beträchtliche Freiheiten genoss, schrieb er ein kluges, kleines Büchlein94 gegen die traditionelle Abendmahlslehre, A christen sen- / tence and true iudgement / of the moste honora- / ble Sacrament / of Christes bo- / dy & bloude / declared / both / by the auctorite of the / holy Scriptures / and the aun- / cient Doc- / tores. / Very necessary to be redde in this / tyme of all the faythfull.95 Auf diesen Traktat, der 92 Vgl. insgesamt auch O. A. Baumhauer, „Argumentatio“, in: Der Neue Pauly und Lausberg (1973), 236, § 430: „Argumentationis partes“. 93 Vgl. insgesamt R. Marius im Vorwort zu More (1990, CW 7), cxviii–clix, bes. (cxxviii): „Despite his radical views on the eucharist and his short writings on various topics while he was in exile, Frith did not become notorious as a heretic“. 94 Vgl. hingegen die rückblickende Klassifizierung des Büchleins durch Morus in der Apology (More (1979, CW 9), 123/25–28): „For ye shall vnderstand, that after that Fryth had wryten a false folysshe treatyce agaynste the blessed sacrament of ye aulter / I hauing a copy therof sent vnto me, made shortely an answere therto“. 95 Vgl. den Text in More (1990, CW 7), App. C: „A Christen Sentence“, 427–433.
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einen der zentralen Streitpunkte zwischen Traditionalisten und Reformatoren (und auch bei den Reformatoren selbst) thematisierte, antwortet Morus unverzüglich mit einem offenen Brief, den er nur wenig später selber drucken lässt.96 Interessant ist dieser Brief an Frith (R. 190) für unsere Belange primär, weil Morus ihn selber in den Druck gab, offensichtlich, weil die darin vorgelegten Argumente ihm wichtig erschienen und weil er sich möglicherweise noch einmal als wichtige Stimme der Orthodoxie zu Gehör bringen wollte.97 Den Brief selbst, die pointierte und eloquente Verteidigung der traditionellen Lehre von der ,Realpräsenz‘ können wir, wie auch Friths Antwort darauf (A boke … answering unto M mores lettur)98, die kurz nach Friths Flammentod gedruckt wurde, übergehen; mit Richard Marius kann man zu Stil und Inhalt festhalten:99 Thomas More’s short Letter against John Frith’s doctrine of the ,blessed sacrament of the aultare‘ is the mildest of all his polemical works. Written late in 1532 while Frith was a prisoner in the Tower of London, it is addressed to an unnamed recipient, assumed to share with More a commitment to Catholic doctrine and loyalty to Henry VIII – lauded throughout the treatise as a virtuous and orthodox monarch protecting his people from the virus of heresy. The recipient is also to share with More the wish that Frith, whom More continually mentions as a ,yong man‘, return to orthodoxy that he has lately attacked. More’s tone implies that Frith may be redeemed and that the great hopes that others have placed in him and his precocious learning may be fulfilled. Yet the purpose of More’s Letter is clear throughout: to show how Frith has erred from orthodoxy and to refute all the young man’s errors.
Bemerkenswert für unsere Erkenntnisinteressen ist der Brief an John Frith, weil Thomas Morus ihn 1. selbst in den Druck gibt, er 2. wiederum die Rolle des Verteidigungs-Anwalts spielt100 und er 3. mit dem unbekannten, namenlosen Adressaten eine ,dialogische‘ Grundsituation fingiert.101
96 Vgl. die genaue Chronologie im Vorwort von R. Marius in More (1990, CW 7), cxl. 97 Vgl. insbes. auch die Analyse der späteren – nicht einfach zu deutenden – Erklärung des Thomas Morus über seine Motive für den Brief an Frith (in seiner Apology (More (1979, CW 9), 123/25ff.) von R. Marius in More (1990, CW 7), cxl. Vgl. insgesamt – in Ergänzung der modernen Morus-Biographien – jeweils mit reichen Materialien Baumann (1984), bes. 129–134; Daniel (1994); DeCoursey (1996); Dillon (1976); Dougherty (1968); Gogan (1982); Gordon (1976a und 1976b); Pineas (1968), bes. 173–191. 98 Vgl. R. Marius in More (1990, CW 7), cliii: „It was well over three times as large as More’s Letter and represents altogether an aggressive restatement of all the arguments made in A Christian Sentence“. Die summarische Darstellung von H. Schulte Herbrüggen (1985), 76, ist chronologisch nicht zutreffend. 99 R. Marius in More (1990, CW 7), cxviii. 100 Vgl. etwa zur polemischen Nutzung aristotelischer und stoischer Syllogistik die Beispiele bei Baumann (1984), 129–134 und Marius in More (1990, CW 7), bes. cxlvii–clii. 101 Vgl. More (1990, CW 7), 233/1ff.
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The Apology (1533)
Die lange Liste der kontroverstheologischen Schriften des Thomas Morus in englischer Sprache (Dialogue Concerning Heresies [Juni 1529, 2. Aufl. Mai 1531], Supplication of Souls [1529, vor dem 24. Oktober], The Confutation of Tyndale’s Answer I [1532, vor Mai], „Letter to Frith“ [1532, Ende; veröffentlicht Anfang 1533], The Confutation of Tyndale’s Answer II [Anfang 1533]) dokumentiert eindrucksvoll, mit welchem Eifer er sich ans Werk machte. Zusammenfassend wird man sagen dürfen, dass Morus sich in seinen grundsätzlichen kontroverstheologischen Positionen ganz im Einklang mit den Positionen des Königs befand und getreu seines bischöflichen Auftrags agierte, indem er sich bemühte, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln der Rhetorik und Polemik häretische Bücher und Traktate zu widerlegen. Und genauso konventionell beginnt auch die Apology (1533, vor Ostern)102 mit Angriffen gegen traditionell häretische Positionen, aber dann widmet sie sich – für ca. zwei Drittel des Gesamtumfangs – weit ausgreifend einer Schrift, die sich primär auf kirchenpolitische und kirchenrechtliche Aspekte konzentrierte und der Kirche und dem Klerus Eigenmächtigkeiten, Unregelmäßigkeiten, bis hin zu klaren Gesetzesverstößen vorwarf, und insbesondere die selbstherrliche Praxis des Klerus insgesamt und der Kirchengerichte im besonderen geißelte. Die attackierte Schrift A treatise concernynge the diuision betwene the spirytualtie and temporaltie war im November oder Dezember 1532 anonym erschienen;103 selbst wenn Morus um die Identität des Autors, Christopher St. German,104 wusste, entschied er sich dafür, sich mit dem Verfasser des Traktats als gottesfürchtigem ,Pacyfyer‘ auseinanderzusetzen. Ohne die detaillierten historischen wie juristischen Widerlegungen dieser Vorwürfe gegen den englischen Klerus hier nachzeichnen zu müssen, wird man festhalten dürfen, dass Thomas Morus damit eine – bisher sorgsam gewahrte – Grenze überschritten hatte, denn der anonyme Traktat war u. a. vom königlichen Drucker Thomas Berthelet gedruckt worden105 und war damit wohl Teil der argumentativen Propanda-Offensive Cromwells und des Königs gegen Kirche und Klerus:106 102 Den Titel seines Werkes diskutiert und rechtfertigt Morus in seiner Debellation of Salem and Bizance (More (1987), 8/5–10/21). 103 Vgl. den Text in More (1979), 173–212. 104 Vgl. die Kurzbiographie in More (1979), xli–liv. 105 Vgl. das Vorwort von J. B. Trapp (More 1979), lxxxix–xci. Vgl. auch die ausgewogene kontextuelle Einordnung durch den Herausgeber (More 1979), xxxiff. Das Buch Christopher St. Germans bot „eine vehemente Kritik [..] an der kirchlichen Jurisdiktionsgewalt, insbesondere am kanonischen Gerichtsprozess, den Methoden seiner Beweismittel, an Beweisführung und Bestrafung Angeklagter mit dem Ziel, künftighin alle Kleriker staatlicher Gerichtsbarkeit zu unterwerfen“ (Schulte Herbrüggen (1985), 78). 106 J. B. Trapp in seinem Vorwort zu More (1979), lxxxix.
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The Apology is all but the last of Sir Thomas More’s vindications of the clergy of England. Earlier, he had had to defend their doctrine. Now he was defending them against attack from those who held them in fear and hatred because of their apparently excessive wealth, their ignorance, their repressions, pluralities, harshness to dissidence. These are the classic arguments of anti-clericalism and they have little to do with doctrine. Whether or not More knew the direction from which the attack was coming, he knew that time was running out for him.
Eingeschaltet in die Apology, in der Morus sich erstmals öffentlich – und zugleich äußerst vorsichtig107 – über die kirchen- bzw. machtpolitischen Positionen Cromwells und des Königs hinwegsetzte, finden sich drei Kapitel, in denen er sich selbst gegen persönliche Vorwürfe, er habe während seiner Kanzlerschaft Häretiker mit übergroßer Härte verfolgt und sie in seinem eigenen Haus in Chelsea widerrechtlich gefangen gehalten und gefoltert, entschieden verteidigt.108 Diese drei dezidiert autobiographischen Kapitel sind selbstverständlich persönliche Verteidigung gegen als ungerecht (und historisch unzutreffend) empfundene Vorwürfe, sie zeigen jedoch gleichzeitig auf, wie solche Vorwürfe entstehen konnten und können. Wie Sokrates in Platons Apologie (18a–19a) klassifiziert Morus zunächst die gegen ihn erhobenen Vorwürfe als Lügen, als böswillige, widerwärtige Verleumdungen seiner skrupellosen, gefährlichen Feinde:109 And surely they that are of this new bretherhed be so bold & so shamelesse in lyenge, that who so shall here them speke and knoweth not what secte they be of, shall be very sore abused by them. My selfe haue good experyence of them. For ye lyes are neyther few nor small, yt many of ye blessed brethren haue made, & dayly yet make by me. Dyuers of them haue sayd that of suche as were in my howse whyle I was chauncellour, I vsed to examine them with turmentes, causynge them to be bounden to a tre in my garden, & there piteously beten.
107 Vgl. für die Vorsicht etwa More (1979), 50/27–51/35. 108 Vgl. More (1979),116/27–128/9. Vgl. insgesamt auch das moderne historische Urteil von Marius (1984), 395: „He had examined heretics at his house in Chelsea even before he became Lord Chancellor, usually in the company of Tunstall. As a member of the royal council, he would have used the license of the statutes against Lollardy that gave political officers who were not priests the authority to help conduct interrogations of heretics in the company of clergymen. Since he was the only lay member of the council to have performed such tasks, we may see both his interest in the matter and the regard shown him by high clergymen who included him in these examinations. When Tunstall departed to be bishop of Durham in 1530, More continued the interrogations with Stokesley and others, making a much stronger effort than Wolsey had ever done to ferret out heresy, and apparently putting large numbers of suspects under arrest, again by the authority of the Anti-Lollard statutes. His methods were not gentle. […] If his methods were harsh, so were his words about the sufferings of heretics“. Vgl. insgesamt auch Baumann (2013), bes. 139–145. 109 More (1979), 116/33–117/9.
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Entschieden weist er solche pauschalen Vorwürfe zurück: Zweimal habe er in seinem Haus die Prügelstrafe angeordnet, im ersten Falle für einen Knaben, der in seinem Haushalt ein anderes Kind mit häretischen Lehren110 beeinflusste und gefährdete, als abschreckendes Beispiel und Warnung für alle anderen: „[…] I caused a seruant of myne to strype hym lyke a chyld before myne houshold, for amendement of hym selfe and ensample of suche other“.111 Der zweite Fall ist komplizierter : Morus gesteht die Auspeitschung eines wohl geistesschwachen Häretikers zu, aber die Auspeitschung erfolgte nicht wegen dessen häretischer Überzeugungen, sondern – wie man modern sagen würde – wegen dessen wiederholter sexueller Übergriffe in der Kirche:112 And yf he spyed any woman knelynge at a forme / yf her hed hynge any thynge lowe in her medytacyons, than wolde he stele behynde her, & yf he were not letted wolde laboure to lyfte vp all her clothes & caste them quyte ouer her hed.
Diese beiden Fälle, die jeder für sich als Einzelfälle und differenziert zu betrachten seien, rechtfertigten auf gar keinen Fall die erhobenen pauschalen Vorwürfe, wie diese von einem Häretiker zum anderen, von einem häretischen Bericht zum nächsten aufgebauscht, erneut kolportiert, wiederum aufgebauscht und gegen ihn vorgebracht würden, wie Morus in den folgenden Abschnitten an konkreten Fällen (George Constantine, John Frith)113 vorführt. Die jeweiligen Einzelheiten der Rechtfertigungen, u. a. auch gegen die Unterstellung der persönlichen Bereicherung, – zumeist minutiöse Rekonstruktionen des Geschehens – können wir hier übergehen, wie auch den nächsten konkreten Fall (des Thomas Philippis),114 den Morus detailliert rekapituliert. Die Argumentation des Thomas Morus läuft insgesamt auf zwei zentrale Aussagen hinaus, deren autobiographische wie politische Bedeutung kaum zu überschätzen ist:115 And of all that euer came in my hande for heresy, as helpe me god, sauynge as I sayd the sure keping of them / and yet not so sure neyther but that George constantyne coulde stele awaye: ellys had neuer any of them any strype or stroke gyuen them, so mych as a fylyppe on the forhed. 110 Vgl. zu den häretischen Lehren More (1979), 117/29–118/3. 111 More (1979), 118/3–5. 112 More (1979), 118/17–21. Die Strafaktion scheint auch – so Morus – Erfolg gezeitigt zu haben (More (1979), 118/31–32): „And veryly god be thanked I here none harme of hym now“. 113 Vgl. More (1979), 119/1–126/9. 114 Vgl. More (1979), 126/11–127/15. 115 More (1979), 118/33–37 und 127/25–128/4. Vgl. insgesamt die kritische Würdigung von Marius (1984), 437–438, bes. die pointierte Zusammenfassung (438): „His defense of the clergy and the canon law was to no avail, and the most effective passages in the Apology are those where More defends himself. He shows how vulnerable he was to criticism, how jealously he guarded his reputation even while he espoused the extirpation of heresy from England by blood and fire. The rest of the book is a failure, and More must have known as much almost as soon as it appeared“.
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[…] And some hath ben herd vppon importune clamour, and the cause and handelyng examyned by the greatest lords temporall of the kynges most honorable counsayle, and that synnes that I left the offyce / and the complaynour founden in his complaynynge so very shamelesse false, that he hath ben answered that he was to easely delt with, and hadde wronge that he was no worse serued. And suche haue these folke euer be founden and euer shall. For when they fall to a false faith in herte / theyr words can not be trew. And therefore if this pacifier well & thorowly knewe them / I dare say he wolde lesse byleue theyr lamentable tales, then I fere me that he hath byleued some in complaynyng vpon theyr ordynaryes, agaynst whome he semeth vppon such folkes false complaynyng, to haue conceyued thys opynyon that hys boke of dyuysyon sheweth, yt is to wit, that ye clergy thynke that euery man that speketh agaynst theyr mysseorder and abusyons, loueth no prestes, and that therefore they haue punyshed many men, whyche god forbede were trew.
Die gegen ihn persönlich erhobenen Vorwürfe seien allesamt sachlich ungerechtfertigt, was u. a. auch eine Untersuchung des königlichen Rates bestätigt habe; die Verleumdungen und Lügen seien die natürliche Konsequenz der reformatorischen Häresie („[…] when they fall to a false fayth in herte / theyr wordes can not be trew“). Aber, und damit schließt sich der argumentative Kreis, die Kirche, der Klerus habe durchaus gute Gründe, diejenigen als Gegner zu betrachten, die ihr Unregelmäßigkeiten und Missbrauch vorwürfen. Obwohl sich Thomas Morus mit dieser Aussage in der politisch höchst brisanten Situation des Jahres 1533 recht eindeutig positionierte, ihm war wohl der immanente Zusammenhang von Angriffen auf den Klerus als Institution und Angriffen auf die Doktrinen und Glaubensüberzeugungen der Kirche bewusst, wiewohl er jede Diskussion der Konsequenzen der Suprematie des Königs für die Kirche vermied, spricht aus dem gesamten Text der Apology, und insbesondere aus diesen autobiographischen Passagen, die Stimme eines zugleich gottesfürchtigen und königstreuen Mannes, der sich verteidigt, wo es ihm notwendig und geboten erscheint und dessen Integrität über jeden Zweifel erhaben ist. Dieser Eindruck wird durch das hinreichend bekannte Rollenspiel des Verteidungs-Anwalts, nun auch in eigener Sache, keineswegs unterlaufen, sondern, woran auch der Titel des Werkes (Apology) einen Anteil hat, eher verstärkt. ,Apology‘, so das OED, wird in vier unterschiedlichen Bedeutungen ab den 1530er Jahren gebräuchlich (in den Bedeutungen 2 bis 4 jedoch erst – so die Belege des OED – ab Ende des 16. Jahrhunderts), für die 1. Wortbedeutung wird das Werk des Thomas Morus als Erstbeleg angeführt: „1. The pleading off from a charge or imputation, whether expressed, implied, or only conceived as possible; defence of a person, or vindication of an institution, etc. from accusation or aspersion“. Und genau dieses ist die Apology des Thomas Morus, wie er selbst in
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seinem nächsten kontroverstheologischen Werk, The Deballation of Salem and Bizance (1533), expliziert:116 For in that boke that is called myne apologye, yt is not requyred by ye nature of yt name, that yt be any answere or defence for myne owne selfe at all: but it suffyceth that yt be of myne owne makynge an answere or defence for some other. […] So is yt now that myne apology is an answere and a defence, not onely for my formore bokes, wherin the new brethren began to fynde certayn fautes / but ouer that in the self same parte wherein I touche the boke of dyuysyon, it is an answere and a defence for many good worshyppefull folke, agaynst the malycyouse slaunder and obloquye so generally sette forth, with so many false some sayes, in that sedycyouse boke. The selfe same pyece ys also an answere and a defence, of the very good olde and longe approued lawes, bothe of thys realme and of the whole corps of chrystendome / which lawes thys pacyfyer in his boke of dyuysyon, to thencoragynge of heretyques and parell of the catholyque faythe, wyth warme wordes & colde reasons oppugneth.
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The Debellation of Salem and Bizance (1533) und
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Answer to a Poisoned Book (1533, veröffentlicht Anfang 1534)
The Debellation of Salem and Bizance (1533), die Replik auf Christopher St. Germans Dialog Salem and Bizance (London, 1533), der wiederum die Antwort auf die Apology des Thomas Morus war, bietet neben den Erklärungen zum Titel der Apology und einigen Nachträgen zu ihr insbesondere eine wortreiche Verteidigung des geltenden kanonischen Rechts und der Praxis der Ketzer-Prozesse. Für unsere Interessen ergibt sich nichts Neues: Wiederum folgt Morus in der Rolle des Verteidigungs-Anwalts der Technik der kapitelweisen Widerlegung. Der Titel des Buches jedoch signalisiert, dass der Ton insgesamt rauher, entschiedener wird: Der Begriff ,debellation‘ hat eindeutig bellistischen Charakter, wie der Eintrag des OED, für den der Buchtitel des Thomas Morus im übrigen den Zweitbeleg konstituiert,117 zeigt: „The action of vanquishing or reducing by force of arms; conquest, subjugation“. Der Titel der letzten kontroverstheologischen Schrift des Thomas Morus, mit der er einmal mehr das traditionelle Abendmahlverständnis, ,Transsubstantiation‘ und ,Realpräsenz‘, gegen George Joyes The Souper of the Lorde … (Antwerpen? London? 1533) verteidigt,118 spricht für sich selbst: The Answere to the
116 More (1987), CW 10, 8/5–10/21. 117 Der Erstbeleg des OED stammt im übrigen aus den State Papers Henry VIII (1830, I, 180) aus dem Jahre 1526: „The debellacion of the Thurkes, enemyes of Christes feith“. 118 Vgl. insbes. die Studien von Pineas (1973, 1975 und 1989).
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poysoned booke whych a nameless heretyke hath named the souper of the lorde … (beendet vor Weihnachten 1533, veröffentlicht Anfang 1534).119 Vor einer systematischen und strukturellen Auswertung der erhobenen Detailbefunde sind noch zwei – freilich primär für Thomas Morus politisch und biographisch – bedeutende Aspekte zu würdigen: Mit seiner Apology, der Debellation of Salem and Bizance und der Answer to a Poisoned Book hatte sich Morus über das hinweg gesetzt, was er Mitte 1533 mit seinem Grabmal und seiner Grabinschrift – in großer Inszenierung – öffentlich erklärt hatte,120 sich fürderhin aus allen Streitfragen und Fährnissen dieser Welt heraus zu halten, sich ins Private, in die Kontemplation und Meditation über Christus und den Tod als Tor für die Ewigkeit zurückzuziehen. Und er hatte sich damit erstmals öffentlich – wie vorsichtig auch immer – gegen kirchen- und machtpolitische Positionen Cromwells und des Königs gewandt, in der Sache mit höchst bescheidenem Erfolg.121 Dass Thomas Morus wohl nicht anders konnte, seine charakterliche Disposition, seine Glaubensgrundsätze wie sein Gewissen ihm keine Wahl ließen, auch als er kaum zwei Jahre später zum Opfer des königlichen Justiz- und Machtapparats wurde, gegen den selbst Unschuld im Sinne der Anklage keine wirksame Verteidigung war,122 illustriert eine Anekdote aus den Jahren 1532/33, die sein Schwiegersohn und Biograph William Roper überliefert. Als Morus – nach dem Rücktritt vom Amt des Lordkanzlers verarmt – vom englischen Klerus für seine Mühen um den rechten Glauben die gewaltige Geldsumme von 4.000 oder 5.000 Pfund als Geschenk überbracht wurde, lehnte er freundlich aber entschieden ab, obwohl die Summe ihn aller Sorgen des Alltags enthoben hätte:123 119 Es ist auch hier nicht uninteressant, dass dieser Buchtitel des Thomas Morus in einer Kurzform als Erstbeleg im OED für die Bedeutung 2. von ,answer‘ angeführt wird: „A reply to an objection rebutting its force; a reply in writing or debate, setting forth arguments opposed to those previously advanced“. Andererseits, gerade in Verbindung mit der Klassifizierung des Buches als „poysoned“ und seines Verfassers als „heretyke“, könnte die Bezeichnung „answer“ ebenso als Verweis auf die Rolle des Verteidigungs-Anwalts intendiert sein; bekanntlich ist „answer“ auch als terminus technicus im Kontext des Rechts gebräuchlich, wie die Bedeutung 1. gemäß des OED mit Belegen seit der Mitte des 14. Jahrhunderts dokumentiert: „A reply made to a charge; whereby the accused seeks to clear himself; a defence. spec. in Law […]“. Der Thesaurus des Free Online Dictionary (http://www.thefreedictionary.com/answer) listet als Bedeutung 4 auf: „the principal pleading by the defendant in response to plaintiff ’s complaint; […]“. 120 Vgl. Erasmus (Allen X, Nr. 2831), bes. Z. 73–117, und das Grabmal selbst in Old Church, Chelsea. 121 Vgl. nochmals Marius (1984), 438 (Zitat siehe oben, Anm. 115). 122 Vgl. neben den Morus-Biographien von Ackroyd (1999); Berglar (1981); Chambers (1935); Fox (1982); Guy (2000 und 2008); Heinrich (1984); Marius (1984); Martz (1990) bes. Derrett (1977); Hein (1999); Marshall (2011); Mullen (1996); Rodgers (2011) und Schulte Herbrüggen (1983). 123 Roper (1935), 48 (Kursivierungen im Original).
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,Not so, my Lordes‘, quothe he, ,I had leuer see it all cast into the Themes, then I, or any of mine, should haue thereof [the worthe of] one peny. For thoughe your offer, my lords, be indeed / very friendly and honorable, yet set I so much by my pleasure and so litle by my profitt, that I wold not, in good faith, for so much, and much more to, haue losst the rest of so many nightes sleepe as was spent vppon the same. And yeat wish wold I, for all that, vppon condicion that all hereseyes were suppressed, that all my bookes were burned and my labour vtterly lost‘.
III.
Conclusio
Die ,Streitschriften‘ des Thomas Morus weisen, wie die notwendigerweise knappen Analysen gezeigt haben sollten, eine ganze Reihe von strukturellkompositorischen und stilistischen Gemeinsamkeiten auf. In ausnahmslos allen Fällen argumentiert Thomas Morus aus der gewählten und kompetent inszenierten Rolle des Verteidigungs-Anwalts heraus, was er speziell in den späteren, kontroverstheologischen ,Streitschriften‘ auch in seinen Titeln unmissverständlich ankündigt (,Responsio‘, ,Supplication‘, ,Confutation‘, ,Apology‘, ,Debellation‘ und ,Answer‘). Diese eingenommene Rolle (des Verteidigungs-Anwalts) suggeriert zunächst, dass er auf ungerechtfertigte Anklagen, auf unhaltbare Zustände oder existentielle Gefährdungen im Interesse des einzelnen Beschuldigten, der gesamten Christenheit, oder später der ganzen englischen Nation reagieren muss; zugleich gibt ihm diese – anerkannt schwierige – Rolle124 die Lizenz, seine zweckgebundene rhetorische Brillanz auszuspielen und selbst die Argumentationstechnik, den Stil und die Ausführlichkeit seiner ,Verteidigung‘ zu bestimmen. Ein Dialog, in dem Morus das Gemeinschaftsleben des platonischen Staates verteidigt, steht als rhetorische ,Trockenübung‘ am Beginn seiner humanistischen Schriften,125 der Dialogue Concerning Heresies eröffnet 1529 die lange Reihe seiner englischsprachigen kontroverstheologischen ,Streitschriften‘. Die zu Recht gerühmten und bedeutendsten Werke, die innerhalb der humanistischen Schriften und dem späten Towerwerk herausragen, sind anerkanntermaßen jeweils brillante Dialoge: die Utopia und der Dialogue of Comfort.126 Mit 124 Vgl. nochmals Quint. Inst. V,13,2–3. 125 Die Reihenfolge ,dialogus‘ – ,declamatio‘ – ,Utopia‘ und die Bezeichnung „adolescens“ im Brief des Erasmus (Allen IV, Nr. 999, bes. Z. 251ff.) legen eine solche frühe Ansetzung nahe; selbstverständlich gehören auch einige der Epigramme und die Vorlesungen über De Civitate Dei des Augustinus (vgl. Erasmus (Allen IV, Nr. 999, Z. 157ff.) in diese frühe Phase. 126 Vgl. zur Dialogkunst des Thomas Morus, neben den jeweiligen Essays in den Bänden der ,Yale Edition‘: Curbet (2003); Gordon (1978); Haynes (1991); Lakowski (1993); Marc’hadour (1980a); McCutcheon (1991a); Pineas (1960 und 1968); Schoell (2004a und 2004b); Sodeman (1978); Taylor (2011); Warner (2004); Wegemer (1986, 1996 und 2011); Wilson
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der Rollenwahl des Verteidigungs-Anwalts, der prinzipiell reagiert und repliziert, imaginiert Thomas Morus in all seinen ,Streitschriften‘ die dialogische Grundsituation von Anklage / Vorwurf und Verteidigung. Darüber hinaus bezieht er immer wieder die zentralen Thesen und Aussagen der Widersacher, der Opponenten und Gegner, über doxographische Referate ihrer Positionen oder – meist typographisch abgesetzte – Zitate in seine ,Streitschriften‘ ein, so dass in diesen selber eine – natürlich von Morus geschickt gelenkte, bisweilen auch polemisch manipulierte – dialogische Struktur entsteht (Brief an Dorp, Brief an einen Mönch, Brief an Brixius, Responsio, Brief an Bugenhagen, Supplication of Souls, Confutation of Tyndale’s Answer I und II, Apology, Debellation of Salem and Bizance, Answer to a Poisoned Book). Dies gilt in gleicher Weise – wenn auch manchmal in abgeschwächter Form – für alle unter der Bezeichnung ,Streitschriften‘ hier subsumierten Briefe, die nicht nur in der Tradition der mittelalterlichen ars dictaminis oder ars dictandi stehen,127 sondern sich ebenso klar in die Tradition der antiken Epistolographietheorie stellen, die Briefe als Abbild der Seele konzeptualisiert, den Brief als halbiertes Gespräch bestimmt, und durchgängig die topische Vorstellung der Zugegenheit des Partners trotz räumlicher Trennung betont.128 Selbst in den gegen Brixius gerichteten Epigrammen scheint eine prinzipiell dialogische Grundstruktur durch, nicht nur in den einzelnen Stadien der Kontroverse insgesamt, sondern auch in einer ganzen Reihe von Einzelepigrammen, die jeweils konkret auf einzelne Verse (und Anklagevorwürfe) des Brixius reagieren.129 Der Stil der jeweiligen Verteidigung kann – wie das breite Spektrum der ,Streitschriften‘ des Thomas Morus dokumentiert – sehr stark differieren, in Abhängigkeit vom Widersacher und Bedeutung des Konflikts, wobei die Skala von ,freundlich belehrend‘ (Briefe an Lee, Brief an Frith) bis zu ,derb-aggressiv‘ und ,erbarmungslos schmähend‘ reicht (Epigramme gegen und Brief an Brixius, Responsio ad Lutherum, Confutation of Tyndale’s Answer, Answer to a Poisoned Book). Ausnahmslos alle ,Streitschriften‘ des Thomas Morus lassen keinen Zweifel daran, dass es nicht um das ergebnisoffene, kritische Ausloten unterschiedlicher humanistischer und / oder theologischer Positionen geht, sondern um eindeu(1985). Vgl. zum Renaissance-Dialog allgemein: Guthmüller/Müller (2004); Matuschek (2002); Merrill (1911) und die übrigen Beiträge dieses Bandes; vgl. insgesamt auch Wallbank (2012). 127 Vgl. insbes. Schoeck (1967); Schulte Herbrüggen (1988); Lakowski (1996). Vgl. ebenfalls H. Schulte Herbrüggen im Vorwort zu More (1966), bes. xxiiff. 128 Vgl. die Diskussion, Belege und Beispiele bei Baumann (1984), bes. 164–168. 129 Vgl. die Epigramme More (1984), Nr. 190, Nr. 191, Nr. 192, Nr. 266, Nr. 267, Nr. 268 und Nr. 269.
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tige Widerlegung falscher Ansichten und Überzeugungen und den – idealerweise auch den Kontrahenten überzeugenden – vollständigen Sieg der richtigen Ansicht, der richtigen Überzeugung, des richtigen Verständnisses, des wahren Glaubens, für den der Verteidigungs-Anwalt all seine Beredsamkeit und Mühen aufgewendet hat. Traditionelle literarische Gattungsklassifikationen, seien es Epigramm, Brief, oder Traktat, verlieren angesichts dieser Untersuchungsergebnisse für die ,Streitschriften‘ des Thomas Morus ihre Bedeutung: Die ,Streitschriften‘ des Thomas Morus können und sollten stattdessen allesamt als polemische Dialoge verstanden werden, die lediglich nach dem Grad der Explizität differieren, mit dem sie ihren Dialogstatus inszenieren.
IV.
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Gislind Rohwer-Happe (Bonn)
Unzuverlässiges Erzählen im englischen polemischen Dialog: Thomas Elyots The Defence Of Good Women (1540)
Der polemische Dialog der Renaissance stellt die Literaturtheorie vor ein Problem, so Kenneth J. Wilson in seinem Band Incomplete Fictions. The Formation of Renaissance Dialogue.1 Diese Problematik, so heißt es bei Wilson weiter, sei vor allem der Position des Dialogs zwischen Drama und Prosa geschuldet, was es schwierig mache, den Dialog einer Gattung zuzuordnen.2 Auch wenn Wilson sicherlich grundsätzlich recht hat, und es andere bekannte Beispiele in der Literatur gibt, deren Zuordnung zu einer Gattung ebenfalls schwer fällt, wie z. B. den dramatischen Monolog des Viktorianismus,3 so gibt es doch eine recht einfache Bezeichnung für Textsorten wie den polemischen Dialog: die des Gattungshybrids. Bei Gattungshybriden handelt es sich um „Textsorten, die Merkmale unterschiedlicher Gattungen in sich vereinen (Hybridisierungen) und daher mit den traditionellen Gattungsbegriffen westlicher Poetik nicht mehr adäquat beschrieben werden können“.4 Der zunächst möglicherweise diffizil anmutende Status des polemischen Dialogs der Renaissance als Gattungshybrid bietet aber auch durchaus interessante Chancen auf neuartige Untersuchungen, da gerade die Tatsache, dass der Dialog eindeutig Merkmale narrativer Texte aufweist, es gestattet, die Textsorte mit den Möglichkeiten narrativer Analysemethoden zu betrachten. Durch diesen Ansatz lassen sich in den Dialogen neue Bedeutungsschichten erschließen, die bisher unerkannt geblieben sind oder vernachlässigt wurden; auch ermöglichen die Ergebnisse der Betrachtung einen neuen Blick auf die Einbindung des Dialogs in seinen historischen Kontext. Gerade im Hinblick auf das Erschließen neuer Bedeutungsschichten bietet sich die Untersuchung des Vorliegens und der Funktionsweisen unzuverlässigen Erzählens im polemischen Dialog der Renaissance an. So wird im Folgenden zunächst ein Überblick über das narrative Phänomen erzählerischer Unzuver1 2 3 4
Vgl. Wilson (1985), ix. Vgl. Wilson (1985), ix. Vgl. Rohwer-Happe (2011), 54ff. Ernst (2001), 258.
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Gislind Rohwer-Happe
lässigkeit gegeben werden, auf diese theoretischen Vorüberlegungen erfolgt dann die Analyse eines exemplarischen Dialogs, in diesem Fall Sir Thomas Elyots, der vierten Frau Heinrichs VIII., Anna von Kleve gewidmeten, The Defence of Good Women von 1540, auf der Basis dieses narrativen Phänomens. Der Begriff des unzuverlässigen Erzählens wurde 1961 von Wayne C. Booth erstmalig eingeführt: „I have called a narrator reliable when he speaks for or acts in accordance with the norms of the work (which is to say, the implied author’s norms), unreliable when he is not.“5 Laut Booth ist also die feststellbare Diskrepanz zwischen den Normen eines Erzählers oder Sprechers und denen des impliziten Autors ausschlaggebend für das Vorliegen von unzuverlässigem Erzählen. Mag auch diese Definition auf den ersten Blick einleuchtend und klar erscheinen, so offenbaren sich doch bei genauer Betrachtung Mängel in der Terminologie, deren sich Booth selbst und in der Folge auch andere Kritiker bewusst waren und die dazu führten, dass gerade in jüngster Zeit der Entwurf des unzuverlässigen Erzählens wieder vermehrt diskutiert wird.6 Als besonders diskussionswürdig erweist sich dabei das Booths Beschreibung zugrunde liegende Konzept des impliziten Autors. Rhetorische Ansätze verteidigen diese Sichtweise und halten den impliziten Autor für eine Theoriebildung für unerlässlich, während strukturalistisch und kognitiv ausgerichtete Ansätze der Ansicht sind, dass der implizite Autor in der Narratologie fortan keine Berücksichtigung mehr finden sollte.7 Ansgar Nünning, der sich in den letzten Jahren vielfach mit dem Phänomen des unzuverlässigen Erzählens auseinandergesetzt hat und für einen kognitiv-strukturalistischen Ansatz in der Narratologie steht, hat denn auch eine Neukonzeptualisierung von Booths Ansatz vorgelegt, die wesentlich mit der Kritik an dem Entwurf des impliziten Autors verbunden ist.8 So weist Nünning darauf hin, dass der implizite Autor die Möglichkeit bietet, dem ausgedienten Konzept der Intention des Autors wieder unangemessene Aufmerksamkeit zu widmen und darüber hinaus in diesem Zusammenhang der Anschein erweckt werden könne, es handele sich dabei gar um ein textuelles Phänomen und nicht etwa die moralische Position des Autors.9 Dabei ist doch gerade diese vermeintlich einem Text zu entnehmende moralische Position eines Autors in der Regel Spekulation. So stellt Allrath zutreffend fest, dass es „unklar [bleibt], wie der Rezipient eines fiktionalen Textes die Normen und Werte des implied author festmachen kann; gerade dies jedoch wäre eine notwendige Voraussetzung für eine Untersuchung der unterschiedlichen Normensysteme, wenn man den impliziten Autor als Maßstab zur Unzu5 6 7 8 9
Booth (1961), 158f. Vgl. Nünning (2005), 89. Vgl. Nünning (2005), 89f. Vgl. Nünning (2005) und Fludernik (2005), 50. Vgl. Nünning (1993), 16f.
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verlässigkeit definiert“.10 Der implizite Autor taugt also nicht als „Maßstab zur Unzuverlässigkeit“, stattdessen, so Nünning, kann ein Urteil über die etwaige Unzuverlässigkeit eines Sprechers nur auf Basis der persönlichen, subjektiven und individuellen Referenzsysteme des Rezipienten erfolgen.11 Die Entscheidung über das Vorliegen von Unzuverlässigkeit ist somit keine allgemeingültige und generalisierbare Diagnose, sondern vielmehr eine vom jeweiligen Rezipienten abhängige subjektive Entscheidung, die durch dessen persönliche Bezugsrahmen geprägt wird.12 Ein Sprecher wird so nicht nur aufgrund der Distanz zwischen den durch ihn geäußerten und den im Text möglicherweise inhärent angelegten Normen als unzuverlässig klassifiziert, sondern insbesondere deshalb, weil der Leser eine Distanz zwischen seinen persönlichen Werten und denen der Sprecherfigur feststellt.13 Unzuverlässigkeit entsteht also im Zusammenspiel von Erzähler und Rezipient, indem der unzuverlässige Erzähler zu einer Konstruktion des Lesers wird, mittels derer dieser textuelle Zweideutigkeiten und Widersprüche auflöst.14 Zentral für diesen Prozess der Naturalisierung ist für den Leser dabei der Rückgriff auf ihm vertraute Bezugsrahmen und Strukturen.15 Diese Bezugsrahmen lassen sich weiter aufgliedern in „spezifisch literarische […] Bezugsrahmen“16 einerseits und gesellschaftlich normierte, kulturell vorgeprägte kontextuelle Bezugsrahmen andererseits.17 Die literarischen Bezugsrahmen sind u. a. „allgemeine literarische Konventionen“18, die Kenntnis „intertextuelle[r] Bezugsrahmen“19, „Konventionen einzelner Gattungen“20 und das „vom Leser konstruierte Werte- und Normensystem des jeweiligen Textes“21. Bis auf den letztgenannten sind die literarischen Bezugsrahmen für eine Betrachtung des Einsatzes und der Funktionsweisen unzuverlässigen Erzählens im Dialog von untergeordneter Rolle. Das „vom Leser konstruierte Werte- und Normensystem des jeweiligen Textes“22 hingegen ist durchaus von Interesse, da der Rezipient nicht umhin kann, bei der Lektüre eines polemischen Dialogs Stellung zu beziehen und sich einer der dargestellten Po10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22
Allrath (1998), 59. Vgl. Nünning (1998), 25. Vgl. Nünning (1998), 25. Vgl. Nünning (1998), 25. Vgl. Nünning (2005), 95. Vgl. Culler (1975), 144. Nünning (1998), 30. Vgl. Nünning (1998), 29. Nünning (1998), 31. Nünning (1998), 31. Nünning (1998), 31. Nünning (1998), 31. Nünning (1998), 31.
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Gislind Rohwer-Happe
sitionen mehr oder weniger anzuschließen, während die andere eher von ihm abgelehnt wird. Diese Zustimmung oder Ablehnung der jeweiligen Sichtweise ist – wie gezeigt werden wird – im Wesentlichen dem Einsatz unzuverlässigen Erzählens und der damit einhergehenden Konstruktion „eines Werte- und Normensystems“23 auf Seiten des Rezipienten geschuldet. Die gesellschaftlich-kulturell bedingten Referenzsysteme auf die der Leser zur Beurteilung unzuverlässigen Erzählens zurückgreift sind „allgemeines Weltwissen; das jeweilige historische Wirklichkeitsmodell […]; explizite oder implizite Persönlichkeitstheorien sowie gesellschaftlich anerkannte Vorstellungen von psychologischer Normalität und Kohärenz; moralische und ethische Maßstäbe, die in ihrer Gesamtheit das in einer Gesellschaft vorherrschende Werteund Normensystem konstituieren; das individuelle Werte- und Normensystem, die Perspektive bzw. das Voraussetzungssystem des Rezipienten“.24 Auch hier ist es sicherlich zutreffend, dass nicht alle Bezugsrahmen von gleicher Bedeutung hinsichtlich einer Analyse zum Vorliegen unzuverlässigen Erzählens in Thomas Elyots The Defence of Good Women sind. Augenscheinlich sind „explizite oder implizite Persönlichkeitstheorien“25 für eine Untersuchung des polemischen Dialogs weniger relevant – denn es gelingt nur sehr schwer, die Redner umfassend zu charakterisieren – als z. B. „das historische Wirklichkeitsmodell“26, welches durchaus dazu angetan ist, Aussagen, die aus heutiger Sicht als unzuverlässig gewertet werden müssten, wieder in einen adäquaten Kontext zu setzen. Im Gegensatz zu den extratextuellen Bezugsrahmen, die sich je nach individueller Persönlichkeit des Rezipienten unterscheiden und so auch unterschiedliche Beurteilungen des Grades oder überhaupt bezüglich eines Vorliegens von erzählerischer Unzuverlässigkeit zulassen, bilden die zahlreichen textuellen Signale, die unzuverlässiges Erzählen indizieren, eine Konstante, die für alle Rezipienten zunächst gleichermaßen erkennbar ist. Im folgenden sollen nun die verschiedenen textuellen Signale für Unzuverlässigkeit vorgestellt, ihre Anwendbarkeit und Relevanz für eine Untersuchung des Dialogs überprüft und ihr Vorliegen in Thomas Elyots The Defence of Good Women illustriert werden, um den Beweis zu erbringen, dass es sich bei den polemischen Dialogen der Renaissance um eine Gattung handelt, die Gebrauch von diesem, vergleichsweise „jungen“, da erst in jüngerer Zeit beschriebenen, Erzählphänomen macht. Daran anschließend erfolgt dann außerdem eine kurze Abgleichung mit den bereits genannten extratextuellen Bezugsrahmen, da weder die textuellen Si23 24 25 26
Nünning (1998), 31. Nünning (1998), 30. Nünning (1998), 30. Nünning (1998), 30.
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gnale noch die extratextuellen Referenzsysteme allein für ein Unzuverlässigkeitsurteil ausreichen. So fasst Nünning zusammen: In the end it is both the structure and norms established by the respective world itself and designed by an authorial agency, and the reader’s knowledge, psychological disposition, and system of norms and values that provide the ultimate guidelines for deciding whether a narrator is judged to be reliable or not.27
Die textuellen Signale, die darauf hinweisen, dass es sich um einen unzuverlässigen Erzähler handelt, sind zahlreich, sodass zunächst eine Bezugnahme auf Ansgar Nünnings „stichwortartige Übersicht genügen“28 mag. Es sei außerdem vorab darauf hingewiesen, dass diese Signale für die Anwendung auf narrative Texte zusammengestellt wurden, einige unter ihnen deshalb nicht ohne Modifikation auf den polemischen Dialog angewendet werden können, während anderen eine sehr viel geringere oder gar keine Bedeutung im Rahmen der hier vorgenommenen Untersuchung zukommt. Grundsätzlich aber sind diese Merkmale auch auf andere Textsorten als Erzähltexte anwendbar und somit auch auf den Dialog übertragbar, wie meine Analyse der Unzuverlässigkeit im dramatischen Monolog, einem Gattungshybrid zwischen Lyrik, Prosa und Drama, zu illustrieren vermag.29 Unzuverlässiges Erzählen erkennt man anhand von „explizite[n] Widersprüche[n] des Erzählers und andere[n] internen Unstimmigkeiten innerhalb des narrativen Diskurses“30. Dieses Merkmal ist häufig mit einem anderen Signal, dem der „Diskrepanzen zwischen den Aussagen und den Handlungen eines Erzählers“31 verbunden. Außerdem geben „Diskrepanzen zwischen der Wiedergabe der Ereignisse durch den Erzähler und seinen Erklärungen und Interpretationen des Geschehens“32 Aufschluss darüber, ob es sich bei dem Sprecher um einen unzuverlässigen Erzähler handelt oder nicht. Interessant und von relativer Wichtigkeit für die Analyse unzuverlässigen Erzählens im polemischen Dialog der Renaissance sind außerdem die „Häufung von sprecherzentrierten Äußerungen sowie linguistische Signale für Expressivität und Subjektivität“33, „syntaktische Anzeichen für einen hohen Grad an emotionaler Involviertheit (z. B. Ausrufe, […], Wiederholungen)“34, die „explizite, autoreferentielle, metanarrative Thematisierung der eigenen Glaubwürdigkeit (z. B. emphatische Be27 28 29 30 31 32 33 34
Nünning (2005), 105. Nünning (1998), 27. Vgl. Rohwer-Happe (2011). Nünning (1998), 27. Nünning (1998), 27. Nünning (1998), 28. Nünning (1998), 28. Nünning (1998), 28.
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Gislind Rohwer-Happe
kräftigungen)“35 sowie die „eingestandene oder situativ bedingte Parteilichkeit“36. Relevant sind darüber hinaus durchaus auch „paratextuelle Signale (z. B. Titel, Untertitel, Vorwort)“37. Der Modifikation hingegen bedarf das Merkmal der „Häufung von Leseranreden und bewussten Versuchen der Rezeptionslenkung durch den Erzähler“38. Da die Sprecher der Dialoge ihre Äußerungen im Wesentlichen an intratextuelle Gegenüber richten, erfolgt die Rezeptionslenkung meist indirekt. Dies bedeutet, dass die Sprecher nicht explizit den Rezipienten beeinflussen, sondern ihre Bemühungen auf ihr Gegenüber fokussieren. Der intratextuelle Gesprächspartner soll überzeugt, manipuliert und beeinflusst werden. Der Umstand, dass der Rezipient einem Beobachter gleich, so wie es eben auch im dramatischen Monolog der Fall ist, das Gespräch verfolgt und ihm so z. B. unbewusst vermittelte Zusatzbedeutungen der Äußerungen auffallen, führt dazu, dass der Leser zwar in seiner Rezeption beeinflusst und gelenkt wird, er aber gleichzeitig eher in der Lage ist, Unzuverlässigkeit wahrzunehmen. Weitere Signale sind „Divergenzen zwischen der Selbstcharakterisierung des Erzählers und der Fremdcharakterisierung durch andere Figuren“39, „Unstimmigkeiten zwischen den expliziten Fremdkommentaren des Erzählers über andere und seiner impliziten Selbstcharakterisierung bzw. unfreiwilligen Selbstentlarvung“40, sowie „verbale Äußerungen und Körpersprache anderer Figuren als Korrektiv“41. Diesen drei Signalen kommt in der Analyse des polemischen Dialogs kaum Bedeutung zu, da, wie bereits im Rahmen der Vorstellung der extratextuellen Bezugsrahmen bemerkt, die Darstellung des Sprechers als ausgeprägtem Charakter kein Ziel dieser Textsorte ist und es deshalb, abgesehen von den durchaus polarisierenden Argumenten, kaum Anhaltspunkte gibt, die eine umfassende Charakterisierung erlauben würden. Weniger Bedeutung kommt ebenfalls dem Signal der „multiperspektivische[n] Auffächerung des Geschehens und Kontrastierung unterschiedlicher Versionen desselben Geschehens“42 zu, da auch hier festgestellt werden muss, dass es nicht das Anliegen des polemischen Dialogs ist, ein konkretes Ereignis darzustellen, sondern vielmehr moralische und politische Standpunkte zur Darstellung zu bringen. Aus diesem Grund ist auch das Signal der „eingestandene[n] Unglaubwürdigkeit, Erinnerungslücken und Hinweise auf kognitive Einschränkungen“43 zu ver35 36 37 38 39 40 41 42 43
Nünning (1998), 28. Nünning (1998), 28. Nünning (1998), 28. Nünning (1998), 28. Nünning (1998), 27. Nünning (1998), 28. Nünning (1998), 28. Nünning (1998), 28. Nünning (1998), 28.
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nachlässigen, da es der Argumentation der am Dialog beteiligten Sprecher sicherlich abträglich wäre, würden sie explizit darauf hinweisen, dass sie Schwierigkeiten mit ihrem Erinnerungsvermögen hätten oder dass sie sich selbst gar für unglaubwürdig hielten. Da eben nicht alle textuellen Signale für unzuverlässiges Erzählen von der gleichen Relevanz für eine zufriedenstellende Analyse des polemischen Dialogs sind, soll nun eine deutliche Fokussierung auf die so genannten bedeutsamen Merkmale erfolgen. Die Einleitung von The Defence of Good Women selbst weist bereits Merkmale unzuverlässigen Erzählens auf. Da das lyttel treatyse44 wie bereits erwähnt, der neuen Gattin Heinrich VIII., Anna von Kleve, gewidmet ist, kommt Thomas Elyot nicht umhin, zunächst einige Worte des Lobes der noblen Dame gegenüber zu entbieten, um dann zu einer längeren Erklärung anzusetzen, warum er sich dazu aufgefordert sah, eine „Defence of Good Women“ zu schreiben. Dabei fällt auf, dass sowohl der Titel des Traktats als auch die von ihm angegebenen Gründe für die Verfassung des Werks eine eindeutige Parteilichkeit indizieren. Den Ausschlag für seinen polemischen Dialog gab Folgendes: The vngentyll custome of many men, whiche do set theyr delyte in rebukynge of women, althoughe they neuer receyued displeasure, but often tymes benefyte by theym: ye whan theyr wanton appetite stereth them, they offer to serue them, and doo extoll them with prayses ferre aboue reason. Which thyng I of my nature abhorrynge, determyned (for the reuerece [sic] that all honest men ought to beare to the vertuouse and gentyl sort of good women) to prepare for the[m] a sufficient defence agaynst ylmouthed reporters.45
Der Ausgang des Dialogs steht somit von vornherein fest und wird vom Autor46 auch kurze Zeit später bereits angekündigt.47 Die in der Einleitung dargelegte Präferenz für die Position seines Sprechers Candidus, der eingangs als benygne 44 Elyot (1940), 2. 45 Elyot (1940), 2. 46 Es sei an dieser Stelle nochmals ausdrücklich darauf verwiesen, dass es sich bei dem Konzept des Autors um ein durchaus strittiges und problembehaftetes Thema der Literaturwissenschaft handelt. Eine Diskussion der hierzu vorliegenden Debatte würde hier zu weit führen, zumal diese für die Feststellung von Unzuverlässigkeit wie bereits dargelegt von untergeordneter Bedeutung ist. Vgl. zur Debatte um den Begriff des Autors Nünning (2001), 35ff. Im Folgenden wird die Erzählinstanz der Einleitung als „der Autor“ bezeichnet, ohne dass hierdurch eine Wertung des Begriffes hinsichtlich einer Gleichsetzung mit der historischen Person Thomas Elyots oder Einsetzung einer fiktiven Instanz vorgenommen wird (auch diese Diskussion würde im Rahmen der hier vorliegenden Ausführungen zu weit führen). In Ermangelung einer besseren Bezeichnung soll der Begriff des Autors quasi als Rollenname hier lediglich der besseren Lesbarkeit und Zuordnung dienen. Allerdings – dies sei hier gleichwohl angemerkt – ist es durchaus sinnig, die Erzählinstanz der Einleitung mit dem historischen Autor Elyot gleichzusetzen vgl. hierzu Baumann (1995), 122 und Wilson (1976), 69. 47 Vgl. Elyot (1940), 4.
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or gentyll48, als jemand der iudgeth euer wel, and reproueth but seldome49 beschrieben wird und ein Fürsprecher der guten Frauen ist, ist somit – nicht zuletzt auch durch die Charakterisierung des Gesprächspartners von Candidus, Caninius, dessen Beschreibung lyke a curre, at womennes condicions […] alwaye barkynge50 lautet – von Beginn an deutlich etabliert. Die Zuverlässigkeit des Autors selbst ist aber nicht nur aufgrund seiner eingestandenen Parteilichkeit in Zweifel zu ziehen, auch seine in der gerade zitierten Passage evidente Selbstcharakterisierung wirft Fragen nach seiner Aufrichtigkeit auf. So empört er sich über die Natur der meisten Männer, um seine Verteidigung der guten Frauen gegen bösartige Verleumdungen zu begründen. Er nutzt also die von ihm festgestellten, angeblichen niederen Verhaltensmuster der Männer, um die Frauen zu schützen. Zumindest fraglich ist in diesem Zusammenhang, ob es sich bei der Beschreibung des Wesens der meisten Männer in der Einleitung nicht zumindest auch um einen yl-mouthed Bericht handelt, so dass hier auch das Merkmal der „interne[n] Unstimmigkeiten innerhalb des narrativen Diskurses“51 diagnostiziert werden kann. Darüber hinaus lässt die Tatsache, dass der Autor so deutlich seine, den meisten Männern überlegene Natur hervorhebt, ebenfalls erhebliche Zweifel an seiner Zuverlässigkeit aufkommen. Seine Feststellung, all honest men ought to beare to the vertuouse and gentyl sort of good women52, zeigt, dass er sich selbst als ehrlichen Mann einschätzt, der dazu berufen ist, sich für die Sache der Frauen einzusetzen. Die „emphatische Bekräftigung“53 des eigenen guten und überlegenen Charakters führt gerade dazu, dass der Rezipient den Eindruck gewinnen muss, dass es sich hierbei um eine bloße Pose ohne Gehalt handelt. Die Unzuverlässigkeit wird so also auch auf der Ebene des ansonsten im Rahmen der Analyse des Dialogs weniger wichtigen Merkmals der „impliziten Selbstcharakterisierung“54 indiziert. Aber nicht nur in den Ausführungen der Einleitung selbst gibt es Hinweise auf das Vorliegen von Unzuverlässigkeit. Selbstverständlich – und für diese Untersuchung deutlich interessanter – gibt es solche Signale auch im eigentlichen Dialog. Dabei hat es den Anschein, als sei The Defence of Good Women zumindest im letzten Teil überhaupt kein Dialog mehr, sondern eher ein einziger Monolog, da die sehr redegewandte Königin Zenobia am Ende des Textes zu den beiden hauptsächlichen Sprechern des Streitgesprächs, Candidus und Caninius, stößt, und von da an das Geschehen beherrscht. 48 49 50 51 52 53 54
Elyot (1940), 3. Elyot (1940), 3. Elyot (1940), 4. Nünning (1998), 27. Elyot (1940), 2. Nünning (1998), 28. Nünning (1998), 28.
Thomas Elyots The Defence Of Good Women (1540)
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Nach dem Vorwort bietet Caninius, der eher negativ gezeichnete Sprecher, eine noch an den Rezipienten gerichtete kurze Einleitung, die im Wesentlichen der Informationsvergabe bezüglich Ort, Zeit und Anlass des bald folgenden Streitgesprächs dient und so in ihrer Funktion an eine Regieanweisung im Drama erinnert.55 Allerdings findet sich auch innerhalb dieser expositorischen Zusammenfassung bereits ein Hinweis auf Caninius’ Unzuverlässigkeit, der von einer Beobachtung im Zusammenhang mit Candidus berichtet: Yesterday dyd I see hym deuysyng with ladies, wherby I coniected that he was a louer, and therfore I lamented.56 Bei dieser Beschreibung handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine Fehlinformation, denn nichts außer der Tatsache, dass Caninius Candidus bei einem Gespräch mit Damen gesehen hat, veranlasst ihn dazu, zu glauben, dass er ein louer57 und damit ein moralisch verkommener Charakter sei, worauf das nachfolgende therfore I lamented58 hinweist. Dass es sich hier vermutlich um eine Fehlinterpretation der Sachlage durch Caninius handelt, impliziert sein unbewusstes Eingeständnis I coniected59, was nichts anderes bedeutet als „to form an opinion or supposition about (something) on the basis of incomplete information“60. „Incomplete information“61 ist hierbei der Schlüsselbegriff. Caninius Einschätzung ist keinesfalls objektiv oder fundiert, vielmehr gesteht er durch die Wahl des Verbs „to coniect[ure]“62 ein, dass seine Wahrnehmung subjektiv gefärbt ist und aller Beweise entbehrt. Caninius’ Beschreibung der von ihm wahrgenommenen Situation weist deutlich das Merkmal der „Diskrepanzen zwischen der Wiedergabe der Ereignisse durch den Erzähler und seinen Erklärungen und Interpretationen des Geschehens“63 auf. Außerdem wird seine Unzuverlässigkeit an dieser Stelle auch noch analog zu dem eingangs für den polemischen Dialog als Merkmal für unzuverlässiges Erzählen verworfenen Signal der „eingestandene[n] Unglaubwürdigkeit, Erinnerungslücken und Hinweise auf kognitive Einschränkungen“64 etabliert. Caninius gesteht zwar seine Unglaubwürdigkeit nicht explizit ein, gibt aber indirekt zu, dass es ihm für eine zuverlässige Beurteilung der von ihm beobachteten Situation an Informationen mangelt. Das offensichtlichste und am deutlichsten zu erkennende textuelle Signal für das Vorliegen unzuverlässigen Erzählens sind „explizite Widersprüche des Er55 56 57 58 59 60 61 62 63 64
Vgl. Elyot (1940), 7f. Elyot (1940), 7. Elyot (1940), 7. Elyot (1940), 7. Elyot (1940), 7. OED. OED. Elyot (1940), 7. Nünning (1998), 28. Nünning (1998), 28.
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zählers und andere interne Unstimmigkeiten innerhalb des narrativen Diskurses“65. Das Merkmal der „expliziten Widersprüche“66 findet sich sowohl bei dem von Elyot positiv angelegten Sprecher Candidus, als auch in den Ausführungen seines negativ eingeführten Kontrahenten Caninius. So zieht Caninius zur Untermauerung seiner These, dass alle Frauen falsch und betrügerisch seien,67 den Beleg heran, dass er mit dieser Meinung durchaus nicht allein dastünde: Syr by the consent of al auctours my wordes be confirmed, and your experiece [sic] in comparison therof is to be lyttell estemed.68 Diesen Verweis auf einen mehr oder weniger allgemeinen Konsens kontert Candidus folgendermaßen: The authors whom ye so moche do set by, for the more part were poetes, which sort of persos [sic] among the latines & grekes were neuer had but in smal reputatio [sic]. For I could neuer rede that in any weale publike of notable memory, Poetes were called to any honorable place, office, or dignitie. Plato out of the publike weale whiche he had deuysed, wolde haue all poetes vtterly excluded. Tulli, who next vnto Plato excelled all other in vertue and eloquence, wolde not haue in his publyke weale any poetes admitted. The cause why they were soo lyttell estemed was, for as moche as the more parte of theyr inuencions consysted in leasynges, or in sterynge vp of wanton appetytes, or in pourynge oute, in raylynge, theyr poyson of malyce.69
Das erwähnte Merkmal für unzuverlässiges Erzählen, die „explizite[n] Widersprüche des Erzählers und andere interne Unstimmigkeiten innerhalb des narrative Diskurses“70, lässt sich deutlich demonstrieren, indem man seine Ausführungen über die Minderwertigkeit und Verlogenheit der Dichter mit seiner Position bezüglich den Frauen abgleicht. So klagt er Caninius an: I perceiue ye be of the company, which dyssappoynted somtime of your purpose, are fallen in a frenesy, and for the displesure of one, spryng on al wome [sic] the poyson of infamye. But nowe, Caninius, sense ye be wise and wel lerned, subdue your passion. for [sic] vnpacient hering, with wordes hastely & vnaduisedly spoken is a signe of foly and litel discretio [sic]71,
nur um sogleich mit seiner oben zitierten Denunziation der Dichter fortzufahren. Das Verhalten, welches er selbst Caninius in Bezug auf die Behandlung und Betrachtungsweise der Frau vorwirft, vollzieht er also unmittelbar darauf folgend selbst in Bezug auf die Dichter. Seine Verallgemeinerung, alle Dichter seien im Wesentlichen Lügner und bei den Römern und Griechen nicht ange65 66 67 68 69 70 71
Nünning (1998), 27. Nünning (1998), 27. Vgl. Elyot (1940), 12. Elyot (1940), 12. Elyot (1940), 13f. Nünning (1998), 27. Elyot (1940), 12f.
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sehen gewesen, ist ebenso ein Zeichen für wordes hastely & vnaduisedly spoken72 wie Caninius’ Schmähung der Frauen. So gipfelt seine Verteidigung der guten Frauen in der Feststellung und dem Appell: Semblably althoughe a greatte numbre of women perchance were viciouse, yet oughte not a man reproche therfore the hole kynde of women, sense of them vndoubtedly many be vertuouse.73 Candidus zeigt sich hier also empört darüber, dass alle Frauen wegen der Boshaftigkeit einer gewissen Anzahl, alle als schlecht bezeichnet werden – dennoch ist er es ja, der zuvor die Dichter pauschalisierend als minderwertig dargestellt hat. Candidus widerspricht sich in seinen Ausführungen selbst und entlarvt sich dadurch als unzuverlässige Sprecherfigur. Die Dichter erscheinen Candidus als unwürdige Autoritäten, wenn es um eine positive Beurteilung der Frauen geht. Den Philosophen hingegen bringt er in dieser Hinsicht deutlichen Respekt entgegen. Im Gegensatz zu den „lügenden Poeten“, so stellt Candidus fest, habe unter den Philosophen keiner je etwas Schlechtes über Frauen geschrieben: Truely none of theym, which were them selfes honest and continente, haue wrytten in dysprayse of the hole kinde of women. What hath Plato, Xenophon, Plotinus, and Plutarch, or other philosopers […] wrytten in that matter, wherby they haue made them inferiour to men?74
Auffällig an dieser Äußerung ist dabei die Betonung der Ehrlichkeit der Philosophen und vor allem auch das von Candidus stark betonte, da an den Anfang des Satzes gestellte, [t]ruely, welches einerseits die Tatsache, dass alle Philosophen sich in den Dienst der guten Frauen stellten, hervorheben soll, andererseits aber auch den Wahrheitsgehalt von Candidus’ Feststellung unterstreichen soll. Hierbei handelt es sich also um eine emphatische Bekräftigung der eigenen Glaubwürdigkeit, wie man sie auch bereits in den Ausführungen der Einleitung sehen konnte, die letztlich dazu führt, dass gerade die Behauptung, deren absoluter Wahrheitsgehalt etabliert werden soll, Skepsis auslöst. Dass das Misstrauen gegenüber Candidus’ Zuverlässigkeit in diesem Zusammenhang begründet war, zeigt sich denn auch unmittelbar im Anschluss an Candidus’ lange Rede über das Bild der Frau bei den Philosophen. Seine achtseitigen Ausführungen hierzu werden von Caninius folgendermaßen kommentiert: Ye haue wel assembled thinges for your purpose. But what saye you to Aristotel, whom ye haue skypte ouer, in the namynge of philosophers? he sayth, that a woman is a worke of nature vnperfecte. And more ouer, that her propertie is to delyte in rebukyng, and to be alway complayning, and neuer contented.75 72 73 74 75
Elyot (1940), 12. Elyot (1940), 26. Elyot (1940), 18. Elyot (1940), 26.
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Candidus hat also bewusst Informationen zurückgehalten, um seine Argumentation nicht zu gefährden – ein weiteres Merkmal für unzuverlässiges Erzählen. Ebenso widersprüchlich wie die Diskrepanz zwischen Candidus’ Lobpreisung der Frauen und seiner Schmähung der Dichter ist Caninius’, den Dialog abschließendes Bekenntnis dazu, dass Frauen doch nicht so schlecht seien, wie es kurz zuvor noch seiner völligen Überzeugung entsprach. Candidus hat Königin Zenobia, die ehemalige Königin Palmyras, zu einem Abendessen eingeladen und noch bevor dieses serviert wird, erläutert die Königin minutiös ihren tugendhaften und gelehrten Werdegang und Charakter. Ihre detaillierten Schilderungen werden von Caninius, der aufgrund der Ausführungen von Zenobia einen Sinneswandel bezüglich seiner Haltung zum Wesen der Frau erfahren hat, kommentiert. I wolde neuer haue loked for suche a conclusion, I see well inoughe, that women beinge well and vertuously brought vp, do not onely with men participate in reason, but som also in fidelitie and constauncie be equall vnto them.76
Berief sich Caninius zuvor noch darauf, dass alle Autoren übereinstimmend der Ansicht wären, die Frau sei dem Mann unterlegen und minderwertig for they be weaker than men, and haue theyr flesshe softer, lasse heare on theyr visages, and theyr voyce sharper77, so reicht nun die Bekanntschaft einer einzelnen, tugendhaften Frau aus, um seine Überzeugung nicht nur ins Wanken zu bringen, sondern völlig ins Gegenteil zu verkehren. Die Unzuverlässigkeit Caninius’ wird in diesem Zusammenhang aber nicht nur durch diese narrative Unstimmigkeit angezeigt, sein Verhalten selbst offenbart ebenfalls seine erzählerische Unzuverlässigkeit, denn „Diskrepanzen zwischen den Aussagen und Handlungen“78 sind ebenfalls ein deutliches Merkmal für das Vorliegen unzuverlässigen Erzählens. Dieses Merkmal trifft auch auf Königin Zenobia selbst zu, ebenfalls in Kombination mit dem Signal der „expliziten Widersprüche“79 und „andere[r] interne[r] Unstimmigkeiten innerhalb des narrativen Diskurses“80. Ihre gesamte Rede über sich selbst weist dabei auch das Signal der „Häufung von sprecherzentrierten Äußerungen“81 auf. Zenobia macht in ihren Ausführungen signifikant häufig Gebrauch von den Personalpronomina der 1. Person Singular. Als Beispiel hierfür mag die folgende Passage gelten, in der Zenobia ihre Errungenschaften als Herrscherin von Palmyra aufführt: 76 77 78 79 80 81
Elyot (1940), 64f. Elyot (1940), 33. Nünning (1998), 27. Nünning (1998), 27. Nünning (1998), 27. Nünning (1998), 28.
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I visited al the hole realme and the marchse, reedified fortressys, and newe made also sondrye municions. More ouer, I caused good lawes to be publyshed, obseruynge them fyrste in myne owne householde and caused them in al other places to be well executed. I made Iustice chiefe ruler of myne affection, and in all consultations wolde I be present, where I herde all other speke fyrste, that I wolde not be ignorant: and than shewed myne aduise, wherin I semed, not to be negligente. Touchynge my seruauntes I vsed such a dilygent scrutiny, that they were alway personnes of synguler honestye. By this maner industry I quietly gouerned the realme of Palmyrye. And also added moche more to myne Empire, not soo moche by force, as by renoume of iuste and politike gouernaunce, whiche all men had in suche admyration, that dyuerse of our said ennemies, whiche agaynste the realme erste dyd conspyre, and had inuaded my iurisdyction, chase rather to leaue theyr hostilitie, and to remayne in our subiection, than to retourne to theyr owne countrey. To the whiche wysedome and polycy I attayned by the study of noble philosophye. Also therby I acquired such magnanimitie, that nowe I kepe in as strayt subiection al affections, and passions.82
Zenobias Äußerungen sind extrem ichbezogen und dabei völlig darauf ausgerichtet, sie in einem äußerst positiven Licht erscheinen zu lassen. Dies gelingt jedoch nicht, denn gerade die Tatsache, dass sie sich selbst zum Thema ihrer Darstellung macht und dabei mehr oder weniger ungefragt ihre eigenen Errungenschaften, wie z. B. die von ihr erlassenen „good laws“ lobend und stolz hervorhebt, bewirken beim Rezipienten eher, dass dieser all ihre großartigen Taten generell in Frage stellt. Die Aufzählung all des Guten, was sie angeblich bewirkt habe, durch die Sprecherin selbst wirkt übertrieben und die eigene positive Selbstdarstellung deutlich überzogen, sodass ihre Zuverlässigkeit in Zweifel gezogen werden muss. Zenobias mangelnde Bescheidenheit hinsichtlich ihrer Regierungsarbeit und die Unvereinbarkeit ihrer selbst preisenden Darstellung mit dem ebenfalls zuvor noch von ihr selbst entworfenen idealtypischen Bild der perfekten Frau und der ihr zugedachten Rolle – to be assistence & comfort to man through theyr fidelite […] to honour our husbandes nexte after god: which honour resteth in due obediece [sic] [… not] to doo any thynge, whiche is not semely […] to resistinge affections and wanton persuasion, as also to susteyne (whan they do happen) afflyctions pacyently. But in a woman, no vertue is equall to Temperaunce, wherby in her wordes and dedes she alway vseth a iust moderation, knowynge whan tyme is to speke, and whan to kepe silence […I]f she measure it to the wyll of her husbande, she dothe the more wysely : except it may tourne them bothe to losse or dyshonestye. yet than shuld she seme rather to giue him wise counsaile, than to appere dissobedient or sturdy83
82 Elyot (1940), 62ff. 83 Elyot (1940), 56f.
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– werden auch einem Leser des 16. Jahrhunderts aufgefallen sein. Allerdings handelt es sich auch hier wieder einmal nur um das textuelle Signal der Unstimmigkeiten innerhalb des narrativen Diskurses. Für sich genommen, ist das von Zenobia in dieser Passage propagierte Frauenbild für einen Leser des 16. Jahrhunderts sicherlich überzeugend, nachvollziehbar und wünschenswert. Für einen Leser des 21. Jahrhunderts hingegen, ist Zenobias Darstellung der Frau nicht mit den extratextuellen Bezugsrahmen vereinbar. Ein derart unterwürfiges Frauenbild, entworfen von einer Frau selbst, erscheint heutzutage schon fast als Parodie. Die Unzuverlässigkeit, die so auch durch die Abgleichung mit extratextuellen frames of reference generiert wird, illustriert eindrucksvoll den Bedeutungswandel, den unzuverlässiges Erzählen notwendigerweise durchläuft und wie er auch z. B. von Bruno Zerweck festgestellt wird.84 Ein weiteres Beispiel hierfür wäre auch Caninius’ Anliegen, sich über Leute lustig zu machen, die behaupten und glauben, die Erde sei ständig in Bewegung. Innerhalb des Dialogs, der im Jahr 274 stattfindet, ist dieses Ansinnen durchaus nachvollziehbar und auch bezogen auf einen Rezipienten des Jahres 1540 kann man an dieser Äußerung nichts Seltsames finden. Für einen Leser des 21. Jahrhunderts ohne genaue Vorkenntnisse der Entwicklung des heliozentrischen Weltbildes hingegen, wäre diese Aussage durch Abgleichung mit dem extratextuellen Bezugsrahmen des allgemeinen Weltwissens ein klares Beispiel für erzählerische Unzuverlässigkeit. Abschließend lässt sich feststellen, dass davon ausgegangen werden muss, dass die vorhandene erzählerische Unzuverlässigkeit in Thomas Elyots The Defence of Good Women ein Phänomen ist, dessen Erwünschtheit diskussionswürdig ist. Auffällig ist nämlich, dass gerade Candidus und Zenobia, die zu Beginn des Dialogs als positive Charakter eingeführt werden und von deren Argumenten der Rezipient letztlich überzeugt werden soll, sich durch einen viel stärkeren und deutlicheren Grad an Unzuverlässigkeit auszeichnen. Dies wiederum führt dazu, dass der Rezipient beiden Sprechern eher mit Skepsis begegnet, ihre Aussagen weniger ernst nimmt und letztlich nicht bereit ist, sich für ihre Position vollends gewinnen zu lassen. Die beabsichtigte Manipulation des Lesers geht aufgrund der nur allzu deutlich wahrnehmbaren Unzuverlässigkeit der angeblich positiven Figuren ins Leere. Es findet hier also quasi eine umgekehrte Sympathielenkung statt. Dies soll nicht heißen, dass der Rezipient zu Caninius’ Ansicht bekehrt würde, vielmehr bewirkt das Vorhandensein erzählerischer Unzuverlässigkeit beim Rezipienten eine Reflektion über den eigenen Standpunkt.
84 Vgl. Zerweck (2001).
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Uwe Baumann (Bonn)
Humanistischer Dialog als inszenierte Humanistische Historiographie: William Thomas’ The Pilgrim (1547)
I.
Prolog
Fragen wie „Quid sit Historia“1, was die Geschichte sei, sind in der geschichtstheoretischen Diskussion der Renaissance genauso geläufig wie topisch; analoges gilt für entsprechende Antworten, etwa Giovanni Antonio Viperanos knappe Definition: „[Geschichte ist] eine unverfälschte und lichtvolle Erzählung der menschlichen Handlungen mit dem Ziel, den Umgang mit den Dingen zu lehren“.2 Geschichte – so die knappe und einprägsame Formel Eckhard Kesslers – „ist menschliche Praxis und hat ihr Kriterium nicht in der Wahrheit, sondern im Nutzen“,3 und diesen Nutzen sichert, so ebenfalls geradezu topisch die Geschichtstheorie der Renaissance, die klassische Rhetorik, wie wiederum Viperano in bekannter Prägnanz herausstellt: „Es ist nicht das Ziel des Historikers, durch die rhetorische Form zu erfreuen […]; sondern die menschlichen Handlungen so zu berichten, dass sie zu Beispielen des Handelns werden“.4 Zum rhetorischen Schmuck, d. h. den „,verba‘ und ,sententiae‘, […] die dem Faktischen hinzugefügt werden, […] gehören […] nach der von Thukydides begründeten Tradition eingefügte Reden, die Beschreibungen von Städten und Landschaften, von einzelnen Personen und ganzen Völkern, das in Lob oder Tadel sich manifestierende Urteil des Autors, allgemeine Sentenzen und alles, was sonst an Exkursen innerhalb einer historischen Darstellung geboten er-
1 Viperano (1569), p. 9 (Untertitel). 2 Viperano (1569), I,7; p. 13: „[…] rerum gestarum ad docendum usum rerum syncera illustrisque narratio“. 3 Kessler (1971), 26. Das u. a. in der Differenzierung des Aristoteles (Poetik, Kap. 9) von Geschichtsschreibung und Dichtung gründende Wahrheitspostulat der Geschichtsschreibung wird damit selbstverständlich nicht aufgegeben, sondern im Hinblick auf Nutzen qualifiziert (vgl. insgesamt auch Landfester (1972), bes. 94ff.). 4 Viperano (1569), II,3; p. 16: „Neque istud sibi historicus proponit, ut oratione delectet … sed res gestas narrare, quae sint rerum agendarum exempla“. Vgl. ebenso Robortello (1548), p. 9; vgl. insgesamt auch die reichen Materialien bei Landfester (1972), bes. 79ff.
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Uwe Baumann
scheinen mag“.5 Mögen einzelne Geschichtstheoretiker der Renaissance über Detailformulierungen auch mit Eifer streiten, einig sind sie sich in dem – der antiken Rhetoriktradition korrespondierenden – Verständnis, rhetorischen Schmuck als Mittel zu sehen, „das historische Faktum in der Komplexität aller seiner Aspekte als menschliche Praxis zu konstituieren“6, oder wie es Viperano im Kontext der Differenzierung von unrhetorischer und rhetorischer Geschichte knapp zusammenfasst: der Unterschied bestehe darin, dass7 […] nimirum annales rudem quandam esse, ac brevem rerum quoque anno gestarum narrationem; historiam vero illustri et decente verborum et sententiarum ornatu rem copiosius explicare, conciones interponere, descriptiones adhibere, nec eventus modo persequi, verumetiam consilia prudenter exponere et graviter interdum commendare, quae laudanda sunt, et reprehendere contraria: ita ut annales historiae materiam suppeditare videantur, quam illa prudenter, dilucide et ornate exponat et inchoatam adumbratamque perficiat. [[…] die Annalen eine rohe und knappe Erzählung dessen sind, was in einem jeden Jahr geschehen ist, dass die Geschichte aber ihren Gegenstand mit leuchtendem und angemessenem Schmuck von Worten und Aussagen in der Fülle ihrer Aspekte entwickelt, insofern sie öffentliche Reden einfügt, Beschreibungen hinzufügt, insofern sie nicht nur die Ereignisse verfolgt, sondern auch Pläne und Absichten mit Klugheit darlegt und dann und wann mit Nachdruck empfiehlt, was zu loben ist und das Gegenteilige tadelt. So kann man sagen, dass die Annalen den Stoff darbieten, den die Geschichte mit Klugheit, lichtvoll und schmuckvoll entfaltet und so, was nur angefangen im Dunkel ruht, zu seiner Vollendung führt.]
Speziell auch die – von den Historikern ergänzten oder nachempfundenen – Reden der Protagonisten der Geschichte ermöglichen es, mit dem in diesem Kontext immer wieder betonten zentralen Kriterium, der Angemessenheit, dem decorum oder aptum, sich dem „schlechthinnigen Prinzip des menschlichen Handelns“: der prudentia8 zu unterstellen, wie statt vieler ein prägnantes Beispiel aus einem geschichtstheoretischen Dialog (Actius) des Giovanni Pontano illustrieren soll:9 5 Kessler (1971), 34. Vgl. ebenfalls Kessler (1971), 34: „Zweifellos eröffnet das Zugeständnis all dieser Möglichkeiten, über das Faktische hinauszugehen, dem Historiker ein weites Feld der Manipulation, und es bedarf eines gerüttelten Maßes an Naivität oder eines prinzipiellen Desinteresses an jeglicher Art von Objektivität, um diese Gefahr nicht zu sehen. Beides besaßen unsere Theoretiker nicht, sonst hätten sie nicht in solcher Ausführlichkeit Regeln für den rhetorischen Schmuck zu geben für nötig gefunden. Dabei geht es ihnen vor allem darum, Legitimität und Willkür scharf zu unterscheiden“. 6 Kessler (1971), 36. 7 Viperano (1569), I,1, p. 12. 8 Kessler (1971), 38. Vgl. insgesamt auch den gesamten Kontext bei Kessler, 38–39. 9 Pontano (1984), bes. 476/477. Vgl eine Gegenposition bei Blundeville (1986): Die Aufgabe des Historikers sei es „tell[ing] things as they were done without either augmenting or diminishing them, or swaruing one iote from the truth. Whereby it appeareth that the hystorio-
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In quibus, quotiens res ipsa tulerit, nervos orationis atque ingenii sui ostendet rerum scriptor. Nec solum quae dicta fuisse referentur ab imperatoribus, verum etiam ea afferet quae verisimilia quaeque dicenda tempus, periculum, reique ipsius natura postulare videatur; uteturque in increpando acrimonia, in excitando vehementia, in sedando lenitate, in impellendo contentione, in extollendis rebus propriis, adversarii deprimendis, magnitudine ac linguae suae acie, rerum ipsarum qualitates ac ducum maxime personas secutus. Magnificant autem historiam conciones potissimum rectae illae quidem, ubi imperatores ipsi et loqui et agere introducuntur, ut quasi geri res videatur. Adhiberi tamen debent suo et loco et tempore suumque ubique decorum retinendum. [Denn derartige Ansprachen, die einmal an viele, dann wieder an einzelne gehalten werden, scheinen die Geschichte auszuschmücken und sie gleichsam zu beleben. So oft es die Sache selbst erlaubt, wird der Geschichtsschreiber darin die Kraft der Rede und seines Ingeniums zeigen. Nicht nur die Worte der Feldherrn werden berichtet, sondern er wird auch das berichten, was wahrscheinlich ist und was zu sagen Zeit, Gefahr und die Natur der Sache selbst zu fordern scheinen; beim Schelten wird er Schärfe, beim Aufmuntern Ungestüm, beim Beruhigen Sanftheit, beim Antreiben Heftigkeit, bei der Hervorhebung der eigenen Dinge und der Herabsetzung des Gegners die Größe und Schärfe der Sprache einsetzen, nachdem er die Eigenschaften der Dinge und besonders die Person der Führer ausgeführt hat. Am meisten aber verherrlichen die Reden an das Volk die Geschichte, und zwar jene richtigen, wo die Feldherren entweder sprechend oder handelnd eingeführt werden, so dass gleichsam die Sache selbst betrieben zu werden scheint. Doch müssen sie an ihrem Ort und zu ihrer Zeit angewendet werden und überall das ihnen Geziemende beibehalten.]
Nach dieser überaus knappen und holzschnittartigen Skizze einiger Grundpositionen humanistischer Theoretiker der Geschichtsschreibung,10 die für ihre Überlegungen im übrigen nicht selten die literarische Form des Dialogs wählen,11 möchte ich im folgenden die These vertreten und plausibilisieren, dass einige der Verfasser englischer Dialoge der Renaissance ihre Werke (oder bedeutende Teile ihrer Werke) als Beiträge zur humanistischen Historiographie verstehen, oder besser : verstanden wissen wollten.
graphers ought not to fayne anye Orations nor any other thing, but truly to reporte euery such speech, and deede, euen as it was spoken or done“ (40/13–22). 10 Vgl. insgesamt auch die reichen Materialien bei Landfester (1972), bes. 54ff., der darüber hinaus auch jeweils auf die klassisch antiken Parallelen (u. a. Herodot, Thukydides, Polybios, Cicero, Lukian, Tacitus, usw.) in der theoretischen und methodischen Reflexion verweist. 11 Vgl. neben dem bereits erwähnten Dialog Actius des Giovanni Pontano (1984) besonders Francesco Patrizi (1560) und Sperone Speroni (1740). Vgl. zu Sperone Speroni insgesamt auch Guthmüller (2004).
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Uwe Baumann
II.
Dialog: Realitätsreferenzen – Lehren aus der Geschichte – Historiographie
1.
Thomas More, Utopia
Die Eingangszeilen und –abschnitte eines der berühmtesten Dialoge der Englischen Renaissance, der Utopia des Thomas Morus,12 explizieren die konkrete, historische Gesprächssituation für den Dialog zwischen Raphael Hythlodaeus, Thomas Morus und Petrus Aegidius, der dann, speziell in Buch II, dem Bericht des Raphael über den Staat der Utopier (vgl. CW 4, 110/1–244/13), zum Monolog wird, bevor eine knappe Schlussbemerkung des Thomas Morus den gedanklichen und szenischen Rahmen schließt und zugleich den Blick zurück auf einige der zentralen Aspekte der Verfassung der utopischen res publica lenkt.13 Die durchaus konventionelle Rahmung des Dialogs verstärkt dabei, wie auch die illustrierende Karte, das Alphabet der Utopier, das „Hexastichon Anemolii“ und die sonstigen Parerga die Authentizitätsfiktion des Dialogs, wiewohl diese zugleich durch die aus dem Griechischen entlehnten Namen und Bezeichnungen kunstvoll unterlaufen, dekonstruiert wird. Ganz im Sinne der Verstärkung der Authentizitätsfiktion erläutert die Figur Thomas Morus eingangs, wie sie nach Antwerpen gekommen ist:14 QVVM NON EXIGVI MOMENti negocia quaedam inuictissimus Angliae Rex HENRICVS eius nominis octauus, omnibus egregij principis artibus ornatissimus, cum serenissimo Castellae principe CAROLO controuersa nuper habuisset, ad ea tractanda, componendaque, oratorem me legauit in Flandriam, […]. Occurrerunt nobis Brugis (sic enim conuenerat) hi, quibus a principe negocium demandabatur, egregij uiri omnes. […]. ubi semel atque iterum congressi, quibusdam de rebus non satis consentiremus, illi in aliquot dies uale nobis dicto, Bruxellas profecti sunt, principis oraculum sciscitaturi. Ego me interim (sic enim res ferebat) Antuerpiam confero. [Jüngst hatte Heinrich, der siegreiche König von England, der Achte seines Namens, ein Herrscher mit allen fürstlichen Tugenden geziert, gewisse politische Differenzen mit seiner Majestät König Karl von Kastilien. Zur Verhandlung und Schlichtung der Gegensätze schickte er mich als Unterhändler nach Flandern, […]. In Brügge trafen wir – so war es ausgemacht – die Geschäftsträger der Gegenpartei, sämtlich höchst achtbare Herren. […] So kamen wir denn ein und das andere Mal zusammen, ohne in gewissen Fragen eine Übereinstimmung zu erzielen; die Gegenpartei nahm deshalb nach ein 12 Vgl. z. B. Baker-Smith (2011), Baumann/Heinrich (1986b), Bevington (1961), Cave (2008), Decook (2008), Freeman (2003), Gerard (2005), Gilman (2012), Haynes (2009), Maczelka (2014), McLean (1988), Morgan-Russell (2002), Müller (2002), Perlette (1987), Phillips (2001), Presscott (2010), Rodriguez Garcia (2000), Schmidt (2009), Vall¦e (2004), Warner (1996, 2004), Wegemer (1990), Zell (1995). 13 Vgl. bes. More (1965), CW 4, 244/13–246/2; Morus (2003), 147–148. 14 More (1965), CW 4, 46/8–48/1; Morus (2003), 15–16. Vgl. insgesamt Surtz (1953).
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paar Tagen von uns Abschied und reiste nach Brüssel, um die Entscheidung ihres Fürsten einzuholen. Unterdessen begab ich mich – die Geschäfte brachten es so mit sich – nach Antwerpen.]
Der nüchterne Realismus der Darstellung wie auch die detaillierte Vorstellung Cuthbert Tunstalls (vgl. CW 4, 46/14–20), des Georg Temsicius, Probst von Cassel (vgl. CW 4, 46/23–26), und des Petrus Aegidius (vgl. CW 4, 48/1–15), illustrieren eine historisch exakt und detailreich geschilderte Szene aus dem diplomatischen Reise- und Alltagsleben des Thomas Morus, wobei Morus bei allen dreien ihre Tugend, Bildung und Eloquenz besonders hervorhebt.15 Obwohl dies literaturtheoretisch höchst interessante Fragen nach dem präzisen Verhältnis der Dialogfigur Thomas Morus und dem in königlichem Auftrag reisenden Diplomaten Thomas Morus, der zugleich der Verfasser der Utopia ist,16 aufwirft: Die Eingangspassagen stehen ganz im Dienst der Etablierung und Stärkung der Authentizitätsfiktion. In Analogie dazu wird auch der wichtigste Gesprächsteilnehmer von Petrus Aegidius dem Thomas Morus vorgestellt, Raphael Hythlodaeus, ein portugiesischer Weltreisender, der sich zunächst Amerigo Vespucci angeschlossen, sich dann aber, während der dritten gemeinsamen Reise mit Vespucci von diesem getrennt und unabhängig von ihm die sonderbarsten Länder bereist hatte, bevor er über Taprobane (Ceylon) und Calicut wieder nach Europa zurückgekehrte.17 Und Raphael selbst referiert im Kontext des berühmten Streitgesprächs in Buch I, ob ein Philosoph sich in den Dienst eines Fürsten oder Königs stellen sollte,18 immer wieder auf Einzelheiten seiner Reiseerfahrungen, wobei die nachprüfbar authentischen Details, wie z. B. im Bericht über seinen Aufenthalt am Hofe des englischen Lordkanzlers, des Kardinals John Morton,19 auch die späteren Schilderungen über die nachahmenswerten Gebräuche in ,utopischen Ländern‘ (der Polyleriten oder der Makarenser) plausibilisieren sollen. Deutlich über die Funktion der Etablierung und Stärkung der Authentizi15 Vgl. Guy (1980), Heinrich (1984) und Marius (1984). 16 Vgl. bes. Freeman (2007), bes. 33: „In the final analysis authorship may depend less upon on the isolated and singular figure so familiar in modern terms; on the contrary, we may very well discover that the figure of the author exists as a presiding spirit manifested through Raphael Hythloday and reflecting the special synergy created among More, Erasmus, and Giles“. 17 Vgl. More (1965), CW 48/31–50/19; Morus (2003), 17–18. 18 Vgl. hierzu allgemein die Analyse und die Einordnung in die literarische Tradition bei Healy (2004), Lehmberg (1961), Spooner (2013). 19 Vgl. insbes. die Charakterskizze des Kardinals, deren Authentizität und Wahrheitsgehalt Thomas Morus bestätigen kann (CW 4, 58/18–60/5) und die präzise Datierung des Englandaufenthaltes, wenige Monate nach der Niederschlagung der Cornwall-Erhebung im Jahre 1497 (CW 4, 58/15–18); vgl. zur Cornwall-Revolte Arthurson (1987, 1994) und Penn (2011), bes. 16–31.
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tätsfiktion hinaus gehen einzelne realistische, dem Duktus der Historiographie angenäherte, kurze Sequenzen, in denen zumeist Raphael seine Ausführungen mit historischen exempla schmückt und zugleich mit dem Rekurs auf die nobilitierten Vorbilder der Antike seiner Argumentation Nachdruck verleiht, wie etwa im Kontext der Diskussion über die angemessene Bestrafung von Dieben:20 Cur enim dubitemus eam uiam utilem esse castigandis sceleribus: quam scimus olim tam diu placuisse Romanis administrandae reipublicae peritissimis? Nempe hi magnorum facinorum conuictos in lapidicinas, atque fodienda metalla damnabant, perpetuis adseruandos uinculis. [Warum sollten wir denn Bedenken tragen, jene alte Methode der Bestrafung von Verbrechen für nützlich zu halten, die schon im Altertum, wie man weiß, die Römer so lange verwandt haben, diese alten Praktiker der Staatskunst? Sie pflegten nämlich Schwerverbrecher zur Arbeit in Steinbrüchen und Erzgruben zu verurteilen, wo sie beständig Fesseln zu tragen hatten.]
2.
Thomas More, Apology
Nahezu zwei Jahrzehnte später, im Kontext der Verteidigung gegen Vorwürfe, er habe bei der Verfolgung von Häretikern die Gesetze gebeugt und sich grausam und unnachsichtig verhalten, bemüht Thomas More in seiner Apology21 eine historische Parallele, ein historisches exemplum, das ihm sein konkretes Verhalten im Fall des Thomas Philippis nahelegte:22
20 More (1965), CW 4, 74/13–17; Morus (2003), 34. Bezeichnenderweise geht dieses historische exemplum der ersten Erwähnung der Polyleriten und deren Praxis der Bestrafung von Dieben unmittelbar voraus (CW 4, 74/17–78/32), so dass selbst das historische exemplum neben der rhetorischen Funktion der evidentia zu einem weiteren Baustein der Stärkung der Authentizitätsfiktion wird. 21 Vgl. More (1979), CW 9, 116/27–128/9; vgl. insgesamt auch das moderne historische Urteil von Marius (1984), 395: „He had examined heretics at his house in Chelsea even before he became Lord Chancellor, usually in the company of Tunstall. As a member of the royal council, he would have used the license of the statutes against Lollardy that gave political officers who were not priests the authority to help conduct interrogations of heretics in the company of clergymen. Since he was the only lay member of the council to have performed such tasks, we may see both his interest in the matter and the regard shown him by high clergymen who included him in these examinations. When Tunstall departed to be bishop of Durham in 1530, More continued the interrogations with Stokesley and others, making a much stronger effort than Wolsey had ever done to ferret out heresy, and apparently putting large numbers of suspects under arrest, again by the authority of the Anti-Lollard statutes. His methods werde not gentle“. Vgl. insgesamt zur Apology zuletzt Baumann (2013), bes. 142–145. 22 More (1979), CW 9, 126/23–127/7.
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And yet for bycause I perceyued in hym a great vaynegloryouse lykynge of hym selfe, and a great spyce of the same spyryt of pryde that I perceyued byfore in Rycharde Hunne when I talked with him / and fered that yf he were in ye bysshoppes prysone, his gostely enymy ye deuyll myghte make hym there destroy hym selfe / and then myght suche a new besynes aryse agaynste mayster chauncellour that now is, as at that tyme arose vppon the chauncelloure that was then / whyche thynge I fered in Thomas Philyppys somewhat also the more, bycause a cosyn of his, a barbour in Pater noster row called Holy Iohan, after that he was susspected of heresye and spoken to therof, ferynge the shame of the worlde drowned hym self in a well: I for these causes aduysed & by my meanes holpe, that Thomas Philips (whyche all be yt that he sayd that ye clergy loued hym not, semed not yet very loth to go to the byshoppes prison) was receyued prysoner in to the towre of London. And yet after that he complayned theruppon, not agaynst me but agaynste the ordynarye.
Die historische Analogie, nach der More sein Verhalten im Fall des Thomas Philippis ausrichtete (und damit erfolgreich Lehren aus der Geschichte zog: „he complayned theruppon, not agaynst me but agaynste the ordynarye“), ist der casus des Richard Hunne, ein mysteriöser Todesfall aus dem Jahre 1514. Nach kleineren, auch persönlich motivierten Zwistigkeiten mit der Londoner Geistlichkeit, wurde Hunne am 14. Oktober verhaftet, nachdem bei einer Hausdurchsuchung eine Wycliff-Bibel entdeckt worden war ; am 4. Dezember wurde er in seiner Zelle erhängt aufgefunden. Bischof Fitzjames und sein Chancellor Horsey erklärten, es handele sich um Selbstmord und sie erhoben posthum Anklage wegen Häresie, die aufgrund der Leugnung der Transsubstantiation und der Heiligenverehrung zu einem schnellen Schuldspruch führte: Der Körper Richard Hunnes wurde am 20. Dezember 1514 verbrannt. Am 6. Dezember jedoch hatte eine Untersuchung des Coroners und seiner Jury, vor dem Hintergrund kirchenfeindlicher Empörung, einen signifikant anderen Sachverhalt als wahrscheinlich herausgestellt: Der Leichnam, so das Ergebnis der Leichenschau, zeige Zeichen eines Kampfes, Hunne sei gefoltert und dann erwürgt, das Aufhängen erst nach seinem Tod vorgetäuscht worden.23 23 Vgl. insgesamt u. a. Derrett (1979), Schoeck (1972), Smart (1986, 1988), jeweils mit reichen Materialien. Vgl. jedoch bes. die überzeugende, knappe und ausgewogene historische Analyse von Fines (2004): „On 14 October, following the discovery of a Wyclifite Bible in his house, Hunne was arrested for heresy and put in the ,Lollards’ tower‘ in St Paul’s Cathedral. At about the same time the bishop’s chancellor, Dr William Horsey, dismissed Joseph [sc. Charles Joseph, the bishop’s summoner], but then seems to have reinstated him. On 2 December Hunne appeared before Bishop Richard Fitzjames (d. 1522), apparently ready to admit to extreme speech on such issues as denying tithes, and also to possessing heretical books. On the morning of 4 December his body was discovered, hanging by his silk girdle from a hook in the ceiling of his cell. Fitzjames and Horsey claimed that Hunne had committed suicide, and conducted a swift posthumous trial which found that he had denied transubstantiation and the veneration of saints; his abiding interest in the vernacular scriptures was incontestable circumstantial evidence, and consequently his body was burnt
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Detaillierte Erläuterungen zum casus des Richard Hunne hielt More in seiner Apology (vor Ostern 1533) wohl nicht für nötig, er setzte das Wissen um diesen mysteriösen Todesfall offensichtlich voraus. Vielleicht war er immer noch als exemplum für die traditionell problematische Abgrenzung von kirchlicher und staatlicher Gerichtsbarkeit Stadtgespräch, vielleicht jedoch vertraute More auch darauf, dass er selbst nur wenige Jahre zuvor (im Juni 1529) den casus Richard Hunne sehr viel ausführlicher präsentiert hatte, in seinem Dialogue Concerning Heresies.24
3.
Thomas More, Dialogue Concerning Heresies
Wie im Dialogue Concerning Heresies üblich,25 expliziert die dem eigentlichen Gespräch zwischen dem Messenger und der Figur des Thomas More vorgeschaltete Inhaltsangabe den konkreten Gesprächsgegenstand des 15. Kapitels des III. Buches:26
on 20 December. The evidence for the aftermath of his death is full of uncertainties – the extant report dates only from 1539 in an edited version [sc. The enquirie and verdite of the quest panneld of the death of Richard Hune wich was found hanged in Lolars tower, (London, 1539?)]. But on 6 December, against a background of considerable lay hostility towards the London clergy, a coroner’s jury allegedly asserted that there had been signs of a struggle, that Hunne had been tortured and throttled, and that the hanging had been faked post mortem. Dr Horsey was committed to prison, and Joseph, arrested while carting his household goods towards Stratford, unsuccessfully pleaded an alibi, and then accused Horsey […] and his own fellow gaoler, William Stradling, as co-murderers. So noisy was the scandal that Henry VIII ordered an inquiry by his council. All the official lines of interest petered out, leaving a famous mystery. Attempts to secure the restitution of Hunne’s property – forfeited on his posthumous conviction – to his widow and children came to nothing. Dr Horsey remained the bishop’s chancellor for another sixteen years. Yet in the late 1530s the verdict of the coroner’s court was still thought sufficiently interesting to be published commercially. The martyrologist John Foxe (d. 1587) made substantial use of the case to argue for sharp tensions between clergy and laity on the eve of the Reformation. Other historians have done likewise ever since, while yet others have challenged its true nature and typicality. Attempts to show that Hunne had no leanings towards heresy have been unconvincing; none the less the likelihood that he died at the hands of his gaolers (perhaps unintentionally, while seeking further confessions), rather than his own, remains strong“. 24 Vgl. More (1981), CW 6, Part I & II; vgl. dazu insgesamt, neben den Einführungen von Thomas M. C. Lawler, Germain Marc’hadour und Richard Marius in More (1981), CW 6, Part II, 439ff.: Billingsdale (1984), D’Alton (2002), Duffy (2011), Gilman (2003), Gordon (1978, 1980), Marc’hadour (1980b), Mason (1970), Minns (1980), Pineas (1960, 1968), Schaeffer (1971), Schoell (2004a), bes. 28–63. 25 Vgl. zur Analyse der Figuren und des Argumentations- und Gesprächsverlaufs Schoell (2004a), bes. 33–63. 26 More (1981), CW 6, Part I, 316/26–317/2.
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The messenger moueth agaynst the clergye / that though they haue made no lawe thereof / yet they wyll in dede suffer none englyshe byble in no mannys hande / but vse to burne them where they fynde them / and somtyme to burne the man to. And for ensample he layeth one Rychard Hunne / shewyng that the chaunceler of London murdered hym in pryson and after hanged hym / faynyng that he hanged hym selfe / and after condempned hym of heresye / bycause he had an englyshe byble / and so burned ye byble and hym togyther / wherevnto the author answereth.
Das Kapitel 15 spiegelt in seiner Struktur geradezu in nuce den Aufbau, die Argumentationsstruktur, die Figurencharakterisierung und die Autorenintention des gesamten Dialogue Concerning Heresies. Der Autor Thomas More wendet sich mit seinem Dialog an einen ,Freund‘ als exemplarischen ,Schiedsrichter‘, der jedoch „nur das Urteil nachvollziehen kann, das der Text gefällt hat“.27 Ganz im Sinne dieser Intention inszeniert er als Autor die Argumentation seiner Figuren im Fall des Richard Hunne: Dem Messenger legt er als Vertreter der Mord-These als ,merry tales‘28 konzipierte Aussagen, Erzählungen, Anekdoten und Gerüchte in den Mund, denen Glauben zu schenken die kaum glaubliche Naivität des Gesprächspartners entlarvt. Die Figur More präsentiert er hingegen als gewissenhaften, kritischen Augenzeugen der wichtigsten Ereignisse und insgesamt als klug abwägenden humanistischen Historiker. Es ist für unsere Belange nebensächlich, dass die Figur More insgesamt nicht wirklich überzeugende Argumente gegen die Mord-These und für die Plausibilität eines Selbstmords Hunnes vorbringt,29 entscheidend ist die Selbst-Inszenierung der Figur More als humanistischer Historiker und Historiograph. Er beruft sich dabei zunächst einmal auf die persönliche Augenzeugenschaft und darauf, dass
27 Schoell (2004a), 63. Vgl. insgesamt die Würdigung von Schoell (2004a), 63: „In vielerlei Hinsicht ist der Dialogue concerning Heresies ein kunstvoller Dialog, was gerade auch Stilmerkmale wie die Gestaltung des Gesprächsbeginns, die Einschübe, der Humor, der komplexe Aufbau und die Darstellung der Redesituation insgesamt zeigen. Doch vor allem handelt es sich um ein effektives Instrument im Glaubenskampf. Diese Instrumentalisierung der Gattung bringt es mit sich, dass die Stimme der Orthodoxie, jene des ,katholischen‘ Standpunkts, erheblich besser vernehmbar ist als die Gegenstimme. […] Das Werk hat eine finale Struktur. Es geht um die Überwindung der Gegenposition. […] Am Ende des Disputs gibt es nur einen Sieger, und das ist ,More‘ bzw. der katholische Standpunkt. Dies konnte kaum ein Leser anders beurteilen als ,Mores‘ Freund im Text, der Richter über die Wahrheit sein sollte […]“. 28 Vgl. More (1981), CW 6, Part I, 317/3–330/29; vgl. hierzu bes. Gordon (1978, 1980), Marc’hadour (1980b) und Pineas (1968), 93–95. 29 Vgl. Pineas (1968), 95: „These stories (sc. the merry tales) sound a little too humorous to be factual verbatim reports, which is how More presents them, but they do serve the purpose of diverting the reader’s attention from the fact that no specific evidence has been presented to support More’s contention that Hunne committed suicide. The point at issue is here obscured not only by the humor of these stories but also by their very length“.
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er in seiner Wertung mit den besten Kennern der Angelegenheit, den besten Informanten, den besten ,Quellen‘ vollkommen übereinstimmt:30 Forsothe quod I soo well I knowe it frome toppe to too / that I suppose there be not very many men that knoweth it moche better. For I haue not onely ben dyuers tymes presente my selfe at certayne examynacyons thereof / but haue also dyuers and many tymes sunderly talked with almooste all suche excepte the ded man hym selfe / as moost knewe the matter. […] My selfe was present in poulys whan the byshop in the presence of the Mayre and the aldremen of the cytye condempned hym for an heretyque after his dethe. And then were there red openly the deposycyons / by whyche it was well proued that he was conuycte as well of dyuers other heresyes as of mysbyleue towarde the holy sacrament of the awter. And therevpon was the iudgement gyuen / that his body sholde be burned / and so was it. Nowe this is quod I to me a full profe. For I assure you the byshop was a very wyse man / a vertuouse and a connynge.
Neben der durch Augen- und Ohrenzeugenschaft ermöglichten Autopsie, der persönlichen Überprüfung der Informationen, der Abwägung der Plausibilität und des Wahrheitsgehalts einzelner Informationen,31 beruft sich die Figur More auf die Sorgfalt und Rechtmäßigkeit früherer gerichtlicher Untersuchungen und auf die Autorität des Königs:32 And syth I veryly byleue that yf he (sc. the chancellor) had ben gyltye he neuer coulde haue gotten in suche an haynous murder any pardon of the kynges hyghnes / […] But after longe examynacyon of the matter as well the chauncelour as the other / beynge endyted of the dede / and arrayned vppon the endytement in the kynges benche / pleded that they were not gyltye. And therevppon the kynges grace beynge well and suffycyently enformed of the trouthe / and of his blessyd dysposycyon not wyllynge that there sholde in his name any false matter be maynteyned / gaue in commaundement to his attourney to confesse theyr plees to be trewe without any further trouble. Whiche thynge is so faythfull a prynce is a clere declaracyon that the matter layde to the chauncelour was vntrue. And as for my selfe in good faythe as I tolde you before / I neuer herde in my lyfe (and yet haue I herde all I wene that well coulde be sayd) therein any thynge that moued me after bothe the partyes herde / to thynke that he sholde be gyltye.
30 More (1981), CW 6, Part I, 318/21–26 und 327/21–30. 31 Vgl. die reichen Materialien, die dokumentieren, dass eine solche Untersuchungsmethode ein Kernelement humanistischer Geschichtstheorie ist, das dann wiederum in klassisch antiken Vorbildern gründet, bei Landfester (1972), bes. 105–108; Heinrich (1987), bes. 48–51; Kessler (1971), bes. 17–25. 32 More (1981), CW 6, Part I, 326/10–27. Vgl. in diesem Kontext auch das panegyrische Porträt des Königs Heinrich VIII., das den späteren Rekurs auf die alles überragende Autorität des Königs mitbegründet (CW 6, Part I, 325/23–326/10).
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Gleichsam in Vollendung der Selbstpräsentation als gewissenhafter, umfassende Recherchen betreibender, alle Informationen kritisch auswertender humanistischer Historiker, erweist die Figur More die Bibel aus dem Hause Hunnes als tatsächlich häretisch und verboten;33 und sie erinnert sich daran, dass sich sechs, sieben Jahre nach dem Tode Hunnes weitere Hinweise auf die Häresie Hunnes bei dem Verhör eines Zimmermanns in Essex ergeben hätten, der aussagte, dass Richard Hunne wiederholt häretische Predigten gehört habe („haunted heretykes lectures“ [CW 6, Part I, 328/30]), wobei die Figur More auch bei dieser Untersuchung als Mitglied der Jury, als Augen- und Ohrenzeuge persönlich anwesend war : „Where by the commaundement of the kyngys grace / a greate honourable estate of thys realme and my selfe had hym in examynacyon“.34 Der Autor Thomas More, ein hervorragender Kenner der klassischen und humanistischen Historiographie und Geschichtstheorie wie u. a. einige seiner Epigramme35 und seine History of King Richard III bezeugen,36 präsentiert seine Figur Thomas More, so wird man resümieren können, in diesen Abschnitten des Dialogue Concerning Heresies als theoretisch reflektierten, gewissenhaften, Informationen und Quellen sorgfältig abwägenden, humanistischen Historiker und Historiographen.37 Diese Inszenierung der Figur Thomas More wird damit 33 Vgl. More (1981), CW 6, Part I, 330/16–22: „But this I remember well that besydys other thyngys framed for the fauoure of dyuers other heresyes / there were in the prologe of that byble suche wordys touchynge the blyssed sacrament / as good crysten men dyd moche abhorre to here / and whyche gaue the reders vndouted occasyon to thynke that the boke was wryten after wyclyffs copy / and by hym translated into our tonge“. Bezeichnenderweise gründet dieses Urteil wiederum in Autopsie, der persönlichen Überprüfung des Materials durch die Figur More (More (1981), CW 6, Part I, 330/9–15): „For surely at such tyme as he was denounced for an heretyke / there lay his englyshe byble open / and some other englyshe bokys of hys / that euery man myght se the placys noted with his owne hande / such wordys / and in suche wyse / that there wolde no wyse man that good were / haue any great doute after the syght thereof / what naughty myndys the men hadde / both he that so noted theym / and he that so made theym“. 34 More (1981), CW 6, Part I, 328/6–8. 35 Vgl. More (1984), CW 3, Part II, insbes. die Epigramme gegen Germain de Brie (Germanus Brixius): Nr. 188, 189, 190, 191, 192, 193, 194, 195, 209, 266, 267, 268, 269. Vgl. dazu (und zum Brief gegen Brixius) Baumann (1984), bes. 86–88 und 121–127. 36 Vgl. More (1963), CW 2. Vgl. hierzu Breen (2010), Harris (1972), Schmidt (2013), Sullivan (1967); vgl. immer noch grundlegend Heinrich (1987). Vgl. zur kaum zu überschätzenden Bedeutung historischer Argumentationen für die Englische Reformation Nicholson (1977). 37 Vgl. nochmals zur humanistischen Geschichtstheorie und -methodik die klassisch antiken, diese Positionen nobilitierenden Vorbilder bei Landfester (1972), 105–106: „Auch die Bewertung der historischen Nachrichten nach dem Autopsieprinzip und ihre Abstufung in solche aus eigener Beobachtung der Vorgänge, solche aus Berichten anderer Augenzeugen und solche aus Quellen anderer Art ist bereits bei Thukydides vorgebildet. Noch klarer tritt dieses methodische Verfahren bei Polybios entgegen. Unter Verweis auf einen Satz Heraklits, der den Augen als Erkenntnismittel vor den Ohren den Vorzug gibt, betont auch er den Vorrang des aus persönlicher Kenntnis der Ereignisse gewonnenen Wissens vor dem aus zweiter Hand stammenden [Pol. XII,27,1–3; XV,36,3 und XX,12,8]. Nur soweit dieses nicht
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zu einem zentralen Element der rhetorischen Textur des Dialogs, die sich ganz in den Dienst der kontroverstheologischen Intentionen des Autors stellt.38 Wir könnten jetzt noch etliche weitere Beispiele, aus den Schriften des Thomas More, oder z. B. aus Thomas Starkeys A Dialogue between Pole and Lupset herausgreifen, wie etwa Starkeys Figuren Reginald Pole und Thomas Lupset bei ihrer Diskussion um die ideale Staatsform und das konkrete Reformprogramm für England immer wieder historisch, mit historischen exempla argumentieren, sich als humanistische Reformer, Philosophen, Staatstheoretiker und Historiker inszenieren,39 das beste Beispiel und damit zentrale Argument für die zu plausibilisierende These, dass einzelne humanistische Dialoge als inszenierte humanistische Historiographie verstanden werden wollten, ist jedoch William Thomas’ The Pilgrim. A Dialogue of the Life and Actions of King Henry the Eighth.
III.
Dialog als inszenierte humanistische Historiographie
William Thomas, wohl ein gebürtiger Waliser und möglicherweise Absolvent der Universität Oxford,40 jedenfalls hat er eine klassische Ausbildung erfahren oder sich gute Kenntnisse der klassischen Autoren angeeignet, musste England im Jahre 1544 vielleicht aus religiösen Gründen, vielleicht jedoch auch als Dieb, der mit gestohlenem Geld seine Spielschulden hatte begleichen wollen, verlassen.41 Rund fünf Jahre blieb er im Ausland, die meiste Zeit davon verbrachte er in Italien. Dort eignete er sich gute Kenntnisse der italienischen Sprache und der
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ausreicht, ist von Berichten Dritter Gebrauch zu machen, wobei auch hier der mündlichen Befragung der Zeugen vor allen gelehrten Recherchen der Vorzug zu geben ist. […] Derselben Auffassung ist, in zum Teil wörtlicher Anlehnung an die diesbezüglichen Passagen bei Thukydides, auch Lukian“. Es sei daran erinnert, dass Thomas More ein vorzüglicher Kenner des Thukydides, des Polybios und insbesondere des Lukian ist (vgl. Baumann (1984, 1986a)). Vgl. dazu Baumann (2008a, 2008b), Bernard (1998, 2005), Curbet (2003), D’Alton (2002), Dillon (2002), Duffy (2011), Elton (1972), Flood (1996), Fox/Guy (1986), Gogan (1982), Gregory (2012), Gunther (2007), Gurney (2011), Guy (2000), Havely (2010), MacCulloch (2004), McCutcheon (1993), Pineas (1960, 1968), Rex (1989, 2006), Rockett (2000), Rück (2001), Ryrie (2002, 2003), Schaeffer (1971), Sowerby (2012), Walker (1996, 2005), Warner (1994, 1998). Vgl. auch den Beitrag des Verf. in diesem Band, 111–153. Vgl. Starkey (1948, 1989). Vgl. insgesamt dazu Bergvall (1993/94), Buck (1992), Elton (1985), Haynes (2009), Jones (1965), Mayer (1985, 1989, 1993, 2000, 2008a, 2008b, 2008c), McLean (1974), Schoell (2004a), bes. 93–121. Der nicht seltene Name William Thomas macht sichere Identifizierungen in den Quellen nicht leicht (vgl. Hamilton (2004)). Vgl. die ausgewogene Analyse der schwierigen Quellenlage bei Hamilton (2004), der u. a. zu dem Ergebnis kommt, dass William Thomas zu diesem Zeitpunkt in den frühen Zwanzigern war.
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italienischen Geschichte an, die er in einer Grammatik des Italienischen42 und einer History of Italy verarbeitete und – nach England zurückgekehrt – veröffentlichte.43 Spätestens 1550 wurde er Sekretär des Geheimen Rates. Insbesondere dem jungen König Edward VI. stand er als informeller Tutor nahe, zu dessen politischer Erziehung er mit privaten Denkschriften, Traktaten und Fragen-Sammlungen beitrug.44 Wie schon die historie of Italie exempla guter und schlechter Herrschaftsausübung präsentiert und zugleich realpolitische und pragmatische Möglichkeiten aufzeigt, das erstere zu erreichen, wobei Thomas in manchen Details dem Gedankengut Niccolý Machiavellis nahestand, so galt dieses auch für die Common places of state: „several of them were infused with Machiavellian political philosophy, complete with emphasis on practical and pragmatic action“.45 Nach dem Tod Edwards und dem Regierungsantritt Mary Tudors (1553) verlor William Thomas sein einflussreiches Amt; er wurde stattdessen zum Aktivisten im Widerstand gegen Mary und deren katholische Restaurationspolitik, wobei das konkrete Ausmaß seiner Aktivitäten durchaus zweifelhaft ist; religiöse Motivation als Anhänger der Reformer verband sich bei ihm wie bei vielen anderen mit der primär national begründeten Opposition gegen die geplante Heirat Marys mit Philipp von Spanien. Als Beteiligter an der Wyatt-Verschwörung von 1554 wurde er in den Tower geworfen, wobei es zu berücksichtigen gilt, dass alle ihn belastenden Aussagen von anderen Verschwörern unter der Folter zustande kamen,46 wo ein Selbstmordversuch in der Nacht des 25. Februar scheiterte: „he succeeded only in hurting himself and delaying his indictment and trial for treason“.47 William Thomas erholte sich 42 Diese Grammatik des Italienischen gründet in Alberto Accarigis Vocabulario, grammatica, et orthographia de la lingua volgare (1543) und Francesco Allunnos Le richezze della lingua volgore (1543), Thomas’ Patron, John Tamworth, war so begeistert von dem Werk, dass er es über Mittelsmänner nach England schickte, wo es vom königlichen Drucker Thomas Berthelet 1550 als Principal rules of the Italian grammar, with a dictionarie for the better understanding of Boccace, Petrarcha, and Dante gedruckt wurde; 1562 und 1567 wurden die Principal Rules („the first Italian dictionary and book of grammar published in English“ [Hamilton (2004)]) erneut gedruckt. 43 Vgl. Thomas (1550, 1963); vgl. dazu bes. Hankinson (1967), Khoury (2006) und Rossi (1966). 44 Vgl. das Manuskript „Common place of state“, Cotton MS, Titus B. ii (London: British Library). 45 Hamilton (2004). 46 Vgl. insgesamt Hamilton (2004). Vgl. bes.: „There is some question about the degree of his guilt in this whole business. Throckmorton, who was also arrested for complicity in Wyatt’s rebellion, demanded at his trial to be allowed to call Fitzwilliam in his defence, saying that Arnold was trying to save his own skin by accusing him and Thomas of plotting to murder the queen. It is probably significant that Fitzwilliam was not in the Tower along with everyone else but rather at court, presumably ready to confirm Throckmorton’s statements. That the royal officials refused to allow him to testify suggests that they believed Fitzwilliam would indeed clear Throckmorton and Thomas of the charges“. 47 Hamilton (2004).
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nur langsam von seiner Brustwunde, belastete jedoch auch unter der Folter selbst niemanden. Wegen Hochverrats zum Tod durch Erhängen mit anschließender Enthauptung und Vierteilung verurteilt, wurde William Thomas am 18. Mai 1554 in Tyburn hingerichtet.48 Das Büchlein The Pilgrim: A Dialogue on the Life and Actions of King Henry The Eighth49 ist, wie der Untertitel schon offenlegt, ein Dialog über die Persönlichkeit und die Regierungszeit Heinrichs VIII.. Die Gattung des in der italienischen und englischen Renaissanceliteratur gleichermaßen beliebten Dialogs50 ermöglichte es dem Verfasser William Thomas, unterschiedlichste Beurteilungen Heinrichs VIII. einander gegenüberzustellen. Der rund 80 Seiten lange Text gibt ein Gespräch wieder, das William Thomas Anfang Februar 1547 in Bologna mit sieben oder acht Italienern geführt haben will. Die Frage, ob dem Buch The Pilgrim ein reales Gespräch zugrunde liegt, ist dabei müßig;51 entscheidend ist, dass William Thomas durch die Situierung seines Dialogs in Bologna und zu einer Zeit, da er sich selbst nachweislich in Italien aufgehalten hat, diesem ein hohes Maß an Authentizität sichert, ein Verfahren der Authentizitätsfiktion, das dem Leser anderer Dialoge der Tudorzeit geläufig ist.52 William Thomas veröffentlichte – wie er selbst zu Anfang formuliert – sein 48 Vgl. bes. Hamilton (2004). Vgl. bes. die resümierende Würdigung: „By the end of Edward’s reign William Thomas had become a moderately wealthy man with property in London but especially in the marches. Further, he had acquired administrative experience locally and in central government. He had already made a significant contribution in popularizing the Italian language and Italy’s history and culture in England and might have continued to do so had he lived longer. However, he was an impetuous man, and his rash actions, even though almost immediately regretted, ultimately cost him his life“. 49 Thomas (1861). Vgl. zur Manuskript- und Textgeschichte Martin (1999). Das englische Manuskript ist erhalten: „Six discourses“ and „Peregryne“, Cotton MS, Vespasian D. xviii (London: British Library); eine italienische Übersetzung veröffentlichte William Thomas im Jahre 1552: Il pellegrino Inglese. Eine moderne kritische Edition des Dialogs bleibt ein desideratum der Forschung. 50 Vgl. e. g. Burke (1989), Cox (1992), Crawford (1918), Day (1977), Deakins (1964, 1980), Gilman (1993), Guthmüller (2004), Guthmüller/Müller (2004), Haynes (1991), Ludwig (2004), Mack (1984), Marc’hadour (1980a), Marsh (1980), McCutcheon (1991), McLean (1971, 1975), Merrill (1911), Müller (2004), Ong (1958), Schoell (2004a, 2004b), Smolinsky (2004), Snyder (1989), Tinkler (1988), Wallbank (2012), Warner (2004), Wilson (1981, 1985). Vgl. auch allgemein zur rhetorischen Theorie und Praxis der Gattung Heitsch/Vall¦e (2004), Hess-Lüttich (1994), Kalmbach (1996), Kushner (2004), Lakowski (1993), Matuschek (2002), 51 Vgl. Froude, viii: „It was while he was at Bologna, two months after Henry’s death, that, (if the form of The Pilgrim is more than a fiction,) the conversation took place which gave rise to the composition of the book“. Vgl. ebenso Wolff (1972), 37: „Ob dem ,Dialogue‘ eine wirkliche Begebenheit zugrunde liegt, ist nicht erwiesen“. 52 Vgl. e. g. die ersten Zeilen von Thomas Mores Utopia (vgl. dazu oben, 174). Analog zu den bisher detaillierter analysierten Dialogen, Utopia und Dialogue Concerning Heresies, gilt es im Folgenden natürlich ebenfalls zwischen dem Verfasser William Thomas und der Dialogfigur William Thomas zu differenzieren, obwohl die rhetorische Inszenierung der Dialogfigur nicht so ausgeprägt und funktionalisiert ist wie in den Dialogen des Thomas Morus.
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Büchlein aus zwei Gründen, erstens, um den edlen König Heinrich VIII. öffentlich zu verteidigen und zweitens auch zum Nutzen und Frommen all jener, die sich in ihrer Kenntnis über Heinrich VIII. nur auf Gerede und falsche Gerüchte stützen.53 Vielleicht wollte er sich mit diesem Büchlein, nachdem er im Februar vom Tod des Königs erfahren hatte, zugleich aus dem italienischen ,Exil‘ heraus bei den neuen Machthabern wieder in Erinnerung bringen und sich deren Gunst sichern.54 Nach dem Abendessen macht es sich William Thomas mit den sieben oder acht Italienern vor dem Kamin gemütlich, und nach einigen knappen Ausführungen zu Ausdehnung, Klima, Bodenschätzen und Feldfrüchten in England (Pilgrim, 4–8) stehen bald die politischen Verhältnisse in England im Mittelpunkt des Interesses. Schnell kommt die Rede auf den vor kurzem (28. Januar 1547) verstorbenen König Heinrich VIII.. Einer der Italiener bemerkt provozierend, dass selbst die Redekunst eines Cicero nicht ausreiche, den englischen König gegen den Vorwurf der Tyrannei zu verteidigen (Pilgrim, 9): „but you consider not that Cicero his eloquence should not suffice to defend him of his tyranny, since he hath been known, and noted over all, to be the greatest tyrant that ever was in England“. Nachdem ihm die Abendgesellschaft Redefreiheit zugesichert hat (ein Argumentieren in Bologna gegen den Papst könnte für William Thomas eine empfindliche Strafe nach sich ziehen)55 übernimmt es die Dialogfigur William Thomas, Heinrich VIII. zu verteidigen. Die von seinem italienischen Dialogpartner formulierten Vorwürfe gegen den englischen König nehmen ihren Ausgang bei einer knappen allgemeinen Definition der tyrannischen Herrschaft56 und konkretisieren die Eingangsthese dann im Rahmen von 14 Einzelpunkten (Pilgrim, 10–13): 53 Pilgrim, 4: „The discourse whereof I have thought good to put in writing, not only for the private defence of that noble Prince whose honour hath been wrongfully touched, but also for the general satisfaction of them whose ears may happen to be occupied with unjust and false rumours“. 54 Vgl. eine ähnlich vorsichtige Vermutung bei Hamilton (2004): „Once back in Venice he undertook a written defence of Henry, and its purpose may have been to restore Thomas to the good graces of the new government“. 55 Pilgrim, 13–14: „For Bonony (though well with wrong) is of the Pope’s territory, and he that speaketh there against the Pope incurreth no less danger than he that in England would offend the King’s Majesty“. Diese Passage wird damit zu einem weiteren Detail der Authentizitätsfiktion des Dialogs. 56 Vgl. Quellen, Analyse und weitere Literatur zur Renaissance-Konzeption des Tyrannen und tyrannischer Herrschaft in Baumann (1985, 1986a, 1986b, 2015a und 2015b); vgl. ebenfalls Guy (2012) und Wegemer (2012). Es ist sicherlich nicht uninteressant, dass selbst die moderne Historiographie gelegentlich plakativ die Bezeichnungen tyrant für Heinrich VIII. oder tyranny für seine Herrschaft wählt, vgl. etwa Bernard (2002), Hutchinson (2005), Rankin/Highley/King (2009), Walker (2005) und Wilson (2009). Vgl. insgesamt die wichtigsten Biographien und Gesamtdarstellungen Heinrichs VIII.: Appel (2012), Baumann (1991), Berg (2013), Doran/Starkey (2009), Fox/Guy (1986), Guy (2014), Hutchinson (2005),
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,If you,‘ said he, ,will grant me that the principal token of a tyrant is the immoderate satisfaction of an unlawful appetite, when the person, whether by right or wrong, hath power to achieve his sensual will, and that the person, also, who by force draweth unto him that which of right is not his, in the unlawful usurping committeth express tyranny ; then doubt I not right well to justify my report with advantage.‘ ,1. Your King his first wife, I pray you, being the Emperor’s aunt, did he not cast her off after that he had lived in lawful matrimony with her 18 years?‘ ,2. And to accomplish his will in the new marriage of his second wife, because Pope Clement would not consent to him, did he not disannul the authority of the Holy Roman Church, which for long time hath been honoured and obeyed of all Christian Princes?‘ ,3. Thirdly – Because the Cardinal of Rochester, and Thomas More, High Chancellor of England, would not allow these his abominable errors, did he not cause them to be beheaded? men whose famous doctrine hath merited eternal memory ; and when he had rid them out of the world, who only with learning and reason were able to resist his beastly appetite.‘ ,4. Did he not presume to take on him the Papal title and authority ; disposing bishoprics and benefices of the Church as Christ’s Vicar on earth; like as it is manifest he did unto his dying day?‘ ,5. The poor St. Thomas of Canterbury, alas! it sufficed him not to spoil and devour the great riches of the shrine, whose treasure amounted to so many thousand crowns; but, to be avenged on the dead corpse, did he not cause his bones openly to be burned?‘ ,6. And, consequently, all the places where God by his saints vouchsafed to show so many miracles, did he not cause them to be spoiled of their riches, jewels, and ornaments, and after clean destroyed, nor would not so much as suffer in those few churches that remained the light to burn before the images of God’s most holy saints?‘ ,7. The monasteries wherein God was continually served, did he not overthrow them, and take all their riches and possessions unto his own use; crucifying and tormenting the poor religious persons even unto the death, with whose goods he became more puissant in gold than any Christian Prince?‘ ,8. After the insurrection in the North, when he had pardoned the first rebellers against him, contrary unto his promise did he not cause a number of the most noble of them, by divers torments, to be put to death?‘ ,9. And not his first wife, but three or four more, did he not chop, change, and behead them, as his horse coveted new pasture, to satisfy the inordinate appetite of his lecherous will? Two of his wives he hath caused suffer death, and two remain yet alive.‘ ,10. Did he not persecute the Cardinal Pole, whose virtue and learning seemeth rare unto the world? And hath he not wrongfully murdered the Cardinal’s mother, his brother, and so many other nobles that it should all be too long to rehearse?‘ ,11. He hath by force subdued the realm of Ireland, whereunto he hath neither right nor title; and wasted, he hath, no small part of Scotland, with intent to subdue the whole without cause or reason.‘ ,12. Against all conscience, he hath moved war unto France, and by force usurped the strong town of Bollogne, which he keepeth unto this hour.‘ Loades (2007), MacCulloch (1995), Rankin/Highley/King (2009), Ridley (2002), Scarisbrick (1968), Starkey (1991a, 1991b, 2003, 2009, 2010), Stemmler (1991).
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,13. His daughter, the Lady Mary, that he had by his first wife, being one of the fairest, the most virtuous, and one of the gentlest creatures in all the world, is now grown to the age of thirty-two or thirty-three years, and, through his devilish obstinacy, could never be married.‘ ,14. And, finally, to finish his cruel life with bloody rage, now, a little before his death, hath he not beheaded the old Duke of Norfolk with his son, for what cause no man can tell? So that I wot not what Nero, what Dionysius, or what Mahomet may be compared unto him, in whom, towards God, rested no reverence of religion, nor, towards man, no kind of compassion; whose sword, inflamed by continual heat of innocent blood, and whose bottomless belly could never be satisfied through the throat of extreme avarice and rapine; whose inconstant mind, occupied with occasion of continual war, permitted not his quiet neighbours to live in peace; and, in conclusion, whose unreasonable will had place alway and in all things, against all equity and reason. Ah! if I would go about to declare at length the particular enormities that I have heard reported against him, a part whereof I have briefly recited unto you, I should give occasion of trouble to a whole world! But since this that I have said, is, I doubt not, sufficient to justify my purpose, I have thought it better with few words to let you know how manifest his tyranny was, than with long circumstance to occupy your quiet mind with the terror of so much cruelty as I could justly allege. Answer me now, who that will, for I am tired, not with talk, but with the remembrance of so many mischiefs as this reasoning representeth to my conscience: and yet one thing I have to say ; your King, being environed with the ocean sea, thought it impossible that the fame of his wicked life and doings should pass unto the firm land of other countries; and therefore the more hardily did enterprise the fulfilling of his devilish desires. But in that behalf he was no less deceived than blinded in his own errors; for not only his general proceedings, but also every particular and private part thereof was better known in Italy than in his own dominions, where, for fear, no man durst either speak or wink.‘
Der Kreis der Argumentation schließt sich damit: Der allgemeinen Definition des Tyrannen folgen 14 als rhetorische Fragen formulierte Einzelvorwürfe, die wiederum eine allgemeine, vernichtende Gesamtwürdigung Heinrichs VIII. beschließt: Der englische König habe als grausamer, selbstsüchtiger Tyrann nur seinen eigenen Lüsten gelebt und sein Volk mit brutaler Gewalt unterdrückt. William Thomas greift jeden einzelnen der Vorwürfe im Detail auf, widerlegt ihn mit seiner – wie er selbst immer wieder herausstellt – besseren Kenntnis des jeweiligen tatsächlichen Geschehens, und beendet auch seine Widerlegung mit einer Gesamtwürdigung Heinrichs VIII.. Zunächst einmal fällt auf, dass die Widerlegungen Thomas’ in aller Regel erheblich umfangreicher sind als die erhobenen Vorwürfe. Den in nur wenigen Zeilen erhobenen Vorwürfen (der Umfang variiert zwischen 3 und 25 Zeilen) stellt William Thomas jeweils sehr detailreiche Antworten gegenüber (der Umfang variiert hier zwischen 51 und 259 Zeilen).57 Allein schon diese quantitative Verteilung der Argumente für und 57 Die genauen Zeilenzahlen (gezählt nach der Edition von Froude) lauten: Punkt 1: It[alian]: 3
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gegen Heinrich VIII. spricht eine deutliche Sprache. Der Aufbau des Pilgrim spiegelt die apologetischen Absichten seines Verfassers nachdrücklich, und dies umso wirkungsvoller, als William Thomas auch auf alle Zwischenfragen der Italiener eine überzeugende Antwort zu geben versteht.58 Aber schauen wir uns die Verteidigung der Politik und Persönlichkeit Heinrichs VIII. durch die Figur William Thomas im Detail an.59
1. „the first wife […] did he not cast her off ?“ Erst nach einer längeren allgemeinen Einleitung zur gleichsam allgegenwärtigen Dichotomie von Schein und Sein (Pilgrim, 14–15) widerlegt William Thomas den von seinem italienischen Opponenten implizit erhobenen Vorwurf, Heinrich habe seine erste Ehefrau Katharina von Aragon aus niederen Motiven verstoßen. Allein schon die integre und überaus liebenswerte Persönlichkeit Katharinas spreche gegen eine solche böswillige Interpretation der Ereignisse (Pilgrim, 16): „[…] his Majesty became enamoured in her, both because of her rare beauty and also for her singular virtues, which seemed then more to flourish in her than in any other living woman“.60 Gott selbst habe dem König nach langen Ehejahren enthüllt (Pilgrim, 17: „But when the time came that God opened his Majesty’s eyes“), dass diese Ehe mit der Witwe des Bruders wider göttliches Recht geschlossen worden sei; Heinrich habe sich an den Papst um Hilfe gewandt, der diese allerdings (im Interesse seines eigenen, unersättlichen Geldbeutels)61 verweigerte. So sei die Ehe Heinrichs und Katharinas gemäß der höchsteigenen Worte Gottes (sc. Lev. 18,16 and 20,21) ordnungsgemäß annulliert worden (Pilgrim, 18):
58 59 60 61
[Zeilen] / T[homas]: 102 [Zeilen]; Punkt 2: It: 6 / T: 262; Punkt 3: It: 8 / T: 78; Punkt 4: It: 4 / T: 51; Punkt 5: It: 6 / T: 124; Punkt 6: It: 7 / T: 183; Punkt 7: It: 6 / T: 259; Punkt 8: It: 5 / T: 161; Punkt 9: It: 5 / T: 198; Punkt 10: It: 5 / T: 151; Punkt 11: It: 4 / T: 93; Punkt 12: It: 3 / T: 75; Punkt 13: It: 6 / T: 39; Punkt 14: It: 25 / T: 115. Da die Rolle und Aufgabe des Anwalts der Verteidigung schon in der antiken Rhetorik (vgl. e. g. Quint. Inst. V,13,2–3) als die sehr viel schwierigere (als die des Anklägers) konzeptualisiert wurde, mag auch dies die sehr unterschiedlichen Proportionen zwischen Anklagen / Vorwürfen und Rechtfertigung / Verteidigung mitbegründen. Vgl. Pilgrim, 27–28, 31, 37, 48–50, 54–55, 59–63, 65–66, 69–72, 74–76. Diese äußerst lebendigen Passagen akzentuieren zugleich als weitere Authentizitätssignale die fingierte Mündlichkeit des Dialogs. Im Folgenden greife ich auf einige Argumente und Ergebnisse aus Baumann (1992b) zurück. Vgl. zu Katharina von Aragon Quellen und Analysen bei Fox (2011), Mattingly (1950), Starkey (2003, 2009) und Travitsky (1997). Vgl. Pilgrim, 17: „But Clement, smiling in his heart at so meet an occasion, and thinking of this rich King to shear such another golden fleece as Jason conquered in Colchis, […]“.
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so that, in conclusion, his Majesty was divorced from the said Lady Katherine, not unlawfully by extorted power, either of the King himself or of any of his subjects, but lawfully by the true examination of the verity before such a judge as coveted rather to rule the King than to obey him: and it cannot be said that he did it privily, for all the world was present to the matter in question more than twenty months or ever it took effect.
2. „did he not disannul the authority of the Holy Roman Church?“ Selbstverständlich beseitigte Heinrich VIII. die Autorität des Papstes und der ,Holy Roman Church‘ in England, erwidert William Thomas, aber nicht aus persönlichen oder gar niederen Beweggründen. Alle Rechte, die der Papst oder die Römische Kirche in England in der Vergangenheit wahrgenommen und wortreich verteidigt hätten, seien nur angemaßt und widerrechtlich erworben. William Thomas wiederholt, so wird man zusammenfassen können, die wichtigsten Argumente Heinrichs VIII. und seiner Propaganda-Maschinerie gegen den Papst und die Römische Kirche aus den Jahren 1531 bis 1534.62 Aber mit diesen, im weitesten Sinne politischen Argumenten lässt es William Thomas nicht bewenden; immer wieder erhebt er Anklage gegen die moralische Verderbtheit der Römischen Kirche insgesamt und ihrer in die Scheidungsaffäre Heinrichs verstrickten Vertreter. Kardinal Campeggio, mit der Dekretal-Vollmacht des Papstes nach England gesandt, den juristischen casus der Ehe-Annullierung gemeinsam mit Kardinal Wolsey zu untersuchen, habe in England alles andere als ein gottgefälliges Leben geführt (Pilgrim, 19): „for Campeggio there in England demeaned himself in very deed most carnally in hunting of whores, playing at dice and cards, and sundry such other cardinal exercises“. Der Papst Clemens VII. sei – wie alle anderen Päpste auch – der wahre Sohn des Teufels, und demzufolge sei die Römische Kirche insgesamt zu einer moralisch zutiefst verderbten Institution degeneriert (Pilgrim, 27):63 ,I say,‘ quoth I, ,that she [sc. the ,Holy Roman Church‘] is an arrant whore, a fornicatress, and an adultress with the princes of the earth, and an express enemy of the 62 Vgl. Pilgrim, 19–29. Vgl. für die Entwicklung, Genese und historische Gründung der Argumente der Jahre 1531–1534 bes. die Edition der Divorce Tracts of Henry VIII (1988); vgl. die Analysen und Wertungen bei Baumann (2008a, 2008b), Bernard (1998, 1999, 2005), Duffy (1992), Elton (1972, 1985), Gregory (2012), Hutchinson (2007), Kelly (1976), MacCulloch (1996), Murphy (1984, 1995), Nicholson (1977), Rex (2006), Ryrie (2002, 2003), Sowerby (2013), Warner (1994, 1998). Vgl. ebenfalls Guy (1990), bes. 116–153 und Baumann (1991), bes. 58–110. Vgl. zu den persönlichen Glaubensüberzeugungen des Königs zuletzt Rex (2014). 63 Vgl. ebenso die folgende anschauliche Schilderung des Streits, der fast in Handgreiflichkeiten endet, ein weiteres Signal für die fiktive Authentizität des Dialogs (Pilgrim, 27–28).
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Father, Son, and Holy Ghost, and of the lawful Church, the Espouse of Christ; for as Christ, the Son of God, in lawful matrimony engendereth on His Holy Church, by the spawn of His blood spread on the cross, all the lawful begotten children of salvation in faith and charity, so the Pope, son of the devil, your god on earth, in fornication engendereth on your whorish Mother Church all the bastards of perdition that believe remission of sin in him by ignorance and superstition.‘
3. „the Cardinal of Rochester, and Thomas More […] did he not cause them to be beheaded?“ Die Tatsache der Todesurteile gegen Kardinal John Fisher, Bischof von Rochester, und Thomas More, ehemaliger Lordkanzler von England, leugnet William Thomas nicht; beide hätten sich allerdings nach den Entscheidungen des Englischen Parlaments über geltendes Recht hinweggesetzt.64 Der König habe schließlich, nachdem er über Monate hinweg alles versucht hätte, sie von ihrem Irrweg abzubringen, keine andere Wahl gehabt65 als die Todesurteile vollstrecken zu lassen (Pilgrim, 29–32). 64 Die moderne Historiographie beurteilt dies sehr viel differenzierter und versteht die Hochverratsprozesse und Todesurteile primär als politisch abschreckende Demonstrationen der Entschlossenheit des Königs, seinen Kurs konsequent fortzusetzen (vgl. e. g. Derrett (1972) und Schulte Herbrüggen (1983)); vgl. insgesamt auch die abschließende Wertung bei Baumann (1991), 99: „[…] alle so grausam hingerichteten Kartäuser und Franziskaner hatten die Autorität der Moral auf ihrer Seite. Gleiches gilt für Sir Thomas More, er hatte sogar das Recht auf seiner Seite. Anders sieht es bei Bischof John Fisher aus; er hatte sich nämlich tatsächlich des Hochverrats schuldig gemacht, wie ein allerdings erst viel später aufgefundenes Dokument belegt. Im Jahre 1533 hatte er über den kaiserlichen Gesandten Chapuys Karl V. gebeten, eine Armee auf die Insel zu entsenden und England mit einer militärischen Intervention vor der Ketzerei zu bewahren. Wie schon bei Heinrichs VIII. Regierungsantritt die Hinrichtungen der beiden Steuereinnehmer seines Vaters [sc. Edmund Dudley und Richard Empson], so waren auch die über die Kartäuser, John Fisher und Thomas More verhängten Todesurteile Akte kalkulierter Grausamkeit. Moralisch, darüber dürfte sich auch Heinrich keinerlei Illusionen hingegeben haben, waren sie nicht zu rechtfertigen; politisch zeigten sie mit zynischer Brutalität, was derjenige zu erwarten hatte, der sich dem Willen des Königs widersetzte. Heinrich VIII. als der letztlich Verantwortliche für diese Hinrichtungen erwies sich damit als machiavellistischer Herrscher, der Recht und Moral dem politischen Kalkül unterwarf“. Vgl. ebenfalls Guy (2014), 111f.: „Most notably, Thomas More, John Fisher and Carthusian priors were vindictively pursued and judicially murdered after what amounted to show trials for what were little more than crimes of the mind“. Vgl. zu Edmund Dudley, Richard Empson und der Finanzpolitik Heinrichs VII., von der sich Heinrich VIII. mit der Anklage, die Steuereinnehmer des Vaters hätten ihre Kompetenzen überschritten, distanzierte und zugleich damit die Pietät gegenüber dem Vater wahrte: Condon (2008), Cunningham (1995), Grummitt (1999, 2009), Gunn (2010) und Horowitz (1982, 2006, 2009a, 2009b). 65 William Thomas beruft sich auf ein in einer historischen Analogie gründendes Argument für Heinrichs Entscheidung (Pilgrim, 31–32): „his Highness, I say, fearing the example of his
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4. „did he not presume to take on him the Papal title and authority?“ Der König habe, so antwortete William Thomas, lediglich die ,weltlichen‘ Rechte des Papstes übernommen, d. h. insbesondere das Recht der Bischofsinvestitur, und dieses – so fuhr Thomas fort – zum Wohl des Landes (Pilgrim, 32). Die ,geistliche‘ Autorität des Papstes dagegen habe Heinrich ganz bewusst nicht in Anspruch genommen, da sie in der Vergangenheit die Kirche in Unmoral und Verderben gestürzt habe (Pilgrim, 32–33): For whereas the Pope, by his indulgences and jubilees, draweth the person unto idolatry to trust remission of sins in his beastly authority, and by dispensations encourageth men to commit perjury, adultery, fornication, usury, murder, and infinite other such, contrary to God’s commandment, the King hath not willed to transform himself into the idol of neither of these two cases by promising pardon of sins to them that believe in him, or by dispensing with the damnable doings of the wicked, but hath willed all men to be obedient unto the laws of justice, acknowledging himself to be less than a perfect man, and not more than a godly Christian, as the Pope presumeth to be:
5. „The poor St. Thomas of Canterbury […] did he not cause his bones openly to be burned?“ Wie schon bei den früheren Antworten leugnet William Thomas die Tatsache des königlichen Vorgehens gegen St. Thomas of Canterbury keineswegs; er begründet und rechtfertigt es jedoch sorgfältig mit einem ausführlichen Bericht über das Leben und die ,Heiligkeit‘ des Thomas Becket und mit dem politischen Missbrauch (gefälschte Reliquien und vorgetäuschte Wunder), der mit und an seinem Schrein getrieben wurde (Pilgrim, 33–37). Und erstmals zeitigen seine Argumente einen gewissen Erfolg; einer der Teilnehmer der Abendgesellschaft stimmt in seine Rechtfertigung Heinrichs VIII. ein (Pilgrim, 37): „,By my troth […] in this your King did as I would have done.‘“
predecessor, King John, […]. […] he [sc. King John] was one that being King of England more than 300 years agone, sought that time to confound the Pope’s usurped authority like as the last King had done; but because his bishops had at that time more power in his own realm than he, after seven years’ excommunication he was constrained to renounce his royal crown into the Pope’s hands; remaining private a certain space, he at length came on his knees before the Pope’s legate to be assoiled, and there thankfully received his crown again“. Vgl. zum historischen König John Lackland: Appleby (1965); Cheney (1982); Hollister (1961); und Holt (1963).
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6. „all the places where God by his saints vouchsafed to show so many miracles, did he not cause them to be spoiled of their riches, jewels, and ornaments?“ Mit einer ausführlichen Schilderung der Zustände in den Klöstern, der mit gefälschten Reliquien und vorgetäuschten Wunderzeichen von Seiten der Kirche bzw. ihrer Vertreter begangenen Schwindeleien und Verbrechen, widerlegt William Thomas auch diese Anklage gegen Heinrich VIII.; er wiederholt, so wird man zusammenfassen dürfen, einige Details aus den Berichten der Agenten Thomas Cromwells, die diese nach ihrer Visitation der Kirchenprovinzen in den Jahren 1535 und 1536 nach London geschickt hatten.66
7. „The monasteries […] did he not overthrow them?“ Wiederum stützt sich William Thomas in seiner Verteidigung des englischen Königs auf die Berichte der von Thomas Cromwell beauftragten Untersuchungskommission, deren Ergebnisse das Vorgehen Heinrichs gegen die Klöster mehr als rechtfertigte (Pilgrim, 43–44): […] for when the commissioners had taken upon them the charge of this examination, and began one by one to examine these friars, monks, and nuns upon their oaths, sworn upon the Evangelists, there were discovered hypocrisies, murders, idolatries, miracles, sodomies, adulteries, fornications, pride, and not 7, but more than 700,000 deadly sins. […] There was working of wonders; the friars and nuns were as whores and thieves in the open street, and there were saints that made the barren women bring forth children; unto whom there wanted no resort from all parts of the kingdom.
Aufgrund dieser Berichte habe das Parlament mit großer Mehrheit beschlossen, die Klöster, in denen die schlimmsten Verbrechen begangen worden wären, aufzulösen.67 Dem Einwand, dies alles wäre politisch sehr viel glaubwürdiger, hätte Heinrich nicht die Reichtümer der aufgelösten Klöster in die eigene Tasche oder die seiner getreuen Anhänger fließen lassen, vermag William Thomas ebenfalls Paroli zu bieten (Pilgrim, 50): „if all the substance had been converted to the poor, the poor should have become richer than the princes and nobles; […] and yet this is well true that his Majesty in divers provinces of the realm hath converted divers of these monasteries towards the bringing up of orphans and instruction of the poor“. Letztlich, so wird man die Argumentation des William Thomas resümieren können, dienten die Parlamentsgesetze gegen die Klöster 66 Vgl. eine Auswahl der Quellen, die natürlich ihre funktionalen Intentionen nicht leugnen können, bei Baumann (1991), 99–101. 67 Vgl. dazu die Quellen, detaillierte Analysen und Wertungen bei Betty (1989), Duffy (1992), Gregory (2012), Hoyle (1995), Knowles (1959), Woodward (1966) und Youings (1972).
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dem Wohle der Nation, indem sie Plätze der Unmoral und des Lasters beseitigten.
8. „After the insurrection in the North […] did he not cause a number of the most noble of them […] to be put to death?“ William Thomas bleibt auch in diesem Punkte seiner einmal eingeschlagenen argumentativen Marschroute treu. Mittels einer ausführlichen Schilderung der sogenannten ,Pilgrimage of Grace‘ (Pilgrim, 50–54) sucht er seine(n) Gesprächspartner zu überzeugen, dass der englische König sich korrekt, ja geradezu vorbildlich verhalten habe.68 Insbesondere versucht er die Behauptung zu widerlegen, Heinrich VIII. habe sein den Rebellen gegebenes Wort gebrochen (Pilgrim, 54): „So that they who were put to death suffered not for their first rebellion – that they were pardoned for – but for the second commotion, wherein was found a continuance of their prepensed malice, not so much (as I believe) against the King’s person, as against the light of the verity which their superstitious consciences would not allow“. Wie der Arzt am menschlichen Körper mit bisweilen schmerzhaften Mitteln die Gesundheit des gesamten Organismus69 wiederherstellen müsse, so wäre auch der König gezwungen gewesen, im Interesse seines Reiches, dem Bürgerkrieg, Anarchie und Krieg von außen drohten, die unbelehrbaren Rebellen mit Gewalt niederzuwerfen, das einzelne Glied im Interesse des gesamten Staatskörpers abzuschneiden.
9. „And not his first wife, but three or four more, did he not chop, change, and behead them […]?“ Diesem Vorwurf, insbesondere der Deutung, Heinrich VIII. habe seine Frauen geradezu nach Gutdünken gewechselt, wie es ihm seine sündhaft wollüstige Natur befahl, hält William Thomas die detaillierte Schilderung der jeweiligen Ehen des Königs entgegen; der König habe – wie es jedem anderen auch hätte widerfahren können – schlicht und einfach Pech mit seinen Ehefrauen gehabt (Pilgrim, 55–60): 68 Vgl. zur ,Pilgrimage of Grace‘ und auch früheren Rebellionen gegen Heinrich VII. und VIII.: Arthurson (1987, 1994), Baumann (2015b), Bartlett (2000), Fletcher (1973), Fletcher/Stevenson (1985), Hoyle (2001), James (2003), Liedl (1994), Mottram (2005), Valbuena (2003); Woods (1974) und Wroe (2004). 69 Vgl. zur berühmten Organismus-Metapher Barkan (1975); Demandt (1978), bes. 20ff.; Hale (1971); Peil (1983), bes. 302ff. und Peil (1985).
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,Now, as touching the King’s so many wives, whom he chopped and changed at his pleasure (as you say), the truth is, that he hath had a great many wives, and with some of them hath had as ill-luck as any other poor man; and I shall plainly tell you, from one to one, how the matters have passed. That gentle and virtuous Lady Katherine, his first wife, was divorced from him, as you have heard, because she had been wife unto his elder brother;70 and in effect, within two or three years after that the King was married anew, whether it were by consumption of thought, or by course of nature, I cannot tell, she yielded her spirit unto God, leaving none other fruit behind her but her daughter, that courteous Lady Mary, whom we have so often mentioned. Now, incontinently after that divorce, the King married his second wife, as I have said, named the Lady Anne Bolene, whose liberal life were too shameful to rehearse. Once she was as wise a woman, indued with as many outward good qualities in playing on instruments, singing, and such other courtly graces, as few women were of her time; with such a certain outward profession of gravity as was to be marvelled at. But inwardly she was all another dame than she seemed to be; for in satisfying of her carnal appetite, she fled not so much as the company of her own natural brother, besides the company of some three or four others of the gallantest gentlemen that were about the King’s proper person, who were all so familiarly drawn into her train by her own devilish devices, that it should seem she was always well occupied: the busy doing whereof gave the King great cause of suspicion; so that finding by search the imagined mischief to have effect, he was forced to proceed therein by way of open justice, where the matter was manifested unto the whole world, and the sentence given against them: insomuch that both she and her brother, and the four other gentlemen, were beheaded:71 for adultery in a King’s wife weigheth no less than the wrong reign of a bastard prince, which thing for a commonwealth ought specially to be regarded. And, besides this, it was laid to her charge, that she, with some of the rest, had conspired the King’s death, to avoid the danger of the wickedness which they perceived could not long be kept secret. And this second wife lived with the King about the space of four years, having issue a daughter by him named the Lady Elizabeth, which is at this present, at the age of fourteen years or thereabouts, a very witty and gentle young lady.‘
70 Vgl. zu Heinrichs älterem Bruder Arthur, dessen Name bereits die Hoffnungen expliziert, die Heinrich VII. in seinen Erstgeborenen setzte: Gunn (2009), Gunn/Monckton (2009) und Houlbrooke (2009); vgl. zur Artus-Tradition als nationaler englischer Herrschaftsmythologie für die propagandistische Selbstpräsentation Heinrichs VIII. und der Dynastie der Tudors insgesamt Quellen, Analyse und Wertungen bei Baumann (2005), Jansen (1990) und Starkey (1998). Vgl. insgesamt zu den Anfängen der Tudorherrschaft: Cavill (2006), Cunningham (1995), Davies (1987), Grummit (1997, 1999, 2000), Gunn (1991, 2002), Horowitz (2009a, 2009b), Penn (2011). 71 Die moderne Geschichtsforschung sieht auch den casus der Anne Boleyn sehr viel differenzierter, wobei es gute Gründe gibt anzunehmen, dass sie – soweit die Details heute noch (re-)konstruierbar sind – im Sinne der Anklage (Ehebruch und Hochverrat) unschuldig war, sie vielmehr zu einem Opfer der politischen Machtkämpfe am Hof, insbesondere der Ambitionen Thomas Cromwells geworden ist (vgl. die wichtigsten Quellen, Analysen und Argumente bei Bernard (2010), Ives (1986, 1994, 2004) und Warnecke (1985, 1987, 1989, 1995, 1999, 2004)). Vgl. insgesamt zu Anne Boleyn auch: Freeman (1995), Kipling (1997), Norton (2009), Osberg (1998), Sowerby (2012) und Starkey (2003).
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,Now when the first wife was dead and the second beheaded, then was the King undoubtedly clear of all sides; and in that estate took to wife the Lady Jane Seymour, one of the humblest and chastest maidens in the world, replete of all beauty and wisdom; who, living in perfect and loving matrimony with his Majesty the term of eighteen months or thereabouts, brought into the world that happy Prince Edward that now succeedeth the father unto the crown, in whose birth she died; a death surely much lamented of all the King’s subjects, as few the like, for a woman, hath ever been heard of.‘ ,But to be brief. After her death the King remained a widower almost two years, till at length, upon agreement, he coupled with the sister of the Duke of Cleves, with whom he continued half a year, until information was brought him that she, the Lady Anne of Cleves, had been troth plight before with the Duke of Lorraine his son. And this report went sore unto the King’s heart, who loved this woman out of measure; for why? her personage, her beauty, and gesture did no less merit it. But when he understood that she was indeed another man’s wife, what for his own conscience, and what for respect of the inconvenience that in this case might follow unto his succession, he called his Parliament, where, after long reasoning and proof, concluding that the promise made between man and woman is it that maketh the marriage between husband and wife, and not the ceremony of the temple, his Majesty was there openly divorced from her. Howbeit, for the singular love he bare unto her, he offered her liberty to remain in England at his honourable provision, or to return into her country with worthy reward. So that she, electing England’s provision, was appointed by his Majesty unto four excellent fair palaces, with all kinds of commodities, and better than 20,000 crowns of yearly revenue; wherein she liveth like a Princess as she is.‘ ,And thus separated from her, he married his fifth wife, named Katherine, of the house of Norfolk, a very beautiful gentlewoman, and, to worldly judgment, a very virtuous and chaste creature, though in effect the contrary was found afterwards. For ere ever she continued two years the King’s wife, it was heard that before her marriage she had contaminated her virginity, and afterwards committed, or, at the leastwise, sought means to commit, adultery. So that, in conclusion, she and two other gentlemen with her, after condemnation before the justice, were beheaded. And finally, this his last wife, likewise named Katherine, was married unto him a widow, after that she had been wife unto two noble barons of the realm, deceased. And it is thought that his Majesty married more for the same proof of her constant virtue than for any carnal desire. For, remembering the dishonour that he had received by the lightness of his other two wives beheaded, he thought now good to fasten upon an approved dame, as he did indeed: for this lady hath lived thirty-three or thirty-four years without spot of blame, how well she is right fair and excellent, proportionable of body, beloved of all creatures, and courteous as may be, whose fortune hath had place to see the death of that husband that had seen the death so many wives. And, amongst all the happy successes that the said King hath had in this life, I reckon this one of the special, that, after so many changes, his glorious chance hath brought him to die in the arms of so faithful a spouse.‘ ,The discourse of these wives,‘ said one of the gentlemen, ,is a wonderful history. But one thing maketh me to marvel,‘ said he, ,that when those wives had so offended the King, he did not rather rid them by some fair means out of the way secretly, than so openly to manifest his own dishonour to the world.‘ ,I shall tell you why,‘ said I. ,In such things his Majesty had as upright a conscience as
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any living man; and, I dare say, would not have consented unto the murder of one of them secretly for all the goods of the world. And, again, he esteemed not the dishonour of the matter, since the fault proceeded from the woman, who for the same suffered open punishment; so that he accounted himself always clear before God and man. And thus hath he had six wives, whereof two have died in their beds, two have suffered for adultery, and two are yet living (as you say). But the one of them, you must consider, was the first wife before God of the Duke of Lorraine’s son, as I have said before, and not unto the King. So that he that would learn the truth of matters must covet to know as well the contra as the pro, or ever he can judge well. For he that giveth credit unto the first information without hearing the answer, is most commonly deceived: and so were you, master mine,‘ said I to my Contrary. ,Good faith,‘ said he, ,I cannot tell what I should say ; for the reports that I have rehearsed I have heard them of credible persons and of men of good intelligence, who persuaded me undoubtedly to believe as I have said. And though I have now well heard your answer, yet am I not fully persuaded; for methinketh you have set many things forth to the largest: whether they be true or not, God knoweth, for they pass my capacity.‘ ,At the largest!‘ said I; ,that is true, for I speak without respect. But here you may see what difference there is between knowledge and hearingsay. Because I know indeed, therefore I am sure of it that I speak; and because you know none otherwise but by report, therefore are you from your surety come now to doubt of your truth. Wherefore I pray God, if it be His will, so to open your heart that you be not among the number of them to whom God giveth eyes without sight and ears without hearing, to the end they should not understand the remedy of His grace.‘
Der Informationsreichtum muss in diesem Falle die Länge des Zitats entschuldigen. William Thomas rekapituliert nicht nur mit vielen Details die Geschichte der sechs Ehen Heinrichs VIII., er entwirft zugleich ein pointiertes Charakterbild des Königs und er entwickelt seinen Gesprächspartnern gegenüber eine interessante Theorie der historischen Wahrheitsfindung. Die öffentlichen Anklagen wegen Ehebruchs und Hochverrats gegenüber Anne Boleyn und Katherine Howard sprächen eindeutig für den lauteren Charakter Heinrichs, der immer im Rahmen der Legalität72 und in völligem Einklang mit seinem Gewissen gehandelt habe. Besonders die letzte Aussage ist bemer72 Vgl. die folgende moderne Beurteilung der Politik Heinrichs VIII. (Suerbaum (1989), 85): „Es ist bequem und üblich, Fälle von Unrecht […] durch den Vergleich mit blutigeren Ereignissen in Frankreich oder Deutschland zu relativieren und die Schuld zu lokalisieren, indem man sie ganz auf die Perfidie Cromwells und die Grausamkeit Heinrichs schiebt. Wir sollten aber nicht verdrängen, dass ein beträchtlicher Teil der herrschenden Schicht sich durch aktive Hilfe bei Heinrichs Schafottpolitik mitschuldig gemacht hat. Heinrich VIII. war ein Fetischist der Legalität. Alle Todesurteile, ob sie angeblich verräterische Politiker oder angeblich untreue Königinnen betrafen, wurden von Tribunalen aus Aristokraten und Amtsträgern verhängt, die sehr wohl in der Lage waren, die mangelnde Stichhaltigkeit oder Farcenhaftigkeit vieler Anklagepunkte zu durchschauen. Man duckte sich, man schwieg, man machte mit“.
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kenswert, indem sie Heinrich VIII. in all seinen Taten ein vollständig ruhiges Gewissen zuschreibt, wie die ins Allgemeine gewendete Formulierung (Pilgrim, 59: „In such things his Majesty had as upright a conscience as any living man“) akzentuiert.73 Vielleicht noch bedeutsamer sind jedoch die Thesen William Thomas’ zur Rekonstruktion historischen Geschehens. Seinem italienischen Dialogpartner, der eingestandenermaßen selbst nie in England war und sich in seiner historischen Kenntnis auf Berichte anderer verlassen muss,74 hält er entgegen, es gäbe einen großen Unterschied zwischen historischer Erkenntnis auf der Grundlage von Wissen (knowledge) und derjenigen, die nur auf Hörensagen (hearingsay) beruhe (Pilgrim, 60): „But here you may see what difference there is between knowledge and hearingsay. Because I know indeed, therefore I am sure of it that I speak; and because you know none otherwise but by report, therefore are you from your surety come now to doubt of your truth“. Dies ergänzt und konkretisiert die eingangs des Büchleins formulierte Absicht des Verfassers, sein Buch auch zum Nutzen derjenigen Leser veröffentlichen zu wollen, deren historische Kenntnis über Heinrich VIII. und seine Regierungszeit in erster Linie auf Gerüchten beruhe (Pilgrim, 4: „but also for the general satisfaction of them whose ears may happen to be occupied with unjust and false rumours“). Gegenüber seinem italienischen Opponenten beruft sich William Thomas auf knowledge (Pilgrim, 60: „Because I know indeed, therefore I am sure of it that I speak“), die seine Deutung der Geschichte auf jeden Fall über die bloßen Berichte anderer hinaushebe. Worauf jedoch gründet diese knowledge? Eine eindeutige Antwort darauf bleibt William Thomas dem Leser schuldig, sie lässt sich allerdings aus dem Zusammenhang erschließen. Die eingangs des Büchleins betonte Absicht, den falschen und ungerechtfertigten Gerüchten über Heinrich VIII. eine eigene detaillierte Schilderung entgegenzustellen, die sich auf persönliches Erleben und authentische Informationen stützt, und die explizit herausgestellte Vorsicht in der historischen Urteilsfindung (Pilgrim, 60: „So that he that would learn the truth of matters must covet to know as well the contra as the pro“) weisen 73 Schon während der publizistischen Propaganda-Offensive ab 1531 hatte sich Heinrich VIII. wiederholt auf sein Gewissen berufen, sein durch den Heiligen Geist instruiertes Gewissen („instinctu spiritus sancti“ (The Divorce Tracts of Henry VIII (1988), 266/11–12) sage ihm, dass er (mit Katharina von Aragon) in einer ,inzestuösen, widernatürlichen‘ Ehe lebe und geböte ihm, auf jeden Fall dem Gewissen zu folgen. Vgl. allgemein zur Konzeption des Gewissens die Untersuchungen von Hein (1999) und zur gefährlichen Nähe solcher Argumentationen, die eigene Interpretation der Heiligen Schrift gegen die Tradition auszuspielen, zu reformerischen Positionen Baumann (2008a und 2008b). 74 Vgl. Pilgrim, 9: „,But tell me, I pray you, have you ever been in England?‘ ,No,‘ said he, ,but in Picardy I have been, and also in Flanders, where by report I have known all the proceedings in England, and known them so well that in every point I should be well able to defend both with reason and force against you, not only that I have said, but much more, if need were‘“.
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allesamt in die gleiche Richtung: William Thomas begreift sein Büchlein über Heinrich VIII., insbesondere die Darlegungen der Dialogfigur William Thomas, als Werk der humanistischen Historiographie, die als Zeugnisse mit dem höchsten Autoritätsanspruch die Aussagen von Augen- und Ohrenzeugen, von Zeitgenossen wertet, nachdem diese wie vor Gericht sorgfältig hinsichtlich ihres Wahrheitsanspruchs geprüft worden sind.75 Nicht nur in diesem Abschnitt über die Geschichte der sechs Ehen des englischen Königs beruft sich William Thomas auf seine – den Informationen vom Hörensagen (hearingsay) der Italiener – weit überlegene Kenntnis der tatsächlichen Zusammenhänge, die er seiner knowledge verdankt. Diese knowledge wiederum gründet in dem Prinzip der Autopsie und dem kritischen Urteilsvermögen, im Einzelfall auch einander widersprechende Informationen abzuwägen, um die historische Wahrheit (Pilgrim, 60: „the truth of the matter“) aus den jeweiligen Berichten herauszufiltern.
10. „Did he not persecute the Cardinal Pole […] and hath he not wrongfully murdered the Cardinal’s mother, his brother, and so many other nobles?“ Die apologetische Strategie des William Thomas ist wiederum die schon mehrfach beobachtete: Durch eine ausführliche Schilderung der Vorgeschichte und des tatsächlichen Geschehens um die Familie Cardinal Poles relativiert er den Vorwurf seines Diskussionsgegners. Nicht die Anverwandten Cardinal Poles habe Heinrich VIII. in den Tower geworfen und schließlich nach Prozess und Urteilsspruch enthaupten lassen, sondern geständige Hochverräter, die erwiesenermaßen mit den Äbten von Reading und Glastonbury gemeinsam gegen den König und sein Reich konspiriert, und sogar den Aufstand im Norden, die ,Pilgrimage of Grace‘, mitfinanziert hätten (Pilgrim, 64–65).76 Cardinal Pole selbst, so William Thomas, hätte mit vielen Briefen, von denen einige in die Hände des Königs gelangt seien, seine Familie zu dieser Verschwörung ermuntert (Pilgrim, 64), von einer böswilligen, oder ungerechtfertigten Verfolgung der Pole-Familie könne daher keine Rede sein.77 Und wiederum benutzt 75 Vgl. nochmals die Quellen und weitere Literatur in Landfester (1972), bes. 105–108; Heinrich (1987), bes. 48–51; Kessler (1971), bes. 17–25. Vgl. oben 181, Anm. 37. 76 Vgl. zu Reginald Pole insbes. Mayer (2000, 2008b); vgl. Guy (2014), 112: „In the 1530s, fear of Yorkist conspiracy as represented by Reginald Pole and his relatives was linked in his [sc. Henry’s] mind to fear of papal conspiracy“. Vgl. zur ,Pilgrimage of Grace‘ nochmals oben 193, Anm. 68. 77 Vgl. Pilgrim, 65: „,These be things,‘ said my Contrary, ,that I never heard of.‘ ,No,‘ said I, ,there blow so many winds between the Alps and the ocean sea, that the true air of England can never arrive here into Italy uncorrupted.‘“
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William Thomas den einzelnen Vorwurf, um sein methodisches Anliegen zu verdeutlichen (Pilgrim, 62): „But you must consider that I now defend not only a King’s honour, but also the quiet of a whole realm, against such lewd and false reports as are sufficient to corrupt a whole world of good consciences, and to move sedition between brother and brother“.
11. „He hath by force subdued the realm of Ireland, […] and wasted, he hath, no small part of Scotland“ Mit einem bemerkenswert kurzen Bericht (Pilgrim, 66–69) über die Geschichte der irisch-englischen und schottisch-englischen Beziehungen der letzten drei Jahrhunderte, und mit der Stilisierung von Iren und Schotten zu Barbaren, rechtfertigt William Thomas die – modern gesprochen – imperialistischen Ambitionen Heinrichs VIII.78
12. „Against all conscience, he hath moved war unto France, and by force usurped the strong town of Bollogne“ Selbstverständlich habe Heinrich gegen Frankreich Krieg geführt, aber keineswegs „against all conscience“, sondern lediglich, um die ihm zustehenden und seit einem gutem Jahrzehnt nicht mehr gezahlten Gelder einzutreiben.79 Im übrigen, so fährt William Thomas mit seiner Verteidigung Heinrichs fort, habe der französische König mit seiner Verweigerung der Tributzahlung die königliche Autorität des englischen Königs in Frage gestellt;80 mit einem Wort, wiederum nutzt William Thomas die eigenen, detaillierten Kenntnisse der historischen Zusammenhänge, um das einzelne Ereignis zu beurteilen und den englischen König gegen den Vorwurf, gegen alles Recht in Frankreich eingefallen zu sein, in Schutz zu nehmen. 78 Vgl. historische Analyse und Wertungen insbes. bei Berg (2013), 112–142. 79 Vgl. insges. zu den spätestens seit dem Hundertjährigen Krieg traditionell ,belasteten‘ Beziehungen zwischen England und Frankreich Baumann (1991), 25–41 und 119–130; Guy (1990), 80–94 und 183–193; Berg (2013), 99–112. Vgl. ebenfalls Grummit (1997, 2000, 2002) und Gunn (2002). 80 Vgl. Pilgrim, 70: „that is to say, that the French King and his successors should perpetually pay unto the crown of England 50,000 crowns, or thereabouts, of yearly tribute; and should have, and should leave also, the title of King of France unto the Kings of England; by authority whereof the King of England writeth unto this day himself Rex Angliae et Franciae, and the French King writeth Rex Francorum. And this tribute hath the French King foreborne to pay these sixteen or seventeen years past, so that I thought it worth the reckoning among other debts“.
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13. „His daughter, the Lady Mary, […] through his devilish obstinacy, could never be married“ Dem Vorwurf, Heinrich VIII. habe aus niedrigsten persönlichen Gründen („devilish obstinacy“) eine mögliche Heirat seiner Tochter Mary verhindert, hält William Thomas nur in aller Kürze die politischen Gründe entgegen, die Heinrich geleitet hätten, seine Tochter nicht zu verheiraten (Pilgrim, 72): ,two several respects moved him thereto: the one, that to marry her to any one of meaner estate than her degree required, it should have been a great blemish to her and her honours; and the other, that to marry her to a high personage until his son, the King that now is, were established in his realm, it might have been occasion of some civil sedition or impediment of his son’s quiet dominion. And were not, trow you, these considerations good?‘ ,Yea,‘ said my Contrary, ,since this son was born; but before?‘ ,Before,‘ said I, ,he ever hoped to have a son; and then, also, was his divorce fresh and new, which allowed him not at that time to dispose her in marriage.‘
14. „And, finally, to finish his cruel life with bloody rage, […] hath he not beheaded the old Duke of Norfolk with his son, for what cause no man can tell?“ Bei diesem konkreten Vorwurf kann sich William Thomas – wie sein italienischer Dialogpartner durchgängig – nicht auf durch Autopsie gewonnene knowledge stützen, wie er gleich zu Anfang seiner Erwiderung ausführt (Pilgrim, 72): „[…] I must answer you by the same hearsay that you have opposed me; since, being in Italy, mine ears on matters of England have more power than mine eyes“. Dennoch verteidigt er höchst wirkungsvoll den englischen König gegen den Vorwurf der persönlichen Grausamkeit, indem er etliche Gerüchte und Soldatengeschwätz so geschickt kombiniert, dass der solcherart evozierte Eindruck, der Herzog von Norfolk und der Graf von Surrey hätten gegen den König konspiriert, die Anklagen und die Urteilssprüche rechtfertigt (Pilgrim, 72–75). Und wie sein italienischer Opponent seine Anklagen gegen Heinrich VIII. rhetorisch geschickt mit einer Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des englischen Königs abrundete (Pilgrim, 12: „So that I wot not what Nero, what Dionysius, or what Mahomet may be compared unto him, in whom, towards God, rested no reverence of religion, nor, towards man, no kind of compassion“), so lässt auch William Thomas seine Antwort in eine prägnante Gesamtwürdigung Heinrichs VIII. einmünden, die er selbst ganz bewusst als Ergebnis (conclusion) seiner Darlegungen bezeichnet und die zugleich das Büchlein insgesamt beschließt (Pilgrim, 78–81):
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,But let me these trifles pass, to come unto a conclusion of our King, whose wisdom, virtue, and bounty my wits suffice not to declare: of personage he was one of the goodliest men that lived in his time, very high of stature, in manners more than a man, and proportionable in all his members unto that height; of countenance he was most amiable, courteous and benign in gesture unto all persons, and specially unto strangers; seldom or never offended with anything, and of so constant a nature in himself, that I believe few can say that ever he changed his cheer for any novelty how contrary or sudden soever it were. Prudent he was in council and forecasting; most liberal in rewarding his faithful servants, and ever unto his enemies as it behoveth a Prince to be: he was learned in all sciences, and had the gift of many tongues; he was a perfect theologian, a good philosopher, and a strong man at arms; a jeweller, a perfect builder as well of fortresses as of pleasant palaces; and from one to another there was no necessary kind of knowledge from a king’s degree to a carter’s but that he had an honest sight in it. What would you I should say of him? He was undoubtedly the rarest man that lived in his time. But I say not this to make him a god, nor in all his doings I will not say he hath been a saint; for I believe with the prophet, non est justus quisquam, non est requirens Deum, omnes declinaverunt, simul inutiles facti sumus, non est qui faciat bonum, non est usque ad unum. I will confess that he did many evil things as the publican sinner, but not as a cruel tyrant, or as a pharisaical hypocrite; for all his doings were open to the whole world, wherein he governed himself with so much reason, prudence, courage, and circumspection, that I wot not where – in all the histories I have read, to find one private king equal to him; who in the space of thirty-eight years’ reign never received notable displeasure, how well that at one selfsame time he hath had open war on three sides; that is to say, with France, Scotland, and Ireland; insomuch that being in person with his army in France, he hath had a bloody battle stricken in the Borders, between him and the Scots, of 70,000 or 80,000 men, whereof his perpetual good fortune granted him most famous victory, with the triumph over his enemy the Scottish King, slain in that battle. And, finally, mark well this proof; the perfect present author for an extreme example of a happy man can allege no greater than Polycrates Samian, who for all his prosperous days, finished his life nevertheless in mischief in the cruel hands of his enemies; whereas this King Henry the 8th not only hath lived most happily, but also hath died most quietly in the arms of his most dear friends, leaving for witness of his most glorious fame the fruit of such an heir as the earth is scarcely worthy to nourish, who, I trust, shall with no less perfection reform the true church of Christ, not permitted by his said father to be finished, than as Solomon did the true Temple of Jerusalem, not granted to David in the time of his life. For who would speak against the dead King Harry might much better say he did see with but one eye, and so accuse him for lack of putting an end to the reformation of the wicked Church than for doing of the things he hath done against the apostolical Roman law. And who will consider well the discourse of the truth shall find the root of all the rehearsed mischiefs (if mischiefs they may be called) to have grown either in the bosom of the Pope, of the cardinals, and of their prelates and ministers, or else of those superstitous lay people, as they call them, who have borne more faith unto the members of the malignant Church than unto the true God Himself. So that to make a just exclamation, you ought to cry out against the exterminate tyranny of your whorish Mother Church, and say – Oh you Romans, oh Bollognese, oh Ravennates, or Parmesans, or Placentines, or Avignons, how can you
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thus abide, not only to be oppressed with so many customs, taxes, and tallages, that the poor can find no food, but also to have your blood drawn even unto death? Oh commonwealth of Florence, why suffered thou Pope Clement to take from thee thy liberty? And thou Duke Cosmo di Medici, how canst thou suffer those friars of St. Mark, proved for open ribalds, to dwell in thine own house in thy despite? No, no, I will forbear to speak of any other things that I could allege as good as this; which indeed are so manifest rebellions, or rather tyrannies, against their just and lawful Princes, that they cannot be denied, and yet is there no man that dare once speak or open his mouth against those ribalds. But it may chance the Turk will come one day to put the office of Christian Prince in execution, since they themselves will not attend unto it. How say you, my masters (quoth I), are these things true or not?‘ ,They be true.‘ answered they all; and passing from one matter to another whilst the time of supper approached,81 we fell into divers talk of things too long now to rehearse; […].
William Thomas präsentiert Heinrich VIII. als Inbegriff menschlicher Schönheit und als fleischgewordene Verkörperung herrscherlicher Tugenden. Die – auch von vielen anderen Zeitgenossen82 – gerühmten körperlichen Vorzüge Heinrichs machen den englischen König für William Thomas zum Idealbild des Herrschers, der die klassische Konzeption der ,Kalokagathia‘ in hohem Maße erfüllt. Dieser äußerlichen Schönheit des Königs entsprechen die im Laufe seiner gesamten Regierungszeit immer wieder bezeugten Herrschertugenden: temperantia, prudentia, und fortitudo. Mit einem Wort, Heinrich VIII. verfügt für William Thomas über alle Charakterzüge, die zeitgenössische Fürstenspiegel dem idealen Herrscher zuschreiben.83 Und doch verschweigt es auch William 81 William Thomas scheint vergessen zu haben, dass er zu Beginn seines Büchleins das ganze Gespräch in die Zeit nach dem Abendessen verlegte (Pilgrim, 4): „After supper on an evening, sitting by the fire in company of seven or eight gentlemen in a rich merchant’s house in Bonony, […]“. 82 Vgl. e. g. exemplarisch die Krönungsepigramme des Thomas Morus (Thomas More (1984), Ep. 19–23); vgl dazu Baumann (1984), 50–54; Lüsse (1992); Rundle (1995). Vgl. insgesamt die Quellen und Analysen in Scarisbrick (1968), 5–11, Baumann (1991), 10–25; Starkey (2009). Vgl. ebenso das abschließende Resümee in Stemmler (1991), 81: „Neun Ansichten von Heinrich VIII. [sc. Der Athlet, Der Wohlerzogene, Der Theologe, Der Mediziner, Der Schiffsnarr, Der Bauherr, Der späte Ritter, Der Musiker, Der Briefschreiber] gewährten uns Einsicht in sein Leben. Neunmal haben wir den Koloss umkreist und versucht, ihm durch beharrliche Beobachtung näherzukommen. Jede dieser Einkreisungen ließ eines seiner Talente erkennen und machte seine Maßlosigkeit sichtbar – im Guten wie im Schlechten. Unter der dunklen Patina vieler Jahrhunderte kam ein Bild zum Vorschein, das zwar fleckig ist, doch heller als frühere Porträts. Ein Mensch wurde sichtbar. Ein in der Kindheit Beschädigter – wie viele. Ein Hypochonder – wie viele. Ein Liebender – wie viele. Doch ein Athlet, Reiter, Schütze, Tänzer, Schiffsnarr, Bauherr, Musiker – wie kaum ein anderer. Und auch brutal und wüst und verschwenderisch – wie seine Zeit“. 83 Vgl. die reichen Materialien, die kaum mehr überschaubaren Primärtexte, Analysen und Wertungen in Anton/Mühleisen/Baumann (2000); Mühleisen/Stammen (1990, 1997) und Singer (1989).
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Thomas nicht, dass Heinrich VIII. fehlbar und sündhaft war, aber eben so sündhaft wie jeder andere Mensch auch („I will confess that he did many evil things as the publican sinner, but not as a cruel tyrant“).84 Für all seine Handlungen – dies bewertet William Thomas uneingeschränkt positiv – legte Heinrich VIII. der Öffentlichkeit seine Motive vor, und diese bräuchten auch das Licht der Öffentlichkeit nicht zu scheuen. Insgesamt, so wird man die Analyse der Dialogfigur William Thomas, deren Ansicht vielleicht nicht in jedem Detail mit der des Verfassers William Thomas übereinstimmen muss, zusammenfassen dürfen, bewies der Heinrich allenthalben und überall zuteilgewordene Erfolg im politischen Leben, dass der König sich zeit seines Lebens der besonderen Gnade Gottes erfreuen konnte („[…] I wot not where – in all the histories I have read, to find one private king equal to him“). Heinrich VIII. durfte, und dies ist für William Thomas ein bedeutsamer Beweis der göttlichen Gnade, sein Leben mit einem friedvollen, gezähmten Tod beschließen („but also hath died most quietly in the arms of his most dear friends“).85 Die einzige wirkliche Kritik an Heinrichs Regierung, die William Thomas vorzubringen hat, ist genau das, was nur wenig später John Foxe, der berühmte protestantische Propagandist an Heinrich auch rügen sollte, dass der englische König es nämlich versäumt hätte, die Reformation in England energisch voranzutreiben.86 84 Vgl. hierzu eine ausgewogene, moderne Wertung (Guy (2014), 110–115): „Henry held deep convictions and had a genuine desire to change Christendom for the better both before and after he quarrelled with the pope. As a younger man, he was relatively open to advice, but this changed radically in middle age. […] By the closing months of his reign when he turned on the Earl of Surrey and his father, the atmosphere at Court was as claustrophobic and inwardlooking as anything in the final years of his father’s reign, with courtiers and servants alike fearing spies and informers. […] Henry’s rule was increasingly autocratic and his insistence on unquestioning obedience could verge on tyranny. […] But although Henry behaved in ways that to modern eyes appear egoistical and arbitrary, he truly believed that his will was law. Once Foxe and Cranmer had convinced him that the King of England really was Christ’s deputy, he believed he had a special relationship with God and saw himself as a patriarch as much as a king, hence the ease with which he became mesmerized by his own legend. Despite this, his rule was never despotic. He was careful to use Parliament and the courts to legalize his break with Rome, and would never have thought of doing otherwise. […] Of Henry’s strengths, the most notable were his ability to lead and inspire men, and his willingness to promote servants of low birth such as Wolsey and Cromwell to the highest positions because their talents deserved it. Of his character deficiencies, the greatest were his insatiably greed and invasive demands of allegiance. But for all his self-contradictions, Henry VIII was still the most remarkable ruler ever to sit on the English throne“. 85 Vgl. zur Konzeption des gezähmten Todes Aries (1980), bes. 13–42. 86 Für William Thomas ist die Vollendung der Reformation in England Aufgabe für Edward VI. und damit wird dieser Nachfolger Heinrichs VIII. ebenfalls zum sichtbaren Zeichen der Gnade Gottes (Pilgrim, 80: „[…] leaving for witness of his most glorious fame the fruit of such an heir as the earth is scarcely worthy to nourish, who, I trust, shall with no less perfection reform the true church of Christ, not permitted by his said father to be finished, than as Solomon did the true Temple of Jerusalem, not granted to David in the time of his
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Nicht nur diese abschließende Gesamtwürdigung Heinrichs VIII. macht William Thomas’ The Pilgrim zu einem bedeutenden Dokument der Rezeptionsgeschichte;87 der Dialog The Pilgrim vermittelt ein authentisches Bild des englischen Königs und seiner Regierungszeit aus der Perspektive eines gebildeten, informierten Zeitgenossen, der auch aus seinen persönlichen Vorlieben und Abneigungen, etwa gegen die ,Holy Roman Church‘, kein Hehl macht. William Thomas bietet auch dem heutigen Leser, der mittlerweile die Vorzüge der sogenannten oral history für die Geschichtsforschung, speziell für Fragen der Mentalitätsgeschichte, wiederum zu schätzen begonnen hat, ein faszinierendes Beispiel für eine solche Darstellung. Sie ist als historische Darstellung, wie es der Herausgeber J. A. Froude schon 1861 formulierte, in manchem Detail zwar ungenau, aber insgesamt doch repräsentativ :88 The particulars of such an account would be often inexact, but the outline and effect would represent the impression generally current in the country ; and in that way, and to that degree, I believe the writer of The Pilgrim to represent to us the popular view of the conduct and character of Henry the Eighth, as received in England at the time of his death.
William Thomas’ The Pilgrim ist darüber hinaus, und dies akzentuiert seine bisher unterschätzte Bedeutung nachdrücklich, ein Werk, das sich selbst in die Tradition der humanistischen Historiographie stellt. Der Dialog zwischen den namenlos bleibenden Italienern und William Thomas wird zum Streitgespräch zwischen demjenigen, der sich mit dem bloßen Aufzählen von Fakten begnügt, die er eingestandenermaßen nur vom Hörensagen kennt, und dem humanistischen Historiker und Historiographen William Thomas. Die Dialogfigur William Thomas bemüht sich – mit Erfolg – die bloßen Fakten durch das Hinzufügen der oftmals nicht überlieferten menschlichen Pläne, Wünsche, Intentionen und Hoffnungen zu ergänzen und zu überformen. Die dazu nötige knowledge bezieht William Thomas, wie er immer wieder betont und wie es der Theorie humanistischer Historiographie entsprach, aus der eigenen, unmittelbaren Ohren- und Augenzeugenschaft. Obwohl die Dialogfigur William Thomas
life“). Die historische Analogie, die Thomas für Heinrich VIII. und Edward VI. wählt (David und Salomon), wird zum letzten rhetorischen Element seiner apologetischen Intentionen und führt gleichzeitig zurück zu den eingangs geschilderten Motiven, die ihn veranlassten, den im Auftrag der göttlichen Vorsehung und mit der Gnade Gottes agierenden König gegen ungerechtfertigte Vorwürfe zu verteidigen. Vgl. insgesamt und auch speziell zu John Fox: Escobedo (2009), Freeman (1995), Guy (2013, 2014), King (1994), Rankin (2007), Rankin/ Highley/King (2009) und Smart (1986, 1988). 87 Vgl. Wolff (1972), bes. 42–45. 88 Froude, ix.
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bisweilen als encomiastes89 Heinrichs VIII. agiert, ist das Büchlein in seiner Gesamtkonzeption keineswegs nur eine laudatio oder ein panegyricus auf den englischen König, wie die ausführlich berichteten Angriffe und Vorwürfe der Italiener bezeugen.90 Das ganze Büchlein jedoch verfolgt, wie bereits eingangs unzweideutig formuliert, eine didaktische Zielsetzung (Pilgrim, 4: „but also for the general satisfaction of them whose ears may happen to be occupied with unjust and false rumours“)91 und erweist sich somit auch insgesamt als Werk humanistischer Historiographie, wie dann der Epilog mit seiner direkten Leseranrede nochmals expliziert:92 […] and albeit, gentle reader, that unto the proof of my purpose in this one disputation, I did truly allege many more reasons than in this my little book are written, which, in case of scrupulous doubt, might perchance some time more perfectly have guided thee unto true knowledge, yet shall I beseech thee in that behalf not to accuse me of sloth; for my intent in this doing tendeth to none other but unto the just excuse of my wrongfully slandered Prince, whose good renown, fame, and honour, I most heartily commend unto thee. And thus farewell.
IV.
Epilog
Die speziell für einen modernen Leser und dessen Verständnis von Geschichtsschreibung befremdlich wirkende rhetorisch-literarische Anlage des Büchleins entspricht bis in die Details hinein den Vorgaben der humanistischen Geschichtstheorie. Gemäß humanistischer Geschichtstheorie verfehlt eine nuda narratio, eine ungeschmückte Aufzählung bloßer Fakten, das wichtigste Ziel der Historiographie, praktischen Nutzen zu vermitteln.93 Praktischen Nutzen kann die Geschichtsschreibung erst dort bieten, wo das bloße Faktum in das Dekorum 89 Vgl. zur theoretischen Differenzierung zwischen historicus und encomiastes die Quellen in Heinrich (1987), 45. 90 Vgl. Wolff (1972), 38: „Interessant an der Darstellung Heinrichs ist, dass hier zum ersten Mal ein extrem negatives Bild Heinrichs gezeichnet wird, das zwar durch Thomas voll und ganz widerlegt und in das Gegenteil verkehrt wird, welches aber doch schwarz auf weiß vorhanden ist und von ehrenwerten Männer, die Heinrich und seine Taten jedoch nur vom ,hearingsay‘ her kennen, vertreten wird“. 91 Die theoretischen Distinktionen, insbesondere die Erläuterungen zum zentralen Begriff der ,knowledge‘ erklären, dass so gegründete historische Wertungen das Wahrheitspostulat nicht nur historischer Erkenntnis mit Notwendigkeit verfehlen. 92 Pilgrim, 81. Vgl. zum in der Geschichtstheorie der Renaissance geläufigen Topos des praktischen Nutzens („might perchance […] have guided thee unto true knowledge“) die Fülle von klassischen und humanistischen Quellen bei Landfester (1972), bes. 70–78 und Heinrich (1987), bes. 51–55. 93 Vgl. bes. Robortello (1548), 18ff.; Atanagi (1559), 66ff.; Viperano (1569), 23ff.; vgl. weitere Quellen, klassisch antike und humanistische, bei Landfester (1972), bes. 79ff.
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der Rhetorik gekleidet wird94 und zur Wiedergabe des historischen Geschehens gleichzeitig Deutung, Interpretation und Kommentar hinzutreten: „Materia quidem communis est, res nimirum, quae geruntur, quae non aliter quam ut gestae sunt, exponi debent: sed non omnium est bene scribere“.95 Der Geschichtsschreiber soll das historische Material durch Hinzufügen der – oftmals nicht überlieferten – menschlichen Pläne, Wünsche und Hoffnungen so überformen, dass die toten Fakten im Licht der menschlichen Ursachen vermenschlicht und ins Leben zurückgerufen werden.96 Nach den rhetorischen Regeln der elocutio fügt der humanistische Geschichtsschreiber dem Faktischen verba und sententiae hinzu, er flicht Reden ein, er zeichnet Charakterporträts einzelner Personen, beurteilt lobend oder tadelnd ihre Handlungen, zieht Schlüsse in Form allgemeiner Sentenzen, mit einem Wort: Der humanistische Geschichtsschreiber illustriert die historischen Fakten, um sie so deutlicher, ihrem Wesen gemäß darzustellen, oder, wie es mit einem humanistischen Topos heißt, um die Natur der Sache sichtbar zu machen.97 Die Form des Dialogs, die William Thomas für sein Werk wählt, ist dabei in besonderer Weise geeignet, die realiter nachweisbare Meinungsvielfalt über Heinrich VIII. in einer Schrift zu vereinen, und zugleich die Ansichten seines italienischen Dialogpartners als nicht gemäß den Regeln der humanistischen Historiographie gewonnen zu diskreditieren.98 Wer sich bei seiner Geschichtsdeutung nur auf böswilliges Gerede und falsche Gerüchte verlässt, so die Dialogfigur William Thomas, der kann nicht zur wahren Natur der Dinge vorstoßen. 94 Vgl. stellvertretend für eine Vielzahl von Belegen Robortello (1548), 29: „Historia ornari vult, et exploriri, planamque, et nitidam requirit orationem“. Vgl. insgesamt auch die Materialien bei Landfester (1972), 79ff. 95 Viperano (1569), 24. 96 Vgl. bes. Atanagi (1559), 75: „[…] trattele [sc. le nobili e virtuose operationi) del buio dell’antichit et in chiarissima luce sospintele, le fa guisa di rinovata Fenice vivere et rifiorire vigorosamente lunghissimo corso di seccoli“. 97 Vgl. die reichen Materialien bei Kessler (1971), 17ff., Landfester (1972), 79ff. und Heinrich (1987), 44ff. 98 In einer Passage, als direkte Reaktion auf die Erklärungen des William Thomas zu den Ehefrauen Heinrichs VIII., beansprucht der italienische Dialogpartner, seine Informationen, die denen des William Thomas signifikant widersprechen, von vertrauenswürdigen Gewährsmännern mit guter Urteilskraft erhalten zu haben, also im Sinne der humanistischen Geschichtstheorie auf wirklich zuverlässige Informationen zurückgreifen zu können, die theoretisch nur hinter durch Autopsie gewonnene Erkenntnisse zurückfallen (vgl. Pilgrim, 60: „,Good faith,‘ said he, ,I cannot tell what I should say ; for the reports that I have rehearsed I have heard them of credible persons and of men of good intelligence, who persuaded me undoubtedly to believe as I have said. And though I have now well heard your answer, yet am I not fully persuaded; for methinketh you have set many things forth to the largest: whether they be true or not, God knoweth, for they pass my capacity‘“). Die Replik des Italieners liefert in der Fiktion des Dialogs den konkreten Anlass für die so wichtige argumentativ-rhetorische Distinktion von hearingsay und knowledge (und deren epistemologischen Implikationen) durch William Thomas.
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Die unmittelbare Augen- und Ohrenzeugenschaft (autopsia) hingegen, auf die sich William Thomas mehrfach beruft, und die Berichte anderer Augenzeugen ermöglichen eine angemessene Beurteilung und damit auch Darstellung historischen Geschehens. Wie William Thomas für seine Schrift The Pilgrim die für die Theoretiker der humanistischen Geschichtsschreibung nicht seltene Form des Dialogs wählt,99 und gerade mit der fingierten Mündlichkeit des Dialogs eine rhetorisch angemessene Form für seine Absichten findet, so wird in dieser Konzeption von Geschichte und Geschichtsschreibung König Heinrich VIII. zum Sachwalter, zum Werkzeug der göttlichen Vorsehung, der England auf den von Gott vorgegebenen Kurs gebracht hat. Und mit dieser programmatischen Würdigung korrespondiert dieses kleine historiographische Büchlein der Kernaussage von Edward Halls großer Chronik:100 Heinrich VIII. ist der Inbegriff herrscherlicher Autorität und Tugend, er ist „a mirror for all princes“, und seine Regierungszeit verdient daher konsequenterweise den Titel, den ihr die Chronik Edward Halls ebenso programmatisch zuschreibt: „The triumphant reign of King Henry VIII“.
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Bernd Häsner (Berlin)
Questo quasi arringo del ragionare – Dialektik, Disputation und Dialog bei Torquato Tasso
1.
Tassos Dialoge in Theorie und Praxis
Torquato Tasso ist sowohl Verfasser einer Poetik des Dialogs wie auch Autor zahlreicher Dialoge. Gemessen an deren Zahl kann er sogar als einer der produktivsten Autoren der gesamten Gattungsgeschichte gelten.1 Es erscheint deshalb nicht als unbillig, die Dialogpoetik des Ferrareser Dichters mit seinen Dialogen zu konfrontieren und sich von dieser Gegenüberstellung eine Erhellung der Theorie im Lichte der Praxis und umgekehrt zu erhoffen. Zu bedenken ist dabei freilich, dass Tassos Discorso dell’arte del dialogo von 1585 in erster Linie das Ziel einer Normierung und zugleich Nobilitierung der Gattung verfolgt; die vielgestaltige Phänotypik sowie zentrale Funktionsaspekte des Dialogs im 15. und 16. Jahrhundert werden von ihm wie auch von den etwas früher entstandenen Dialogpoetiken Carlo Sigonios und Sperone Speronis weitgehend ignoriert.2 Schon aus diesem Grund sollte man also nicht unbedingt erwarten, dass Tassos Poetik ein hinreichend differenziertes Beschreibungsinstrumentarium bereitstellt, mit dem sich auch nur seine eigenen Dialoge, geschweige denn die anderer Autoren, in allen Facetten analysieren ließen.3 Zwar ist diese Poetik keineswegs unkomplex, jedoch erweist sich Tassos Dialogpraxis als erheblich komplexer, indem sie Elemente in die Textkonstitution einführt, die von der Theorie entweder überhaupt nicht oder jedenfalls nicht explizit vorgesehen sind oder denen in ihr nur geringe Bedeutung beigemessen wird, während diese 1 Die von Baffetti herausgegebene zweibändige Ausgabe der Dialoghi (Tasso (1998)), nach der ich im Folgenden zitiere, umfasst fünfundzwanzig Dialoge, während Raimondis kritische Ausgabe der Dialoghi (Tasso (1958)) darüber hinaus in einem Appendix weitere unvollendet gebliebene sowie frühe Fassungen einzelner Dialoge enthält. 2 Zu den Dialogpoetiken Sigonios, Speronis und Tassos und ihrem Verhältnis zueinander s. Mulas (1982), Snyder (1989), von Moos (1997) und Hempfer (2004). Insbesondere zu Sigonio s. Lozar (2011). 3 Zu diesem Befund s. auch Baldassarri (1970), 17: „In definitiva, dallo studio ristretto del discorso Dell’arte del dialogo non bisogna attendersi un canone interpretativo gi pronto per comprendere la produzione dialogica tassiana.“
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Bernd Häsner
Elemente in der Praxis gerade strukturbestimmend sein können. Der Befund einer größeren Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, zwischen poetologischem knowing that und poetischem knowing how, ist an sich natürlich nicht überraschend, sondern nahezu obligatorisch, wann immer entsprechende Vergleiche vorgenommen werden.4 Den Umfang dieser Diskrepanz und ihre besondere Qualität genauer zu untersuchen, dürfte aber allemal aufschlussreich sein und führt im Falle von Tassos Dialogen zu Ergebnissen, die, wie ich glaube, dann doch als überraschend gelten können. Im Folgenden will ich eine solche Gegenüberstellung am Beispiel von Tassos Dialog Il Cataneo overo de le conclusioni amorose vornehmen.5 Wie kein anderer seiner Dialoge scheint gerade dieser Tassos Definition der Gattung als Nachahmung eines dialektischen Streitgesprächs, als „imitazione d’una disputa dialettica“, zu exemplifizieren.6 Alle Elemente dieser Formel – Dialog, Nachahmung, Disputation, Dialektik – sind im Cataneo präsent, und zwar sowohl explizit, als Gegenstand des in ihm dargestellten Gesprächs, wie auch implizit oder, genauer gesagt, performativ, insofern das Zusammenspiel dieser Elemente nicht nur diskursiv entfaltet, sondern auch, gleichsam auf der Bühne des Textes, vorgeführt wird. Dabei werden diese Elemente aber anders und komplexer konfiguriert als in Tassos Discorso dell’arte del dialogo.7 Vor allem werden im Cataneo zwei Aspekte eingeführt und gewinnen zentrale Bedeutung, die in jener Definition und im gesamten Discorso gar nicht vorkommen oder jedenfalls in dem unerläutert bleibenden Begriff der imitazione nur implikativ enthalten sind. Es sind dies zum einen das Verhältnis von Fiktion und lebensweltlicher Realität, zum anderen das Verhältnis von schriftlicher und mündlicher Rede. Beide Aspekte hängen eng zusammen. Insbesondere der zuletzt genannte mediale Gesichtspunkt wird im Cataneo auf eine eindringliche und programmatische Weise thematisiert, die m.W. in der gesamten Dialogliteratur lediglich in Platons Phaidros eine Präzedenz findet, der in der Tat auch der Referenztext der bei Tasso geführten Kontroverse über den Vorrang der viva voce beziehungsweise der lettere ist.
4 Zur Unterscheidung von knowing that und knowing how in Hinblick auf literarische Theorie und Praxis – in diesem Fall der englischen Renaissance – s. Pfister (2007). 5 Im Folgenden kurz Cataneo. Mit diesem Dialog habe ich mich bereits in einem früherem Aufsatz (Häsner 2004a) befasst, allerdings unter anderer Fragestellung und mit Resultaten, von denen die vorliegende Untersuchung teilweise erheblich abweicht (s. hierzu weiter unten Anm. 27). Einige Passagen habe ich aber aus dem älteren Aufsatz übernommen, v. a. im 3. Abschnitt der vorliegenden Untersuchung. 6 Tasso (1998a), §20. Zum Verhältnis von Dialog, Disputation und Dialektik bei Tasso bzw. bei Carlo Sigonio, dem in diesem Zusammenhang zentralen Referenzautor Tassos, s. Traninger (2012), 263–270, Hempfer (2011) sowie Lozar (2011). 7 Im Folgenden auch einfach Discorso.
Dialektik, Disputation und Dialog bei Torquato Tasso
2.
227
Zur Vorgeschichte des Cataneo
Der Cataneo ist 1590/91 entstanden, erschien aber in gedruckter Form erstmals 1666 in einem Band der von Marc’ Antonio Foppa herausgegebenen Opere non pi¾ stampate di Torquato Tasso.8 Wie bei einigen anderen Dialogen Tassos, die erst geraume Zeit nach dem Tod des Autors gedruckt wurden, darf man aber von einer Manuskriptzirkulation von begrenztem Radius noch zu Lebzeiten Tassos ausgehen. Im Falle des Cataneo gibt es dafür sogar einen indirekten Beleg, einen Brief Tassos, in dem er die platonkritische Auffassung, die er in diesem Dialog vertritt, bereut oder zu bereuen vorgibt.9 Der Cataneo hat eine Vorgeschichte, die teilweise in der Dialogfiktion selbst – also nicht etwa in einer Vorrede, die hier überhaupt fehlt – zur Sprache kommt. Tasso kam 1565 als junger Mann nach Ferrara und trat dort in die Dienste des Kardinals Luigi d’Este.10 Er machte sich schnell einen Namen als vielversprechender junger Dichter und befreundete sich mit der intellektuellen Elite Ferraras und auch mit den beiden Schwestern des Herzogs Alfonso, Leonora und Lucrezia. Anlässlich der Hochzeit Lucrezias am 18. Januar 1570 trug Tasso auf einer Sitzung der Accademia ferrarese fünfzig conclusioni amorose, Thesen zum Liebesbegriff, vor. Diese Thesen hatte er dann rund zwei Wochen später, während der Tage des Karnevals, im Rahmen einer akademischen Disputation zu verteidigen. Bereits einige Tage vor dem mündlichen Vortrag seiner conclusioni amorose waren diese, den Gepflogenheiten einer Disputation entsprechend, in Form eines öffentlichen Anschlags dem interessierten Publikum bekannt gemacht worden.11 Die Disputation der conclusioni fand dann an zwei Tagen, dem 1. und 6. Februar 1570, statt. Im Cataneo, in dem auf eben diese Disputation ausdrücklich Bezug genommen wird, spricht Tasso von einer lunga contesa und einem mirabil teatro di belle donne e di cortesi cavalieri.12 Es mag sein, dass die Charakterisierung der Veranstaltung als ,theatral‘ auf eher karnevaleske Begleitumstände der Disputation zielt; allerdings ist die Theatermetaphorik bei Tasso durchaus geläufig, wenn er über die höfische Welt spricht, und nicht auf den Karneval beschränkt.13 Für besondere Lizenzen, die für reguläre universitäre Disputationen nicht gelten, spricht aber in jedem Fall die Anwesenheit und Teilnahme von Frauen. Von dem genauen Ablauf der Disputation wissen wir nur 8 S. Tasso (1998), II 859 und Tasso (1959), II 257. 9 S. Tasso (1965), V 830. 10 S. hierzu und zu den im Folgenden erwähnten biographischen Details Solerti (1895) u. Gigante (2007). 11 Zu den Usancen, Regularien und Praktiken einer Disputation siehe Kenny / Pinborg (1982), bes. 21–29, sowie Traninger (2012), bes. 68–78 u. 242–255. 12 Tasso (1998), II 862 u. 866. 13 S. hierzu Häsner (2010), mit Bezug auf Tassos Dialog Il Gianluca overo de le maschere.
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Bernd Häsner
wenig. Überliefert sind immerhin die Interventionen zweier Opponenten Tassos. Zum einen der Dichterin Orsina Betolaia Cavaletti, zum anderen eines gewissen Paulo Sanminiato. Die Cavaletti, der Tasso in seinem Dialog La Cavaletta overo de la poesia toscana ein Denkmal gesetzt hat, soll der 21. These Tassos, die der Liebe des Mannes die größere Intensität und Konstanz zuspricht, vehement widersprochen haben. Sanminiato hingegen, der auch im Cataneo Tassos Kontrahent ist und von dem die Quellen lediglich mitteilen, dass er ein gelehrter cortegiano toskanischer Provenienz war, scheint Tasso mit ausgefeilter Argumentationstechnik zugesetzt zu haben, die im Cataneo als ,dialektisch‘ charakterisiert wird. Zu den Regularien einer Disputation gehört es schließlich, dass der Proponent – in diesem Fall Tasso – nicht eigene Thesen vorträgt, sondern die eines Magisters, von dem er zuvor für seinen Auftritt präpariert wurde. Im Cataneo betont Tasso mehrfach, dass der größte Teil der von ihm vorgebrachten Thesen nicht von ihm selbst stammten und auch nicht seine Meinungen zum Ausdruck brächten, sondern die des Antonio Montecatini, eines bei den Zeitgenossen hochgeschätzten Professors für Philosophie (valorissimo tra i peripatetici e tra i platonici filosofanti14) an der Universität von Ferrara.15 Trotz der Distanzierung sind diese Thesen 1582 unter dem Namen Tassos und mit eben dem Titel Conclusioni amorose im Druck veröffentlicht worden.16
3.
Medienkritisches Vorspiel: lettere vs. viva voce
Während Tasso in den meisten seiner Dialoge, in denen es überhaupt eine Autorpersona gibt, als „Forestiero napolitano“ figuriert, erscheint er im Cataneo unter seinem eigenen Namen.17 Einer der Gesprächspartner Tassos und zugleich der 14 Tasso (1998), II 862. 15 Montecatini, Verfasser eines Kommentars zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles, wirkte seit 1575 auch als Sekretär am Hofe des Herzogs von Ferrara und soll dort beträchtlichen Einfluss ausgeübt haben. Tasso verdächtigte Montecatini, gegen ihn zu intrigieren. So klagt er in einem kurz vor seiner Einkerkerung verfassten Brief an den Herzog von Urbino über eine Verschwörung neidischer Hofleute, deren Opfer er sei und unter denen er namentlich Montecatini anführt, den er als sofista d’ingegno charakterisiert und von dem er weiter schreibt: Ma sovra tutto À miserabile ch’io sia stato precipitato in tante miserie da uomo cos degno d’odio, com’io di compassione (zit. n. Gigante (2007), 31, Anm. 40; s. auch Rossi (2007), 24). Es ist nicht ganz unwahrscheinlich, dass der nach der Haftentlassung Tassos entstandene Cataneo auch als eine, wenngleich diskrete, Abrechnung mit Montecatini zu lesen ist. 16 Die Conclusioni amorose sind wieder abgedruckt in Ettore Mazzalis Ausgabe einer Auswahl von Tassos Dialogen, als Anhang zu Il Cataneo overo de le conclusioni amorose (Tasso (1959), II 296–302). Dort auch nähere Angaben zu ihrer Entstehungs- und Publikationsgeschichte. 17 In einem einzigen weiteren Dialog, Il Costante overo de la clemenza, tritt Tasso ebenfalls als „Tasso“ auf, während er in dreizehn seiner insgesamt fünfundzwanzig Dialoge von der Figur
Dialektik, Disputation und Dialog bei Torquato Tasso
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,Namenspate‘ für den Dialog ist Danese Cataneo, angesehener und erfolgreicher Bildhauer, aber auch Autor eines Ritterepos (Dell’amore di Marfisa) sowie Mentor des jungen Tasso und Freund von dessen Vater Bernardo.18 Cataneo erfüllt in Tassos Dialog die Rolle eines Gastgebers, der das in seinem Haus in Padua stattfindende Streitgespräch sowohl anstachelt als auch mit urbanem Witz moderiert. Eigentlicher Widersacher Tassos aber ist Paulo Sanminiato, der auch schon bei der öffentlichen Disputation der Conclusioni amorose sein Opponent war. In dem im Cataneo dargestellten Gespräch bringt Sanminiato nach einem längeren Vorspiel, von dem gleich die Rede sein wird, drei conclusioni zur Sprache, die bei jener Disputation unerörtert geblieben waren. Der Cataneo ist also nicht nur, der Forderung von Tassos Discorso entsprechend, Nachahmung (imitazione) einer dialektischen Disputation, sondern zugleich Fortsetzung einer solchen. Letzteres in zweierlei Hinsicht: Zum einen setzten die Figuren des Dialogs, die auch schon Protagonisten der öffentlichen Disputation waren, diese in einem privaten Rahmen und ohne Medienwechsel, also in mündlicher Rede, fort. Zum anderen – dies gilt natürlich ausschließlich für den Leser des Textes und nicht auch für sein Personal – ist der Dialogtext aber ebenso Fortsetzung der Disputation in einem anderen Medium, dem der Schrift. Um dieses intrikate eines „Forestiero napolitano“ repräsentiert wird. In zwei weiteren Dialogen, Il Messaggiero und Il padre di famiglia, die in ihrer narrativen Faktur innerhalb des Dialogwerks Tassos eher untypisch sind, spricht ein Ich-Erzähler, der sich ebenfalls mit dem Autor oder, wenn man so will, mit dem Forestiero Napolitano, identifizieren lässt. In Tassos anderen Dialogen gibt es keine Sprecher, die eindeutig als Autor-personae zu erkennen sind. Die persona des Forestiero, deren Vorbild der „Athener Gastfreund“ aus Platons Nomoi ist (s. hierzu die Vorrede Tassos zu seinem Dialog Il conte overo de l’imprese in Tasso (1998), II 1111), dient, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, keineswegs der Camouflage des Autors, sondern seiner Selbstdistanzierung zum Zweck der Selbstinszenierung (s. Häsner (2010)). Vielleicht erklärt sich der unübliche Verzicht auf die Maske des Forestiero daraus, dass sich der 1544 geborene Tasso im Cataneo – in seinen anderen Dialogen ebenfalls unüblich – in einem lange zurückliegenden Zustand porträtiert. Da mit dem Datum der Disputation im Februar 1570 ein terminus post quem feststeht und mit dem Todesjahr Danese Cataneos (1573) auch ein terminus ante quem gegeben ist, darf man sich das – gewiss fiktive – Gespräch innerhalb dieses Zeitraums vorstellen, wahrscheinlich in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Disputation, aber jedenfalls in großer Distanz zur Abfassung des Dialogs um 1590. Der Tasso der Dialogfiktion ist demnach ein jugendlicher Tasso, während der Autor des Cataneo bereits ein – zumindest nach Tassos Selbsteinschätzung – alter Mann ist. Es mag also sein, dass im Cataneo die Projizierung der Autor-persona und der Dialogfiktion in eine historisch referentialisierbare Vergangenheit das leistet, was sonst Funktion der transparenten Namensmaske des Forestiero ist, nämlich sowohl Differenz wie auch Identität von Autor und persona zu signalisieren. 18 Zu Danese Cataneo (=Cattaneo) s. Dizionario biografico degli italiani, Istituto della Enciclopedia Italiana, Rom 1960ff., XXII (1979), 449–456. Es gibt einen zweiten Dialog Tassos mit dem Namen ,Cataneo‘ im Titel, Il Cataneo overo de gli idoli, bei dem es sich aber um einen anderen Cataneo – Maurizio Cataneo – handelt. Beide Dialoge werden gelegentlich verwechselt. Wenn hier in der Folge vom Cataneo die Rede ist, ist stets und ausschließlich Il Cataneo overo de le conclusioni amorose gemeint.
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Bernd Häsner
Verhältnis oder diese Interferenz von mündlichem und schriftlichem Diskurs soll es auf den folgenden Seiten vor allem gehen. Der Dialog beginnt mit einer Replik des Gastgebers Cataneo, der dem Ferrareser Disput offenbar selbst nicht beiwohnte und sich jetzt sorgt, dass Tasso in ihm seine noch junge Reputation als Dichter aufs Spiel gesetzt haben könnte, indem er sich als philosophischer Amateur den „dialektischen Waffen“ einschlägig geschulter frates und Scholaren aussetzte: […] io estimo ch’esponeste la vostra riputazione a gran pericolo, potendo di leggieri un frate o uno scholare con l’armi dialettiche astringere un poeta a cederli il campo.19
Wenn Cataneo hier Dialektik und Dichtung gegenüberstellt, ist damit bereits in der ersten Replik des Dialogs dessen vielleicht zentraler, wenn auch nur subtextuell entfalteter topic benannt. Allerdings erwartet Cataneo in dieser Konfrontation das schlechtere Ende für die Dichtung, während Tasso mit dem Text des Cataneo, wie ich in der Folge plausibel machen möchte, gerade deren Überlegenheit über die Dialektik demonstriert. Aus der Antwort Tassos kann man indessen in der Tat den Eindruck gewinnen, dass ihm die Erfahrung fehlte, die Herausforderungen einer Disputation zu meistern und er deshalb mit ihrem Verlauf unzufrieden ist. Die „armi dialettiche“, denen Cataneo seinen Schützling leichtfertig sich aussetzen sah, erscheinen in Tassos Replik als „armi incognite“, über die namentlich Sanminiato verfügte und gegen die Tasso, darin unerfahren, sich zur Wehr setzen musste: facemmo insieme lunga contesa, egli con arme incognite, da le quali io peraventura, come poco esperto, non sapeva ben difendermi.20 Auch dass er Thesen zu verfechten hatte, die zum großen Teil nicht seine eigenen waren, sondern die des Antonio Montecatini (sue erano le conclusioni per la maggior parte, e io, da lui ammaestrato, volsi difendere21) – also das für Disputationen obligatorische Verfahren – erscheint in seinem Resümee dieses Ereignisses als ein Handicap. Nachdem ferner diese Thesen geraume Zeit vor ihrer Verteidigung dem Publikum bereits bekannt waren – auch dies das normale Prozedere einer Disputation -, hatten Tassos Gegner Gelegenheit, ihre Einwände sorgfältig vorzubereiten, während er selbst ad hoc auf diese Einwände reagieren musste: […] ebbi brevissimo spazio d’apparecchiarmi a la difesa, e fu da me conceduto lunghissimo a chi voleva oppugnarmi; a’ quali non tenni occulta alcuna de le mie ragioni, ma da loro fui assalito quasi a l’improviso.22
19 20 21 22
Tasso (1998), II 861. Ebd. 862. Ebd. 862. Ebd.
Dialektik, Disputation und Dialog bei Torquato Tasso
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Des Weiteren macht Tasso eine sprachliche Behinderung geltend – er stottert –, die ihn ebenfalls als schlecht gerüstet für derartige Veranstaltungen erscheinen lässt (per l’impedimento de la lingua fui poco favorito da la natura23). Etwas später wird er auch noch sein schwaches Gedächtnis und einen Mangel an Geistesgegenwart (debile di memoria e d’ingegno tardo anzi che no24) einräumen. Während zunächst also noch besondere Umstände jener Disputation und subjektive Unzulänglichkeiten ihres Protagonisten im Vordergrund stehen, bekommen Tassos Vorbehalte schließlich einen grundsätzlichen Akzent: Er zöge es vor, dass man seine Argumente mit ,ruhigem Gemüt und ohne das Geschrei und den Applaus‘ eines quasi-theatralen Publikums erwägen würde (con animo quieto e senza lo strepito e l’applauso di quello quasi teatro di donne e de cavalieri25). Deshalb gedenke er, unzufrieden mit der „viva voce“ und dem „parlare“, seine Meinung aufzuschreiben: pensai di scrivere la mia opinione.26 Damit stößt Tasso sogleich auf einen ersten Widerspruch Sanminiatos, der gegen Tassos Bevorzugung der Schrift die Autorität Platons ins Feld führt: Voi ne le conclusioni platoniche sete contrario a Platone medesimo.27 Platon nämlich lasse in seinem dialogo della Bellezza – gemeint ist natürlich der Phaidros – Sokrates Gründe für die viva voce und gegen die lettere vorbringen, die Sanminiato für unwiderlegbar halten möchte. Anschließend referiert er in beinahe wörtlicher Übersetzung, mit nur wenigen Auslassungen bzw. Zusätzen, den größten Teil der schriftkritischen Sequenz aus dem Phaidros.28 Um die ent23 24 25 26 27
Ebd. Ebd. 866. Ebd. 862. Ebd. Ebd. Diese Replikenfolge – Tassos pensai di scrivere la mia opinione und Sanminiatos anschließendes Voi ne le conclusioni platoniche sete contrario a Platone medesimo – ist bei genauerem Hinsehen einigermaßen rätselhaft und wirft die Frage auf, worauf sie sich überhaupt bezieht. Während Tassos Replik noch als bloße Absichtserklärung, einen schriftlichen Text zu verfassen, verstanden werden kann, scheint Sanminiato, wenn er von conclusioni platoniche spricht, auf einen bereits geschriebenen Text zu zielen. In meiner oben erwähnten früheren Auseinandersetzung mit dem Cataneo (Häsner (2004a)) habe ich diese Stelle ausführlich analysiert, alle möglichen Lektüreoptionen erwogen und bin schließlich, wenn auch unter Vorbehalten, zu dem Schluss gekommen, es müsse sich um eine paradoxe Selbstreferenz handeln und der Text, von dem die Rede ist, sei der Cataneo selbst. Diese Hypothese würde ich heute nicht mehr aufrechterhalten. Zwar gibt es in der zeitgenössischen Dialogliteratur, auch bei Tasso, andere Beispiele für derartige aussagenlogische Paradoxien (s. hierzu Föcking (2002); Häsner / Lozar (2006); Häsner (2010) und (2010a)), die hier zunächst erwogene erschiene mir aus heutiger Sicht aber als zu spektakulär und, anders als die erwähnten Beispiele, durch den Kontext nicht hinreichend plausibiliert. Eine andere ,vernünftige‘ Erklärung für diese Stelle erschließt sich mir allerdings ebenfalls nicht. Vielleicht handelt es sich einfach um einen Lapsus des Autors oder um einen Überlieferungsfehler. 28 S. Tasso (1998), II 862–865. Vgl. mit Phaidros 274c–276a. Näher benannt sind die Abweichungen vom Phaidros in Häsner (2004a), 133f.
232
Bernd Häsner
scheidenden Punkte zusammenzufassen: Als ein äußerliches Zeichensystem stärke die Schrift die Erinnerungsfähigkeit nicht, wie es ihr Erfinder beansprucht, sondern schwäche sie vielmehr. Sie bewirke ferner, dass ein bloßer Schein oder ein bloßes Dafürhalten von Weisheit als diese selbst (l’opinione de la sapienza che la sapienza medesima29) verkannt werde. Des Weiteren ist die schriftliche Rede laut Sokrates außerstande, ihren Adressaten und ihren Rezeptionskontext zu antizipieren und kann deshalb nicht sicherstellen, in unterschiedlichen Situationen und von unterschiedlichen Rezipienten adäquat verstanden zu werden. Auf Fragen vermöge sie nicht zu antworten und auf Kritik nicht zu reagieren, sondern sei vielmehr immer wieder auf die Hilfe ihres ,Vaters‘, also ihres in der Regel absenten Autors, angewiesen: […] le lettere sono simili a la pitttura, le quali, essendo addomandate, nulla rispondono, e dove sia chi le biasimi, non sanno difendersi, ma hanno bisogno de l’aiuto del padre, che le difenda, perch¦ da se stesso non possono far contrasto a l’aversario; e non distinguono i tempi, i luoghi e le persone, ma sempre dicono a tutti le medesime cose, l dove il parlare s’accomoda a l’occasioni e agli uomini co’ quali si ragiona.30
Diese von Sanminiato rekapitulierte Schriftkritik des Platonischen Phaidros kontert Tasso zunächst ganz lapidar mit dem Hinweis, Sokrates’ Auffassungen seien nur deshalb noch bekannt, weil Platon und Xenophon sie niedergeschrieben haben. Auf Sanminiatos Erklärung, dass bis auf den heutigen Tag die vornehmsten Geister Europas sich an den Lehren nährten, deren Saat Sokrates, il quale nulla scrisse31, ausgebracht hatte, antwortet Tasso, die alimentäre Metaphorik Sanminiatos aufgreifend: Tuttavolta, se Platone o Senefonte non avessero scritta la sua opinione, noi, quasi digiuni e famelici del cibo intellettuale, saressimo privi del debito nutrimento.32
Ohne sich auf die sorgfältige Beweisführung Sokrates’, die Sanminiato in ihrer ganzen Breite referiert und für unwiderlegbar gehalten hatte, einzulassen, spielt Tasso also die Medialität von Platons Text gegen dessen Inhalt aus. Die manifeste Schriftlichkeit des Phaidros wird selbst – The Medium is the Message – zum zentralen propositionalen Gehalt der Textaussage. Als solche scheint sie jeden innerhalb der Gesprächsfiktion des Phaidros formulierten Einwand gegen die Defizite der Schrift auszulöschen. Tasso jedenfalls setzt sich in seiner anschließenden längeren Rede zum Verhältnis von viva voce und lettere mit den Argumenten Sokrates’ gar nicht mehr auseinander. Weder die Amnesie begünstigenden Folgen noch die pragmatischen Unzulänglichkeiten der Schrift kommen 29 30 31 32
Tasso (1998), II 863. Ebd. 864. Ebd. Ebd. 865.
Dialektik, Disputation und Dialog bei Torquato Tasso
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zur Sprache. Stattdessen kalkuliert Tasso die Prozesse der Argumentbildung und des Argumenttransfers in ganz anderen Einheiten und Zyklen als Sokrates. Als kommunikative Referenzeinheit, an der sich die Validität dieser Prozesse zu erweisen hätte, gilt ihm, anders als Sokrates, nicht die personale Begegnung, das gemeinsame hic et nunc von Sprecher und Hörer, sondern der Austausch zwischen Subjekten, die durch Raum oder Zeit oder durch beides zugleich getrennt sind. Das Medium eines so verstandenen, eher interepochalen als interpersonalen Wissenstransfers kann nur die Schrift sein, deren Botschaften stabil und stets mit sich selbst identisch sind und die ohne Trübungen durch Umstände und Affekte zustande kommen. In einer ganzen Serie von Metaphern reklamiert Tasso die Überlegenheit der lettere gegenüber der viva voce. Während das gesprochene Wort lediglich ein flüchtiges Abbild des Begriffs (mobile imagine del concetto33) gibt, können die lettere gleichsam als dessen skulpturale Verstetigung (quasi statue e simolacri saldissimi34) gelten. Das gesprochene Wort ist nur ein Hauch, eine schnell zerstobene Wolke – ist ein Schiff auf hoher See, dem erst die Buchstaben einen sicheren Ankerplatz bieten. Wer auf das gesprochene Wort baut, baut auf Sand, die auf der Schrift gegründete Rede aber ist unvergänglich wie Stein. Die mündliche Rede widerspricht sich beständig und stets ist sie von Affekten, von Furcht oder Liebe, Hass oder Mitleid bewegt: […] la voce afferma e niega, e spesse volte À contraria a se medesima e commossa per timore e per amore e per odio e per misericordia, e da tutte le passioni À agitata.35
Die lettere dagegen, che sogliono esser scritte con animo quieto e vacuo da le perturbazioni, dimostrano non l’animosit ma la verit, e sempre sono conformi a se stesse: quel ch’affermarono una volta affermano continuamente, usano nel negare la medesima costanza, fanno presenti i lontani e quasi vivi i morti.36
Auch hier also eine rigorose Revision der Kritik Sokrates’. Bei diesem benennt die Indifferenz der Schrift gegenüber dem Ort, der Zeit und den Adressaten, d. h. den variablen und jeweils besonderen Umständen von Textproduktion und -rezeption, gerade ihren fundamentalen Mangel. Bei Tasso indessen wird dieser Mangel zur Gewähr gelingender Kommunikation über die Grenzen von Raum und Zeit hinweg und zugleich zum Garanten der Wahrheit der kommunizierten Inhalte. Denn während die Turbulenzen eines agonalen Gesprächsspektakels das bloße Meinen begünstigen (amiche de l’opinione, de lo strepito e de l’applauso 33 34 35 36
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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del volgo sono le parole37), ist der Diskurs der lettere der Weisheit verpflichtet und entfaltet sich wie diese in gleichsam klausuraler Stille und Abgeschiedenheit, unbehelligt nicht nur von falschem Applaus, sondern auch von spitzfindigen Einwendungen: […] le lettere amano la sapienza, la quiete, la solitudine e quel dottissimo silenzio il quale supera tutte l’arguzie e i sofismi de’ quistionanti.38
Deshalb, so Tasso, de le cose de le quali parlai, scriverei pi¾ volentieri, amando meglio d’aver per giudice de la mia opinione il consenso de’ letterati e la posterit di tutti i secoli ch’un mirabil teatro di belle donne e di cortesi cavalieri, a’ quali mal puý sodisfare un uomo impedito di lingua, debile di memoria e d’ingegno tardo anzi che no. Ma voi, signor Paulo, che sete toscano ed eloquentissimo fra’ Toscani, m’avete colto la seconda volta in questo quasi arringo del ragionare.39
Mit dem letzten Satz der zitierten Replik bringt Tasso, wenn auch im Ton scherzhafter Resignation, ein weiteres Mal sein Missbehagen an der Prozedur eines mündlichen Argumentationswettstreits – hier als „Turnier“ (arringo) pointiert – zum Ausdruck. Der medienkritische Exkurs ist damit beendet und es beginnt der titelgebende Teil des Dialogs, eben die erneute Diskussion einiger conclusioni amorose Tassos. Ich fasse diese Diskussion in der Folge zusammen, setze dabei den Fokus aber nicht auf die thematischen, sondern auf die prozeduralen Aspekte, also den Ablauf der Diskussion und seine Selbstreflexion durch die Gesprächsteilnehmer. Anschließend komme ich noch einmal auf Tassos Auseinandersetzung mit der Schriftkritik des Phaidros und ihre dialogpoetischen und weitergehenden Implikationen zurück.
4.
Die Reprise einer disputa dialettica als deren Simulation
Auf Vorschlag Sanminiatos soll zunächst die achte der conclusioni amorose debattiert werden, die während der öffentlichen Disputation in der Accademia Ferrarese unerörtert geblieben war und die lautet: Amor esser desiderio d’unione per compiacimento di bellezza.40 Noch bevor Sanminiato Gelegenheit hat, Einwände gegen diese These vorzubringen, distanziert sich Tasso von ihr und erklärt, dass er sie, wäre sie überhaupt auf Widerspruch gestoßen, als Meinung eines anderen, nämlich Montecatinis, hätte verteidigen müssen. Seine eigene 37 Ebd. Man beachte, dass strepito und applauso, die an früherer Stelle immerhin noch mit donne und cavalieri in Verbindung gebracht waren, jetzt dem volgo zugeordnet werden. 38 Ebd. 865f. 39 Ebd. 866. 40 Ebd.
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Auffassung sei hingegen abweichend; sie folge dem Dionysos Areopagita, demzufolge körperliche Liebe im Gegenteil die Ursache von Trennung sei und wahre Vereinigung nur eine der Seelen sein könne. Auch diese Position, von Tasso unter Rekurs auf Dionysos und andere Autoren ausführlich dargelegt, bleibt unbestritten, da – wie der Gastgeber Cataneo konstatiert – niemand der Autorität des Areopagiten zu widersprechen wage: Voi avete corso questo arringo senza contrasto, perch¦ non À qui alcun di noi ch’ardisca di contradire a l’opinione de l’Areopagita.41 Damit sich überhaupt eine Debatte ergebe, solle nun eine These verhandelt werden, gegen die Sanminiato Widerspruch einlegen könne. Sanminiato bringt daraufhin die zwölfte der conclusioni amorose auf den Tisch – L’odio non esser contrario d’amore, ma seguace d’amore42 –, der er sogleich mit folgender syllogistischer Argumentationsfigur opponiert: I contrari sono quelli che vicendevolmente si distruggono; l’odio distrugge l’amore e a l’incontra da l’amore À distrutto: dunque l’odio e l’amore sono contrari.43
Tasso seinerseits respondiert mit einem nego che mai l’odio distrugga l’amore44 und entwickelt anschließend unter Bezug auf Plotin und Ficino seine Auffassung, dass die Liebe immer schon den Hass auf die Hindernisse, die sich ihr entgegenstellen, einschließt. Nachdem Tasso seine Darlegungen abgeschlossen hat, attestiert ihm Cataneo anerkennend, seine zunächst kaum haltbar erscheinende These sehr überzeugend verteidigt zu haben: Assai bene mi pare ch’abbiate difesa la vostra opinione, la quale io prima stimava malagevole da sostenere. Tasso gesteht indessen, selbst diese These in Wirklichkeit keinesfalls zu teilen, sondern nur die Position Platons und der Platoniker wiederzugeben. Die conclusioni seien mehr im Scherz und als ein essercizio d’amore vorgetragen worden, um müde Geister zu stimulieren. Ansonsten folge er selber lieber den Peripatetikern: Ma queste conclusioni furono proposte da scherzo anzi che no e quasi per un essercizio d’amore, il quale À (come dicono) eccitatore de gli adormentati ingegni. Ma io per altro sono usato pi¾ tosto d’esseguir la dottrina de’ Peripatetici.45
Cataneo, seinerseits scherzend, befindet daraufhin, wenn Tasso schon solche Positionen, die nicht von ihm stammten und die er nicht teile, so gut zu verfechten wisse, sei es wohl aussichtslos, gegen ihn anzutreten, wenn er eigene Meinungen vertrete. Er fragt dann, ob unter so vielen conclusioni nicht eine sei, 41 42 43 44 45
Ebd. 871. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. 876.
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die Tasso in seinem eigenen Sinne vorgetragen und aufgeschrieben habe (parliate e scriviate a vostro senno46). Tasso bekräftigt daraufhin nochmals, dass es ihm, dem die Erfahrung des Liebesschmerzes (pungenti sollecitudini d’amore47) nicht fremd sei, bei jener Disputation nicht gewährt worden sei, seine eigene Meinung vorzutragen. In einigen wenigen Thesen hätte er aber niedergeschrieben, was ihm selbst wahr schien (nondimeno in alcune poche cose scrissi quel che mi pareva48). So in der achtzehnten der Conclusioni amorose, die besagt, Liebe beruhe weder auf souveräner Wahl noch sei sie schicksalsbestimmt, sondern setze Ähnlichkeit zwischen den Liebenden notwendig voraus: Amore non presuporre l’elezione, n¦ perý seguire che si conceda il destino, ma presupporre necessariamente similitudine fra l’amante e l’amata.49 Die Disputation dieser These umfasst den ganzen restlichen Text des Cataneo und damit seinen weitaus größten Teil. Tasso bestreitet zunächst, dass über die Opposition von „Wahl“ (elezione) und „Schicksal“ (destino) der menschliche Verhaltensspielraum erschöpfend beschrieben werden kann und bringt stattdessen die Kategorie des affektbestimmten Wollens (volont) ins Spiel. Daraus entwickelt sich eine Diskussion, die, unter Bezug auf Aristoteles, Plotin, Ficino, Pico und andere, um die Frage der himmlischen Kausalität kreist und ob die menschliche Seele dieser unterworfen sei (was Tasso verneint), um die divinatorische Astrologie und den signifikativen oder sogar kausalen Status astraler Konfigurationen (von Tasso ebenfalls bestritten), schließlich und vor allem um das Verhältnis von Notwendigkeit und freiem Willen (den Tasso bejaht). Die Freiheit des Willens ist das bei Weitem am eingehendsten abgehandelte Thema des gesamten Dialogs, der von daher also auch Il Cataneo overo del libero arbitrio heißen könnte. Das prekäre Verhältnis von göttlicher Allmacht und göttlichem Vorherwissen einerseits und dem Postulat der menschlichen Willensfreiheit andererseits, ist bekanntlich gerade im humanistischen und reformatorischen Kontext ein Thema von großer Brisanz. Lorenzo Valla, Erasmus, Pomponazzi, Melanchthon, Luther und andere haben sich damit auseinandergesetzt, oft ebenfalls in Dialogform. Der Vergleich mit der scharfsinnigen und autoritätenkritischen Diskussion, die dieses Problem etwa bei einem Valla erfährt, fällt allerdings zu Ungunsten Tassos aus und lässt seine vorwiegend doxographische Behandlung des Gegenstandes als wenig eindrucksvoll erscheinen.50 Zu einem ähnlichen Urteil könnte man wohl auch hinsichtlich der 46 47 48 49 50
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. 877. Zu Vallas De libero arbitrio s. Valla (1987), darin insbesondere auch die Einleitung Eckhard Keßlers. Zu einer weniger günstigen Einschätzung der Leistung Vallas kommt allerdings Poppi (1988), 648f.
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Behandlung der liebestheoretischen Thematik kommen, die im Wesentlichen ebenfalls nur Autoritätenmeinungen zu konfrontieren bzw. zu kompilieren scheint. Generell haben die Dialoge Tassos wegen ihrer vermeintlichen oder tatsächlichen Epigonalität in der neueren Literaturgeschichte nur geringe Wertschätzung gefunden und von der Philosophiegeschichte sind sie überhaupt nicht zur Kenntnis genommen worden.51 Dieses Urteil ist sicher nicht gerecht. Vor allem basiert die geringe Wertschätzung der Dialoge Tassos auf einem notorischen und sehr weitgehenden Desinteresse an spezifischen Diskursformen, Gattungen und Schreibweisen mittels derer Ideen, Argumente und Theoreme erzeugt, konfiguriert und transportiert werden. Das Ausblenden dieser diskursiven Modi zugunsten des propositionalen Gehalts läuft aber Gefahr, letztlich auch diesen zu verfehlen, zumal in einer so eminent ,literarischen‘ Form, wie es der Dialog ist. Denn Tasso mag zwar als Philosoph ein Dilettant gewesen sein, als Dichter, der sich auf raffinierte textuelle Inszenierungen versteht, war er dies gewiss nicht. Und in der Tat werden seine Dialoge gerade in dem Maße interessant und entfernen sich zuweilen deutlich vom doxographischen sensus communis, in dem auch diese Inszenierungsformen in den Blick genommen werden. Der Cataneo ist hierfür ein besonders komplexes und aufschlussreiches Beispiel.52 Bereits der Titel ist diesbezüglich instruktiv ; keineswegs lautet er ja De l’amore – was dem Titelschema anderer Dialoge Tassos (z. B. Il Nifo overo del piacere oder La Molza overo de l’amore) entspräche – und schon gar nicht Del 51 Was die Philosophiegeschichte angeht, sei hier beispielhaft nur die Cambridge History of Renaissance Philosophy angeführt, auf deren rund tausend Seiten Tasso nur einmal und beiläufig als Verfasser der Gerusalemme liberata genannt wird, ansonsten aber unerwähnt bleibt, sogar im Kapitel „Rhetoric und Poetics“, zu dessen Gegenstand Tasso doch einiges beigetragen hat. Kristeller stellt immerhin fest, dass Tassos philosophische Prosa noch nicht hinreichend ausgewertet sei (s. Kristeller (1974/76), I 64). Für das überwiegend negative Urteil zumindest der älteren Literaturwissenschaft ist Charles P. Brand repräsentativ, der Tassos Dialogen „dullness“ (Brand (1965), 181) attestiert und „much tedious, unoriginal and highly artificial discussion“ (ebd. S. 185) in ihnen findet. Noch Gigante (2007) kommt zu einem ähnlichen Urteil (s. ebd. 222). In der jüngeren Literaturwissenschaft fällt das Urteil über Tassos Dialoge insgesamt allerdings günstiger aus. Vorreiter hierfür waren der editorische Einsatz bzw. die zahlreichen und profunden Publikationen Ezio Raimondis und Guido Baldassarris. Dennoch haben insgesamt nur wenige einzelne Dialoge – insbesondere Il Messaggiero und Il padre di famiglia, beide ausgesprochen untypisch im Dialogwerk Tassos – eingehende Analysen erfahren. Der Cataneo gehört jedenfalls nicht dazu. Die bisher gründlichste Gesamtdarstellung der Dialoge Tassos hat Massimo Rossi (Rossi (2007)) vorgelegt, in der auch bisherige Forschungen zu den Dialogen Tassos bilanziert werden (ebd. 51–62), wobei allerdings fast ausschließlich italienische Literatur berücksichtigt wird. Auch Rossi streift den Cataneo nur. 52 Auch Pignatti attestiert dem Cataneo „un’architettura testuale tra le pi¾ complicate ed allusive di tutto il corpus dialogico tassiano e, forse, dell’intero dialogo cinquecentesco“ (Pignatti (1993), 62).
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libero arbitrio, was angesichts der Dominanz dieser Thematik sogar angemessener wäre, sondern De le conclusioni amorose. Ein solcher Titel signalisiert aber durchaus nicht die Liebestheorie als primäres Thema des Dialogs, sondern das Prozedere von Vortrag und Disputation, das diesem Thema gewidmet ist, und wohl auch ganz konkret das historische Gesprächsereignis, dessen Protagonist Tasso war. Schon mit seinem Titel legt der Cataneo also eine metadialogische Lektüre nahe, wobei ,metadialogisch‘ hier im weiten Sinne verstanden werden soll, bezogen sowohl auf die schriftliche Textgattung ,Dialog‘ wie auch auf mündliche Kommunikationsformen (also etwa dispute dialettiche), wie sie Dialoge zur Darstellung bringen können. Als ein metadialogischer Dialog in diesem Sinne erweist sich der Cataneo aber vor allem dadurch, dass sein Personal sich im Verlauf des Disputierens immer wieder selbstreflexiv seiner Verfahren versichert und auf die Disputation als eine spezifische und formalisierte Prozedur agonalen Argumentierens bezieht. In keinem anderen seiner Dialoge ist die „disputa dialettica“, auf deren Nachahmung Tassos Discorso die Gattung verpflichten will, so präsent wie im Cataneo.53 Zum einen ist sie dies natürlich durch den initialen, dann immer wieder erneuerten und gleichzeitig kritisch distanzierenden Verweis auf die Ferrareser Disputation Tassos. Zum anderen, weil die Gesprächspartner, während sie im Hause Cataneos jene öffentliche Disputation im privaten Rahmen fortsetzen, beständig ihr argumentationstechnisches knowing how zur Schau stellen und sich dabei auf das Regelwerk und die Nomenklatur einer universitären Disputation lege artis berufen: Termini technici – Syllogismus, propositio minor, propositio maior, praedicamentum, divisio u. a. – werden ins Spiel gebracht, die in anderen Dialogen Tassos gar nicht oder nicht in dieser Dichte vorkommen; man bedient sich typischer Wendungen der Affirmation bzw. Negation („in questa guisa argomento“; „replicherý in questo modo“; „consento dunque“; „nego che“; „nego quel che seguita“ etc.) und verständigt sich in formelhaften definitorischen Prozeduren auf gemeinsame Prämissen.54 Vor 53 Darauf zielt auch Bozzola ab, wenn er feststellt, der Cataneo gehöre zu den Dialogen „di pi¾ spiccato andamento scolastico e sillogistico“ (Bozzola (1997), 253). Der metadialogische und kritische, eine Distanzierung von diesem „andamento“ einschließende Aspekt entgeht Bozzola allerdings. 54 Zur Illustration zitiere ich hier nur die folgende Sequenz: P.S. […] dico adunque ch’ogni amore À con elezione o senza elezione, e che l’amore del qual voi parlate conviene che sia ne l’un modo o ne l’altro. T.T. Questo vi fia da me conceduto di leggieri: consento dunque ch’egli si faccia senza elezione. P.S. Ma non essendo per elezione, sar per destino; anzi, quantunque fosse per elezione, sarebbe per destino, perch’il destino ci sforzerebbe ad eleggere. T.T. Di questo argomento, c’ha quasi due parti e quasi due corna, lasciam l’una, se vi pare, e non vogliate ferirmi con ambedue in un medesimo tempo, ma prima con l’uno, poi con l’altro, se cos v’aggrada. P.S. Questo cercherý prima di provare, che, non essendo per elezione, À per destino. T.T. Nego quel che seguita. P.S. Il provo in questa guisa. Tutte l’operazioni o le passioni
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allem beruft man sich immer wieder auf die rigiden Regularien einer ordnungsgemäßen Disputation bzw. mahnt deren Einhaltung an. Tasso, der am Anfang des Cataneo noch seine Unerfahrenheit mit den armi dialettiche, gegen die er sich zur Wehr setzen mußte, beklagt hatte, erweist sich jetzt als durchaus vertraut mit diesen Waffen. Sanminiato moniert allerdings, dass Tasso die leggi del disputare missachte, indem er auf Einwendungen nicht eingehe oder seine Rolle als Respondent überschreite und selbst neue Argumente ins Spiel bringe: Voi disprezzaste pur dianzi le leggi del disputare co ’l non rispondere a tutti i miei argomenti: ora le trapassate con attribuirvi le parti di argomentatore, dove le vostre propie devevano esser di respondere.55
Dieses Regelwerk kann aber auch ausdrücklich suspendiert werden, indem der wissbegierige Gastgeber Cataneo Tasso gewährt, nicht nur die Einwände seines Opponenten zu widerlegen, sondern weitere Beweise für seine These vorzubringen. T.T. […] s’io non volessi usurparmi la parte d’attore, lasciando quella di reo, proverei con altre ragioni la medesima opinione. D.C. S’io fossi giudice de le vostre contese, vi concederei non solamente il riprovare ma il provare: e provate a me la vostra opinione, se non volete provarla al signor Paulo.56
Dabei wird immer wieder der agonale Charakter der als arringo und contesa apostrophierten und damit, jedenfalls wenn man die zitierten Vorbehalte Tassos gegen öffentliche Disputationsspektakel zugrundelegt, negativ konnotierten Diskussion hervorgehoben; namentlich Sanminiato verfügt über armi dialettiche und zielt mit „Pfeilen aus dem Köcher der Dialektik“ (saette de la dialettica faretra57) auf Tassos Argumente. Zugleich wird aber von Beginn an der spielerische und gewissermaßen simulatorische Charakter dieser Agonalität betont. So erweckt der folgende Replikenwechsel den Eindruck, Tasso und Sanminiato debattierten eher zum Vergnügen des Gastgebers Cataneo, als dass überhaupt substantielle Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen bestünden: D.C. Io mi rallegro d’aver data occasione a’ vostri ragionamenti, e non vorrei tra voi cos tosto alcuna concordia.
de l’animo nostro sono o per elezione o per destino o per fortuna e a caso; ma quel che si fa a caso À per accidente, e si dee ridurre a qualche causa per s¦, come voi dicevate pur dianzi. Laonde o si dee ridurre a l’elezione o al destino; ma riducendosi al destino all’elezione, abbiamo l’intendimento nostro: n¦ potrebbe essere in altro modo. T.T. Di questo argomento negherei la maggiore proposizione, che tutte le cose fatte da noi si facciano per elezione o per destino o per fortuna. (Tasso (1998), II 877f.). 55 Tasso (1998), II 895. 56 Ebd. 879 57 Ebd. 877.
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T.T. Saremo adunque discordi per non discordar dal vostro desiderio: ma di qual cosa, signor Paulo, debbiam di nuovo contendere o quistionare?58
Auch die bereits erwähnte Stelle, an der Tasso eine schwierige Position überzeugend vertritt, um dann zu bekennen, dass diese Position keinesfalls seiner wirklichen Meinung entspricht, bezeugt diesen simulatorischen Zug.59 Der Rekurs auf das Prozedere einer regelgerechten Disputation ist ein distanzierter – distanziert bereits durch das Fehlen des institutionellen Rahmens einer Disputation und durch den privaten Gesprächskontext – und ein rein zitativer : Das Verfahren wird passagenweise praktiziert, sein Regelwerk wird beschworen, zugleich als solches reflektiert und bei Bedarf ausgesetzt. Die Verhältnisse pointierend, ließe sich also sagen, dass die imitazione d’una disputa dialettica, die laut Tassos Discorso Aufgabe des Dialogautors ist, im Cataneo bereits auf die Ebene des fiktiven Gesprächsgeschehens verlegt ist, indem dessen Figuren das Prozedere einer Disputation eher spielerisch nachahmen als es in authentischer und vorbehaltloser Weise zu praktizieren.
5.
Tassos Kritik der viva voce und ihre (nicht nur) dialogtheoretischen Implikationen
Metadialogisch ist der Cataneo schließlich wegen seines medienkritischen Vorspiels oder Exkurses, den man, obwohl am Anfang des Dialogs stehend, bereits für seine argumentative Klimax halten kann. Auf die dialogtheoretischen und darüber hinausgehenden Implikationen dieses Exkurses – der unter dem Blickwinkel einer ,metadialogischen‘ Lektüre des Cataneo nicht einmal als Exkurs gelten muß – und seiner Kritik der viva voce ist jetzt zurückzukommen. Generell ist das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, obwohl für die Gattung konstitutiv, einer der nicht wenigen blinden Flecke der Dialogpoetiken sowohl Tassos wie auch seiner Zeitgenossen Sigonio und Speroni. Zwar erklärt Tasso an einer Stelle seines Discorso, der Dialog sei imitazione di ragionamento scritto in prosa, doch gilt der Zusatz scritto in prosa hier vor allem dem Aus-
58 Ebd. 866. Diese spielerische oder nur simulierte Agonalität ist allerdings ein geradezu obligatorischer Zug humanistischer und höfischer Dialoge, der zumindest bei Sperone Speroni auch poetologisch eingeholt wird (s. hierzu Hempfer (2004), 88–93). Im Cataneo scheint sie aber auf einen spezifischen ,mittelalterlichen‘ Dialogmodus – den der Disputation – appliziert zu werden, von dem sich der humanistisch-höfische Dialogstil im Zeichen einer an Cicero geschulten urbanitas gerade zu distanzieren bestrebt ist. 59 Auch dies – das bloße Vortäuschen einer Position – gehört zu den in humanistischen und höfischen Dialogen häufig praktizierten Verfahren, die ihr Vorbild in Ciceros De oratore gefunden haben dürften. S. hierzu Häsner (2004), 38f.
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schluß des Verses aus den für den Dialog zulässigen sprachlichen Registern.60 Gleichwohl benennt diese definitorische Formel ebenso wie die etwas spätere Präzisierung, die den Dialog als imitazione d’una disputa dialettica bestimmt, auch und vor allem einen Medienwechsel, nämlich die Verschriftlichung mündlicher Rede. Imitazione fällt dabei weitgehend mit „Verschriftlichung“ zusammen, und zwar umso mehr als Tasso den Dialog auf Nachahmung von ragionamenti festlegt, während die azioni, die im Dialog ebenfalls nachgeahmt sein mögen, nur akzidentell sind und gestrichen werden könnten, ohne dass der Dialog seines spezifischen generischen Status verlustig ginge.61 Schriftlichkeit ist hier also zugleich Index für Fiktionalität. Die gesprochene Rede, die den ragionamenti bzw. der disputa dialettica zuzuordnende viva voce, indiziert dagegen die nachzuahmende extratextuelle Welt. Diese Zusammenhänge und ihre weitreichenden Implikationen bleiben aber sowohl in Tassos Discorso dell’arte del dialogo als auch in den Dialogpoetiken Sigonios und Speronis weitgehend unerörtert. In der Dialogliteratur selbst kommt die Relation von gesprochener und geschriebener Rede allerdings häufig zur Sprache, wenn auch zumeist unter begrenzter pragmatischer Perspektive. Fast durchgängig geht es darum, in welchem Verhältnis der dem Leser dargebotene schriftliche Text zu dem Gespräch steht, das wiederzugeben er beansprucht. In einer „Fiktion des Faktischen“62 werden angebliche Tradierungswege und testimoniale Instanzen benannt, der Autor beteuert seine Gewissenhaftigkeit bei der Niederschrift oder räumt ein, dass die Wiedergabe der Gespräche keine wortgetreue sein kann.63 So oder so werden damit aber die Integrität des Berichts und Faktizität des berichteten Gesprächsereignisses als solches reklamiert. Prominente Beispiele hierfür geben etwa Platons Theaitetos, Ciceros De oratore, Augustinus’ Contra Academicos, Leonardo Brunis Dialogi ad Petrum Paulum Histrum oder Lorenzo Vallas De libero arbitrio.64 In allen diesen Dialogtexten – selbst in Platons Theaitetos – erscheint der Medienwechsel als weitgehend unproblematisch.65 Die Verschriftlichung soll einfach die Fixierung von etwas zuvor Gesagtem sein.66 Wenn 60 Tasso (1998a), § 14. 61 S. ebd., § 9: ne’ dialogi l’azione À quasi giunta de’ ragionamenti; e s’altri la rimovesse, il dialogo non perderebbe la sua forma. Die Praxis der Dialoge Tassos entspricht dem freilich nicht, wie ich an anderer Stelle am Beispiel von Il Gianluca overo de le maschere gezeigt habe (s. Häsner (2010)). 62 Zu dieser Formel s. den von Ulrike Schneider und Anita Traninger herausgegebenen Band Fiktionen des Faktischen in der Renaissance (Schneider / Traninger (2010)) und darin die Einleitung der Herausgeberinnen (ebd. 7–21). 63 Das Modell für diese fingierte Skrupulosität ist wiederum Ciceros De oratore. 64 S. hierzu Häsner (2004), 23–27. 65 Zum Theaitetos s. auch Häsner (2010a), 177f. 66 So wird am Ende von Vallas De libero arbitrio die Autor-persona Laurentius von ihrem
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es dabei trotz der gewissenhaften Bemühungen des Verfassers zu Bedeutungsverlusten oder -verschiebungen kommt, sollen diese nicht dem Medienwechsel geschuldet sein, sondern einer ungünstigen Quellenlage oder dem in prätendierter Bescheidenheit eingeräumten Unvermögen des Autors. Anders als im Cataneo sind Wort und Schrift, viva voce und lettere, keine Gegensätze, sondern ineinander konvertierbar oder sogar komplementär.67 Vergleichbare Aussagen zum Prozess der Verschriftlichung, der zum Text, wie er dem Leser vorliegt, geführt hat, finden sich bei Tasso überhaupt nicht, im Cataneo ebensowenig wie in seinen anderen Dialogen. In der medienkritischen Sequenz des Cataneo geht es weder um den aktualen Text noch um die Gattung des Dialogs überhaupt, sondern um etwas Anderes und Grundsätzlicheres, nämlich um das epistemische Gewicht und die prinzipielle Wahrheitsfähigkeit gesprochener bzw. geschriebener Rede, und darum, welche Stabilität oder Tradierungskonstanz den mittels beider Medien artikulierten Propositionen jeweils zukommt. Die Antwort Tassos oder jedenfalls die seiner textinternen persona ist, wie gesehen, eine Antithese zum Phaidros, die der bei Platon eindeutig prämierten mündlichen Rede gerade einen geringeren epistemischen Rang attestiert als dem geschriebenen Wort. Es geht dabei jedoch nicht explizit um den Dialog. Insofern diese Diskussion aber in einem Dialog geführt wird und damit einer Gattung, die sich überhaupt im Schnittpunkt von mündlicher und schriftlicher Rede konstituiert und die den im Cataneo wie im Phaidros thematisierten Gegensatz gewissermaßen inkorporiert, hat sie auch dialogtheoretische Implikationen.68 Indem Tasso das gesprochene Wort und insbesondere das bei ihm als „arringo del ragionare“ polemisch gekennzeichnete dialektische Streitgespräch gegenüber der geschriebenen Sprache, den lettere, grundsätzlich abwertet, scheint er auch das heuristische und kognitive Potenzial mündlicher face-toface-Kommunikation in Zweifel zu ziehen. Dieses Potenzial hatte sowohl in der Sokratischen Maieutik und in Ciceros in contrarias partes disserere als auch in der Methodik der universitären Disputation seinen – im Einzelnen gewiss stark differierenden – programmatischen Niederschlag gefunden. Tatsächlich gibt Tasso mit seinem Verdikt einen gleichermaßen pädagogisch wie auch methoGesprächspartner aufgefordert, das vorangegangene Gespräch wegen der Bedeutsamkeit seiner Resultate festzuhalten. Laurentius verspricht eine umgehende Niederschrift und will diese als erstem dem Bischof von Lerida zusenden, dem De libero arbitrio in der Tat gewidmet ist (s. Valla (1987), 146). 67 S. hierzu Häsner (2004a), wo dies am Beispiel von Leonardo Brunis Dialogi ad Petrum Paulum Histrum näher erläutert wird. 68 Dies gilt natürlich erst recht für Platons Phaidros, dessen Schriftkritik mindestens seit Schleiermacher immer auch nach ihrer Bedeutung für die Gattung, in der sie vorgebracht wird, befragt wurde. S. hierzu die instruktive Übersicht in Blößner (2007) sowie Szlezk (1985) und Szlezk (1990); Hempfer (2002); Kleihues (2002); Häsner (2004).
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dologisch und erkenntnistheoretisch motivierten Enthusiasmus preis, der etwa in folgender Eloge auf den usus disputandi, die Bruni in seinen Dialogi ad Petrum Paulum Histrum Coluccio Salutati in den Mund legt, paradigmatischen Ausdruck findet. Salutati mahnt hier seine Gesprächspartner, jüngere Humanisten, die gleichsam um ihn als ihrem Lehrmeister geschart sind, sich verstärkt der exercitatio disputandi zu widmen. Er fährt dann fort: Nam quid est, per deos immortales, quod ad res subtiles cognoscendas atque discutiendas plus valere possit quam disputatio, ubi rem in medio positam velut oculi plures undique speculantur, ut in ea nihil sit quod subterfugere, nihil quod latere, nihil quod valeat omnium frustrari intuitum? […] Quid est quod ingenium magis acuat, quid quod illud callidius versutiusque reddat, quam disputatio, cum necesse sit ut momento temporis ad rem se applicet, indeque se reflectat, discurrat, colligat, concludat? Ut faciliter intelligi possit, hac exercitatione excitatum ad cetera discernenda fieri velocius.69
Eben dieses Ideal mündlicher Disputation, das sich gerade von der Kopräsenz der Gesprächsteilnehmer kognitiven Gewinn verspricht, verfällt bei Tasso grundsätzlicher Kritik. Stattdessen propagiert er im Cataneo ein Modell der Wissensgenerierung und des Wissenstransfers, das die Absenz der Kommunikationsteilnehmer nicht als einen zu überwindenden oder demütig zu akzeptierenden Mangel erkennt, sondern gerade als Garanten valider Argumentationen, und das eben deshalb der Schrift gegenüber der mündlichen Rede den Vorrang einräumt. In ausdrücklicher Opposition zu der in Platons Phaidros vertretenen Auffassung wird der Schrift damit gegenüber mündlicher Rede ein potentiell höherer Wahrheitswert zugesprochen. Die lettere sind gegenüber der viva voce nicht nur das potentere Kommunikationsmittel und Speichermedium, 69 Bruni (1952), 46f. „Was, bei den unsterblichen Göttern, kann besser geeignet sein, subtile Sachverhalte zu begreifen und zu untersuchen, als die Disputation, bei der gleichsam mehrere Augen den in die Mitte gestellten Gegenstand von allen Seiten betrachten, so dass nichts daran dem Blick aller sich entziehen, ihm verborgen bleiben oder ihn täuschen kann? […] Was vermag den Verstand besser zu schärfen, ihn klug und gewitzt zu machen, als die Disputation, weil man sich innerhalb ganz kurzer Zeit auf die Frage einstellen und sodann reflektieren, prüfen, überdenken und schlussfolgern muss? Von daher ist es leicht einzusehen, dass der von dieser Übung angeregte Intellekt gewandter in der Behandlung aller anderen Gegenstände wird.“ (Übers. v. mir, B.H.). S. hierzu Häsner (2002) und Traninger (2012), 256–263. Als ein Tasso zeitlich näher stehendes Beispiel sei hier noch folgende Passage aus Stefano Guazzos La civil conversazione (1574) zitiert, die ebenfalls das mündliches Gespräch preist, an der allerdings die im Vergleich zu Brunis Salutati deutliche Akzentverschiebung vom Investigativen zur rezeptionsfördernden Didaxe auffällt: sarebbe errore il credere che la dottrina s’acquisti pi¾ nella solitudine fra i libri che nella conversazione fra gli uomini dotti, percioch¦ la prova ci dimostra che meglio s’apprende la dottrina per l’orecchie, che per gli occhi, e che non accaderebbe consumarsi la vista n¦ assottigliarsi le dita nel rivolgere i fogli degli scrittori, se si potesse aver del continuo la presenza loro, e ricever per l’orecchie quella viva voce, la quale con mirabil forza s’imprime nella mente. (Guazzo (1983), 30).
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das die Kommunikabilität und Geltungskonstanz von Argumenten begünstigt oder überhaupt erst möglich macht. Sie sind vielmehr auch das wahrheitsaffinere Medium, dessen Einsatz den öffentlichen, von den Affekten und Eitelkeiten der Kombattanten diktierten Konfliktinszenierungen gerade entzogen ist und deshalb von diesen auch nicht affiziert oder gar korrumpiert wird. Unmittelbarer Anlass und Horizont von Tassos Kritik mündlicher Rede ist die Praxis der disputa dialettica, die einerseits durch den Verweis auf das historische Ferrareser Disputationsereignis, dessen Protagonist Tasso war, andererseits durch Beschwörung ihres Regelwerks und Zitation typischer Argumentationsfiguren in der Gesprächsfiktion als Muster gegenwärtig gehalten wird. Selbst wenn sie ihren Anstoß in einem konkreten und partiell ,irregulären‘, weil karnevalisierten Ereignis findet, ist diese Kritik, die gleichsam bei der Physik des Sprechens (seiner Volatilität) und der Schrift (ihrer Beständigkeit) ansetzt, grundsätzlicher Natur und nicht von nur okkasioneller Gültigkeit. Tatsächlich ist auch das im Cataneo dargestellte Gespräch mit Cataneo und Sanminiato, in das Tasso gegen seine Absichten verwickelt sein will, das aber keinesfalls unter karnevalesken Bedingungen stattfindet, von dieser Kritik nicht ausgenommen. Vielmehr wird dieses Gespräch ausdrücklich mit jenem dialektischen ,Turnier‘ (arringo), das den Anlass seines Unbehagens und seiner Kritik darstellte, kategorial gleichgesetzt, wenn Tasso am Ende der medienkritischen Sequenz feststellt: Ma voi, signor Paulo, […] m’avete colto la seconda volta in questo quasi arringo del ragionare.70 Was heißt dies nun aber für den Dialog, dessen Argumentbildung unweigerlich eine Funktion mündlicher Rede ist? Die Gattung steht und fällt schließlich mit der Nachahmung eben jener Redeform, die von der Tasso-persona des Cataneo als flüchtig, affektkontaminiert und korruptionsanfällig und deshalb als wahrheitsfern verworfen wird. Trifft die dezidierte Herabsetzung des Objekts seiner Nachahmung nicht auch den Dialog selbst? Oder unterläuft der Dialog diese Kritik, insofern er qua schriftlicher Text die viva voce nur fingiert? Als schriftlicher Text mag der Dialog den Kriterien Tassos ja durchaus genügen; weder ist sein Diskurs durch die situativen Äußerungsumstände, gar durch strepito und applauso physisch anwesender Rezipienten beeinträchtigt, noch ist seine Geltung durch die Flüchtigkeit seiner Zeichenarsenale und deren geringen Resonanzraum gemindert. Dessen ungeachtet bleibt aber die Frage bestehen, weshalb Tasso seine so radikale und umfassende Kritik der viva voce ausgerechnet mittels einer Textform vorbringt, die mit mündlicher Rede definitionsgemäß liiert ist und die deshalb durch diese Kritik ebenfalls als kompromittiert erscheinen muß. Was mag Tasso veranlasst haben, den Dialog ausgerechnet in dieser Angelegenheit 70 Tasso (1998), II 866 (Hervorhebung von B. H.).
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gegenüber anderen Textformen wie Traktat oder Discorso zu bevorzugen – Textsorten mithin, die eine weniger promiske Beziehung zur Mündlichkeit unterhalten und mit denen Tasso durchaus auch zu reüssieren wußte, wie nicht zuletzt sein Discorso dell’arte del dialogo bezeugt? Was also ist der funktionale Mehrwert des Dialogs? Die Antwort auf diese Frage wird durch die Performanz des Textes selbst – in diesem Fall eben des Cataneo – gegeben. Denn ganz offensichtlich leistet der Dialog etwas, was Diskurse wie der dialektische, der im Cataneo auf distanzierende und zitative Weise praktiziert wird und der zugleich Anlass und primäres Objekt seiner Medienkritik ist, weder zu leisten vermögen noch überhaupt leisten wollen, und zwar ganz unabhängig von ihrer schriftlichen oder mündlichen Medialisierung. Der Cataneo läßt evident werden, dass es mit dem Dialog nicht oder nicht nur darum geht, in logischer Abfolge, von Distinktion zu Distinktion voranschreitend, Argumente zu proponieren bzw. zu widerlegen, sondern zugleich darum, den Prozess ihrer Hervorbringung, Affirmation und Konfutation vorzuführen und durch die Aufrufung lebensweltlicher Kontexte einschließlich biographischer Details zu indexikalisieren und u. U. zu irritieren.71 Denn genau dies ist eine spezifische Möglichkeit des Dialogs als einer fiktionalen Gattung, die ihn von anderen argumentativen Genera wie Traktat, Kommentar oder Discorso – Genera, die gerade Strategien der systematischen Tilgung oder Reduktion von Subjekt- und Kontextspuren verfolgen – unterscheidet. Eben diese Fiktionalität, die sich im Falle des Dialogs vor allem als Fiktion – oder als imitazione – mündlicher Rede realisiert, bringt aber noch einen weiteren Komplexitätszuwachs mit sich. Wie bei fiktionalen Gattungen überhaupt, hat man es auch beim Dialog mit einer Überlagerung zumindest zweier Aussageebenen – Ebenen der ¦nonciation – zu tun, einer Darstellungsebene und einer dargestellten Ebene, wobei letztere im Falle des Dialogs im wesentlichen durch Figurenrede konstituiert wird: Der Autor ,spricht‘, indem er andere, nämlich seine Figuren, sprechen lässt. Die sich überlagernden Aussageebenen können einander affirmieren oder ergänzen, aber auch in einem Kontrast- oder Negationsverhältnis zueinander stehen. In jedem Fall hat die 71 Das schließt Strategien des self-fashioning und community-fashioning wie auch andere operative Funktionen ein (s. Häsner (2004) u. Häsner (2006)). Ohne dies hier näher ausführen zu können, geht es im Cataneo ebenso wie in anderen Dialogen Tassos zweifellos auch darum, seinen Autor ins rechte Licht zu setzen. S. hierzu Raimondi (1998) u. Häsner (2010). Aufgrund der Indexikalisierung, d. h. Personalisierung und Kontextualisierung seines argumentativen Diskurses, eignet sich der Dialog aber auch hervorragend dafür, alte Rechnungen zu begleichen, sowohl als Schuldner wie auch als Gläubiger: Gewiss soll mit dem Cataneo Tassos altem Mentor ein Denkmal gesetzt werden. Wie weiter oben (Anm. 19) bereits erwogen, könnte es sich aber zugleich auch um eine Abrechnung mit Montecatini handeln, von dessen Thesen sich Tasso auf z. T. süffisante und sogar maliziöse Weise distanziert.
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Textaussage unter diesen Bedingungen die Konturen einer Makroproposition, die nicht reduzibel ist auf einzelne ihrer Elemente, selbst wenn es sich dabei um Propositionen handelt, die im Text eindeutig als dominant ausgezeichnet sind.72 Im konkreten Fall des Cataneo, zumindest solange man ihn als ,metadialogischen‘ Dialog liest, hat diese Makroproposition die Struktur eines performativen Widerspruchs: Die Kritik der viva voce durch die zentrale Figur der Gesprächsfiktion erfolgt im Modus einer Textsorte, die innerhalb des Ensembles argumentativer Genera gerade für Prämierung und Nobilitierung mündlicher face-to-face-Kommunikation steht.73 Dass Figur und Autor des Textes namensidentisch sind und dadurch beide Positionen – Kritik wie Affirmation der viva voce – ,autorisiert‘ erscheinen, ist zwar nicht Ursache des performativen Widerspruchs, verstärkt aber noch dessen Effekte. Jedenfalls führt diese Konstellation zu einer grundlegenden Ambiguisierung oder sogar Paradoxalisierung der Textaussage, die in der oben formulierten Antithese – trifft die Kritik der Mündlichkeit den Dialog oder entzieht er sich gerade dieser Kritik? – wie in jeder anderen denkbaren Antithese nur ganz unzulänglichen Ausdruck findet. Tatsächlich führt jede Vereindeutigung dieser Ambiguität, also die Auflösung des Widerspruchs zugunsten der einen oder der anderen Seite, zwangsläufig zur Ausblendung einzelner Bedeutungsfacetten oder ganzer Bedeutungsschichten. Wenn man dennoch und im Bewusstsein dieses Dilemmas die metadialogischen Implikationen des Cataneo zu explizieren versucht, ergibt sich, statt eines unzweideutigen programmatischen Plädoyers pro oder contra, eher ein Tableau komplementärer Schlussfolgerungen, die ich abschließend in den folgenden Punkten zusammenfassen möchte: 1. Zunächst und vor allem bedeutet der metadialogische Diskurs des Cataneo eine deutliche Relativierung sowohl der deskriptiven Angemessenheit wie auch der normativen Geltung von Tassos eigener Dialogpoetik und ebenso der seiner Zeitgenossen. Die einzelnen Elemente der Tassoschen Dialogdefinition – Nachahmung, Disputation und Dialektik – werden im Cataneo gegenüber dem Discorso dell’arte del dialogo rekonfiguriert und grundlegend neu bewertet. Während die dialektische Disputation im Kontext von Tassos Discorso Referenz und Maßstab für den Dialog ist, erfährt sie im Cataneo eine explizit-diskursive wie implizit-performative Kritik und Herabstufung. Die Orientierung auf den methodologischen Rigorismus der Dialektik, die Tasso von Sigonio übernimmt und die den Status des Dialogs im zeitgenössischen 72 Zur makropropositionalen Komplexität von Dialogen s. ausführlich Häsner (2004). 73 Zu einer eingehenderen Analyse dieses performativen Widerspruchs s. Häsner (2004a). Der performative Widerspruch des Cataneo verhält sich – zumindest beinahe – spiegelbildlich zu dem des Phaidros, den Tasso selbst benennt, wenn er feststellt, dass die Tradierung der sokratischen Kritik der Schrift offensichtlich eben des kritisierten Mediums bedarf. Zum Phaidros s. auch Hempfer (2002).
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Diskursgefüge definieren und zugleich nobilitieren soll, erweist sich im Lichte des Cataneo als eine nur nominelle. Die Kritik der Disputation, die im Cataneo einer kategorischen Kritik mündlicher Rede eingelassen ist, trifft die zeitgenössisch wohl elaborierteste Manifestationsform mündlicher gelehrter Streitkultur, die, wenngleich mittelalterlicher Provenienz, auch noch im 16. Jahrhundert und darüber hinaus eine zentrale Institution des akademischen Lebens darstellt.74 In der Perspektive des Cataneo dagegen scheint die disputa dialettica erst im Zustand der Nachahmung, also durch ihre Verschriftlichung im Dialogtext, zu einem respektablen und validen Genre des theoretischen Diskurses zu werden. Mit dem Cataneo propagiert Tasso also ein alternatives Modell gelehrter Konfliktualität, das die Kopräsenz von Opponenten nur noch im Fiktionsraum eines schriftlichen Textes als erfolgversprechenden Modus oppositiver Argumentbildung anerkennt. Die Überlegenheit des schriftlichen Dialogs gegenüber der mündlichen Disputation ist substantiell, d. h. sie besteht nicht nur hinsichtlich seiner pragmatischen Funktionen der Tradierung und Verstetigung von propositionalem Wissen, sondern auch seiner epistemischen Validität. Diese Überlegenheit des Dialogs kann aber nicht einfach auf seiner Schriftlichkeit beruhen, denn diese ist durchaus kein Spezifikum des Dialogs als Gattung des theoretischen Diskurses. Sie muss vielmehr darauf gründen, dass der Dialog unweigerlich und in einer für ihn konstitutiven Weise mündlichen und schriftlichen Diskurs miteinander verschränkt oder, anders gesagt, dass er die viva voce im Medium der lettere, des schriftlichen Textes, in Szene setzt.75 Die Inszenierung von Mündlichkeit im Medium der Schrift beinhaltet also eine partielle Rehabilitierung der viva voce, insofern es gerade deren Nachahmung ist, die dem Dialog seine spezifische makropropositionale Komplexität garantiert und ihn damit gegenüber anderen Textformen des theoretischen oder argumentativen Diskurses auszeichnet. Allerdings und paradoxerweise ist die ,lebendige Rede‘, die durch den Dialog rehabilitiert erscheint, eine im Medium der Schrift geronnene und erst in dieser medialen Sublimationsform akzeptabel gewordene Mündlichkeit. Die makropropositionale Komplexität des Dialogs beruht, wie gesagt und am Beispiel des Cataneo demonstriert, vor allem auf der Überlagerung von schriftlicher und – fingierter – mündlicher Rede, und sie profitiert des Weiteren von den besonderen Lizenzen letzterer, die den Dialog vom Kohä-
74 S. hierzu Traninger (2012), 242–245. 75 Snyder spricht hinsichtlich des Dialogs prägnant von einem „Writing the Scene of Speaking“ – so der Titel seines Buches über die Dialogpoetiken des Cinquecento (Snyder (1989)). S. hierzu auch Hempfer (2002).
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renzdruck anderer schriftlicher Textsorten entlasten und ihm (wie der Cataneo ebenfalls exemplarisch belegen kann) Digressionen, Ellipsen und Friktionen erlauben, die etwa im Traktat nicht zulässig wären oder jedenfalls besonderer Rechtfertigung bedürften. Der methodischen Komplexitätsreduktion des dialektischen, sich über eine Sequenz von Distinktionen realisierenden und auf argumentative Konklusivität zielenden Diskurses ist damit ein Modell der Komplexitätspotenzierung gegenübergestellt, das sich nur im Modus der schriftlichen Fiktion realisieren lässt und das nicht Hörer, sondern Leser als Rezipienten voraussetzt, die imstande sind, seine fugierte Vielstimmigkeit adäquat in Propositionen zu überführen. 6. Bereits in der ersten Replik des Dialogs hatte der Gastgeber Cataneo den Dichter gegenüber dem geschulten Dialektiker als unterlegen eingeschätzt. Tassos persona widersprach ihm darin zwar nicht, der Text des Cataneo tut dies aber ganz entschieden. Wenn man die in Tassos Discorso dell’arte del dialogo vorgenommene Bestimmung des Dialogs als imitazione d’una disputa dialettica mit der kategorischen Kritik mündlicher Streitrede im Cataneo zusammendenkt, kann man nur den Schluss ziehen, dass die Nachahmung dem Nachgeahmten in allen Belangen überlegen ist. Die Fiktion hat einen höheren epistemischen Status als die lebensweltliche Realität, die sie abbildet und tritt an deren Stelle. Insofern aber Nachahmung das zentrale Geschäft der Dichtung ist, bedeutet ihre Prämierung gegenüber dem Objekt der Nachahmung letztendlich auch eine Aufwertung der Dichtung gegenüber der Dialektik – oder des Dichters gegenüber dem Dialektiker. Während Tasso in seinem Discorso den Dialogautor zwischen dem Dichter und dem Dialektiker (quasi mezzo fra ‘l poeta e ‘l dialettico76) positioniert, verlagert sich diese Äquidistanz im Lichte des Cataneo deutlich zugunsten des Dichters als dem für die imitazione Zuständigen. Der Autor des Dialogs ist vor allem eben doch Dichter, und gerade deshalb zeichnet sich sein Diskurs gegenüber dem des Dialektikers durch größere Wahrheitsnähe, überlegene Erkenntnispotenz und durch seine den Moment der Äußerung überdauernde Beständigkeit aus.
76 Tasso (1998a), § 28. Vgl. auch ebd. §38.
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Edeltraud Werner (Halle)
Das Dialogmuster im italienischen Geschlechterdiskurs bis 1600. Am Beispiel von Baldassare Castigliones Il Cortegiano und Moderata Fontes Il merito delle donne
1.
Einleitung
Im Zentrum des Beitrages stehen zwei durch eine dialogische Binnenstruktur gekennzeichnete Texte,1 zum einen Baldassare Castigliones Libro del Cortegiano („Das Buch vom Hofmann“), welches bekanntlich bereits kurz nach seinem Erscheinen 1528 in verschiedene andere Volkssprachen übersetzt worden ist und in England etwa wegweisend wurde für das Konzept des gentleman (allerdings schon kurz nach Erscheinen der italienischen Ausgabe, also lange vor der englischen Übersetzung aus dem Jahre 1561) oder in Frankreich für das des honnÞte homme,2 und zum anderen Il merito delle donne („Das Verdienst der Frauen“) von Moderata Fonte (eigentlich Modesta Pozzo), abgefasst zwischen 1588 und 1592, und 1600 postum im Druck erschienen.3 Bei beiden Dialogen handelt es sich um sog. narrative Dialoge, d. h. die Dialoge werden von einer distanzgebenden Instanz, i. e. dem Autor, berichtet. Sprachliche Markierungselemente sind die eingeschobenen Redeverben sowie situationsdeskriptive Passagen. Während der Autor des Cortegiano in einem Widmungsschreiben die Wiedergabe eines Gesprächs anzeigt, das 1507 am Hof von Urbino stattgefunden und von dem er zeitnah vom Hörensagen erfahren habe, erscheint der Dialog Moderata Fontes in einem weiter distanznehmenden Modus. Die Autorin übernimmt keine Rolle als Berichterstatterin, obwohl sie natürlich den Dialog verfasst hat. Über die in der Einleitung explizit greifbare zeitgenössische Einbettung, erfolgt ebenfalls eine geographisch-soziale Anbindung, diesmal an die 1 Die Gattungsbezeichnung ,Dialog‘ taucht im Titel der beiden Texte nicht auf. Aber aufgrund der dominanten dialogischen Struktur wird im Folgenden die Gattungsbezeichnung ,Dialog‘ verwendet. 2 Für die Rezeption des Cortegiano in Europa cf. u. a. Burke (1995); Prosperi (ed. 1980). 3 Für eine frühe vergleichende Analyse beider Texte cf. insbesondere Chemello (1980), 129ff. et passim, die 1988 auch eine moderne Ausgabe von Il merito delle donne besorgt hat, der eine umfassende Einleitung beigegeben ist. Ferner Segler-Meßner (2003), 50–55, 60–65 und andere.
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Stadt Venedig und das gehobene Bürgertum. Der Dialog bleibt allerdings fiktional.4 Wir haben es einmal mit einer höfischen Gesellschaft und einmal mit dem wohlsituierten Bürgertum eines prosperierenden Stadtwesens zu tun, also jeweils herausragenden Schichten im jeweiligen Sozialgefüge eines als exzellent attribuierten gesellschaftlich-kulturellen Rahmens (Hof bzw. Stadt5). Zum einen geht es um den Zeitvertreib einer höfischen Kompagnie im gesellschaftlichen Schaurahmen, zum andern um den einer Gruppe von Frauen, wohlsituierten Bürgerinnen Venedigs, in der Abgeschiedenheit eines privaten Gartens. Die Dialoge erweisen sich gleichzeitig aber auch als Strukturelement eines umfassenderen Diskurses, der über die Geschlechterbezogenheit (Geschlechterdiskurs) definiert ist und der bereits über eine lange Diskursgeschichte verfügt, die bis in die Antike zurückweist. Geschlechterdiskurs im Beitrag meint damit ganz allgemein denjenigen Diskurs, der geschlechterspezifische Aspekte und Topoi thematisiert, sei es den Mann, sei es die Frau oder sei es beide betreffend – also Themenzentrierung. Im Cortegiano ist dieser Diskurs ein – wenn auch umfassend behandeltes – Subthema, in Il Merito delle donne hingegen stellt er das Hauptthema dar. Im nachfolgenden Beitrag wird aus dem Cortegiano der Diskurs um das Wesen der Frauen herausgefiltert, aus Il merito delle donne derjenige über Natur und Verhalten der Männer, der gleichermaßen Aufschluss über die nicht nur zeitgenössische Sicht auf die Frauen gibt. Der Argumentationsduktus der ausgewählten Passagen ist einmal durch eine männliche und einmal durch eine weibliche Perspektivierung bestimmt und ist jeweils polemisch gestaltet. Im Cortegiano richtet sich die Polemik im herausgelösten Segment gegen (die) Frauen, in Il Merito delle donne gegen (die) Männer. Der Blickwinkel der Polemik führt zu einer Schwerpunktsetzung auf diskursive Formen und Situierungen polemischen Agierens, so wie es in den ausgewählten Texten an exemplarischen Passagen vorgeführt werden soll. Agieren vollzieht sich über „Reden“ / parlare und über den Umgang miteinander / conversazione.6 Das von Stenzel 1986 vorgelegte auf literarisch fundierte polemische Situationen zugeschnittene Kommunikationsmodell in Ableitung des Bühlerschen Organonmodells mit den Positionen des polemischen Subjekts (Polemiker : der Autor), des polemischen Objekts (Angegriffener), der polemi4 Cox (2000), 394ff. bezeichnet den Cortegiano dementsprechend als pseudodokumentarischen, Il Merito delle donne hingegen als fiktiven Dialog. Cf. dort auch die Auflistung von Texten/Dialogen für die beiden Gruppen, 395–397. 5 Sowohl der Hof von Urbino als auch die Stadt Venedig werden als beispielhaft für gleichartige Gemeinwesen eingeführt. Urbino wird aufgrund der dort gelebten cortegiania als Blüte aller oberitalienischen Höfe beschrieben und Venedig aufgrund seiner Prosperität in allen Bereichen als Metropole des Universums/der Welt. 6 Zur Begriffsgeschichte von conversazione cf. etwa Plotke (2008).
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schen Instanz (direkter oder indirekter Adressat / Publikum) sowie eines unabdingbar kontroversen Themas,7 steht bei meinen Überlegungen im Hintergrund, ohne allerdings zum Leitraster für meine eigenen Darstellungen zu werden. Beide Dialoge spielen jeweils mit einer Reihe von Faktoren, die für die in ihnen manifeste Polemik im Rahmen ihrer textinternen und/oder textübergreifenen Kontexte maßgebend werden und die in der Kontrastsetzung die jeweiligen Mechanismen augenscheinlicher machen, als dies bei der Beschränkung auf nur einen der beiden Dialoge zeigbar wäre. Polemik an sich existiert nicht, sondern wird nur greifbar mit Blick auf die diskursiven, textuellen und gesellschaftlichen Ko- und Kontexte, in die sie sich einordnen. Und Polemik muss für den Adressaten/das Publikum/den Leser bzw. Zuhörer als solche erkennbar sein, sonst läuft sie ins Leere. Da die Thematik sehr weit gefasst ist, sei vorweg genommen, dass viele Aspekte nur angerissen werden können. Der Beitrag will v. a. Anregungen für weiterführende Auseinandersetzungen geben, insbesondere, da der Dialog als Medium für Polemik ja nicht isoliert in der Zeit dasteht, sondern zahlreiche mehr oder weniger stark „standardisierte“ andere Gattungen bzw. literarisch genutzte Ausdrucksformen zur Seite hat, und das nicht nur in Italien. Dabei besteht grundsätzlich eine Offenheit bezüglich der benutzten Sprachen – grosso modo Latein oder eine Volkssprache. Literarisches Geschehen ist auch noch im Zeitalter der Renaissance nicht ausschließlich national determiniert, wie gerade auch die Übernahme des Konzepts des Hofmanns in anderen Ländern zeigt. Und der geschlechterbezogene Diskurs ist allemal nicht national begrenzbar.
2.
Kurzpräsentation der beiden Dialoge
2.1
Baldassare Castiglione, Il Cortegiano
Il Cortegiano erschien 1528 in Asolo, kurz darauf erneut in Florenz und wird von den beiden großen Druckereien der Zeit, Manuzio in Venedig und Giunti in Florenz ins Vertriebssystem übernommen. Den Dialograhmen gibt der Hof von 7 Cf. Stenzel (1986), passim. Stenzel legt eine Heuristik polemischen Agierens vor, die neben der Entwicklung des Modells zur Beschreibung polemischer Situationen ein Bündel von Merkmalen zusammenstellt, anhand dessen polemisches Agieren in seiner je individuellen textgebundenen Spezifik hinterfragt werden kann. Solche Merkmale stehen hinter Formulierungen wie „Polemik ist … aggressive Rede“, Polemik ist „jene Rede, in welcher unsachlicher Stil dominiert“, „Polemik argumentiert“ und ist „auf Wirkung hin funktionalisiert“. Die Argumentation fokussiert Frag-Würdiges und kann zutreffend oder unzutreffend sein. Zudem hat sie Öffentlichkeitscharakter (op.cit. 4f.). Argumente sind sozusagen die „Res polemischer Rede, entnommen aus dem Areal von Topoi“ und sollen „aggressive Vorurteile stimulieren“ (op.cit. 8).
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Edeltraud Werner
Urbino (heute eine Kleinstadt in den Marken südwestlich von Pesaro) ab, der damals (neben Mantua und Ferrara) ein bedeutendes intellektuelles Zentrum war, in dem sich führende letterati – Dichter, Philosophen, Theologen/ Kirchenmänner und Adelige – ein Stelldichein gaben. In diesem Klima ist ein intellektuelles Biotop entstanden, in dem sich Persönlichkeiten gleichen Standes und intellektuell-ästhetischen Anspruchs im Umgang (conversazione) vereinen. An der Gesprächsrunde, die den Dialog trägt, beteiligt sich an vier Tagen eine relativ große und hin und wieder auch differierende Anzahl von Personen (insgesamt gut zwanzig), die sich nach einem mit höfischem Zeitvertreib verlebten Tag abends nach dem Essen in den Räumlichkeiten der Herzogin von Urbino, Elisabetta Gonzaga, zusammenfinden, um dem Tag eine angemessene Abendgestaltung hinzuzufügen. Die Runde setzt sich bei den namentlich geführten Personen aus auch historisch greifbaren Persönlichkeiten zusammen, überwiegend Männern, aber auch einer Anzahl von Frauen.8 Für den hier interessierenden Diskursausschnitt wären etwa zu nennen Bernardo da Bibbiena als Vertreter der höfischen Sittsamkeit und der conversazione, Giuliano de’ Medici als Wort-Zeichner der donna di palazzo,9 Gasparo Pallavicino, der einen misogynen Standpunkt vertritt, sowie Ottaviano Fregoso und Nicolý Frigio, die ihn hierin unterstützen, ferner die bereits genannte Herzogin Elisabetta Gonzaga sowie Emilia Pia, lebensweltlich Schwägerin der Herzogin. Man beschließt auf Geheiß der Herzogin ein Spiel zu inszenieren, dessen Gegenstand ein alle gleichermaßen tangierendes Thema sein soll. Aus den verschiedenen Vorschlägen wählt Emilia Pia, die von der Herzogin aufgrund ihrer für eine Frau herausragenden intellektuellen Fähigkeiten – die natürlich nicht über die für Männer der Zeit übliche Ausbildung verfügt10 – zur Spielführerin bestimmt wird, das Thema der cortegiania, der Höfischkeit und des höfischen Verhaltens, aus. Die Spielregeln sind dergestalt, dass Emilia (aber auch die Herzogin selbst) jeweils einen Wortführer festlegt, der Teilthemen, die für das Hauptthema relevant sind, im 8 Eine Aufzählung findet sich Cort. I.5 (24). Zur Biographie der lebensweltlichen Pendants der Dialogteilnehmer cf. u. a. Quondam (ed.), 1981: passim, sowie die entsprechenden Einträge im DBI sowie in den Dokumenten des ABI. 9 Der Terminus donna di palazzo ist nur schwer ins Deutsche zu übertragen. So finden sich in der Übersetzung von Wesselski etwa „Hofdame“ bzw. „Palastdame“, sofern nicht die italienische Bezeichnung übernommen wird. Am besten ließe sich der Ausdruck vielleicht mit „Dame der Hofgesellschaft“ wiedergeben. Im vorliegenden Text wird weitestgehend die italienische Bezeichnung verwendet. 10 So weist Emilia etwa Giuliano in die Schranken, indem sie ihm auf dem Höhepunkt der misogynen Einlassungen und Argumente auffordert, verständlich (d. h. nicht mit akademischen Termini) zu argumentieren. Dem analog wird etwa in Il Merito delle donne, beklagt, dass Frauen im Vergleich zu den Männern über eine defizitäre Bildung verfügten. Allerdings geht man dort dann weiter als es im Cortegiano geschieht: man müsste den Frauen nur die gleiche Ausbildung ermöglichen, dann wären sie auch hierin den Männer ebenbürtig. Cf. Il Merito 169f. (cf. auch unten).
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Sinne der cortegiania ausführt. Gefolgt wird dabei dem Vorschlag Federico Fregosos: … vorrei che’l gioco di questa sera fusse tale, che si elegesse uno della compagnia ed a questo si desse carico di formar con parole un perfetto cortegiano, esplicando tutte le condicioni e particular qualit, che si richieggono a chi merita questo nome; ed in quelle cose che non pareranno convenienti sia licito a ciascun contradire, come nelle scole de’ filosofi a chi tien conclusion. (Cort. I.12 (35f.), Kursiv. E.W.) … ich hätte gerne, dass das Spiel dieses Abends so stattfinden soll, dass man einen aus der Gesellschaft auswählt und ihm die Aufgabe überträgt, mit Worten einen perfekten Hofmann zu formen, und dass er alle Umstände und besonderen Eigenschaften darlege, die man von jemandem erwartet, der diesen Namen verdient; und bei denjenigen Aspekten, die nicht zutreffend erscheinen, sei es jedem gestattet zu widersprechen, so wie in den Schulen der Philosophen, um dann zu einem Schluss / einem Ergebnis zu kommen. (Üb. E.W.)11
Buch 1 ist der verbalen Formgebung des idealen Hofmannes gewidmet (formare con le parole il perfetto cortegiano). Im zweiten Buch geht es um Rolle und Ausgestaltung der höfischen conversazione sowie der Unterhaltung mittels Fazetien (facezie) und Burlesken (burle). Polemische Äußerungen, die (die) Frauen im Visier haben, spielen hier erstmals eine Rolle. Im dritten Buch steht die formazione con le parole der donna di palazzo als Pendant zum vorher geformten Hofmann im Mittelpunkt. Hier nun entspinnt sich nach der ausführlichen Darlegung, wie sich der Wortführer Giuliano de’ Medici, genannt Il Magnifico, eine solche Dame vorstellt, ein heftiger Dialog/Disput zwischen Giuliano und Gasparo Pallavicino, der sich als vehementer Vertreter misogyner Ansichten und damit als Provokateur geriert. Buch 4 schließlich ist zum einen dem Verhältnis von Hofmann und Fürst (cortegiano e principe) und zum anderen der Liebe im idealen Sinne des platonischen Konzeptes Pietro Bembos (filosofia d’amore) gewidmet. Das ganze findet in einem Rahmen statt, der geprägt ist von Heiterkeit (ilarit) und Fröhlichkeit (allegria), die allen „ins Gesicht gemalt“ ist, und die auch den Dialogduktus bestimmen12 – und in der Tat
11 Für die deutsche Übersetzung wird die Übersetzung von Wesselski zugrunde gelegt, die allerdings nur Auszüge der Textvorlage enthält (cf. Castiglione (2008)) und die relativ frei mit dem Text umgeht. Wo vorhanden und hinreichend, werde ich diese Übersetzung den Originalzitaten beifügen, wo der Übersetzer unnötig frei agiert, werde ich korrigierend abändern und meine Bearbeitung vermerken, ohne dies jedoch im Detail typographisch zu kennzeichnen. Nicht von Wesselski übersetzte Passagen habe ich selbst übersetzt. Genauso verfahre ich später mit der Übersetzung des Textes von Moderata Fonte durch Hacke (2001). 12 Cf. Quivi adunque i soavi ragionamenti e l’oneste facezie s’udivano, e nel viso di ciascuno dipinta si vedeva una gioconda ilarit, talmente que quella casa [i. e. die Gemächer der Herzogin] certo dir si poteva il proprio albergo della allegria; […] (Cort. I.4 (21)) („Da konnte man anmutige Gespräche und ehrbare Scherze hören, und auf dem Gesicht jedes einzelnen
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wird im Spiel viel gelacht und gelächelt. Das piacere wird zur Grundfunktion des Spiels.13
2.2
Moderata Fonte, Il Merito delle donne
Il Merito delle donne wurde im Jahre 1592 abgeschlossen.14 Veröffentlicht wurde der Dialog postum 1600 in Venedig bei Domenico Imberti durch Moderata Fontes Schwager Giovanni Nicolý Doglioni, der die Ausgabe mit einem Vorwort versah, das heute immer noch die wichtigste Quelle für biographische Daten Moderata Fonte betreffend ist.15 Während der Dialog bis ins 18./teils 19. Jahrhundert literaturgeschichtlich in Italien durchaus präsent war,16 wurde er in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts sozusagen neu ins kulturelle Gedächtnis zurückgerufen, vorrangig im Zusammenhang mit einer feministisch inspirierten Literatur-, Kultur- und Mentalitätsgeschichtsschreibung.17 Es handelt sich um einen auf zwei Tage verteilten Dialog von sieben Venezianerinnen gleichen Standes (gentildonne, sozusagen analog zum gentilomo bei Castiglione), aber unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher zivilrechtlicher Stellung: das
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den Ausdruck einer ruhigen Heiterkeit wahrnehmen, so daß dieses Haus die eigentliche Wohnung der Fröhlichkeit genannt zu werden verdiente“ (Üb. Wesselski, 16)). Das Spiel solle durch das Vortragen nicht immer vollkommener Argumente an Lebendigkeit gewinnen, wie etwa Emilia zu Beginn des Themas des ersten Tages deutlich macht, nachdem der bestimmte Wortführer einen Aufschub auf den nächsten Abend anregt, um sich besser vorbereiten zu können: Adunque, per non perder pi¾ tempo, voi, Conte, sarete quello che aver questa impresa nel modo che ha detto messer Federico; non gi perch¦ ci paia che voi siate cos bon cortegiano, che sappiate quel che si gli convenga, ma perch¦, dicendo ogni cosa al contrario, come speramo che farete, il gioco sar pi¾ bello, ch¦ ognun aver che respondervi, onde se un altro che sapesse pi¾ di voi avesse questo carico, non si gli potrebbe contradir cosa alcuna perch¦ diria la verit, e cos il gioco saria freddo (Cort. I.13 (36f.)). („Um weiter keine Zeit mehr zu verlieren, sollt Ihr, Graf, der sein, der die von Messer Federico gestellte Aufgabe zu lösen übernimmt; jedoch wähle ich Euch nicht vielleicht deswegen, weil Ihr ein gar so vortrefflicher Hofmann wärt oder alles das wüßtet, was einem solchen zukommt, sondern ganz im Gegenteil aus dem Grund, weil Ihr, wie wir hoffen, nur Verkehrtes vorbringen werdet, so daß durch den häufigen Widerspruch das Spiel an Reiz gewinnen wird. Wenn ein anderer, der sich besser auskennt als Ihr, dieses Amt versähe, könnte man ihm ja füglich nichts einwenden, da er eben die Wahrheit sagte, und so würde unsere Unterhaltung nur matt werden“ (Üb. Wesselski, 26)). Zu Moderata Fonte und ihrer dichterischen Produktion, einschließlich des Merito delle donne cf. die diversen Beiträge von Chemello (1988), (1997) sowie u. a. Guthmüller (1992) und (1994); Grewe (2004), 156ff.; Huber (1996); Jordan (1990), 253–257, 260f.; Malpezzi Price (1989). Cf. aber auch den Versuch Zimmermanns (1999), 97ff. aus dem Werk Moderata Fontes selbst Rückschlüsse biographischer Natur zu ziehen. Cf. hierzu Zimmermann (1999), 108f. Für eine solche Zuordnung der querelle de femmes generell cf. auch Bock/Zimmermann (1997), 19.
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Personentableau wird gebildet von Adriana, einer bereits älteren Witwe, Verginia, ihrer unverheirateten, aber zur Heirat anstehenden Tochter, Leonora, einer jungen Witwe, Lucrezia, einer seit langem verheirateten Frau, Cornelia ist seit kurzem verheiratet, Corinna, aus freiem Entschluss unverheiratet sowie der frisch vermählten Elena/Helena. Ein weiteres Publikum gibt es nicht.18 Auch Zugänge bzw. Abgänge sind nicht zu verzeichnen. Die Siebenzahl scheint auf die sieben Frauen der Rahmenhandlung von Boccaccios Decameron anzuspielen (denen dort allerdings drei Männer beigesellt sind19). Die Namen verweisen alle auf bedeutende Frauenfiguren der Antike, es handelt sich also nicht um zeitgenössisch historisch referenzierbare Persönlichkeiten. Der Dialog findet im Garten des Privathauses der Witwe Leonora statt, die dieses jüngst geerbt hat. Bevor sich die Damen dem Gespräch zuwenden, wird zunächst Venedig in seiner allumfassenden historischen und zeitgenössischen Bedeutung beschrieben, sowie dann der Garten als locus amoenus und gleichzeitig als hortus conclusus, in dessen Mitte sich ein Brunnen befindet (als Anspielung auf die Autorin Modesta Pozzo/Moderata Fonte), um den symbolträchtige Figuren angeordnet sind, deren Symbolträchtigkeit zunächst erklärt wird. Danach stellt sich – genau wie im Cortegiano – die Frage nach der weiteren Gestaltung des Tages. Adriana als die Älteste und Erfahrendste wird zur Königin (regina) der Gesellschaft gewählt. Diese nimmt das „Amt“ an und schlägt, da sich die Gesellschaft nicht einigen kann, ob sie Geschichten erzählen oder über ein Thema handeln wolle, vor, den restlichen Tag das Thema, das sie bisher auch schon umgetrieben hat, nämlich die Schlechtigkeit der Männer und die Verdienste der Frauen mit verteilten Rollen zum Thema eines Gesprächspiels zu machen. Hierzu teilt sie die Anwesenden in zwei Gruppen ein: auf der einen Seite solle Leonora (als Gesprächsführerin), unterstützt von Cornelia und Corinna offen (liberamente) von der schlechten Natur der Männer und deren Verhalten handeln und diese anklagen (accusare), auf der anderen Seite solle Helena (als Gegensprecherin) gestärkt von 18 Eine vergleichbare Prominenz weiblicher Protagonisten im Geschlechterdiskurs ist bis dahin nur bei Christine de Pizan und ihrer allegorisch angelegten Cit¦ des dames (erschienen 1405) zu finden, cf. u. a. Zimmermann (ed. 1986), passim sowie die dort aufgeführte Literatur; cf. auch Feichtinger (1994), passim etc. – Dialoge mit ausschließlich weiblichem Personentableau sind in der Renaissance höchst selten, cf. hierzu auch die Auflistung bei Cox (2000), 395–397. 19 In Boccaccios Decameron versammeln sich zehn junge Leute (sieben Frauen und drei Männer) auf dem Lande, um der in Florenz herrschenden Pest zu entfliehen. Sie vertreiben sich die Zeit mit dem Erzählen von Geschichten (novelle), bevor sie wieder in die Stadt zurückkehren. Dabei wird jeder Tag der Autorität und Verantwortung eines bzw. einer der Anwesenden unterstellt, der als König bzw. als Königin des jeweiligen Tages fungiert. Boccaccios Decameron ist für weite Teile auch der Dialogliteratur der Renaissance zum inspirierenden Vorbild geworden. So verweist auch Castiglione mehrmals im Cortegiano explizit auf Novellen aus dem Decameron, wenn er auch dessen Sprache nicht als Muster für ein höfisches Sprachmodell übernehmen will (cf. Cort. I.2).
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Verginia und Lucrezia, die Männer entschuldigen (scusare). Das Diktat/der Befehl der Königin wird von allen zustimmend angenommen. Der für das gewählte Thema unabdingbare Rahmen des männerfreien Raumes wird dabei vor Eintritt in das Spiel explizit benannt, wenn Cornelia, in sich hineinlachend/ schmunzelnd feststellt: Lodato sia Dio, poich¦ pur possiamo dire delle piacevolezze cos per rider tra noi e far ciý che pi¾ ne aggrada, che qui non À chi ci noti o chi ci dia la emenda. Apunto – respose Leonora – che se per caso qualche uomo ci sentisse ora a contar queste si fatte burle, quante beffe se ne farebbe egli? Non potressimo vivere. Se noi vogliamo poi dire il vero – disse allora Lucrezia – noi non stiamo mai bene se non sole e beata veramente quella donna che puý vivere senza la compagnia de verun’uomo. (Il Merito 16f.) Gott sei Dank, dass wir solche Scherze machen können, um miteinander zu lachen und das tun können, was uns am besten gefällt, denn hier ist niemand, der uns tadeln oder uns widersprechen könnte. – So ist es, bestätigte Leonora, denn wenn uns zufällig ein Mann hören würde, wie wir solche Scherze machen, wie sehr würde er uns verspotten? – wir könnten nicht mehr (in Ruhe) leben. – Um die Wahrheit zu sagen, bemerkte daraufhin Lucretia, wirklich gut geht es uns doch nur, wenn wir allein sind, und wahrhaft glücklich ist die Frau, die ohne die Gesellschaft eines Mannes leben kann. (Üb. Hacke 75f., bearb. E.W.)
Bei aller Scherzhaftigkeit lässt dieses Dialogfragment auch die Situation bzw. Einschätzung der Frauen durch die Männer in der zeitgenössischen venezianischen Gesellschaft aufscheinen. Gleichzeitig wird bereits hier eine unterschwellige Polemik greifbar. Das Gespräch/der Spaß wird im Laufe des ragionare des ersten Tages praktisch zu einem Tribunal für die Männer.20 Der zweite Tag soll dann der Frage gewidmet sein, weshalb Frauen die Männer, obwohl sie so sind, wie sie sind, dennoch gewillt seien zu lieben und sich ihnen freiwillig unterzuordnen. Lucrezia erhält den Auftrag, dies ausführlich abzuhandeln. Doch dokumentiert das Gespräch des zweiten Tages auf weiten Strecken „lediglich“ ein umfangreiches enzyklopädisches Wissen aus den unterschiedlichsten Lebensbereichen, als dessen Quelle im Wesentlichen die Naturalis Historia von Plinius sowie die von dem Mediziner Galen inspirierten zeitgenössisch kursierenden Werke anzusehen sind und wodurch die von Männern immer wieder in Abrede gestellten intellektuellen Fähigkeiten der Frauen unter Beweis gestellt werden sollen. Diese seien denen der Männer jedoch durchaus gleichwertig, wenn nicht gar überlegen. Die Ausgangsfrage wird nicht definitiv behandelt. Grundfunktion des Ge20 Cf. Chemello (1997), 251, die in diesem Zusammenhang auch explizit auf die polemische Grundstruktur der Gespräche des 1. Tages hinweist (ib. 255). Generell stuft sie den Dialog als einzigartig im gesamten frauenbezogenen Diskurs der Zeit ein; cf. auch Chemello (1980), 115.
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spächsspiels der gentildonne ist sozusagen die qualitative Selbstvergewisserung der Frauen.
2.3
Resümee
Beide Dialoge sind Inszenierungen, ein Spiel im Rahmen einer mehr oder weniger geschlossenen, sozial homogenen Gesellschaft, zum einen die Hofgesellschaft beiderlei Geschlechts,21 die eine conversazione civile pflegt, zum anderen eine Gruppe von wohlsituierten weiblichen Privatpersonen, die sich in der bürgerlichen Privatheit eines idyllischen Gartens zu einer conversazione domestica22 niedergelassen hat. Die Rollenverteilung im Spiel erfolgt entsprechend dem boccaccesken Modell jeweils durch eine Königin, die das Spiel zwar leitet, aber selbst außerhalb desselben bleibt.23 Im Cortegiano ist es die Herzogin (natura durch ihre dominierende Stellung am Hof dazu bestimmt), die die Spielleitung jedoch an Emilia überträgt. In Il Merito delle donne wird Adriana dazu ausgewählt (aufgrund ihrer Lebenserfahrung, die in ihrem Alter begründet ist24). Im Cortegiano werden für die Thematik jeweils ein bzw. im Spielverlauf hintereinander mehrere Wortführer für eine festgelegte Position bestimmt. Alle anderen (männlichen) Teilnehmer der Runde sind gehalten, den Ausführungen des Hauptsprechers, wo es ihnen notwendig erscheint, Widerspruch zu leisten. Der Dialog vollzieht sich also zwischen einem Hauptsprecher und den „Anderen“. In Il Merito delle donne werden Leonora für die Anklage der Schlechtigkeit der Männer und Helena für deren Entschuldigung bestimmt, beide jeweils sekundiert von je zwei der anderen gentildonne. Vorgeführt werden jeweils pro und contra zu den Themen des Tages. Der Widerspruch, das contradire, bzw. das Anklagen, das accusare, werden in den Dialogen zu den tragenden Verfahren. In beiden Dialogen ist zudem das Prinzip, Weltausschnitte mittels Worten zu schaffen oder zu demontieren (formare con le parole – fare/disfare con le parole) maßsetzend.25 Der Rahmen ist damit ein zeitgemäß platonischer und wird getragen durch den Vorrang des Wortes, des verbum, vor der res. Ein wesentlicher Unterschied der beiden Dialoge liegt in der unterschiedli21 Zu Inszenierungen von Spielwelten in der Renaissance cf. Hempfer/Pfeiffer (2007); zur Spieltheorie im 16. Jahrhundert u. a. Snyder (1989). 22 Modell für die conversazione domestica ist ohne Zweifel die dem höfischen Rahmen zugehörige civil conversazione; cf. auch Chemello (1983), 107 u. 114. 23 Zu dieser Sonderstellung der Königin cf. auch Chemello (1988), XXVI sowie die dort präsentierte Spieltheorie in Bargaglis Dialogo dei giuochi aus dem Jahr 1574, in die dieser Zug Eingang gefunden hat. 24 Hacke (2001), 55 sieht die Funktion der Adriana im weiblichen Kontext institutionell und sozialethisch analog derjenigen des Dogen von Venedig im männerdominierten Kontext. 25 Il Merito, 131. Cf. Chemello (1988), XXXII, XLIV–XLVIII.
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chen gesellschaftlichen Öffentlichkeitskonfiguration. Während der Hof von Urbino als für die Hofgesellschaft (aber nur für diese) prinzipiell offenes Terrain gilt, in dem sich Männer und Frauen treffen, zieht sich die Gesellschaft der Venezianerinnen in eine zeitlich befristete männerlose Privatheit zurück, da es nur so überhaupt möglich sei, ein Thema von so hohem polemischen Potential und damit Zündstoff, wie man es sich für das Spiel gestellt hat, offen, ohne Rücksichtnahmen und ohne die Gefahr verlacht zu werden, zu behandeln. Während der Dialog und damit auch die ausgewählten Passagen im Cortegiano als authentisch fiktionalisiert ist, ist er in Il Merito delle donne von vornherein nur als Fiktion möglich. Eine Authentifizierung, wie sie von Castiglione für den Cortegiano vorgenommen wird, ist um 1600 für das Thema von Il Merito delle donne in einer weiblichen Trägerschicht (noch) nicht denkbar.
3.
Die Dialoge im Geschlechterdiskurs
Der (volkssprachliche) Dialog ist im 16. Jahrhundert in Italien eine beliebte Textsorte26, um bestimmte Thematiken aus verschiedenen Perspektiven grundlegend und oftmals typenbildend zu behandeln. Sei es Pietro Bembos philosophischer Dialog Gli Asolani über die Liebe, seien es die umfassenden programmatischen dialogischen Abhandlungen zur Etablierung einer (literarischen) Sprachnorm27, seien es (naturwissenschaftliche) Abhandlungen als Wissenschafts- und Lehrwerke, wie sie etwa Sibylle Paulus in ihrer Dissertation aufgearbeitet hat,28 etc.. Zu diesen von Männer getragenen und durch deren Sicht geprägten Diskursen gehört auch der Diskurs um die Natur der Frauen, der sich seit der Antike auf philosophischen, religiösen, medizinischen und anderen Grundlagen beißend ernst, aber auch satirisch und polemisch vollzog. Frauen sind in diesem Diskurs überwiegend Objekt/Gegenstand ohne eigene Stimme. Das beginnt sich an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert mit der in Frankreich im höfischen Umfeld tätigen Venezianerin Christine de Pizan zu ändern, u. a. mit ihrer allegorischen Cit¦ des dames29. Christine de Pizan ist die erste Frau, die sich in den Diskurs einschaltet und die Sicht der Frauen dezidiert vertritt. Anlass sind die extrem misogynen Passagen im zweiten Teil des Rosenromans sowie bei Matheolus (beide dem Mittelalter zuordenbar). In den für den vorliegenden Beitrag ausgewählten beiden Dialogen wird 26 27 28 29
Cf. z. B. Geerts/Paternoster/Pignatti (2001); Paulus (2005). Cf. etwa Aschenberg (2005). Cf. Paulus (2005). Cf. hierzu die von Margarethe Zimmermann besorgte Übersetzung der Cit¦ des dames (Die Stadt der Frauen), Zimmermann (1986); zu Christine cf. u.v.a.m. Blumenfeld-Kosinski (1990).
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damit auf einen für die zeitgenössische Gesellschaft (und nicht nur für diese30) zentralen Diskurs referiert, der in seiner frauenfeindlichen Ausrichtung bereits über eine lange Tradition verfügt. Fokussiert werden die Rolle, das Ansehen, das Verhalten und die Einschätzung, die Eigensicht und die Fremdsicht der Geschlechter. Und der Dialog bietet für alle Denkrichtungen und Beobachtungen Raum, auch wenn es im Vordergrund etwa im Falle des Cortegiano um die verbale Festlegung von Idealen geht, in die die „traditionelle“ Sicht in Gestalt der launisch-polemisch vorgetragenen Argumente Gasparos, Ottavianos und Il Frigios eingebracht wird. Und im Falle von Il Merito delle donne geht es um die elementar fundierte Beschreibung von Erfahrung. Ideal wäre hier nur das (wohl kaum erreichbare) Ziel, dass Männer sich der Sicht der Frauen anschlössen. Im Italien der Renaissance beginnen Frauen sich an Diskursen zu beteiligen, die bis anhin fast ausschließlich in der Trägerschaft der Männer waren. Diese Beteiligung wird auch in die Texte selbst, in unserem Fall die ausgewählten Dialoge, verlagert. Wir haben in ihnen ein weibliches Personentableau, das in den beiden Dialogen unterschiedlich konfiguriert ist. Im Italien der Höfe und der Stadtstaaten, unter denen einerseits für Urbino und andererseits für Venedig die führende Rolle beansprucht wird, wird der Diskurs in einem frauenfreundlichen Sinne erstmals im Zusammenhang mit der Formung eines höfischen Modells bei Castiglione markant greifbar. Das 16. Jahrhundert liefert jedoch weiterhin umfassende Beiträge misogyner Ausrichtung, die u. a. einen weiteren Beitrag einer Frau provoziert, der im gleichen Jahr wie Moderata Fontes ll Merito delle donne erscheint, Lucrezia Marinellas Abhandlung Della nobilt e l’eccellenza delle donne (Vom Adel und der Vorzüglichkeit der Frauen) als Reaktion auf die massiv misogyne Abhandlung des Paduaners Giovanni Passi aus dem Jahr 1595 mit dem Titel Dei donneschi difetti (Von den weiblichen Mängeln).31 Generell war das Sujet im (auch weiteren geographischen) venezianischen Umfeld recht beliebt.32
30 Cf. hierzu die Einleitung zum von Geier/Kocher (2007) besorgten Tagungsband zur misogynen Rede in Geschichte und Gegenwart. Auch allgemein Fahy (1956) (darin auch ein Überblick über Abhandlungen zur Gleichheit bzw. Superiorität von Frauen, ib. 47–54); Hentsch (1909/1975); Marchesi (1895); Pi¦jus (1980); Werner (1993); Wulff (1914). 31 Zum Verhältnis der Polemik Passis und der Verteidigungsschrift Marinellas sowie zu Marinella allgemein cf. u. a. Lauer (1997), 270ff. et passim; Chemello (1983), 103 u. 105; dsgl. Collina (1989), 16; Conte Odorisi (1979); Traninger (2008); Volmer (2008), passim; Zimmermann (1994). 32 Cf. hierzu u. a. auch Bock/Zimmermann (1997), Brown/Davis (1998), Chemello (2000), Guidi/Pi¦jus/Fiorato (1980), Segler-Meßner (2004).
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4.
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Polemik in den Dialogen
Die Fokussierung der Ausführungen auf den Geschlechterdiskurs führt ohne Umwege zum polemischen Umgang mit der Thematik. Polemik als diskursive Strategie, die über eine Reihe rhetorischer Verfahren verfügt, die als solche aus der gesamten Textgestaltung heraus isolierbar sind. Pro und contra werden hier in einer Weise greifbar, wie dies in den anderen Diskursuniversen, die etwa im Cortegiano aufgebaut werden (Hofmann, Verhältnis Hofmann/Fürst, Liebesphilosophie), nirgends der Fall ist. Polemik ist im Geschlechterdiskurs dort ganz offensichtlich ein zentrales und „ideales“ rhetorisches Strukturelement und nicht nur der regelkonforme Widerspruch, und damit wird sie Teil der Inszenierung des Spiels, das den Rahmen abgibt. Es sind inszenierte Streitgespräche mit mehr oder weniger vorgegebenem „spielerischem“ Charakter. Der polemische Habitus lässt sich dabei nicht auf Aggressivität und dominierend NichtSachlichkeit reduzieren, wie etwa bei Stenzel zu finden, sondern umfasst im Rahmen des inszenierten und pointierten Widerspruchsverhaltens mehr. Die Polemik knüpft immer an bestimmte vorgegebene gesellschaftliche „Positionen“ und traditionsbasierte faktische und/ oder intellektuelle Setzungen aus dem frauenbezogenen Diskurs an. In Il Merito delle donne ist die Idealkonstruktion der donna di palazzo ersetzt durch die Erfahrung mit der Natur der Männer, die die Polemik auslöst, rückgebunden an die Selbsteinschätzung bzgl. der Vorzüge des eigenen Geschlechts. Die Polemik bedient sich allerdings partiell anderer Verfahren. Während im Cortegiano der aristotelisch-scholastische Argumentationsmodus und dessen Terminologien die erbittertsten Passagen begleiten, bevorzugen die Damen in Il Merito delle donne vor allem ein weniger klassisches Argumentationsmodell und bauen ihre Argumentation über Sentenzen und Spruchweisheiten bzw. Proverbien aus dem eher volkstümlichen Genre mittelalterlicher und zeitgenössischer Frauenschelte auf: traditionell auf die Frauen gemünzte „Weisheiten“ werden nun den Männern zugeordnet. – Doch folgen wir dem Lauf der beiden Dialoge auf exemplarischen Strecken.
4.1
Il libro del Cortegiano: Ein Spiel im Spiel
Polemik im Zusammenhang mit dem Geschlechterdiskurs wird im Verlauf des Dialogs immer wieder akut.33 Die Anbindung erfolgt logischerweise an das das 33 Zu den misogynen Passagen im Cortegiano cf. u. a. Floriani (1979); Daenens (1983) und (1985); Kolsky (1990); Cox (2000); Honnacker (2002); Connell (2002); Gallewicz (2002); Scarpati (2002).
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Spiel dynamisierende Widersprechen und manifestiert sich in der Berufung auf traditionelle Klischees – Topoi und loci comunes34 – zur Einschätzung von Wesen und Verhalten von Frauen. Diese werden zur res der polemischen Rede.35 Die Polemik setzt im Cortegiano in Buch 2 ein,36 wird in Buch 3 auf einer langen Strecke zum diskussionsleitenden Verfahren und dient in Buch 4 überwiegend als Rück-Referenz.37 Welche Rolle die Polemik, das Streitgespräch um die Frau (en), im Cortegiano spielt, wird nicht zuletzt auch daraus ersichtlich, dass der letzte Satz des Werkes auf den „Streit“ (la lite) zwischen Giuliano Il Magnifico und Gasparo Pallavicino bezogen ist. Nachdem die Herzogin den Schluss der Disputation des vierten Abends in den frühen Morgenstunden des fünften Tages verkündet hat, wendet sich der Präfekt von Rom, Francesco Maria della Rovere, an die Herzogin mit den Worten: „Signora, per terminar la lite tra ’l signor Gaspar e’l signor Magnifico, veniremo col giudice (i. e. Bembo) questa sera pi¾ per tempo che non si fece ieri.“ Rispose la signora Emilia: „Con patto che se ’l signor Gaspar vorr accusar le donne e dar loro, come À suo costume, qualche falsa calunnia, esso ancora dia sicurt di star a ragione, perch’io lo allego suspetto fuggitivo.“ (Cort. IV.73 (456)) Signora, um den Streit zwischen Herrn Gaspar und dem Herrn Magnifico zu beenden, wollen wir mit dem Schiedsrichter (d.i. Bembo) diesen Abend etwas früher kommen als gestern. – Frau Emilia antwortete: Unter der Bedingung, dass Herr Gaspar, wenn er wieder die Damen anklagen und wie es seine Gewohnheit ist, verleumden will, zusichern soll, zur Rechenschaft zu bleiben, denn ich halte ihn für fluchtverdächtig [i. e. ich vermute, dass er durch Abwesenheit glänzen wird]. (Üb. Wesselski, 139, bearb. E.W.)
Es gibt jedoch weder einen fünften Abend noch ein fünftes Buch, so dass das Streitgespräch nicht zu einem ordnungsgemäßen Ende im Sinne des von den Damen regierten höfischen Gesellschaftsspiels geführt werden kann. Die argumentativ fundierte Zurückweisung der calunnia, der Verleumdung, die an früherer Stelle von der Duchessa angekündigt worden war, unterbleibt.38 Doch beginnen wir am Anfang. Die Polemik, vorrangig getragen von Gasparo, setzt im 35. Kapitel des zweiten Buches ein. Anlässlich einer von Bernardo da Bibbiena vorgetragenen Geschichte (burla), in der Frauen sich in verwerfli34 Cf. hierzu u. a. Traninger (2009), passim. 35 Cf. hierzu auch Stenzel (1986), 8. 36 In Buch 1 spielt die Polemik im Zusammenhang mit Thematisierungen keine Rolle. Der Hinweis des Conte auf die Vorzüge der Frauen und der Empfehlung, sich dezent herzurichten, erfolgt im Namen des grazia-Ideals und impliziert keinerlei diskursive Streitbarkeit (cf. Cort. I.40 (85f.)). 37 Bei der Gestaltung des idealen Hofmanns gibt es eine dergestalte Polemik an keiner Stelle, auch wenn diese durchweg diskursiv in Rede und Gegenrede erfolgt. Das Gleiche gilt für Buch 4. 38 Cf. Cort. II.99 (255).
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cher Weise verhalten, indem sie den Galan einer anderen für sich haben wollen, antwortet Gasparo ridendo: Voi per confirmare il parer vostro con ragione m’allegate opere di donne, le quali per lo pi¾ son fuori d’ogni ragione; e se voi voleste dir ogni cosa, questo cos favorito da tante donne dovea essere un nescio e da poco omo in effetto; perch¦ usanza loro À sempre attaccarsi ai peggiori e, come le pecore, far quello che veggon fare alla prima, o bene o male che si sia; oltra che son tanto invidiose tra s¦, che se costui fosse stato un monstro, pur averian voluto rubarsilo l’una all’altra. (Cort. II.35 (171f.)) Um Eure Meinung mit Vernunft zu bekräftigen, führt Ihr mir Handlungen von Frauen an, die meistens außerhalb jeglicher Vernunft sind; und was Ihr auch sagen wolltet, dieser von so vielen Frauen begehrte Mann muss wirklich ein Dummkopf (un nescio) gewesen sein und wohl kaum ein echter Mann; denn es ist immer ihre Gewohnheit [i. e. der Frauen], sich an die Schlimmsten zu klammern und, wie die Schafe, immer das zu machen, was sie bei der Ersten sehen, sei es nun gut oder schlecht; darüber hinaus sind sie aufeinander sehr neidisch, sodass sie ihn der anderen hätten rauben wollen, selbst wenn dieser ein Ungeheuer gewesen wäre. (Üb. E.W.)
Und auf die Forderung des Hauptsprechers Bernardo, im Erzählen von Schwänken in Gegenwart von Damen Dezenz und Anstand zu wahren, um ihnen nicht die Schamröte ins Gesicht zu treiben, hat Gasparo nur eine Antwort: Le donne, disse, non hanno piacere di sentir ragionar d’altro; e voi volete levarglielo. Ed io per me sonomi trovato ad arrossirmir di vergogna per parole dettemi da donne, molto piu spesso che da omini. (Cort. II.69 (217)) Den Frauen, sagte er, gefällt nichts anderes und Ihr wollt es ihnen entziehen. Und ich meinerseits befand mich häufiger in Situationen vor Scham zu erröten aufgrund von Worten, die mir von Frauen gesagt wurden als von solchen, die von Männern geäußert wurden. (Üb. E.W.)
Die Invektive wird einige Kapitel später auf den Einwand Bernardos zur Ehrenrettung der Frauen, dass die Gesetze, die das Verhalten von Frauen steuern, von den Männern gemacht seien, von Ottaviano, ridendo, fortgeführt: Il signýr Gaspar potrebbe rispondervi che questa legge, che voi allegate che noi stessi avemo fatta, non À forse cos fuor di ragione come a voi pare; perch¦ essendo le donne animali imperfettissimi e di poca o niuna dignit a rispetto degli omini, bisognava, poich¦ da s¦ non erano capaci di far atto alcun virtuoso, che con la vergogna e timor d’infamia si ponesse loro un freno, che quasi per forza in esse introducesse qualche bona qualit; e parve che pi¾ necessaria loro fosse la continenzia che alcuna altra, per aver certezza dei figlioli; onde À stato forza con tutti gl’ingegni ed arti e vie possibili far le donne continenti, e quasi conceder loro che in tutte l’altre cose siano di poco valore, e che sempre facciano il contrario di ciý che devriano. […] (Cort. II.91 (246)) Herr Gaspar könnte Euch entgegnen, dass das Gesetz, von dem Ihr sagt, dass wir es selbst gemacht haben, vielleicht nicht so unvernünftig sei, wie es Euch erscheint; da die
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Frauen äußerst unvollkommene Geschöpfe und im Vergleich zu den Männern von geringem oder gar keinem Wert sind, war es, da sie von sich aus nicht zu irgendeiner tugendhaften Handlung fähig wären, notwendig, dass man ihnen durch die Scham und die Furcht vor Schande einen Zaum anlegte, damit man ihnen sozusagen mit Gewalt einige gute Eigenschaften einflößen könnte. Und es scheint, dass ihnen die Züchtigkeit nötiger war als alles andere um Gewissheit über unsere Kinder zu haben; daher habe man sich mit Verstand und Kunst auf jedem möglichen Weg bemüht, die Frauen enthaltsam zu machen, indem man ihnen dabei eingeräumt habe, in allen anderen Dingen von geringerem Wert zu sein, und immer das Gegenteil dessen zu tun, was sie tun sollten. (Üb. Wesselski, 75, bearb. E.W.)
Das ist Polemik pur. Die Invektive gegen die Frau ist die härteste, die sich im Cortegiano befindet, und sie wird im Verlaufe von Buch 3 mehrfach wieder aufgenommen. Der Rückgriff erfolgt auf Aristoteles (femina animale imperfectissimum) – wie übrigens noch an anderer, späterer, Stelle, als es um die Vorzüge bzw. Defizite von Mann bzw. Frau (forma vs. materia) geht (cf. Cort. III.12ff. (274ff.)). Dort erfolgt zwar ein wesentlich umfassenderer und ausführlicherer Disput, aber in der Essenz werden die „Defizite“ nur diversifizierend illustriert. Der Disput Bernardo – Gasparo scheint in einem Sieg Gasparos zu enden, würde Emilia nicht eingreifen und Il Magnifico Giuliano nun als Verteidiger der Ehre der Frauen ins Feld schicken. Sie selbst greift argumentativ nicht ein, sondern delegiert diese Aufgabe, den Spielregeln folgend, an einen neuen „Für“Sprecher bzw. „Wider“-Sprecher gegen die Anwürfe.39 Dieser weist die Herzogin darauf hin, dass Bernardo jedes der Argumente Gasparos und Ottavianos bereits widerlegt habe und dass es eines Hofmanns gezieme aver grandissima riverenzia alle donne, e che chi À discreto e cortese non deve mai pungerle di poca onest, n¦ scherzando n¦ da dovero; […] (Cort. II.98 (253)). Und er umreißt bereits an 39 Die Frauen der höfischen Runde werden spielprogrammatisch ja von einer argumentationsmaßgeblichen Beteiligung am Spiel explizit ausgeschlossen, cf. bei der Themenfindung für das Spiel für den Abend, als das Vorschlagsrecht in der gemischten Runde der Hofleute einer Frau zukam: Avendo cos detto il signor Gaspar, fece segno la signora Emilia a madonna Costanza Fregosa, per esser in ordine vicina, che seguitasse; la qual gi s’apparechiava a dire; ma la signora Duchessa s¾bito disse: ,Poich¦ madonna Emilia non vole affaticarsi in trovar gioco alcuno, sarebbe pur ragione che l’altre donne partecipassino di questa commodit, ed esse ancor fussino esente di tal fatica per questa sera, essendoci massimamente tanti omini, che non À pericolo che manchin giochi‘ (Cort. I.7 (27)). („Nachdem Signor Gaspar so gesprochen hatte, bedeutete Signora Emilia Madonna Costanza Fregosa, als die in der Reihe zunächst sitzende, fortzufahren. Diese schickte sich auch schon zu sprechen an, als die Herzoigin einfiel: ,Weil sich Madonna Emilia nicht die Mühe machen will, ein Spiel zu erfinden, ist es nur gerecht, daß auch die anderen Damen an dieser Vergünstigung teilhaben und heute abend jeder Mühe enthoben sind, umsomehr, als so viele Herren da sind und es nicht zu befürchten ist, daß es an Vorschlägen fehle‘“ (Üb. Wesselski, 20, bearb. E.W.)). Es ist also die Herzogin selbst, die eine Beteiligung der Damen bei der Themenfindung und letztendlich auch im Spiel ausschließt.
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dieser Stelle, dass die als Autoritäten Bemühten nicht immer die Wahrheit verkündet hätten und bezweifelt damit die Grundlage der polemischen Argumente. So nimmt er den Polemisierenden zumindest für kurze Zeit den Wind aus den Segeln: Parmi ben che’l signor Ottaviano sia un poco uscito de’ termini, dicendo che le donne sono animali imperfettissimi e non capaci di far atto alcuno virtuoso e di poca o niuna dignit a rispetto degli omini; e perch¦ spesso si d fede a coloro che hanno molta autorit se ben non dicono cos compitamente il vero, ed ancor quando parlano da beffe, hassi il signor Gaspar lassato indur dalle parole del signor Ottaviano a dire che gli omini savi d’esse non tengon conto alcuno; il che À falsissimo; anzi, pochi omini di valore ho io mai conosciuti, che non amino ed osservino le donne; la virt¾ delle quali, e conseguentemente la dignit, estimo io che non sia punto inferior a quella degli omini. (Cort. II.98 (253f.)) […] Gleichwohl scheint es mir, dass sich Herr Ottaviano nicht in den gebührenden Schranken gehalten hat, als er sagte, dass die Frauen äußerst unvollkommene Geschöpfe seien, nicht fähig zu irgendeinem tugendhaften Verhalten und von geringem oder gar keinem Wert im Vergleich zu den Männern; und weil man oft Leuten von hohem Ansehen Glauben schenkt, auch wenn sie gerade nicht die ganze Wahrheit oder nur im Scherz sprechen, hat sich Herr Gaspar durch die Worte des Herrn Ottaviano zu der Behauptung verleiten lassen, dass die weisen Männer [i. e. Gelehrten] nichts Gutes von den Frauen halten. Dies ist nun ganz falsch; ich wenigstens habe wenige Männer von Ansehen gekannt, die die Frauen nicht geliebt und geschätzt haben, deren Tugend, folglich auch deren Wert ich um nichts geringer als den der Männer erachte. (Üb. Wesselski, 80f.; bearb. E.W.)
Giuliano schlägt nun vor, bevor man diesen Disput fortsetzt, möge man erst einmal eine donna di palazzo konfigurieren mit all den perfezioni, die einer solchen zukämen, genau wie man dies für den cortegiano getan habe (cf. Cort. II.98 (254)). Die voranstehende Passage ist übrigens argumentations-organisatorisch interessant, da sie zeigt, wie im Rahmen dieser Diskussion rhetorisch operiert wird: die zu widerlegenden Argumente eines Vorredners werden erneut aufgegriffen und zurückgewiesen. Ein solches Verfahren wird in den Disputen zu anderen Diskursbereichen nicht in dieser strikten Weise angewandt. Dieser argumentative Duktus kennzeichnet insbesondere polemisch intendierte Passagen. Das hier auszuführen, würde jedoch den Rahmen des Beitrags sprengen. Ein zweiter misogyner Strang findet sich dann in Buch 3, in dem es grundsätzlich um die Formgebung der donna di palazzo im Rahmen der für das Gesellschaftsspiel gültigen Regeln gehen soll. Auch hier sind die Wortführer im pro und contra männlich. Nach einem Störversuch vonseiten Gasparos, der das Thema verhindern will, macht sich Il Magnifico dann am Folgetag an die verbale Formgebung der donna di palazzo, für die er sowohl auf Gemeinsamkeiten als auch auf wesensmäßige Unterschiede mit bzw. zum vollkommenen Hofmann, so
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wie er in Buch 1 gezeichnet worden ist, abhebt. Im sich anschließenden Disput erfolgt dann jedoch durch Gasparo ein polemischer Umschwenk in der Nachfrage: Voi avete veramente, signor Magnifico, molto adornata questa donna e fattola di eccellente condizione; nientedimeno parmi che vi siate tenuto assai al generale e nominato in lei alcune cose tanto grandi, che credo vi siate vergognato di chiarirle […] Perý vorrei che ci dichiariste un poco meglio quai siano gli esercizi del corpo convenienti a donna di palazzo, e di che modo ella debba intertenere, e quai sian queste molte cose di che voi dite che si conviene aver notizia; e se la prudenzia, la magnanimit, la continenza e quelle molte altre virt¾ che avete detto, intendete che abbiano ad aiutarla solamente circa il governo della casa, dei figlioli e della famiglia (il che perý voi non volete che sia la sua prima professione), o veramente allo intertenere e far aggraziatamente questi esercizi del corpo; e per vostra f¦ guardate a non mettere queste povere virt¾ a cos vile officio, che abbiano da vergognarsene.” (Cort. III.7 (269f.)) Herr Magnifico, Ihr habt diese Frau/donna wahrhaft sehr herausstaffiert und sie von hervorragender Güte gemacht; nichtsdestoweniger scheint es mir, dass Ihr sehr im allgemeinen verhaftet geblieben seid und lediglich einige so großartige Dinge genannt habt, von denen ich glaube, dass Ihr Euch geschämt habt, diese zu verdeutlichen […] Dennoch möchte ich, dass Ihr uns etwas genauer erklärt, welches die Ertüchtigungen des Körpers sind, die einer donna di palazzo zukommen, und auf welche Weise sie die Unterhaltung führen soll, und was das für viele Dinge sind, von denen Ihr sagt, dass man sie in Betracht ziehen muss; und ob Ihr meint, dass sie die Klugheit, die Großmütigkeit, die Züchtigkeit und all die anderen vielen Tugenden, die ihr genannt habt, allein hätten um ihnen bei der Haushaltsführung zu helfen, bei der Beaufsichtigung der Kinder und der Familie (welches Ihr ja wohl nicht als ihre erste Aufgabe anseht) oder wahrhaftig, um eine Unterhaltung zu führen und jene Ertüchtigung des Körpers anmutig zu vollziehen; und bei Eurer Treu hütet Euch, diese erbärmlichen Tugenden einem so geringen Zweck zu widmen, wegen dessen sie sich schämen müssten. (Üb. E.W.)
Die Polemik richtet sich hier ganz explizit gegen Giuliano, der die donna di palazzo dermaßen übertrieben in ihren Qualitäten gezeichnet habe, dass dies nicht unwidersprochen bleiben könne. Doch die polemischen Einwürfe entwaffnend, stellt Giuliano nur fest: Poich’io posso formar questa donna a modo mio, non solamente non voglio ch’ella usi questi esercizi virili cos robusti ed asperi, ma voglio che quegli ancora che son convenienti a donna faccia con riguardo, e con quella molle delicatura che avemo detto convenirsele; […] (Cort. III.8 (270)) Da ich diese Frau [i. e. donna di palazzo] nach meinen Vorstellungen formen kann, will ich nicht nur nicht, dass sie diese männlichen Übungen, die so kräftig und hart sind, macht; ich will vielmehr, dass sie diejenigen, die einer Dame geziemen, mit Maß tut und mit dieser sanften Feinheit, von der wir gesagt haben, dass sie für sie ziemlich ist. (Üb. E.W.)
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Er betont also den Idealcharakter seiner Charakterisierung der donna di palazzo und weist Gasparo und dessen Parteigänger in die Schranken (des Spiels). Das Vollkommenheitsideal von Hofmann und Hofdame sei durchaus geschlechtsspezifisch geprägt – Übereinstimmungen und Unterschiede seien gleichermaßen konstitutiv.40 Allerdings wird die Gegenüberstellung Ideal (donna di palazzo) – verbriefte „Wirklichkeit“ (donna schlechthin), wodurch auch immer letztere begründet wird, fortgeführt und verliert sich dann auf weiten Strecken in der Präsentation des „faktisch“ schlechten bzw. defizitären Charakters, Verhaltens und Wesens der Frau(en), so wie es in der Geschichte des jahrhundertealten Diskurses über die Unvollkommenheit der Frau immer wieder als autoritativ verbürgt präsentiert worden ist. Der Angriff bezieht sich wiederum auf Frauen schlechthin und speist sich erneut aus dem traditionellen, seit Antike und Mittelalter standardisierten Toposinventar mit seinen loci communes, indem mit als Sachinformation verkleideten Einwürfen operiert wird. Das verhindert auch nicht, dass Giuliano eine lange Reihe positiver Gegenbeispiele und -exempla aus Geschichte und Gegenwart anführt41 – lässt er sich damit doch aus dem Rahmen der gesetzten Spielnormen locken, indem nun nicht mehr die Formung eines idealen Mitglieds einer höfischen Gesellschaft im Fokus steht, sondern das ursprünglich nur als gesellschaftliches Korrektiv gedachte Widersprechen, das contradire gegen die Darstellung des gesetzten Wortführers. Nun widerspricht der Wortführer – ein Widersprechen, das die Spielregeln eigentlich nicht vorsehen. Der Dialog wird so zum von den Spielregeln losgelösten, von Gasparo polemisch inszenierten Disput über die Frau in Rede und Gegenrede, bis schließlich Cesare Gonzaga wieder zur donna di palazzo und damit zur civil conversazione zurücklenkt. Prinzipiell entsteht der Eindruck, dass die Polemik Gasparos um der Polemik willen zur Erbauung des Publikums geführt wird. Alle lachen und/oder lächeln, als wüssten sie, dass alles nur zum Vergnügen der Gesellschaft vorgebracht würde. Das Lachen/Lächeln scheint die Funktion zu haben, den „erbitterten“ Disput an die Maximen der cortegiania und der höfischen conversazione anzubinden, indem er über die Explizierung sozusagen der Metakommentierung als Spiel ausgewiesen wird, oder besser als Spiel im Spiel zum Thema „der perfekte Höfling/Hof“. Es geht nicht um die Dekonstruktion des Ideals der donna di palazzo, sondern um die Perpetuierung eines Topos, der letztendlich nur deshalb ins Blickfeld zu geraten scheint, als die donna di palazzo naturgemäß eine Frau ist. Und alles dient der Erheiterung der Hofgesellschaft. Der polemische Charakter bleibt aber dennoch virulent. Alte, in der Regel autoritätenbasierte Argumente, also Worte, werden als Chance genutzt, um das Wesen 40 Cf. hierzu etwa Kolsky (1990), 45. 41 Übrigens auch ein durchaus beliebtes Verfahren misogyner Tradition.
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der Frau(en) zu beschreiben und die Art ihrer Auswahl und Präsentation befeuern die (gespielte) polemische Rede Gasparos – auch wenn die Hofgesellschaft der anwesenden Damen all dies Lüge strafe. Rhetorisch einlenkend endet die Passage Gasparos jedoch in einem die weibliche Natur fassenden Fanal, das er allerdings den überaus weisen Männern, die über die Frauen geschrieben haben, zuschreibt und keineswegs seinen eigenen – gegenteiligen – Erfahrungen am Hofe – aber auf jeden Fall ist dies eine schöne Gelegenheit, die misogynen Argumente vorzutragen. Die Wirkung ist und bleibt die einer polemischen Rede: Che le donne siano mo animali imperfetti e per conseguente di minor dignit che gli omini e non capaci di quelle virt¾ che sono essi, non voglio io altrimenti affirmare, perch¦ il valor di queste signore bastaria a farmi mentire; dico ben che omini sapientissimi hanno lassato scritto che la natura, perciý che sempre intende e disegna far le cose pi¾ perfette, se potesse, produria continuamente omini; e quando nasce una donna, À difetto o error della natura e contro quello che essa vorrebbe fare. Come si vede ancora d’uno che nasce cieco, zoppo o con qualche altro mancamento e negli arbori molti frutti che non maturano mai, cos la donna si po dire animal produtto a sorte e per caso; e che questo sia, vedete l’operazion dell’omo e della donna e da quelle pigliate argumento della perfezion dell’uno e dell’altro. Nientedimeno essendo questi diffetti delle donne colpa di natura che l’ha produtte tali, non devemo per questo odiarle, n¦ mancar di aver loro quel rispetto che vi si conviene; ma estimarle da pi¾ di quello che elle si siano, parmi error manifesto. (Cort. III.11 (274)) Die Behauptung andererseits, daß die Frauen unvollkommene Geschöpfe, daher minderwertiger als die Männer und nicht derselben Tugenden wie diese fähig seien, stelle ich schon deswegen nicht auf, weil mich die Tugend der hier anwesenden Damen sofort Lügen strafte; das kann ich hingegen ruhig sagen, daß die weisesten Männer in ihren Büchern die Ansicht vertreten haben, die Natur, die immer auf die möglichste Vollkommenheit abziele, brächte, wenn sie könnte, nur männliche Wesen hervor, und wenn weibliche zur Welt kommen, so verschulde es nur ein Fehler oder Irrtum der Natur, daß sie das Gegenteil des Beabsichtigten erzeuge. Ebenso, wie Blinde, Lahme und andere Bresthafte und Früchte, die auf dem Baum nicht reif werden, kann man auch die Frauen vom widrigen Zufall gezeugte Geschöpfe nennen; daß dem so ist, lehren Euch die Handlungen des Manns und des Weibs, voraus Ihr einen Schluß auf die Vollkommenheit des einen und des anderen ziehen könnt. Nichtsdestoweniger dürfen wir die Frauen, da ihre Fehler der Natur, die sie so gebildet hat, zur Last fallen, nicht verachten und es nicht an der ihnen geziemenden Ehrerbietung fehlen lassen; sie aber höher zu schätzen, als sie wirklich sind, ist ein offenbarer Irrtum. (Wesselski, 95)
Die Darstellung ist also nicht res-orientiert, sondern basiert auf alten Argumenten sog. weiser Männer, ist also überlieferungs- und damit wortorientiert und besagt prinzipiell nichts über den Wahrheitsgehalt der Aussagen. – Auf weitere Beispiele aus der polemischen Inszenierung sei hier verzichtet. Betrachten wir den zweiten Dialog.
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Il Merito delle donne: Die Umkehr des „Normalen“
In Il Merito delle donne liegt der Fokus im Geschlechterdiskurs auf einer Offenlegung der „faktischen“ (d. h. sachbegründeten) Unvollkommenheit der Männer, egal ob Väter, Brüder, Ehemänner oder Verehrer / Liebhaber / Galane bei gleichzeitiger Betonung der eigenen, weiblichen Überlegenheit und Vollkommenheit. Wir haben es hier mit einer Umkehr des „Normalen“ zu tun, eines „Normalen“, so wie es im Cortegiano im Spiel durch Gasparo und andere transportiert wurde. Auch in Il Merito delle donne schweben traditionsbeladene, allerdings einem weniger klassischen als vielmehr volkstümlichen Diskursstrang entnommene, Sentenzen und Proverbien wie Femina nuia bona, se bona non perfeta42 (nun […] se gli uomini fussero buoni, non vi sarebbe alcuna donna cattiva (Il Merito, 37; wenn die Männer gut wären, gäbe es keine schlechte Frau) oder femina animale imperfectissimum und ähnliches, die in diversen Varianten weiterhin dem Toposinventar der Zeit – wir befinden uns nun über ein halbes Jahrhundert nach dem Cortegiano – einbeschrieben sind. Ziel des Zeitvertreibs der Damen ist es, solche loci in Abrede zu stellen und stattdessen die Vorzüge und die Überlegenheit der Frau(en) über die Männer vorzuführen. Und dies wird angesichts der Diskrepanz zwischen männlicher Weltsicht und weiblicher Erfahrung ebenfalls polemisch betrieben, angebunden an eine systematische „wirklichkeits“analytische Darstellung. Der Ton ist dabei kaum weniger Beifall heischend als im Cortegiano, wobei es in Il Merito delle donne jedoch um eine Entlarvung der Männer geht, mit Exkursen hin zu traditionsgeleiteten Meinungen misogyner Qualität, die v. a. durch das „Nesthäckchen“ Verginia (welches noch nicht über die einschlägigen Erfahrungen verfügt) vorgebracht werden. Anders als im Cortegiano geht es hier nicht um eine spielerische Gegenüberstellung von Idealvorstellung und (Pseudo-)Erfahrung bzw. traditionellen Weltsichten, sondern um einen „ernsthaften“ Ausweis männlichen und weiblichen Verhaltens bzw. Wesens, das allerdings als Scherz verbrämt, nicht aber in scherzhafter Weise vorgebracht wird. Ein die Maximen der conversazione befriedigendes Lachen oder Lächeln fehlt, auch wenn gelegentlich durchaus gelacht wird. Das wenn auch fiktionalisierte erfahrensbasierte Vorführen des schlechten Verhaltens der Männer Frauen gegenüber konstituiert weniger eine textinterne Polemik als vielmehr eine solche, die über den Text hinausgreift und die (abwesenden) Männer zum Ziel hat. Beschreibung der Erfahrung sowie umwertende Nutzung traditionell gesetzter Topoi und loci comunes bilden die Grundstruktur der Gespräche des ersten Tages. Im Dialog wird nicht mehr im 42 Die zitierte Version ist einem altitalienischen misogynen Verstext entnommen, der in einer Handschrift der Berliner Staatsbibliothek (Ham 390) überliefert ist; cf. hierzu u. a. Werner (1993) und die dort aufgeführte Literatur.
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Rahmen der intellektuell basierten aristotelisch-scholastischen Terminologisierung argumentiert, sondern mit Hilfe von „bodenständigen“ Sentenzen, die dem misogynen Diskurs entnommen sind und die nun auf die Männer bezogen werden: Il lor amore À un fuoco di paglia, la lor fede un cerchio di taverna, la lor servit¾ una caccia di lepre e la lor bella presenza una ruota di pavone (Il Merito, 39) Ihre Liebe ist wie ein Strohfeuer, ihre Treue wie eine Runde Zecher, ihre Ergebenheit wie die Verfolgung eines Hasen und ihre schöne Erscheinung wie ein Pfauenrad (Üb. Hacke, 103; bearb. E.W.) […] che per esser essi cos instabili e leggieri, come ho detto, non ponno, n¦ sanno lungo tempo celar questa lor falsit e perfidia e come un rame indorato di sopra, che ad ogni poca cosa se gli sfoglia quella lieve coperta, e si fa conoscer che era finto […] (Il Merito, 39) […] und da sie [i. e. die Männer] so wankelnd und leichtfertig sind, wie ich es gesagt habe, können sie ihre Falschheit und Perfidie nicht lange verbergen und wie bei vergoldetem Kupfer, das beim geringsten Anlass abblättert, erkennt man, dass es falsch war. (Üb. Hacke, 105; bearb. E.W.) […] essi sono come l’orologio falso […] (Il Merito, 40: „sie sind wie eine falschgehende Uhr“).
Traditionell werden die Sentenzen angeführt, um das schlechte Verhalten der Frauen gegenüber Männern und ihr schlechtes, die Männer schädigendes Wesen zu beschreiben (cf. […] vogliono che non siamo buone a nulla (Il Merito, 27; „sie wollen, dass wir zu nichts gut seien“)). – Dabei werde keineswegs in Abrede gestellt, dass es auch positive Vertreter des männlichen Geschlechtes gebe, aber deren Zahl sei verschwindend klein. „Üblicherweise“ ist diese Feststellung auf gute Frauen und deren Seltenheit gemünzt: […] uno non fa numero (Il Merito, 28; „…ein guter Mann ist selten“) […] per uno che ci [ = le donne] lodi con verit, ve ne son mille che ci vituperano contra ragione (Il Merito, 43; „auf einen der uns zurecht lobt, kommen tausend, die uns zu Unrecht tadeln“) Io non dico […] che non ve ne sia alcuno fra tanti […], ma dico che son tanto pochi quelli che amano veramente […] (Il Merito, 43; „ich sage nicht, dass es unter ihnen keinen solchen gibt, … aber ich sage, dass es nur sehr wenige sind, die aufrichtig lieben“)
Immer wieder wird abgehoben auf das Wesen der Frauen. Frauen seien von Natur aus gut und die Männer der Ursprung allen Bösen: […] sono essi [= gli uomini] l’origine e cominciamento d’ogni male (Il Merito, 50; „die Männer sind Ursprung und Anfang allen Bösen“)
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[…] ma grandissimo À il numero delle donne buone e savie (Il Merito, 51; „aber groß ist die Zahl der guten und klugen Frauen“)
Frauen seien zudem vollkommener als die Männer. Sie seien von Natur aus besser als diese und stünden folglich über dem Manne, z.B: […] la donna per esser di sua natura migliore e perciý meritamente capo e superiore all’uomo (Il Merito, 54; „die Frau ist von ihrer Natur her besser und verdientermaßen steht sie über dem Mann und ist ihm überlegen“) […] la bont di noi donne non À per volont, ma per natura (Il Merito, 48; „das gute Wesen von uns Frauen beruht nicht auf dem Willen, sondern ist von der Natur gegeben“)
Die Liste ließe sich ohne weiteres verlängern, brächte aber immer nur das Gleiche mit anderen Sentenzen zum Ausdruck und dokumentiert zudem auch die Ansprüche der Frauen, die aus ihrer natürlichen Qualität resultierten, die der männlichen Einschätzung bzw. Handhabung konträr sei: Complessione delle donne: donna ! ragione / uomo ! appetito (Il Merito, 47; Temperament der Frauen: Frauen ! vernunftgeleitet / Männer ! affektgesteuert) […] quando una vergine divien donna di poco onore, À solo per cagion dell’uomo […] (Il Merito, 52; „wenn eine Jungfrau zur wenig ehrenhaften Frau wird, so nur wegen des Mannes“) […] non essendo essi [= gli uomini] degni di noi (Il Merito, 53: „sie sind unserer nicht würdig“) […] un uomo senza donna À pur una mosca senza capo (Il Merito, 71; „ein Mann ohne Frau ist wie eine Fliege ohne Kopf“)
Und der Anspruch der Frauen gipfelt dann in dem Wunsch: […] in fine la verit sempre si fa palese (Il Merito, 51; „letzten Endes wird die Wahrheit immer offenbar“)
Dieses Verfahren der kontrapunktischen Darstellung mittels Proverbien und Sentenzen aus dem volkstümlichen Diskursstrang fehlt im Cortegiano ganz, und das rhetorische/argumentative Prozedere scheint damit in Il Merito delle donne auf die weibliche „Bildungs“welt zugeschnitten. In der Anlage und in der Wirkung ist dieser Argumentationsstil höchst polemisch, wenn auch das polemische Objekt im Sinne Stenzels nicht anwesend ist, genauso wenig wie übrigens auch eine polemische Instanz. Folie für die Polemik sind die alten Sentenzen aus dem volkstümlichen „Wissens“schatz. Auffällig ist die große Zahl von Parallelargumenten mit dem Cortegiano, wo Giuliano in der Formung der donna di palazzo und in den Repliken auf die Anheftungen Gasparos die Argumente im Sinne der Jahre später von den Frauen
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vorgeführten Einforderung positiver „Anerkennung“ einbringt. Die Argumente im Cortegiano jedoch bleiben reaktiv, da den Einwürfen Gasparos und seiner Unterstützer widersprechend, während sie in Il merito delle donne offensiv, also primär aktiv, sind (mit dem im innersten erwünschten Ziel einer erfolgreichen Umsetzung mit Hilfe der Männer, ohne die alles beim Alten bleibe). Die Umkehrung des diskursiv „Normalen“ und seine Anwendung auf den Mann/die Männer erscheinen als Tabubruch, der sich nicht in der Öffentlichkeit, sondern nur in der Privatheit der weiblichen Compagnie vollziehen kann. Die Sentenzen in ihrer paradoxen Nutzung werden in Il Merito delle donne zum Fokus einer „neuen“ Lehre. Die Begründung einer solchen ist in der Epoche für die Frau aber nur in einer vor den Männern verborgenen Polemik möglich. Und man ist sich dieser Umkehrung des Normalen durchaus bewusst, wenn etwa Verginia inmitten der massivsten Kritik an den Männern irritiert anmerkt: Voi con queste vostre ragioni cara Cornelia – disse Verginia – venite a confunder tutto il regno d’amore, tutte l’istorie de passati e tutta la fede de i moderni e in somma mettete ogni cosa in scompiglio. […] (Il Merito, 41) Mit dem, was Ihr sagt, liebe Cornelia, erwiderte Virginia, bringt Ihr das ganze Reich der Liebe durcheinander, alle Geschichten unserer Vorfahren und den Glauben der jetzt lebenden Menschen, alles stellt Ihr auf den Kopf! (Üb. Hacke, 105)
In diesem Umgang mit traditionellen Topoi und loci comunes liegt ein Schwerpunkt polemisch lesbarer Argumentation in Il Merito delle donne. Mindestens genauso massiv greifbar werden polemische Verfahren – und hier liegt ein zweiter argumentativer Schwerpunkt –, wenn es um die Schilderung der Erfahrungen mit den Männern geht. Insbesondere der klassische Unvollkommenheitstopos wird an mehreren Stellen umgekehrt. Nicht mehr die Frau ist das aristotelische animale imperfectissimum, das ja auch im Cortegiano bemüht wird, sondern dem Mann wird jede Vollkommenheit abgesprochen, es sei denn, er untersteht der vervollkommnenden Wirkung der Frau(en).43 Im Dialog zwischen den Positionsvertreterinnen werden diesmal, auch hier in Verbindung mit einem Rückgriff auf den eben ausgeführten Sentenzenschatz, mächtigere Geschütze aufgefahren. Verfügte der Mann über irgendwelche Tugenden, so habe er diese nur den Frauen seines Umgangs zu verdanken. Hören wir Corinna: Con tutto ciý – disse Corinna – ella [i. e. Elena] non ha saputo inferir altro, salvo che l’uomo nel matrimonio, cioÀ unito alla moglie, ha qualche bont in s¦. Il che non niego, ma senza questo aiuto, si puý dir che sia apunto come la lampada estinta, che da s¦ non À buona a nulla, ma appicatovi il lume, fa pur servizio alla casa; cos se l’uomo contiene 43 Auch der Höfling soll übrigens von der donna di palazzo vervollkommnet werden, allerdings in unpolemischer Konstatierung, cf. Cort. III.41 (313). Polemisch wird das Argument später, wenn Gasparo in einer traditionellen Umkehrung feststellt: […] in tal atto la donna riceve dall’omo perfezione e l’omo dalla donna imperfezione […], Cort. III.17 (278).
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in s¦ qualche buon costume, lo ha dalla donna con cui pratica, o madre, o sorella, o balia, o moglie che ella si sia. […] Cos se l’uomo studia, se impara virt¾, se va polito, se diviene accorto, e ben creato, e se in somma riesce compito di mille belle e graziose doti, di tutto ciý ne son causa le donne […] (Il Merito, 25) Mit all dem, sagte Corinna, hat Helena nichts anderes beibringen können, außer dass der Mann, vereint mit der Ehefrau, etwas Gutes in sich hat. Das leugne ich nicht. Doch ohne deren Hilfe gleicht der Mann einer erloschenen Lampe, die für sich allein zu nichts nütze ist, aber sobald das Licht entzündet wird, ist sie im Haus zu gebrauchen. Wenn der Mann also über einige Tugenden verfügt, so hat er sie von der Frau, mit der er Umgang pflegt, sei es die Mutter, Schwester, Amme oder Ehefrau – wer auch immer es sei. […]. Wenn der Mann also strebt, wenn er Tugend erlernt, wenn er höflich ist, wenn er aufmerksam wird und wohl geschaffen, und wenn es ihm summa summarum gelingt, tausend schöne und anmutige Dinge zu erwerben, sind für all das die Frauen der Grund […] (Üb. Hacke, 85; bearb. E.W.)
Doch Verginia stößt nach: Se ciý fusse vero – disse allora Verginia – che gli uomini fussero di tanta imperfezione, come voi dite, perch¦ ci sono essi superiori in ogni conto? A questo rispose Corinna: Questa preminenza si hanno essi arrogata da loro, che se ben dicono che dovemo star loro soggette, si deve intender soggette in quella maniera, che siamo anco alle disgrazie, alle infermit ed altri accidenti di questa vita, cioÀ non soggezione di ubidienza, ma di pacienza e non per servirli con timore, ma per sopportarli con carit cristiana, poich¦ ci sono dati per nostro essercizio spirituale; e questo tolgono essi per contrario senso e ci vogliono tiranneggiare, usurpandosi arrogantemente la signoria, che vogliono avere sopra di noi; e la quale anzi dovremmo noi avere sopra di loro; […] (Il Merito, 26) Wenn es wahr wäre und die Männer tatsächlich derart unvollkommen sind, wie Ihr sagt, warum sind sie uns dann in jeder Hinsicht übergeordnet? fragte Virginia. – Darauf antwortete Corinna: Diesen Vorrang haben sie sich selbst angemaßt. Und auch wenn sie sagen, dass wir ihre Untergebenen sind, so sind wir ihnen lediglich wie einem Unglück, einer Krankheit oder einer anderen Mißlichkeit dieses Lebens unterworfen – keine Unterwerfung des Gehorsams also, sondern der Geduld; nicht um ihnen mit Furcht zu dienen, sondern um sie mit christlicher Nächstenliebe zu ertragen, denn sie sind uns als spirituelle Übung auferlegt. Doch das verstehen die Männer falsch und wollen uns nur tyrannisieren, indem sie selbstherrlich die Herrschaft über uns an sich reißen, die wir vielmehr über sie haben müßten. […] (Üb. Hacke, 85f.)
Die Männer seien nur deshalb von Natur aus robuster und stärker, um die Mühen im Dienste der Frauen besser erfüllen zu können. Den gleichen Tenor dokumentiert die nachfolgende Passage, in der es um die Beurteilung von Verehrern geht, jungen wie alten: In fin quaranta cinque anni ed ancor fino li cinquanta – rispose Cornelia – puý amarsi un uomo di buona e leal qualit ma andatelo a trovar voi. Che n¦ fanciullo, n¦ giovene, n¦ vecchio si trova alcun che ami di vero cuore. (Il Merito, 42)
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Bis zum Alter von fünfundvierzig oder fünfzig kann man einen Mann mit gutem und zuverlässigem Charakter lieben, antwortete Cornelia. Aber findet mir einen solchen! Denn weder die Grünschnäbel noch die im besten Alter, noch alte Männer lieben von wahrem Herzen. (Üb. Hacke, 107)
Und auch bei denen, die zugunsten der Frauen geschrieben haben, sehe es nicht besser aus: Io credo – rispose Cornelia – come de gli altri, che alcun non sia, che l’abbia fatto per molto amore, ma la pi¾ parte, credetemi, si ha messo a tale impresa pi¾ per suo utile ed onor proprio che per il nostro; perch¦ conoscendosi essi aver pochi meriti per inalzar ed illustrar il lor nome s’hanno servito dell’opera nostra, vestendo la lor fama delle nostre lodi e perfezioni […] Che per uno che ci lodi con verit, ve ne son mille che ci vituperano contra ragione; e perý non sia alcuno di questi vani discorsi, che vi persuada a credere, che alcuno ami, come dovrebbe perfettamente e senza inganno. (Il Merito, 43) Ich meine, dass sie nicht anders als die anderen Männer sind, entgegnete Cornelia, und dass keiner von ihnen es aus großer Liebe geschrieben hat. Der größte Teil, glaubt mir, hat dieses Unterfangen vielmehr aus Eigennutz und für die eigene Ehre unternommen als für die unsrige. Denn da sie wissen, dass sie wenig eigene Verdienste haben, haben sie sich der unsrigen bemächtigt, um sich zu erhöhen und ihre Namen berühmt zu machen, indem sie ihr Ansehen mit unserem Ruhm und unserer Vollkommenheit kleiden. […]. Auf einen, der uns aufrichtig lobt, kommen tausend, die uns ohne Grund beschimpfen. Daher sollte Euch dieses leere Geschwätz nicht glauben machen, dass irgendeiner tatsächlich so liebt, wie er sollte: nämlich vollkommen und aufrichtig. (Üb. Hacke, 107f., bearb. E.W.)
Um dem ganzen noch mehr Biss zu geben, vertieft Cornelia in Replik auf Helena einige Passagen weiter, nachdem über die auch von den Frauen akzeptierten unterschiedlichen Temperamente von Mann und Frau gehandelt worden ist und wo ebenfalls eine der Tradition entgegengesetzte Uminterpretation vorgenommen wird: S – rispose Cornelia – ma per ciý voi non negate, anzi affermate, che le donne non siano pi¾ degne, poich¦ oltra le cose gi dette, si trova che sono create di miglior natura di loro e che si governano per ragione e non per appetito e perciý restano dal male e si applicano al bene. Il che non fanno essi, che potendo esser buoni ed emendar la lor natura come, volendo, potriano per la perfezion dell’intelletto che hanno, per la maggior vivezza de gli spiriti, come À detto, non vogliono adoprarlo, n¦ affatticarsi in corregger la lor sensualit e cos seguono di male in peggio, di maniera che, per natura e per volont, sono cattivi e si sforzano anco di far cattive noi altre. (Il Merito, 47f.) So ist es, antwortete Cornelia, aber damit leugnet Ihr nicht, sondern bestätigt vielmehr, dass Frauen würdiger sind. Denn zusätzlich zu dem, was schon gesagt wurde, ist es so, dass Frauen mit einem besseren Wesen geschaffen sind und dass sie sich vom Verstand und nicht von den Begierden leiten lassen; so bleiben sie dem Bösen fern und widmen sich dem Guten. Das gleiche kann man von den Männer[n] nicht behaupten, die
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sicherlich gut sein und ihr Wesen verbessern könnten, wenn sie nur wollten, aufgrund der Vollkommenheit ihres Verstandes und der größeren Lebendigkeit ihres Geistes, wie man ja [immer] sagt. Aber weder wollen sie ihren Versand benutzen, noch wollen sie sich anstrengen, um ihre Sinne im Zaume zu halten, und werden daher immer schlimmer dergestalt, dass sie von Natur aus und aus eigenem Willen schlecht sind und ihr Bestes tun, um auch uns zu verderben. (Üb. Hacke, 113; bearb. E.W.)
Daraus entwickelt sich dann folgender Dialog: Dunque – disse Elena – la bont di noi donne non À per volont, ma per natura […] Eccovi qui – ritolse Cornelia – che infin qui voi pur confessate che noi siamo di miglior complessione e natura create de gli uomini, poich¦ in ciý fondate tutta la vostra ragione e per consequente pi¾ perfette e degne di loro […] (Il Merito, 48f.) Dann ist unsere Güte nicht ein Produkt unseres Willens, sondern unserer Natur, folgerte Helena. […] – Genau, erwiderte Cornelia, nun müßt also auch Ihr zugeben, dass wir mit besserem Temperament und besserem Wesen ausgestattet wurden als die Männer, denn genau hierauf stützt Ihr Eure ganze Argumentation, und folglich sind wir vollkommener und würdiger als sie. (Üb. Hacke, 114; bearb. E.W.)
Die Tragweite dieser und weiterer Argumentationen der Fürsprecherinnen für die Vollkommenheit der Frauen und die Unvollkommenheit der Männer lässt sich angesichts der langen Tradition der misogynen Literatur gut ermessen, in der gerade diese Posten in teils äußerst krasser Weise immer zu Ungunsten der Frauen benutzt werden. Der Cortegiano hat hier ja ein Paradebeispiel geliefert. Die Polemik ist umfassend. Polemik erwächst also aus der Einbettung in den lebensweltlichen Kontext. Die polemischen Äußerungen betreffen vorrangig die abwesenden Männer. Aufgegriffen werden dabei einerseits klassische Topoi des „Geschlechterdiskurses“ misogyner Ausrichtung, so wie er nicht nur in Italien auf der Grundlage von Texten der Antike sowie solchen christlich-theologischen Zuschnitts seit dem Mittelalter zunehmend auch in der Volkssprache geführt wurde.44 Damit erhält auch Publikum direkten Zugang zu den sog. Argumenten des Diskurses, welches darin die Rolle des Angegriffenen und in dieser Folge zu unterdrückenden Parts spielt. Durch die Anbindung dieser Argumente an die von den Frauen aus eigener (oder auch fremder historischer und zeitgenössischer) Erfahrung konträr empfundene Realität (verit) erhält die Polemik eine argumentative Basis, die in der männerdominierten misogynen Handhabung des Themas (vgl. etwa auch die Argumentation Gasparos, Ottavianos und Il Frigios im Cortegiano) ausgeblendet bleibt in der Berufung auf die „klassischen“
44 Cf. hierzu etwa die für italienische Verhältnisse ausgesprochen bitteren und aggressiven volkssprachlichen Proverbia que dicuntur super natura feminarum; cf. hierzu auch Werner (1993), Wulff (1914) u. a.
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Autoritäten (Aristoteles, Bibel, Kirchenväter und Humoralmedizin).45 Dies wird insbesondere deutlich am Ende des Gesprächs des zweiten Tages, welches das Vorurteil, Frauen seien den Männern intellektuell und in sonstiger Hinsicht unterlegen, umfassend widerlegen soll. Corinna resümiert dies denn auch ganz deutlich: Quanto all’aver noi ragionato sopra diverse materie – rispose Corinna – non avriano anco essi [i. e. gli uomini] da burlarsi, s perch¦ ne avemo parlato, anzi accennato, cos a caso ed alla sfuggita e non per tenersi di saperne, s anco perch¦ possiamo ragionarne ancor noi come essi, che se ci fusse insegnato da fanciulle (come gi dissi) gli eccederessimo in qual si voglia scienza ed arte che si venisse proposta. (Il Merito, 169f.) Auch dass wir über allerlei verschiedene Themen gesprochen haben, sollte ihnen [i. e. den Männern] keinen Anlaß zum Spott geben, erwiderte Corinna. Denn zum einen haben wir über diese Dinge nur zufällig und nebenher gesprochen und nicht, weil wir mit unserem Wissen prahlen wollten. Zum anderen haben wir wie sie das Recht zu diskutieren, und wären wir von klein auf unterrichtet worden, überträfen wir die Männer, wie gesagt, in jeder Wissenschaft und Kunst, die uns genannt würde. (Üb. Hacke, 259; bearb. E.W.)
Mit der Verwendung des Verbs ragionare (wird wie hier auch an weiteren Stellen in der Übersetzung von Hacke nicht greifbar) sowie des Nomens argumento an zahlreichen anderen Stellen stellt sich Corinna in eine rhetorische Tradition, die bislang Grundlage rhetorisch geformter Eloquenz der (gebildeten) Männer war. Argumentations- und Schlußmodi seien von Frauen genauso realisierbar wie für Männer – und das Dialogspiel der Venezianerinnen dokumentiert dies, allerdings auf der Grundlage von überwiegend Volksweisheiten. Was Männer und Frauen hier noch zu unterscheiden vermag, ist die Sicht auf eine bestimmte Themenstellung bzw. auf einen bestimmten Diskurs. Und dieser Diskurs wird nun gleichermaßen polemisch geführt. Dies war im Cortegiano noch anders, wo Emilia Giuliano und Gasparo auffordert, verständlich zu argumentieren (und nicht in Folge der aristotelisch-scholastischen Vorlage). Allerdings endet der Dialog für die Männer fast schon wieder versöhnlich. Als nämlich Verginia in Konsequenz des weiblichen ragionare im Gespräch der beiden Tage der dort vorgebrachten Argumente auf die Ehe verzichten will, rückt ihre Mutter Adriana, die die Rolle der Königin inne hat, die Welt wieder ins Lot, indem sie die Nachteile aufzeigt, die eine unverheiratete Frau in Kauf nehmen muss, und dass es besser sei, mäßigend auf einen problematischen Gatten einzuwirken und ihn der vervollkommnenden Wirkung der Frau zu unterziehen. Adriana führt hier sozusagen aus dem Spiel hinaus und weist Ihre Tochter in die traditionellen Schranken. Diese können nicht durch Argumente und ragiona45 Im Cortegiano hingegen finden sich auch zeitgenössische Beispiele als Vorbilder für das Ideal der donna di palazzo.
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menti aufgehoben werden – und mögen diese noch so richtig sein. Wenn die Männer sich nicht ändern, werden sich die Frauen weiterhin fügen müssen. Alle vorher vorgebrachten Argumente lösen sich in diesem Moment auf. Die Königin, als sie die Gefahr sieht, dass ihre eigene Tochter in die Position der WiderSprecherinnen überwechseln könnte, holt das Spiel in die „Realität“ zurück. Die Polemik hat kein Leben über das Spiel im Frauenprivatissimum hinaus. Insgesamt gesehen ist Il Merito delle donne einerseits eine sukzessive Hinterfragung traditioneller loci comunes im Rahmen der topischen Ausrichtung des männergetragenen misogynen Geschlechterdiskurses. Die paradoxale Nutzung alter Gemeinplätze durchzieht den gesamten Text. Traditionelle Beurteilungen/Bewertungen der Frauen werden umgekehrt und Positives (klassisch dem Mann zugeschrieben) den Frauen zugeordnet, Negatives (klassisch der Frau zugeschrieben) den Männern. Damit erweist sich die Darstellung ihrerseits wieder toposbegründet, allerdings wie in einem Vexierspiegel und seitenverkehrt. Andererseits enthält der Text aber auch eine grundsätzliche Hinterfragung des Verhaltens der Männer sei es gegenüber von Frauen sei es im Allgemeinen.
5.
Schlussbetrachtungen
In beiden Texten, sowohl bei Castiglione als auch bei Moderata Fonte, erfolgt im Geschlechterdiskurs eine Distanzierung von traditionellen Wertungsschemata, nach denen die Frau verglichen mit dem Mann in jeder Hinsicht unvollkommen und daraus resultierend diesem untergeordnet ist. Die Argumentation einerseits für ein Frauenideal, andererseits für eine realistische Sicht auf die Situation der Frau(en) vollzieht sich in beiden Fällen im Wesentlichen entlang des traditionellen misogynen Argumentationsrasters, und in beiden Fällen wird die Maßgabe traditionell respektierter Autoritäten in Zweifel gezogen, einmal im Dienste eines Ideals unpolemisch und einmal im Dienste einer Wunschsituation polemisch. Unter dem Aspekt „Polemik“ zeigt sich in beiden Texten, dass die Auseinandersetzung mit dem jeweils fokussierten Geschlecht aus verschiedenen Anlässen nur im Angriff realisiert werden kann, ein Angriff, der in beiden Fällen im Rahmen eines Spiels erfolgt, wobei der Angriff im Cortegiano erneut als Spiel (im Spiel) inszeniert wird, in Il Merito delle donne hingegen trägt er das Spiel selbst. Im Cortegiano erfolgen Rede und Gegenrede lachend (wie bei der Behandlung der burle und Fazetien) oder fein lächelnd im Rahmen einer civil conversazione, die den Maximen von Höfischkeit untergeordnet ist.46 Der lä46 Zum Lachen als Affektkontrolle cf. etwa Grewe (2004), 149–164; zum Cortegiano ib. 150,
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chelnde Vortrag Gasparos und die lächelnden Antworten Giulianos zeigen, dass beide sich in Wahrung der höfischen grazia und der cortegiania auf das „neue“ Spiel einlassen. In Il Merito delle donne erscheint das Spiel nicht in dieser Weise „gestaffelt“, sondern bleibt quasi eindimensional: Die Diskussion wird nach der Einteilung des Personentableaus durch die Königin „ernst“ geführt, man scherzt nicht miteinander, sondern vertritt die zugeordneten Positionen. Und als diese Zuordnung in Auflösung zu geraten droht – als Verginia auf die Ehe verzichten will – erfolgt die Rückkehr in die „reale“ Welt. Die Polemik ist beendet. Im Cortegiano entfällt eine solche Rückführung naturgemäß, da, auch wenn das Spiel im Spiel beendet ist, man weiterhin im Spiel verbleibt, in dem das zentrale Interesse weiterhin der Formung der donna di palazzo gilt. Die Polemik baut sich in beiden Texten über Topoi und loci communes des klassischen misogynen Diskurses auf, indem diese als Argumentationsgrundlage und/oder als Zitate genutzt werden. Angesprochen werden in beiden Texten im Wesentlichen die gleichen Domänen: Inferiorität bzw. Superiorität von Mann und Frau, humoralmedizinische Ordnungssysteme, Vollkommenheit und Unvollkommenheit der Geschlechter, Vervollkommnende bzw. verunvollkommnende Wirkung des einen Geschlechts auf das andere, Natur/Wesen und Verhalten von Mann und Frau, usw. Diese Domänen liefern den Zündstoff für einen polemischen Umgang. Der polemische Umgang mit den Themen wirkt je nach gesellschaftlichen Rahmenbedingungen jedoch unterschiedlich: spielerisch leicht im Cortegiano, ernsthaft in Il Merito delle donne, unbenommen der Ausgangsproklamation, dass man ein scherzhaftes Spiel betreiben wolle. Hier mit Paradoxen agierende Argumentationsstrukturen, dort spielerische Widerspruchsinszenierung. Im Cortegiano sind die Frauen explizit vom Spiel ausgeschlossen. Sie sind weder an der Themenfindung beteiligt noch haben sie eine eigenständige Rolle im Spiel.47 Sie können also auch nicht polemisch agieren (dies entspräche auch nicht den Maximen der weiblichen Höfischkeit). In Il Merito delle donne sind die Frauen alleinige Träger von Themenfindung und anschließendem Streitgespräch. Und gleichzeitig sind sie auch Träger der Polemik, die das gewählte Thema produziert. Mit Hilfe des dialogischen Verfahrens bzw. der Textsorte Dialog – beides ist nicht unbedingt deckungsgleich – wird eine elegante Möglichkeit geboten, unterschiedliche Positionen zu präsentieren, zu kommentieren, zu widerlegen, zu bestärken usw. Die Struktur der Argumentationspräsentation, des ragionamento, ist ebenfalls analog. Theoretisch hätte man beides auch in Form eines 152f. Cf. auch im Cort II.45, wo der Mensch als animal risibile beschrieben wird. 47 Ausgenommen hiervon scheint Emilia zu sein, die das Thema des Tages auswählt, aber im Spiel selbst ist sie nicht mehr als Widerspruchsträgerin zugelassen. Ihre Funktion ist eine andere.
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Traktates mit pro und contra bzw. ohne Präsentation von Gegenargumenten abhandeln können. Aber das hat man nicht. Dass die Dialogform gewählt wird, hängt wohl nicht zuletzt mit dem spezifischen Sitz im Leben des Gesprächs (in mündlicher oder schriftlicher Präsentation) in der Renaissance zusammen. Obwohl Frauen in beiden Texten an der dialogischen Binnenstruktur Anteil haben, könnte ihre Funktion als Träger polemischer Äußerungen unterschiedlicher nicht sein: Im Cortegiano nehmen die im höfischen Kreis anwesenden Damen nirgends argumentativ, sondern höchstens moderierend oder rudimentär kommentierend am Gespräch teil48 – so will es die Spielregel – und selbst, als sie einmal „aktiv“ werden, als Gasparos und Ottavianos misogyne Polemik zu heftig wird, tun sie dies nur, weil Bernardo provokativ feststellt, dass es die Frauen der Gesellschaft offensichtlich nicht weiter zu stören scheine, wenn man schlecht über sie rede. Erst, als die Herzogin sie mit einem Handzeichen dazu auffordert, „stürmen“ diese „lachend“ (ridendo) auf Gasparo ein. Es ist eben ein Spiel einer durch ilarit und allegria geprägten Gesellschaft und die Herzogin hält die Fäden in der Hand. Alles verharrt unter deren Regie im Spielerischen, man lacht und scherzt. Eine argumentative Intervention der Frauen findet nicht statt. Sie bleiben, wie Cox dies ausdrückt, argumentativ „stumm“,49 sie haben im Spiel keinen argumentativen Part. Selbst an den wenigen Stellen, wo Emilia Biss zeigen will, wird sie von der Herzogin regelrecht ausgebremst, etwa als Il Frigio betont, er würde sich für Giuliano, der auf Geheiß der Herzogin anstelle von
48 Frauen und Männer scheinen getrennte, wenn auch miteinander kommunizierende, Sozietäten innerhalb der Hofgesellschaft, zu bleiben, auch wenn die Sitzordnung vorsieht, dass Männer und Frauen abwechselnd sitzen – nur reicht die Zahl der anwesenden Damen bei weitem nicht für die „gemischte Sitzordnung“, cf. […] et parea che questa [ i. e. la Duchessa] fosse una catena che tutti in amor tenesse uniti, talmente che mai non fu concordia di volunt o amore cordiale tra fratelli maggior di quello, che quivi tra tutti era. Il medesimo era tra le donne, con le quali si aveva liberissimo et onestissimo commerzio […] (Cort. I.4 (22)) („… und die Herzogin war wie eine Kette, die alle in Liebe vereint hielt, in einer Weise, dass niemals die Eintracht des Willens oder die herzliche Zuneigung unter Brüdern größer war, als diejenige, die dort unter allen herrschte. Ebenso war es auch unter den Damen, mit denen es einen freien und ehrenvollen Umgang gab.“ (Üb. Wesselski, 16; bearb. E.W.) – Cf. hierzu etwa auch Kolsky (1990), 58f. 49 Cf. hierzu die grundlegende Analyse von Virginia Cox (2000), passim. Nach Cox können Frauen aus dem kulturell-gesellschaftlichen Rahmen heraus auch gar nicht anders präsentiert werden. Der quasi als dokumentarisch eingeführte Dialog (Grundlage: Bericht eines Dialogs, der tatsächlich stattgefunden haben soll) verunmöglicht dies. Anders im fiktiven Dialog, etwa in Thomas Elyots Defense of Good Women (1540) oder Luigi Dardanos Difesa delle donne (1554), wo etwa Fenobia bzw. die Römerin Hortensia die für den dokumentarischen Dialog gesetzten Grenzen sprengen können, cf. hierzu Cox (2000), 388ff.; auch Kolsky (1990), 41f. – Zum Schweigen der Frauen (silence) cf. bereits in Buch I.1 sowie im weiteren Verlauf des Cortegiano. Eine Lösung des Schweigens wird nur im männerfreien Raum möglich, wie dies dann in Il Merito delle donne geschieht.
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Bernardo die Verteidigung der Frauen übernehmen soll, schämen, solche Irrtümer über die Frauen zu vertreten:50 [Emilia: „…] Ben vi vergognarete voi di voi stesso quando vedrete il signor Gasparo, convinto, confessar il suo e ’l vostro errore e domandar quel perdono, che noi non gli vorremo concedere.” Allora la signora Duchessa: „Per esser l’ora molto tarda voglio“, disse, „che differiamo il tutto a domani; tanto pi¾ perch¦ mi par ben fatto pigliar il consiglio del signor Magnifico: cioÀ che, prima che si venga a questa disputa, cos si formi una donna di palazzo con tutte le perfezioni, come hanno formato questi signori il perfetto cortegiano.“ (Cort. II.99 (255)) [Emilia: „…] Ihr werdet Euch für Euch selber zu schämen haben, […] wenn Ihr sehen werdet, wie der besiegte Herr Gasparo seinen und Euren Irrtum bekennen und um Verzeihung bitten wird, die wir ihm aber nicht bewilligen werden.“ – Nun sprach die Herzogin: „Da es schon spät ist, will ich, dass wir alles auf morgen verschieben, um so mehr, als es mir gut erscheint, den Rat des Herrn Magnifico anzunehmen, nämlich, bevor man diesen Disput austrägt, eine donna di palazzo mit allen Vollkommenheiten zu bilden, so wie die Herren den vollkommenen Hofmann gebildet haben.“ (Üb. Wesselski, 81f., bearb. E.W.)
Und auch die Berechtigung der Befürchtung Emilias, die Beschreibung einer vollkommenen donna di palazzo würde von den Verbündeten Gasparos im misogynen Sinne beeinflusst, wird von der Herzogin bestenfalls ignoriert bzw. an anderer Stelle in Vorwegnahme des offensichtlich gesetzten Spielergebnisses nur kommentiert (cf. Cort. II.99 (255)). Und als Emilia später polemisch gegen Unico Aretino argumentiert, erfolgt ein Abbruch diesmal durch Bernardo, der das Thema wechselt (cf. Cort. III.63f. (342–344)). Ein argumentativ fundierter Dialog zwischen den Geschlechtern findet also tatsächlich nicht statt, auch bzw. gerade nicht im Spiel. Das weibliche Geschlecht wird zwar im Spiel einem polemischen Argumentationsduktus unterstellt, es selbst hat an der Polemik bzw. an deren Dekonstruktion aber keinen Anteil. Seine Rolle beschränkt sich vornehmlich auf das Zuhören in der männlichen Abendgestaltung. In Il Merito delle donne verhält es sich grundsätzlich anders. Die Frauen sind die Trägerinnen des Spiels und argumentativ agierende Disputantinnen, auch wenn nur im männerfreien Raum. Die Frauen engagieren sich je nach der ihnen zugewiesenen Rolle sozusagen „ernsthaft“ für eine/für ihre Position im Spiel – Positionen, die faktisch auch ihrer eigenen dialoginternen „lebensweltlichen“ Einstellung entsprechen. Spiel und diskursive Wirklichkeit scheinen ineinander zu fließen, wenn immer wieder die eigene Erfahrung eingebracht wird, sei es die schlechte mit den Männern, sei es das eigene In-Abrede-Stellen der schlechten Beleumundung von Frauen seit „ewigen“ Zeiten. 50 Zur Einschätzung der Interventionen der Frauen im Cortegiano cf. ausführlicher auch Kolsky (1990), 41 et passim.
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Bleibt also festzuhalten: Ein Dialog zwischen den Geschlechtern findet in keinem der beiden Dialoge statt. Allerdings wird immer wieder auf das Verhältnis und die Einschätzung von Männern und Frauen eingegangen, so im Cortegiano in der Suche nach den Eigenschaften idealer Hofleute, Männer wie Frauen. Der Diskurs wird jedoch ausnahmslos durch Männer getragen. Sie vertreten spielerisch sowohl die idealisierende (neue) wie auch die polemische (traditionelle) Sehweise vor der versammelten Hofgesellschaft. In Il Merito delle donne fehlt hingegen ein potentieller männlicher Widerpart ganz. Gerade, wenn es um die Frau(en) geht, dominiert im Cortegiano die sonst kaum anzutreffende Attribuierung der dialogkonstituierenden Verben wie dire durch Formen von ridere bzw. sorridere (,lachen‘ und ,lächeln‘),51 die niemals das Lachen bzw. Lächeln über jemanden ausdrücken. Es sind vielmehr eine Art pragmatische oder auch metakommunikative Indikatoren für einen Disput im Rahmen der Maximen der cortegiania. Diese Attribuierungen verdeutlichen, dass das Ganze als Spiel im Spiel betrachtet wird. Die Auseinandersetzungen Giuliano – Gasparo werden als eigenes Spiel im rahmengebenden Spiel zur cortegiania inszeniert und die verbalen Indikatoren für dieses „neue“ Spiel sind die genannten Attribuierungen.52 Dadurch findet die Polemik der Äußerungen Gasparos (und auch Ottavianos und Il Frigios) Anbindung an den Rahmen der höfischen conversazione (in Buch 1 und 4 des Cortegiano fehlt eine solche Inszenierung des Spielcharakters der Argumente fast durchgängig). Angriffe werden genau wie die (immer) unpolemischen Widersprüche der Wortführer lächelnd oder mit einem Lachen vorgebracht. Das Lachen bzw. Lächeln aller am Spiel Beteiligten weist den polemisch geführten frauenbezogenen Diskurs als für die höfische Gesellschaft geeignet aus, indem sie ihn als Spiel in Szene setzen. In Buch 2 hingegen ist das ridere, nicht jedoch das sorridere, hochfrequentig, was im Zusammenhang mit dem Erzählen von Burlesken und Fazetien auch nicht nicht weiter verwundert. Das Lachen bezieht sich hier jedoch ausnahmslos auf die erzählten Geschichten und dient nicht, wie in Buch 3, zur spielerisch inszenierten Ansiedlung im Rahmen der höfischen conversazione. Eine solche explizite spielindizierende Inszenierung der vorgebrachten Argumente fehlt in Il Merito delle donne. Die Behandlung des Themas erfolgt hier mit allem Ernst im vorgebenen (weiblichen) Spielrahmen, so dass auch keine verbale Inszenierung mit Blick auf eine gesellschaftliche Schicklichkeit notwendig ist. Man hat zwar gemeinsam seinen Spaß, aber das Spielerische wird nach der Integration des Spiels in die Nachmittagsbeschäftigung der Damen rhetorisch nicht 51 Zur Funktion des Lachens, insbesondere im Cortegiano cf. u. a. Burke (1995), 25ff. und im Anschluss an diesen Nell (2009), 35–40. 52 Lachen ist damit elokutiver Indikator zur Verortung „unhöfischer“ Polemik im höfischen Spiel. Kolsky (1990), 57 sieht das Lachen als Ironiemarker bzw. als Distanzindikator und trifft damit wohl nur ein Teil von dessen Funktion im Cortegiano.
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mehr expliziert. Wenn man lacht, lacht man über etwas oder jemanden. Das Lachen hier wäre also höchstens mit dem Lachen über Burlesken und Fazetien im Cortegiano vergleichbar, wenn letzteres auch eher ein textuell anaphorisch wirkendes Lachen darstellt, ersteres hingegen ein situativ-deiktisches. Beide Dialoge des hier ausgewählten Diskursbereichs sind in den thematisierten Domänen unbestritten polemisch konzipiert. Die Polemik etabliert sich sowohl zwischen den dialog- und thementragenden Protagonisten als auch hin zu den thematisierten Subjekten (Mann – Frau). Da sich das Ganze in beiden Dialogen in einem wohlgeordneten (zivilen) Ambiente vollzieht, bricht kein echter Streit aus, sondern der Dissenz wird mit höfischer Grazie und mit civilt geführt. Zudem ist festzustellen, dass die geschlechterbezogene Polemik nirgends individuell und personenbezogen geprägt ist, sondern ausnahmslos Toposcharakter hat: es werden die seit Jahrhunderten bemühten Vorwürfe, „Argumente“ und Gemeinplätze vorgebracht, nun allerdings auch umfassend widersprochen. Während im Cortegiano die Tradition einem diese ignorierenden Ideal gegenübergestellt wird, obwohl die Tradition durchaus die Folie abgibt, die die Qualitäten der donna di palazzo herausstellen hilft, erfolgt in Il Merito delle donne der Weg von der pseudoindividuellen, da als Fiktion eingeführten Erfahrung einzelner Protagonistinnen zum allgemeinen Widerspruch bzw. Anspruch der Frauen, und zwar im Aufbau einer durchaus systematisch angelegten Polemik. Die Polemik führt im Cortegiano zur Betonung eines Frauenideals und in Il Merito delle donne zur Forderung nach einer angemessenen Einschätzung der Qualitäten der Frauen sowie einer solchen der Männer, die im Superioritätsanspruch der Frau über den Mann gipfelt. Beide Polemiken intendieren jedoch keine Veränderung der gesellschaftlich fixierten Hierarchie, wie etwa in Il Merito delle donne deutlich wird, wenn das Spiel beendet wird in dem Moment, in dem Verginia das ganze als bare Münze zu nehmen bereit ist. Die Betrachtung der beiden auf den ersten Blick recht differenten Texte hat deutlich gemacht, dass Polemik als rhetorisches Verfahren bzw. als rhetorisch fundierter Wirkmechanismus ein verbindendes Element darstellt und dass dieses rhetorische Verfahren durchaus ambivalent nutzbar ist, auch schon in der Epoche der Renaissance, wenn man bestimmte Kautelen berücksichtigt. Castiglione benutzt sie als Motivator zur Unterhaltung der Hofgesellschaft, Moderata Fonte benutzt sie zur Hinterfragung traditioneller Rollenklischees. Das Streitgespräch, das sich im Cortegiano zwischen den Protagonisten im Spiel abspielt, wird in Il Merito delle donne vermieden, indem sich die Gesprächsteilnehmer von ihrem potentiellen Angriffspartner absondern. Die Polemik erreicht ihren Adressaten erst, wenn das Spiel und auch der Rückzugsraum verlassen werden.
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Imke Lichterfeld (Bonn)
Do not banish reason – Dialog und Dialogisierung in Shakespeares Measure for Measure
[D]o not banish reason1 – verbanne nicht die Vernunft, klagt die Novizin Isabella Herzog Vincentio von Wien an, der ihren Wahrheitsbeteuerungen am Ende der bitteren Komödie Measure for Measure scheinbar keinen Glauben schenkt und sie stattdessen als verrückt, strange (V.i.38) und mad (V.i.63) bezeichnet: Poor soul, / She speaks this in th’infirmity of sense (V.i.50). Dies geschieht, obwohl der Herzog genau weiß, dass Isabella die Wahrheit spricht, wenn sie seinen Statthalter Angelo der Wollust und des Versprechensbruchs anklagt. Isabella bittet den Herzog um Vernunft, ihren Worten zuzuhören und Glauben zu schenken. Herzog Vincentio jedoch antwortet, indem er in seinen Repliken rhetorische Strukturen der Gattung des Dialogs anwendet, um Angelo zunächst scheinbar zu verteidigen und letztendlich seine eigene, etwas arbiträr anmutende Rechtsprechung anzuschließen. Der Aspekt, den dieser Beitrag vornehmlich erörtert, ist, ob die Anwendung der Strukturkriterien der Gattung des Dialogs in diesem elisabethanischen Drama tiefergehende Interpretationsmöglichkeiten eröffnet, bzw. ob sich eine neu zu erschließende Ebene der Analyse des Dramas sogar erst durch die kritische Interpretation des Abschlussdialogs anhand des zeitgenössischen, verwandten Genres, eventuell unter Berücksichtigung der Gattung des polemischen Dialogs, ergibt. Die Absicht, Strukturkriterien der Gattung des Dialogs auf das Drama anzuwenden, muss aber gleichzeitig kritisch distanziert betrachtet werden, da die Grundsituation der Gesprächspartner in Measure for Measure durch ihre hierarchischen Unterschiede bereits stark vorgeformt ist: die Machtposition der Dialogpartner Isabella und Vincentio ist von Beginn an durch den Unterschied ihrer Rolle als bittende Dienerin und seiner als Herzog definiert.2 1 Measure for Measure, V.i.67. 2 Dieser Artikel wird nicht auf die Quellen des Stücks eingehen, auch nicht auf die oft gezogenen Parallelen, die zwischen Herzog Vincentio und König James I von England bestehen, sondern sich stattdessen auf den dramatisch performativen Wert und die Analyse des Aufbaus der
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Eine weitere grundlegende Feststellung bestimmt den Dialog im Drama: im Gegensatz zu dem als Dialog verfassten Streitgespräch des Renaissance-Humanismus, der für die Publikation als Lesetext gedacht ist, handelt es sich im Theater gattungstechnisch grundsätzlich um performative3 Dialogisierung.4 Dialog als situationsbezogener, sprachlicher Austausch ist Grundvoraussetzung des dramatischen Genres, genau wie die Einbeziehung von Stimme und Körper für die Darstellung der Charaktere essentiell ist. Die Figuren kommunizieren miteinander sowie, auf einer anderen (Bühnen-)Ebene, mit dem Publikum, durch Sprache, Mimik und Gestik. Die Dramatisierung des Kommunikationsprozesses ist stets auf Performanz – Darstellung vor dem Zuschauer – angelegt, sei es im Streitgespräch oder in der Äußerung eines Konsenses. Daher muss die Verbindung, oder vielmehr die Grenze zwischen dem grundsätzlich meist dialogisch gehaltenen Genre des Dramas und dem in der Renaissance populären Genre des Dialogs vorsichtig gezogen werden. Der Dialog als Genre, die Kategorien und die Funktion seiner Form lassen sich mit dem Dialog auf der Bühne – der Grundlage des dramatischen Kommunikationssystems – jedoch gut kontrastieren. Es stellt sich die Frage, ob das verwandte eigenständige Genre des Dialogs die Popularität des Dramas vermeintlich sogar unterstützte und seine Kategorien daher erst recht auf das Drama angewendet werden können. Die Analyse eines – natürlich dialogischen – Dramenauszugs im Vergleich zum Genre des Dialogs könnte daher sehr ergebnisreich sein. Der Dialog stellt grundsätzlich eine „kommunikative Relation“5 dar ; das Theater nutzt diesen Aspekt als performative Form standard- und gattungsgemäß. Der Dialog als Gattung (zur besseren Kontrastierung unter anderem in Comparative Criticism als philosophischer Dialog bezeichnet, vielleicht aber allgemeiner als literarisch zu beschreiben) dient der Erörterung eines bestimmten Gesprächsgegenstands auf literarisch konstruierter Ebene, wie E. S. Shaffer konstatiert: The philosophical dialogue has been a permanent part of our modes of thought and our literary possibilities since Plato recovered or recreated the oral teaching of Socrates Shakespearschen Dialoge konzentrieren. Zur Interpretation des Herzogs als James I, siehe u. a. Quarmby (2012), 111ff. 3 Der Begriff ,performativ‘ gilt zunächst als auf die Gattung des Dramas beschränkt. Vgl. Pfister (1988), 19–21 und Kapitel 4.6. 4 Vgl. Cox (1992), 5. Natürlich gibt es auch im Theater Ausnahmen von dieser Grundregel. Texte wie Elizabeth Carys Tragedy of Mariam oder Samuel Daniels Cleopatra sind nicht für die Bühne, sondern das (selektierte) lesende Publikum entstanden; außerdem wurden viele Dramen nach erfolgreicher Aufführung für das lesende Publikum in gedruckter Form publiziert. Grundsätzlich jedoch ist das Genre während der Renaissance zunächst für die Bühne entstanden. Zum Lese- oder Rezitationsdrama (closet drama), siehe u. a. Raber (2001) u. Straznicky (2009). 5 Häsner (2004), 21.
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among his disciples in a long series of dialogues touching every major issue in the mental life of the Greeks. If the aim could be said to be the construction or education of a philosophical subject or identity (Jürgen Mittelstrass, ,Ein Versuch über den Sokratischen Dialog‘, in Wissenschaft als Lebensform (Frankfurt, (1982)) [sic] it could as well be seen as a dramatic presentation […]; we have only a highly literary reconstruction, and the original, spoken dialogue remains always an unrecapturable ideal.6
Die Unterschiede, aber auch die Ähnlichkeit der verschiedenen Dialogtypen – in der Gattung Dialog und im Drama – drängen sich geradezu auf, wie auch das obige Zitat schon erahnen lässt. Es geht im Drama oft nicht um die Erörterung eines Gesprächsinhalts, sondern um die konkrete performative Darstellung einer Handlungssituation durch gesprochenen (wenn auch auf dem Papier erdachten) Dialog. So stellt auch Manfred Pfister fest: „There is development, rhythm, and structure to Plato’s dialogue – but it is not the kind of movement we associate with the dramatic dialogue.“7 Es muss daher zunächst festgehalten werden, inwiefern Drama mit und durch Dialog arbeitet, bzw. konstruiert ist. Theater bedeutet grundsätzlich – so auch zur Zeit der Renaissance8 – Kommunikation der Charaktere; die Darstellung des Dramenstoffs erfolgt anhand des gesprochenen Textes und beinhaltet selbstverständlich auch performative Streitkultur, sobald sich Charaktere im Stück uneinig sind. Öffentliches Theater ist jedoch nicht – wie der Dialog – prinzipiell intellektuell intendiert und als Beitrag zur Literatur und zu höherem Dichterruhm angelegt, sondern primär als öffentliches Unterhaltungsmedium, das aber selbstverständlich intelligent und spitzfindig sein kann.9 Pfister versucht die beiden Ausformungen der Dialoge – das philosophische Streitgespräch und das Drama – daher zu unterscheiden, aber auch ihre Gemeinsamkeiten hervorzuheben: Philosophy and the theatre are in many ways opposites: the one relies on language as its only medium of representation, the other is plurimedial and embeds language in the spatial, situational and visual contexts of moving bodies and objects; the one abstractly discursive, where the other is the representation of an action, a myth, a plot; the one 6 Shaffer (1998), xvii. 7 Pfister (1998), 11. 8 Pfister unterstreicht den günstigen Charakter der Renaissanceära im Hinblick auf Debattierfreudigkeit, Konversationsfiktion und Auseinandersetzung durch Korrespondenz für den Dialog und damit auch für die Theaterentwicklung: „It was, amongst other things, the dialogical climate of Humanism in which debate, conversation and correspondence flourished that favoured the development of a new kind of theatre – a theatre which no longer represents the authoritative truth of the Christian myth but interrogates and negotiates received norms and values.“ Pfister (1998), 4. 9 Nach Bühnenaufführung existierten aber auch handschriftliche und gedruckte Versionen vieler Dramen; es kann daher grundsätzlich nicht nur vom Drama als Bühnenunterhaltung gesprochen werden.
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speaks in propria persona where the other has fictional personae speak for themselves; the one does not need an audience where the other is always public. And yet, there is one essential feature that philosophy and drama share – the dialogue. Both in philosophy and drama dialogue is not just an optimal element or a particular sub-genre; it is, rather, the matrix of both philosophical reflection and theatrical representation.10
Sowohl die Gattung als auch das Drama bestimmen den Dialog, bzw. der Dialog bestimmt die Gattung des Streitgesprächs wie auch die dramatische Auseinandersetzung. Inwiefern aber im Drama der Anspruch auf einen im Sinne des Humanismus intellektualisierten Dialog gegeben sein kann, bleibt zu fragen. Auch wenn sich natürlich Dialoge, ja sogar polemische Dialoge im Drama finden mögen: es findet sich im Drama kein Dialog nach dem kategorischen Schema der Gattung des (polemischen) Dialogs. Shakespeares Drama Measure for Measure bietet sich für eine Untersuchung des Dialogs als Gattung und im Drama insofern an, als Shakespeare nicht nur allgemein als herausragender Dramenautor gilt, der „den Dialog in der Literatur der Renaissance zu einem unübertroffenen Höhepunkt führt“,11 sondern besonders daher, weil in Measure for Measure, das gern als problem play bezeichnet wird,12 scheinbar Lösungen und Entscheidungen über Streitkultur durch Dialog gefunden werden. Pfister formuliert, dass Shakespeare den Dialog in seiner ganzen Bandbreite nutzt, nämlich im Sinne Bakhtins, aber auch formal, intellektuell und kreativ : Shakespeare […] not only stretches the dialogical form of drama to the radical extremes of Bakhtinian ,dialogism‘ but stages the whole gamut of philosophical dialogues from formal disputation and d¦bat to the kind of witty conversation that shifts its perspectives upon the problem under discussion with great and inventive ease.13
Besonders interessant wird dieser Aspekt durch die Positionen der Redner in diesen scheinbar entscheidungsfindenden Dialogen, denn nicht nur weibliche und männliche Teilnehmer an Streitkultur werden einander gegenübergestellt, sondern auch hierarchisch entgegengesetzte Redner. Nicht machtpositionell ebenbürtig wird Streit ausgetragen, sondern zwischen Herrscher und Untergebenem, bzw. Untergebener und gleichzeitig zwischen Mann und Frau, deren Geschlechterrolle in der Renaissance wesentlich deutlicher festgelegt und durch eine patriarchale Herrschaftsstruktur definiert war. 10 Pfister (1998), 3. 11 Müller (2004), 23. Die pamphletischen Dialoge stellen im 16. Jahrhundert oft Oppositionen dar ; in Measure for Measure sind dies die politisch unterschiedlichen Rechts- und Hierarchieauffassungen. Vgl. die wegweisende Studie von Merrill (1911), 42. 12 David Margolies kommentiert die Bezeichnung als problem play folgendermaßen: „There is no way of finding a comfortable average of a happy form and an unhappy content. The contradiction continues to be disturbing.“ Margolies (2012), 1. 13 Pfister (1998), 5.
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Zunächst ist festzuhalten, dass die Geschehnisse in Measure for Measure die Basis für die Dialogsituation der abschließenden Szene bilden und daher kurz erläutert werden müssen. Was dabei durchaus eine Rolle spielt, ist die Tatsache, dass Measure for Measure ein Problemstück ist und, anders als die heiteren Komödien Shakespeares, als eine eher bittere, hoffnungslose Komödie gilt und manchmal gleichsam als dark comedy14 bezeichnet wird. Diese Klassifizierung leitet sich teilweise aus den Entscheidungen im letzten Akt her : hier entsteht eine scheinbare Harmonie und glückliche Endsituation, die aber oft einen Eindruck von Niedergeschlagenheit und sogar Wut und Enttäuschung hinterlassen kann, da die weibliche Hauptfigur Isabella gewissermaßen kommunikationslos zurückgelassen wird. Shakespeares Measure for Measure15 beschäftigt sich mit dem Funktionieren der gesetzlichen Ordnung politischer Angelegenheiten durch den Regenten und der Auseinandersetzung mit säkularen und religiösen Gewalten und Idealen.16 Die Komödie handelt von Moral, Gerechtigkeit und Tugend, sowie deren Korrumpierung und Pervertierung.17 Zu Beginn des Stücks bezeichnet Herzog Vincentio von Wien seine bisherige Regierungsart als zu mild: er wäre in seinen Regierungsjahren zu nachsichtig gewesen und hätte die Rechtsprechung schleifen lassen, so sehr, dass man sich sogar darüber lustig gemacht habe (I.iii). Damit stellt der Herzog wortreich seine Macht und Konsequenz18 infrage und erlaubt eine kritische Betrachtung der Herrschaftsideale.19 Bereits jetzt ist darauf 14 Der Begriff dark comedy bezeichnet diejenigen Stücke, die als Komödie klassifiziert sind, deren Ende aber jeweils einen zynischen Beigeschmack last, besonders Measure for Measure, All’s Well That Ends Well, Troilus and Cressida und The Merchant of Venice. Auf den Aspekt der möglicherweise zynisch zu interpretierenden Sprachlosigkeit Isabellas zum Schluss von Measure for Measure muss im Folgenden daher Bezug genommen werden, dominiert er doch das Ergebnis des Dialogs. 15 Alle Zitate zu Measure for Measure beziehen sich auf die im Literaturverzeichnis genannte Arden Edition von Lever (1965). 16 Vgl. Lever (1965), lviii; McCauliff (2005), 109. 17 Vgl. McCauliff (2005), 82. 18 Vgl. Leggatt (1988), 345. Die in Wien herrschende inkonsequente Rechtsprechung ist also von Beginn an als Konsequenz des fehlerhaften Herrschers anzusehen. 19 Dies muss jedoch unter dem zeitgenössischen Aspekt vorsichtig betrachtet werden, dass der Herzog teilweise mit König James verglichen wurde; damit wäre Kritik am Herzog evtl. politisch brisant. James hat aber natürlich selbst in dem von ihm verfassten Fürstenspiegel Basilicon Doron Laster des Herrschers wie Sündhaftigkeit und zu viel Stolz kritisiert. Siehe: Craigie (1944); vgl. auch Kevin A. Quarmby (2012), 124. Wie oben bereits erwähnt soll hier aber nicht auf den kulturhistorisch politischen Kontext eingegangen, sondern sich allein auf die interdramatischen Konflikte konzentriert werden. David Margolies weist darauf hin, dass Measure for Measure wohl das einzige Stück ist, in dem Shakespeare sogar eine Demütigung des Herrschers – wenn auch durch einen Träger der komischen Nebenhandlung – in Kauf nimmt und offen stehen lässt: „Lucio most obviously offers a critique of the Duke, which the ,official‘ view can dismiss as the irresponsible remarks of a liar and whore-master ; however, it is very penetrating, not just very funny. Measure, I believe, is the only play in which
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hinzuweisen, dass er jedoch am Ende der Komödie nicht nur auf seiner Autorität nach außen hin insistiert, sondern auch mit inszenierter rhetorischer Gewalt und Provokation nach innen Macht ausübt und damit jede Kritik unterbindet. Ziel des Herzogs ist es, seinen Ruf wiederherzustellen, der auf Herrschaftstugenden basieren sollte, die seinen Untertanen bewusst sind, wie auch Gless hervorhebt: „But it is never enough merely to have these qualities. The prince’s public behaviour must advertise his virtue.“20 Im Folgenden wird erkennbar werden, wie der Herzog aber eher arbiträr, selbstdarstellerisch und selbstgefällig seine Macht öffentlich inszeniert und später auch seine Herrschaftsweise nicht mehr in Frage stellt. Um offiziell Recht und Ordnung zu sichern, setzt der Herzog während einer vermeintlichen Abwesenheit den Statthalter Angelo als Regenten ein, damit in Wien die bis dato oft übertretenen Gesetze eingehalten werden sollen. Er selbst überwacht jedoch in Mönchsverkleidung21 die Vorgänge in der Stadt und erfährt so von Machtmissbrauch und Korruption der Rechtsprechung. Sein Statthalter Angelo gilt als kalt und emotionslos (I.iv) und somit als geeignet, klar und unnachgiebig Recht zu sprechen. Jedoch verfällt Angelo der Verführungskraft der Macht in dem Moment, als er auf die Novizin Isabella trifft: Isabella erscheint das erste Mal vor Angelo, um das Leben ihres Bruders zu bitten, der im gesetzlich verbotenen, vorehelichen Beischlaf seine Partnerin Juliet geschwängert hat und nun dafür nach dem Urteil Angelos hingerichtet werden soll. Isabella wird in dieser Szene als gute Rednerin eingeführt (I.ii): There is a prone and speechless dialect Such as move men; beside she has prosperous art When she will play with reason and discourse, And well can she persuade.
(I.ii.173–176)
Diese Fähigkeit der rhetorischen Argumentation wird als ihre Stärke (power, I.iv.76 und 77) bezeichnet, die sie auch nach kurzer Überzeugungsarbeit durch Lucio, einen Freund ihres Bruders Claudio, für ihren Bruder einzusetzen gedenkt: I’ll send him certain word of my success (I.iv.89). Selbstbewusst scheint Shakespeare allows such humiliation of a ruler who continues in office.“ Margolies (2012), 2. Auch Kevin A Quarmby (2012), 103; 135 zweifelt an der Integrität und den Fähigkeiten des Herrschers. 20 Gless (1979), 159. 21 Vgl. Lever (1965), xliv zum Topos des verkleideten Herrschers. Der Herzog wird teilweise aufgrund seiner etwas unklar erscheinenden Motive auch als „duke of dark corners“ bezeichnet, siehe auch die folgenden Seiten xlv–xlvii: eine Studie zur Regie des Herzogs als sich selbst als Mönch inszenierende persona und der Idee, Angelo als Statthalter für sich sprechen zu lassen. Kevin A. Quarmby widmet dem verkleideten Herzog ein ganzes Kapitel („Measure for Measure: Conventionality in Disguise“) in seiner Studie (2012) und bezieht sich darin auf die komödiensubversive Funktion des Verkleidens und den Zusammenhängen zwischen dem Herzog als einen König James repräsentierenden Charakter. Siehe auch Schruff (1999), 31–45.
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auch sie an ihre persuasive Kunstfertigkeit und ihr rhetorisches Geschick zu glauben, nämlich dass sie im Dialog zu einer gewissen Dominanz fähig ist. Der Dialog zwischen Angelo und Isabella (II.ii) ist somit als vermeintlich interessante und gelehrte Fehde angekündigt – als Dialog einer Streitkultur. In seinem Aufbau hat diese dramatische Auseinandersetzung dann auch typische Elemente der Gattung des Dialogs, in der besonders Isabellas rhetorische Strategie besticht. Gegenüber Angelos Insistieren auf den Paragraphen des Gesetzes, streitet Isabella klug für Barmherzigkeit: „Isabella was his polemic opposite in advocating for mercy.“22 Interessanterweise nimmt sie dabei eine ihre fern stehende Position ein: Entgegen ihrer das Laster und damit auch den vorehelichen Geschlechtsverkehr verabscheuende moralischen Überzeugung bittet sie – trotz der sündhaften Tat, die keine Vergebung kennen kann – um Mitleid für ihren Bruder. Mit rhetorischen Mitteln, geschickten Argumenten und Gegenfragen entfacht und fordert sie immer wieder Angelos Replik: Isabella: Must he needs die? […] But can you if you would? […] Too late? Why, no. […] I would to heaven I had your potency, And you were Isabel! Should it then be thus? No; I would tell what ’twere to be a judge, And what a prisoner.
(II.ii.48, 51, 57, 67–70)
An diesen wenigen Repliken Isabellas lassen sich deutlich ihre rhetorischen Fähigkeiten und ihre strategische Argumentationsweise erkennen. Erkundigt sie sich zunächst noch nach der Notwendigkeit einer Erklärung des Todesurteils, dreht sie dann geschickt die Fragen in solche Richtungen, die die Entscheidungsbefugnis der Herrscherfigur von seiner Persönlichkeit zu trennen versuchen – But can you if you would?23 –, die zulassen, die Vollstreckung des Urteils zu revidieren – Too late? Why, no –, die die Rechtsprechung aus ihrer Sicht vermeintlich großmütiger interpretieren würden – I would to heaven I had your potency –, ja, die sie vollkommen in Frage stellen: Should it then be thus? Strategisch geschickt gibt sie nun die Antwort selbst vor: No. Besonders wichtig ist in diesen vier Zeilen der ununterbrochene Redefluss. Die Anwort zu ihrer Frage Should it then be thus? gibt sie unverzüglich selbst und lässt ihn hier nicht 22 McCauliff (2005), 109. 23 Diese Frage könnte sogar als mögliche Aufforderung zur Trennung zwischen body politic, und der politisch-juristischen Verantwortung und body natural, der menschlich mitfühlenden Person aufgefasst werden. Zu einer grundsätzlichen Studie dieses Phänomens siehe Kantorowicz (1957).
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mehr zu Wort kommen, um ihm keine Gelegenheit zu geben, das Todesurteil affirmativ zu bestätigen. In diesen wenigen Zeilen diskutiert sie einen hypothetischen Rollentausch und verfolgt das dargebrachte Argument wirkungsvoll. Allein der erste Teilsatz ihres Schlusswortes lässt keinen weiteren Einwand zu: I would tell what ’twere to be a judge. Rhetorisch brillant steht die Revidierung des Todesurteils, und damit Gnade, als einzig mögliche Schlussfolgerung eines Richters über die Sachlage fest; und dies, obwohl die Tat kaum mehr betrachtet wurde. Tatsächlich ist dies also ein Zwiegespräch, in dem gegenseitig geschickt Argumente aufgenommen und widerlegt werden. Dieser Dialog stellt also tatsächlich ein scheinbar intellektuell bestechendes Beispiel an rhetorischer Schlagkraft und Überzeugungsarbeit dar. Jedoch setzt sich der Dialog dieser Szene noch knapp einhundert Zeilen fort; Angelo versucht auf sachlicher Ebene seine Entscheidung zu verteidigen, kommt so aber technisch argumentativ nicht weiter, da Isabella es erneut schafft, die Intention seiner Worte anzufechten. So müssen beide Gesprächsteilnehmer das Rhetorikvermögen des Anderen honorieren, wie Angelo sich selbst eingestehen muss:24 She speaks, and ’tis such sense / That my sense breeds with it (II.ii.145–146). Es folgen geschickte Argumente, ja selbst die Anerkennung der gegenseitigen Positionen. Angelo fordert, dass er nicht die Tat, sondern den Missetäter bestrafen muss, eine Argumentation, die Isabella eigentlich bereits zuvor als grundsätzlich nachvollziehbar eingesteht: O just but severe law! (II.ii.41). Im Schlagabtausch der Szene bittet sie jedoch konsequent um Barmherzigkeit: mercy. Sie missbilligt Angelos Gefühlskälte und zieht einen möglichen Vergleich zwischen Angelo und ihrem Bruder, um eine allgemeine mögliche menschliche Fehlbarkeit zu unterstreichen: If he had been as you, and you as he, / You would have slipp’d like him (II.ii.64–65). Dieses überzeugende, schlagkräftige Argument der Identifikation mit dem Missetäter,25 das den Dialog zu Gunsten Isabellas scheinbar zu Ende bringt26 – Angelo will sich zum Nachdenken zurückziehen –, hat jedoch eine verheerende Wirkung, besonders im Zusammenhang mit Isabellas weiterem Kommentar : We cannot weigh our brother with ourself (II.ii.127). Die Aussage, sich nicht mit ihrem Bruder aufwiegen zu können, hat fatale Konsequenzen. Isabella hat nämlich unabsichtlich einen bisher unbekannten Nerv bei Angelo getroffen: körperliche Versuchung als Konsequenz der Ver24 Vgl. Wells (2005), 75–76. 25 Diese Identifikation soll argumentationslogisch auf eine Art Erkenntnis beim Gegenüber hinauslaufen. 26 Auch Lucio, ein teils dubioser, gewitzter Gentleman und Freund Claudios, kommentiert Isabellas Rede positiv. Er spornt sie zu rhetorischen Höchstleistungen an (touch him (II.ii.70), more o’that (II.ii.130), [m]ore on’t (II.ii.133)) und bewertet diese gleich zweimal als well said (II.ii.90 und II.ii.111) und zum Abschluss mit ’tis well (II.ii. 157).
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führbarkeit durch Macht. Angelo nimmt ihre Feststellung wörtlich; er eröffnet ihr die Möglichkeit, sich für Claudio herzugeben: Angelo bietet Isabella die Abmachung an, ihren Bruder freizulassen, wenn sie sich ihm körperlich hingibt. Auch das Angebot ist in ein von wortverdrehenden Repliken gefüllten Dialog verpackt, wie Robin Wells analysiert: As they renew their argument about justice, mercy, and the law, they are like two stubborn critics, each with his own inflexible interpretation of the same play. But this time the roles are reversed (a repeated motif in the play) and it’s Isabella who is now put on the spot by an appeal to charity (II.iv.63–4). She’s in an impossible position. Should she risk damnation in saving another’s life? Or should she preserve her own virtue and cause another’s death? What ever she decides to do will involve violation of a principle that’s as important to her as life itself.27
Hier wird bereits die Krux der Komödie und die Essenz des problem play deutlich. Der substituierte Herrscher handelt korrupt:28 Die keusche, moralische Novizin wird vor die unmögliche Wahl gestellt, den Tod ihres Bruders zu verantworten oder ihren Körper, bzw. ihre Jungfräulichkeit und damit ihr Seelenheil herzugeben. I had rather give my body than my soul (II.iv.56) ist eine Äußerung, die so interpretiert werden muss, dass Isabella ihren Körper für physische Bestrafung anbietet; body ist in diesem Fall nicht im sexuellen Sinn anzusehen. Isabella bezieht ihre Antwort eher darauf, unter Folter zu sterben statt in sexueller Sünde, die für sie den ewigen Tod und eine Beeinträchtigung ihrer Seele bedeutete (vgl. II.iv.108: die for ever). Diese Replik wird aber von Angelo konträr – nämlich sexuell – aufgenommen und zum Angriff auf Isabellas Sexualität bewusst uminterpretiert. Entrüstet schlägt sie das Angebot aus, droht die Veröffentlichung dieser korrupten Proposition an, was er als lächerlich und als vermeintlich unglaubwürdig und anzweifelbar bezeichnet und zurückweist, denn das Wort einer jungen Frau stünde gegen das des als gerecht geltenden Regenten und lässt sie verlassen und verzweifelt zurück. Durch die hierarchische, patriarchale Härte, die körperliches Handeln erzwingen soll, verliert Isabella die Grundlage für jegliche dialogische Argumentation. Sie besitzt keine Macht mehr durch ihre Beherrschung der Rhetorik, die sie im Dialog unter Beweis gestellt hatte. Die Keuschheit und ihr Seelenheil sind der Novizin Isabella wichtiger als das Leben ihres Bruders Claudio, dem sie von diesem unglaublichen Angebot berichten will. Entsetzt ist sie dann außerdem von dessen Bereitschaft, die mögliche Sünde seiner Schwester als rettende Tugendhaftigkeit zu bezeichnen (Szene III.ii). Isabella fühlt sich nicht mehr ernst genommen. 27 Wells (2005), 76. 28 Angelo fällt durch das Hören auf seine körperlichen Wünsche der Korruption und persönlichen Verführbarkeit durch Macht zum Opfer ; siehe Margolies (2012), 1.
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Zu diesem Zeitpunkt tritt der Herzog erneut in Aktion: Statt Wien verlassen zu haben, hat er sich als Mönch verkleidet, um die Geschicke der Stadt und die Amtstätigkeit seines Statthalters Angelo im Geheimen zu beobachten. Als Geistlicher ist er zufällig in dem Gefängnis, in dem Claudio eingekerkert ist, um Beichte abzunehmen und erfährt dort von Angelos Forderungen, die Isabella ihrem Bruder mitteilt. Verständnisvoll redet er Isabella ins Gewissen, dass die Situation sehr einfach lösbar sei: die vernachlässigte Mariana, die Angelo einst liebte und heiraten wollte – bevor ihre finanzielle Lage und die damit zusammengehörende Mitgift nicht mehr gesichert war – sei die Lösung aller Probleme. Mariana könnte den Platz Isabellas in Angelos Bett bestimmt gern einnehmen, da sie Angelo immer noch liebte und auf eine – sexuelle oder eheliche29 – Verbindung hoffte. Die Logik gegenüber Mariana – To bring you thus together ’tis no sin (IV.i.73) – scheint fast arbiträr im Hinblick auf Isabellas Bruder und seine Geliebte, aber in des Herzogs Augen überzeugend simpel und selbst Isabella ist überraschend schnell mit diesem bed-trick-Tausch30 einverstanden. Hier entsteht bereits eine Ebene, auf der Worte und Überzeugungen mit zweierlei Maß gemessen werden, denn Angelo schläft im Anschluss vermeintlich mit der Novizin Isabella. Dieser bed-trick scheint für das freudige Ende der Komödie geplant, ist aber tatsächlich ein bitterer Handel mit Sex, Lust, Liebe, Leben und Tod, denn trotz der Abmachung lässt Angelo nach der vermeintlichen Nacht mit Isabella ihren Bruder nicht frei, sondern lässt das Todesurteil vollstrecken. Glücklicherweise – ein Wink des komödienunterstützenden Schicksals – wird anstatt Claudios nur ein bereits gestorbener Gefangener enthauptet, der ihm zufällig optisch gleicht und dessen Kopf Angelo als Beweis der Urteilsvollstreckung geliefert wird (IV.iii). Aber als besonders wichtig und klar erkennbar stellt sich hier die Willkür der patriarchalen Machtstruktur heraus: Angelo hält sich weder an die Regeln des Dialogs, nach denen er Isabellas Bruder hätte freilassen sollen, noch an die Regeln der Abmachung des Handels mit Isabellas Jungfräulichkeit, die zu dem gleichen Ergebnis führen sollte. Dies ist die Ausgangslage zu Beginn des fünften Aktes. Im Folgenden soll eine genaue rhetorische Analyse der öffentlichen Inszenierung von argumentativen und persuasiven Positionen und der Schiedsinstanz der Sprecher vorgestellt und analysiert werden, ob gattungskonform genutzter Dialog in Shakespeares Measure for Measure eine Rolle zur Auflösung des Konflikts spielt, bzw. inwie29 Zu diesem Zeitpunkt ist unklar, ob Mariana nur die Rolle der Gespielin in der Nacht an Isabellas Stelle darstellen soll. Es erscheint daher fast pervertiert zu denken, dass Mariana scheinbar nur darauf wartet mit Angelo zusammen zu sein, obwohl ihre Lage als ungewollte Ehefrau aussichtslos erscheint. Hier nützt Isabella sie eher zweifelhaft als abgelegte Geliebte. 30 Zur Tradition des bed-trick im Drama der Renaissance, einer Substituierung der Frau beim Geschlechtsverkehr (ohne, dass dem männlichen Partner dies auffällt), siehe Desens (1994) und Bowden (1969).
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fern es sich bei der verbalen, argumentativen und performativen Auseinandersetzung um einen wahrhaft dialogisierten Austausch handelt und die Szene erst durch dessen gattungsbewusste Analyse ihr volles Potential entfaltet, bzw. ob vielleicht von einer Polemisierung des Dialogs, oder sogar von einem vermeintlich polemischen Dialog die Rede sein kann. Herzog Vincentio ist offiziell in die Stadt zurückgekehrt und die empörte Isabella bittet öffentlich um Gerechtigkeit: Justice, O royal Duke! […] Justice! Justice! Justice! (V.i.21, 26). Vom Herzog an Angelo verwiesen, bittet sie um persönliches Zuhören des Herzogs: Hear me yourself (V.i.31) – da er ja offiziell von den Geschehnissen keine Kenntnisse hat, aber als verkleideter Mönch über das Vorgehen in der Nacht und auch die Nicht-Exekution Claudios Bescheid weiß. Der Herzog gibt vor, der Erzählung Isabellas über Angelos Übertretungen von Recht und Moral keinen Glauben zu schenken, provoziert und demütigt sie. Anschließend taucht er in dieser abschließenden Szene des Stücks verkleidet als Mönch auf, reizt die über das Drama aufgebauten Vorwürfe fast bis zur Satire aus und lässt Isabella sogar inhaftieren. Er inszeniert sich als Zuschauer und behält gleichzeitig seine aktive, interne Machtfunktion. So funktionalisiert der Herzog den Dialog mit polemischen Mitteln, die sowohl zynisch-destruktiv und bitter, als auch ethisch-konstruktiv und harmoniestiftend interpretiert werden können und deren Strategie je nach Aufführung sowohl zerstörerisch als auch glücklich inszeniert werden können. Scheinbar wirkt die Situation harmonisch; in Wirklichkeit instrumentalisiert der als Mönch getarnte Herzog skrupellos Isabellas christliche Tugendhaftigkeit, sodass sie vor dem enttarnten Herzog öffentlich sogar schamvoll lügt, sie hätte sich Angelo sexuell hingegeben: by gift of my chaste body […] I did yield to him (V.i 100–104). Sie bittet um Aufmerksamkeit für eine nur halbwahre Erzählung, die doch auf einem vom Herzog inszenierten Trick basiert – „Isabella must confess, falsely and publicly, to the fornication she actually refused to commit.“31 Sie redet über Wahrheit – it is true (V.i.107) – und lügt doch, schließlich hat nicht sie, sondern Mariana die Nacht (statt Isabella) mit Angelo verbracht. Damit beschädigt Isabella öffentlich „remorselessly public“32 ihre Ehre und gibt den Verlust ihrer Jungfräulichkeit preis, nimmt damit auch Respektverlust und Scham in Kauf.33 Isabella ist hier hart gegenüber sich selbst, um Angelo gegenüber unerbittlich zu sein. Sie ist hier nicht christlich nachgiebig, sondern rachelustig. Angelo jedoch versucht, sich der öffentlichen Auseinandersetzung zu entziehen und bezeichnet Isabella als verrückt (her wits I fear me are not firm
31 Leggatt (1988), 348. 32 Dawson (1988), 336. 33 Vgl. Riefer (1984), 162.
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(V.i.35)), und warnt den Herzog vorab: she will speak most bitterly and strange (V.i.38). Es folgt eine Auseinandersetzung, in der Isabella die perfide Taktik Angelos publik macht, der Herzog – der, wie auch das Publikum,34 um deren Wahrheit weiß – jedoch polemisch provozierend vorgibt, ihren Worten nicht den geringsten Glauben zu schenken. Er geht offiziell nicht auf ihre Bitte ein, sondern beschuldigt sie mit in der Linguistik als direkte face-threatening-acts bezeichneten Beleidigungen:35 Er bezeichnet ihre Anschuldigungen zunächst als strange (V.i.47), nennt sie eine arme Seele (V.i.49), und ihren Verstand als gebrechlich (V.i.50), stellt diesen in Frage, versucht zwar scheinbar Logik in ihrer Verrücktheit zu sehen (V.i.63–66, 70–71), aber evaluiert sie doch als debil, somewhat madly (V.i.92), während sie sich immer weiter in zwar begründete Anschuldigungen, aber eine rein konfrontative Stimmung hineinsteigert und dabei die Dominanz innerhalb des Gesprächs übernimmt. Wie im ersten Gespräch mit Angelo greift Isabella teilweise die Formulierungen der Anschuldigungen geschickt auf und verwendet sie für ihre eigene Argumentation, um so die Formulierungen über die schockierenden Geschehnisse zu unterstützen. Der dramatische Dialog scheint nach den Kriterien der Gattung des Dialogs erneut zu Isabellas Gunsten auszugehen. Die Gesprächsführung liegt eindeutig bei Isabella; sie hat die dominanten Redeanteile und formuliert ihre Antworten geschickt: Ihre Dialoganteile sind wesentlich größer als die des Herzogs (vgl. V.i.21–124) und dennoch gewinnt sie keine Dominanz des Gesprächs.36 Die nur scheinbar in Isabellas Wahrheit mündende dialektische Struktur37 des Gesprächs ist tatsächlich durch die politische Macht und damit einhergehende Gesprächskontrolle des Herzogs dominiert, dessen kurze Repliken Angelos Ehre verteidigen: First (V.i.110), die makellose Integrität Angelos, next (V.i.111), die unproportionale Logik des Fehlbarkeitsvergleiches eines Fehlers – die Sünde der Wollust – mit Exekution zu bestrafen. Der Herzog bleibt kontinuierlich auf Angelos Seite. Die Regeln der Streitkultur und der Gattung des Dialogs scheinen befolgt, aber das Publikum muss als Zeuge mitansehen, wie der Dialogprozess sich gegen Isabella richtet. Der Herzog lässt sie aber durch seine Provokationen vorgegebener Ungläubigkeit den Hintergrund und die Geschehnisse der letzten Tage vor der Wiener Öffentlichkeit preisgeben. Ihre Motivation aber bezeichnet er als in Hass gegründet: thou art suborn’d against his honour / In hateful practice. (V.i.109–110). Statt sie in einer schockierten Gefühlslage von der für sie un34 35 36 37
Zur Idee der discrepant awareness, siehe Jochum (1979). Vgl. Albers (2007), 82. Sie wird sogar kurzfristig eingekerkert (V.i.124). Vgl. zur dialektischen Struktur von Gesprächen (wenn auch nicht zu Measure for Measure) Schoell (2004), 26–27.
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glaublichen, scheinbaren Gleichgültigkeit gegenüber ihren Vorwürfen – den Dialog durch knapp formulierten Machtentscheid verlierend – erfolglos ziehen zu lassen, beendet der Herzog das Gespräch, indem er des Weiteren durch herrschaftlichen Befehl festlegt, dass Isabella wegen Beleidigung und Rufmord (blasting and scandalous breath, V.i.125) zu inhaftieren sei. Stufenweise wird Isabella so jegliche Kraft und Selbstachtung durch den Herzog und seine unnachgiebige Autorität entzogen und sie wird sogar ins Gefängnis beordert. The lesson soon turns bitter as the Duke, again with apparent reason, accuses her of attempting to escape and orders her to prison (5.1.123–24). This is an extraordinary blow to one inclined to preserve a reputation for righteousness.38
Isabellas Ziel ist es, durch ihre Appellation an Gerechtigkeit Recht zu erfahren. Darin erfolglos versucht sie sogar durch Verleugnung ihrer eigenen Keuschheit Rache zu üben, gelangt aber auch damit nicht ans Ziel. Nachdem aber auch Mariana in Isabellas Abwesenheit von ihrem Schäferstündchen mit Angelo berichtet, erhebt Angelo zum ersten Mal das Wort: give me the scope of justice (V.i.233) – und erbittet damit, was er durch die Handlung hindurch bisher besaß, aber durch die Anwesenheit des Herzogs sofort wieder verlor: die Schieds- bzw. Rechtshoheit in Wien. Ihm gegenüber verstärkt der Herzog die bisher gegebene stark polemisierte Positionierung: Ay, with my heart / And punish them to your height of pleasure (V.i.238–239). Der Herzog geht in seiner perfide inszenierten Verbrechenspathologie zu weit und pervertiert damit die in Wien zurückgelassene Rechtsprechung in der Person von Angelo, indem er den Wert seines Statthalters als Richter selbst durch Zeugenaussagen unter Beschwörung eines Heiligen nicht anzweifeln lassen würde: Thou foolish friar [Peter], and thou pernicious woman [Mariana], Compact with her [Isabella] that’s gone, think’st thou thy oaths, Though they would swear down each particular saint, Were testimonies against his worth and credit That’s seal’d in approbation?
(V.i.238–244)
Auf diese Weise verleiht der Herzog Angelos Entscheidungen Autorität und gleichzeitig einen Wahrheitsanspruch.39 Die Situation ist also so, dass Herzog 38 Gless (1979), 185. Vgl. Riefer (1984), 162–163: „If we examine Isabella’s development in this play, we can see how her sense of self is undermined and finally destroyed through her encounters with patriarchal authority, an authority represented emphatically, but not exclusively, by the insensitive Duke.“ Isabellas Charakter verändert sich durch ihr erfolgloses Bemühen um Gerechtigkeit. 39 Dabei parodiert Herzog Vincentio sogar provokant sein alter ego Friar Ludowick und gibt skeptisch vor, dessen Ausführungen keinen Glauben zu schenken, weil dieser scheinbar Isabella in der Beleidigung gegen seinen Stellvertreter Angelo unterstützt: Words against me! (V.i.134).
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Vincentio selbst dem Dialog zwischen Angelo und Isabella ein gewisses Maß an Gerechtigkeit und Authentizität verleiht, bevor er für einen kurzen Moment die Bühne verlässt, um dann wieder in Mönchskutte als Friar Ludowick verkleidet zurückzukehren und danach endgültig enttarnt zu werden. Dann – durch die Enttarnung – voll in seiner Autorität als Herzog konfirmiert, übernimmt er offiziell wieder die Schieds- und Rechtshoheit: er verordnet Angelo und Mariana die Ehe, verpflichtet sich großmütig der Hilfe, die er Isabella als Mönch versprach und verzeiht ihr die in Unwissenheit seiner Mitwisserschaft gemachten Vorwürfe. Jedoch erklärt er Isabella zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass ihr Bruder noch lebt, sondern gaukelt ihr Verständnis und Mitleid für dessen Tod vor.40 Er befiehlt ihr Verzeihung für Angelos gedankliche Versündigung, ihm jedoch den Tod41 für die gewollte Verletzung ihrer Keuschheit und den Versprechensbruch im Rahmen der Zusage, dass er eigentlich Claudio im Gegenzug freizulassen versprach: Like doth quit like, and MEASURE still FOR MEASURE (V.i.419). Auch in dieser Szene parodiert er fast seine dominante Positionierung durch weitere auf Unwahrheit gründende Urteile – und provoziert damit jetzt Mariana zum Flehen, nämlich um das Leben ihres frisch Vermählten Angelo. Herzog Vincentio testet damit Isabellas wahre Barmherzigkeit und christliche Tugend. Seine Auslegung des Rechts scheint oberflächlich durch Konsequenz geprägt zu sein. Dass er Isabella zu Vergebung erziehen will, ist jedoch weder sofort ersichtlich noch nachvollziehbar.42 Interessant ist hier, dass Mariana Isabella um Hilfe bittet, um für Angelos Leben zu flehen, was der Herzog als [a]gainst all sense (V.i.431) bezeichnet, eine Unmöglichkeit, die den Geist von Isabellas Bruder heraufbeschwören müsste.43 40 Gerade die zu diesem Zeitpunkt scheinbar nicht mehr angebrachte Lüge, deren einziger Zweck das Hinauszögern von weiterem Leiden zu sein scheint, lässt den Herzog in einem widerwärtigen Licht inhumaner Härte zurück. 41 V.i.405–414: The very mercy of the law cries out / Most audible, even from his proper tongue, / ’An Angelo for Claudio, death for death!’ / Haste still pays haste, and leisure answers leisure; / Like doth quit like, and MEASURE still FOR MEASURE. / Then, Angelo, thy fault’s thus manifested; / Which, though thou wouldst deny, denies thee vantage. / We do condemn thee to the very block / Where Claudio stoop’d to death, and with like haste. / Away with him! Vincentio droht jeweils mit Unnachgiebigkeit und harter Strafe. 42 Vgl. Wells (2005), 77: „Warning her that he may appear to side with Angelo (IV.iv.5–7), the duke decides to test her charity by seeing if she is prepared show mercy to the man she thinks has killed her brother. Once Angelo has confessed to his crime, Vincentio pretends to subscribe to a retaliatory view of the law. Though his words echo the phrases of the Sermon of the Mount, the sentiments he’s expressing are those of the Old Testament prophet.“ 43 „But the duke is playing devil’s advocate. Having undergone one of those miraculous changes of heart that are so familiar in romance literature, Isabella joins Mariana in pleading for the life of the man who has deceived them both. She has passed her test. As the play ends with forgiveness all round, it’s clear that the duke’s apparent vindictiveness was merely a show of
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Mariana aber fleht so um Isabellas Unterstützung, dass diese Mitleid und christliche Nächstenliebe zeigt und um Angelos Leben bittet, als ob dieser Claudio nie hätte exekutieren lassen: [a]s if my brother lived (V.i.443). Sie verteidigt in ihrer Rede sogar das Urteil über den vermeintlich getöteten Claudio als gerecht (My brother had but justice, / In that he did the thing for which he died, V.i.446–447). Außerdem schätzt sie die Tat ihrer Deflorierung – da nur in Gedanken – als nicht strafbar ein, die daher vergessen werden sollte. Es erscheint einerseits christlich und natürlich, aber dennoch ironisch, wenn nicht sogar transgressiv pervertiert, dass Isabella nun gerade Barmherzigkeit demjenigen gegenüber zeigt, der ihr gegenüber hart blieb44 und dessen Schuld sie zunächst bestraft wissen wollte. Zunächst nämlich von Rachegedanken45 überzeugt – nicht gerade christlich motiviert, wiewohl berechtigt und menschlich verständlich, – wird Isabella zur Hilflosen. Nun bittet sie um Vergebung für Angelo und vergibt ihm damit also selbst. In diesem Moment betritt der zunächst verhüllte, aber bald erkannte Claudio die Bühne. Da er nicht starb, vergibt der Herzog nun auch Angelo; für den außerehelichen Geschlechtsverkehr wird die Todesstrafe aufgehoben; beide – Claudio und Angelo – dürfen leben. So endet das Stück mit dem Hinweis auf das Eheglück Marianas und Angelos, der Vermählung Claudios mit seiner Geliebten (She, Claudio, that you wrong’d, look you restore, V.i.522), ebenso wie der des Herzogs mit Isabella, die er kurzerhand zur Frau zu nehmen entscheidet. Lever bezeichnet diese Entscheidungen als weise: The Duke’s wisdom is most thoroughly displayed in the finale of the play. […] he sets an example of justice by presiding over the trial in person. Angelo is allowed to fall into his trap; is led to face the extreme penalty he has sought to inflict on others; and finally is saved by the Duke’s act of clemency. But more is achieved than a demonstration of ,the properties of government‘ by the sovereign. The deeper moral of the trial is seen in its effects on the consciences of those tried.46
Diese als Weisheit analysierten Anweisungen, die den Herzog als scheinbar unantastbare Herrscherfigur darstellen, sind jedoch keinesfalls nur auf diese die Autorität unterstützende Weise zu interpretieren. Der Effekt seiner Urteilsentscheide wird auch durch die Antworten, bzw. die teilweise nicht existenten Reaktionen einiger Beteiligter klar. Isabella zeigt keine Reaktion: sie begrüßt weder ihren lebenden Bruder47 noch reagiert sie auf den Hochzeitsantrag des Her-
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severity. In reality his is a penitential conception of justice whose ultimate purpose is not the avenging of wickedness but the spiritual good of the sinner.“ Vgl. Wells (2005), 77. Vgl. McCauliff (2005), 114. Gless (1979), 196. Lever (1965), lxxi. Ähnliche Anweisungen bekommen die Charaktere des parallelen Handlungsstrangs; eine genaue Analyse der Nebenhandlung würde hier aber zu weit gehen. Die letzte Begegnung Isabellas mit Claudio war ein Treffen im Gefängnis in III.i, das von der
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zogs,48 obwohl dieser sie auffordert zu sprechen: say you will be mine (V.i.490). Wie erschöpft durch die vergangenen schmerzvollen, aber unnötigen Argumentationen bleibt sie nun sprachlos und still.49 Der Hinweis auf die mögliche Ehe als perfekter Komödienausgang ist in der Kritik teilweise als harmonische Verbindung von moralischem Verstand – „The Duke’s wisdom“50 – und menschlicher Güte und Unschuld gesehen worden. Konsequenter scheint jedoch die Idee der Kritiker, die das Ende als willkürlich, und – wie Marcia Riefer es bezeichnet – „highly questionable“51 und bitter sehen. Durch Dialog scheint daher die andere Partei nicht zufriedengestellt und von der gleichen Meinung überzeugt. Stattdessen überzieht der Herzog die Intensität der Dialogisierung so sehr, dass es der Gegenpartei – also Isabella – die Sprache verschlägt. Der Herzog scheint die Kraft von Worten und Argumentationen vergiftet und korrumpiert zu haben,52 wie ihr selber durch ihre Lüge auch klar geworden sein muss. Isabellas Reaktion – Entsetzen, Niedergeschlagenheit, möglicherweise auch Zufriedenheit – bleibt performativ Interpretation der Darstellung in einer Inszenierung.53 Zu einer Interpretation kann man jedoch auch nah am Text gelangen, nämlich durch den nicht existenten Dialog und die aussagekräftige Stille.54 An Isabellas Schweigen ist abzulesen, dass sie ihre Persönlichkeit, ihre Identität als Novizin, ihre Integrität durch Keuschheit als Ideal und ihre Schlagfertigkeit als Rednerin verliert. Damit wird sie nur zu einem Rädchen in
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Hoffnung geprägt war, dass Claudio möglichst schnell seinem Tod entgegen sehen würde und nicht zu lang mit sich hadern, bzw. auf den Tod warten müsste. In der finalen Szene findet prägnanterweise keine geschwisterlich glückliche Begrüßung statt. Vgl. McGuire (1985), 63. Die vom Herzog entschiedene Vermählung mit Isabella ist keine Beteuerung reziproker Liebe; McGuire (1985), 68. In den folgenden 46 Zeilen des Stücks gibt es weder eine Antwort auf seine aktive Aufforderung zu Sprechen – say you will (V.i.490) – noch eine durch andere beschriebene Reaktion ihrerseits. Lever (1965), lxxi. Riefer (1984), 159: „Deprived of her potential for leadership, Isabella succumbs to the control of a man she has no choice but to obey – a man whose orders are highly questionable – and as a consequence her character is markedly diminished.“ Siehe auch McGuire (1985), 84. Eine freudige Reaktion Isabellas würde die Taktiken des Herzogs als unantastbar positiv evaluieren. Allein die emotionale Reaktion Isabellas muss aber eigentlich, um der Rolle weiterhin Glaubwürdigkeit verleihen zu können und nicht ins Lächerliche abzudriften, konsistent zu ihrem bisherigen Verhalten bleiben. Damit muss auch der Reaktion auf die Lüge des Herzogs über den Tod Claudios Rechenschaft gezahlt werden: der Herzog hat sich Isabella gegenüber weder ehrlich noch ehrenhaft verhalten. Vgl. Margolies (2012), 3–5: „Authority wins the day, technically, but experience exposes its shocking inadequacies.“ (5). Schweigen muss als mehr denn aussagekräftige Antwort gewertet werden. Auch auf Marianas Bitte (V.i.428–430), um Angelos Leben zu flehen, lässt sich Isabella zunächst nicht sofort ein, sondern schweigt zunächst, so dass Mariana sie erneut wiederholend bittet (V.i.434–440). Dann aber handelt und redet Isabella (V.i.441). Hier bleibt sie schweigsam.
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der Selbstinszenierung des Herzogs55 und zu einem Opfer der patriarchalen Machtstrukturen in Wien.56 In the course of the play, Isabella changes from an articulate, compassionate woman during her first encounter with Angelo (II.ii), to a stunned, angry, defensive woman in her later confrontations with Angelo and with her imprisoned brother (II.iv and III.i), to, finally, a shadow of her former articulate self, on her knees before male authority in Act V.57
Riefer betont damit den Aspekt, dass Isabella auf bittere Art und Weise vom patriarchalen Regime bevormundet und herablassend behandelt wird.58 Auch Margolies schließt sich der negativen Bewertung des Herzogs an, die ihm als die einzige logische Erklärung und Interpretationsmöglichkeit für das unerträgliche Schweigen Isabellas erscheint: Shakespeare gives her no verbal response, but the silence is the jaw-dropping silence at stunning moral intensity. This is no heavenly comfort of despair ; it is pointless torment. Shakespeare makes the Duke a monster.59
Es bleibt nach den Motiven des Herzogs zu fragen, der die Wahrheit verschweigt und so den Schmerz Isabellas in die Länge zieht. Er erkennt das dialogische Prinzip nur scheinbar an, lässt den Dialog aber nur als formale, strukturelle Hülle dastehen und agiert nicht konsequent. Grundsätzlich versucht er die Korruption in seiner Stadt zu eliminieren und seine Machtposition zu festigen, ohne selbst Schaden zu tragen; ob dies aber 55 Herzog Vincentio inszeniert sich selbst gern als eine Art deus ex machina. Vgl. Lever (1965), xcvi. Dieses Konzept ist jedoch unpassend und nur von ihm selbst artifiziell konstruiert. 56 Riefer unterstreicht die Doppeldeutigkeit der Interpretationsmöglichkeiten dieser Szene, indem sie auf den oft hinter der Tugendhaftigkeit vernachlässigten Aspekt der Dominanz der hier vertretenen starken patriarchalen Gesellschaft eingeht: „The debate over Isabella’s virtue obscures a more important point, namely that one can explore the negative effects of patriarchal attitudes on female characters“, Riefer (1984), 157–158. Sie unterstreicht den Aspekt, dass Isabella durch die patriarchalen Strukturen eingeschränkt und bevormundet wird: „To those who argue that rather than depriving Isabella of autonomy the Duke is actually releasing her from moral rigidity by arranging for her to plead for Angelo’s life, I answer that Isabella’s final speech, often accepted as representing character growth, in fact represents the opposite.“ Vgl. Riefer (1984), 166. 57 Riefer (1984), 158. Vgl auch ebd.: „As the last and one of the most problematic of the preromance comedies, Measure for Measure traces Isabella’s gradual loss of autonomy and ultimately demonstrates, among other things, the incompatibility of sexual subjugation with successful comic dramaturgy.“ 58 Nachdem sie aus dem Gefängnis entlassen wird und unter Bewachung wieder die Bühne betritt (V.i.276), sind ihre Redeanteile merklich geschrumpft. Schon hier hat die Herrschaftsstruktur ihr die Redefreiheit genommen. Ihre einzigen Aussagen ab diesem Zeitpunkt beziehen sich auf Entschuldigungen gegenüber dem Machtinhaber (V.i.383–385), eine kurze Verifizierung seiner Aufforderung (V.i.397) und das Flehen um Angelos Leben (V.i.442–452). 59 Margolies (2012), 4.
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klug ist, bleibt kritisch zu beurteilen, menschlich und mitfühlend ist es nicht (auch wenn es vielleicht scheinbar so aussehen mag), stattdessen wirkt sein Schweigen bitter und die Komödie daher oft satirisch.60 Seine Dialogstrategie mag als ethisch-konstruktiv interpretiert werden können und je nach Aufführung harmoniestiftend. Überzeugender ist jedoch eine Interpretationsweise, die den Herzog als zynisch-destruktiv darstellt. Er ist ein fast unversöhnlich scharfer Regisseur der Auflösung und dogmatisch experimenteller61 Manipulator62 des Dialogs: „The Duke is the puppet-master who, more or less, runs the whole show, pleased with the exercise of his power, pompous and self-satisfied.“63 Er manipuliert Isabellas Entscheidungen,64 die zwar teilweise sehr kategorisch und schwarzweißzeichnend interpretierbar sind,65 macht aber gleichzeitig ihre Beredsamkeit dominant und patriarchalisch zunichte und sie dadurch konsequent mundtot. So agiert der Herzog nicht als traditionell weiser Herrscher in Verkleidung,66 sondern fast als fehlerhaft agierender Dramaturg.67 Zwar zeigt er sich als rhetorisch stark, unterstützt aber nur seine bereits existente politische Macht, die nie angezweifelt wird. Gleichzeitig aber reagiert er misogyn, nach Miles „soulless“68, als ein Mann, der selbst nicht dazulernt.69 McGuire bezeichnet ihn als geschmacklos, grausam und unmenschlich, eine Tatsache, die auch dem Publikum bewusst werden muss: „The more intensely Isabella grieves in response to what the Duke tells her […], the more likely it is 60 Vgl. Leggatt (1988), 346. 61 Lever stellt Herzog Vincentio als einen Experimente mit der Menschlichkeit durchführenden, willkürlichen Herrscher dar : „As the experimenter with human lives, the Duke belongs to quite another level of dramatic presentation than that on which the other characters act and suffer.“ Siehe Lever (1965), xciv. Er stellt sich selbst außerhalb der Rechtsprechung und verfügt arbiträr über seine Untergebenen. 62 Vgl. Riefer (1984), 161. 63 Margolies (2012), 2. 64 Durch seine Provokationen verändert sie sich: „Isabella appears, as a result of the Duke’s persuasion, to waver in her heretofore rigidly held ethical and religious principles.“ Gless (1979), 179. 65 Darryl Gless schreibt folgendes: „The Duke has ,read‘ Isabella with characteristic accuracy.“ Gless (1979), 178. Er interpretiert, dass der Herzog unter der Schale von Empörung und Ängsten Isabellas Willen zur Güte verstanden habe und sie daher nur provoziere. 66 Vgl. Miles (1976), 75. Rosalind Miles unterstreicht in ihrem Aufsatz den Kontrast zwischen dem weisen Herrscher in Verkleidung und Herzog Vincentio. Vincentio bekennt zu Beginn des Dramas, dass die Gesetze in Wien nicht konsequent genug befolgt wurden, bzw. die Rechtsprechung nachlässig behandelt wurde. Selbst zieht er sich jedoch von dieser Aufgabe zurück. 67 Vgl. Riefer (1984), 159. 68 Miles bezeichnet sein Gebaren als „soulless machinations“; Miles (1976), 25. 69 Lever bezeichnet ihn dennoch als in seiner Motivation weise und demütig; siehe Lever (1965), xcv. Es muss aber gestattet sein, ihn als starrköpfig zu bezeichnen, da er sich selbst und seine Herrscherqualitäten nicht infrage stellt, bzw. Konflikten durch Abwesenheit aus dem Weg geht.
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that the audience will find the Duke’s sustained deception of her distasteful, cruel, or even inhuman.“70 Der Dialog wird in diesem Drama des elisabethanischen Theaters im performativen Zwiegespräch zur Konfliktlösung verwendet, jedoch nur von einer Seite ernsthaft erörternd; fast polemisch, provozierend, herablassend und zweckentfremdet von der anderen. Isabella versucht den Herzog rhetorisch und intelligent dialogisch zu überzeugen. Er jedoch verweigert einen wahren, zu einem logischen Ergebnis führenden Dialog. Einige Kritiker verteidigen die Taktik des Herzogs und befürworten seine Herausforderung als einen provokanten, didaktischen Test71 von Isabellas Barmherzigkeit; sie argumentieren, dass Isabella zunächst prüde und selbstbezogen auf ihrer unangetasteten Ehre insistiert72 und begründen ihr Schweigen in demütiger Zustimmung ihrer Belehrung: dass Isabella nämlich die wahre Liebe Marianas zu Angelo erkennt und erst nach dieser einsichtigen Erkenntnis – die sie dem Herzog zu verdanken hat – um Mitleid für Angelo bittet.73 Durch die Härte seiner Position und das Unterstreichen der Rechtskategorien erreiche der Herzog eine Art „readjustment of values“.74 Ein klares Ergebnis ist jedoch, dass der Herzog Isabella auf schockierende Art bloßstellt und sie zurechtweist: „She is in fact learning, not teaching, a lesson in public and private demeanour towards wrongdoers.“75 Isabella verliert ihre Sprache, denn der Respekt und das Vertrauen, mit dem sie Vincentio in seiner Rolle als Herzog und auch als Mönch gegenüber agierte, wurden von diesem ausgenutzt. Ihre Ehre wird konsequent untergraben: „Honor and shame, reputation and slander, apparent virtue and inner depravity are themes touched on repeatedly from the play’s opening scene onward.“76 Der Herzog bezieht Isabella und ihre Argumente nur scheinbar in seine Entscheidungen mit ein, in Wirklichkeit herrscht eine andauernde Exklusion ihrer Werte und ihres durchaus stichhaltigen Gedankenflusses.
70 McGuire (1985), 84. 71 Kenneth Wilson betont den didaktischen Aspekt des Dialogs als Lerngespräch: „The peculiar challenge of dialogue to aesthetic criticism springs from its nature as didactic art.“ Wilson (1986), 9. Bloß lernt Isabella, dass ihre Argumente keinen Wirkungseffekt haben, da der Herzog keine Lern- oder Kompromissbereitschaft zeigt. 72 Vgl. Gless (1979), 143 und 146: „We may begin to suspect, therefore [her insistence on honour], that Shakespeare has endowed Isabella with a touch of the vainglory characteristic of the type [of a vainglory monk] to which she belongs.“ Gless versucht damit die Idee zu evaluieren, ob Isabella sich vielleicht religiös eifrig zu sehr selbst überhöht. 73 Isabella erreicht christliche Barmherzigkeit durch ethisch-moralische Evaluation. Sie entwickelt Mitleid, aber sie erfährt nicht Gerechtigkeit. 74 Lever (1965), lxxi. 75 Lever (1965), lxxii. 76 Gless (1979), 149.
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In Shakespeares Komödie77 werden Positionen erörtert, die Wahrheit ans Licht bringen und scheinbar Kontroversen durch Dialoge lösen. Pragmatisierte Sprache dient der Herrschaftslegitimation, lässt aber zu keinem Zeitpunkt die Entscheidung über den Ausgang des Zwiegesprächs offen, da bereits durch die dominantere Positionierung des männlichen Gesprächsteilnehmers dieser hierarchisch politisch festgelegt ist. Der Herzog instrumentalisiert den Dialog tyrannisch zur Unterstützung politischer Machtausübung. Der Dialog hat gerade im dramatischen Genre eine besonders wirkungsvolle Funktion, seine ausdrucksgebende Rolle hat hier aber keine tatsächliche ausschlaggebende Entscheidungskraft. Obwohl Isabella selbst davon überzeugt ist, dass Wortgewalt Einfluss haben kann, stellt ihre Dialogdominanz reine Performanz dar, bloße Sprachverwendung und nicht mehr. Das Publikum kann ihren wortgewaltigen, rhetorischen Ausführungen begeistert folgen; sie bleibt jedoch eine weibliche Untergebene ohne Machtpotential im Kontext der patriarchalen Herrschaftsstruktur. Isabella und der Herzog – ebenso wie Angelo in seiner Rolle als Vincentios Vertreter – sind keine gleichwertigen Gesprächspartner. Die Autorität der Politik dominiert die Entscheidung; die Gesprächsführung selbst ist rein dekorativ und inszeniert, tatsächlich aber obsolet. Dies vermag Manfred Pfisters These zu stützen, dass philosophischer Dialog allein noch kein gutes Drama ausmachen kann, sogar eher das Gegenteil: „One wonders why a philosophical dialogue put on stage – as is occasionally done – makes rather poor drama.“78 Hier liegt die Basis des gewählten Dialoges zwar im philosophischen Streitgespräch; er ist aber bühnentechnisch uminterpretiert und der performativen Funktion des Theater, bzw. der Bühne untergeordnet.79 Dialogspezifische persuasive Rhetorik zeigt in Measure for Measure keine Wirkung. Des Herzogs Einwilligung in einen Dialog scheint höchstens eine perfide scheinhöflich konventionelle Taktik.80 Die bittere Komödie legitimiert
77 Siehe bereits Fn.12, dass Measure for Measure durchaus wegen des ambivalenten Schlusses als problem play bezeichnet wird. 78 Pfister (1998), 4. 79 Pfister unterstreicht auch die weiteren Elemente, die das Genre des dialogisierten Dramas auf performativer Ebene unterstützen und so dem Dialog weitere Interpretations- und Darstellungsmöglichkeiten – auch im Sinne der Sprechakttheorie – geben. Siehe Pfister (1998), 6. 80 Bernd Häsner erörtert, dass im Dialog durchaus dissimulative Rede existieren kann, jedoch nur dann, „wenn die Disputation von ihren Akteuren explizit als bloßes argumentatives Rollenspiel und die vertretenen Positionen damit von vornherein als disponibel und austauschbar ausgewiesen werden. Ein diskursiver Spielmodus dieser Art findet sich gerade in den Dialogen der Renaissance häufig.“ Häsner (2004), 39. Was diese Art der Positionseinnahme ausmacht, ist der gespielte, dissimulative Charakter, der beiden Gesprächspartnern bewusst ist. Herzog Vincentio in Measure for Measure jedoch spielt mit Isabella, indem er dissimulativ verschiedene Rollen einnimmt, sie aber in dem Glauben lässt, tatsächlich diese
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patriarchale Gewalt, macht aber gleichzeitig auf die Unzulänglichkeit der Machtausübenden aufmerksam. Die Komödie lässt das Lachen des Zuschauers81 im Hals ersticken. Legitimität für eine Manipulation dieser Art ist in einer heiteren Komödie eigentlich nicht gegeben.82 Aus diesem Grund muss daher die Frage nach der Funktion des Dialogs gestellt werden, denn das Publikum des Dramas wird mit seiner Redundanz konfrontiert. Der Dialog erweist sich als zweckentfremdet: er besitzt keine meinungsstiftende, gemeinsam erkannte ergebnisorientierte Wirkung. Obwohl Isabellas Argumente einleuchtend sind, ist dem Zuschauer durch discrepant awareness,83 die Erkenntnis über die omnipräsente Schiedsfunktion des Herzogs bewusst, dass Isabellas Rede und diskursive Argumentation letztlich nicht situationsändernd wirken kann. Dass ihre Redefähigkeit jedoch nicht die Bedeutung besitzt, die sie ihr selbst zumisst und dass ihre Worte entweder nur polemisch verzerrt werden bzw. Isabella die aktive Dialogführung entzogen wird, lässt sie am Ende scheitern. Herzog Vincentio erlaubt also den Dialog scheinbar um seiner selbst willen, aber nicht seines Zwecks wegen: Überzeugung durch Argumente. Das Interesse am wahren Dialog ist geheuchelt – vermeintlich erklärbar nur durch patriarchale Willkürlichkeit, die polemisch-persuasive Strategien nutzt, aber grundsätzlich weibliche Tugendhaftigkeit ins Leere laufen lässt. Mit dieser Vermutung ließe sich die Frage stellen, ob der – fast polemisch geprägte – als intellektueller Schlagabtausch geprägte Dialog in Measure for Measure vielleicht nur den Geschmack der Zeit widerspiegelt und die untertänige Rolle der Frau verdeutlichen will. Selbst eine tugendhafte Nonne muss erkennen, dass sie in einer patriarchalisch geprägten Gesellschaft dem Herrschaftssystem Loyalität zu zeigen hat – eine bittere Erkenntnis. Zwar wird die Herrschaftsstruktur in Wien wieder hergestellt, jedoch oberflächlich und nur durch Manipulation. Nicht Gerechtigkeit und kluge – auch polemische – Argumentationen führen zum Ziel, sondern eine solche Art rhetorischer Macht, die nur auf bereits existierenden patriarchalischen Herrscherstrukturen basiert. Die typische Verstellung im polemischen Dialog aus Interesse an der Argumentation wird hier zur Verstellung der eigenen Person und Position aus Interesse am Ausspielen und Erhöhen der bereits besessenen politischen Macht. Positionen und die mit ihnen vertretenen Ansichten einzunehmen – sei es als Mönch oder als strenger, herrschender Richter. Siehe auch Häsner (2004), 40. 81 Vgl. Merrill (1911), Chapter III „The polemical dialogue“ zu den Einflüssen des polemischen Dialogs im Renaissance-Humanismus, der klassisch antiken Tradition und dem mittelalterlichen Erbe, besonders auch zur Rolle von Erasmus. 82 Vgl. Dawson (1988), 335; Leggatt (1988), 359: „playwright“; Dawson (1988), 336: „engineer“; vgl. Riefer (1984), 161. 83 Vgl. Jochum (1979).
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Das Gespräch als Rollenspiel hat keine dialogtypischen Ideale zum Ziel. Isabella versucht Herzog Vincentio durch Logik von Wahrheit und Gerechtigkeit zu überzeugen, er hingegen lässt ihre Argumentation ins Leere laufen. Die Erörterung im dramatischen Kontext, die als freier Austausch von Meinungen und Argumenten konzipiert ist, wird so zur hohlen Kommunikation. Der Dialog ist reine Konversation84 und konsequenzlos. Er dient gleichsam auf einer intramimetischen, binnendramatischen Diskursebene, die als pragmatische Instanz über seine Funktionalisierungsebene entscheidet,85 nicht nur dem reinen dialogisierten theoretisch-philosophischen Erörtern eines Gesprächsgehaltes. Die Präsentation von Argumenten bleibt ohne logische Folge, da der Dialog keine persuasive Funktion erlangt und die Toleranz des offenen Zuhörens nicht gegeben ist und auch kein Lerneffekt ersichtlich scheint. Das Drama bleibt zwar natürlich dialogisch, aber nicht ergebnisführend, insofern als der Dialog nicht die Handlung lenkt oder beeinträchtigt, sondern den Zuschauer lediglich an einem Argumentationsprozess teilnehmen lässt, dessen Intention aber von Isabellas Seite gesehen ins Leere läuft, da der Herzog seine Entscheidungen längst getroffen hat. Der Dialog dient Isabella als Äußerungsmöglichkeit ihrer Wünsche, Absichten und Argumente, für die männliche politische Hierarchie aber dient er fast ausschließlich als Unterhaltung und wird patriarchalischkonform instrumentalisiert.86 Der Dialog ist nur scheinbar ebenbürtig.87 Wie Pfister in einer Diskussion zu Hamlet konstatiert, ist auch hier das Ergebnis des Dialogs daher „unlike the consensus reached in a philosophical dialogue“,88 sondern stattdessen „the result of a particular constellation“:89 die Konstellation der Charaktere bestimmt den Ausgang des Dialogs. Später fügt Pfister hinzu, dass es im Dialog tatsächlich um den Austausch von Meinungen und Positionen geht: „What is at stake in the exchange of speech-acts in a philosophical dialogue 84 Vgl. Müller (2004), 19: „Der Dialog wird insofern vom Drama abgesetzt, als er nicht Handlung, sondern Gedanken- und Argumentationsprozesse nachahme.“ 85 Zur einer genaueren Erörterung dieser fiktionalisierten Funktion des Dialogs, und besonders dieses Gedankenganges, siehe Häsner (2004), 22. 86 Die herausfordernde Absichtslosigkeit vermag den komischen Aspekt zu unterstützen, läuft in ihrer bitteren Situierung hier aber nicht parallel zur Unterhaltung der Zuschauer, sondern konträr. Im Gegensatz dazu stehen die Sprachspiele der heiteren Komödien wie As you like it and Love’s Labour’s Lost. Vgl. Müller (2001), 14–15. 87 Würde man hier die von Jean-Jacques Lecercle für den ,zivilisierten philosophischen Dialog‘ aufgestellten Regeln anwenden, würde der Dialog schnell als nicht ebenbürtig erkennbar werden, besonders im Hinblick auf das Konzept der Gerechtigkeit (siehe Punkt 6). Lecercle (1998), 18–19. 88 Pfister (1998), 12. 89 Ibid. Pfister spricht hier nicht von einem Dialog, in dem Ansichten und Argumente vertreten werden, sondern von einer Darbietung eines Konflikts durch Sprechakte. Er bezieht sich hier zwar auf den Dialog zwischen Hamlet und Gertrude, ähnliche Schlussfolgerungen können aber auch zu Measure for Measure gezogen werden.
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is attitudes, positions, opinions rather than the persons representing them“,90 letztere aber – die sie verteidigenden Menschen, bzw. Rollen – sind Essenz des Schauspiels und damit Repräsentanten von „performative power, […] illocutionary force and perlocutionary effects“ auf der Bühne.91 Im Subtext der Dramendarbietung ist klar das Machtverhältnis der Streitenden der entscheidende Faktor für das Resultat des Dialogs. Es muss daher festgehalten werden, dass zwar zu dramatischen Zwecken ein scheinbar dem der Gattung des Dialogs entsprechendes Gespräch konstruiert wird, das aber keinen dialogrepräsentativen Inhalt und Ausgang, bzw. entsprechende Funktionen besitzt (im Sinne des literarischen Genre); es handelt sich also um einen – vielleicht im Ansatz erwartungsgemäß – rein dramatischen Dialog, der eines wirklich philosophisch-intellektuellen Inhalts mit zielführenden dialogischen Ergebnissen entbehrt. Der dramatische Dialog zwischen Isabella und Herzog Vincentio dient also nicht zur Erörterung eines Sachverhaltes bzw. einer Idee. Stattdessen dient er ausschließlich einer performativen, patriarchalisch effektiven Funktion und er erscheint nicht durch sich selbst als handlungslenkend, zielführend und ergebnisorientiert – wie vielleicht zunächst zu erwarten wäre –, sondern in der Konzipierung als rein performativ durch den Herzog inszeniert und operativ instrumentalisiert. So lässt sich abschließend feststellen, dass in Measure for Measure bestenfalls eine Annäherung an die literarische Gattung des Dialog stattfindet, aber in diesem Drama nicht von einer Funktionalisierung der Gattung gesprochen werden kann, sondern eher von einer – im Sinne der patriarchalischen Machtstruktur des Dramas – performativen und daher genrespezifischen Verwendungsmöglichkeit.
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90 Pfister (1998), 12. 91 Ibid. Pfister bezieht den Begriff ,performativ‘, den er aus der Gattung des Dramas übernimmt (siehe Fn. 3), hier jedoch ebenso auf den Bereich der Sprechakttheorie.
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Beiträgerinnen und Beiträger
Uwe Baumann ist Professor für Anglistik/Amerikanistik (Literatur- und Kulturwissenschaft) an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Forschungsschwerpunkte: Literatur- und Kulturtheorie(n), Englischer Renaissance-Humanismus, Drama Shakespeares und seiner Zeitgenossen, Viktorianischer Roman, Historischer Roman (insbes. des 20. Jhdts.), Kriminalroman, Übersetzungsgeschichte als Rezeptionsgeschichte, Populäre Literatur und Kultur der Moderne und Postmoderne (insbes. Fußball, Comics, Graphic Novels). Ausgewählte Monographien: Die Antike in den Epigrammen und Briefen Sir Thomas Mores (1984), Thomas Morus, Humanistische Schriften (1986), Heinrich VIII. mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (1991), Vorausdeutung und Tod im englischen Römerdrama der Renaissance (1564–1642) (1996), Shakespeare und seine Zeit (1998), Kleopatra (2003). Jüngste Buchveröffentlichungen: Warren Tufts, Lance: Ein Western-Epos, 5 Bde., (Bonn: Bocola, 2011–2013), Autobiographie: Eine interdisziplinäre Gattung zwischen klassischer Tradition und (post-)moderner Variation, (Göttingen: Bonn University Press, 2013), und Warren Tufts, Casey Ruggles: Eine Western Saga, Bd. 1: Aufbruch, (Bonn: Bocola, 2015). Arnold Becker ist Dozent für Lateinische Philologie des Mittelalters und der Frühen Neuzeit an der Universität Bonn. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der polemischen Literatur, des Renaissance-Dialogs und der humanistischen Horazrezeption. Zu seinen einschlägigen Veröffentlichungen gehören der zusammen mit Uwe Baumann und Astrid Steiner-Weber herausgegebene Band Streitkultur. Okzidentale Traditionen des Streitens in Literatur, Geschichte und Kunst, (Göttingen 2008) sowie die Monographie Ulrichs von Hutten polemische Dialoge im Spannungsfeld von Humanismus und Politik (Göttingen 2013). Carmen Cardelle de Hartmann studierte in Santiago de Compostela, promovierte in Saarbrücken mit der Arbeit Philosophische Studien zur Chronik des
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Beiträgerinnen und Beiträger
Hydatius von Chaves und habilitierte sich in München mit einer Schrift über Dialogliteratur (Lateinische Dialoge 1200–1400. Literaturhistorische Studie und Repertorium). Sie war Akademische Rätin an der Universität Heidelberg und hat seit 2008 den Lehrstuhl für Lateinische Philologie des Mittelalters und der Neuzeit an der Universität Zürich inne. Sie arbeitet unter anderem über antijüdische Polemik, Klassikerrezeption und literarische Parodie. Ihre letzten Publikationen sind die Aufsatzsammlungen Formes et fonctions de la parodie dans les litt¦ratures m¦di¦vales (herausgegeben in Zusammenarbeit mit Johannes Bartuschat) und Petrus Alfonsi and his Dialogus: background, context, reception (herausgegeben mit Philipp Roelli), sowie die kleine Monographie Parodie in den Carmina Burana. In Kürze soll eine neue Edition des Dialogus von Petrus Alfonsi, die von ihr geleitet wurde, erscheinen. Bernd Häsner, Dr. phil., zahlreiche Publikationen zum Dialog und anderen Textgattungen des theoretischen Diskurses in der frühen Neuzeit sowie zum Renaissanceepos und zu ,performativen‘ Erzählweisen in vormoderner und moderner Literatur. Seit 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem Forschungsprojekt zum Renaissanceepos („Zwischen historischer Distanz und inszenierter Präsenz: die Verschränkung von ,Geschichte‘ und zeitgenössischer Wirklichkeit in epischen Texten der italienischen Renaissance“) an der Freien Universität Berlin. Ein Band, der unter dem Titel Erzählen ,con penna e con inchiostro‘ und die Präsenz der Geschichte in Ariosts Orlando furioso erste Ergebnisse dieses Projekts vorstellen wird, ist in Vorbereitung. Marc Laureys ist Professor für Lateinische Philologie des Mittelalters und der Frühen Neuzeit an der Universität Bonn sowie Sprecher des dortigen Centre for the Classical Tradition. Seine wichtigsten Forschungsgebiete sind die lateinische Historiographie, die antiquarischen Studien und philologische Gelehrsamkeit der Frühen Neuzeit einerseits, und die polemische Literatur des RenaissanceHumanismus andererseits. Zusammen mit Karl August Neuhausen gibt er das Neulateinische Jahrbuch und die Noctes Neolatinae heraus. Seine neueste Buchveröffentlichung ist der zusammen mit David Lines und Jill Kraye herausgegebene Band Forms of Conflict and Rivalries in Renaissance Europe (Göttingen: V& R unipress/Bonn University Press, 2015). Imke Lichterfeld hat Anglistik und Geschichte in Bonn und Aberdeen studiert. Ihre Dissertation „When the bad bleeds“ - Mantic Elements and their Function in English Renaissance Revenge Tragedy beschäftigt sich mit dem Thema prophetischer Elemente im frühneuzeitlichen populären Rachetragödiengenre. Sie ist Co-Herausgeberin des Bandes A Hundred Years of The Secret Garden. Frances Hodgson Burnett’s Children’s Classic Revisited. Ihre Hauptfor-
Beiträgerinnen und Beiträger
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schungsinteressen liegen im Bereich der Renaissanceliteratur, des Dramas und der Literatur des Modernismus. Imke Lichterfeld ist zur Zeit als Studienkoordinatorin am Institut für Anglistik, Amerikanistik und Keltologie der Universität Bonn tätig. Wolfgang G. Müller, geboren in Greiz/Thür., studierte in Mainz, Manchester und Leicester. Nach dem Staatsexamen erfolgte 1970 die Promotion über Rainer Maria Rilke im Fach Deutsche Philologie und 1977 die Habilitation im Fach Englische Philologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. 1978 wurde er in Mainz zum Professor ernannt. 1992 erhielt er den Ruf auf einen Lehrstuhl für Anglistische Literaturwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, wo er bis über seine Emeritierung (2006) hinaus lehrte und forschte. Forschungsschwerpunkte sind u. a. Lyrik- und Erzähltheorie, Shakespeare, Rhetorik, Intertextualitätsforschung, kognitive Zugänge zur Literatur und das Verhältnis von Philosophie und Literatur. Zurzeit leitet er von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekte über die Don Quijote-Nachfolge im englischen Roman und über den Flaneur in der englischen und amerikanischen Literatur. Buchpublikationen in Auswahl: Rainer Maria Rilkes Neue Gedichte (1970), Das lyrische Ich, Erscheinungsformen gattungseigentümlicher AutorSubjektivität in der englischen Lyrik (1979), Die politische Rede bei Shakespeare (1979), Topik des Stilbegriffs. Zur Geschichte des Stilverständnisses von der Antike bis zur Gegenwart (1981), Die englisch-schottische Volksballade (1983), Dialog und Gesprächskultur in der Renaissance, hg. mit Bodo Guthmüller, 2004, Ausgabe von Shakespeares Hamlet in der Studienausgabe der Werke Shakespeares, „Einleitung “, „Kommentar“ 2005. Gislind Rohwer-Happe ist Akademische Rätin am Institut für Anglistik, Amerikanistik und Keltologie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Forschungsschwerpunkte: Viktorianische Lyrik, Edwardianische Literatur, Bildungsroman, Gattungstheorie, Populäre Kultur (insb. Fernsehserien, Mode und Literatur). Dissertation: Unreliable Narration im dramatischen Monolog des Viktorianismus. Formen und Konzepte (2011). Edeltraud Werner, Professorin für französische und italienische Sprachwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Forschungsinteressen: Sprachgeschichte und Sprachwissenschaftsgeschichte Italien und Frankreich (Schwerpunkte in Mittelalter, Renaissance, Aufklärung), Syntaxtheorie, Grammatik, Textphilologie. Publikationen (Auswahl): Die Verbalperiphrase im Mittelfranzösischen; Translationstheorie und Dependenzmodell. Kritik und Reinterpretation des Ansatzes von Lucien TesniÀre; Grammatikographie des Italienischen vom 15. bis 20. Jahrhundert; Artikel u. a. zu Coluccio Salutati,
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Beiträgerinnen und Beiträger
Giovan Francesco Fortunio, Gian Giorgio Trissino, Celso Cittadini, Giovanni Romani, Ildefonso Valdastri, Giovanni Carmignani, Gabriel Girard, August Friedrich Pott, Leo Spitzer.
Index
Achilles 8 Aegidius, Petrus 174–175 Aelius Stilo, Lucius 76 Agamemnon 8 Andrea de Santa Croce 38 Anna von Kleve 156, 161 Anne de Bretagne (frz. Königin) 120 Antonio da Rho 72 Aretino, Unico 283 Aristophanes 89 Aristoteles 20, 171, 228, 236, 267, 279 Arminius 90, 92 Ascham, Roger 20 Asconius Pedianus, Quintus 72 Atanagi, Dionigi 205–206 Augustinus 51, 126, 128, 141, 241 Aurispa, Giovanni 69 Bacon, Francis 17, 28 Balbi, Girolamo 10, 63–81 Baravellus, Ferdinandus (Pseudonym für Thomas More) 125 Bargagli, Girolamo 261 Barlowe, Jerome 127 Barnes, Robert 132 Batmanson, John 122 Bebel, Heinrich 80 Becket, Thomas (St. Thomas of Canterbury) 191 Bembo, Pietro 257, 262, 265 Berthelet, Thomas 135, 183 Bibbiena, Bernardo da 256, 265 Blundeville, Thomas 172 Boccaccio, Giovanni 259
Boleyn, Anne 194, 196 Bracciolini, Poggio 43, 66 Brie, Germain de (Germanus Brixius) 81, 112, 120, 181 Bruni, Leonardo 43–44, 50, 54–55, 58, 72, 241–243 Bugenhagen, Johann 112, 124–126, 129, 132, 142 Busche, Hermann von dem 87 Cacci, Gasparo da 43 Caccia, Stefano 42–44, 57 Cajetan, Tommaso de Vio (Kardinal) 27, 88, 91, 98, 101 Calepino, Ambrogio 71 Campeggio, Lorenzo 189 Castiglione, Baldassare 9, 18–19, 28–29, 33, 253, 255, 257–259, 262–263, 280, 285 Catullus 77 Cervantes, Miguel 29 Chapuys, Eustace 190 Charles VIII. (König von Frankreich) 64 Christine de Pizan 259, 262 Cicero 27–28, 45, 68, 74, 133, 173, 185, 240–242 Clemens VII. (Papst) 189 Conradi, Tilmann 80 Constantine, George 137 Courthardy, Pierre de 70–71, 75 Cranmer, Thomas 203 Cromwell, Thomas 135–136, 140, 192, 194, 196, 203 Crotus Rubeanus 87
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Index
Dardanos, Luigi 282 David 201, 203–204 Demosthenes 127 Diomedes 68–69, 72 Dionysius Areopagita 235 Doglioni, Giovanni Nicolý 258 Donatus, Aelius 69, 72 Dorp, Martin van 112, 117, 119, 122–123, 142 Dudley, Edmund 190 Edward VI. (König von England) 183, 203–204 Elizabeth I. (Königin von England) 31–32 Elyot, Thomas 12, 18, 20–22, 155–168, 282 Empson, Richard 190 Eobanus Hessus 89, 102 Erasmus von Rotterdam 19, 80, 88, 111, 114–123, 125, 127, 140–141, 175, 236, 311 Evanthius 69, 74 Ferdinand II. (König von Aragûn) 68 Fernand, Charles 70–71, 74–75 Festus, Sextus Pompeius 72 Fichet, Guillaume 64 Ficino, Marsilio 20, 235–236 Fish, Simon 129–131 Fisher, John 119, 123–124, 190 Fitzjames, Richard 177 Fonte, Moderata (eigtl. Pozzo, Modesta) 9, 253, 257–259, 263, 280, 285 Foxe, John 178, 203 Fregoso, Ottaviano 256–257 Frigio, Nicolý 256, 263, 278, 282, 284 Frischlin, Nikodemus 80 Frith, John 113, 133–135, 137, 142 Gaguin, Robert 63–64 Galen 260 Gellius, Aulus 72 German, Christopher St. Giunti (Drucker) 255 Gonzaga, Cesare 270
135, 139
Gonzaga, Elisabetta (Duchessa d’Urbino) 256 Gosson, Stephen 19 Gretser, Jakob 80 Guarino da Verona 79 Guarna, Andrea 80 Guazzo, Stefano 243 Harpsfield, Nicholas 112 Heinrich VIII. (König von England) 118, 124, 161, 180, 185, 188–190, 192–193, 196–198, 200, 202–204, 206–207 Heraklit 8, 181 Herodot 173 Hesiod 72, 111 Hieronymus 126 Hoby, Thomas 18 Hofmannsthal, Hugo von 24 Horaz 15 Horsey, William 177–178 Howard, Henry (Earl of Surrey) 200, 203 Howard, Katherine 196 Howard, Thomas (Duke of Norfolk) 187, 200 Hunne, Richard 177–179, 181 Hutten, Hans von 98 Hutten, Ulrich von 10, 27, 87–107, 111 Hythlodaeus, Raphael 174–175 Imberti, Domenico
258
John (Lackland, König von England) 191 Joye, George 139 Karl V. (Kaiser) 91, 190 Katharina von Aragon 188, 197 Kerckmeister, Johannes 80–81 Kues, Nikolaus von (Cusanus) 38, 42–45, 49, 57, 69 Langenstein, Heinrich von 39–40 Le Franc, Martin 42–43 Lee, Edward 112, 118–119, 142 Leo X. (Papst) 103, 105 Leto, Pomponio 64, 69 Lodge, Thomas 19
323
Index
Louis XI. (König von Frankreich) 64 Lukian 90–91, 115–116, 173, 182 Lupset, Thomas 20, 28, 119, 123, 182 Luther, Martin 27, 91, 99–100, 103, 107, 121, 123–130, 132–133, 236 Lypsius, Martin 119 Machiavelli, Niccolý 183 Maciot, Germain 74, 80 Malatesta, Perfetto 40 Manderscheid, Ulrich von 44 Manuzio (Drucker) 255 Marinella, Lucrezia 263 Mary I. (Tudor, Königin von England) 31, 183, 187, 194, 200 Matheolus 262 Maximilian I. (Kaiser) 90, 92 Medici, Cosmo di 202 Medici, Giuliano de’ 256–257 Melanchthon, Philipp 236 Mohamed (Mahomet) 187, 200 Montecatini, Antonio 228, 230, 234, 245 More, Cresacre 143 More, Thomas (Thomas Morus) 11, 17, 19, 22, 26, 28, 81, 111–143, 174–182, 184, 186, 190, 202 Morton, John 175 Nero (Kaiser) 187, 200 Noceto, Pietro da 46 Nonius Marcellus 72 Ockham, Wilhelm von Origenes 126 Ovid 77
39, 59
Pallavicino, Gasparo 256–257, 265 Parr, Katherine 189, 194–196 Passi, Giovanni 263 Patrizi, Francesco 173, 207 Paulus (Apostel) 117 Petrarca, Francesco 109 Philipp II. (König von Spanien) 183 Philippis, Thomas 137, 176–177 Pia, Emilia 33, 256, 258, 261, 265, 267, 279, 281–283
Piccolomini, Enea Silvio (Pius II.) 10, 38, 41–59 Platon 20–21, 115–116, 136, 226, 229, 231–232, 235, 241–243 Plautus 65, 68–69, 73–77, 79–80, 102 Plinius der Ältere 260 Pole, Reginald 182, 198 Polybios 173, 181–182 Polykrates 201 Pomponazzi, Pietro 236 Pontano, Giovanni 80, 172–173, 207 Pontano, Ludovico 36 Pozzo, Modesta, cf. Fonte, Moderata Priscian 68, 72 Pyrgopolinices 76 Quintilian
47, 55, 69, 71–72, 76
Reuchlin, Johannes 64 Ro. Ba. 112, 145 Robortello, Francesco 171, 205–206 Rochefort, Guillaume de 65 Roper, William 111–112, 129, 140 Rosseus, Guilielmus (Pseudonym für Thomas More) 125 Rovere, Francesco Maria della 265 Roye, William 127 Rycke, John 127 Sabine von Bayern (Herzogin) 92 Salomon 204 Salutati, Coluccio 243 Servius 72 Seymour, Jane 195 Shakespeare, William 13, 18, 291, 294–297, 300, 307, 309 Sickingen, Franz von 91, 99–100, 103, 105 Sidney, Philip 18, 20, 29 Sigonio, Carlo 225–226, 240–241, 246 Simonel, Louis 79 Smith, Thomas 11, 19, 31–33 Sokrates 20, 136, 231–233 Speroni, Sperone 18, 20, 24–25, 173, 207, 225, 240–241 Stapleton, Thomas 112 Starkey, Thomas 19–20, 28, 182
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Index
Tacitus 173 Tardif, Guillaume 10, 63–65, 67–68, 70–71, 73–77 Tasso, Torquato 6, 9, 225–248 Temsicius, Georg 175 Terenz 69, 73–74, 79–80 Thomas, William 12, 171, 182–207 Thukydides 173, 181–182 Tunstall, Cuthbert 113–114, 119, 127, 136, 175–176 Tyndale, William 113, 127–128, 132–133 Ulrich von Württemberg (Herzog) 91–92, 95–96, 98, 107
87,
Valla, Lorenzo 48, 66–67, 72, 77–81, 105, 236, 241 Varro 27, 62, 76 Verardi, Carlo 68 Verardi, Marcellino 68 Vespucci, Amerigo 175 Viperano, Giovanni Antonio 171–172, 205–206 Voconius Romanus 76 Warham, William 118 Wimpfeling, Jakob 80 Wolsey, Thomas 118, 136, 176, 189, 203 Wyatt, Thomas 183 Zenobia
162, 166–168