Zwischen Präsenz und Repräsentation: Formen und Funktionen des Mythos in theoretischen und literarischen Diskursen 9783110332827, 9783110307528

Concepts of myth are often characterized in terms of presence, and by the ways in which they are immediate and overpower

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German Pages 364 Year 2013

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Mythos zwischen Präsenz und Repräsentation: Zur Einführung
Von der kultischen Gedächtnismaschine zum literarischen Lesestück: Ein Gespräch über die griechische Tragödie
Mimesis und Mythostheorie bei Aristoteles und Gadamer: Hermeneutische Überlegungen
Wiederholen – Erinnern – Durcharbeiten: Präsenz und Repräsentation in Ovids Metamorphosen
Wissensordnungen, Wissbares und das Unbehagen der literarischen Repräsentation: Gibt es einen Mythosdiskurs des Mittelalters?
Der Mythos und die Zahl: Evidenz und Reflexion des Erzählens im Trojaroman Herborts von Fritzlar
»Es ist!« Evidenz als paradoxe Leitkategorie in Karl Philipp Moritz’ theoretischen Texten zu Kunst und Mythos
Mythologisieren: Der doppelte Bezug zum Mythos als literarisches Darstellungsmuster
Bewältigende Repräsentation, überwältigende Präsenz: Das Numinose in Hofmannsthals Mythos- Defigurationen
Kunst und Mythos zwischen Präsenz und Repräsentation: Cassirers Begriff des mythischen Denkens in literaturwissenschaftlicher Perspektive
Wider die ›Mode heutiger Archaik‹: Konzeptionen von Präsenz und Repräsentation im Mythosdiskurs der Nachkriegszeit
Myth and Literature
Repräsentation als literarische und ästhetische Reflexionsform: Mediale Transformationen von antiker Mythologie in der Moderne und Gegenwart
Jenseits des Wiedererzählens: Literatur als Herausforderung präsenzorientierter Mythoskonzeptionen am Beispiel der Canongate-Reihe The Myths (2005–2007)
Unsterbliche Bildergeschichten: Zur Repräsentation und Präsentifizierung indischer Mythologie in den Comics der Amar Chitra Katha
Autorinnen und Autoren
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Zwischen Präsenz und Repräsentation: Formen und Funktionen des Mythos in theoretischen und literarischen Diskursen
 9783110332827, 9783110307528

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Zwischen Präsenz und Repräsentation linguae & litterae

26

linguae & litterae Publications of the School of Language & Literature Freiburg Institute for Advanced Studies

Edited by

Peter Auer · Gesa von Essen · Werner Frick Editorial Board Michel Espagne (Paris) · Marino Freschi (Rom) Ekkehard König (Berlin) Michael Lackner (Erlangen-Nürnberg) Per Linell (Linköping) · Angelika Linke (Zürich) Christine Maillard (Strasbourg) · Lorenza Mondada (Basel) Pieter Muysken (Nijmegen) · Wolfgang Raible (Freiburg) Monika Schmitz-Emans (Bochum) Editorial Assistants Aniela Knoblich Sara Katrin Landa

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De Gruyter

Zwischen Präsenz und Repräsentation Formen und Funktionen des Mythos in theoretischen und literarischen Diskursen

Herausgegeben von Bent Gebert und Uwe Mayer

De Gruyter

ISBN 978-3-11-030752-8 e-ISBN 978-3-11-033282-7 ISSN 1869-7054 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis

V

Inhaltsverzeichnis

Bent Gebert (Konstanz)/Uwe Mayer (Gießen) Mythos zwischen Präsenz und Repräsentation: Zur Einführung . . .

1

Bernhard Zimmermann (Freiburg i. Br.)/Bent Gebert (Konstanz) Von der kultischen Gedächtnismaschine zum literarischen Lesestück: Ein Gespräch über die griechische Tragödie . . . . . . . . . . . . . .

25

Tobias Keiling (Freiburg i. Br.) Mimesis und Mythostheorie bei Aristoteles und Gadamer: Hermeneutische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

Wolfram Ette (Chemnitz) Wiederholen – Erinnern – Durcharbeiten: Präsenz und Repräsentation in Ovids Metamorphosen . . . . . . . . .

71

Bent Gebert (Konstanz) Wissensordnungen, Wissbares und das Unbehagen der literarischen Repräsentation: Gibt es einen Mythosdiskurs des Mittelalters? . . . .

88

Björn Reich (Berlin) Der Mythos und die Zahl: Evidenz und Reflexion des Erzählens im Trojaroman Herborts von Fritzlar . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Selma Jahnke (Berlin) »Es ist!« Evidenz als paradoxe Leitkategorie in Karl Philipp Moritz’ theoretischen Texten zu Kunst und Mythos . . . . . . . . . 145 Stefan Matuschek (Jena) Mythologisieren: Der doppelte Bezug zum Mythos als literarisches Darstellungsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Antonia Eder (Genf) Bewältigende Repräsentation, überwältigende Präsenz: Das Numinose in Hofmannsthals Mythos-Defigurationen . . . . . . 186

VI

Inhaltsverzeichnis

Anja Schwennsen (Hamburg) Kunst und Mythos zwischen Präsenz und Repräsentation: Cassirers Begriff des mythischen Denkens in literaturwissenschaftlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Christian Voller (Bochum) Wider die ›Mode heutiger Archaik‹: Konzeptionen von Präsenz und Repräsentation im Mythosdiskurs der Nachkriegszeit . . . . . . 226 Robert A. Segal (Aberdeen) Myth and Literature . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Annette Simonis (Gießen) Repräsentation als literarische und ästhetische Reflexionsform: Mediale Transformationen von antiker Mythologie in der Moderne und Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Uwe Mayer (Gießen) Jenseits des Wiedererzählens: Literatur als Herausforderung präsenzorientierter Mythoskonzeptionen am Beispiel der CanongateReihe The Myths (2005–2007) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 Anne Keßler-Persaud (Göttingen) Unsterbliche Bildergeschichten: Zur Repräsentation und Präsentifizierung indischer Mythologie in den Comics der Amar Chitra Katha . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356

Mythos zwischen Präsenz und Repräsentation: Zur Einführung

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Bent Gebert (Konstanz) / Uwe Mayer (Gießen)

Mythos zwischen Präsenz und Repräsentation: Zur Einführung

I.

Zwischen Präsenz und Repräsentation: Verortungen von Mythos und Literatur

Wo vom Mythos die Rede ist, kommt meist eine Differenz von Präsenz und Repräsentation zur Sprache. Dies gilt nicht zuletzt für zahlreiche Mythostheorien, die ihren Gegenstand in einem entsprechenden Spannungsfeld lokalisieren. Ein naheliegendes Beispiel dafür bieten die verschiedenen Varianten der Myth and Ritual Theory. Diese betrachten Mythen als narrative Repräsentationen, die stets im Zusammenhang mit performativen Praktiken in der Präsenzform von Ritualen stehen. Ein vielleicht weniger offenkundiges, aber ebenfalls prominentes Beispiel ist die These Hans Blumenbergs, wonach im Mythos bedrohliche Wirklichkeits- bzw. Präsenzerfahrungen durch erzählerische Repräsentation bewältigt werden. Wie im Folgenden zu umreißen ist, bilden diese Beispiele keineswegs die Ausnahme. Denn Theorien und Konzepte des Mythos sind einerseits reich an Verweisen auf Präsenz, Unmittelbarkeit oder Überwältigung, um nur einige der einschlägigen Stichworte zu nennen. Andererseits tritt in ihnen immer wieder der Repräsentationscharakter des Mythos bzw. der Mythen in den Vordergrund, wenn diese beispielsweise als Bearbeitungen oder Adaptationen ausgewiesen werden. Solchen Verortungen des Mythos zwischen Präsenz und Repräsentation nachzugehen und anhand exemplarischer Stationen die Umrisse einer über 2000-jährigen Diskursgeschichte zu skizzieren, ist das mythostheoretische Ziel des vorliegenden Bandes. Dabei zeigt sich rasch: »Theories of myth are never theories of myth alone.«1 Wie die Beiträge des Bandes bezeugen, ist die hier vorzustellende Geschichte des Mythos insbesondere in literaturgeschichtlicher und literaturtheoretischer Hinsicht aufschlussreich. Denn seit Aristoteles verhandelt der Mythosdiskurs explizit auch Formen und Funktionen des Literarischen, wobei der Differenz von Präsenz und Repräsentation entscheidende Bedeutung zukommt. Dementsprechend verfolgt der vorliegende Band ein zweites, Mythos- und Literaturtheorie verbindendes Ziel: Der Mythosdiskurs 1

Robert Segal (Hrsg.), Literary Criticism and Myth, New York 1996, S. vii.

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Bent Gebert / Uwe Mayer

wird auf seine expliziten wie impliziten Bestimmungen von Literatur untersucht. Das Interesse an der bis heute wirkungsreichen Auseinandersetzung mit dem Mythos zwischen Präsenz und Repräsentation, in der sich Reflexion und Produktion von Mythen wechselseitig durchdringen, stimulieren oder modifizieren, ist daher mit der Erwartung verbunden, dass diese Diskursgeschichte auch eine bisher kaum beachtete Geschichte des Literarischen birgt.

II. Stationen einer Diskursgeschichte: Zur mythologischen Differenz von Präsenz und Repräsentation Das Vorhaben, eine Diskursgeschichte des Mythos zwischen Präsenz und Repräsentation zu skizzieren, kann bei der Produktivität dieser Geschichte ansetzen – einer Produktivität auch und gerade für Theorien und Praktiken des Literarischen. Zugleich kann es aus theoretisch-methodischer Sicht als Reaktion auf eine offensichtliche Herausforderung der geistes- und kulturwissenschaftlichen Mythosforschung verstanden werden. Diese Herausforderung besteht darin, dass das, was man als Mythos oder als das Mythische bezeichnet, sich sowohl in historischer Perspektive als auch in den Optiken verschiedener Wissenschaftsdisziplinen – und ganz grundsätzlich im Lichte verschiedener Mythoskonzepte – auf sehr unterschiedliche Art und Weise darstellen kann. Kurzum: Der Mythosbegriff lässt sich, allen systematischen Bemühungen zum Trotz, zu keiner Minimaldefinition kondensieren und nur schwer lässt sich das Gegenstandsfeld abgrenzen, welches das Etikett Mythosforschung zusammenfassen könnte.2 2

Dies belegen einschlägige Überblicksartikel, die sich vorrangig auf die Identifizierung von Begriffsfamilien konzentrieren: Aleida Assmann/Jan Assmann, »Mythos«, in: Hubert Cancik/Burkhard Gladigow/Matthias S. Laubscher (Hrsg.), Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart 1998, S. 179–200; Walter Burkert/Axel Horstmann, »Mythos, Mythologie«, in: Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Basel 1984, S. 281–318. Konsistente Systematisierung von Mythostheorien scheint allenfalls mit Blick auf Teilgebiete oder durch disziplinäre Eingrenzung zu gelingen. Vgl. beispielsweise Christoph Jamme, »Gott an hat ein Gewand«. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien, Frankfurt a. M. 1999; Luc Brisson, Einführung in die Philosophie des Mythos. Bd. 1: Antike, Mittelalter und Renaissance, Darmstadt 2005; Christoph Jamme, Einführung in die Philosophie des Mythos. Bd. 2: Neuzeit und Gegenwart, Darmstadt 2005. Auch eine Beschränkung auf spezielle historische Segmente wie z. B. das Verhältnis von Mythos und Wissenschaft seit der zweiten Hälfte des 19. Jhs. erlaubt Systematisierung: vgl. z. B. Robert Segal, Myth. A Very Short Introduction, Oxford, New York 2004.

Mythos zwischen Präsenz und Repräsentation: Zur Einführung

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Diesseits emphatischer Redeweisen vom Mythos stehen interdisziplinär orientierte Arbeiten der kulturwissenschaftlichen Mythosforschung daher vor einem Dilemma. Übergehen sie in pragmatischer Absicht die Klärung ihres Leitbegriffs, kassieren sie dafür oft folgenschwere Unschärfen der Beobachtung; riskieren sie hingegen Definitionen, drohen entweder begriffliche Verstrickungen oder, umgekehrt, die Essentialisierung (zumindest aber willkürlich anmutende Reduktionen) ›des Mythos‹ bzw. ›des Mythischen‹.3 Der vorliegende Band versucht dem skizzierten Dilemma durch eine theoretisch-methodische Neuorientierung zu entgehen, die in der Wahl einer heuristischen (statt einer definitorischen) Perspektive und in der Beschäftigung mit dem Mythosdiskurs (statt mit ›dem Mythos‹) besteht: Die Beiträge wollen nicht klären, was Mythos ist, sondern den Mythosdiskurs selbst zum Beobachtungsgegenstand erheben und ihn auf diesem Wege als kulturelles Beobachtungsfeld nutzen. Mit dieser Orientierung folgt der vorliegende Band einem Vorschlag, den Gerhart von Graevenitz bereits 1987 zur »Gattungs- und Kulturgeschichte der Auffassungen des Mythos« formulierte. Statt nach der vermeintlichen »Realität des Mythos« zu fahnden, sei Mythos als »Diskursphänomen« zu analysieren: als »Produkt von europäischen Wahrnehmungs- und Denktraditionen«, deren unterschiedliche Konzepte, Medien und Strategien auch unterschiedliche Entwürfe von Mythos bzw. unterschiedliche Effekte des Mythischen produzieren.4 Dementspre3

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Vgl. zu diesem Problem exemplarisch Bent Gebert, »Beobachtungsparadoxien mediävistischer Mythosforschung«, in: Poetica 43/2011, S. 19–61. Auswege aus diesem Dilemma sucht Annette Simonis, »Einleitung: Mythen als kulturelle Repräsentationen in den verschiedenen Künsten und Medien«, in: Dies./Linda Simonis (Hrsg.), Mythen in Kunst und Literatur. Tradition und kulturelle Repräsentation, Köln 2004, S. 1–26: Mythologie bilde ein »ebenso weites wie unübersichtliches interdisziplinäres Forschungsgebiet« (S. 3), das einen »erweiterte[n] Mythosbegriff« (S. 6) erfordere, wie ihn die Theorien Cassirers oder Blumenbergs mit ihrer Betonung von Bewegung und Variabilität von Mythen böten. Dynamisch angelegte Mythoskonzepte genießen entsprechend in der jüngeren Theoriebildung Vorzug, weil sie die Komplexität eines unüberschaubaren Forschungsgebietes handhabbar machen – als Variabilität. Im Anschluss an Walter Burkert betrachtet auch Monika Schmitz-Emans »das Fehlen einer verbindlichen Begriffsbestimmung des ›Mythos‹ und des ›Mythischen‹ eher als Vorteil denn als Defizit«; vgl. Monika SchmitzEmans, »Zur Einleitung. Theoretische und literarische Arbeiten am Mythos«, in: Dies./Uwe Lindemann (Hrsg.), Komparatistik als Arbeit am Mythos, Heidelberg 2004, S. 9–35, hier S. 11. Bestehen bleibt allerdings die Schwierigkeit, wie mit spezifischeren Mythoskonzepten und ihren definitorischen Alleingeltungsansprüchen zu verfahren ist, welche die Mythosforschung im Laufe der Zeit hervorgebracht hat. Vgl. Gerhart von Graevenitz, Mythos. Geschichte einer Denkgewohnheit, Stuttgart 1987, hier S. IX.

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chend ist zu erwarten, dass eine Diskursgeschichte des Mythos, wie sie der vorliegende Band im Spannungsfeld von Präsenz und Repräsentation rekonstruieren möchte, nicht nur durch Kontinuitäten, sondern ebenso durch Brüche charakterisiert ist. Brüche, Inkonsistenzen und disparate Begriffsgeschichten erscheinen in dieser Perspektive indes weniger als ein analytisch zu überwindendes Hemmnis, sondern könnten sich vielmehr als besonders instruktiv erweisen, indem sie Grenzverläufe des bzw. innerhalb des Mythosdiskurses sichtbar machen. Fragen nach der diskursiven Verankerung eines Mythoskonzeptes und das Bewusstsein seiner jeweiligen Grenzen sind damit für den Ansatz des vorliegenden Bandes zentral. Daher verzichten die hier versammelten Beiträge erstens darauf, eine Einzeldefinition aus dem historischen Archiv der Mythosdiskussion normativ zu privilegieren. Zweitens widerstehen sie der Verlockung, auf die Vielfalt von Mythoskonzepten zuzugreifen, ohne die jeweils spezifischen Logiken, Voraussetzungen und Sachbindungen von Mythen und Mythostheorien zu reflektieren.5 Drittens verbindet alle Beiträge auf analytischer Ebene die grundsätzliche Annahme, dass es den Mythos im Singular nicht gibt, wenngleich einzelne Konzepte zu ›monomythischer‹ Verwendung einladen.6 Die somit umrissene theoretisch-methodische Selbstverpflichtung könnte sich als besonders fruchtbar erweisen, weil sie Bezüge zwischen Mythoskonzepten und deren Formierungsprozessen offenzulegen vermag, die bei disziplinübergreifenden Systematisierungsversuchen zumeist ebenso verborgen bleiben wie bei eng gezogenen Definitionen. Der hier verfolgte heuristische Ansatz fokussiert als prominentes Orientierungsmuster die mythologische Differenz von Präsenz und Repräsentation. Der Begriff der mythologischen Differenz bildet dabei nicht den Kern zu einer Theorie des Mythos, sondern bringt die Beobachtung auf den Punkt, dass Mythoskonzepte ihren Sinn stets in Differenzgefügen entfalten, von denen Oppositionen wie mythos/logos, Ritual/Narration oder Affekt/Reflexion 5

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Vgl. hierzu Bent Gebert/Anna-Maria Hartmann/Christian Martin/Uwe Mayer, »Einführung – Zur Heuristik der mythologischen Differenz«, in: Stefan Matuschek/Christoph Jamme (Hrsg.), Die mythologische Differenz. Studien zur Mythostheorie, Heidelberg 2009, S. 9–20, insbes. S. 10. Als »Monomythie« und »Polymythie« unterschied Odo Marquard die konkurrierenden Orientierungen, entweder »viele Geschichten« oder »nur eine einzige Geschichte« zu haben: Odo Marquard, »Lob des Polytheismus«, in: Hans Poser (Hrsg.), Philosophie und Mythos. Ein Kolloquium, Berlin, New York 1979, S. 40–58, hier S. 46. Ohne Marquards Stroßrichtung aufzugreifen, ließe sich mit dieser Unterscheidung auch das Theoriedilemma gegenwärtiger Mythosforschung charakterisieren, zwischen Begriffsvielfalt und ›Wesensdefinitionen‹ des Mythos wählen zu müssen.

Mythos zwischen Präsenz und Repräsentation: Zur Einführung

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nur die prominentesten sind.7 Dass sich Vorstellungen über den Mythos nicht zuletzt unter Rückgriff auf die Differenz von Präsenz und Repräsentation konstituieren, ist die mythostheoretische Hypothese des vorliegenden Bandes. Ihre Ausprägungen und Veränderungen zu beschreiben, bildet – ungeachtet der Vielfalt theoretischer und literarischer Einzelgegenstände – den gemeinsamen Bezugspunkt aller Beiträge. Im Gegensatz zu einer Theorie des Mythos verspricht die Forschungsheuristik der mythologischen Differenz freilich keine kompakte Definition oder Explikation des Mythos. Stattdessen hält sie dazu an, Formen und Funktionen des Unterscheidens zu beschreiben, die mit dem Ausdruck Mythos theoretisch, begrifflich und phänomenal gebündelt werden, und somit eine bislang nur wenig beachtete Wirkungsgeschichte des Mythos (genauer: des Mythosdiskurses) zu beleuchten. Die Konzentration auf die mythologische Differenz von Präsenz und Repräsentation nimmt dabei ihren Ausgang von einer grundsätzlichen Beobachtung. Von der Antike bis zur Gegenwart fungiert ›Mythos‹ als zentraler Begriff, um Schnittstellen von Präsenz und Repräsentation zu produzieren, zu reflektieren und zu verändern. Präsenz und Repräsentation genießen in vielen Mythoskonzepten geradezu den Status einer Leitunterscheidung, wie schon prominente Stimmen der griechischen Antike belegen. Hatte Platon im Zeichen des Mythosbegriffs die Verlässlichkeit narrativer Repräsentation als unüberprüfbare, nicht-argumentative Rede in Zweifel gezogen und ethisch kritisiert,8 so versucht Aristoteles den Mythosbegriff zu rehabilitieren, indem er die repräsentationale Organisation von Wirklichkeit (mimesis) gegenüber Platon positiv wendet und zur anthropologischen Konstante erhebt.9 7

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Das hier umrissene Programm baut auf Ergebnissen einer interdisziplinären Arbeitsgruppe zur Mythosforschung auf: vgl. Matuschek/Jamme (Hrsg.), Die mythologische Differenz. Vgl. Platon, Werke in acht Bänden. Griechisch und deutsch. Bd. 4: Politeia, Gunther Eigler (Hrsg.), 4. Aufl., Darmstadt 2005, S. 156–159 (377c–e) und S. 178–181 (386a–c); Platon, »Kratylos«, in: Werke, Bd. 3, S. 395–575, insbes. S. 472–475 (408b–d). Bekanntlich stellt Platon dieser Ablehnung auch positivere Einschätzungen zur Seite: vgl. z. B. Platon, »Gorgias«, in: Werke, Bd. 2, S. 269–503, insbes. S. 490f. (523 a) und S. 500f. (527 a). Auch im Phaidon (S. 194–197 [114c–115 a]) bekräftigt Platons Sokrates positive Funktionen von Mythen: Sie sind tolerabel und nützlich, sofern sie mit philosophischen Erkenntnissen in Übereinstimmung gebracht werden können oder als Kommunikationsmittel auf pädagogische, ethische und politische Grenzsituationen beschränkt bleiben. Vgl. dazu Luc Brisson, Platon, les mots et les mythes, Paris 1982. Vgl. Aristoteles, Poetik. Griechisch/Deutsch, Manfred Fuhrmann (Hrsg.), Stuttgart 1999, S. 10f. (1448 b) und S. 18f. (1450 a).

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Bent Gebert / Uwe Mayer

Doch nicht nur Konzepte, auch Verfahrensweisen des Mythos werden zwischen Präsenz und Repräsentation verhandelt. Kritisch beurteilt etwa die mittelalterliche Theologie die Repräsentationsleistung von Mythen, die zwischen poetischer Fiktion und der Verhüllung geheimen Wissens changiert. Besonders spektakulär verdichtet sich diese Spannung im Fall des Pariser Benediktiners Petrus Berchorius, der in seinen Metamorphosen-Auslegungen antike Mythen mit dem Präsenzanspruch der Heiligen Schrift parallelisiert: 1351 wird der Verfasser des Ovidius moralizatus der Häresie angeklagt, da er verbotene sündhafte Wissensformen verwendet habe.10 Nach diesem Urteil unternimmt Berchorius keine weitere mythographische Arbeit – der für Dichter (z. B. Chaucer, Spenser) wie für Mythographen (z. B. Boccaccio) einflussreiche Ovidius moralizatus aber bleibt eine Provokation, welche die katholische Kirche schließlich 1559 auf den Index verbotener Schriften setzt.11 Spannungen zwischen Präsenz- und Repräsentationsfunktionen verhandeln auch Mythoskonzepte der Frühen Neuzeit. Francis Bacons programmatischer Versuch, im Zuge der Mythenauslegung chiffriertes Weltwissen wiederherzustellen, steht nicht nur beispielhaft für enge Verflechtungen von Mythosdiskurs und Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert, sondern führt eine Diskussion über Repräsentation fort, die in der Antike wie im Mittelalter vielfältige Konzepte und Praktiken der mehrfachen Bezeichnung, der figurativen Rede und der Verhüllung hervorgebracht hatte.12 Giambattista Vicos Scienza nuova erschließt Mythen von ihren rhetorischen Tropen (Metapher, Metonymie, Synekdoche, Ironie) her als Repräsentationen archaischen Bewusstseins einer età poetica, deren fremdgewordenes kulturelles und wissenschaftliches Gedächtnis jedoch über vergleichende Mythenanalyse neuerlich präsent gemacht werden könne. Sinnliche Präsenzwahrnehmung und rationale Repräsentation bezeichnen dabei auch für Vicos mythographische Kulturgeschichte konstitutive Span-

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Vgl. Jane Chance, Medieval Mythography. Bd. 2: From the School of Chartres to the Court of Avignon, 1177–1350, Gainesville 2000, S. 320–326; zum Darstellungsverfahren des Ovidius moralizatus auch Paul Michel, »Vel dic quod Phebus significat dyabolum. Zur Ovid-Auslegung des Petrus Berchorius«, in: Hans Weder/Paul Michel (Hrsg.), Sinnvermittlung, Zürich 2000, S. 293–347. Vgl. Joseph Engels, »Les commentaires d’Ovide au XVIe siècle«, in: Vivarium 12/1974, S. 3–13. Vgl. Francis Bacon, »De Sapientia Veterum Liber« [1609], in: Robert L. Ellis/ Douglas D. Heath/James Spedding (Hrsg.), The Works of Francis Bacon, Bd. 6, London 1858, S. 619–686.

Mythos zwischen Präsenz und Repräsentation: Zur Einführung

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nungspole.13 Diese mythologische Differenz von präsentischer Unmittelbarkeit und repräsentationaler Distanz bleibt bis zur Gegenwart einflussreich. Sie prägt noch das jüngere Interesse kulturwissenschaftlicher Erinnerungsforschung am Potential von Mythen, die Repräsentation entfernter Vorzeiten in erfüllte Gegenwart von Ursprüngen umschlagen lassen zu können.14 Seit dem 15. Jahrhundert lassen sich Auseinandersetzungen zwischen allegorischen und symbolischen Mythoskonzepten in Theorien und Praktiken beobachten, die in großem Maßstab die Repräsentationsleistungen und Präsenzeffekte von Mythen reflektieren und inszenieren. Sie kulminieren in so gegensätzlichen Formen wie performativen mythologischen Umzügen und Theateraufführungen einerseits und den sie erläuternden Begleitschriften, Stichen und Skizzen andererseits,15 in umfänglichen Mythoshandbüchern und Lexika16 oder aber Narrativierungen von Mythologie, die mittels anti13

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Vgl. Giambattista Vico, Principi di scienza nuova [1725, erw. 1744], Fausto Nicolini (Hrsg.), Turin 1976. Zu Vicos rhetorischem Memorialmodell des Mythos vgl. Katharina Czepluch, »Mythos, Topik, Memoria – Vicos Neue Wissenschaft als Erinnerung an den Ursprung der Menschheit«, in: Matuschek/Jamme (Hrsg.), Die mythologische Differenz, S. 21–43. Als Unterscheidung von »fundierend[er]« Kontinuitätsfunktion des Mythos und »kontra-präsentisch[er]« Markierung von Differenz reformuliert dieses Verhältnis etwa Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 5. Aufl., München 2005, S. 79. Auf Basis der Symboltheorie Ernst Cassirers sowie der semiotischen Mythosanalysen Roland Barthes’ beschreibt Stefanie Wodianka, Zwischen Mythos und Geschichte. Ästhetik, Medialität und Kulturspezifik der Mittelalterkonjunktur, Berlin, New York 2009, S. 214–216 die Wechselwirkung dieser Differenz als »metamythischen Erinnerungsmodus«: »Distanznahme« schlage in »Erinnerungsnähe« um. Vgl. hierzu Graevenitz, Mythos, S. 131–154. Vgl. z. T. in vielfachen Auflagen und Übersetzungen etwa Lilio Gregorio Gyraldi, De deis gentium varia et multiplex historia in qua simul de eorum imaginibus et cognominibus agitur […], Basel 1548; Vincenzo Cartari, Le Immagini colla sposizione degli Dei degli Antichi, Venedig 1556; Natale Conti, Mythologiae, sive explicationis fabularum libri decem […], Venedig 1567; Vincenzo Cartari, Imagines Deorum, Qui Ab Antiquis Colebantur […], London 1581; Philipp von Zesen, Der erdichteten Heidnischen Gottheiten […] Herkunft und Begäbnisse, Hamburg 1688; Benjamin Hederich, Gründliches mythologisches Lexicon […], Leipzig 1724, Neuausgabe 1770; mit zahlreichen Übernahmen aus Hederichs Handbuch auch Johann Heinrich Zedler (Hrsg.), Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste, Leipzig 1731–1754. Diese lexikographische Diskurstradition des Mythos baut ihrerseits auf antiken und mittelalterlichen Mythographien auf: Vgl. dazu grundlegend Jean Seznec, Das Fortleben der antiken Götter. Die mythologische Tradition im Humanismus und in der Kunst der Renaissance, München 1990, S. 95–112 und S. 163–193.

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hermeneutischer Strategien die Phantasie zu stimulieren versuchen.17 Noch im 20. Jahrhundert verdanken einflussreiche Mythographien wie Karl Kerényis Mythologie der Griechen (1. Aufl. 1951/1958; 23. Aufl. 2003) ihren Erfolg markanten Erzählstrategien zwischen Repräsentation und Präsenz: So sucht Kerényi gezielt die »künstlich hergestellte […] Fiktion« des Mythenerzählens, um »gemeinsames Beherrschtsein durch Überindividuelles in unmittelbar erfahrenen Bildern« hervorzurufen.18 Auch für die philosophische Ästhetik des Mythos sind Unterscheidungen von Präsenz und Repräsentation leitend – von den Kunstvorlesungen Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings, die Mythen programmatisch vom Konzept der Bedeutung abrücken und auf Ontologie verpflichten,19 über Friedrich Nietzsches Zuspitzung, im Mythos der Tragödie träten apollinische Repräsentationsformen mit dionysischen Präsenzeffekten des Rausches in Widerstreit,20 bis hin zu Maurice Merleau-Pontys phänomenologischer These, der »Unterschied zwischen Erscheinung und Wirklichkeit« werde »in der Welt des Mythus […] nicht gemacht« – »das mythische Phänomen ist keine Vergegenwärtigung, sondern wahrhafte Gegenwart.«21 Präsenz und Repräsentation durchziehen in vielfacher Variation den Mythosdiskurs der klassischen Moderne. Ihre Differenz ermöglicht der Psychoanalyse Sigmund Freuds, am Leitfaden von Mythosmodellen zwischen latenten Triebstrukturen psychischer Impulse und manifesten Erzählstrukturen zu unterscheiden.22 Sie liegt ebenfalls den strukturalen Mythenanalysen 17

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Vgl. z. B. Karl Philipp Moritz, Götterlehre oder Mythologische Dichtungen der Alten. Zusammengestellt von Karl Philipp Moritz. Mit fünfundsechzig Abbildungen nach antiken geschnittnen Steinen und andern Denkmälern des Altertums [1795], 4. Aufl., Leipzig 1989. Karl Kerényi, Die Mythologie der Griechen, 16. Aufl., Bd. 1, München 1994, S. 8–10. Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, »Philosophie der Kunst«, in: Sämmtliche Werke. Karl Friedrich August Schelling (Hrsg.), Bd. 5, Augsburg, Stuttgart 1859, S. 353–737, hier S. 400f.: »Nur nicht: daß etwa Jupiter oder Minerva dieß bedeutet oder auch bedeuten sollen. Dadurch würde alle poetische Unabhängigkeit dieser Gestalten vernichtet. Sie bedeuten es nicht, sie sind es selbst. Die Ideen in der Philosophie und die Götter in der Kunst sind ein und dasselbe […].« Vgl. Friedrich Nietzsche, »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« [1872], in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hrsg.), 2. Aufl., Berlin, New York 1999, S. 9–156. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin, New York 1966, S. 337. Systematisch entfaltet dies zuerst die Traumdeutung, Leipzig [1899] 1900. Vgl. dazu Gertrud Höhler, »Die Schlüsselrolle des Ödipusmythos. Zu Sigmund Freuds Mythosbegriff«, in: Helmut Koopmann (Hrsg.), Mythos und Mythologie in der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1979, S. 321–340.

Mythos zwischen Präsenz und Repräsentation: Zur Einführung

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Claude Lévi-Strauss’ zugrunde, der narrative Repräsentationen von Mythen auf invariante Tiefenstrukturen bezieht.23 Auch die Karriere von Hans Blumenbergs viel beschworenem Konzept der »Arbeit am Mythos« gründet, wie bereits erwähnt, in der mythologischen Differenz von Präsenz und Repräsentation: Blumenberg zufolge bannen wir übermächtige Präsenzerfahrungen von Wirklichkeit mittels Repräsentationen, indem wir sie erzählend bewältigen und so den unmittelbaren Terror ihrer Kontingenz mit Bedeutsamkeit brechen.24 Ein Beispiel für die Produktivität der hier umrissenen mythologischen Differenz hat schließlich auch Hans Ulrich Gumbrecht mit seinem Vorschlag geliefert, die alttestamentliche Abrahamserzählung als Mythos zu beschreiben, der Spuren von »presence cultures« einfange.25 Wenn die hier eröffnete Beispielreihe den Eindruck einer ideengeschichtlichen longue durée erwecken sollte, ist methodische Skepsis angebracht. Denn alle Beispielfälle machen von der Leitdifferenz unterschiedlich Gebrauch – und prägen damit durchaus unterschiedliche Formen und Funktionen von Mythos, Mythologie oder Mythischem. Statt die Universalisierung einer bestimmten Fassung der Leitdifferenz von Präsenz und Repräsentation anzustreben, empfiehlt es sich daher, ihre Ausprägungen im Einzelfall zu studieren. Dennoch verbindet diese Konstellationen mehr als nur ein abstraktes Konzept. Denn sichtet man das Archiv von Mythoskonzepten, werden wiederkehrende Muster greifbar, die Verhältnisse von Präsenz und Repräsentation modellieren. Mythen gelten z. B. häufig als traditionelle Erzählungen, deren invariante, zeitlose Kernstrukturen auf der Ebene konkreter Repräsentation unerschöpfliche Variationsmöglichkeiten eröffnen.26 Wahrnehmungsformen gelten zudem oft als mythisch, wenn sie auf Verhältnissen zur 23

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Vgl. Claude Lévi-Strauss, »Die Struktur der Mythen«, in: Strukturale Anthropologie I, Frankfurt a. M. 1977, S. 226–254. Vgl. Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1984, insbes. S. 7–162. Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, »Präsenz-Spuren. Über Gebärden in der Mythographie und die Zeitresistenz des Mythos«, in: Udo Friedrich/Bruno Quast (Hrsg.), Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin, New York 2004, S. 1–19. Dieses Modell verbindet – bei allen Unterschieden der Begründung – so unterschiedliche Ansätze wie die Mythenanalysen Lévi-Strauss’ und Blumenbergs. Es liegt zudem zahlreichen Konzepten zugrunde, die Mythen als traditional stories fassen, und strukturiert noch den paradoxen Grenzfall der Mythenkorrektur, der Variation eines Kernmotivs; vgl. hierzu Bernd Seidensticker/Martin Vöhler (Hrsg.), Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption, Berlin, New York 2005.

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Welt basieren, die von affektiver Unmittelbarkeit geprägt sind, Reflexion zuvorkommen oder epistemologische Vermittlung unterlaufen.27 Vor allem anthropologisch inspirierte Mythostheorien haben dagegen seit dem 19. Jahrhundert die Leitvorstellung geprägt, Mythen seien narrative Repräsentationsformen von Ritualen, deren Funktion darin bestehe, kultische Präsenz herzustellen oder zu begleiten.28 Mythen wirkten ursprünglich, alternativ- und zeitlos, wenn sie die Spuren ihrer historischen Konstruktionen und Kontexte erfolgreich verdecken, so lautet ein weiteres Muster.29 Obgleich sie häufig Gegenstand textgebundener Überlieferung sind, stifteten Mythen in besonderer Weise performative und theatralische Wirkungen im Akt des Erzählens und der Inszenierung.30 Oberhalb der Vielfalt von Einzelbestimmungen und unterhalb globaler Mythoskonzepte lässt sich somit eine mittlere Ebene heuristisch einziehen, auf der sich Leitmodelle von Mythos zwischen Präsenz und Repräsentation systematisieren lassen. Die folgende Tabelle bietet eine Liste häufiger Konstellationen von Präsenz und Repräsentation in Mythoskonzepten, die als polare, nicht als kategorische Differenzen zu verstehen sind:

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So vor allem in Symboltheorien und Phänomenologien des Mythos (z. B. Moritz, Cassirer, Merleau-Ponty), aber auch im Falle von psychologisch-anthropologischen Konzepten, die Jamme, »Gott an hat ein Gewand«, S. 88–94 als Urangst-Theorien bezeichnet hat (z. B. die Mythoskonzepte Vicos, Humes, Herders oder Blumenbergs). Vgl. hierzu den Überblick bei Segal, Myth sowie ders. (Hrsg.), The Myth and Ritual Theory. An anthology, Oxford 1998. Viele Ursprungstheorien des Mythos bauen auf dieser Argumentation auf. Nach André Jolles, Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz [1930], Tübingen 1999 erteilen Mythen nicht nur Antworten auf Ursprungsfragen, sondern verdecken zugleich den Anlass, der sie erzwingt: »Diese Antwort ist so, daß keine weitere Frage gestellt werden kann, so daß im Augenblicke, da sie gegeben wird, die Frage erlischt« (S. 97). Als Verwandlung von Geschichte in »Pseudonatur« beschreibt Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt a. M. 1996, S. 130 den semiotischen Verschleierungsprozess von Mythen. Zu solcher »präsentische[r] Evidenzerfahrung« infolge ursprungs- und zeitverschleiernder Kommunikationsstrukturen (»Erzählung ohne Erzähler«, »[d]as Mythische tilgt […] unmerklich die zeitlich-historischen Kontexte des Erzählten«) vgl. auch Stephanie Wodianka, »Zur Einleitung: ›Was ist ein Mythos?‹ Mögliche Antworten auf eine vielleicht falsch gestellte Frage«, in: Dietmar Rieger/Stephanie Wodianka (Hrsg.), Mythosaktualisierungen. Tradierungs- und Generierungspotentiale einer alten Erinnerungsform, Berlin, New York 2006, S. 1–13, hier S. 3f. Zum Begriff der Theatralität vgl. grundlegend u. a. Erika Fischer-Lichte, »Einleitung«, in: Dies. (Hrsg.), Theatralität und die Krisen der Repräsentation. DFG-Symposion von 1999, Stuttgart, Weimar 2001, S. 1–22.

Mythos zwischen Präsenz und Repräsentation: Zur Einführung

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Tab. 1: Prominente Leitdifferenzen von Präsenz und Repräsentation in Mythoskonzepten Aspekt:

Präsenzbegriffe:

Repräsentationsbegriffe:

Struktur Epistemologie Rhetorik Pragmatik Axiologie Genese Medialität Affektivität Zeit

Kern Unmittelbarkeit, Sinnlichkeit Evidenz Ritual das Heilige Natur Mündlichkeit Terror, Angst, Überwältigung Gegenwart, Zyklik

Verfügbarkeit Referenz Zeichen Identität Aisthesis Modus Selektion

Latenz Selbstreferenz Darstellung Ursprung Theatralität, Materialität, Körper Performanz Kollektivität

Variation Vermittlung, Reflexivität Verhüllung Narration das Profane Geschichte Schriftlichkeit Spiel Vergegenwärtigung, Entwicklung Manifestation Fremdreferenz Abbildung, Stellvertretung Wiederholung Texte, Werke, Monumente Überlieferung Individualität

Wie die Unterscheidungen dieser ausbaufähigen Liste illustrieren, bilden Präsenz und Repräsentation eine übergeordnete mythologische Differenz, die von verschiedenen Mythoskonzepten auf je spezifische Weise konkretisiert und semantisiert werden kann. Insofern sind die in der Tabelle vorgenommenen Zuordnungen zu den Polen der Leitdifferenz als mögliche, nicht jedoch als zwingende Zuordnungen zu betrachten. Außerdem sollten auftretende Unterschiede in der Modellierung der Leitdifferenz nicht ignoriert werden: Während etwa zeichentheoretische Modelle vor allem Relationen von Repräsentierendem und Repräsentiertem erfassen und mit ihrem grundlegenden Ansatz hohe Beschreibungsreichweiten beanspruchen, stehen in anderen Modellen konkrete Semantiken im Mittelpunkt, die in ihrer Verwendung beschränkter sind – so etwa genetische Modelle, die Mythos mittels der Unterscheidung von natürlicher Präsenz und geschichtlicher Repräsentation beschreiben. Dichotomischen Abgrenzungsmodellen wie etwa der Unterscheidung von Heiligem (verstanden als übergeschichtlicher Grund jeder Religion) und Profanem stehen komplementär angelegte Differenzmodelle gegenüber, wie sie etwa die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremd-

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referenz bietet. Selbst innerhalb eines Modells erhalten die Verhältnisse der verwendeten Differenzglieder in der Geschichte von Mythoskonzepten bisweilen höchst unterschiedliche Bestimmungen – dies ist unter anderem für Theorien bekannt, die Mythos in der Perspektive von Ritual und Narration beschreiben. Wie im Falle des Mythosbegriffs lässt sich somit auch für die Unterscheidung von Präsenz und Repräsentation keine übergreifende Definition festlegen, ohne den Erkenntnisgewinn zu schmälern, den die Vielfalt von Mythoskonzepten verspricht. Die Beiträge des vorliegenden Bandes versuchen sich gleichwohl vor antisystematischen Gesten zu hüten, die seit der romantischen Mythosdiskussion geläufig sind. Der Anspruch einer Heuristik fordert vielmehr, Modelle von Präsenz und Repräsentation am jeweiligen Gegenstand zu konkretisieren und dadurch die Diskursgeschichte des Mythos auch in ihrer Heterogenität zu erfassen.31

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Gleichwohl bieten eine Reihe von Überblicksarbeiten und Einzelstudien hilfreiche Orientierung zu einschlägigen kulturwissenschaftlichen, philosophischen, kunsttheoretischen, theologischen, politischen oder naturwissenschaftlichen Begriffsbestimmungen von Repräsentation: vgl. z. B. Niels Werber, »Repräsentation«, in: Karlheinz Barck (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Studienausgabe, Bd. 5, Stuttgart, Weimar 2010, S. 264–290; Hans Jörg Sandkühler, Kritik der Repräsentation. Einführung in die Theorie der Überzeugungen, der Wissenskulturen und des Wissens, Frankfurt a. M. 2009, insbes. S. 56–67; Nelson Goodman, Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols, 2. Aufl., Indianapolis 1997; Kendall L. Walton, Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts, Cambridge, London 1990; Jürgen Petersen, Mimesis – Imitatio – Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik, München 2000; Bernhard F. Scholz (Hrsg.), Mimesis. Studien zur literarischen Repräsentation, Tübingen, Basel 1998; Carlo Ginzburg, »Repräsentation. Das Wort, die Vorstellung, der Gegenstand«, in: Ders., Holzaugen. Über Nähe und Distanz. Aus dem Italienischen von Renate Heimbucher, Berlin 1999, S. 97–119; Hasso Hofmann, Repräsentation. Studien zur Wortund Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, 4. Aufl., Berlin 2003; Andreas Bartels, Strukturale Repräsentation, Paderborn 2005. Speziell zur kulturwissenschaftlichen Diskussion um den Präsenzbegriff vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a. M. 2004; Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004, S. 243–283. Zur weiteren Debatte vgl. auch die Beiträge zu Victor K. Mendes/João C. de Castro Rocha, (Hrsg.), Producing Presences. Branching out From Gumbrecht’s Work, Dartmouth 2007 sowie zum Themenheft »Präsenz« der Zeitschrift für Kulturphilosophie 3/2009.

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III. Produktive Interferenzen: Der Mythosdiskurs als Theorie und Praxis des Literarischen Präsenz und Repräsentation bilden die Pole eines Spannungsfeldes, in dem nicht nur Mythoskonzepte, sondern auch Konzepte des Literarischen verortet werden können. Vor diesem Hintergrund lautet eine zentrale These des vorliegenden Bandes, dass die Diskursgeschichte des Mythos einen wesentlichen Einfluss auf die Theorie und Praxis der Literatur ausgeübt hat und weiterhin ausübt. Freilich liefern Mythoskonzepte nicht (oder nur selten) vollständig ausgearbeitete Literaturtheorien. Gleichwohl entfalten sie Vorstellungen und reflektieren Aspekte, auf die sich solche Theorien beziehen bzw. beziehen lassen. Entsprechende Interferenzen von Mythos- und Literaturkonzepten zu markieren, ist ein Ziel des vorliegenden Bandes.32 Anschlussstellen von Mythos- und Literaturkonzepten finden sich dabei oft an prominenter Stelle. So wird bereits Platons Mythoskritik von dem Bemühen getragen, zwischen dichterischen und philosophischen Repräsentationsbeziehungen zu unterscheiden.33 Aristoteles prägt vom Mythosbegriff her eine Dramentheorie, die er im Kontext eines literarisierten, d. h. ausdrücklich auf Lektüre bezogenen Dichtungsverständnisses entwickelt.34 Mittelalterliche und frühneuzeitliche Autoren ringen mit Mythoskonzepten um Spielräume des Literarischen, die sich zunehmend aus religiösen, rhetorischen oder philosophischen Funktionszuweisungen der Rede ausklinken. Zentrale Mittel und Funktionen literarischer Kommunikation – etwa die Wirklichkeitsstrukturierung durch Symbolisierung, Metaphern und andere Tropen – werden von Vico bis Cassirer ausführlich in Mythostheorien diskutiert. Für Literaturkonzepte seit dem 18. Jahrhundert bedeutsame Produktionskategorien wie Einbildungskraft speisen sich nicht zuletzt aus psychologischen Modellen mythischer Wahrnehmung.35 Das romantische Interesse 32

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Die Beiträge stellen Interferenzzonen von Mythos- und Literaturkonzepten in den Mittelpunkt. Die jeweils berührten Literaturbegriffe ausführlicher zu diskutieren, wäre eine gesonderte Aufgabe, die auf einschlägigen Vorarbeiten aufbauen könnte: vgl. z. B. Simone Winko/Fotis Jannidis/Gerhard Lauer (Hrsg.), Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen, Berlin, New York 2009. Vgl. Günter Figal, »Die Wahrheit und die schöne Täuschung. Zum Verhältnis von Dichtung und Philosophie im Platonischen Denken«, in: Philosophisches Jahrbuch 107/2002, S. 301–315. Vgl. Wolfgang Rösler, »Die Entdeckung der Fiktionalität in der Antike«, in: Poetica 12/1980, S. 283–319, hier S. 314f. Vgl. Lucas Marco Gisi, Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert, Berlin, New York 2007, insbes. S. 150–234.

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an Mythologie koppelt den Mythosbegriff grundlegend mit dem Konzept der Poesie.36 Und noch Blumenbergs Arbeit am Mythos beruht auf einer groß angelegten Kulturanthropologie des Erzählens.37 Doch nicht nur theoretische Diskussion und Modellbildung, sondern auch innovative literarische Verfahren operieren mit mythologischen Codierungen von Präsenz und Repräsentation. In der klassischen Moderne wird James Joyces Ulysses als Prototyp einer mythical method gelesen – so von T. S. Eliot in einer berühmten Rezension von 1923 –, die Kontingenzerfahrungen einer als chaotisch erlebten Gegenwart der Moderne durch ein repräsentationales Doppelspiel mit antiken Mythen zu stabilisieren versucht.38 Eine solche ›mythische Methode‹ wird ebenfalls zum zentralen Verfahren einer Dramatik, die ästhetische Innovation gerade in der Repräsentation antiker Gattungsvorbilder sucht und dabei Spannungsverhältnisse von Distanzierung und Unmittelbarkeit inszeniert, wie sie Nietzsches Tragödienschrift exponiert hatte.39 Offenkundig existiert ein produktiver Interferenzbereich von Mythosund Literaturdiskurs, der vielfältige Funktionszuschreibungen hervorbringt, die beiderseits Geltung beanspruchen. So wird etwa Mythos wie Literatur traditionell zugesprochen, disparate und bisweilen überwältigende Wirklichkeitserfahrungen distanzieren, reorganisieren oder symbolisch bewältigen zu können. Mythos und Literatur gelten ferner als Ort und Ausdruck vorbegrifflicher Reflexion, werden als Medien für handlungsorientierende, gesellschaftliche und kommunikative Problemlösung oder als Archivierungsformen des kulturellen Gedächtnisses betrachtet. Diese und andere Funktionsbeschreibungen sind in je eigene Diskursgeschichten und Sachkontexte eingebettet – und setzen doch jeweils Differenzen von Präsenz und Repräsentation voraus. Als faszinierend erweist sich der Interferenzbereich von Mythos- und Literaturdiskurs einerseits, weil er Raum für Innovationen schafft. So bilden 36

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Vgl. ausführlich Heinz Gockel, Mythos und Poesie. Zum Mythosbegriff in Aufklärung und Frühromantik, Frankfurt a. M. 1981, S. 248–337. Darauf hat nachdrücklich Stefan Matuschek, »Mythosbegriff und vergleichende Literaturanalyse«, in: Monika Schmitz-Emans/Uwe Lindemann (Hrsg.), Komparatistik als Arbeit am Mythos, Heidelberg 2003, S. 95–107 hingewiesen: »In Blumenbergs Arbeit am Mythos zeigt sich der Philosoph als vergleichender Literaturwissenschaftler. Und dies nicht im Nebenberuf, sondern im Hauptgeschäft« (S. 95). Vgl. Thomas S. Eliot, »Ulysses, Order, and Myth«, in: Selected Prose of T. S. Eliot. Frank Kermode (Hrsg.), New York 1975, S. 175–178. Vgl. grundlegend Werner Frick, ›Die mythische Methode‹. Komparatistische Studien zur Transformation der griechischen Tragödie im Drama der klassischen Moderne, Tübingen 1998.

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beispielsweise Mythosvarianz und Mythoskritik zentrale Diskussionsmedien, mit denen sich die antike Dichtung zwischen dem 8. und dem 4. Jahrhundert v. Chr. von den Wahrheitsansprüchen performativer Mündlichkeit löst und fiktionale Spielräume für eine literarische Lesekultur entwickelt.40 Auch der höfische Roman des hohen Mittelalters konstruiert und reflektiert seine fiktionalen Erzählentwürfe vielfach im Rückgriff auf den Mythosdiskurs.41 Andererseits scheinen Interferenzen von Mythos- und Literaturdiskurs bemerkenswert resistent zu sein gegen Ausdifferenzierungstendenzen des Systems Kunst. Zumindest setzen sie diesen Tendenzen Entdifferenzierungsstrategien entgegen, wie z. B. (mit besonderer Emphase) um 1800 Friedrich Schlegels »Rede über die Mythologie« demonstriert.42 Generell lässt sich beobachten, dass Literaturkonzepte und literarische Praxis in diesem diskursiven Interferenzbereich erstaunlich durchlässig gehalten werden für Entwürfe anderer Wissensordnungen, Wahrnehmungsformen und Praktiken, die mit dem Ausdruck ›Mythos‹ verbunden werden – von religiösen Ritualen bis zum ethnographischen Tagebuch. Spricht man der Literatur allgemein die Funktion zu, »der zunehmenden Ausdifferenzierung von Wissensbereichen und ihrer Diskurse entgegenzuwirken«,43 so lässt sich der Mythosdiskurs mit seinen Strategien der Entdifferenzierung in dieser Hinsicht als besonderes Stimulations- und Reflexionsfeld des Literarischen betrachten. Die Beiträge des vorliegenden Bandes gehen der Vermutung nach, dass die beschriebenen Interferenzen Spuren einer Kulturgeschichte des Literarischen und seiner Reflexion im Medium des Mythosdiskurses liefern, die zu entdecken sich lohnt. Keineswegs sind damit Übergeneralisierungen ange40 41 42

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Vgl. Rösler, »Fiktionalität in der Antike«. Vgl. hierzu den Beitrag von Bent Gebert in diesem Band. Mythologie und Dichtung verbindet Schlegel zu einem umfassenden Entdifferenzierungsprogramm der Poesie: »Denn das ist der Anfang aller Poesie, den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft aufzuheben und uns wieder in die schöne Verwirrung der Fantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen, für das ich kein schöneres Symbol bis jetzt kenne, als das bunte Gewimmel der Götter« (Friedrich Schlegel, »Gespräch über die Poesie« [1800], in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Ernst Behler [Hrsg.], Bd. 2, Stuttgart 1967, S. 284–359, hier S. 319). Zum Programm der neuen Mythologie vgl. zuvor auch das sog. »Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus« [1797], in: Christoph Jamme/Helmut Schneider (Hrsg.), Mythologie der Vernunft. Hegels ›ältestes Systemprogramm‹ des deutschen Idealismus, Frankfurt a. M. 1984, S. 11–14. Thomas Klinkert, Epistemologische Fiktionen. Zur Interferenz von Literatur und Wissenschaft seit der Aufklärung, Berlin, New York 2010, S. 16.

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strebt, wie sie mythostheoretisch inspirierte Literaturgeschichten bzw. Literaturtheorien im Stile Jacob Grimms44 oder Northrop Fryes45 bieten. Instruktiv könnte die Vokabel Mythos für die Literaturwissenschaft vielmehr werden, wenn sie den Blick auf diese noch kaum erschlossenen Grundlagen von Literaturkonzepten ›jenseits der Literatur‹ mit heuristischen Differenzierungsgewinnen verbindet:46 Inwiefern etabliert, reflektiert oder verändert der Mythosdiskurs Formen und Funktionen, die in ihren jeweiligen Kontexten als literarisch wahrgenommen werden? Die Beschäftigung mit dem Mythosdiskurs könnte mit einer solchen heuristischen Perspektive einen wichtigen Beitrag zur historischen und systematischen Beschreibung von Literaturkonzepten leisten.

IV. Zu den Beiträgen dieses Bandes Die Beiträge des vorliegenden Bandes spannen durch die Wahl ihrer Gegenstände einen chronologischen Bogen von der griechischen Antike bis ins 21. Jahrhundert. Dabei sind sie nicht durch eine Definition des Mythos oder des Mythischen, sondern durch gemeinsame Fragestellungen miteinander verbunden. Um die Diskursgeschichte des Mythos zwischen Präsenz und Repräsentation zu profilieren, die sowohl Theorien als auch Praktiken des 44

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Vgl. etwa Jacob Grimm, »Gedanken über Mythos, Epos und Geschichte«, in: Kleinere Schriften, Bd. 4/1, Berlin 1869, S. 74–85. Frye hatte sämtliche literarische Gattungen auf Strukturen von Jahreszeitenmythen zurückzuführen versucht: vgl. Northrop Frye, Anatomy of criticism. 4 Essays, Princeton 1957. Die interdisziplinäre Diskussion lag seit den Kontroversen der Arbeitsgruppe »Poetik und Hermeneutik« weitgehend brach. Als interdisziplinäre Fragestellung ist das Thema Mythos erst in jüngster Zeit wiederaufgenommen worden; vgl. dazu die Tagungsbände von Schmitz-Emans/Lindemann (Hrsg.), Komparatistik sowie Simonis/Simonis (Hrsg.), Mythos in Kunst und Literatur. An diese Projekte versucht der vorliegende Band anzuknüpfen, zugleich aber die Fragestellung auf formative Wechselwirkungen zwischen Mythos- und Literaturdiskurs zuzuspitzen. – Zahlreicher sind hingegen Versuche, mythische Elemente in literarischen Verfahren zu identifizieren, wobei die Wechselwirkung von Mythos- und Literaturkonzepten zumeist asymmetrisch behandelt wird – häufig formuliert als Frage nach Literatur als Rezeptionsform von Mythos und Mythostheorie. Vgl. zu übergreifenden Studien nur in Auswahl: Pierre Brunel, Mythocritique, Paris 1992–1997; Gockel, Mythos und Poesie; Herwig Gottwald, Spuren des Mythos in moderner deutschsprachiger Literatur. Theoretische Modelle und Fallstudien, Würzburg 2007; Frick, Transformation der griechischen Tragödie; Eleazar M. Meletinskij, The Poetics of Myth, New York, London 1998; Peter Tepe, Mythos & Literatur. Aufbau einer literaturwissenschaftlichen Mythosforschung, Würzburg 2001; Wodianka, Zwischen Mythos und Geschichte.

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Literarischen prägt, greift jeder Beitrag mindestens eine der folgenden drei Leitfragen auf: (1.) Wie operieren Mythostheorien mit Unterscheidungen von Präsenz und Repräsentation – und inwiefern formieren sie dadurch die Wahrnehmung und/oder Produktion literarischer Mythosrezeption? (2.) Wie operieren literarische Texte, die als mythisch, mythopoetisch oder als Beispiele literarischer Mythosrezeption gelten, mit Unterscheidungen von Präsenz und Repräsentation – und inwiefern verhandeln, problematisieren oder prägen sie damit die theoretische Reflexion des Mythos? (3.) Inwiefern prägt der Mythosdiskurs grundsätzlich die Wahrnehmung des Literarischen bzw. der Literatur?

Der heuristische Ansatz, der die Beiträge verbindet, mag bescheiden wirken, zumal die Differenz von Präsenz und Repräsentation immer wieder sachbezogen, begrifflich und theoretisch neu zu präzisieren ist. Dafür bietet er jedoch den Vorteil, Mythoskonzepte einer über 2000-jährigen Diskursgeschichte in vergleichender Perspektive zusammenzubringen, ohne deren Heterogenität vorschnell einzuebnen. Dementsprechend verzichtet der vorliegende Band auf epochale und stoffliche Beschränkungen. Die Beiträge widmen sich nicht nur dem Mythosdiskurs der Antike, des europäischen Mittelalters, des 18. und 19. Jahrhunderts, der Moderne und schließlich der Postmoderne, sondern decken auch verschiedene mythologische Stoffgebiete ab, so etwa den Mythenkreis um Troja, die Verwandlungsgeschichten der griechisch-römischen Mythologie oder die hinduistische Mythologie. Wenn trotz der angestrebten Offenheit die griechisch-römische Mythologie in den Beiträgen dominiert, ist dies zum einen dem oft paradigmatischen Charakter dieser Mythologie für den Mythosdiskurs geschuldet und bildet zum anderen eine entsprechende Produktivität literarischer Mythosrezeption ab. Die Beiträge beleuchten weiterhin das breite Gattungsspektrum, in dem sich der theoretische und literarische Mythosdiskurs entfaltet – von Traktaten über Lehrdialoge bis zur wissenschaftlichen Abhandlung, von dramatischen und narrativen Formen bis zur Lyrik. Unterschiedliche Medien und intermediale Beziehungen werden damit berücksichtigt – von Theateraufführungen und Texten über Text-Bild-Kombinationen bis zu Film und Comic. Die Beiträge beschränken sich freilich nicht auf isolierte Fallstudien, sondern nehmen Gegenstände, Themen und Theorien in den Blick, die für eine Diskursgeschichte des Mythos zwischen Präsenz und Repräsentation exemplarischen Charakter besitzen. In ihrem Zusammenspiel, aber auch in den bisweilen auftretenden Dissonanzen umreißen sie eine Geschichte, die in mythostheoretischer Perspektive keinesfalls marginal ist und sich gerade im

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Hinblick auf formale und funktionale Bestimmungen des Literarischen als äußerst produktiv erweist. Den Auftakt bildet ein Gespräch mit dem Altphilologen Bernhard Zimmermann über Theorie und Praxis der griechischen Tragödie, einer Leitgattung des antiken Mythosdiskurses. Immerhin ist es die Reflexion der Tragödie, die Aristoteles zum ersten Stichwortgeber einer bis heute florierenden literaturwissenschaftlichen Mythosdebatte werden lässt. Indem sich die zur Aufführung bestimmte Tragödie sowohl über performativ-präsentische als auch über mimetisch-repräsentationale Dimensionen konstituiert, treten ihre mythologischen Darstellungen ins Spannungsfeld von Präsenz und Repräsentation. Dass die aristotelische Bestimmung des Mythos für literatur- und kunsttheoretische Reflexionen auch nach über 2000 Jahren maßgebliche Anregungen liefern kann, beweist Tobias Keiling, der sich aus philosophischer Perspektive mit Hans-Georg Gadamers Überlegungen zur Nachahmung auseinandersetzt und dazu die Poetik des Aristoteles als Referenztext heranzieht. Gadamers Überlegung, dass Präsenz immer schon die in Repräsentation(en) erscheinende Präsenz sei, bildet für Keiling den Ausgangspunkt zu einer Differenzierung des Darstellungsbegriffs, in der sich aristotelische Mythostheorie und philosophische Hermeneutik von Gegenständlichkeit verbinden. So erschließt sich ein enger Konnex von Mythos- und Literaturkonzeption, der gerade in Verhältnisbestimmungen von Präsenz und Repräsentation greifbar wird. Als literarisches Kompendium mythologischer Stoffe und als traditionsbildender Bezugspunkt in der europäischen Literaturgeschichte sind Ovids Metamorphosen wohl kaum zu überschätzen. Wie Wolfram Ette zeigt, kann man Ovids Verwandlungserzählungen darüber hinaus als ein mythologisches System betrachten, das sich von anderen mythologischen Systemen der griechisch-römischen Antike – insbesondere der Genealogie und dem Heroenmythos – deutlich unterscheidet. Stehen hinter Genealogie und Heroenmythen vor allem präsentistische, d. h. auf die Überwindung von Zeit und Geschichte bzw. auf Vergegenwärtigung gerichtete Intentionen, so verkörpern Ovids Metamorphosen ein neues mythologisches Paradigma im Zeichen der Repräsentation. Dabei leistet Ovid, wie Ette rekonstruiert, eine kulturtherapeutische Arbeit, die – im Dreischritt von Wiederholen, Erinnern, Durcharbeiten – Ähnlichkeiten mit der Freud’schen Psychoanalyse aufweist. Ziel der Therapie ist die Kritik einer Präsenz, die sich im Fixierten und Unbearbeiteten konkretisiert. So gesehen geht es der ovidischen Mythologie weniger um Vergegenwärtigung als um Ent-gegenwärtigung, weniger um Repräsentation als um De-präsentation.

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Erscheint eine Verwendung des Mythosbegriffs bei der Beschäftigung mit antiken Gegenständen schon aufgrund seiner griechischen Ursprünge naheliegend, so mag dies für eine Beschäftigung mit dem europäischen Mittelalter nicht unbedingt gelten. Dementsprechend widmet sich Bent Gebert der Grundsatzfrage, ob es überhaupt einen Mythosdiskurs des Mittelalters gibt. Für ihre Beantwortung erweist sich die Leitunterscheidung des vorliegenden Bandes als ausgesprochen hilfreich. Wie Gebert zeigt, ist Mythos als Repräsentationsmodus im Mittelalter dadurch von nahestehenden Modi wie Allegorie oder von fabula-Konzepten abgrenzbar, dass in ihm betonte Fremdreferenz (Repräsentation) und prekäre Selbstreferenz (Präsenz) der Rede in Spannung zueinander treten. Der somit identifizierte Mythosdiskurs bleibt nun allerdings kein Spezialfall mittelalterlicher Wissensordnungen, sondern weist mit seiner Verschiebung von Fremd- auf Selbstreferenz erstaunliche Parallelen zur Entwicklung fiktionalen Erzählens und damit zu markanten Evolutionsschritten der Literatur im 12. Jahrhundert auf. In besonderer Weise wird der mittelalterliche Mythosdiskurs in Romanbearbeitungen des Trojastoffes fassbar, der in einer Verknüpfung von Mythologie und Geschichte als Ursprungserzählung des europäischen Rittertums zur genealogischen Herrschaftslegitimation und zur adligen Selbstrepräsentation verfügbar gemacht wird. Dass mittelalterliche Mythosrezeption dabei auf epistemologische, insbesondere imaginationstheoretische Prämissen der zeitgenössischen Poetik zurückgreift, erläutert Björn Reich an Herborts von Fritzlar Liet von Troye. Als mittelalterlicher Bearbeiter mythologischer Stoffe zeigt sich Herbort einerseits bestrebt, das Erzählte im Sinne einer präsenzorientierten Poetik für den höfischen Rezipienten wieder lebendig werden zu lassen – ein Wirkungsziel, das selbst Herborts eigentümlichen Rückgriff auf Zahlenreihen prägt. Andererseits nutzt Herbort das Zählen aber auch, um wiederholt den repräsentationalen Charakter des Trojaromans herauszustellen. Die Evidenz des Erzählens wird somit in einem Wechselspiel erzeugt und gebrochen, was den höfischen Rezipienten zur (Selbst-)Reflexion anregen soll. Im Kontext einer neuen Zuwendung zur griechisch-römischen Antike in der Renaissance entwickeln sich auch neue Zugänge zum Mythos. Ein prominentes Beispiel dafür bieten die Arbeiten Francis Bacons, in denen sich sowohl Literatur- und Mythostheorie als auch Literatur- und Mythosproduktion überschneiden. Aufschlussreich sind insbesondere Bacons Versuche, antike Fabeln mittels Allegorese auszudeuten bzw. die ursprüngliche Evidenz der Fabeln (im Sinne proto-wissenschaftlicher Erkenntnisse) hinter den jeweiligen poetischen Repräsentationen freizulegen. Entspringt Bacons Mythoskonzeption zunächst einer allgemeinen Theorie der Literatur, welche die Fabel als Dichtung begreift, so kommt es in späteren Arbeiten des eng-

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lischen Philosophen zu einer Neubestimmung: Das Mythosverständnis wird von der Literaturtheorie entkoppelt und der Mythos der Philosophie zugeordnet. Gleichwohl kann auch eine der Literaturtheorie entwachsene Mythoskonzeption literarisch und mythopoetisch produktiv werden, wie Bacons New Atlantis veranschaulicht, das zugleich literarische Utopie und Neufassung eines antiken Mythos ist. Wie sich erst unmittelbar vor der Drucklegung herausstellte, kann der zu diesem Thema vorgesehene Beitrag leider nicht veröffentlicht werden. Einen emphatischen Höhepunkt in der Engführung von Mythos- und Literaturdiskurs stellt zweifelsohne die deutsche Frühromantik dar, wofür Friedrich Schlegels »Rede über die Mythologie« programmatisch Zeugnis ablegt. Doch schon einige Jahre früher lässt sich diese Engführung bei Karl Philipp Moritz beobachten, wie Selma Jahnke herausstellt. Sie nimmt ihren Ausgang von Moritz’ Entwurf einer Autonomieästhetik, die Kunst auf absolute Selbstreferenzialität verpflichtet. Da im idealen Kunstwerk Zeichen und Bezeichnetes zusammenfallen, erschöpft es sich nicht in der Repräsentation, sondern zielt auf eine begrifflich uneinholbare Präsenz, die für den Rezipienten als überwältigendes Evidenzerlebnis erfahrbar wird. Diese aufgrund ihrer utopischen (Selbst-)Überbietung oft paradoxe Bestimmung der Kunst überträgt Moritz schließlich in seinem Handbuch Götterlehre oder Mythologische Dichtung der Alten auf die antike Mythologie, wobei das Konzept auf die Ebene der mythographischen Form durchschlägt. Da die Mythologie nach Moritz ebenso wie die autonome Kunst absolute Evidenz verkörpert, stellt jede historische, allegorische oder moralische Inanspruchnahme eine unzulässige Reduktion dar, was Moritz’ dynamische, etwaige Zu- und Festschreibungen stets unterlaufende Schreibweise erklärt. Für die Entwicklung des modernen Mythosverständnisses erweist sich die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts als eine entscheidende Transformationsphase. Stefan Matuschek beleuchtet vor diesem Hintergrund, wie das Mythosverständnis der Aufklärung auch ein neues Muster literarischer Darstellung hervorbringt, das man als Mythologisieren bezeichnen kann. Als »doppelter Bezug zum Mythos« verbindet das Mythologisieren aufklärerische Mythenkritik mit neuer Mythenproduktion. Einen paradigmatischen Fall erkennt Matuschek im Selbstrepräsentationsmodus von Goethes Dichtung und Wahrheit: Zwischen ornamentalem Mythoszitat und mythisierender Darstellung entfaltet Goethe ein Darstellungsverfahren, das eine Aura unbedingter Wahrhaftigkeit über paradoxe Koppelungen von Kritik und Affirmation mythologischer Deutungsmuster zu erzeugen versucht. Im Laufe des 19. Jahrhunderts lässt sich eine markante Verschiebung in der Wahrnehmung des Mythos beobachten, die mit einer Abkehr von klassi-

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zistischen Idealisierungen der griechischen Antike verbunden ist. Eindrückliche Belege für diese Verschiebung liefern die dramatischen Mythosadaptationen Hugo von Hofmannsthals, denen sich Antonia Eder widmet. Eder verbindet die Analyse von Hofmannsthals Dramenästhetik mit einer kontrastiven Lektüre von Hans Blumenbergs einflussreicher Theorie zur Arbeit am Mythos. Während Blumenbergs Theorie im Mythos die Überwindung des Numinosen bzw. die Bewältigung einer bedrohlichen Präsenz der Wirklichkeit durch Repräsentationsformen wie Bild, Name oder Narration erkennt, zeichnen sich Hofmannsthals Mythosadaptationen gerade durch ein inszeniertes Versagen der Repräsentation, durch Einbrüche des Namenlosen im rauschhaften Tanz oder in der Ekstase aus. Die Gegenüberstellung von Hofmannsthal und Blumenberg führt demnach einerseits Differenzen zwischen theoretischer und literarisch-dramatischer Mythosrezeption vor Augen. Anderseits weist sie die beiden Positionen trotz ihrer offenkundigen Unterschiede und ihrer historischen Distanz als zusammengehörige Positionen eines gemeinsamen Diskurses aus, der Mythos prozessual und affektiv konzipiert: als Überwältigung (Hofmannsthal) bzw. Bewältigung (Blumenberg). Eine differenzierte Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Mythos und Literatur findet sich in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Dass der Mythos bei Cassirer als eine spezifische symbolische Form systematisch von der symbolischen Form der Kunst unterschieden wird, erläutert Anja Schwennsen. Dabei zeichnen sich nach Cassirer allerdings sowohl der Mythos als auch die Kunst als Gestaltungsformen der »Fülle des Lebens« aus, womit sie Repräsentationsleistungen der Gestaltung erbringen und zugleich sinnliche Präsenz von Lebenszusammenhängen erlebbar machen. Das solchermaßen von Cassirer zwischen Präsenz und Repräsentation verortete mythische Denken hebt sich dabei insbesondere von der Abstraktion der symbolischen Form der Wissenschaft ab und ist im Zusammenhang mit einer allgemeinen Kritik an lebensfeindlicher Abstraktion zu verstehen, die sich in der Moderne formiert. Mythisches Denken ist jedoch nicht nur ein zentrales Konzept in Cassirers Philosophie, sondern kann auch in literarischer Symbolbildung identifiziert werden. Exemplarisch untersucht Schwennsen hierzu den Umgang mit Namen in Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, der an das mythosspezifische Konzept der Augenblicksgötter (Hermann Usener, Cassirer) erinnert. In beiden Fällen erweist sich die Unterscheidung von Repräsentation und Präsenz als intrikate Verbindung. Verschränken sich bereits in Cassirers Verständnis des mythischen Denkens Dimensionen von Repräsentation und Präsenz, so beschwört auch Prousts literarische Praxis die symbolische Vergegenwärtigungskraft der Namen nur unter den Bedingungen von kunstvollen Arrangements der literarischen Repräsentation.

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Dass sich der Mythosdiskurs in einem Spannungsfeld zwischen Präsenz und Repräsentation bewegt, wird besonders in Situationen offensichtlich, in denen präsenzfixierte und repräsentationsfixierte Mythoskonzepte aufeinanderprallen. Eine solche Konstellation identifiziert Christian Voller für die junge Bundesrepublik, in der die Frage nach dem Verhältnis von Mythos und Aufklärung bzw. von Mythos und technischer Moderne politisch besonders aufgeladen ist. Auf der einen Seite stehen Theoretiker, die aufgeklärtes Denken bereits im Mythos nachzuweisen versuchen oder die zivilisierende Repräsentationsleistung des Mythos würdigen. Auf der anderen Seite lassen sich die – heute weniger prominenten – modernen Archaiker ausmachen, die im Rückgriff auf den Mythos gerade jene archaische Präsenz oder Unmittelbarkeit restaurieren möchten, die durch die Aufklärung verabschiedet wurde und einem modernen Nihilismus gewichen ist. Exemplarisch stellt Voller in diesem Zusammenhang die Ansätze Hans Blumenbergs und Friedrich Georg Jüngers einander gegenüber, für die jeweils die Figur des Prometheus – insbesondere im Hinblick auf die Verknüpfung von Mythos- und Technikdiskurs – zentral ist. Mit Jüngers präsenzorientierter Position und Blumenbergs repräsentationsorientierter Gegenposition wird eine Spannungslage der theoretischen Mythosdiskussion und ihrer literarischen Rezeption ersichtlich, die trotz des Einflusses von Einzelpositionen wie der kritischen Mythostheorie Adornos/Horkheimers oder Blumenbergs Arbeit am Mythos als Diskurszusammenhang bislang weitgehend unbeachtet blieb. Wie nicht zuletzt Jüngers eigene mythologische Dichtungen beweisen, bietet dieser Zusammenhang außerdem direkte literarische Anschlussstellen. Bereichert wird der vorliegende Band durch einen Exkurs Robert Segals, der als Religionswissenschaftler auch Herausgeber einschlägiger Anthologien zur Mythostheorie ist. In seinem vergleichenden Überblick widmet sich Segal pointiert der dritten Leitfrage des vorliegenden Bandes: Er legt offen, welche Literaturverständnisse prominente Mythostheorien von E. B. Tylor bis zu Hans Blumenberg entwickeln. Dass die Positionen dabei nicht nur weit auseinanderliegen, sondern bisweilen sogar inkompatibel sind, illustriert eindrücklich die Variabilität der Interferenzgeschichte von Mythos und Literatur sowie die Heterogenität der Denkgewohnheit Mythos. Hans Blumenbergs einflussreiche Mythostheorie bildet den maßgeblichen theoretischen Bezugspunkt für Annette Simonis, die mythologische Repräsentationen als literarische und ästhetische Reflexionsformen in den Blick nimmt und dabei die mythologische Differenz von Präsenz und Repräsentation modifiziert. Zumindest im Kontext moderner Mythosrezeption scheinen Begriffe von Präsenz, die eng mit Vorstellungen von Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit verknüpft sind, weniger angemessen als Begriffe

Mythos zwischen Präsenz und Repräsentation: Zur Einführung

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wie Evidenz oder Präsenzsuggestion, die Effekte von argumentativen oder medialen Strategien bezeichnen. Wie Simonis am Beispiel von literarischen und filmischen Orpheus-Adaptationen zeigt, wird die Differenz von Repräsentation und Präsenzsuggestion im künstlerisch-literarischen Diskurs aber nicht einfach entfaltet, sondern erzeugt Reflexivität, bei der insbesondere der Modus der mythologischen Repräsentation in den Fokus gerät. Damit wird ein Verhältnis von Gegenwartskultur und Mythosrezeption greifbar, das einerseits durch den Verlust mythischer Aura, andererseits durch die bleibende Bedeutung mythologischer Repräsentationen als Reflexionsmedien charakterisiert ist. Spätestens seit Anfang des 20. Jahrhunderts schlägt sich die mythologische Differenz von Präsenz und Repräsentation in einem Muster nieder, das sich nicht nur in verschiedenen Mythostheorien identifizieren lässt, sondern auch das populäre Mythosverständnis nachhaltig beeinflusst hat. Wie Uwe Mayer rekonstruiert, werden Mythen nach diesem Muster als Repräsentationen vorgängiger Präsenzerfahrungen (z. B. anthropologischer Dispositionen oder psychischer Traumata) aufgefasst, wobei man ihnen selbst eine präsentisch-performative Wirkung (z. B. eine besondere Evidenz oder Unmittelbarkeit) zuschreibt. Diese präsenzorientierte Mythoskonzeption prägt auch die Erwartungen an die literarische Mythosrezeption, wie eine Ankündigung des britischen Canongate-Verlags zur 2005 gestarteten Romanreihe The Myths illustriert. Allerdings offenbart eine gründlichere Lektüre, dass sich die literarischen Texte der Reihe (darunter Margaret Atwoods The Penelopiad) nur bedingt mit einer präsenzorientierten Mythoskonzeption in Einklang bringen lassen. Während die Verlagsankündigung Wiedererzählungen universeller und zeitloser Geschichten verspricht und damit einen Präsenzanspruch formuliert, entfalten die Texte – jenseits des Wiedererzählens – eine spezifisch literarische Reflexivität der Mythosrezeption und betonen so ihren eigenen Repräsentationscharakter. Die Literatur erweist sich in diesem Fall als Herausforderung für einen Mythosdiskurs, der stark auf Präsenzerfahrungen und Präsenzeffekte fokussiert ist. Dass mythologischen Darstellungen auch im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert noch die Fähigkeit zugeschrieben wird, religiöse Gemeinschaft oder kulturelle Identität zu stiften, zeigt sich im Anspruch der indischen Comic-Reihe Amar Chitra Katha (»Unsterbliche Bildergeschichten«). Nach den Vorstellungen ihrer Herausgeber versteht sich die Reihe als Beitrag zur Bewahrung des kulturellen Gedächtnisses Indiens, der durch Popularisierung hinduistischer Mythologie auf nationale Identitätsbildung zielt. Anne Keßler-Persaud verortet auch das junge mythologische Medium Comic in einem Spannungsfeld von traditionellen Repräsentationsstrategien und Prä-

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Bent Gebert / Uwe Mayer

senzfunktionen: Geltungsansprüche des mythologischen Comic werden einerseits als Bewahrung autoritativer Götter- und Heroenerzählungen legitimiert, andererseits mittels Darstellungsverfahren realisiert, die sich religiöser Präsenztechniken des hinduistischen Kultes bedienen. Konkret bemüht sich Amar Chitra Katha um Autorisierung durch explizite Bezugnahme auf traditionelle mythologische Quellen. Zugleich erweist sich das Genre des Comic aufgrund seiner Bildlichkeit als geeignete Infrastruktur für mythologische Präsentifikationen, da es zum einen die zeitgenössische Konjunktur des Visuellen bedient und zum anderen spezielle religiöse Präsentifikationsstrategien, etwa die traditionelle Frontaldarstellung hinduistischer Gottheiten, aufgreift. Schon der Überblick über die Beiträge des vorliegenden Bandes veranschaulicht die Heterogenität der Gegenstände und der Mythoskonzepte, die zur Debatte stehen. Dabei geht es – wie bereits deutlich geworden ist – nicht darum, diese Heterogenität einzuebnen, sondern als ergiebiges Beobachtungsfeld zu begreifen. Hier liegen die Ambitionen des Bandes: Der gemeinsame Versuch der Beiträgerinnen und Beiträger, Konstellationen von Präsenz und Repräsentation im Mythosdiskurs aufzuspüren und deren Wechselwirkungen mit formalen und funktionalen Bestimmungen des Literarischen zu untersuchen, macht Mythosforschung als geistes- und kulturwissenschaftliche Grundlagenforschung fruchtbar, deren Interesse sich nicht im Mythos erschöpft. Am vorliegenden Band haben nicht nur die Autorinnen und Autoren, sondern auch eine Reihe weiterer Personen mitgewirkt, denen wir abschließend herzlich danken möchten. An erster Stelle gebührt unser Dank dem Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) und den Fellows der FRIAS School of Language & Literature, die das Projekt im Rahmen eines Tagungswettbewerbs zur Förderung auswählten und den Ergebnisband der Tagung nach sorgfältiger Prüfung zur Aufnahme in die Reihe linguae & litterae empfahlen. Danken möchten wir ebenfalls Aniela Knoblich, Sara Kathrin Landa und ihrem Team, die den Band umsichtig und mit großer Sorgfalt redaktionell begleitet haben. Nicht zuletzt gilt unser Dank Vera Auer, die uns tatkräftig und zuverlässig bei der Einrichtung der Beiträge unterstützt hat.

Von der kultischen Gedächtnismaschine zum literarischen Lesestück

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Bernhard Zimmermann (Freiburg i. Br.) / Bent Gebert (Konstanz)

Von der kultischen Gedächtnismaschine zum literarischen Lesestück: Ein Gespräch über die griechische Tragödie

I.

Kultische und gesellschaftliche Voraussetzungen der griechischen Tragödie

Bent Gebert: Den Ausgangspunkt der Tagung bildet die Beobachtung, dass der Mythosbegriff von der Antike bis zur Gegenwart Konstellationen von Repräsentation und Präsenz bezeichnet, reflektiert, aber auch beschwört. Es ist mir daher eine große Freude, mit Ihnen als Professor für Klassische Philologie mit besonderem Forschungsschwerpunkt zum antiken Drama über einige Fragen der griechischen Tragödie zu sprechen, die in diesem Themenfeld lokalisiert sind. Dazu gehört zunächst die grundsätzliche Frage, ob die Unterscheidung von Präsenz und Repräsentation überhaupt eine triftige Unterscheidung ist, um die griechische Tragödie zu beschreiben. Zum Faszinationspotential der griechischen Tragödie – aber auch zu ihren Beschreibungsschwierigkeiten – scheint zu gehören, dass das antike Drama nicht Teil eines ausdifferenzierten Systems Kunst ist, sondern mit vielfältigen Kontexten engstens verflochten erscheint: mit Politik, mit Religion und Kult, mit ästhetischer Praxis. Könnte man sagen, dass gerade diese Verflechtung die Tragödie in besonderem Maße im Spannungsfeld von Präsenz und Repräsentation situiert? Bernhard Zimmermann: Ich glaube, man kann dem Problem näher kommen, wenn man in die Ursprungsdiskussion einsteigt: Woher kommt die Tragödie? Wie passt der Mythos überhaupt mit dieser Form der Tragödie zusammen? Es gibt die Theorie von Walter Burkert, die bei der Etymologie des Wortes ›Tragödie‹ ansetzt und gemeinhin Zustimmung gefunden hat.1 Früher dachte man – und das war seit der Antike eigentlich die communis opinio –, ›Tragödie‹ bedeute ›Gesang der Böcke‹, dass also ein Chor in Bockskostümen aufgetreten sei. Burkert schlug eine andere Erklärung vor, die auch etymolo1

Vgl. Walter Burkert, »Greek Tragedy and Sacrificial Ritual«, in: Greek, Roman, and Byzantine Studies 7/1966, S. 87–121; Wiederabdruck in: Walter Burkert, Kleine Schriften. Bd. 7: Tragica et historica, Wolfgang Rösler (Hrsg.), Göttingen 2007, S. 1–36.

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gisch sehr viel sinnvoller ist: ›Tragödie‹ bedeute ›Gesang anlässlich eines Bocksopfers‹, also das Opfer eines Bockes, der wiederum mit Dionysos in enger Beziehung steht. An dieser These haben vor allem anthropologisch-ethnologisch orientierte Forschungsrichtungen angesetzt, aber auch Forschungsrichtungen, die mit der Performancetheorie zusammenhängen. Kulturvergleichende Studien untermauern, dass einschneidende Ereignisse im Jahreskreislauf (z. B. Frühlingsbeginn, Ernte, Herbstbeginn), einschneidende Ereignisse im Lebenslauf (z. B. Geburt, Initiation, Hochzeit, Tod etc.) oder einmalig auftretende Gefährdungen des Systems (z. B. Seuchen, Kriege) in primitiven Kulturen, wozu auch die frühgriechische gehörte, normalerweise chorisch begangen wurden. Die Lieder, die zu diesen Anlässen gesungen wurden, mussten einen Inhalt haben – rudimentäre Mythen, die dieses Ereignis widerspiegelten oder zu erklären versuchten. Wir haben es also ursprünglich, wenn man so will, mit einer Koinzidenz von Präsenz zu tun: Ein ganz aktuelles Ereignis – etwa ein Krieg – soll durch eine chorische Begehung gebannt werden, es wird dazu ein Lied gesungen, das vielleicht sogar direkt auf dieses präsente Ereignis eingeht. Gleichzeitig aber ist es auch schon eine Art von Repräsentation, weil ja sozusagen aus der gefährdeten Gruppe eine kleine Auswahl getroffen wird, die das Ereignis in besonderer Form wiedergibt. Gebert: Wo liegen diese Schnitte oder, vorsichtiger formuliert, diese Unterscheidungsmöglichkeiten zwischen Präsenz und Repräsentation? Mit Burkert betonen Sie die Kult- und Präsenzbindung der Tragödie, die für ihre Ursprünge anzunehmen ist. Allerdings stehen in dem uns überlieferten Korpus von Tragödien solcher Präsenzorientierung viele Elemente der Präsenzbrechung entgegen, die ausgeprägt repräsentational sind. Schon in den Hiketiden des Aischylos geht es um Kultkritik, um die problematische Frage des anderen Kultes. Und diese Linie könnten wir sicherlich bis Euripides ausziehen, der in den Bakchen kultische Gewaltpotentiale in äußerst kritischem Licht auf die Bühne bringt, als entfesselte kollektive Aggression. Sind damit nicht deutliche Einschnitte in der Präsenzbindung der Tragödie vollzogen? Zimmermann: Der Punkt, den Sie ansprechen, ist vollkommen richtig: In der Form der ausgebildeten Tragödie des 5. Jahrhunderts, repräsentiert durch die drei großen Dramatiker Aischylos, Sophokles und Euripides, ist kultische Präsenz bereits sehr stark gebrochen. Ich würde sagen, der Schnitt ist eigentlich da anzusetzen, wo sich aus den chorischen Begehungen allmählich die Tragödie entwickelt, und das ist relativ spät, wahrscheinlich im Verlauf des

Von der kultischen Gedächtnismaschine zum literarischen Lesestück

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6. Jahrhunderts der Fall. Der ursprünglich präsente Anlass – die Gefahr, der Einschnitt im Leben etc. – wird plötzlich reflektiert. Die erste Stufe wäre also, dass kultische Ereignisse plötzlich reflektiert werden, um dann unmittelbar darauf – Sie haben schon auf Aischylos verwiesen, und das ist bei Euripides ganz deutlich – kritisiert und hinterfragt zu werden. Der Kult wird dann bei Euripides sozusagen als etwas Gefährliches hinterfragt. Gebert: Wenn wir mit den Tragödien des Aischylos den frühesten erhaltenen Bestand betrachten, wie kommen auf dieser Stufe Elemente der Handlung und der Performance zum Zuge, die ganz explizit auf Ritual abstellen? Denken ließe sich hier an Beispiele wie Elektras Totengebet in den Choephoren oder den Kultort des Apollon als Schauplatz der Eumeniden. Sind solche Elemente in den aischyleischen Tragödien tatsächlich als kultische Performance und Kultraum auf der Bühne zu verstehen – oder wäre hier eine Differenz anzusetzen, wenn solche Elemente repräsentiert werden? Zimmermann: Es gibt eine Forschungsrichtung, die von Anton Bierl repräsentiert wird,2 die das Kultische ganz stark macht: Sie würden sagen, es sind kultische Ereignisse auf der Bühne des Theaters. Ich würde das etwas differenzierter sehen und eher eine Richtung einschlagen, die von der angelsächsischen Forscherin Patricia Easterling ausgeht. Sie hat einen schönen Artikel über Kult und Tragödie geschrieben,3 den ich etwas weiterführen würde. Ich würde eigentlich davon ausgehen, dass, sobald ein kultisches Ereignis, sei dies nun ein Ritus, sei dies wie bei der Tragödie häufig ein Kultlied, in ein Handlungsgefüge eingespannt wird, es nicht mehr Kult im eigentlichen Sinne ist. Es ist ein verfremdeter Kult, da ja das kultische Ereignis Teil einer übergreifenden Handlung wird. Gebert: Aber gilt das selbst für inszenierte Kultneugründungen? Einen extremen Fall liefert Aischylos, indem er am Ende der Eumeniden explizit einen neuen Kult positioniert, der die Erinnyen zu neuen Gesetzeshütern erhebt und dies mit dem Aufruf verbindet, fortan die Erinnyen zu verehren. Gilt auch für derart explizite Formen von Kultautorisierung und Kultpraxis, dass sie nicht als Kult, sondern als Darstellung von Kult auf die Bühne kommen? 2

3

Vgl. Anton F. H. Bierl, Dionysos und die griechische Tragödie. Politische und »metatheatralische« Aspekte im Text, Tübingen 1991. Vgl. Patricia E. Easterling, »Tragedy and Ritual. ›Cry ›Woe, woe‹, but may the good prevail‹«, in: Métis 3/1988, S. 87–109; zusammenfassend Bernhard Zimmermann (Hrsg.), Handbuch der griechischen Literatur der Antike. Bd. 1: Die Literatur der archaischen und klassischen Zeit, München 2011, S. 486–490.

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Zimmermann: Ich glaube ja, gerade wenn man den Fall der Erinnyen nimmt, der ja vor allem für Theatermacher eine große Problematik darstellt, wie sie dies auf die Bühne bringen sollen. Ich glaube, selbst da ist es der Fall, weil Aischylos archäologisch einen bereits bestehenden Kult der Eumeniden aufgreift, den es schon zu der Zeit gab. Das Interessante ist, dass er damit ein aktuelles politisches Ereignis von großer Brisanz, die demokratische Verfassungsänderung von 462, die fast zum Bürgerkrieg geführt hätte, in grauer Vergangenheit ansiedelt. Indem er die Götter mitwirken lässt, wird dieses Ereignis der demokratisch radikaleren Form sozusagen legitimiert, göttlich legitimiert. Wenn Aischylos den Chor der Erinnyen nunmehr zu wohlmeinenden Göttinnen gewandelt auf den Kolonoshügel hinausziehen lässt, blendet er jedoch in einer zweiten Schicht eine weitere kultische Begehung hinein. Dieser Auszug spiegelt en détail die große Panathenäenprozession wieder, also ein alle vier Jahre stattfindendes großes Ereignis in Athen. Damit haben wir also zwei oder sogar drei Ebenen: Wir haben die Erklärung eines Kultes in der grauen Vergangenheit, wir haben die Legitimierung einer ganz aktuellen politischen Entscheidung, eingebettet in einen verfremdeten Panathenäenrahmen. Das Ganze ist nun eben in die Handlung der Orestie eingespannt, womit weitere Bedeutungsebenen hinzutreten. Gebert: Der Verfremdungseffekt, den Sie ansprechen, entstünde dann vor allem auf der Ebene der Komposition: Bezüge zu politisch oder kultisch präsenten Ereignissen werden auf Repräsentation umgestellt, indem sie kombiniert werden. Man könnte darin fast Momente der Distanzierung sehen. Zimmermann: Ja, das Moment der Distanzierung scheint mir wichtig. Gerade am Schluss der Eumeniden kann man ja sehr schön sehen, dass es eine Art Pendelbewegung gibt. Einerseits wird etwas zeitlich in eine mythische Vergangenheit weggerückt, gleichzeitig aber wird es für den Zuschauer auf aktuelle kultische Ereignisse wie die Panathenäenprozession bezogen oder mit Brückenwörtern verbunden, also dem aktuellen Diskurs entlehnten Begriffen. In einer Pendelbewegung wird die Gegenwart wieder hineingerückt, so dass man die Spannung der Tragödie eigentlich sehr schön als ein ständiges Pendeln zwischen Distanz und Nähe erklären könnte. Gebert: In Athen scheinen für die Entwicklung solcher Formen besonders günstige Bedingungen bestanden zu haben. Zumindest ist ja auffällig, dass sich gerade im athenischen Kontext Kultpraxis, literarische Produktion und politische Repräsentation derart produktiv verbinden. Keiner dieser Aspekte aber ist für sich genommen auf Athen beschränkt.

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Zimmermann: Wir haben sogar Textzeugnisse, bei Herodot vor allem, der von Choraufführungen in Korinth (Historien 1, 24) und in Sikyon (Historien 5, 67,5) berichtet, sie sogar als tragische Chöre bezeichnet; er muss eine gewisse Affinität zur Tragödie gesehen haben. Dass sich aus ganz verschiedenen im 6. Jahrhundert sich ausbildenden chorischen Formen nur in Athen Tragödien im eigentlichen Sinne entwickelt haben, ist natürlich eines der großen Rätsel, dem man sich stellen muss. Ich denke, es sind wahrscheinlich zwei Faktoren. Zunächst einmal der politische Faktor, dass die Tyrannis, also Peisistratos als Mäzen und Kunstliebhaber, wie man heute sagen würde, Anregungen gab, neue Formen auszubilden, um sich gegenüber seinen adligen Mitkonkurrenten hervorzuheben. Wir besitzen die Anekdote, dass er ganz bewusst große Künstler, Dichter vor allem, an seinen Hof gezogen hat: Anakreon, Simonides und andere sollen bei ihm gewirkt haben. Dies ist ein ganz bewusster Eingriff des Tyrannen, wenn man so will, in die Religion und Kulturpolitik. Hinzu kommt natürlich, dass die Einflüsse der Demokratie nach 500 einen enormen Synergieeffekt hervorriefen, durch den sich umso schneller neue Formen herausbildeten. Das neue Gemeinwesen und seine neue politische Form brauchten nun auch neue kultisch-religiöse und kulturelle Formen der Repräsentation. Gebert: Dann ließe sich die attische Tragödie also als eine Art kulturelle Gedächtnismaschine verstehen, die solche Transformationen – etwa der politischen Ordnung – gleichsam nachbearbeitet, indem sie Traditionen auf der Bühne aufbaut. Allerdings verschafft sie sich dazu erweiterte, ungleich komplexere Mittel, die über das Repertoire einfacher kultischer Choraufführungen hinausgehen. Zimmermann: Ja, das ist vollkommen richtig. Ich würde generell sagen, dass Kulte immer zu Gedächtnismaschinen werden, sobald sie mit chorischen Aufführungen versehen sind; sobald ein Chor dabei ist, wird sozusagen memoria gebildet, das kulturelle Gedächtnis wird aktiviert. In Athen, da haben Sie Recht, geht man mehrere Schritte weiter. Ich denke, man darf nicht nur die Tragödie an und für sich heranziehen, sondern muss den gesamten kultischen Zusammenhang, in dem die Tragödie angesiedelt ist, in die Betrachtung einbeziehen. Dies sind die großen Dionysien, das fünf Tage dauernde Fest, in dessen Rahmen nicht nur Tragödien aufgeführt wurden, sondern auch Komödien und Dithyramben. Betrachtet man nun diese verschiedenen Gattungen, kann man wirklich sehen, wie die Athener die Gedächtnismaschine aktivierten. Traditionell dient der Dithyrambos, wie auch in vielen anderen Städten praktiziert, der Aktivierung des kollektiven

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Gedächtnisses. Bezeichnenderweise stehen die Dithyrambenaufführungen am ersten Tag, es ist praktisch das Traditionellste, wenn in Dionysosliedern auf die Urgeschichte Athens rekurriert wird. Dazu werden Mythen, wahrscheinlich athenische Mythen, erzählt, die womöglich in bestimmten Zusammenhängen mit Dionysos, dem Gott des Festes, stehen. Die Komödienaufführungen stellen dagegen, etwas überspitzt gesagt, die offiziellen politischen Leitlinien infrage. Es wird grotesk, phantastisch, derb und obszön, ständig werden die Normen und Regeln durchbrochen. Die Tragödie schließlich spielt immer wieder aufs Neue verschiedene Situationen des politischen Zusammenlebens durch. Man kann dies sehr schön bei Aischylos beobachten, etwa wenn die Eumeniden konkrete Ereignisse des Jahres 462 aufnehmen, aber auch wenn man die Hiketiden liest, in denen es um Immigrantenpolitik geht: Wie geht man mit Metöken um, mit Fremden, die aus Ägypten kommen? Nimmt man sie auf oder nimmt man sie nicht auf ? Auch die Perser beziehen sich auf aktuelle politische Ereignisse. Bei Sophokles wird es ganz allgemein, wenn Sie an die Antigone denken – es geht um verschiedene Positionen im Staat, die man einnehmen kann und die zur Gefährdung des Gemeinwesens führen können, wie der Gegensatz von Antigone und Kreon demonstriert. Gebert: Aber stehen solche Fälle von politisch-historischer Selbstrepräsentation des athenischen demos in der Tragödie nicht in fundamentaler Spannung zu ihrem kultischen Rahmen? Schließlich sind die Dionysien der Verehrung eines Gottes mit allgemeinem Geltungsanspruch gewidmet. Stehen mit Kult und Politik nicht zwei Repräsentationssysteme quer zueinander? Euripides’ Bakchen scheinen mir dieses Problem bemerkenswert explizit zu thematisieren: Was heißt es für eine Stadt und ihre politischen Repräsentanten, Dionysos anzunehmen oder abzulehnen? Diese Spannung der Repräsentationssysteme durchzieht ebenso viele andere Tragödien, auch wenn sie das Problem eher latent halten. Zimmermann: Da stechen Sie sozusagen in ein Wespennest der Forschung hinein. Die Frage, die schon die Antike beschäftigt, lautet: Wie verhält sich dieser dionysische Rahmen zum – mit wenigen Ausnahmen – undionysischen Inhalt der Tragödien? Unter den erhaltenen Tragödien sind die Bakchen das einzige dionysische Stück, selbst wenn man die Fragmente hinzuzieht, kommt man auf ganz wenige dionysische Stücke. Aischylos hat wahrscheinlich zwei Trilogien dionysischen Inhalts geschrieben, bei Sophokles wird es noch dünner. Da liegt ein Sprichwort nahe, welches das Publikum bei verschiedenen Anlässen ausgerufen haben soll: ouden pros ton Dionyson – »das hat

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doch gar nichts mit Dionysos zu tun«.4 Schon der antiken Philologie fiel also auf, dass der dionysisch-kultische Rahmen überhaupt keinen Widerhall im Inhalt der Stücke hat. Bis vor wenigen Jahrzehnten prägte diese Sicht auch die Forschung. Jüngere Forschungsansätze, vor allem aus der amerikanischen Altphilologie, gehen hingegen davon aus, dass das Dionysische sich in transgressiven Strukturen widerspiegelt, die in praktisch jeder Tragödie thematisiert werden, also die Zerstörung des Hauses einer Familie, des Staates, aber auch in Transgressionen von Gegensätzen wie männlich und weiblich, alt und jung, die in der Komödie sogar noch besser zu greifen sind. Das Dionysische der Tragödie ist somit zwar nicht auf der ersten Textebene zu finden, wohl aber in ihren Strukturen – es hat sich sozusagen in der Tragödienunterschicht als bipolare Spannung erhalten. Gebert: Solche Polaritäten sind Spannungen der Figurenbeziehung, des Plots, im weitesten Sinne auch der Semantik. Begegnen sie aber auch auf der Ebene der ästhetischen Formen im engeren Sinne? Im Hinblick auf die Tragödie denke ich vor allem an Rhythmus und Metrum oder an das Verhältnis von Narrativität und Liedvortrag, die ja in unterschiedlicher Weise mit Präsenzoder Repräsentationseffekten verbunden sind. Wo wäre weiter zu suchen, wenn wir dieses subkutan Dionysische greifen wollen, das Sie ansprechen? Zimmermann: Im formal-ästhetischen Bereich. Es gibt Chorlieder, die ganz bewusst dionysisch sind. In der Antigone (V. 1135–1152) stellt sich der Chor in einem Lied vor, als Mänaden ins Gebirge auszuschweifen. Auf der Textebene, d. h. im Gegensatz von Chorliedern, die oft auch mit dem Dionysoskult in Verbindung stehen, und gesprochenen Partien, wird die Spannung im Rhythmischen greifbar. Was uns aber fehlt, ist die Musik, das können wir leider nicht mehr richtig nachvollziehen. Praktisch jede sogenannte lyrische Partie wurde gesungen, die Chorlieder ebenso wie Monodien, Solopartien der Schauspieler, die in lyrischen Maßen komponiert sind. Begleitet wurden sie durch den Aulos, ein oboenähnliches Blasinstrument, der in originärer Verbindung zum Dionysoskult steht. Ich würde sogar sagen, dass die Musik sozusagen die ganze dionysische Atmosphäre erzeugte, die wir heute zum Teil nur in mühsamer Analyse der Metren nachvollziehen können. Es gibt ein bestimmtes Metrum, den sogenannten Ionicus, der aus dem Osten 4

Die Testimonien sind zusammengestellt bei Jürgen Leonhardt, Phalloslied und Dithyrambos. Aristoteles über den Ursprung des griechischen Dramas, Heidelberg 1991, S. 68f.

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kommt, wie schon sein Name anzeigt, und man kann feststellen, dass dieses Metrum immer in Verbindung mit Dionysischem oder Östlichem, Exotischem steht. Wir können also genau festhalten, dass hier der Rhythmus und die Musik mit dem Dionysoskult verbunden werden. Wenn man sich nun vorstellt, dass praktisch alle Lieder vom Aulos begleitet wurden und der Aulos wiederum für jeden Zuschauer im Theater eine dionysische Komponente besaß, kommt durch die Musik eine dionysische Grundspannung in die Tragödie hinein. Gebert: Das Sprichwort, das dionysische Gehalte in der Tragödie vermisste, war also auf musikalischem Ohr taub. Zimmermann: Ja, ich würde sagen, es ist ein typisches Philologensprichwort. Bereits Aristoteles sagt, dass er am liebsten die Stücke lese. Musik gehört für ihn nicht zur Tragödienanalyse dazu, da Inszenierung und Musik unkünstlerisch oder unkünstlich seien. Das heißt, er ist eigentlich schon Literaturwissenschaftler wie wir, er liest, er analysiert und blendet die Musik aus. Aus dieser Zeit stammt auch das Sprichwort, denke ich – einer Zeit, die analysiert, die Listen mit Dramentiteln anfertigt und feststellt, es gebe viel zu wenig dionysische Titel, obwohl das Ganze dionysisch ist. Man blendet einfach die Aufführungssituation und ihre musikalischen Dimensionen aus.

II. Götter am Kranhaken: Zum tragischen Bühnengeschehen zwischen Präsenz und Repräsentation Gebert: Wenn wir von Pendelbewegungen der Tragödie zwischen mythischer Distanzierung und historisch-politischer Nahreferenz ausgehen, sollten wir auch auf den Umstand zu sprechen kommen, dass die Tragödie in bemerkenswertem Maße menschliches Handeln und historische Ereignisse zum Gegenstand wählt, aber nur in wenigen Fällen Götterhandlungen auf die Bühne bringt. Man könnte darin einerseits eine Abkehr von präsenzorientierten Mythoskonzeptionen sehen, wie sie beispielsweise die Genealogie vorstellt. So argumentiert etwa Wolfram Ette, dass genealogische Mythologie statt auf Veränderung und Geschichtlichkeit auf Wiederholung und Verwandlung ziele5 – viele Akteure der Tragödie scheinen in geschichtlich konkretisierten Handlungssituationen mit solchen Erwartungen gerade zu brechen. Andererseits stellt die Tragödie möglichen Historisierungstendenzen und der Repräsentation von aktuellen Ereignissen wirkungsvolle Präsenz5

Vgl. hierzu den Beitrag von Wolfram Ette in diesem Band.

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systeme entgegen. Die Mythisierung von politischer Zeitgeschichte haben wir bereits angesprochen; Aischylos’ Perser beziehen noch die militärische Niederlage der Perser auf die Götter, die Eumeniden führen zeitgenössische politische Reformen des Areopags auf die Anordnung der Stadtgöttin Athena zurück. Historische Veränderungen und machtpolitische Zäsuren werden als Ursprungsmythologie inszeniert. Damit ergibt sich eine spannungsvolle Differenz zwischen Göttermythologie und menschlichem Handeln, die zwar verschärft hervortritt, aber immer wieder eigentümlich gelöscht wird. Eine solche Differenzperspektive und ihre Löschung lassen sich beispielsweise in Aischylos’ Sieben gegen Theben greifen. Unterschiedliche Gründe für die Belagerung Thebens werden zunächst gegeneinander gestellt: Bestraft Apollon mit dem Leiden die Taten des Laios? Oder widerspricht das grausame Geschehen fundamental dem guten Wesen der Götter? Schließlich entscheidet sich der Chor zur konservativen Antwort: »Zu Asche und Staub, will es der Gott« (V. 323f.).6 Federt die Tragödie an solchen Stellen den menschlichen Heroismus und die Spielräume geschichtlichen menschlichen Handelns ab? Zimmermann: Bei den Sieben gegen Theben haben wir ja leider nicht die gesamte Trilogie, sondern nur das Abschlussstück. Ich denke, die Grundfrage ist: Wie verhalten sich göttlicher Wille oder göttliche Vorsehung und menschliche Schuld zueinander? Dazu wird in den Persern, wo wir es gut greifen können, eine Erklärung auf zwei Ebenen gegeben. Es gibt eine Art Schicksal, vorausgesagt im Orakel, dass die persische Großmacht irgendwann einmal zugrunde gehen wird. Dies steht zwar fest, aber der Zeitpunkt ist offen, es kann früher oder später sein. Die Schuldhaftigkeit des Menschen besteht im Fall des Xerxes darin, dass dieser durch seine charakterlichen Defizite das Schicksal beschleunigt. Wenn ein Mensch allzu viel spoude, allzu viel Eifer, Energie und Ehrgeiz an den Tag legt, so sagt jedenfalls sein Vater Dareios in einem zentralen Verspaar, dann greift auch noch die Gottheit mit an und beschleunigt den Untergang (V. 742).7 Es wird hier praktisch das Zusammenspiel der beiden Ebenen theoretisch und theologisch durchleuchtet. Die Gottheit ist zwar nicht auf der Bühne präsent, sondern allenfalls als Backstage-Figur vorhanden, aber sie ist da. Es wird nun untersucht, wenn man so will, wie der Mensch durch sein Verhalten die Gottheit provoziert und damit 6

7

Übersetzung nach Aischylos, Tragödien. Oskar Werner (Hrsg.), 6. Aufl., Düsseldorf, Zürich 2005, S. 101. »Doch ist einer selbst zu eifrig, trägt ein Gott zum Fall noch bei«; Übersetzung nach O. Werner (wie Anm. 6), S. 57.

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etwas ins Rollen bringt, was sonst vielleicht erst sehr viel später eingetreten wäre. Auch im Agamemnon, vor allem im Zeus-Hymnos (V. 160–166), gibt es Formulierungen, dass der Mensch bei jeder Handlung, die er begeht, im Prinzip schuldig wird und dafür irgendwann einmal Leid empfangen wird. Menschliche Handlung wird also als Verletzung von Grenzen gesehen, die man vielleicht gar nicht wahrnimmt. Eigentlich eine ganz moderne Auffassung, dass der Mensch durch seine Handlungen immer etwas in Gang setzt, das eventuell auch spätere Generationen betreffen kann. Gebert: Die Ebene der Götter und die Handlungen der Menschen werden in anderen Fällen sogar ganz offen verschränkt. Halten sich die Götter bei Aischylos noch ›backstage‹ auf, so könnte man sagen, dass sie bei Sophokles und Euripides teilweise ›Frontstage‹-Positionen erhalten. Im Aias etwa tritt Athena auf, um gewissermaßen per Botenbericht für den Zuschauer zu repräsentieren, was uns weder die Figur in ihrem Wahnsinn selbst noch irgendeine andere Figur erzählen würde, weil eben für die menschlichen Akteure noch aufzuklären bleibt, was sich zugetragen hat. Kommt dies nicht – ungeachtet der ›Frontstage‹-Position – einer Depotenzierung von Götterfiguren gleich, wenn die Göttin zum virtuellen Repräsentationsmedium wird und zu Beginn des Stücks lediglich einen Botenbericht in gehobenem Dienst zu liefern hat? Zimmermann: Ich denke, wir haben hier Metatheater pur. Es ist Athena, die Odysseus als implizitem Zuschauer im Prinzip schon zu Beginn das Spiel im Spiel zeigt. Ähnlich wie bei Euripides in den Bakchen wird am Beispiel des Aias vorgeführt, wozu es führen kann, wenn man gottgesetzte Grenzen übertritt. Odysseus erweist sich hier gleich zu Beginn als gelehriger Schüler und sagt: Ich sehe schon, wenn man stets die sophrosyne, das rechte Maß, einhält, ist es am besten (V. 125f.). Und er weigert sich sogar, das zu tun, wozu ihn Athena zu provozieren versucht: Er weigert sich, aus seiner bedächtigen Position heraus diesen gestürzten Helden zu verhöhnen. Odysseus wahrt also von Anfang an sophrosyne. Athena aber besitzt damit eine doppelte Funktion, einerseits stiftet sie als göttliche Regisseurin das Spiel an, gleichzeitig demonstriert sie eben, wohin es führt, wenn man gottgesetzte Grenzen überschreitet. Gebert: Dies wäre in der Tat keine Depotenzierung. Die Möglichkeiten einer Götterfigur werden im Gegenteil sogar potenziert, wenn Athena – zumindest in den Anfangspartien – Spielleiterin und Akteurin ihres Metatheaters zugleich ist. Wenn wir über derart dramaturgische Funktionen von Götter-

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figuren sprechen, ist der Schritt zu anderen Bühnentechniken nicht weit, die ebenfalls kultische Präsenzmomente brechen, mindestens aber dramentechnisch akzentuieren. Die Bühnenmittel des attischen Theaters scheinen auf alles andere als Wirklichkeitsillusionen und Präsenzeffekte angelegt gewesen zu sein: Innenraumszenen werden über bemalte Rollwägen angezeigt, typisierte Masken halten repräsentationale Differenz bewusst. Brechen die bühnentechnischen Verfahren nicht die oft beschworene Präsenzleistung der Tragödie, wenn Euripides seine Götter am Kranhaken hereinschweben lässt? Zimmermann: … oder ein und derselbe Schauspieler mehrere Rollen, sogar widerstreitender Personen, spielt, das würde auf derselben Linie liegen. Wir betrachten es natürlich als Verfremdungseffekt im höchsten Maße, wenn sich plötzlich die Tür öffnet und etwas, was drinnen angesiedelt ist, herausrollt, wenn der Gott an einem Kran erscheint, auch die typisierte Maske natürlich, die keine individuellen Züge trägt, sondern nur Mann und Frau oder Gott und Sklaven usw. auseinanderhält. Dies ist sehr umstritten. Ich war der Meinung (oder vielleicht bin ich es immer noch), dass es Verfremdungseffekte sind, die Distanz schaffen und zur Reflexion anregen – fast schon im Sinne Schillers, dass der Zuschauer durch solche Poetisierung zur Reflexion über das tragische Geschehen gebracht wird. Auf der anderen Seite habe ich jetzt kürzlich wieder durch eigene Theatererfahrung gemerkt, dass man diesen Verfremdungseffekt eigentlich gar nicht realisiert, wenn wir etwa in modernen Theatern die Drehbühne haben, die ja eigentlich genauso Verfremdungseffekt und unrealistisch ist. Es ist Theater, das wird einem ganz klar gemacht. Aber es führt nicht unmittelbar zur Reflexion darüber. Man erlebt es mit, aber der nächste Schritt, der ist nicht unbedingt zwingend. Gebert: Werden aber nicht mit der Theatermaschinerie gerade die Zeichenhaftigkeit, die künstlichen, auch technischen Aspekte des Geschehens markiert? Zimmermann: Doch, natürlich. Die Zeichenhaftigkeit und das Theatralische werden damit unterstrichen – eben dass es nicht die Realität, sondern Theater ist. Dies zeigen auch die Parodien in der Komödie des 5. Jahrhunderts, wo genau durch den Einsatz dieses Wagens und durch den Einsatz des Krans die Tragödie parodiert wird, man sich also über tragische Lösungen oder Scheinlösungen lustig macht. Damit werden typische Theaterelemente aufgegriffen, die zur Tragödie gehören und diese von der Realität unterscheiden. Und Euripides spielt wiederum damit, wenn er Theatermaschinen ganz

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bewusst in der Handlungskonzeption einsetzt, um beispielsweise Brüche oder doppelte closure einzuführen. Gebert: Denken Sie dabei an Medeia? Zimmermann: An Medeia und vor allem an Orestes. In der Medeia wird gezeigt, dass Medeia die Rolle einer Göttin innehat, doch wird das Ganze umgedreht: Sie kommt nicht von oben herunter, sondern wird durch die Maschine nach Athen abtransportiert. Im Orestes haben wir ein doppeltes Ende. Zum einen ein Ende, das ganz realistisch schließt: Orest nimmt Hermione als Geisel und hat damit eigentlich durchgesetzt, was er will; er könnte nun von deren Vater Menelaos die Freilassung erhalten. Obwohl er dies erreicht hat, gibt er den Befehl, den Palast, in dem er sich verschanzt hat, anzuzünden und damit selbst zusammen mit der Geisel den Tod zu finden. Das wäre sozusagen das realistische Ende. In dem Moment aber erscheint der deus ex machina Apollon und bringt alles zum Happy End, was natürlich grotesk wirkt: Die Geisel heiratet ihren Peiniger, Orest heiratet Hermione, was natürlich im Mythos so vorgegeben ist, aber nun durch dieses harsche und abrupte Aufeinanderprallen dieser beiden Ebenen ganz deutlich ins Theater versetzt. Das Ganze wird somit in ein Happy End gebracht, das eigentlich keines ist, d. h., Euripides setzt die Theatermaschine ganz bewusst ein, um Brüche zwischen Theater, Theatersemantik und Realitätsmöglichkeiten anzuzeigen.

III. Zur Theorie der griechischen Tragödie Gebert: Eine zweite Fragerichtung des Bandes gilt theoretischen Perspektiven auf Mythosdiskurse zwischen Präsenz und Repräsentation. Schon antike Beschreibungen der Tragödie werfen hier Fragen auf, die wir ansprechen sollten. Ich denke hier zunächst an Aristoteles, der den Mythosbegriff und die Tragödie systematisch auf den Begriff der Nachahmung (mimesis) verpflichtet. Zugleich aber – und das mag aus heutiger Sicht überraschen – blendet er alle Dimensionen von Fest und Ritual aus, welche die Tragödie mit Funktionen von Präsenz verbinden. Aristoteles schreibt als unmittelbarer Zeitgenosse dieser Praxis. Wie ist dann zu erklären, dass er diese Dimensionen so radikal ausschließt? Zimmermann: Er verfolgt einen ganz anderen Ansatz, würde ich sagen, einen Ansatz, der bis weit ins 20. Jahrhundert hinein gewirkt hat. Er versteht die Tragödie (und da ist er im Prinzip strukturalistischer Literaturwissenschaftler) als Text, der eben Mimesispraxis ist, also eine Handlung nachahmt, ab-

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bildet. Deshalb untersucht er die Tragödien unter dem Aspekt, wie diese Handlungsstrukturen gebaut sind – schlecht oder gut –, welches die Elemente sind, die diese Handlung auszeichnen, Peripetien etc. Er blendet also zunächst einmal die Rezeption im Großen und Ganzen aus. Ihn interessiert eigentlich die Machart, wenn man das so sagen darf, die Aufführung hingegen nicht, mit Ausnahme der Katharsisthematik. Darum sagt er auch, Inszenierung und Vertonung seien auszublenden. Diese könnten zwar Emotionen auslösen und zur Katharsis beitragen, aber sie verstellten den Blick dafür, ob ein Stück gut oder schlecht gebaut sei. Das ist auch vollkommen richtig: Eine gute Inszenierung kann überdecken, dass der Text eigentlich schlecht konstruiert ist. Aristoteles kommt es darauf an, ob ein Text nach den Prinzipien der Wahrscheinlichkeit, der Notwendigkeit gebaut ist, und er weist immer wieder darauf hin, dass man dies übersehe, wenn die Inszenierung gut ist, die Musik alles übertönt. Deshalb sollte man eigentlich Texte, wie wir das ja auch als Philologen tun, am Schreibtisch analysieren und eigentlich nicht im Theater ansehen. Und trotzdem kann Aristoteles in gewisser Weise das Kultische nicht ganz ausblenden. Er hat immerhin diesen einen Satz, dass die Tragödie sich aus dem Dithyrambos entwickelt habe, und das wirft immerhin einen Blick auf das Kultische. Und auch die rezeptionstheoretische Konzeption der Katharsis weist ins Kultische, ins Dionysische und Medizinische hinein. Jedenfalls bezieht Aristoteles an dieser Stelle die Theaterrealität mit ein, wenngleich er im Folgenden auch darauf hinweist, dass sich die Katharsis bei einem wirklich guten Stück auch bei der Lektüre einstellen kann und muss. Gebert: Wie begründet Aristoteles, dass eine Lektüre Katharsis auslösen könne? Immerhin sind ja unterschiedliche Rezeptionshaltungen gefordert, wenn man einer Performance beiwohnt oder aber einen Text liest, was vielfältige Optionen der Wiederholung und Re-Präsentation einschließt. Zimmermann: Ja, das ist ein erhebliches Problem. Bei der Theateraufführung gibt es verschiedene Identifikationshaltungen, die man gegenüber dem tragischen Helden einnehmen kann, was je nach Stärke der Identifikation zu einem Mitfiebern führt. Im Hinblick auf die Auslösung von Emotionen ist bis heute nicht geklärt, was die Katharsis dieser pathemata genau bedeutet (Poetik 1429 b27f.), ob diese gereinigt oder ganz ausgelöscht werden. Zwei Positionen stehen sich in der Forschung konträr gegenüber. Der einen Richtung zufolge kommt das Kultische mit hinein, weil der Begriff Katharsis aus dem Dionysoskult stammt und mit diesem zusammenhängt. Die andere

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Richtung sieht darin sozusagen eine literarisierte Geschichte: Wenn man bei der Lektüre Katharsis erleidet, hieße dies literaturwissenschaftlich, dass man sich beim Lesen mit etwas identifiziert, womit eine gewisse Spannung in einem wächst. Aristoteles wählt als Beispiel König Ödipus, der ja in gewisser Weise eine Kriminalhandlung bietet. Entsprechend wird in der Interpretation darauf hingewiesen, dass man sich in eine Spannung versetzen könne und am Ende, nach der Lektüre, aufatmet oder gerührt oder entsetzt ist. Das wäre dann schon eine metaphorische Verwendung des Begriffs Katharsis: kein unmittelbares Theatererlebnis mehr, sondern ein Lesevergnügen. Gebert: Es gibt andere theoretische Reaktionen, die gerade dem Theatererlebnis entlastende Funktionen zusprechen – Thukydides (Geschichte des Peloponnesischen Krieges 2, 38) beispielsweise vermerkt, dass man sich bei den Dionysien von der Mühsal des Alltags erholen könne … Zimmermann: … bei Festen generell. Aber auch bei den Dionysien. Gebert: Hätten wir damit nicht schon vor Aristoteles Hinweise auf eine Perspektive, welche die Tragödie von ästhetischer Distanz bzw. von ihrer Entpragmatisierungsleistung her anpeilte? Zimmermann: Leider erwähnt er die Tragödie in diesem Zusammenhang nicht, aber natürlich spielt die Tragödie mit hinein. Feste, sagt er, würden den Menschen Entspannung von der Hektik des Alltags verschaffen und sozusagen Ruhephasen im Jahreskreislauf einrichten. Wenn man die Dionysien hinzunimmt, würde damit der Tragödie eine ästhetische Funktion, eine Freizeitfunktion zugesprochen, die tatsächlich eine andere Richtung einschlägt, als Aristoteles vorgibt. Bei Aristoteles ist das Ganze mit dem Katharsisbegriff eher kultisch gesehen. Thukydides meint wirklich Entspannung, das ist bei ihm ganz pragmatisch gesehen: Das Jahr ist in Tage der Arbeit und Tage der Entspannung gegliedert. Die Tage der Entspannung sind die Feste und damit auch die Dionysien. Gebert: Mythos- und tragödientheoretisch stärker belasten darf man sicherlich Platon. Interessant scheinen mir insbesondere die Voraussetzungen der Dramenpraxis, vor deren Hintergrund Platon schreibt: An der Wende zum 4. Jahrhundert beginnt sich die Tragödie deutlich aus pragmatischen Kultbindungen zu lösen; seit 386 sind Tragödien nicht länger auf singuläre Aufführung beschränkt, sondern dürfen wiederholt werden. Auf diese Veränderungen von Präsenzbindung und Repräsentationscharakter von Mythen in

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tragischer Form antwortet auch die Theorie – erstaunlicherweise mit höchst unterschiedlichen Ansätzen. Aristoteles nimmt eine schon fast formalästhetische Position ein, indem er das Lesedrama favorisiert. Zuvor hatte Platon eine erstaunlich konservative Position bezogen, die sich der Wahrheitskritik des Mythos und seiner Referenz verschreibt. Ich bin unschlüssig, ob wir derart unterschiedliche Beschreibungsansätze ausschließlich der philosophischen Auseinandersetzung zurechnen sollten. Zunächst einmal scheint es mir ein interessanter Umstand zu sein, dass die angesprochene Transformationsphase der Tragödie so unterschiedliche Theoriebewegungen hervorruft. Zimmermann: Ich denke, dass Platon eigentlich einen doppelten Ansatz zu seiner Tragödienkritik hat. Einerseits den erkenntnistheoretischen, dass er die Mythenkritik generell als Literaturkritik betreibt, weil die Literatur als Abbild, als mimesis von der Realität zwei Schritte von der Idee entfernt ist, d. h., sie ist eine Stufe schlechter, als überhaupt die Welt der Phänomene schon ist; es ist dadurch eigentlich unerheblich, ob man sich damit beschäftigt oder nicht. Das Andere ist, was schon im 5. Jahrhundert ansetzt, dass Platon – eben anders als Aristoteles – die Tragödie stark von ihrem Aufführungszusammenhang her sieht und unter rezeptionstheoretischen Aspekten analysiert. Tragödienaufführungen lösen Affekte aus, darin kommt er dem Sophisten Gorgias und seiner Helena nahe, der schon ein ähnliches Modell entwickelt hatte. Affektauslösung ist jedoch nach Platon schlecht, weil damit das seelische Gleichgewicht durcheinander kommt: Nicht die Vernunft, das logistikon, regiert mehr, sondern die Affekte gewinnen die Oberhand. Wenn das Gleichgewicht im Individuum gestört ist, ist es damit auch in der Gesellschaft gestört. Das wäre die staatstheoretische Erklärung, warum er Tragödienaufführungen aus seinem Staat verbannen will. Gebert: Das scheint mir innerhalb des philosophischen Programms Platons plausibel. Trotzdem kann auffallen, dass Platon den Mythosbegriff eng mit der Frage nach wahrheitsfähiger Referenz verknüpft, während sich die Tragödie nicht mit wahrem, wirklichem Geschehen, sondern mit allgemeinen Handlungsmöglichkeiten beschäftigt. Im veränderten Kontext des Mythosdiskurses erscheint Platons Mythenkritik mit ihrer Zentrierung auf wahre Rede geradezu reaktionär. Zimmermann: Ich glaube, Platon setzt anders an. Er kommt wahrscheinlich vom Erziehungsgedanken her, dem paideia-Aspekt, dass im 5. Jahrhundert Homer und dann auch die Dramatiker für sich in Anspruch nahmen, die

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Menschen zu erziehen. Auch die Tragödie erhebt diesen Anspruch, wie wir aus Komödienstellen schließen können, wo darauf eingegangen wird, die Tragödie erziehe die Athener im Theater. Das wird bei Aristophanes in den Fröschen (V. 1054f.) ganz klar gesagt: Was für die Kinder die normalen Lehrer sind, sind für die Erwachsenen die Dichter, also die Tragiker. Und hier setzt Platon an, indem er argumentiert, dass das, was man auf dem Theater sieht – skurrile, grausame Handlungen –, nicht erzieherisch wirken könne, aus dem doppelten Grund, den wir gerade angesprochen haben, sowohl unter erkenntnistheoretischen Aspekten als auch aufgrund der Auslösung von Affekten. Es muss dafür, wenn man so will, eine andere Form des Theaters gefunden werden, die er nun mit seinen Dialogen schafft, die ja der Form des Dramas nachgebildet sind. Ich denke, es ist bei ihm ein Verdrängungsprozess, dass er auf Basis seiner Philosophie eine neue Art von Theater schaffen will, ein intellektuelles Theater, mit dem er die traditionellen Tragödienaufführungen verbannen und durch eine Art von philosophischem Theater ersetzen will, das auch wieder Mythen enthält. Auch die platonischen Dialoge enthalten eine Vielzahl von Mythen: Es sind neue Mythen, die von ihm erfunden oder für seine Handlungsführung verändert wurden. Der Mythos, wie er bei Homer und in der Tragödie zum Vorschein kommt, ist abzulehnen, aber die Form des Mythos, die er propagiert, kann sogar einen viel schnelleren Zugang zur Wahrheit schaffen. Mythos ist so gesehen Abkürzung zur Wahrheit. Den Aspekt des Allgemeinen, dass also Tragödien allgemeine Wahrheiten verkünden können, sieht Platon nicht oder er verschweigt es. Das ist dann die aristotelische Auffassung. Für Platon hat das, was man auf der Bühne sieht, keinen weiteren Sinn; es ist grausam, es zerstört und verstört und ist gerade deshalb abzulehnen. Was Platon nicht sieht (oder jedenfalls nicht sehen will, weil es erkenntnistheoretisch und rezeptionstheoretisch nicht ins Konzept passt), ist, dass Tragödien allgemeine Grundsituationen durchspielen und damit durchaus etwas zur Wahrheitsfindung oder zur Selbsterkenntnis beitragen können. Hier setzt, wenn wir jetzt einen gewaltigen Sprung machen, Schiller an, der wie Aristoteles vor Platon die Tragödie zu retten versucht, indem er Mittel der Tragödie wie den Chor aufweist, die als Verfremdungsmittel Distanz schaffen und zu einer Reflexion führen, die durchaus philosophisch ist.8

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Vgl. Friedrich Schiller, »Über den Gebrauch des Chores in der Tragödie«, in: Sämtliche Werke. Peter-André Alt/Albert Meier/Wolfgang Riedel (Hrsg.), Bd. 2, München 2004, S. 815–823.

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Gebert: Sie bringen Schillers Plädoyer für den Chor ein, und ich denke, wir könnten weitere Positionen hinzufügen, die unterstreichen, dass der Chor um 1800 vor allem als Repräsentationsmedium diskutiert wird. Schiller sieht im Chor zwar einerseits eine »sinnlich mächtige Masse, welche durch ihre ausfüllende Gegenwart den Sinnen imponiert«, spricht dem Chor aber andererseits als höchstes Verdienst zu, »Reflexion« auf der Bühne zu repräsentieren und die »blinde Gewalt der Affekte« zu brechen, indem er Täuschung aufhebe.9 Erst dadurch werde der Chor für den Zuschauer zum Medium der Freiheit. Auch August Wilhelm Schlegel geht es vor allem um Repräsentationsfunktionen, wenn er vom Chor als »idealisiertem Zuschauer« spricht.10 Drängt die Theoriebildung zum Tragödienchor in der Neuzeit damit nicht etwas beiseite? Zimmermann: Den Präsenzcharakter, ja. Daher schließt Schiller auch so stark an Euripides an; es ist natürlich typisch euripideisch, die Präsenz des Chores zugunsten von Repräsentation zurückzudrängen. Dies kann man mit Nietzsche weiterdenken, der wieder die Präsenz des Chores stark macht und Schlegels Vorstellung vom »idealisierte[n] Zuschauer« attackiert. Das ist dann eine Rückkehr zum aischyleischen oder sogar vor-aischyleischen Chor bei Nietzsche, dem diese Gegenbewegung durchaus bewusst war: zurück zum ursprünglichen Chor, der ganz präsent ist und eben auch diese affektive Erschütterung verursachen kann. Gebert: Dies schließt für Nietzsches Geburt der Tragödie auch scharfe Kritik an Euripides ein … Zimmermann: …, was im Prinzip vollkommen richtig ist. Nietzsche hat richtig gesehen, dass das Kultische bei Euripides stark zurückgedrängt und selbst im dionysischen Stück der Bakchen zwar präsent ist, aber eben nicht als Kult zu verstehen ist … Gebert: …, sondern als Künstlichkeitseffekt. Diese Spannung zwischen Kult und Kunst beschäftigt spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem Ritualtheorien, die Mythos und Tragödie in enger Verbindung zu pragmatischen Kontexten sehen. Mythen begleiten demnach rituelle Handlungen 9 10

Schiller, »Über den Gebrauch des Chores in der Tragödie«, S. 821f. Vgl. August Wilhelm Schlegel, »Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur« [5. Vorlesung], in: Kritische Schriften und Briefe. Edgar Lohner (Hrsg.), Bd. 5, Stuttgart 1966, S. 64–66.

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oder gehen aus diesen hervor. Das Verhältnis von Ritual und Mythos steigt zum Leitmodell für eine ganze Reihe von Wissenschaften auf, nicht nur für die Altphilologie, sondern zunächst einmal für Anthropologie und Religionswissenschaft. Bevorzugt wurde dafür auf die griechische Tragödie zurückgegriffen, um Spuren einer magischen Kulturphase zu rekonstruieren.11 Auch im 20. Jahrhundert und bis heute prägen Ritualtheorien des Mythos die Wahrnehmung der Tragödie: Gregory Nagy sieht in ihr Belege für die performativen Züge des Mythos,12 René Girard für die Verschleierung von Opferritualen,13 Walter Burkert für die eher offene Symbolisierung von menschlicher Aggression und Tötungsriten.14 Die Karriere des Ritualparadigmas reißt also nicht ab,15 doch hat die Unterscheidung von Ritual und Mythos vielfältige Umbesetzungen erfahren. Was ist davon aus Perspektive der altphilologischen Forschung haltbar? Wie schätzt die aktuelle Debatte die Bezüge der Tragödie zum Ritual ein? Zimmermann: Es ist eine Forschungsrichtung, die durch Burkert im Prinzip wieder belebt wird. Burkert steht in dieser Tradition, die Sie gerade angesprochen haben, noch ergänzt durch die Ethologie, also Konrad Lorenz und andere Forschungen, die er mit aufgenommen hat. Sein Buch Homo necans und dessen These, dass die Symbolisierung von Gewalt sich im Ritual ausdrückt und die Tragödie dies in künstlerischer Form wiederum zum Ausdruck bringt, sind seit den 1970er Jahren sicherlich ein ganz wesentlicher Fokus gewesen. Das ist eine Richtung, die immer noch aktuell ist, denn es gibt eine ganze Reihe von Burkert-Nachfolgern, gerade auch in Basel mit Anton Bierl, der diese Richtung der ritualistischen Deutung verfolgt;16 es

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Vgl. u. a. William Smith, Lectures on the Religion of the Semites, Edinburgh 1889; James G. Frazer, The Golden Bough. A Study in Magic and Religion, 3. erw. Aufl., London 1905–1915; Jane E. Harrison, Ancient Art and Ritual, New York, London 1913; Gilbert Murray, »Excursus on the Ritual Forms Preserved in Greek Tragedy«, in: Jane E. Harrison (Hrsg.), Themis. A Study of the Social Origins of Greek Religion, 2. Aufl., Cambridge 1927, S. 341–363. Vgl. Gregory Nagy, »Can Myth be Saved?«, in: Gregory A. Schrempp/William F. Hansen (Hrsg.), Myth. A new Symposium, Bloomington 2002, S. 240–248. Vgl. René Girard, La violence et le sacré, Paris 1972. Vgl. Walter Burkert, Homo necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen, Berlin, New York 1972. Dies belegten kürzlich etwa die Beiträge zur Sektion »Kult und Ritual« in: Ueli Dill (Hrsg.), Antike Mythen. Medien, Transformationen und Konstruktionen. Fritz Graf zum 65. Geburtstag, Berlin, New York 2009. Vgl. Bierl, Dionysos.

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gibt in Amerika die ritualistische Poetik.17 Das ist eine ganz starke Forschungsrichtung, die immer noch weiter entwickelt wird, indem man diese rituellen Strukturen nicht nur in der Tragödie, sondern auch in der Chorlyrik und selbst in der Prosa nachzuvollziehen versucht. Die gesamte archaische Literatur wird damit unter dem Aspekt des Rituals untersucht. Daneben wird aber immer noch die starke Gegenposition vertreten, die das Ritualistische ganz abstreitet und Texte eher unter ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet. Dieser – eher deutschen – Richtung zufolge lässt Literatur das Ritual hinter sich und bringt eine weitere, intellektuellere Stufe zum Ausdruck.18 Rein forschungsgeschichtlich bestimmend ist momentan die ritualistische Deutung, die sehr stark ist für die archaische und klassische Periode. Kompromisslösungen, wie ich sie vorhin schon einmal ansprach, bestehen darin, dass man die Tragödie als Überwindung des Rituals betrachtet, dessen Spuren und Relikte aber präsent bleiben. Gebert: Das Interessante dieser Theoriediskussion zum Verhältnis von Ritual und Mythos scheint mir darin zu liegen, dass alle Beiträge um Fragen der Repräsentation kreisen: Welche Art von Zugänglichkeit zu historischen Sozialwelten und ihren religiösen Praktiken gewähren die Tragödie und andere überlieferte literarische Formen? Welche Modi der Distanznahme entwickeln sie? Es geht im Kern um Repräsentationstheorien, die kontrastiv gegeneinander stehen. René Girard hat argumentiert, dass Mythen, also auch die Mythen der Tragödien, reale Aggressionssubstrate von Gesellschaften verschleiern, dem Blick entziehen. Die Burkert-These, die Sie erwähnt haben, steht dem ja sozusagen diametral entgegen: Der Mythos der Tragödie handele tatsächlich von Opfergewalt, zeige menschliche Aggression sogar noch viel unverhüllter als Rituale.19 Zimmermann: Ja, Burkert sieht dann auch in typischen Elementen der Tragödie wie dem Klagegesang Relikte dieser ursprünglichen rituellen Handlungen. Und wie gesagt: Eine rein literaturwissenschaftliche Auffassung wäre, in der Nachfolge des Aristoteles, Mythos mit Plot gleichzusetzen und das Kultische ganz auszublenden. Das gibt es natürlich auch. 17 18

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Vgl. Dimitrios Yatromanolakis/Panagiotis Roilos, Towards a Ritual Poetics, Athen 2003. Vgl. Scott Scullion, »›Nothing to Do with Dionysus‹. Tragedy Misconceived as Ritual«, in: Classical Quarterly 52/2002, S. 102–137. Vgl. Burkert, Homo necans, S. 44: »Verhaltensweisen zwischenmenschlicher Aggression sind in der Jagd und dann im Opfer aufs Tier abgelenkt: der Mythos benennt das Opfer menschlich«.

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IV. Die Tragödie als literarische Gattung Gebert: Damit erinnern Sie an eine wichtige Perspektive, die wir erst ansatzweise berührt haben. Die Leitfrage des Bandes entspringt ja einem genuin literaturwissenschaftlichen Interesse, nämlich zu untersuchen, inwiefern Diskurse über Mythos mit ihren Konzepten von Präsenz und Repräsentation die Wahrnehmung von Literarizität prägen. Auch die Tragödie ist in Mythosdiskurse eingebunden. Damit stellt sich eine einfache, aber keineswegs triviale Frage: Ist die Tragödie überhaupt eine literarische Gattung? Zimmermann: Das ist eine schwierige Frage. In der Antike ist der Gattungsbegriff eine ganz schwierige Angelegenheit. Eigentlich erst ab Aristoteles ist feststellbar, dass man literarische Gattungen in diesem Sinne unterscheidet. Provozierend würde ich sagen: Gattung bestimmt sich vom 8. bis zum 5. Jahrhundert allein durch den Aufführungsanlass. Wenn ein Stück anlässlich der großen Dionysien am dritten Tag aufgeführt wird, ist es per Definition eine Tragödie, ganz gleich, wie sie aussieht, genauso wie ein Chorlied, das anlässlich eines Dionysosfestes aufgeführt wird, ein Dithyrambos ist. Allein durch den berühmten ›Sitz im Leben‹ wird dies definiert. Das Problem der Gattung kommt erst auf, wenn der Aufführungsanlass zurücktritt, der Sitz im Leben verloren ist. Erst jetzt müssen sich Philologen bei ihrer historischen Arbeit mit Texten oder Bibliothekare, die Kataloge schreiben, die Frage stellen, was es eigentlich für ein Text ist. Gebert: Und dies tritt ja spätestens in hellenistischer Zeit auch ein. Für Sophokles und Euripides besitzen wir aus dieser Zeit kleine Paratexte, die den Inhalt der jeweiligen Tragödie zusammenfassen und kommentieren. Wären dies Spuren eines Rezeptionsprozesses, der auf die Tragödie eigentlich schon als literarisiertes Phänomen schaut, das man kommentieren, auslegen, kritisieren kann? Zimmermann: Das gibt es für Aischylos sicher auch. Im Prinzip wurden ab dem Hellenismus die Ausgaben von dieser klassischen Trias immer so hergestellt, dass man diese kleinen Einleitungen schrieb. Klar, das ist praktisch schon das Endprodukt eines Literarisierungsprozesses. Es beginnt aber, wie gesagt, schon früher, um die Wende zum 4. Jahrhundert herum, dass die Frage des Sitzes im Leben in den Mittelpunkt gerät und bei Platon eine konservative Reaktion hervorruft. In seinen Nomoi (700 a) reflektiert er darüber, dass jeder Sitz im Leben eine bestimmte Gattung habe: der Dithyrambos Dionysos, der Päan Apollon etc. Platon kritisiert an der Moderne – seiner

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Moderne, dem 4. Jahrhundert –, dass diese den Sitz im Leben ausblende und neue Gattungen schreibe, Mischungen produziere, dass man Päane mit Dithyramben, Apollon mit Dionysos mischt etc. Das kann man eigentlich erst, wenn man den Sitz im Leben nicht mehr berücksichtigt. Gebert: Platon schreibt in diesem Zusammenhang nur über lyrische Formen. Aber vielleicht können wir diese Perspektive für die Tragödie mit anderen Daten ausfüllen, die auf die literarische Realität des Dramas verweisen. Dass etwa Tragödien in dieser Zeit wieder aufgeführt werden können, also das Prinzip der Einmaligkeit fällt, stimuliert neue Formen, die für literarische Kommunikation einschlägig sind: Kopierbarkeit, Zitierbarkeit, Repräsentierbarkeit. Zimmermann: Ästhetisierung einfach. Es ist eigentlich Theater im modernen Sinn, dass man ein Stück zwanzigmal sehen kann. Gebert: Aber ist das eine Literarisierungsschwelle? Zimmermann: Es ist Literarisierung und der Weg zu einem Theater in unserem Sinne. Der kultische Rahmen bleibt zwar immer noch das Dionysosfest, aber wenn man nun eben bei dem großen athenischen Dionysosfest jedes Jahr die Medeia sehen kann, wie Sie gerade sagten, dann ist der kultische Charakter stark in den Hintergrund getreten. Es ist einfach ein Theater im modernen Sinne, d. h., die Texte werden zu Literatur, die man auch ästhetisch durchleuchten kann, weil sie jedes Jahr wieder aufgeführt werden und nicht nur auf der Bühne, sondern in literarischer Form als Text vorhanden sind. Gebert: Betrachtet man die spätere Rezeption der Tragödie in der Neuzeit, so fallen nicht nur Literarisierungseffekte auf, sondern auch Versuche, gezielt nicht-repräsentationale Momente wiederzubeleben. Die Unterscheidung von Präsenz und Repräsentation erfasst sozusagen die Gattung selbst. Solche Rückwendungen aber setzen Abstand, wenn nicht gar Zäsuren zum Leitmodell der griechischen Tragödie voraus. Wo lassen sich – wenn es sie gibt – solche Zäsuren erstmals greifen? Zimmermann: Im Römischen. Im Griechischen können wir es leider nicht genau nachvollziehen, weil uns die Texte fehlen. Es gab zwar noch Tragödienaufführungen, aber wir besitzen keine aussagekräftigen Texte mehr. Wir haben im Griechischen dann eine Richtung, dass die Tragödie tatsächlich als Literatur wahrgenommen wird, da man einfach Tragödien schreibt, die nicht

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mehr für die Aufführung gedacht sind. Es waren Lesetexte, aber was genau diese bezweckten, können wir nicht genau sagen, weil wir nur wenige Fragmente besitzen. Gebert: An welche Beispiele denken Sie? Zimmermann: Es gibt in der augusteischen Zeit einige Autoren, die griechische Tragödien als literarische Fingerübung schrieben. Man hat Tragödien geschrieben, um sich literarisch zu betätigen, aber das war nicht fürs Theater gedacht. Interessant ist im römischen Bereich der Fall Seneca, der die Tragödie als etablierte Theatergattung aufgreift, dann aber zur Vermittlung anderer Inhalte, in diesem Fall philosophischer Inhalte, nutzt. Ob die Stücke überhaupt je aufgeführt wurden bzw. aufführbar waren oder ob es praktisch nur Lesestücke waren bzw. Rezitationsdramen, die stoische Lehre vermitteln sollten, ist sehr umstritten. Jedenfalls geht es nicht um die Wiederbelebung des Kultes, sondern es ist noch ein weiterer Schritt der Entfernung vom Kult. Gebert: Das Spannungsverhältnis von kultischer Präsenz und dramatischer Repräsentation ist bei Seneca also definitiv an ein Ende gekommen. Zimmermann: Definitiv. Die Frage stellt sich schon für die römischen Tragiker der früheren Zeit, des 2. und 1. Jahrhunderts v. Chr., die ja auch griechische Dramen aufgenommen haben. Es gab zwar auch einen kultischen Rahmen, aber ich denke nicht, dass eine kultische Präsenz nachvollziehbar war. Es sind eher Rezeptionsphänomene, deren Künstlichkeit auch durch die Distanz zum Ausdruck gebracht wird, dass es griechische Inhalte auf römischem Boden sind. Gebert: Können wir noch weiter zurückgehen? Wenn schon Euripides archaische oder archaisierende Versmaße verwendet, die Künstlichkeitseffekte erzeugt haben müssen, wäre dann nicht schon innerhalb der griechischen Tragödientradition von Abständen auszugehen, aus denen heraus sich die Gattung literarisch repräsentiert? Zimmermann: Man kann gerade bei Euripides archaisierende Tendenzen durchaus feststellen, auf formalem, musikalischem wie inhaltlichem Niveau. Archaisierend wäre z. B. das Versmaß Ionicus, das in der Frühphase vorkommt und erst wieder bei ihm in dieser Häufigkeit auftaucht. Archaisierend ist, dass er wieder Dionysosstoffe auf die Bühne bringt. Die ganze Phase ab 410

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muss stark archaisierend gewesen sein: Euripides schreibt den Kyklops, also ein Satyrspiel, obwohl er das jahrelang nicht mehr getan hatte, und auch andere Dichter thematisieren wieder Dionysisches. Aristophanes bringt in den Fröschen sogar den Gott Dionysos selber auf die Bühne. Und auch in der Chorlyrik gibt es eine Phase starker Retrospektive, in welcher der Kult dann noch einmal als Kult, aber eben schon aus ästhetischer Distanz heraus betrachtet wird. Man könnte auch die Bakchen fast als Stück darüber betrachten, wie die Tragödie entstanden ist – als eine präaristotelische Tragödiengenese. Denn das erste Chorlied (V. 64–169) ist ein Dithyrambos, aus dem sich nach Aristoteles die Tragödie entwickelt hat. Gebert: Die Entwicklung der Tragödie zum Lesestück schließt also schon in der antiken Gattungsgeschichte die Form eines Metatheaters ein, das gezielt auf vorliterarische Stufen der Tragödien zurückgreift. Für moderne Entwicklungen wie etwa das postdramatische Theater, das sich von der Literarisierung des Textdramas absetzt und dazu teilweise Formen der Tragödie aufgreift, wären dies aufschlussreiche Bezugspunkte. Herr Zimmermann, ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch.

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Tobias Keiling

Tobias Keiling (Freiburg i. Br.)

Mimesis und Mythostheorie bei Aristoteles und Gadamer: Hermeneutische Überlegungen

Eine der wesentlichen Bestimmungen von Kunst übernimmt Hans-Georg Gadamer aus der antiken Kunsttheorie: Kunst sei wesentlich Nachahmung, « (mimesis). In einem Aufsatz von 1967, Kunst und Nachahmung, wird deutlich, welches Interesse Gadamer leitet: Nachahmung sei in der vorklassischen griechischen Philosophie als Darstellung von »Ordnung« bestimmt worden,1 und Aristoteles habe dann durch die Theorie des Wiedererkennens den entscheidenden Erkenntniswert von Nachahmung bestimmt: »Was in der Nachahmung sichtbar wird, ist also gerade das eigentliche Wesen der Sache.«2 Das Repräsentationsverhältnis der Nachahmung schafft also eine ausgezeichnete Präsenz, die eigentliche Präsenz eines Sachverhalts. Eine allein negative Minimaldefinition von Repräsentation stellt diese ihrem Gegenteil gegenüber: »Unmittelbarkeit ist nicht repräsentierbar.«3 Gadamers Überlegungen führen da weiter. Präsenz, so könnte man diese kommentieren, ist keine unvermittelte Präsenz, sondern in Repräsentation(en) erscheinende Präsenz – was nicht bedeutet, dass diese Präsenz Produkt beliebiger Repräsentationsakte ist. Präsenz und Repräsentation sind beide gleich1

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Vgl. Hans-Georg Gadamer, »Kunst und Nachahmung«, in: Gesammelte Werke. Bd. 8: Ästhetik und Poetik I, Tübingen 1993, S. 25–36, hier S. 35–36. Gadamers Aufnahme der antiken Nachahmungslehre ist als Abgrenzung gegenüber Heideggers Ästhetik zu werten. Zugleich spielt Gadamer »gewissermaßen Platon gegen Platon aus« (Donatella Di Cesare, Gadamer. Ein philosophisches Porträt, Tübingen 2009, S. 65). Zum platonischen und aristotelischen «-Begriff sowie zu deren Rezeption vgl. Jürgen H. Petersen, Mimesis – Imitatio – Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik, München 2000. Gadamer, »Kunst und Nachahmung«, S. 32. Mit diesem Versuch, verschiedene historische Repräsentationsbegriffe zu bündeln, schließt Dietrich Gerhardus den Eintrag »Repräsentation« in der Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie (Jürgen Mittelstraß [Hrsg.], Bd. 3, Stuttgart, Weimar 1995, S. 590f.). Gerhardus macht in seinem Artikel deutlich, dass das gemeinsame Kennzeichen der verschiedenen Traditionen und heterogenen Verwendungen des Repräsentationsbegriffs die Zeichenhaftigkeit einer Handlung ist und eine darin liegende Verweisungsstruktur. Dass Repräsentation dabei vor allem in Abgrenzung zu einer möglichen Alternative bestimmt wird, macht der zitierte letzte Satz des Eintrags deutlich.

Mimesis und Mythostheorie bei Aristoteles und Gadamer

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ursprünglich: Präsenz ist als vermittelte, genauer: als in Repräsentation(en) dargestellte Präsenz ursprünglich; Repräsentation bezeichnet die dem Erscheinenden gleichursprüngliche Erscheinungsweise, die Vermittlung oder Darstellung, in der etwas Präsenz gewinnt. Das, was in einer Repräsentation Präsenz gewinnt, ist der Gegenstand dieser Repräsentation. Gadamers Überzeugung, dass der Begriff der Nachahmung für die philosophische Ästhetik maßgeblich sei, lässt sich also in Verhältnisbestimmungen von Präsenz und Repräsentation reformulieren. Dennoch lässt sich, was mit « gemeint ist, noch einmal anders beschreiben, als Gadamer dies tut, wenn man der Bestimmung des Begriffs bei Aristoteles nachgeht: Das Wort  « (mythos) ist in dieser Bestimmung entscheidend und wirkt in die Bestimmung von « als Verhältnis von Präsenz und Repräsentation hinein.4 Aristoteles’ Poetik als Referenztext zu verstehen, liegt auch von Gadamer aus nicht fern; sein eigenes Kunstverständnis orientiert sich stark an diesem Text. Im Folgenden soll in einem ersten Schritt die Mythostheorie dargestellt werden, so wie Gadamer sie von Aristoteles aufnehmen könnte – es aber nicht tut –; die Verbindung von  « und « soll in einem zweiten Schritt durch einen Vergleich von Literatur und Bildkunst näher bestimmt werden, um dann Gadamers Mythosbegriff kritisch zu kommentieren. Dazu werde ich den hermeneutischen Begriff der Darstellung durch die Unterscheidung von Weltdarstellung und Selbstdarstellung zu fassen versuchen. Deren spezifische Differenz ist, wie ich mit Günter Figal annehme, die Gegenstandsbezogenheit von Weltdarstellungen: Darstellungen, die erkennen lassen, dass sie etwas darstellen, sind Darstellungen von Gegenständen. Sind Gegenstand und Darstellung dagegen ununterscheidbar, kann man mit Gadamer von einer Selbstdarstellung sprechen. Mythen sind solche Selbstdarstellungen, und zwar, wie Aristoteles meint, von menschlichen Handlungen. Damit übernehme ich eine Bestimmung von Mythen von Aristoteles, möchte sie aber um die hermeneutischen Überlegungen zur Darstellung er4

In seiner präzisen Rekonstruktion fasst Richard Kannicht als »fundierenden Satz« der Poetik die Definition von ›Mythos‹: »Der poetologisch grundlegende Satz der Poetik folgt aus den beiden Sätzen, daß Dichtung ›Nachahmung‹ («) sei (1.1) und daß das Objekt dieser Mimesis ›handelnde Menschen‹ (

 «) seien (1.1.2): Die Mimesis der Handlung aber ist der Mythos (  ξ « ξ « ²  « π «), und mit Mythos meine ich hier die Zusammensetzung (Organisation, Konstruktion) der Handlungen (   ). (2.1.3–3 und öfter, das Zitat: 1450a3–5) Dieser Satz ist ersichtlich der fundierende Satz einer Poetik, deren Hauptthema das Drama ist« (Richard Kannicht, »Handlung als Grundbegriff der Aristotelischen Theorie des Dramas«, in: Poetica 8/1976, S. 326–335, hier S. 328).

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gänzen und so auch Gadamer korrigieren. Denn Gadamer wählt mythostheoretisch einen anderen Weg: Mit dem platonischen Strang der antiken Mythostheorie geht er vom Mythos als einer Form unserer Überzeugungen aus, der wir so lange anhängen, wie wir an einer Tradition Anteil haben. Gadamers Mythosbegriff ist deshalb an Geschichte als Tradierungsgeschehen und an bestimmte Inhalte gebunden. Dazu möchte ich in Anlehnung an Gadamers eigene Darstellungstheorie und im Rückgriff auf Aristoteles eine Alternative vorschlagen.

I.

Aristoteles’ Bestimmung von  «

Aristoteles orientiert sich in der Poetik – wie später Gadamer in Wahrheit und Methode – an der Tragödie als maßgeblicher Kunstform, grenzt die Tragödie vom Epos ab und zieht immer wieder Vergleiche zur Malerei. Alle drei, Tragödie, Epos und Malerei, sind Weisen von «.  « meint in diesem Zusammenhang keine eigene Kunstform, Textgattung oder Inszenierung, sondern die wichtigste der Kategorien, die Aristoteles gebraucht, um die Tragödie als eine spezifische Weise der Nachahmung abzugrenzen und Kriterien für eine gelungene « zu entwickeln. I.1. Die Einheit eines  « als Maßstab ästhetischer Kritik Die Stimmigkeit der auf der Bühne stattfindenden Handlungen ist für die Beurteilung der dramatischen Qualität der Tragödie entscheidend: eine Tragödie soll eine in sich geschlossene, selbst vollendete Handlung (  λ Ρ »«) von bestimmter Größe ( «) beinhalten.5  « ist also auch das spezifische und individuelle innere Maß der Tragödie als kritisierbare künstlerische Gestaltung. Das Kriterium der Abgeschlossenheit und inneren Einheit folgt aus der aristotelischen Bestimmung von Schönheit, die sich  )6 aus dem Vergleich mit Lebendigem ergibt. Wie bei einem Lebewesen (!) 5

6

Vgl. Aristoteles, Aristotelis de arte poetica liber. Rudolf Kassel (Hrsg.), Oxford 1965, 1450 b. Die Nachahmung der Handlungen kann deshalb nicht an beliebiger Stelle einsetzen, vielmehr braucht sie Anfang, Mitte und Ende, um ein Ganzes zu sein. Auch wenn in diesen Zusammenhängen !)   besser mit ›Lebewesen‹ übersetzt werden sollte, betont Gadamer zu Recht, zwischen der Lebendigkeit des Lebewesens und dem bildhaften Sichzeigen bestehe ein mit dem griechischen Wort !)   angezeigter sachlicher Zusammenhang, der »Vorrang des Lebendigen« (HansGeorg Gadamer, Gesammelte Werke. Bd. 1: Wahrheit und Methode, Tübingen 1990, hier S. 142f.). Gottfried Boehm macht diesen Gedanken für die Bildtheorie fruchtbar; vgl. Gottfried Boehm, »Zuwachs an Sein. Hermeneutische Reflexion und bildende Kunst«, in: Ders., Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin

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und jeder anderen zusammengesetzten Sache komme es nicht nur auf die Ordnung der Elemente an, sondern auch auf deren Gesamtgröße ( «). Schönheit sei eine Sache sowohl von Ordnung ( «) als auch von Größe, da besonders kleine und besonders große Gegenstände sich der Betrachtung ( ) sperrten.7 Mit der Betrachtbarkeit ist bereits genannt, was Aristoteles’ Vergleich von Malerei und Tragödie legitimiert: ihre Bildlichkeit. Analog zur Wahrnehmung von Lebewesen und zur Erfahrung von Bildern verfehlt eine Tragödie ihre Wirkung, wenn nicht die Handlung als ganze überschaut werden kann. Für eine Tragödie sei deshalb diejenige Größe eines  « besonders gut geeignet, die durch einen Umschlag ( " #) vom Unglück ins Glück oder vom Glück ins Unglück die kathartische Wirkung der Tragödie freisetzt.8 Um der Überschaubarkeit willen sei ferner wegzulassen, was nicht notwendig zum  « der Tragödie dazugehöre. Wie bei jeder Komposition und besonders deutlich beim simultan übersichtlichen Gemälde, so ließe sich Aristoteles’ Überlegung kommentieren, lässt sich sofort sehen, ob etwas zu einer abgeschlossenen Handlung gehört, wenn man es in einer Art eidetischen Variation wegdenkt, um das Wesentliche und die Einheit einer Handlung zu bestimmen.9 Nur durch diese Auswahl kommt es dazu, dass das Wesentliche einer Handlung und Handlungssituation präsent wird. Die von einem Mythos als deren Einheit bestimmte « ist also nicht an einer unvermittelt zugänglichen Wirklichkeit überprüfbar und in diesem Sinne wahr. Dieses Missverständnis reduziert « auf die nachträgliche Repräsentation einer unvermittelten Präsenz, auf Nachahmung im schwächsten Sinn, in der diese keine eigene Präsenz stiftet: « stellt nichts dar, das auch anders zugänglich und überprüfbar wäre, aber lässt gerade deshalb das Allgemeine, im Falle von Tragödien also dasjenige, das zur Wesenseinheit einer Handlung gehört, präsent werden. Diese spezifische Präsenzwirkung ist das Kriterium für einen guten  « einer bestehenden Tragödie oder einen  «, der für eine noch ungeschriebene Tragödie besonders gut geeignet wäre. Im Mythos »kommt [es] nicht darauf an, Wahres zu sagen, sondern Allgemeingültiges.«10 Es ist genau diese Möglich-

7 8 9 10

2007, S. 243–268, hier S. 253; ders., »Der Topos des Lebendigen. Bildgeschichte und ästhetische Erfahrung«, in: Joachim Küpper/Christoph Menke (Hrsg.), Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt a. M. 2003, S. 94–112. Vgl. Aristoteles, Poetica 1450b–1451a. Vgl. ebd. 1451 a. Vgl. ebd. Bernhard Zimmermann, »Zum Begriff Mythos in der griechischen Literatur«, in: Ders. (Hrsg.), Mythische Wiederkehr. Der Ödipus- und Medea-Mythos im Wandel der Zeiten, Freiburg i. Br. 2009, S. 11–16.

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keit, Wesenszüge aufzuzeigen, die Gadamer an der « als »Darstellung von Ordnung« interessiert, die er aber Mythen abspricht.11 I.2. Die Vielzahl der   Aristoteles’ Beschreibung der Funktionen und Wirkungen des Mythos einer Tragödie machen klar: In der Tragödie wird nicht der Mythos als Singularetantum nachgeahmt, sondern Handlungen auf der Bühne ahmen Handlungen nach der Maßgabe einer in sich geschlossenen Handlungseinheit nach. Diese Einheit stiftende Struktur mimetischer Handlungen nennt Aristoteles  «, ohne dass die nachahmenden Handlungen oder die derart nachgeahmten Handlungen mythische Handlungen wären, da sie einer besonderen Klasse mythischer Handlungen zuzuordnen wären, die sich kategorial abgrenzen ließe. Nicht als Kategorie besonderer (ursprünglicher, verlorener, bewahrter, sakraler, unerreichter oder ausstehender) Präsenz, sondern allein zur Beschreibung des Verhältnisses einzelner Repräsentationen hat es also für Aristoteles Sinn, den Mythosbegriff zu gebrauchen. Aristoteles’ Verwendung von  « im Plural ist entscheidend, um eine solche Missdeutung zurückzuweisen. Jede Tragödie hat einen – mehr oder weniger guten – Mythos, den sie darstellt, in dem die Tragödie bestimmte Handlungselemente auf die Bühne bringt und andere weglässt. Eine Tragödie ist nach Aristoteles’ Begriffsbestimmung keine Wiederbelebung ›des Mythos‹ als vergangener Wissens- oder Handlungsform – auch wenn  , wie Aristoteles durchaus sieht, meist aus älteren Darstellungen übernommen werden und, wie Aristoteles fordert, ihr (gegenständlicher) Kern nicht verändert werden darf.12 Mit  « bezeichnet Aristoteles vielmehr ein Merkmal von Repräsentationsverhältnissen und nichts Nachgeahmtes, ein integrierendes Strukturmoment an Präsentem und Repräsentiertem. Statt einer Bestimmung durch die Gegenüberstellung eines komplementären Begriffs13 bestimmt Aristoteles das Wort  « im Kontext seiner Tragödientheorie: So ermöglicht die Zählbarkeit von Mythen die Unterscheidung der Gattungen Epos und Tragödie, denn während eine gute Tragödie einen geeigneten Mythos auf die Bühne bringt, ist jedes Epos polymythisch. »Das Epische [² $ %«] nenne ich das Vielmythische [ μ & ]«, 11 12 13

Vgl. dazu unten Abschnitt 3. Vgl. Aristoteles, Poetica 1453 b. Aristoteles kennt also keine ›mythologische Differenz‹. Vgl. die Einführung zu dem gleichnamigen Band: Stefan Matuschek/Christoph Jamme (Hrsg.), Die mythologische Differenz. Studien zur Mythostheorie, Heidelberg 2009, S. 9–20, besonders S. 9f.

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so Aristoteles ausdrücklich.14 Die Ilias, die Aristoteles als Beispiel nennt, ist also kein Mythos, sondern erzählende Darstellung verschiedener Mythen,15 aus denen sich – für die Nachahmung von Handlung durch Handlung16 – ein Mythos für eine Tragödie herauslösen lässt. Auch bei diegetischer Nachah  %«) mung («  #) als Nachahmung in Versen ($  ) soll, genau wie der Mythos einer Tragödie, der Mythos eines Epos wie ein !)   wiederum ein Ganzes (Ρ «) sein. Auch die Einheit des Epos ist dabei Handlungseinheit, die Einheit einer ganzen und vollendeten Handlung ( »« Ρ λ ).17 Aber die Handlungseinheit ist von anderer Komplexität als in der Tragödie – von einer solchen Komplexität nämlich, dass sich aus der Gesamthandlung einzelne   herauslösen lassen. Ein Vergleich mit der bildenden Kunst, den Aristoteles selbst nicht anstellt, kann dies plausibel machen: In einem großformatigen Gemälde lassen sich einzelne Ausschnitte entdecken, die auch für sich den geschlossenen Charakter eines Bildes haben, ohne dass dies der Bezeichnung des Ganzen als Bild entgegenstünde. Der Vergleich mit Geschichtswerken (¹ ) macht ebenso deutlich, dass es nicht um die bloße Wiedergabe einer vermeintlich ›wirklich‹ geschehenen Geschichte, sondern um die Auswahl dessen geht, was im Epos erzählt wird.18 Die besondere Affinität der Dichtung zur Philosophie, die begründet, dass Aristoteles die Dichtkunst der Geschichtsschreibung vorzieht,19 hat in dieser Auswahl des Nachgeahmten ihren Grund. Was jedoch ein Epen- oder Tragödiendichter auswählt – oder auswählen sollte, um eine gute Tragödie oder ein gutes Epos zu schreiben –, ergibt sich nicht aus einem der Darstellung vorgängigen rea14 15

16

17 18 19

Aristoteles, Poetica 1456 a: »$ μ ξ  μ & .« Vgl. dagegen Richard Kannichts Rekonstruktion, die die Bestimmung des Epos als &  übergeht: »Dramatische wie narrative Dichtung ist also kraft des Mythos Mimesis von Handlungen und von Leben (und ist als solche rezipierbar), sofern und indem sie Mimesis der Wirklichkeitsstruktur möglicher Handlungen ist.« (Kannicht, »Handlung als Grundbegriff der Aristotelischen Theorie des Dramas«, S. 334; eigene Hervorhebung). Hans Ulrich Gumbrecht hat vorgeschlagen, den Unterschied beider Nachahmungsmedien durch einen einheitlichen Handlungsbegriff zu nivellieren, da sich alles Textverstehen als Verstehen von Handlung (im durch die verstehende Soziologie vorgegebenen Sinn) beschreiben lasse und sich deshalb eine einheitliche Rezeptionsmöglichkeit ergebe. Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, »Handlung des Dramas, Drama als Handlung. Sprachhandlungen im Drama«, in: Poetica 8/1976, S. 343–346. Die literaturtheoretischen Unterscheidungsmöglichkeiten der Poetik kommen so aber gerade nicht zur Geltung. Aristoteles, Poetica 1459 a. Vgl. ebd. Vgl. ebd. 1451 b.

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len Geschehen – einer unvermittelt gegenwärtigen Präsenz, die dann repräsentiert würde –, sondern aus der mythischen oder polymythischen Struktur der beiden Textgattungen. Auch der Erkenntnischarakter von Kunst, der spezifische Lerneffekt durch Dichtung, den Aristoteles als Grund dafür angibt, nachzuahmen entspreche der menschlichen Natur,20 liegt nicht in der Erschließung eines prärationalen, mythischen Wissensbereichs begründet, sondern in diesem künstlerischen Auswählen aus einem komplexeren Zusammenhang, durch das sich   als Bezugspunkte der verschiedenen Arten von « ergeben. Einen kategorialen Unterschied Mythos vs. Realität gibt es nicht. Vielmehr bündeln Mythen durch ihre Selektionsleistung die Überkomplexität des Realen, sei es durch das Erzählen einer einfachen Geschichte, sei es durch ein polymythisches Epos. I.3. Ein  « als Maßstab der Kritik verschiedener #« Der innere Maßstab der Auswahl des Darstellbaren ist ein  « als strukturierende Handlungseinheit. Der  « einer Tragödie kann so auch als Vergleichspunkt zu anderen Tragödien dienen, die denselben  « besser oder schlechter darstellen, wenn sie besser oder schlechter auswählen.21 Tragödien lassen sich also als darstellende Variationen desselben  « lesen, die ähnlich wie Personen oder Gegenstände ›auf‹ Bildern unterschiedlich gut dargestellt werden.  « dient Aristoteles so als literaturtheoretischer Begriff zur Abgrenzung verschiedener Literaturgattungen wie als Begriff der literarischen Kritik. Dessen Vorzug gegenüber äußeren Regeln zur Klassifizierung und Kritik von Literatur ist leicht anzugeben: Die Kritik aus der Darstellung des  « ist immanente Kritik aus der dargestellten Sache.22

20

21 22

Vgl. ebd. 1448 b. Dem entspricht der Eröffnungssatz der Metaphysik, alle Menschen strebten von Natur aus (φ) danach, zu erkennen ((). Vgl. Aristoteles, Aristotle’s Metaphysics. William D. Ross (Hrsg.), Oxford 1924, 980 a. Aristoteles, Poetica 1456 a. Arbogast Schmitt weist auf den literaturtheoretischen Vorzug gegenüber einer Regelästhetik hin: »In der Tat bietet ein Mythos, wenn er genau und nur Mimesis der in einem individuellen Charakter motivierten Handlungsmöglichkeiten in einer konkreten Handlungsfolge ist, den Vorzug, dass durch ihn sowohl die Disposition wie der Stil einer Darstellung Form bekommen, und zwar nicht die bei jedem Inhalt gleiche Form, die aus der Verwendung von Metrum oder Reim oder anderer formaler Regeln entsteht, sondern eine bei jedem Dichtwerk eigentümliche individuelle Form« (Arbogast Schmitt, »Einleitung«, in: Aristoteles, Poetik. Übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt (Hrsg.), Bd. 5, Berlin 2008, S. 45–127, hier S. 120).

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Eine « kann also im Verhältnis zu anderen #« dadurch stehen, dass sie Variationen und implizite Kritiken von Darstellungen derselben Sache sind, analog zu verschiedenen Aufführungen desselben Theaterstücks. Gadamers epistemologisches Lob der « – »Was in der Nachahmung sichtbar wird, ist also gerade das eigentliche Wesen der Sache« – gibt zugleich an, was bereits für Aristoteles das Kriterium künstlerischer Wertungen war: die unterschiedlich gut gelingende Durchdringung von Sache und Darstellung in verschiedenen Darstellungen. Diese Wertung hat aber zur Voraussetzung, dass es einen gegenständlichen Kern gibt, der dargestellt wird. I.4. « und  « in der Tragödie Die im sechsten Kapitel der Poetik gegebene Definition bestimmt  « als die Nachahmung von Handlung ( »«), genauer als die Zusammenstellung oder Anordnung («) von Handlungen («   ).23 Das Anordnen bezieht sich weder allein auf die nachahmenden noch auf die nachgeahmten Handlungen. Vielmehr ist die Handlungsanordnung dasjenige, das beide gemeinsam haben – etwas also, das selbst nicht nachgeahmt wird und dennoch Nachahmung und Wiedererkennung strukturiert.24 Auch die Darstellung eines Charakters oder seiner Haltung (* «) ist gegenüber dem Mythos einer Tragödie sekundär. Die Tragödie ist nicht einfach Nachahmung handelnder Menschen, sondern Nachahmung ihrer Handlungen25 in einer bestimmten Struktur, im »funktionalen Zusammenhang mehrerer Handlungsschritte zu einer Einheit«, wie Arbogast Schmitt kommentiert.26

23

Aristoteles, Poetica 1450 a: »  ξ « ξ « ²  « π «,  +     κ    .«

24

Arbogast Schmitt bestimmt in seinem Kommentar zur Poetik in der AkademieAusgabe »Mythos« als »Mimesis einer vollständig ausgeführten Handlung« (Schmitt, »Einleitung«, S. 119). Mythos sei »Mimesis einer Handlungseinheit« (ebd., S. 120). Die Beschreibung ›Mythos‹ wäre dann bloß auf das mimetische Geschehen anzuwenden, nicht auf das derart Repräsentierte. Demgegenüber stehen die folgenden Definitionen: »Handlung im eigentlichen Sinn ist deshalb für Aristoteles systasis ton pragmaton, eine ›systemisch‹-einheitliche Ordnung der Handlungsschritte auf die Einheit einer im Erreichen oder Verfehlen des erstrebten Guts abgeschlossene Handlungseinheit. Eine solche Handlungseinheit nennt Aristoteles Mythos (1450 a4f.). Mythos bezeichnet in der Poetik also nicht eine überlieferte, sagenhafte Geschichte, sondern den funktionalen Zusammenhang mehrerer Handlungsschritte zu einer Einheit« (ebd., S. 119f.). Vgl. Aristoteles, Poetica 1450 b. Schmitt, »Einleitung«, S. 120.

25 26

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Statt nur das * « einer tragischen Figur herauszuarbeiten, soll die tragische Struktur der Handlungen selber herauskommen.27 Auf die besondere Ausarbeitung eines Charakters könne sogar verzichtet werden, so wie auf einem Gemälde keine individuellen Gesichtszüge vorzukommen brauchen, wie Aristoteles das von der Malerei Zeuxis’ behauptet: Das Wichtigste und das  « der Tragödien seien die Handlungen und der  «, dem Aristoteles auch die emotionalen Wirkungen der Tragödie, nämlich die Peripetien und die anagnoretische Identifikation des Zuschauers mit dem Handelnden zuschreibt.28

II. Darstellung als Selbstdarstellung und Weltdarstellung Aristoteles’ Mythostheorie lässt sich mit der Hermeneutik verbinden. Verallgemeinert man die am Beispiel der Tragödie angestellten Überlegungen zum Charakter von #«, so ist kein ausgezeichneter Erkenntnisgehalt, keine Erfüllung logischer oder methodischer Maßstäbe, sondern das unmittelbare Sichtbarwerden des Wesens von Sachverhalten in ›Nachahmungen‹ das Kriterium für deren Kritik, unabhängig davon, ob das Nachahmen in Texten, Bildern oder auf der Bühne geschieht. Anders gesagt: Die gegenseitige Durchdringung der Präsenz einer Sache und deren Repräsentation(en), die Stimmigkeit der erscheinenden Präsenz in einer Repräsentation macht für Aristoteles gute Darstellungen zur Kunst, zu etwas Schönem. Worauf es nicht ankommt, ist präzise Wiedergabe. Aristoteles nimmt keine nicht repräsentational zugängliche Wirklichkeit an, die dann in einer « nachgeahmt würde, und insofern ist der Begriff der Nachahmung irreführend. Die Rekonstruktion sollte deutlich gemacht haben, dass das deutsche Nachahmung, verbindet man mit dem Wort die nachträgliche Repräsentation einer selbst unvermittelten Präsenz, die Gleichursprünglichkeit von Präsenz und Repräsentation verdeckt, wie sie am  « als möglicher Struktur einer « deutlich wird. Im Folgenden soll deshalb der antike «-Begriff, an dem sich Präsenz und Repräsentation als zwei Momente abheben lassen, mit Hilfe der gegenwärtigen Hermeneutik näher bestimmt werden. Der zentrale Begriff der Darstellung, verstanden als Darstellung gegenständlicher Bezugspunkte, der sich an die Stelle des griechischen « rücken lässt, bietet den Vorzug, substanzielle wie funktionale Hierarchisierungen von Präsenz und Repräsentation zu vermeiden. Zugleich vermittelt der Begriff formale Bestimmungen von  « im Singular mit dem Versuch, das Wort mit ge27

28

Mythen beschrieben so »the very nature of human praxis« (Dennis J. Schmidt, On Germans and other Greeks. Tragedy and Ethical Life, Bloomington 2001, S. 56–57). Vgl. Aristoteles, Poetica 1450 a.

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schichtlichem Inhalt zu füllen, und dem Bedürfnis, es immer im Plural zu gebrauchen. Präsenz und Repräsentation liegen gleichursprünglich im Phänomen der Darstellung vor. Für eine Diskussion des Darstellungsbegriffs ist dabei die Frage leitend, wie sich die Verbindung von Mythos und « bei Aristoteles mit der Darstellungstheorie der Hermeneutik verbinden lässt. Als ihr Ziel wird im dritten Textabschnitt eine Neubestimmung des Mythosbegriffs Gadamers angestrebt. Der gemeinsame Ursprung von Präsenz und Repräsentation in einem Phänomen mag dazu motivieren, Darstellung mit einem von Gadamer geprägten Begriff als Selbstdarstellung zu fassen. Eine begriffliche Alternative hierzu, die Präsenz und Repräsentation anders als durch ihre Identifikation verbindet, hat Günter Figal vorgeschlagen: Weltdarstellung. An Figal orientiert sich auch die Bestimmung von Darstellung als Verhältnis von Präsenz und Repräsentation: Darstellung ist die vermittelte, durch ein Präsentierendes bewirkte Präsenz von etwas, das an sich gegeben ist, aber nicht in dieser Präsenz. Sie ist die Möglichkeit, etwas eine Präsenz zu verschaffen, die es von sich aus nicht haben kann, und diese Präsenz zugleich als eine verliehene erkennbar zu machen.29

Die so verstandene Darstellung, so die im Folgenden mit Blick auf Mythen als Gegenstände von Darstellungen zu entwickelnde These, ist beides: Selbstdarstellung einer Sache und Weltdarstellung im Sinne des Darstellens eines Gegenstandes. Mythen sind, wenn sie dargestellt werden, Gegenstände im Welt- und Selbstbezug. Mit Gegenständen sind damit nicht nur reale Dinge gemeint, auch wenn diese gegenständlich sind, sondern intentionale Gegenstände, an denen sich unser Erfahren und Verstehen orientiert: An einem roten Buch etwa kann auch das hervorstechende Rot ein eigener Gegenstand der Aufmerksamkeit sein. Das Rot des Buches ist kein bloßer Sinngehalt, sondern ist wirklich in der Welt. Deshalb bezieht es sich auf andere Gegenstände im Ganzen der Welt, kann aber ebenso als selbstbezüglich beschrieben werden, wenn man sagt, das Rot steche hervor, es zeige sich selbst.30 In Figals Definition kommt es dabei auf das Kriterium an, dass in Darstellungen Präsenz »als eine verliehene erkennbar« wird. Das ist auch bei Mythen der Fall, nur dass diese Erkennbarkeit nicht realisiert sein muss. So lässt sich erklären, warum Mythen – auch von Gadamer – als eine andere Gegebenheitsweise oder Wissensform von Gegenständen verstanden werden (als ein 29

30

Günter Figal, Gegenständlichkeit. Das Hermeneutische und die Philosophie, Tübingen 2006, S. 81. Dieser Gegenstandsbegriff ist ein phänomenologischer; vgl. Figal, Gegenständlichkeit, S. 126–141.

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Darstellungsmodus) und nicht als eine Klasse darstellbarer Gegenstände. Nur so wird man dem aristotelischen Abgrenzungskriterium für Mythen jedoch gerecht: Mythen stellen Handlungen dar. Die Möglichkeit, darzustellen, ist dabei nicht nur der Literatur, dem Mythos oder der Kunst vorbehalten. Die Vergleiche mit Malerei und Bildlichkeit, an denen die Überlegungen zur Darstellung im Folgenden konkretisiert werden, lassen dies deutlich werden. II.1. Die Gegenständlichkeit der Darstellung im Vergleich von Malerei und Tragödie Wenn das Wesen eines Sachverhalts und dessen Erfahrbarkeit und Fassbarmachung eins werden, nennt Gadamer diesen Idealfall von Kunst die »Selbstdarstellung« einer Sache.31 Anders als bei der bildenden Kunst kann sich die Einheit der Darstellung in der Tragödie nicht aus einem abgebildeten Ding ergeben, das in bestimmter Weise beschaffen und erfahrbar ist, auch ohne gemalt zu sein, und das der Maler als sein Modell neben sich hat. Die Nachahmung in der Tragödie, so Aristoteles, ist deshalb nicht unmittelbar Nachahmung ›von etwas‹ (« -%«), sondern Nachahmung einer einzigen und ganzen Handlung in einem Mythos.32 Mit diesem Vergleich legt Aristoteles das Missverständnis von « als Nachahmung, als Repräsentation von Präsenz ohne eigene Präsenz, selbst nahe. Der Unterschied zwischen ›Nachahmung von etwas‹ und ›mythischer‹ Nachahmung von Handlungen ist jedoch graduell, denn die Darstellung in der Tragödie ist der Nachahmung ›von etwas‹ darin vergleichbar, dass sich die Nachahmung von Handlungen nach einem  « von individueller Beschaffenheit richtet, der denjenigen dinglichen Gegenstand ersetzt, der dem Maler als Modell dient. Auch die Voraussetzung dieses Vergleichs, dass nämlich bereits Repräsentationen im Spiel sind, wenn ein Maler ein Ding bloß sieht, leuchtet ein: Auch Wahrnehmung ist selektiv, darstellend, und erst recht der Vorgang des ›Abmalens‹. Trägt der von Aristoteles angestoßene, wenn auch missverständliche Vergleich, so zielt das Wort  « auf etwas, das im mimetischen Geschehen eine Präsenz gewinnt, die weder die Präsenz des Repräsentierenden noch eine dieser gegenüber ursprünglichere Präsenz ist, die dann repräsentiert würde. Vielmehr ergibt sich der Gegenstand von Darstellungen in der Differenz der Repräsentationen, wie Aristoteles das für Mythen erklärt hatte, die in verschiedenen Tragödien und Epen präsent sein können. Auch in der Malerei geht es nicht um eine möglichst originalgetreue 31 32

Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 113. Aristoteles, Poetica 1451 a.

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Abbildung eines Urbildes, das als solches unvermittelt präsent wäre und dann repräsentiert würde, sondern um eine erkenntnisrelevante und aus dem Gegenstand bestimmte Selektionsleistung, die auch das Kriterium für die ästhetische Qualität eines Kunstwerks angibt. Deshalb lobt Aristoteles Zeuxis dafür, bestimmte individuelle Züge auszulassen zugunsten anderer, typischer Merkmale des Porträtierten: Zeuxis wählt aus verschiedenen Repräsentationsmöglichkeiten eines Gegenstandes in einer Weise aus, die für seinen individuellen Stil kennzeichnend ist, wie die Tragödiendichter, die Aristoteles vergleicht.33 Nicht im vermeintlichen Urbild, sondern im Gegenstand der Darstellung liegt das innere Maß eines Kunstwerks. Der Gegenstand ist ein Strukturmoment in Wahrnehmung und dem Bilderschaffen gleichermaßen. Es ist dieser Gegenstand der Darstellung, der durch Nachahmungen eine ausgezeichnete Präsenz gewinnt, die »das eigentliche Wesen einer Sache« ist. Sachen sind zum Erscheinen gebrachte, dargestellte Gegenstände. Gäbe es keine Gegenstände von Darstellungen, könnte nichts in Darstellungen eine Präsenz als es selbst gewinnen, welche Präsenz mit der Darstellung mehr oder weniger eins ist, wie Aristoteles dies als Kriterium für die Qualität dramatischer Kunst in der Poetik entwickelt. Daraus folgt aber nicht unbedingt, dass etwas die ihm eigene Präsenz durch es selbst bewirkt hat, wie Gadamer dies folgert. Auch für Gadamer ist die Präsenz als es selbst entscheidend, wenn er »Nachahmung« als »Darstellung von Ordnung« bestimmt. Jede Repräsentation hebt etwas ab, womöglich etwas Wesentliches, und bringt es eigens zur Geltung. Dadurch gewinnt dieses Moment eigenständige Präsenz in einer Weise, die als Darstellung im Unterschied zur Nachahmung verstanden werden kann.34 Korrelat dieser Präsenz ist keine andere Darstellung, sondern der Gegenstand der Darstellung.35 In jeder Darstellung liegt, wie Gadamer dies 33 34

35

Vgl. ebd. 1450 a, 1461 b. So auch Petersen, Mimesis – Imitatio – Nachahmung, S. 47–52. Auch Kannicht geht – ohne Darstellung und Nachahmung zu unterscheiden – ähnlich vor, wenn er als Definiens von dichterischer Nachahmung angibt, diese sei »Mimesis der Wirklichkeitsstruktur möglicher Handlungen« (Kannicht, »Handlung als Grundbegriff der Aristotelischen Theorie des Dramas«, S. 334). Vgl. Tobias Dangel, »Mimesis. Aristoteles’ Bestimmung der Kunst in der Poetik«, in: Jens Halfwassen/Markus Gabriel (Hrsg.), Kunst, Metaphysik und Mythologie, Heidelberg 2008, S. 231–256, hier S. 231: »Mimetische Kunst bei Aristoteles, insbesondere die Tragödiendichtung [ist] nicht Abbildung oder Nachahmung einer an sich bestehenden Wirklichkeit, sondern einheitliche Darstellung eines Gegenstandes«. Dangel zieht daraus aber eine Konsequenz, die die Gegenständlichkeit in der Kunst wieder einer anderen Seinsordnung gegenüberstellt: Der Gegenstand hat »sein Sein nur innerhalb der Darstellung seiner und somit nur in der Kunst […].

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nennt, ein »Zuwachs an Sein«:36 Eine bloße Möglichkeit von etwas, dargestellt zu werden, gewinnt Präsenz. Der Gegenstand, und dies lässt Gadamer unerörtert, erscheint jedoch umgekehrt als die Möglichkeitsbedingung dieses Präsenzgewinns, als Möglichkeit, etwas an ihm darzustellen und zu geordneter Präsenz zu bringen. Was dann zur Darstellung kommt, ist die Sache, der erscheinende Gegenstand. II.2. Die Bildlichkeit der Darstellung: Bilder, Vorbilder und »double seeing« (Sallis) Die Differenz zwischen Gegenstand und Darstellung, die in der Sache verschmolzen sind, ist an gegenständlichen Bildern am leichtesten erkennbar. Dinge, also reale Gegenstände, dienen als Gegenstand vieler einzelner künstlerischer Darstellungen – es lässt sich aber auch anders auf sie zurückkommen, alltäglich im Hantieren mit den Dingen, die auf einem Stillleben dargestellt sind, oder wenn ein Berg, abgebildet ›in‹ einer Landschaftsmalerei, bestiegen oder aus der Ferne betrachtet wird. In jeder Darstellung erscheint etwas an einem Ding besonders intensiv. Die Varietät und wechselnde Intensität der Erscheinungsweisen gibt es zwar auch dann, wenn keine Abbildung stattfindet, allein durch Position, Perspektive und Horizont, durch die etwas an dem Gegenstand sichtbar wird. Am leichtesten zu bemerken ist dieser darstellende Grundzug in allem Weltbezug dann, wenn die unterschiedlichen Erscheinungen des Gegenstandes in eigenständigen Darstellungen, in Bildern eigens zur Geltung gebracht werden und diese Bilder »starke Bilder« in der Terminologie Gottfried Boehms sind.37 Damit ist jedoch nicht gesagt, in manchen – etwa literarischen – Darstellungen gäbe es keine Gegenstände der Darstellung, da diese nicht auch ›natürlich‹, also mit vermeintlich minimaler Positionierung, Perspektivierung und horizonthafter Begrenzung und

36 37

Das Sein der Kunst erweist sich somit als das fiktionale Sein der Darstellung, das aber gerade nicht das Schein-Sein der Nachahmung ist, das Platon der Kunst vindiziert« (ebd.). Dangel teilt – trotz seiner Platon-Kritik – also weder die phänomenologische Überzeugung, alle Gegenstände erschienen, auch die ›außerhalb‹ der Kunst, noch gibt er den Universalitätsanspruch der Hermeneutik zu, alle Erfahrung, auch nicht-ästhetische Erfahrung, sei durch (darstellendes) Verstehen vermittelt. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 145. Gottfried Boehm betont in diesem Sinn, die Stärke von Bildern bestehe darin, als Bilder zu erscheinen und gerade dadurch höchst erkenntnisrelevant zu sein. Die Schwäche von Abbildern, etwa wenig selektiven technischen Bildern, »resultiert aus der Negation ihres Eigenwertes und aus dem Vorrang der bildlichen Angleichung an das Dargestellte« (Boehm, »Zuwachs an Sein«, S. 247).

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im alltäglichen Umgang erfahrbar sind. Auch wenn es keine vermeintliche Realität gibt, an der sich Kunst messen lassen muss, handelt es sich um Gegenstände, die dargestellt werden. Darstellung ist immer realitätsgesättigt, ist immer Weltdarstellung.38 Dieser Bezug zur dargestellten Welt kann sich aber so abschwächen, dass kein realer Gegenstand als Urbild erkennbar ist, sondern bloß ein Vorbild.39 Das Vorbild ist kein absolutes Urbild, sondern nur privilegierte Darstellung gegenüber anderen Darstellungen desselben Gegenstandes und es ist privilegiert nur im Hinblick auf diese Darstellungen: Nimmt sich ein Regisseur eine andere Inszenierung zum Vorbild, wird er diese nicht identisch wiederholen wollen, sondern mit seiner Darstellung des Gegenstandes nicht hinter die Sachlichkeit des Vorbilds zurückfallen wollen, das er variiert. Das in der Tragödie oder im Epos Nachgeahmte ist in einer Weise zugänglich, die sich selbst weniger leicht als Weltdarstellung, als Präsenzerzeugung aus gegenständlich latenter Präsenz, zu erkennen gibt als die Wahrnehmung des Abgebildeten durch den Maler oder das chronologische Protokoll des Geschehens, als das Aristoteles die Geschichtsschreibung in Abgrenzung gegen Epos und Drama versteht: Nachgeahmt wird ein anderer Mythos, repräsentiert wird ›bloß‹ eine andere Repräsentation. Was man naiv als einen Realitätsverlust verstehen könnte, ist für die Erkenntnis, aber auch für die ästhetische Wirkung entscheidend: die Verdeckung der Differenz von Gegenstand und Darstellung. Deshalb ist die Musik, in der Medialität und Gegenständlichkeit im Sichdarstellen am schwersten zu unterscheiden sind, diejenige Kunstform, die laut Aristoteles alle anderen Künste in ihrer Fähigkeit zur « übertrifft.40 38

39

40

Vgl. Günter Figal, »Kunst als Weltdarstellung«, in: Ders., Der Sinn des Verstehens. Beiträge zur hermeneutischen Philosophie, Stuttgart 1996, S. 45–63. Vorbild soll hier im Unterschied zu Urbild keinen ontologisch oder epistemologisch privilegierten Typ, sondern in der Bedeutung, die die Gebrüder Grimm als die »ursprüngliche« angeben, eine allein zeitlich vorhergehende Darstellung meinen: »vor in v. [vorbild] hat zeitliche bedeutung, v. ist also ursprünglich ein bild, das einem andern vorausgeht. die beziehung zwischen beiden kann eine ganz verschiedene sein, wenigstens in älterer sprache, die das wort in viel weiterem sinne braucht als die sprache der gegenwart. veraltet ist v. in der bedeutung des originals im verhältnis zur copie, aber auch früher schon ist die freiere nicht immer leicht abzuscheiden, die sich nicht auf das genaue nachahmen beschränkt« (Jacob Grimm/Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 12/2, Leipzig 1951, Sp. 909–926, hier Sp. 909). Vgl. Aristoteles, Aristotelis Politica. William D. Ross (Hrsg.), Oxford 1957, 40 a. Walter Kaufmann hat von dieser Stelle aus « als »etwas spielen, vorgeben« interpretiert; »Nachahmen« suggeriere »ein ›Kopieren‹, während ›Spielen‹ und ›Vorgeben‹ die Rolle der Fantasie bewußt machen« (Walter Kaufmann, Tragödie und

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Der Unterschied von Gegenstand und Darstellung ist aber entscheidend für die künstlerische Produktion: Das Epos, das von einem Tragödiendichter daraufhin abgesucht werden kann, ob es gute   für Tragödien hergebe, muss der Dichter als Darstellung durchschauen. Der  « ist durch das Epos als Gegenstand einer Darstellung zugänglich und zeigt sich zugleich als Möglichkeit auch anderer, also anders selektierender Darstellung, etwa in einer Tragödie. Epos und Tragödie erscheinen dann weniger als Darstellungen desselben Gegenstandes, als dass sie sich im Verhältnis von Vorbildern verketten. Wenn er in einem Epos   sucht, ist der Tragödiendichter dem Landschaftsmaler leicht vergleichbar, der ein Motiv sucht und Position, Perspektive und Horizont ändert. Beide suchen in Darstellungen einen Gegenstand noch unrealisierter Darstellungen. Wollte man dieses Verhältnis als eines der Nachahmung beschreiben, so müsste man wohl sagen, eine Darstellung sei Nachahmung einer anderen, wenn beide Darstellungen desselben Gegenstandes sind. Genau dies ist mit der Verkettung von Vorbildern im Unterschied zur Kopie von Urbildern gemeint. An einer Stelle der Poetik wird genau dieses Verhältnis beschrieben: Nur wenn jemand einen Gegenstand bereits kennt – also eine andere Darstellung kennt, und sei sie auch, wie in der Wahrnehmung, noch so minimal –, wird man beim Anblick eines Bildes etwas wiedererkennen und lernen können und deshalb an der « Vergnügen haben.41 Dann stellt sich das ein, was John Sallis »double seeing«42 nennt: Das mimetische Geschehen erscheint als Repräsentation, als abbildende Nachahmung anderer Nachahmungen, und zugleich erscheinen alle derart verbundenen Nachahmungen in ihrem Unterschied als Darstellungen desselben Gegenstands in der Welt.

41

42

Philosophie, Tübingen 1980, S. 45). Kaufmanns Interpretation hat den Vorzug, den Irrtum abzuwehren, mit ›Nachahmung‹ sei die Nachbildung absoluter Urbilder gemeint; seinen Interpretations- und Übersetzungsvorschlägen gegenüber lassen sich durch Darstellen verschiedene Darstellungen – als Nachahmungen – einander vergleichen. Der mimetische Präsenzeffekt von Nachahmungen läuft so nicht Gefahr, auf spielerische, weltlose Präsenzproduktion reduziert zu werden. Vgl. Aristoteles, Poetica 1448 b. Sallis kommentiert diese Stelle so: »This says: in order to take delight in an image produced by mimesis, in order to be capable of that delight that arises in learning of the thing imaged, one must already have seen the thing itself. Otherwise, whatever delight one might take in the image has a different source, has no connection with learning. For – though Aristotle leaves it unsaid – one can learn through the image only if it is recognized as an image of the thing itself; and such recognition requires that somehow one has seen the thing itself already, in advance […]« (John Sallis, »Mimesis and the End of Art«, in: Ders., Double Truth, Albany 1995, S. 171–190, hier S. 177). John Sallis, Force of Imagination. The Sense of the Elemental, Bloomington 2000, S. 49.

Mimesis und Mythostheorie bei Aristoteles und Gadamer

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II.3.   als Gegenstände in Selbstdarstellung Der Vergleich mit der Malerei sollte nicht nur die gemeinsame gegenständliche Möglichkeit von Darstellungen hervorheben, sondern auch die Unterschiede zur dramatischen Kunst deutlich werden lassen: Ein Landschaftsmaler hat es nicht mit der Nachahmung von Handlungen zu tun, der Altarbildner schon – auch, wenn es sich bei seinem Tun um eine bildhafte Nachahmung von Handlungen handelt, also nicht um Nachahmung durch Handlung, was wiederum das Altarbild von einer Tragödie unterscheidet. Die spezifische Differenz des Mythischen liegt also in der Nachahmung von Handlung. Nicht auf das Handeln als Medium, sondern als Gegenstand mythischer Erzählungen kommt es an. Auch Aristoteles könnte also Altarbilder als mythisch beschreiben. Dass der Paradefall für Mythen jedoch die Tragödie ist, hängt damit zusammen, dass in der Tragödie Handlungen sowohl Gegenstand als auch Medium der Darstellung sind. Mythen als das dargestellte Wesen von Handlung haben anders als Landschaften eine natürliche Gegebenheitsweise nicht in bloßer Wahrnehmung, sondern in Handlungen auf der Bühne. Die Wesensdarstellung des Sichtbaren dagegen geschieht in Bildern und selten in Theaterstücken. Ein Altarbild wäre also in einem abgeleiteten Sinn mythisch zu nennen, wenn es einen Mythos darstellt, einen Gegenstand also, der in der Darstellung durch handelnde Menschen von diesem Medium nicht mehr zu unterscheiden wäre und nur noch sich selbst darzustellen schiene. Wenn es einen Sammelbegriff braucht, kann der Mythos als jenes Medium verstanden werden, in dem der Darstellungscharakter der Darstellung des Wesens von Handlungen zugunsten von deren Präsenz ganz verschwindet. Eine solche Präsenzerfahrung ist mythisch, nicht weil sie unmittelbar wäre, sondern da ihr gegenständlicher Ursprung unmerklich vermittelt ist. ›Der Mythos‹ ist die Selbstdarstellung von Mythen.43

43

Fritz Graf hat in seinem »Definitionsversuch« zu Beginn seiner Einführung in die griechische Mythologie ein ähnliches Verhältnis als (paradoxe) »Traditionalität« von Mythen beschrieben: »Freilich ist der Mythos eine besondere Art Geschichte. […] Der Mythos ist nicht der aktuelle Dichtertext, sondern transzendiert ihn: er ist der Stoff, ein in großen Zügen festgelegter Handlungsablauf mit ebenso festen Personen, den der individuelle Dichter nur in Grenzen variieren kann. Die einzelne Variation, das einzelne Dichterwerk, hat einen Autor, der Mythos nicht: er wird von Generation zu Generation weitergereicht, ohne daß man von einen Mythenmacher wüßte: eben dies meint ›traditionell‹. […] Literarische Nachahmer von Mythen sind sich dieser Traditionalität durchaus bewußt« (Fritz Graf, Griechische Mythologie, München, Zürich 1985, S. 8). Die »Nachahmer von Mythen« deck-

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II.4. Die Selbstdarstellung von   und Mythos als Wissensform Gadamer versteht alle Darstellung als Selbstdarstellung einer Sache in diesem Sinn, als Darstellung, in der Medium und Gegenstand verschmelzen. Jede einzelne Darstellung ist, so Gadamer, in das Geschehen einer sich von sich aus offenbarenden Wahrheit einbehalten. Für unsere Erfahrung ist daher zuerst und zuletzt maßgeblich, dass sie von einer Überlieferung getragen wird, in der wir unsere Erfahrungen machen. Was wahr ist und was falsch, ist durch die geschichtliche Überlieferung bestimmt. Nur wenn man diese absolute Perspektive einnimmt, wird es möglich, dass eine Selbstdarstellung noch ihren eigenen Charakter als Darstellung verbirgt, um der dargestellten Sache möglichst große Präsenz zu verleihen. Wir erfahren dann die geschichtliche Wahrheit des Hier und Jetzt, die Sache so, wie sie in Wahrheit ist. Eine solche absolute Darstellung ist dann »totale Vermittlung«, in der noch »das Vermittelnde als Vermittelndes sich aufhebt«.44 Gadamer orientiert sich in der Entwicklung dieses Gedankens an der Verkleidung: Das Kind, das sich verkleidet, will – so Gadamer – nicht als jemand erkannt werden, der etwas anderes darstellt, sondern von dem, das es darstellt, ununterschieden sein. Gadamer nimmt das Beispiel des nachahmenden Kindes von Aristoteles, aber deutet es so, dass dessen « gerade nicht als solche deutlich werden darf, kein »double seeing« eintritt und die Bildlichkeit verborgen bleiben soll: »Das Kind will um keinen Preis hinter seiner Verkleidung erraten werden. Was es darstellt, soll sein, und wenn etwas erraten werden soll, so ist es eben dies. Es soll wiedererkannt werden, was das ›ist‹.«45 Gadamer verbindet dies mit der Überlegung, mythisch sei ein Erfahrungsmodus ausgezeichneter Präsenz, der von sich aus glaubwürdig erscheint. Dies lässt sich auf den Gedanken der Selbstdarstellung beziehen: Bleibt der Sekundärcharakter einer Darstellung verborgen, sodass diese nicht mehr als Darstellung von Gegenständen zu erkennen ist, wird die Darstellung als mythisch erlebt. Gadamer gibt eine formale Definition von Mythos in diesem Sinn:

44 45

ten – wie Platon beim Erzählen des Atlantis-Mythos – gerade im Bewusstsein, tradierte Geschichten zu tradieren, alle anzugebenden Ursprünge auf. Die ins Absurde gesteigerte Geschichtlichkeit – »Traditionalität«, Repräsentation – erzeugt Selbstursprünglichkeit. Vgl. dazu auch Jacques Derrida, Khôra, Paris 1993, bes. S. 15–47; John Sallis, Chorology. On Beginning in Plato’s Timaeus, Bloomington 1999. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 125. Vgl. ebd., S. 118f.

Mimesis und Mythostheorie bei Aristoteles und Gadamer

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›Mythos‹ bezeichnet zunächst nichts als eine Beglaubigungsart. Mythos ist das Gesagte, die Sage, aber so, daß das in dieser Sage Gesagte keine andere Erfahrungsmöglichkeit zuläßt als eben die des Gesagtbekommens. Das griechische Wort, das die Lateiner als ›fabula‹ wiedergeben, tritt daher in begrifflichen Gegensatz zum Logos, der das Wesen der Dinge denkt und daraus ein jederzeit ableitbares Wissen um die Dinge besitzt.46

Diese Definition fasst Mythos also nicht als Erfahrung einer Präsenz vor aller Vermittlung, sondern als das Verschwinden des Weltbezugs in der darstellenden Vermittlung der »Sage«,47 also als Präsenz, die alle Außenbezüge, auch die zu ihrer eigenen Möglichkeit in Gegenständen, aufgehoben hat. Wenn man zu diesem Erleben einen Abstand findet, der an der mythischen Beglaubigung zweifeln lässt, durchschaut man die Selbstdarstellung als Weltdarstellung: Die Selbstverständlichkeit der Selbstdarstellung des Mythos ist gebrochen, man unterscheidet Gegenstand und Darstellung, Präsenz von ihrer Möglichkeit. Was bei normalen Geschichten nicht überrascht, die Geschichten in einer Welt sind, erscheint dann als das Besondere an Mythen: dass sie von ihrem Medium unterschieden und als Darstellungen von gegenständlich vorgegebenen Präsenzbedingungen ›durchschaut‹ werden können. Die hier mit der Unterscheidung der Darstellung von Gegenständen und Nachahmung von Vorbildern vorgeschlagene Verschränkung von Präsenz und Repräsentation lässt sich also auf die Differenz zurückbeziehen, die mythologische Reflexion setzt: Treten verschiedene Repräsentationen auseinander, etwa wenn man versteht, dass es sich nur um Nachahmungen anderer Nachahmungen handelt, nähert man sich einem gemeinsamen Kern dieser Darstellungen. Erst durch diesen werden Selbstdarstellungen als Darstellungen von Gegenständen erkannt und als mythisch von Gegenstand und Darstellung abgesetzt, die jetzt nicht mehr als identisch erscheinen, sondern in ihrer Korrelation erkannt werden. Ist die mythische Präsenz einmal gebrochen, treten Medium und Gegenstand der Darstellung auseinander und man kann versuchen, das gegenständliche Korrelat der Darstellung anzugeben: Man kann das Gesagte auf die Welthaltigkeit dessen hin befragen, was gesagt wird. So setzt erst nachträgliche Kritik eine mythologische Differenz und der Mythos 46

47

Hans-Georg Gadamer, »Mythos und Vernunft«, in: Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 163–169, hier S. 165. Gadamer stützt seine formale Mythosbestimmung also auf eine mythologische Differenz (vgl. oben Anm. 13). Die Wortwahl spielt unüberhörbar auf Heideggers späte Sprachphilosophie an. Vgl. etwa Martin Heidegger, »Aus einem Gespräch von der Sprache«, in: Gesamtausgabe. Bd. 12: Unterwegs zur Sprache. Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hrsg.), Frankfurt a. M. 1985, S. 79–146, hier S. 137–139.

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erscheint dann als »Zeugnis« und »Produkt« jener Durchbrechung der Selbstdarstellung.48 Was sich selbst aufhebende Darstellung war, wird so rückblickend als unvermittelte Präsenz repräsentiert. »Mythologisieren«, wie Stefan Matuschek den Versuch nennt, mythische Erzählformen wiederzugewinnen und sie dabei zugleich als solche zu kennzeichnen, ist der Versuch, diese Präsenz durch das Spiel mit dem repräsentierenden Charakter der Darstellung kunstvoll zu erzeugen.49 Der Gegenstand der Darstellung verschwindet nicht notwendig im Spiel der Darstellungen und wechselseitigen Repräsentationen, so dass jede Darstellung Selbstdarstellung wäre. So beschreibt Gadamer aber jedes mimetische Geschehen; im Falle von mythischer « schließt Gadamer Mythen als die »Beglaubigungsart« Mythos in das Geschehen geschichtlicher Überlieferung ein, statt sie als Gegenstände von ihrem Medium zu unterscheiden. Gadamers Beschränkung von Darstellung auf Selbstdarstellung muss zu einer mythostheoretischen Konkretisierung des formalen Mythosbegriffs durch einen inhaltlichen führen, da die formale Bestimmung nicht hinreichend ist: Aus dem formalen Begriff des Mythos folgt aber auch ein inhaltlicher. Denn was grundsätzlich keiner Beglaubigung durch die eigene denkende Vernunft unterworfen ist und durch Wissenschaft nicht verfügbar gemacht werden kann, ist ja alles einmalige Geschehen, das nicht anders gewußt werden kann als von Augenzeugen und der auf diese gegründeten Überlieferung. Was so in der Sage lebt, ist aber vor allem die Urzeit, in der die Götter noch sichtbarer mit den Menschen Umgang gehabt haben sollen. Mythen sind vornehmlich Geschichten von Göttern und ihrem Handeln an Menschen. ›Mythos‹ heißt aber auch die Geschichte der Götter selbst, wie sie etwa Hesiod in seiner ›Theogonie‹ erzählt.50 48

49 50

Auf diesen Sekundärcharakter jeden Mythosbegriffs hat Christoph Jamme nachdrücklich hingewiesen: »Der griechische Mythos, wie wir ihn kennen, ist selbst schon das Zeugnis einer Brechung, ist schon Auslegung, Reflexion, schon Produkt einer ›Arbeit am Mythos‹« (Christoph Jamme, »Gott an hat ein Gewand«. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1991, S. 32). Vgl. den Aufsatz von Stefan Matuschek in diesem Band. Gadamer wendet seine »inhaltliche« Mythosbestimmung zuletzt wieder religionsphilosophisch: »Sofern nun die griechische Religion im öffentlichen Kultus ihr Wesen hat und die mythische Überlieferung nichts anderes will als die Ausdeutung dieser beständigen und bleibenden Kulttradition, ist der Mythos der Kritik und Umbildung beständig ausgesetzt. Die griechische Religion ist keine Religion der richtigen Lehre. Sie kennt kein heiliges Buch, dessen adäquate Auslegung Priesterwissen wäre, und gerade deshalb ist das, was die griechische Aufklärung übt, nämlich Kritik am Mythos, kein wirklicher Gegensatz zur religiösen Überlieferung. Nur so versteht sich, wie es der großen attischen Philosophie und vor allem Plato möglich war, Philosophie und religiöse Überlieferung ineinanderzubinden. Platos philosophische Mythen bezeugen, wie die alte Wahrheit und die neue Einsicht eines sind« (Gadamer, »Mythos und Vernunft«, S. 165f.).

Mimesis und Mythostheorie bei Aristoteles und Gadamer

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Die oben mit Aristoteles vorgeschlagene Abgrenzung einzelner Mythen als Gegenstände von Darstellungen von der Präsenzkategorie des Mythos bietet eine formale Alternative zu einem historischen Mythosbegriff. Dieser kann durchaus auch diskursanalytisch mit Beispielen dafür gesättigt werden, wie Menschen das Wesen ihrer Handlungen so repräsentieren, dass sie diese Repräsentationen nicht mehr als solche durchschauen. Gadamers Gleichsetzung von Darstellung und Selbstdarstellung und die Identifikation von Darstellungsgegenstand und -medium zwingen ihn aber zu einer inhaltlichen Festlegung und – wie abschließend zu zeigen ist – zu einer äußerst voraussetzungsvollen geschichtstheoretischen Fundierung des Mythosbegriffs. Diese Konsequenzen vermeidet die Hervorhebung des Gegenstandsbezugs von Darstellungen.

III. Mythos als geschichtliche Präsenz und Mythen als Gegenstände von Darstellungen  « ist als Sammelbegriff für unmittelbares Erfahren, irrationales Denken, vorphilosophisches Erzählen oder unreflektiertes Symbolverstehen allein aus Oppositionen bestimmt. Auch als literarischer Stoff im Gegensatz zu einer Form ist Mythos allein differenziell bestimmt.51 Aristoteles scheint mit seinem beschreibungsstarken Mythenbegriff – Mythos als »plot«52 oder »Handlungskomposition«53 – literaturtheoretisch weiter zu kommen. Diese Definition lässt sich durch eine Theorie der Darstellung in eine philosophische Hermeneutik einbinden. Nur so wird man den angezeigten Unterschieden zwischen unmittelbarer und vermittelter Erfahrung gerecht: Sie lassen sich besser durch die hermeneutische Unterscheidung von Darstellung und Selbstdarstellung systematisieren als durch die Gegenüberstellung von My51

52 53

Im Schema von Stoff und Form reformuliert Kannicht Präsenz und Repräsentation von Mythen: »Der Begriff  «.  « bezeichnet schon im Homerischen Griechisch neben ›Wort, Aussage, Rede‹ den Inhalt von Aussagen, also ›Geschichte, Erzählung‹, seit Herodot dann auch im engeren Sinn die Geschichten der Heldensage, also das was auch wir noch ›Mythos‹ nennen. Der Mythos in diesem Sinn aber war der Grundstoff der griechischen Kunst und Dichtung, Grundstoff vor allem des Epos und der Tragödie. Hierin liegt also zunächst die allgemeine (materielle) Bedingung des Aristotelischen Begriffs. Als Stoff der Dichtung (und Kunst) war der Mythos nun aber notwendig immer schon mehr oder weniger geformter Stoff im Sinne organisierter Handlung; und hierin erst liegt die spezielle (poetologische) Bedingung des Aristotelischen Begriffs« (Kannicht, »Handlung als Grundbegriff der Aristotelischen Theorie des Dramas«, S. 331). Zimmermann, »Zum Begriff Mythos in der griechischen Literatur«, S. 7. Schmitt, »Einleitung«, S. 130.

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thos und Nicht-Mythos, von Mythos und »Wissenschaft« oder »Vernunft« im Falle Gadamers. Als Mythen ließen sich dann – mit Aristoteles – die gegenständlichen Korrelate von Darstellungen verstehen, sofern diese Wesenszüge des menschlichen Handelns darstellen. Da Gadamer Darstellung und Selbstdarstellung identifiziert, kann er auch den Mythosbegriff im Sinne der Tradition verstehen, die die Poetik für die Mythostheorie ignoriert hat.54 Auch wenn sich Gadamer sonst an Aristoteles orientiert: Die für Gadamers Begriffsverwendung maßgebliche Form ist der Mythos im Singular, und Mythos bezeichnet für Gadamer eine Gemeinschaft stiftende und für diese verbindliche Überlieferung, die die Erkenntnisleistung und Emotionalität des Tragischen ermöglicht. Hier liegen feine Unterschiede: ›Mythos‹ ist für Gadamer die Bezeichnung für eine bestimmte Form von Präsenz, nicht die individuelle Strukturierung von Präsenz und Repräsentation durch einen Mythos unter anderen. Beides verbindet sich für Gadamer nur historisch, aufgrund einer Tradition, deren Wahrheit uns noch einbehält, mit seiner Theorie der Darstellung. Dabei lässt sich im Anschluss an Aristoteles’ Mythostheorie und an Gadamers eigene Theorie der Darstellung auch eine systematische Verbindung ziehen. Gadamer schreibt im eingangs zitierten Aufsatz Kunst und Nachahmung: Die Wiedererkennung, wie sie Aristoteles meint, hat zur Voraussetzung, daß eine verbindende Tradition besteht, in der sich alle verstehen und in der sie sich selbst begegnen. Das ist für das griechische Denken der Mythos. Er ist der gemeinsame Inhalt der künstlerischen Darstellung, dessen Wiedererkennung unsere Vertrautheit mit der Welt und mit dem eigenen Dasein vertieft, sei es auch in Mitleid und Furcht. Dieses Erkennen ›Das bist du!‹, das in den schauerlichen Vorgängen auf dem griechischen Theater sich vor unseren Augen abspielt, dies Sich-Erkennen im Wiedererkennen, war getragen durch die ganze Welt der religiösen Überlieferung der Griechen durch ihren Götterhimmel und durch die Heldensage und durch die Herleitung ihres gegenwärtigen Tages aus ihrer mythisch-heroischen Vergangenheit. Was soll das uns? Auch die christliche Kunst hat, wie wir uns nicht verbergen können, ihre mythische Sagkraft seit 150 Jahren verloren.55

Auch wenn Gadamer seine Kunsttheorie an der aristotelischen Tragödientheorie orientiert, verstellt Hegels These vom Ende der Kunst – reformuliert 54

55

Das wird deutlich im Eintrag »Mythos« im Historischen Wörterbuch der Philosophie (Joachim Ritter [Hrsg.], Bd. 6, Basel 1984, Sp. 281–318), der die Poetik nicht als eigenen Beitrag zur Mythentheorie erwähnt, sondern allein als Ausgangspunkt der modernen Mythologie Hermann Brochs. Gadamer, »Kunst und Nachahmung«, S. 32f.

Mimesis und Mythostheorie bei Aristoteles und Gadamer

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als Ende des Mythos56 – Gadamer den Blick auf Mythen als gegenständliche Korrelate von Darstellungen. Das zwingt Gadamer dazu, Mythen als Repräsentationen einer geschichtlich vorgängigen Präsenz zu verstehen, als Präsenzkategorie für Geschichten des göttlichen »Handelns am Menschen«, ohne sie als Handeln des Menschen zu begreifen. Aristoteles, obwohl er näher am Quell genau jener geschichtlichen Überlieferung stand, auf die sich Gadamer beruft, versteht Mythen dagegen überzeugender einfach als Geschichten, aber damit nicht als unbegriffliche Urpräsenz, als Kindheit des Begriffs im Sinne Hegels.57 Vielmehr zeigt sich an Aristoteles’ Mythosdefinition: In Mythen werden Handlungsmöglichkeiten als Einheiten von Darstellungen gegenständlich und erscheinen in diesen Darstellungen so, dass das Erscheinen der Handlung und die erscheinende Handlung ununterscheidbar werden. So erschließen sie aber die dargestellte Welt. Man sollte die Tragweite des hier angezeigten Problems für Gadamers Projekt nicht unterschätzen. Gadamer weist selbst darauf hin, dass das Tragische eine »Sinnfigur« ist, die nicht auf eine Kunstgattung oder auf die Kunst beschränkt bleibt. Bereits vor der »Ontologischen Wendung der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache«, dem dritten Teil von Wahrheit und Methode, bestimmt Gadamer das Tragische als »Grundphänomen« des Lebens,58 nicht nur der Ästhetik, mit der das Buch beginnt. Aristoteles’ Theorie des Tragischen, auf die sich Gadamer bezieht, lässt sich aber von der Mythostheorie nicht trennen. Gerade wenn Mythos ein Grundphänomen der emotionalen und existenziellen Relevanz von Geschichten benennen soll, scheint es angebracht, nicht auf einen »letzten Rest von Vertrautheit« zu setzen, der uns noch ›im Mythos‹ hält, so dass wir noch »ein Stück Wiedererkenntnis«59 56

57

58 59

Die enge Verbindung, die Gadamer zwischen »mythischer Überlieferung« und »religiöser Überlieferung« sieht (vgl. Anm. 51), macht diese Übertragung plausibel. Wenn wir vor dem Mythos wie vor mythischer Kunst stehen, gilt: »es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr« (G. W. F. Hegel, Werke. Bd. 13: Vorlesungen über die Ästhetik I, Frankfurt a. M. 1970, S. 142). Im Gegensatz zur Vergangenheit des »Mythos« gelte Hegels Vergangenheitsthese aber für die Kunst gerade nicht mehr: »die Kunst behauptet den Anspruch auf Absolutheit dadurch, daß sie über alle Zeitunterschiede hinwegreicht« (Hans-Georg Gadamer, »›Wort und Bild‹ – so wahr, so seiend«, in: Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 373–399, hier S. 375). Hegel setzt diesen Gedanken in einer anthropomorphisierenden Metapher fort: »Die Mythe gehört zur Pädagogie des Menschengeschlechts. Ist der Begriff erwachsen, so bedarf er derselben nicht mehr« (G. W. F. Hegel, Werke. Bd. 19: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, Frankfurt a. M. 1971, S. 30). Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 133f. Gadamer, »Kunst und Nachahmung«, S. 33.

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vollziehen können. Die existenzielle Relevanz des Tragischen und damit von Mythen, die Gadamer zu Recht betont, löst diese auch aus einer Theorie der Darstellung in schönen Künsten. Die Darstellung von Mythen ist nicht unbedingt schön und dennoch kann in ihr die Struktur von Handlungen hervorkommen. Schöne Darstellungen von Mythen sind dadurch hervorgehoben, dass Mythen in ihnen ihrer inneren Struktur angemessen dargestellt werden. Dass Gadamer die Vielzahl der Mythen zu einer »Beglaubigungsart« zusammenfasst, liegt in der Konsequenz der Engführung von Darstellung und Selbstdarstellung. Gegen die geschichtsphilosophischen Großthesen der Mythosphilosophie, zumal der modernen, die Gadamer mitmacht, ließe sich auf die Poetik zurückgreifen: Mythen sind nichts weiter als spezifische Konfigurationen von Handlungsmöglichkeiten, die mimetisch Handlungen in ihrem Wesen darstellen. Dass wir mit Mythen umgehen und sie in unser alltägliches wie ästhetisches Erfahren gehören, führt nicht in die Immanenz des Geistes, der den mimetischen Kinderschuhen entwächst und sich im Begriff emanzipiert, auch nicht in das Geschehen sich selbstdarstellender geschichtlicher Wahrheit, sondern ist eine mehr oder weniger alltägliche, mehr oder weniger selbstverständliche Darstellung unserer Handlungsmöglichkeiten in einer Welt, die uns allein in solchen Darstellungen verständlich wird. Genau das hebt man hervor, wenn man von einem Gegenständlichen als Kern mythischer Darstellungen spricht, der in der Differenz der Darstellungen zur Geltung kommt. Was so mimetisch, bildhaft, repräsentational erschlossen wird, ist die Präsenz der Sache.

Wiederholen – Erinnern – Durcharbeiten

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Wolfram Ette (Chemnitz)

Wiederholen – Erinnern – Durcharbeiten: Präsenz und Repräsentation in Ovids Metamorphosen

Ovids Metamorphosen sind mehr als eine korollarische Sammlung von Verwandlungsgeschichten. Sie formulieren vielmehr, indem sie die Mythologie ausschließlich auf solche Verwandlungsgeschichten und ihren Zusammenhang fundieren, ein neues mythologisches Paradigma, das nicht mehr im Zeichen der Präsenz steht, sondern im Zeichen der Repräsentation. Das ist die These, die ich im Folgenden versuchen werde zu begründen. Den Anfang machen dabei systematische Überlegungen, die das Verhältnis der ovidischen Metamorphosen zu den zwei anderen mythologischen Systemen der Antike zu bestimmen versuchen (I.). Es folgen Ansätze zu einer Theorie der Metamorphose (II.). An zwei Beispielen wird dann versucht, den Ertrag dieser Theorie interpretierend auszumünzen (III.). Schließlich soll die Verwandtschaft des ovidischen Verfahrens mit der Freud’schen Psychoanalyse dargestellt werden; hier wird dann auch der Titel meiner Überlegungen seine Erklärung erfahren (IV.). Abschließend werde ich zum Ausgangspunkt zurückkehren und die Frage zu beantworten versuchen, auf welche Weise sich Ovids Werk im Spannungsfeld von Präsenz und Repräsentation verorten lassen könnte.

I.

Zum Verhältnis von Genealogie, Heroenmythos und Metamorphose

Die Antike kennt drei große mythologische Systeme: die Genealogie, den Heroenmythos und die Metamorphosen. Diese drei Systeme unterhalten zu Präsenz und Repräsentation ein jeweils anderes Verhältnis. Die beiden ersten verfolgen eine präsentistische, die Metamorphosen eine repräsentationistische Intention. Ein naheliegendes Missverständnis ist hier allerdings aus dem Weg zu räumen. Dass ein mythologisches System, wie es hier behauptet wird, ›präsentistisch‹ beziehungsweise ›repräsentationistisch‹ verfasst sei, bedeutet nicht, dass es auf den Aspekt der Präsenz oder der durch Repräsentation vermittelten Absenz eindeutig und quasi ohne Rest reduziert werden könne. Gemeint ist vielmehr, dass Präsenz und Repräsentation in den mythologischen Systemen unterschiedlich prägnant vertreten sind. Sowohl in der Ge-

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Wolfram Ette

nealogie als auch im Heroenmythos spielt Repräsentation eine Rolle, aber sie ist nicht das Ziel der mythologischen Darstellung. Umgekehrt ist Präsenz in einem Werk wie den Metamorphosen sehr wohl von Bedeutung, aber es gehört zur erzählerischen Intention dieses Werks, diese Präsenz und ihre Vorherrschaft durch Verfahrensweisen der Repräsentation zu brechen. Die Funktion der Genealogie besteht – so hat es Paula Philippson in einer klassischen Arbeit über Hesiods Theogonie formuliert1 – nicht darin, Zeit zur Darstellung zu bringen, sondern sie im Gegenteil aufzuheben. Das genos, die Reihe der Nachkommen, verbindet Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht linear miteinander, sondern bringt sie in einen Zusammenhang, der an sich zeitlos ist. Kein Ahn stirbt im genealogischen System und wird von den nachfolgenden Generationen abgelöst; sein Sein ist vielmehr in allen Nachkommen so enthalten, wie in einer deduktiven Klassifikation der Oberbegriff in allen Unter- und Artbegriffen steckt. Seinsmacht ist eine direkte Folge aus der Stellung im genealogischen System. Auch das Neue, bei Hesiod die Herrschaft des Zeus, die im theogonischen Prozess entsteht und die Seinsbindung in der Folge dynastischer Revolutionen zunächst einmal aufkündigt, kann sich im genealogischen System letztlich doch nur durch Rückbindung an die Sphäre der zeitlosen Seinswelt legitimieren.2 Der Heroenmythos zeigt uns auf den ersten Blick ein vollkommen anderes Bild. Heroen sind Figuren, die gegen eine Ursprungsbindung, also die Herrschaft einer Präsenz rebellieren,3 die alles ›Neue‹, also Geschichte, die sich in eine unbestimmte Zukunft öffnet, systematisch ausschließt. Allerdings ist die heroische Rebellion der Schauplatz einer spezifischen, den Ursprung einbeziehenden Dialektik. Der Protest gegen den Ursprung als Präsenz ist nur denkbar, sofern und soweit er sich mit einer ursprungsmythischen Rückbindung verträgt. Der Mythos kennt verschiedene Verfahrensweisen, diese Rückbindung zu bewerkstelligen. Die einfachste und häufigste Lösung besteht darin, die Heroen zu vergöttlichen, wie es bei Herakles und all denen der Fall war, die nach ihrem Tod – eine in Griechenland übliche 1

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Paula Philippson, »Genealogie als mythische Form. Studien zur Theogonie des Hesiod« [1936], in: Ernst Heitsch (Hrsg.), Hesiod, Darmstadt 1966, S. 651–687. Ebd., S. 675–678. Es ist zu betonen, dass sich die Priorität der Präsenz auf die mythologischen Genealogien bezieht. Bei Nietzsche etwa hat der Begriff eine ganz andere, betont historisierende Funktion. Ähnlich verhält es sich mit Genealogien in moderner Literatur. Vgl. Sabine Mainberger, Die Kunst des Aufzählens. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen, Berlin 2003, S. 262–278. Zu dieser Bestimmung des Heros vgl. Klaus Heinrich, arbeiten mit herakles. Zur Figur und zum Problem des Heros; antike und moderne Formen seiner Interpretation und Instrumentalisierung, Basel, Frankfurt a. M. 2006.

Wiederholen – Erinnern – Durcharbeiten

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Praxis – kultische Verehrung genossen.4 Etwas Neues zu schaffen, ist sozusagen nur mit dieser Lizenz erlaubt. Im Kult erscheint das Neue als modellhafte Gründung, die in die mythische Urzeit zurückprojiziert wird. Es wird zugleich erinnert und verdeckt. Einen Grenzfall dieses Verfahrens bildet die griechische Tragödie. Denn hier erscheint im kultisch nicht abgefederten Opfer des Heros ein Negativ des Neuen. Zu unterscheiden ist hier freilich zwischen Aischylos, dessen Trilogien – Orestie und Promethie – auf Kultgründungen hinausliefen, und den jüngeren Sophokles und Euripides, bei denen davon (bis auf das letzte Werk des Sophokles, den Ödipus auf Kolonos) nicht die Rede sein kann. Der Heros geht, so hat es Walter Benjamin formuliert, »als Erstling einer neuen Menschheitsernte«5 unter. So öffnet sich in der griechischen Tragödie die Mythologie einer geschichtlichen Zukunft, auch wenn diejenigen, die sich dafür eingesetzt haben, für diese Tat bestraft werden.6 Sie ist deswegen ein Grenzfall. Auf der einen Seite steht sie im Zeichen einer ursprungsmythischen, ›präsentistischen‹ Auffassung des Mythos, die alles Neue als solches verschleiert (bzw., wenn dies nicht mehr möglich ist, unter Strafe stellt); auf der anderen Seite verabschiedet sie sich von dieser Auffassung zugunsten einer systematischen Distanzierung von den einstmals sinngebenden Ursprungsmächten. Die tödlichen Konflikte, die sich daraus ergeben, sind die Geburtswehen eines neuen historischen Empfindens, das diese Werke zum Teil euphorisch begrüßen, zum Teil als Präsenzverlusterfahrung schmerzvoll beklagen.

II. Metamorphosen und Metamorphose Wie verhalten sich Ovids Metamorphosen zu diesen mythologischen Systemen? Sie lassen sich zunächst einmal rein äußerlich von ihnen abgrenzen. Denn zum einen spielt Genealogie in Ovids Werk überhaupt keine Rolle. Im 4

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Vgl. David Boehringer, Heroenkulte in Griechenland von der geometrischen bis zur klassischen Zeit, Berlin 2001, wo die archäologischen Befunde detailliert gesichtet werden. Walter Benjamin, »Ursprung des deutschen Trauerspiels« [1928], in: Gesammelte Schriften. Rolf Tiedemann (Hrsg.), Bd. 1/1, Frankfurt a. M. 1974, S. 203–430, hier S. 286. Zumal die sophokleischen Tragödien eröffnen den Raum eines Fragens, auf das sie keine Antwort geben wollen. Ihre Hoffnung liegt darin, dass das politische Kollektiv darüber zu einer Verständigung gelangt. Sind Orest und Elektra (in der Elektra) berechtigt, Klytaimnestra und Aigisth zu töten? Sind sie berechtigt, Klytaimnestra, aber nicht Aigisth zu töten? Oder gar umgekehrt? Wie weit darf die Rache gehen? Gibt es Alternativen zu dem, was sie tun? Die Forschung der letzten Jahre ist sich darüber immer uneiniger geworden und bildet damit die bestürzende Offenheit des Stücks ab.

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Gegenteil: Sie wird regelrecht unterdrückt. Der verwirrende und kaum zu systematisierende Erzählverlauf der Metamorphosen scheint geradezu davon bestimmt zu sein, jedes genealogische Ordnungsschema zu sabotieren. In das narrative Großschema des Werks, vom Anfang der Welt bis zur augusteischen Zeit zu erzählen, sind chronologische Sprünge, ja sogar Rückwärtsbewegungen eingearbeitet, die sich mit dem strikten Nacheinander der Generationen im genealogischen Schema nicht vertragen. Generell treten an die Stelle verwandtschaftlicher Zusammenhänge, von denen das genealogische Erzählverfahren bestimmt ist, motivische Assoziationen sehr unterschiedlicher Prägnanz. Das narrative Geflecht ist sehr viel loser und unverbindlicher als die starre Matrix von Eltern-Kind-Verhältnissen, die wenigstens idealtypisch alternative Erzählwege ausschließen. Zum anderen ist Heroismus in gleich welcher Form für die Konzeption der Metamorphosen offenbar irrelevant. Ovids Gesamtwerk ist seit seinen Anfängen un-, ja antiheroisch,7 und im Hauptwerk verschärft sich noch einmal der Ton und wird bitter und sarkastisch. So wird Apollon, der die Pythonschlange tötet, unmittelbar darauf in der Geschichte mit Daphne zum hilflosen, ja lächerlichen Opfer seiner Triebe: »ihn trügt sein eigen Orakel« – das er kurz zuvor übernommen hatte – »und er nährt mit eitlem Hoffen das Feuer«.8 Oder die trojanischen Helden, die von Homer an als Muster eines sich von göttlichen Vorschriften unabhängig erklärenden Heroentums gesehen wurden: Sie erscheinen bei Ovid als bramarbasierende Kumpanei, die zwischen rationaler Beutegier und hemmungsloser Brutalität hin und her pendelt. Das ovidische Modell des Krieges ist nicht der Zweikampf, wie ihn Homer in der Auseinandersetzung zwischen Achill und Hektor paradigmatisch inszeniert hatte, sondern das Gemetzel, das die feindlichen Körper zu 7

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In den Einleitungsgedichten der drei Bücher der Amores kehrt Ovid seinen Unwillen gegen das Heroische immer deutlicher heraus. In Amores 1, 1 erscheint es noch als unbeabsichtigtes Versehen, dass sich der tragisch-heroische Vers wieder und wieder ins Elegienmaß wandelt, im ersten Gedicht des zweiten Teils schreibt Ovid seiner Kunst selbstbewusst eine pazifizierende Wirkung zu – »Zauber des Liedes entführt die Hörner des blutigen Mondes, / Ruft des fahrenden Sol schneeige Rosse zurück; / Zauber des Liedes zersprengt des Lindwurms berstenden Rachen, / Läßt zur Quelle zurückfließen die Wogen des Stroms« (Amores 2, 2, 23–26; in: Ovid, Werke in zwei Bänden. Liselot Huchthausen (Hrsg.), Bd. 2, Berlin, Weimar 1968, S. 32) –, die er im zweiten Gedicht des dritten Teils bündig auf seine Abneigung gegen alle Formen gewaltsamer Veränderung zurückführt: »Klatsche dem Mars Beifall, Soldat! Ich hasse die Waffen. / Friede behagt mir; mir ward Liebe durch Frieden zuteil« (Amores 3, 2, 48f., in: Ovid, Werke, Bd. 2, S. 61). Vgl. Ovid, Metamorphosen 1, 491/496, in: Publius Ovidius Naso, Metamorphosen. Herausgegeben und übersetzt von Erich Rösch, München, Zürich 1988.

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einer ununterscheidbaren Masse aus Fleisch und Körpersäften verknäult. Der Kampf zwischen den Zentauren und den Lapithen, der das mythologische Vorbild des Trojanischen Krieges abgibt, ist sozusagen ein antiker splatter movie, der mit der Gewaltfaszination der Leser spielt und sie zugleich verhöhnt.9 Achill erscheint als brutaler Kraftprotz,10 Ulixes als raffinierter Advokat in eigener Sache, der mit allem Glanz die Schule der römischen Rhetorik absolviert hat.11 Hercules, in gewisser Hinsicht der Heros par excellence, an dem sich die systematische Amphibolie des Heroenmythos in aller Deutlichkeit darlegen lässt, wird gezielt bagatellisiert; was von ihm übrigbleibt, ist nackte, für die Zivilisation wenig förderliche Aggression.12 All dies sind freilich nur Negativbestimmungen. Die Behauptung, in Ovids Werk formuliere sich ein neues mythologisches Paradigma, muss vielmehr positiv an dem Prinzip ansetzen, das dieses Werk organisiert. Das ist die Metamorphose, die Gestaltverwandlung.13 Ovid hat dieses Prinzip nicht erfunden. In der überlieferten Mythologie gab es viele Verwandlungsgeschichten und Ovid war weder der Erste noch der Einzige seiner Zeit, der sie zu Sammlungen zusammenstellte.14 Aber er ist der Erste und der Einzige, der es mit dem Anspruch auf Totalität tut. Dieser Anspruch, der sich im Proömium der Metamorphosen darin ausdrückt, er, Ovid, wolle die einzelnen Verwandlungsgeschichten zu einem zusammenhängenden Gesang, einem carmen perpetuum zusammenfügen, der »vom Anfang der Welt bis zu meiner Zeit«15 führen solle, ist das grundstürzend Neue des ovidischen Unterneh9 10 11 12

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Ebd. 12, 210–535. Vgl. ebd. 12, 64–145. Vgl. ebd. 13, 124–381. Vgl. ebd. 9, 9–272. Vgl. hierzu Franz Bömer, P. Ovidius Naso: Metamorphosen. Kommentar, Bd. 4, Heidelberg 1977, ad loc. Ovid hat in seinem erhaltenen Werk den Begriff aus metrischen Gründen nicht verwendet. Er spricht in der Regel von mutatae formae oder corpora versa. Es gilt aber nahezu als gesichert, dass Ovid selbst so weit ging, seinem Hauptwerk den griechischen Titel zu geben. Vgl. des Näheren: Christian Zgoll, Phänomenologie der Metamorphose. Verwandlungen und Verwandtes in der augusteischen Dichtung, Tübingen 2004, S. 137. Boios (3. Jh.) verfasste ein Werk mit dem Titel Ornithogonia, hatte sich also auf Vogelverwandlungen spezialisiert. Nikander (2. Jh.) schrieb eine Heteroioumena (›Vom Anderswerden‹). Parthenios, ein Zeitgenosse Ovids, soll ein hexametrisches Werk mit dem Titel Metamorphoseis verfasst haben. Von den Werken selbst ist nichts überliefert außer dem Titel. Es ist allerdings davon auszugehen, dass in der augusteischen Zeit das Interesse an Verwandlungsgeschichten stieg. Dieses Interesse in der außerovidischen Literatur zu erforschen, ist das Ziel von Zgolls Monographie. Ovid, Metamorphosen 1, 1–4.

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mens. Die Einzelgeschichten bilden also eine Einheit. Wie diese Einheit zu beschreiben sei, gehört zu den grundlegenden Deutungsproblemen der Metamorphosen. Dass Ovid aber überhaupt ein Gebilde im Sinn habe, das insgesamt von der Welt erzählt und diese Erzählung in strikter Beschränkung auf das Prinzip der Metamorphose gründet, berechtigt dazu, in ihr ein mythologisches Paradigma zu vermuten, das gleichberechtigt neben Genealogie und Heroenmythos tritt. Aber was ist Metamorphose? Diese Frage liegt so nahe und ist gleichwohl sehr schwer zu beantworten. Die Literatur zu diesem Thema ist weit verstreut, beschränkt sich nicht mehr auf die Klassische Philologie und hat in den letzten Jahren stark zugenommen.16 Wenn ich im Folgenden versuche, einige Elemente zusammenzustellen, die aus meiner Sicht zum ovidischen Konzept der Metamorphose substanziell dazugehören, so geschieht das ohne Absicht auf Vollständigkeit. Es ist mir hier nicht darum zu tun, einen Begriff zu entwickeln, unter den sich alle Verwandlungsgeschichten der Metamorphosen subsumieren lassen. Dennoch liegt ein solcher Begriff letztlich in der Fluchtlinie des hier Zusammengetragenen.

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Eine Auswahl: Michael von Albrecht, Das Buch der Verwandlungen. Ovid-Interpretationen, Düsseldorf, Zürich 2000; Leonard Barkan, Gods Made Flesh. Metamorphosis & the Pursuit of Paganism, New Haven, London 1985; Bruce Clarke, Allegories of Writing. The Subject of Metamorphosis, Albany 1995; Karl Galinsky, Ovid’s Metamorphoses. An Introduction to the Basic Aspects, Oxford 1975; Friedemann Harzer, Erzählte Verwandlung. Eine Poetik epischer Verwandlungen, Tübingen 2000; Hansjörg Haege, Terminologie und Typologie des Verwandlungsvorgangs in den Metamorphosen Ovids, Diss. Tübingen 1976; Niklas Holzberg: »Formen des Wandels bei Ovid«, in: Herwig Gottwald/ Holger Klein (Hrsg.), Konzepte der Metamorphose in den Geisteswissenschaften, Heidelberg 2005, S. 37–50; Peter Kuon: »Metamorphose als geisteswissenschaftlicher Begriff«, in: ebd., S. 1–16; Godo Lieberg: »Das Verhältnis der Metapher und des Vergleichs zur Metamorphose in den ›Metamorphosen‹ Ovids«, in: Werner Schubert (Hrsg.), Ovid – Werk und Wirkung. FS Michael von Albrecht, Frankfurt a. M. 1999, S. 343–358; Wilhelm Quirin, Die Kunst Ovids in der Darstellung des Verwandlungsaktes, Diss. Gießen 1930; Ursula Reber, Formenverschleifung. Zu einer Theorie der Metamorphose, München 2009; Ernst A. Schmidt, Ovids poetische Menschenwelt. Die ›Metamorphosen‹ als Metapher und Symphonie, Heidelberg 1991; Harold Skulsky, Ovid’s Epic. Metamorphosis. The Mind in Exile, Cambridge/Mass. 1981; Joseph B. Solodow, The World of Ovid’s ›Metamorphoses‹, Chapel Hill 1988; Zgoll, Phänomenologie der Metamorphose. Anregungen, die ich aus diesen Untersuchungen übernommen habe, werden durch Einzelverweise im Folgenden kenntlich gemacht. Am meisten verdanke ich allerdings einer unveröffentlichten Vorlesung Klaus Heinrichs (Zivilisation und Mythologie III – Ovid, Metamorphosen. Vorlesung über Orpheus, gehalten im Sommersemester 1981 an der Freien Universität Berlin, Ursula Panhans-Bühler/Cary Brandt [Hrsg.], Typoskript Berlin 1983).

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(1.) Die erste Bestimmung gibt Ovid selbst zu Beginn des Werks. Es heißt hier: »In nova fert animus mutatas dicere formas / corpora«: »Singen heißt mich das Herz von Gestalten, verwandelt in neue / Leiber«.17 Die simple Frage, vor die diese Formel stellt, lautet: In welchem Verhältnis stehen formae und corpora? Der erste Begriff bezeichnet in der Regel die beseelte Gestalt, zielt also auf die Identität des lebendigen Organismus. Corpora dagegen meint – wenigstens tendenziell – den toten Körper, in dem jene Identität sich auflöst.18 Das entspricht ja auch einer ganzen Reihe von Metamorphosen, die mit einer spezifischen ›Entseelung‹ der sich verwandelnden Gestalt einhergehen. Die durch die Prozessklammer von forma und corpus eröffnete Frage ist also, wie weit in der Metamorphose ein Identisches beharrt und wie weit hier eine Veränderung statt hat, die ›an die Substanz geht‹. Dass sie nicht beantwortet wird, bedeutet, dass sich Ovid die Optionen so offen wie möglich halten will. Ausgeschlossen werden lediglich die Extreme eines teleologischen Prozesses mit durchgehend identischem Substrat auf der einen, einer wahllosen und beliebigen Neusetzung auf der anderen Seite.19 Zwischen ihnen verläuft die Skala metamorphotischer Phänomene, in denen sich Beharrung und Veränderung auf jeweils ganz andere Weise zusammensetzen.20 (2.) In den Metamorphosen ist das Thema der Verwandlung auf zwei Ebenen präsent: einmal in Gestalt der Einzelverwandlung und zum anderen auf einer umfassenden kosmischen Ebene. Diese Ebene wird in den kosmogonischen Passagen des ersten Buchs berührt, aber auch in dem theoretischen Traktat des Pythagoras, das einen großen Teil des 15. Buchs einnimmt. In welchem Verhältnis diese zwei Ebenen zueinander stehen, ist in der Forschung umstritten;21 unbestritten ist nur ihre Zusammengehörigkeit. Die Welt verwan17

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Ovid, Metamorphosen 1, 1–2; dt. Übersetzung von Erich Rösch, in: Ovid, Metamorphosen. Vgl. Haege, Terminologie und Typologie; Reber, Formenverschleifung, S. 160. »Keine Teleologie, keine Kausalität, keine Metaerzählung« heißt es bei Kuon, »Metamorphose als geisteswissenschaftlicher Begriff«, S. 15 von der Metamorphose als Gegenstand und als Erzählprinzip. Reber, Formenverschleifung, S. 66 prägt für die offenen Hybride zwischen Prozessen, die von Identität, und solchen, die von Alterität bestimmt sind, den Ausdruck »Idealterität«. Vgl. Haege, Terminologie und Typologie, S. 280. Vgl. Zgoll, Phänomenologie der Metamorphose, S. 24; Haege, Terminologie und Typologie, S. 1; Haege zitiert eine Passage aus Walter Ludwigs Ovid-Buch, die für die Unschärfe der Verhältnisbestimmung charakteristisch ist: »Die Darlegung, dass alles in der Welt sich wandelt und in der Wandlung doch erhalten bleibt, gibt zwar nicht unmittelbar den philosophischen Schlüssel zum Sinnverständnis der Metamorphosen; denn die Wandlungen, von denen Pythagoras spricht, schließen jene mi-

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delt sich als Ganzes – »omnia mutantur, cuncta fluunt« (»alles verwandelt sich, alles fließt«)22 hören wir aus dem Mund des Pythagoras – und in diesem Rahmen bilden die Partikularmetamorphosen vorübergehend verfestigte Stationen. (3.) Verknüpft werden der universelle metamorphotische Prozess und die Partikularmetamorphose im Augenblick des Übergangs von der einen zur anderen Gestalt. In diesen Momenten der »Formverschleifung«, auf die vor allem Ursula Reber aufmerksam gemacht hat, öffnet sich die Welt der festen und bekannten Formen auf das anfängliche Chaos, in dem »nichts seine Form behielt«,23 einen Abgrund reiner Differenzialität,24 in dem sie sich wieder vermischen wie zu Beginn des kosmogonischen Prozesses und den Aspekt »eines ohne jedes Ordnungsprinzip erfolgenden Werdens und Vergehens«25 als Triebgrund der unabschließbaren kosmischen Entwicklung freilegen. (4.) Die allermeisten Verwandlungsgeschichten, von denen Ovid erzählt, sind aitiologisch,26 d. h., sie berichten vom Ursprung eines in Natur oder Kultur gegebenen Phänomens. Vermutlich steht das, was Ovid berichtet, pars pro toto für die Verfassung der Gesamtwirklichkeit, auf die sich vom überlieferten Mythenbestand her extrapolieren lässt: Letztlich ist alles, was ist, durch Metamorphose entstanden, beruht also auf einer Geschichte, die man sich analog zu denen denken kann, die Ovid erzählt.

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rakulösen Verwandlungen der Sagenwelt nicht ein, sondern eher als unglaubwürdige fama aus. Dennoch bildet die […] Pythagorasrede eine wesentliche Ergänzung zu den Metamorphosen der Sage« (Walter Ludwig, Struktur und Einheit in den Metamorphosen, Berlin 1965, S. 71). Ein guter Überblick über die aktuelle Forschungssituation findet sich in: Ulrich Schmitzer, Reserare oracula mentis. Abermals zur Funktion der Pythagorasrede in Ovids Metamorphosen, greifbar unter: www.kirke.huberlin.de/schmitzer/preprint/pythagoras_schmitzer.pdf (Stand: 26. 06. 2011). Ovid, Metamorphosen 15, 165, 178. Ovid, Metamorphosen 1, 17: »nulli sua forma manebat«. Das von Ordnung und festen Formen überwachsene, aber nicht verschwindende Chaos ist der Triebgrund eines metamorphischen Universums; seine »precondition« (Barkan, The Gods Made Flesh, S. 28). Vgl. Reber, Formenverschleifung, bes. S. 79–87. Den Hintergrund bildet die Differenzphilosophie von Gilles Deleuze (und Felix Guattari). Allerdings wird eher vage darauf angespielt und der Bezug konzeptionell nicht deutlich ausgeführt. Barkan, The Gods Made Flesh, S. 39 setzt diese Sphäre zu Dionysos in Beziehung. Niklas Holzberg, »Einführung«, in: Ovid, Metamorphosen. Übersetzt von Erich Rösch. Niklas Holzberg (Hrsg.), 14. Aufl., München, Zürich 1996, S. 743–763, hier S. 761. Skulsky, Ovid’s Epic; Holzberg, »Formen des Wandels«. Vgl. insgesamt Sara Myers, Ovid’s Causes. Cosmogony and Aetiology in the ›Metamorphoses‹, Ann Arbor 1994. – Dagegen Galinsky, Ovid’s Metamorphoses, bes. S. 61–70.

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(5.) Das, was die Verwandlung bewirkt, sind Affekte, und zwar in ihrer tendenziell pathologischen Extremgestalt. Sehr viele Geschichten kreisen darum, wie ein Affekt die Bahn seiner kulturellen Regulierung verlässt und so stark wird, dass er nach außen dringt und zur Gestaltverwandlung führt. In diesem Sinne sind die Metamorphosen Dokument eines universellen Anthropomorphismus.27 (6.) Die eine Metamorphose auslösenden Affekte sind um zwei Gravitationszentren angeordnet, um Sexualität und Aggression, amor und feritas.28 Die Metamorphosen sind eine Pathographie dieser Affekte. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf ihrer Konfundierung, auf der Vermischung von »Liebe und Wildheit«. Die Metamorphosen erscheinen unter diesem Gesichtspunkt als eine kritische Phänomenologie solcher Gefühlsverbindungen. Sie mündet ein in eine Phänomenologie affektiver Selbstzerstörungsprozesse. (7.) Aber Metamorphose ist beides: Selbstzerstörung und Rettung aus einer ausweglosen Situation. Sie löscht – partiell und in unterschiedlichem Grad – den Affektkonflikt aus, aus dem sie hervorgegangen ist, sie überführt ihn aber auch in eine stabilisierte Form, in der der Konflikt analysiert und gehalten werden kann.29 (8.) Nehmen wir dies mit der aitiologischen Natur der mythologischen Verwandlungsgeschichten zusammen, so bedeutet das, dass jede von ihnen einen für die menschliche Gattung und ihre Kultur bedeutsamen Affektprozess festgehalten hat. Die Metamorphosen sind die affektiven »Katastrophenmale« der menschlichen Gattungsgeschichte.30 Sie berichten von den kollektiven Gefühlen und Gefühlskonflikten, durch die die Menschen zu dem wurden, was sie sind. (9.) Diese ›gattungspsychologische‹ Perspektive ist auf den Prozess der kosmischen Metamorphose zu übertragen. Die Partikularmetamorphosen machen sichtbar, was sie bedeutet. Sie ist nicht Wandel überhaupt, sondern kontinuierliche und unabschließbare Affektverwandlung der Welt. Die Welt ist ein Organismus, ein Lebewesen,31 und Ovid ist angetreten, die Gefühls27

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Ebd., S. 40; Schmidt, Ovids poetische Menschenwelt, S. 18; Zgoll, Phänomenologie der Metamorphose, S. 36; Reber, Formenverschleifung, S. 146 und S. 162. Vgl. dazu Ovid, Fasti 4, 85–132. Kuon, »Metamorphose als geisteswissenschaftlicher Begriff«, S. 5 zur Verwandlung des Actaeon: »Im fliehenden Hirsch, der als Mensch fühlt und als Tier handelt, wird der animalische Grund einer erotischen Begierde anschaulich, die Actaeon selbst unbewusst war.« Klaus Heinrich in der in Anm. 16 genannten Vorlesung. Ovid, Metamorphosen 15, 342–368. Es ist allerdings zu beachten, dass diese Überlegung hypothetisch bleibt. Ovid lässt hier eine ›animistische‹ und eine naturwis-

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geschichte, die Psychogenese dieses Lebewesens zu erzählen. Alles, was ist, hat ein Triebschicksal, das in ihm festgefroren ist. Alles, was ist, ist stillgestellter, schlecht und recht balancierter Konflikt. (10.) Auch wenn der Prozess der Affektverwandlung der Welt nicht im Bild eines eindeutigen oder gar garantierten Fortschrittsprozesses gesehen werden kann – ein Rückfall in die »Wildheit« ist vielmehr jederzeit möglich und kann, wie der Trojanische Krieg zeigt, auch auf einer verhältnismäßig späten Stufe des kosmogonischen Prozesses stattfinden32 –: Im Ganzen vermitteln die Metamorphosen doch das Bild einer allmählichen Kultivierung der Gefühle.33 Die Welt beruht auf einem erotischen Fundament; ob es hier einen Fortschritt geben kann, hängt daran, wie weit sich die anfängliche Wildheit zu verwandeln imstande ist. Die römische Zivilisation verbindet sich für Ovid (wie für Lukrez) mit der Hoffnung eines solchen Kulturfortschritts.34

III. Zwei Beispiele Ich möchte diese Überlegungen an zwei Beispielen konkretisieren. Die Exemplifizierung unterliegt dabei einer zweifachen Beschränkung. Auf der einen Seite sind die Beispiele von mittlerer Prominenz. Das psychologische

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senschaftliche Erklärung des Vulkanismus gleichberechtigt Revue passieren. Dennoch scheint mir die animistische Erklärung für die Metamorphosen ausschlaggebend zu sein. Vgl. etwa den häufigen Bezug auf »Mutter Erde« (Ovid, Metamorphosen 1, 393; 2, 276f.; 13, 892; 14, 409; 15, 342), die im Unterschied zu den anderen Göttern nicht in anthropomorpher Gestalt erscheint. Reber, Formenverschleifung, S. 97 spricht von der »Ubiquitarität und Unitarität einer Weltseele«. Clarke, Allegories of Writing, 31: »The universal transition from chaos to order is perpetually confronted with an entropic pull back into chaos.« Ähnlich Solodow, The World of Ovid’s ›Metamorphoses‹, S. 196. Vgl. Reber, Formenverschleifung, S. 156–159. Ein Schlüsselwerk für diese These ist die Ars amatoria; vgl. insbesondere die Passage 3, 121–143. Vgl. Lukrez, De Rerum Natura, 1, 1–34. Paradigmatisch für dieses – zum Teil nicht genutzte – Potenzial der römischen Zivilisation ist die Geschichte von Pomona und Vertumnus (Ovid, Metamorphosen 14, 622–771), eine der ganz wenigen Geschichten, die ›gut enden‹. Einerseits gehört dieser Mythos in die Sphäre des Gartenbaus und stellt so etwas wie einen zivilen Gegenmythos zu den heroischen Ursprungsfiktionen der augusteischen Zeit dar. Andererseits trägt Vertumnus das, wofür er steht, in seinem Namen. Vertumnus leitet sich her von vertere, eines der Grundverben für den Verwandlungsvorgang (vgl. Ovid, Tristia 2, 64, 556). Er ist ein Verwandlungsgott, einer, der nicht auf eine bestimmte Verwandlungsidentität fixiert bleibt. Er hat das mit den anderen Göttern gemein, trägt es aber programmatisch in seinem Namen. Auch sein Name ist Gegenbild zu Augustus, dem ›Strengen‹, ›Erhabenen‹.

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Niveau der Verwandlungsgeschichten in den Metamorphosen unterscheidet sich beträchtlich; um aber das, worauf es mir ankommt, zu zeigen, ist es nicht notwendig, in das Haifischbecken der Untersuchungen zu steigen, die sich mittlerweile um den Narziss-Mythos, um Daphne, Orpheus oder Actaeon angesammelt haben. Auf der anderen Seite decken die Exempel auch nur einen Teil der zehn Aspekte des Verwandlungsbegriffs ab, die ich zusammengetragen habe. Diese beziehen sich auf das Ganze der Metamorphosen; die einzelnen Verwandlungen entsprechen ihnen jeweils immer nur partiell. III.1. Die Verwandlung des Lichas und die Vergöttlichung des Hercules Lichas war der Diener des Hercules, der ihm das mit dem Blut des von ihm getöteten Zentauren Nessus, de facto also das mit dem Gift der Hydra getränkte Hemd der Deianeira überreicht hatte. Mit seiner Hilfe wollte sie den untreuen Heros wieder an sich fesseln. Lichas erleidet nun das typische Schicksal des Überbringers schlechter Nachrichten, allerdings in einer besonders krassen und geradezu phantastischen Form: Da erblickt er den Lichas, der zitternd im hohlen Gefels sich barg, und ruft in der Wut, wie der tobende Schmerz sie gesammelt: »Du, o Lichas, hast die verderbliche Gabe gegeben? Du bist schuld, daß der Tod mich ereilt?« Der bangte und zagte, sprach in bleicher Angst Entschuldigung stammelnde Worte. Während er spricht und versucht, mit dem Arm seine Knie zu umfassen, packt ihn des Alceus Sproß. Er wirbelt ihn dreimal und viermal, schleudert ihn wuchtiger als ein Geschütz ins Meer bei Euboea. Während in luftiger Bahn er fliegt, wird Lichas verhärtet, und, wie man sagt, daß Regen in kaltem Wind sich verdichte, daß dann Schnee aus ihm wird, daß der weiche Schnee durch das Wirbeln starr wird, und endlich sich ballt zu den festen Körnern des Hagels: so wird er, von des Armes Kraft gejagt durch den leeren Raum, mit angsterkaltetem Blut und all seiner Säfte bar zur starrenden Klippe, nach dem, was die Alten erzählen. Jetzt noch ragt aus dem brandenden Meer bei Euboea ein kleiner Schroffen und wahrt die Spur seiner früheren Menschengestaltung.35

Es liegt auf der Hand, dass hier kein realistisches Geschehen geschildert wird. Beschrieben wird vielmehr, wie jemand ›vor Angst versteinert‹.36 Eine Redewendung, in der sich ein bestimmter seelischer Vorgang niedergeschla35 36

Ovid, Metamorphosen 9, 211–227 (Rösch). Das ist ein Ausgangspunkt der Untersuchung von Schmidt, Ovids poetische Menschenwelt. Anders: Lieberg, »Das Verhältnis der Metapher und der Metamorphose«. Vgl. außerdem Harzer, Erzählte Verwandlung.

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gen hat, wird beim Wort genommen und ›erzählt‹. Nun ist es aber nicht einfach so, dass der in Rede stehende Affekt sozusagen verwörtlicht würde. Der Witz an dieser Geschichte scheint darin zu bestehen, dass der eingefrorene Affekt eine bleibende Spur in der Natur zurücklässt. Der kleine, eigenartig geformte Felsen vor der Insel Euboea ist sein Denkmal; dem Kundigen verflüssigt es sich gleichsam in die Geschichte seiner Entstehung. Potenziell steckt in dieser Geschichte eine Ansicht der gesamten Natur. Diese Ansicht kennt keinen Gegensatz von belebter und unbelebter Natur. Denn die unbelebte Natur, hier der eigenartig menschlich geformte Felsen, ist ja bloß das Sediment der belebten, wortwörtlich ein versteinertes Leben. Man muss den in der Mitte des Zitats stehenden Vergleich zwischen der Versteinerung des Lichas und der Verwandlung von Regen in Hagel in zwei Richtungen lesen. Auf der einen Seite soll der Vorgang innerhalb der unbelebten Natur anschaulich machen, wie sich Ovid jemanden denkt, der vor Angst versteinert. Auf der anderen Seite wird nahegelegt, dass vielleicht auch hinter dem um so viel unauffälligeren Geschehen des Hagelns eine Geschichte stecken könnte. Sie wäre womöglich vergleichbar derjenigen des Lichas. Im Hagel vollzöge sich sozusagen ein ewiges Gedenken der Natur an eine vergessene und unbewusst gewordene Frühgeschichte von Verzweiflung und Todesangst. Ovid erzählt diese Geschichte nicht. Aber er suggeriert durch seinen Vergleich, dass es sie geben könnte. Alle Verwandlungsgeschichten, von denen er berichtet, würden in dieser Perspektive nur den winzigen Teil eines allumfassenden Verwandlungsgeschehens darstellen, durch das die uns umgebende Natur entstanden ist. In ihm erhält sie sich und verändert sich fortwährend. Könnte es sein, dass die gesamte äußere Welt, mit der wir es tagtäglich zu tun haben, in diesem Sinne sedimentierter Affekt ist, latente Präsenz eines Urgeschehens, das sich, ohne dass wir davon wissen, stetig wiederholt? III.2. Die Verwandlung der Myrrha Die Geschichte der Myrrha gehört zum Komplex der Erzählungen des Orpheus, der im Gesamttext der Metamorphosen so etwas wie die künstlerische Identifikationsposition Ovids markiert. Selbstredend ›ist‹ Ovid nicht Orpheus, aber sein Kunstanspruch befindet sich in gewisser Nähe zur Figur des mythischen Sängers, der sich im Leben und in der Kunst zwischen Unterwelt und Oberwelt bewegt und dessen Gesang eben die befriedende Wirkung hat, die Ovid in der in Fußnote 7 zitierten Partie aus den Amores seiner eigenen Kunst zutraut. Fast alle Gesänge des Orpheus handeln von Tabus und ihren Verletzungen, mithin von ungelösten Affektkonflikten, die die menschliche

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Gattung begleiten und deren fortwirkende Macht von den mythologischen Geschichten beglaubigt wird. Im Falle Myrrhas erscheint das Tabu so grundlegend und rigide, dass Ovid ihm in einer Art apotropäischem Proömium die Gattungsverbindlichkeit bestreiten will – Graunvoll, was ich nun singe. Bleibt fern, ihr Töchter, ihr Väter! Oder wird mein Gesang eure Sinne bestricken, versagt mir hierin euer Vertraun und glaubt nicht, daß es geschehen

– freilich nur, um dem Tabuierten im Nachgang umso gewisser Einlass zu gewähren und den Firnis des Verbots angesichts der Lockung des Verbotenen immer durchscheinender werden zu lassen: Oder, wenn ihr es glaubt, so glaubt auch, wie es bestraft ward. Läßt die Natur jedoch zu, daß solches erlaubt kann erscheinen, wünsche den thracischen Stämmen ich Glück und unserem Erdteil, Glück den Ländern hier, daß sie fern von jenem Bereich sind, der einen solchen Greuel erzeigt.37

Glauben mochten dies allenfalls die augusteischen Zensoren. Die Rede ist jedenfalls vom Inzest zwischen Vater und Tochter, die im Folgenden allen rhetorischen Vorbehalten zum Trotz mit größtem epischem Behagen ausgesponnen wird. Myrrha ist – warum, wird nicht gesagt – in Liebe zu ihrem Vater verfallen. Zunächst erscheint ihr der Selbstmord als die einzige mögliche Lösung dieses Konflikts. Der aber scheitert und es scheint, als seien danach alle Dämme gebrochen. Denn danach geht Myrrha so vor, als habe sie sich durch den Versuch der Selbsttötung von allen Folgen ihres Tuns salviert. So setzt sie alles daran, mit ihrem Vater eine Nacht zu verbringen. Durch eine List gelingt ihr das auch und sie schläft mit ihm im Schutze der Dunkelheit, eine Woche lang, Nacht für Nacht. Dann wird sie entdeckt, verfolgt und verwandelt sich auf dieser Flucht – in einer Mischung von Todesangst und schlechtem Gewissen, Überlebenswillen und Selbstzerstörungsbedürfnis – in die ihren Namen tragende Pflanze. Kaum noch ertrug sie des Leibes Last. Was sie bitte, im Zweifel formt, zwischen Todesfurcht und Lebensüberdruß schwankend, dieses Gebet sie: »O Götter, wenn jemals dem, der bekennt, das Ohr ihr geliehen: ich hab’ es verdient und versage der schwersten Strafe mich nicht: doch damit ich nicht die Lebenden lebend kränke, die Toten tot, vertreibt mich aus beider Bereichen, wandelt meine Gestalt und versagt so Leben wie Tod mir.« Dem, der bekennt, ihm leiht ihr Ohr eine Gottheit. Gewißlich

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Ovid, Metamorphosen 10, 300–307 (Rösch).

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Wolfram Ette fand ihr letzter Wunsch einen Gott. Um der Redenden Füße schließt sich die Erde, und über der Zehen geborstene Nägel reckt sich gewunden die Wurzel, dem langen Stamme zur Stütze. Kernholz treiben die Knochen, es bleibt im Innern das Mark, es strömt als Saft nun das Blut, die Arme, sie werden zu langen Zweigen, zu kurzen die Finger, die Haut verhärtet zur Rinde. Und schon hatte den schwangeren Leib überwuchert des Baumes Wuchs, verhüllte die Brust und wollte bedecken den Hals, doch Myrrha erträgt die Verzögerung nicht: dem nahenden Holze duckt sie entgegen sich selbst und taucht in die Rinde ihr Antlitz. Hat mit dem Leibe sie auch ihr früheres Fühlen verloren Weint sie dennoch, und warm entfallen dem Baume die Tropfen. Ehre genießen die Tränen. Der Rinde entquellend die Myrrhe wahrt ihrer Herrin Namen, und niemals wird er verklingen.38

Durch die Verwandlung wird die Geschichte allgemein. Das heißt, sie mündet ein in ein allgemeines Affektschicksal der menschlichen Kultur: das verdrängte inzestuöse Begehren der Tochter nach dem Vater. In der Kultur ist es in Form des Myrrhenharzes präsent. Dieses Harz – die Tränen der Myrrha, in denen sich schlechtes Gewissen und Trauer über das Verwehrte zweideutig mischen – spielt in der antiken Kosmetik und Medizin eine wichtige Rolle. Das heißt, immer dann, wenn die Myrrhe die erotischen Begegnungen der Menschen als Attraktions- und Lockstoff begleitet, ist jene Trauer und mit ihr auch die Frage präsent: Liebt man, das heißt in diesem Fall frau, nicht immer den Vater? Inwieweit verschränkt sich das Bedürfnis, sich mit dem Vater zu vereinigen, mit der Liebe zum Mann? Die entscheidende Frage ist nun: Welche Intention verfolgt Ovid damit, dass er hinter den Erscheinungen des täglichen Lebens, hinter Naturphänomenen ebenso wie hinter Naturerscheinungen, hinter Tieren und Steinen, Flüssen, Seen, hinter Wind und Hauch Geschichten freilegt, die sie als Kompromissergebnis zerreißender, tendenziell zerstörerischer Affektkonflikte vor Augen führen – eine Sichtweise, die über die Grenzen, die den Metamorphosen gesetzt sind, hinaus diffundiert und zu guter Letzt das Ganze des ›Lebewesens Wirklichkeit‹ erfasst? Die Beantwortung dieser Frage führt zunächst auf ein Gebiet, das bisher nur gestreift wurde, und schließlich zurück zur Ausgangsfragestellung: dem Verhältnis von Präsenz und Repräsentation in den Metamorphosen Ovids.

38

Ebd. 10, 479–502.

Wiederholen – Erinnern – Durcharbeiten

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IV. Ovid und die Psychoanalyse »Wiederholen – Erinnern – Durcharbeiten« – so lautet der Titel meines Beitrags in Anlehnung an einen Text von Freud, der sich mit den Grundprinzipien der psychoanalytischen Therapie auseinandersetzt39 – was ist damit gemeint? Jeder therapeutische Prozess folgt, legt man diesen Text zugrunde, einem dreistufigen Schema. An seinem Anfang steht immer die Wiederholung, die zwanghafte und in der Regel unbewusste Reinszenierung verdrängter Kindheitserfahrungen. Jedes neurotische Symptom beruht letztlich auf einer solchen Wiederholung, die stattfindet, ohne dass man davon, dass es sich um eine Wiederholung handelt, ein Bewusstsein hat. Der Patient trägt dieses Verhaltensschema in die Therapie hinein und agiert es in der Beziehung zum Analytiker aus. Die analytische Arbeit besteht nun im Kern darin, die Erinnerungen freizulegen, die im Symptom stecken. Das heißt, sie rekonstruiert seine reale und/oder psychische Genese. Das eben ist die Voraussetzung der Durcharbeitung des Erinnerten, durch die man sich von seiner ursprungshaft determinierenden Macht befreit. Eben dieser Dreischritt von Wiederholen, Erinnern und Durcharbeiten bildet auch das Zentrum des ovidischen Verfahrens. Die Metamorphosen geben eine ›Psychoanalyse‹ ihrer, d. h. der durch den Wertekanon der augusteischen Gesellschaft geprägten Welt.40 Diese Welt ist voller Verhärtungen und erstarrter neurotischer Symptome, die zwanghaft wieder und wieder reinszeniert werden. Auf solchen unbewussten Wiederholungen beruht die menschliche Kultur. So aber, wie jede einzelne Metamorphose zugleich ein Dokument der Selbstzerstörung und der Rettung ist – psychoanalytisch gesprochen also Aspekte von Verdrängung und Sublimation vereinigt, die sich in der Theorie

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Der Originaltitel des 1914 veröffentlichten Textes lautet »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten (Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse II)«, in: Sigmund Freud, Gesammelte Werke. Anna Freud u. a. (Hrsg.), Bd. 10, Frankfurt a. M. 1999, S. 126–136. Das Verhältnis der Metamorphosen zur Psychoanalyse ist, soweit ich sehe, nur anhand einzelner Mythen thematisiert worden. Eine herausragende Stellung nimmt dabei natürlich der Narziss-Mythos ein. Merkwürdigerweise ist mit Ausnahme von Klaus Heinrich kaum der Versuch unternommen worden, für das Werk im Ganzen eine psychoanalytische oder psychoanalysenahe Intention zu rekonstruieren. Ich habe die Gründe, die meines Erachtens für eine solche Intention sprechen, an anderer Stelle ausführlicher dargestellt: »Europas erste Psychoanalyse. Zu Ovids Aktualität«. Vortrag, gehalten am 4. Mai 2009 an der Universität Bielefeld, greifbar unter www.etteharder.de/ovid-psychoanalyse.pdf (Stand: 20. 04. 2010).

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Wolfram Ette

ohnehin nur schwer voneinander trennen lassen –,41 so ist auch die Kultur ein zwieschlächtiges Gebilde. Sie ist auf der einen Seite nicht im Ganzen zu verwerfen, sondern bildet zuletzt auch eine anerkennenswerte Leistung der Sublimierung als Leidensbewältigung, und dies insbesondere dann, wenn es gelingt, das erotische Fundament der Zivilisation zu wahren, gleichzeitig aber die »Wildheit« zurückzudrängen.42 Auf der anderen Seite jedoch erscheint sie Ovid auch als eine Quelle des Leidens, das sich die Menschen bereiten. So ist, um es auf eine Formel zu bringen, Ovid kein Kulturpessimist, sondern Kulturkritiker, dessen Tun von der Überzeugung getragen ist, dass es gelte, die Kultur nicht zu zerstören, sondern mit ihren Ursprüngen zu versöhnen. Da es einen Weg zurück nicht gibt, kann das einzige Mittel nur darin bestehen, über das Zerstörungspotenzial aufzuklären, das der Kultur innewohnt. Das heißt: die Geschichte zu erzählen, durch die die Welt zu dem wurde, was sie ist; daran zu erinnern, dass die Gefühle eine Geschichte haben; dass also ihre fixierte kulturelle Gestalt nichts Unumstößliches ist, sondern dass man sie mithilfe ihrer anteilnahmsvollen erzählenden Durcharbeitung wieder verflüssigen und verändern kann.43 Indem ihre Geschichte erzählt wird, sollen die Verwandlungen wieder verwandlungsfähig gemacht werden. Die stillgestellten Affektdenkmale sollen wieder in den großen Weltverwandlungsprozess einmünden, der sie umgibt. Ovids Hoffnung besteht darin, dadurch den Boden für eine Kultur der Gefühle zu bereiten, von der er seine eigene Zeit in mancher Hinsicht entfernt sah. Die Begriffe von Präsenz und Repräsentation verändern in dieser kulturpsychoanalytischen Perspektive ihren Sinn. Präsenz ergibt sich aus der sedimentierten, verleugneten, vergessenen und verdrängten Geschichte der Kultur, d. h. ihren unerledigten Konflikten. Sie ist ihre Wiederholung, die Reproduktion vergessener oder an den Rand des Vergessens gedrängter Traumata der menschlichen Gattung. ›Ursprünglich‹ ist der Mensch da, wo er diese Komplexe kultisch/neurotisch reinszeniert. 41

42 43

Vgl. Paul Ricoeur, Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt a. M. 1974, S. 495–523; Eckart Goebel, Jenseits des Unbehagens. Sublimierung von Goethe bis Lacan, Bielefeld 2009. Heinrich, Zivilisation und Mythologie III. Ovids Kunst, so hieß es an der schon zitierten Stelle, vermag Türen zu entriegeln und das Wasser zurück zur Quelle fließen zu lassen, »inque suos fontes versa recurrit aqua« (Ovid, Amores 2, 1, 26). Der Grund ist, dass diese Kunst im Begehren fundiert ist. Mangelnde Liebe, so lesen wir in der Geschichte von den Propoetiden, führt zur Verhärtung; die Versteinerung, die sie ereilt, macht dies dann augenfällig (Ovid, Metamorphosen 10, 241f.). In der Geschichte, die sich anschließt, belebt Pygmalion, Künstler und Liebender, den Stein durch sein Begehren.

Wiederholen – Erinnern – Durcharbeiten

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Präsenz ist für Ovid also mit dem Schrecken des Fixierten und Unbearbeiteten verbunden, wie es die metamorphotische Erstarrung symbolisiert. Deswegen ist das Ziel des mythologischen Unternehmens der Metamorphosen die Kritik solcher Präsenz. Die mythologischen Stoffe werden erzählt, um das, was durch sie repräsentiert wird, zu entmächtigen. Nicht Vergegenwärtigung, sondern Ent-gegenwärtigung, De-präsentation, wenn man so will, ist das Ziel der ovidischen Mythologie.44 Freilich geht es dem gattungstherapeutischen Unternehmen der Metamorphosen – ebenso wenig wie der Psychoanalyse – nicht darum, die eigenen Ursprünge auszulöschen. Es steht nicht im Dienst einer Beseitigung der Ursprünge, sondern der gebrochenen Versöhnung mit ihnen.

44

Man fragt sich, warum Ovid bei Blumenberg keine Rolle spielt; Blumenbergs Konzept der Mythologie ist ja nicht weniger ursprungskritisch als dasjenige Ovids. Sind sie Bundesgenossen? Ich meine nein, und dies gerade aufgrund der ovidischen Affinität zur Psychoanalyse. Blumenbergs Verhältnis zur Psychoanalyse ist schwierig; er schreckt davor zurück, den Dingen so auf den Grund zu gehen, wie sie es intendiert. In diesem Licht erscheint die Mythologie bei ihm nicht – wie bei Ovid – als Verfahren therapeutischer Ursprungskritik, sondern der Zerstreuung, des systematisierten Wegschauens. »Mythen antworten nicht auf Fragen, sie machen unbefragbar« (Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, 5. Aufl., Frankfurt a. M. 1990, S. 142).

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Bent Gebert

Bent Gebert (Konstanz)

Wissensordnungen, Wissbares und das Unbehagen der literarischen Repräsentation: Gibt es einen Mythosdiskurs des Mittelalters?

I.

Kontinuität – Okkupation – Alterität: Paradigmen mediävistischer Mythosforschung

Seit den Anfängen ihrer Fachgeschichte bringt die Mediävistik den Mythosbegriff mit der Entstehung volkssprachlicher Literaturen im Mittelalter in Verbindung.1 Und noch in der aktuellen Diskussion scheint kaum eine andere Epoche Vokabeln wie Mythos und mythisch so anzuziehen wie das Mittelalter.2 Trotz dieser Ausgangslage erweist sich das Verhältnis der mediävistischen Literaturwissenschaften zum Mythosbegriff als ausgesprochen ambivalent: Was in mittelalterlicher Literatur und Kultur als Mythos oder Mythisches verstanden werden kann, zeigt sich je anders in den Perspektiven kontroverser Paradigmen.3 Dies hat allgemein akzeptierte Begriffsklärungen ebenso erschwert wie Versuche, sich über kontrollierte

1

2

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Vgl. etwa Jacob Grimm, »Gedanken über Mythos, Epos und Geschichte«, in: Werke. Abteilung 1, Bd. 4: Kleinere Schriften. Rezensionen und vermischte Aufsätze 1. Teil. Nach der Ausgabe von Karl Müllenhoff und Eduard Ippel. Otfried Ehrismann (Hrsg.), Hildesheim 1991, S. 74–85; der erstmals 1813 in Friedrich Schlegels Deutschem Museum veröffentlichte Aufsatz führt Heldenepik auf die Verbindung von Mythos und Geschichte zurück. Ausführlich dokumentiert auch Jacob Grimms Deutsche Mythologie (1835) die Geltung des Mythosbegriffs für die Proto-Mediävistik. Vgl. hierzu Beate Kellner, Grimms Mythen. Studien zum Mythosbegriff und seiner Anwendung in Jacob Grimms »Deutscher Mythologie«, Frankfurt a. M. 1994. Eine Bestandsaufnahme zur Prominenz des Mythosbegriffs in der Mediävistik ist angesichts der Zahl ihrer Beiträge kaum zu leisten: Allein im Zeitraum 1999–2009 erschienen weit über 1000 mediävistische Studien, die den Mythosbegriff nicht nur polemisch anzitieren. Anstelle einer tour de force durch diese Forschungslandschaft beschränke ich mich daher im Folgenden auf wenige Hinweise zu einschlägigen Arbeiten. Einschlägige Perspektiven dieser Diskussion haben zuletzt Udo Friedrich und Bruno Quast vorgestellt: vgl. Udo Friedrich/Bruno Quast, »Mediävistische Mythosforschung«, in: Dies. (Hrsg.), Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin, New York 2004, S. IX–XXXVII.

Mythosdiskurs des Mittelalters

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Verwendungsweisen der unterschiedlichen Mythosbegriffe der Mediävistik zu verständigen.4 Dabei lassen sich trotz der Vielfalt der Beschreibungsansätze zwei gegenläufige Standardannahmen identifizieren, die den Blick der mediävistischen Mythosforschung prägen.5 Eine dieser Standardannahmen könnte man als Kontinuitätsthese zusammenfassen: Frühchristliche Apologeten wie Origenes und Tertullian übernehmen Muster der antiken Mythoskritik, um konkurrierende theologische Systeme als leere Erdichtungen zu brandmarken, womit sie wichtige Weichen für die mittelalterliche Theologie stellen.6 Mittelalterliche Gelehrte von der Patristik über die sogenannte ›Schule von Chartres‹ im 12. Jahrhundert bis zu den Ovid-Mythographen des Spätmittelalters greifen auf antike Grammatiker wie Macrobius und Servius oder auf Mythographen wie Fulgentius zurück, um im Zuge allegoretischer Mythenauslegung universalhistorisches, naturphilosophisches und religiöses Wissen zu erzeugen.7 Solche Anschlüsse an antike Traditionen bleiben jedoch keineswegs auf gelehrte Diskurse beschränkt. Auch laikale Adelskulturen des Mittelalters suchen genealogische Kontinuität zu Spitzenahnen und Heroen der antiken Mythologie, um Herrschaftsansprüche und symbolische Selbstdeutungen zu stabilisieren.8 Aufgrund solcher Beispiele lässt sich also ein Fortleben antiker Mythosdiskurse im Mittelalter konstatieren, wenngleich

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Vgl. hierzu ausführlicher meine Überlegungen zu »Beobachtungsparadoxien mediävistischer Mythosforschung«, in: Poetica 43/2011, S. 19–61. Der folgende Befund berührt sich mit der Beobachtung von Manfred Kern, Edle Tropfen vom Helikon. Zur Anspielungsrezeption der antiken Mythologie in der deutschen höfischen Lyrik und Epik von 1180–1300, Amsterdam 1998, S. 6–14, der Paradigmen der ›Kontinuität‹ und ›Diskontinuität‹ unterscheidet. Vgl. zusammenfassend Axel Horstmann, »Der Mythosbegriff vom frühen Christentum bis zur Gegenwart«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 23/1979, S. 7–54 und S. 197–245. Vgl. u. a. Karl Stackmann, »Ovid im deutschen Mittelalter«, in: arcadia 1/1966, S. 231–254; Brian Stock, Myth and Science in the Twelfth Century. A Study of Bernard Silvester, Princeton 1972; Paule Demats, Fabula. Trois études de mythographie antique et médiévale, Genf 1973; Peter Dronke, Fabula. Explorations into the Uses of Myth in Medieval Platonism, Leiden, Köln 1974; Renate Blumenfeld-Kosinski, Reading Myth. Classical Mythology and its Interpretations in Medieval French Literature, Stanford 1997; Jane Chance, Medieval Mythography. Bd. 1: From Roman North Africa to the School of Chartres, A.D. 433–1177. Bd 2: From the School of Chartres to the Court of Avignon, Gainesville 1994–2000; Emmanuèle Baumgartner/Laurence Harf-Lancner (Hrsg.), Lectures et usages d’Ovide (XIIIè–XVè siècle), Paris 2002. Dies hat eindrucksvoll Beate Kellner nachgezeichnet: vgl. Beate Kellner, Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München 2004.

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sich dies für viele Studien bei genauerer Betrachtung als ein produktives Dahinsterben entpuppt.9 Dieser Kontinuitätsthese wurden vielfache Differenzen und Brüche zwischen antiken Mythosdiskursen und mittelalterlichen Wissenschaften und Künsten entgegengehalten. Antike Mythosdiskurse – so argumentierten etwa Erwin Panofsky, Hans Blumenberg und Hans Robert Jauß – würden von Theologen, Philosophen und Künstlern des Mittelalters im christlichen Bezeichnungssystem der Allegorese gebannt, deren Fesseln erst Remythisierungsprojekte wie die Liebesmythologie Dantes oder die italienische Renaissancemalerei des 15. Jahrhunderts aufsprengten.10 Folgt man der Leitmetapher der Gefangenschaft antiker Mythen in mittelalterlichen Zeichenordnungen (Blumenberg/Jauß), könnte man dieses Argumentationsmuster als Okkupationsthese des Mythos fassen. Auch sie prägt weiterhin den mediävistischen Begriffsgebrauch.11 9

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Ich beziehe mich damit auf die Epochenmetaphorik des Verfalls, die einflussreich Jean Seznec für das Kontinuitätsmodell geprägt hat: Die Renaissance-Humanisten hätten nicht immer »aus den lebendigen und reinen Quellen des Altertums« geschöpft, sondern auf mythologisches Wissen des Mittelalters zurückgegriffen – »ein Konglomerat aus heterogenen Bestandteilen, in welchem unter von der Zeit zerfressenen Kupfermünzen einige Goldstücke blinken«; Jean Seznec, Das Fortleben der antiken Götter. Die mythologische Tradition im Humanismus und in der Kunst der Renaissance, München 1990, S. 246. Zur Metapher des ›Fortlebens‹ vgl. auch Friedrich von Bezold, Das Fortleben der antiken Götter im mittelalterlichen Humanismus, Aalen 1962. So vor allem Hans Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos«, in: Manfred Fuhrmann (Hrsg.), Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München 1971, S. 11–66, insbes. S. 66. Dass die Allegorese jedoch selbst schon zu den antiken Verfahren der Mythenauslegung gehört, wird von dieser Argumentation als Kontinuitätsmerkmal zumeist abgeschwächt. – Zu Dante und antiallegoretischen Tendenzen seit dem 12. Jahrhundert vgl. Hans Robert Jauß, »Allegorese, Remythisierung und neuer Mythos. Bemerkungen zur christlichen Gefangenschaft der Mythologie im Mittelalter«, in: ebd., S. 187–209. Destruktionstendenzen der ›mythenfeindlichen‹ Allegorie bilden auch das Thema der Diskussion zu »Mittelalter und Renaissance«, ebd., S. 617–637. – Aus kunstgeschichtlicher Sicht einflussreich hat Erwin Panofsky die mittelalterliche Allegorese als Entfremdung des antiken Mythos beschrieben: Zur »Versöhnung« der allegoretischen ›Disjunktion‹ von Form und Inhalt bei Andrea del Castagno und Andrea Mantegna um 1460 vgl. Erwin Panofsky, Die Renaissancen der europäischen Kunst, Frankfurt a. M. 1990, insbes. S. 178–183. Die fortgesetzte Geltung dieses Argumentationsmusters der ›Okkupation‹ und ›Befreiung‹ belegen u. a. Bruno Quast/Monika Schausten, »Amors Pfeil. Liebe zwischen Medialisierung und Mythisierung in Heinrichs von Veldeke Eneasroman«, in: Mireille Schnyder (Hrsg.), Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters, Berlin, New York 2008, S. 63–82, insbes. S. 73 und S. 79f. So etwa im Hinblick auf den Tristan Gottfrieds von Straßburg Volker Mertens, »Bildersaal – Minnegrotte – Liebestrank. Zu Symbol, Allegorie und Mythos im

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Beide Standardannahmen – die Okkupationsthese wie die Kontinuitätsthese – legen indes nahe, im Mittelalter existiere kein distinkter Raum des Sprechens, Denkens und Wahrnehmens, der mit dem Ausdruck ›Mythos‹ verknüpft (oder aus Beobachterperspektive verknüpfbar) wäre. Ohne Zweifel lassen sich differenzierte Auseinandersetzungen mit dem Konzept der fabula und Praktiken der Allegorese greifen – aber gibt es im spezifischen Sinne einen Mythosdiskurs des Mittelalters? Verstreuen sich die Gegenstände antiker oder neuzeitlicher Mythosdiskurse in den Wissensordnungen des Mittelalters nicht vielmehr auf die Felder der Naturphilosophie, Grammatik oder autorgebundene Rezeptionsstränge wie die Vergil- und OvidKommentierung? Verschwindet nicht selbst die Bezeichnung ›Mythos‹ aus den Texten des Mittelalters? Beide Standardannahmen geraten durch solche Fragen in Darstellungsschwierigkeiten: Denn entweder treten vornehmlich Mythoskonzepte in den Blick, die nicht spezifisch mittelalterlich sind (Kontinuitätsthese), oder man muss ein Mittelalter ohne Mythos konstatieren (Okkupationsthese). Auf diese Schwierigkeiten hat die jüngere Mediävistik mit theoretischer Distanzierung reagiert. Entweder wird der Mythosbegriff als unscharfer Begriff abgelehnt oder es werden neuzeitliche Mythoskonzepte in die mittelalterliche Literatur zurückgespiegelt. So plädieren etwa Udo Friedrich und Bruno Quast in ihrem 2004 vorgelegten Resümee zur mediävistischen Mythosforschung dafür, Mythos als »das Andere der Vernunft« zu verstehen – das Mittelalter wird mit dieser Formulierung als Ausgrabungsfeld alteritärer Rationalitätsformen umrissen, die im Geist von Wilhelm Nestles Unterscheidung von irrationalem Mythos und rationalem Logos kartographiert werden.12 Da distinkte Mythoskonzepte mittelalterlichen Textkulturen fremd

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Tristanroman«, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 117/1995, S. 40–64, insbes. S. 48f.; kritisch diskutieren die ›Okkupationsthese‹ zur ›mythenfeindlichen‹ mittelalterlichen Allegorese auch Alfred Ebenbauer und Ulrich Wyss: »Der mythologische Entwurf der höfischen Gesellschaft im Artusroman«, in: Gert Kaiser/Jan-Dirk Müller (Hrsg.), Höfische Literatur, Hofgesellschaft, höfische Lebensformen um 1200, Düsseldorf 1986, S. 513–540. Friedrich/Quast, »Mediävistische Mythosforschung«, S. X: »Denn der Mythos lässt sich als das Andere der Vernunft verstehen, das sich einer vollständigen rationalen Auflösung entzieht. Mythostheorien konzeptionalisieren dieses Andere der Vernunft auf je eigene Art«. Diese Generalisierung des Mythosbegriffs ist angesichts des differenzierten Überblicks über historische und moderne Mythoskonzeptionen, den Friedrich und Quast bieten, durchaus überraschend. Als Leitmodell des Bandes stellen Friedrich und Quast ausdrücklich Cassirers Modell des ›mythischen Denkens‹ zur Debatte – die definitorische Formulierung weist jedoch in andere Theorierichtungen. Vgl. dazu Gebert, »Beobachtungsparadoxien«, S. 40–42.

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scheinen, werden somit Beschreibungsmuster der Neuzeit auf sie projiziert, die Mythos vor allem unter dem Gesichtspunkt der Alterität konzipieren. Die historischen Selbstbeschreibungen und Semantiken, mit denen mittelalterliche Autoren auf antike Mythosdiskurse reagieren, diese transformieren und neu kommentieren, kommen dagegen kaum noch zu Wort. Im Lichte zunehmend enthistorisierter und diskursiv breit gefächerter Mythosbegriffe droht jedoch der Objektbereich mediävistischer Mythosforschung zu verschwimmen: Hagens wilde Kindheitsgeschichte im KudrunEpos gilt gleichermaßen als mythisch wie die Feen- und Gralsreiche der Artusepik, mittelalterlicher Werwolf-Glauben wird ebenso als Mythos verhandelt wie Walhalla oder die Wartburg.13 Die mediävistische Mythosforschung kennzeichnet somit eine auffällige Kontingenz, wie Hans Robert Jauß schon 1968 eingestehen musste:14 Unklar ist mehr denn je, ob wir die Vokabel Mythos überhaupt benötigen, um mittelalterliche Textkulturen zu beschreiben. Eine mögliche Antwort auf diese Frage möchte ich im Folgenden zur Diskussion stellen, indem ich Umrisse eines mittelalterlichen Mythosdiskurses rekonstruiere, der durch das beschriebene Projektionsproblem der aktuellen mediävistischen Forschung weitgehend verdeckt ist. Ich möchte damit die erste Leitfrage des vorliegenden Bandes zu der Überlegung konkretisieren, inwiefern mittelalterliche Theorien und poetische Inszenierungen der Mythosrezeption mit der Unterscheidung von Präsenz und Repräsentation operieren. Praktiken des Bezeichnens, wie sie im Folgenden exemplarisch an Mythographien, Mythostheorien und Romanen des 12. und 13. Jahrhunderts zu untersuchen sind, verweisen auf eine historische Unterscheidung von Repräsentation und Präsenz von Mythen, die sich zeichentheoretisch als Spannung von zugeschriebener Fremdreferenz und Selbstreferenz präzisieren lässt. Einerseits sprechen mittelalterliche Autoren Mythen die Funktion zu, 13

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Vgl. Jan-Dirk Müller, »Verabschiedung des Mythos. Zur Hagen-Episode der Kudrun«, in: Friedrich/Quast (Hrsg.), Präsenz des Mythos, S. 197–217; José Manuel Losada Goya, »La nature mythique du Graal dans ›Le Conte du Graal‹ de Chrétien de Troyes«, in: Cahiers de civilisation médiévale 52/2009, S. 3–20; Joyce Tally Lionarons, »Walhalla«, in Ulrich Müller/Werner Wunderlich (Hrsg.), Mittelalter-Mythen. Bd. 5: Burgen, Länder, Orte, Konstanz 2008, S. 945–950; Karin Cieslik, »Die Wartburg«, in: ebd., S. 951–964; Volker Mertens, Der Gral. Mythos und Literatur, Stuttgart 2003. Im Rahmen der Diskussion zu »Mittelalter und Renaissance« sieht Jauß Harald Weinrich »weithin im Recht mit dem Zweifel, ob man die […] betrachtete literarische Tradition [der Minneallegorie, B. G.] nicht auch beschreiben könnte, ohne überhaupt das Wort ›Mythos‹ zu verwenden«; »Mittelalter und Renaissance«, S. 618.

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in verhüllter Form auf anderweitige Gegenstände des Wissens zu verweisen. Andererseits bringen sie Mythen aber auch in ihrer wörtlichen Bedeutung und primären Bildsprache narrativ zur Geltung. Mythen werden damit von einem Diskurs verhandelt, der unablässig zwischen Zeichenhaftigkeit und Narrativität, zwischen Sinnverweisung und Selbstdarstellung pendelt. Seine schwebende Referenz produziert in lateinischen wie in volkssprachlichen Texten Aussagetypen, die weder mit Verfahren der Allegorese gleichzusetzen sind, noch in der fabula-Diskussion des Mittelalters aufgehen. Die Referenzverschiebungen dieses historischen Diskurses verdienen besondere literaturtheoretische und literaturgeschichtliche Aufmerksamkeit, da sie signifikante Parallelen zur Evolution von fiktionalem Erzählen im 12. Jahrhundert aufweisen. Könnte die Diskursgeschichte von Mythos im Mittelalter damit systematische Schnittstellen mit jener Geschichte des Literarischen besitzen, die sich auf das spezifische Merkmal der Fiktionalität bezieht?

II. Mythos in Wissensordnungen und Mythos als Wissbares: Zur Systematik einer übersehenen Differenz Die Suche nach Schnittstellen von literarischer Fiktionalität und Mythosdiskurs kann sich an einer Differenz orientieren, die im Mittelalter gegen große diskursive Widerstände entwickelt, aber zunehmend durchgesetzt wird: Redepraktiken, die antike Mythen in mittelalterliche Wissensordnungen transponieren, also auf andere Wissensformen beziehen, werden unterscheidbar von Praktiken und Konzepten, die Mythos selbst als Wissbares auffassen. Welche Konsequenzen mit einer solchen Unterscheidung verbunden sind, möchte ich mit einem kursorischen Überblick zum mythographischen Diskursfeld des Mittelalters und exemplarischen Stichproben erläutern. Wissensformationen des Mittelalters repräsentieren antike Mythologie zumeist in der Codierungsform des integumentum (Verhüllung).15 Der Bernar15

Vgl. Marie-Dominique Chenu, »Involucrum. Le mythe selon les théologiens médiévaux«, in: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du moyen âge 22/1956, S. 75–79; Jane Chance, »The Origins and Development of Medieval Mythography From Homer to Dante«, in: Dies./Raymond Wells (Hrsg.), Mapping the Cosmos, Houston 1985, S. 35–64; ausführlich auch Chance, Medieval Mythography. Zur Begriffs- und Diskursgeschichte integumentaler Hermeneutik speziell im Hochmittelalter vgl. Frank Bezner, Vela veritatis. Hermeneutik, Wissen und Sprache in der Intellectual History des 12. Jahrhunderts, Leiden u. a. 2005; Haijo Jan Westra (Hrsg.), The Commentary on Martianus Capella’s De Nuptiis Philologiae et Mercurii Attributed to Bernardus Silvestris, Toronto 1986, S. 23–33 [Kommentar].

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dus Silvestris (gest. nach 1159) zugeschriebene Aeneis-Kommentar bezeichnet mit diesem Begriff »eine Weise der Darlegung, die eine wahre Vorstellung unter einer fiktiven Erzählung verhüllt, weshalb sie auch Verhüllung genannt wird«.16 Wahres unter der Hülle des Fiktiven wie etwa der Erzählung von Orpheus und Eurydike: Geradezu prototypisch für Autoren des 12. Jahrhunderts unterscheidet (Pseudo-)Bernardus mit dieser Bestimmung die Redeform des integumentum sowohl von historischer Faktizität als auch vom offenbarten oder natürlichen Sinn, den die Allegorese voraussetzt.17 Beanspruchen allegorische Schriftauslegungen des Mittelalters, »auf heilsgeschichtlichen Fakten gegründet und daher wahr zu sein«, so gehen Verhüllungstheorien umgekehrt von der freien Setzung der Dichter aus.18 Vielfältige Beschreibungs- und Auslegungspraktiken verbinden sich mit dem Begriff des integumentum vom frühen bis zum hohen Mittelalter, doch lassen sich verbindende Grundzüge erkennen: (1.) Dominanz von Fremdreferenz über Selbstreferenz. In der Perspektive von Auslegungsprogrammen des integumentum gelten Mythen als Zeichen erster Ordnung, die auf andere Zeichenordnungen hin überschritten werden müssen. Mythen sind Erzählungen, deren verzichtbare ›Schale‹ erst hermeneutisch aufzubrechen ist, bevor verlässliche Referenz hergestellt und Wissen gewonnen werden kann.19 16

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Julian Ward Jones/Elizabeth Frances Jones (Hrsg.), The Commentary on the First Six Books of the Aeneid of Vergil commonly attributed to Bernardus Silvestris, Lincoln u. a. 1986, S. 3,14f.: »Integumentum est genus demonstrationis sub fabulosa narratione veritatis involvens intellectum, unde etiam dicitur involucrum«. Diese Definition setzt die Begriffsbildung des Macrobius fort, der im 5. Jh. die narratio fabulosa als Redeform bestimmt hatte, welche sich mittels Erdichtungen auf Wahres beziehe (»modus per figmentum vera referendi«); Ambrosius Macrobius Theodosius, Commentarii in Somnium Scipionis. 2. Aufl. James Willis (Hrsg.), Leipzig 1970, S. 6 (1, 2, 10). Sämtliche Übersetzungen stammen – soweit nicht anders angegeben – vom Verfasser. Anders argumentiert dagegen am Beispiel des (pseudo-)bernardinischen MartianKommentars Haijo Jan Westra, »The Allegorical Interpretation of Myth. Its origins, Justification and Effect«, in: Andries Welkenhuysen/Herman Braet/Werner Verbeke (Hrsg.), Medieval Antiquity, Leuven 1995, S. 277–291, der sowohl Bibelallegorese als auch Mythenexegese einem erweiterten Allegorieverständnis zuordnet. Rudolf Suntrup, »Allegorese«, in: Georg Braungart u. a. (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, Berlin, New York 2007, S. 36–40, hier S. 37; vgl. ausführlich Hartmut Freytag, Die Theorie der allegorischen Schriftdeutung und die Allegorie in deutschen Texten besonders des 11. und 12. Jahrhunderts, Bern 1982, insbes. S. 15–43. Bereits der spätantike Mythograph Fabius Planciades Fulgentius vergleicht in seiner Thebais-Einleitung das Werk des Statius mit einer Nuss, deren Schale aufzubre-

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Schon die für mittelalterliche Mythographen einflussreichen Mitologiae des Fulgentius versammeln zu Beginn des 6. Jahrhunderts Erzählungen von Saturn, Jupiter oder dem Urteil des Paris mit dem ausdrücklichen Anspruch, ein »unter Lügen begrabenes« Wissen freizulegen: »[D]ie wahren wirksamen Kräfte der Dinge« gelte es aufzudecken, »wodurch wir – sind die Erdichtungen der lügnerischen Griechen einmal zerstört – erkennen, welche geheime Bedeutung man in ihnen entdecken muss.«20 Nicht an und für sich selbst gelten Mythen somit als Kandidaten möglichen Wissens, sondern allenfalls als problematische, indirekte Vermittlungsinstanzen von Wissen. Mythographen vom frühen bis zum späten Mittelalter entfalten dieses Argumentationsmuster zu einer weitverbreiteten Ursprungsgeschichte von Mythen, die auf einer Verkettung von metonymischer Verwechslung und irr-

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chen sei, um an den Bedeutungskern zu gelangen; vgl. Fabius Planciades Fulgentius, »Expositio sermonum antiquorum ad grammaticum calcidium / super Thebaiden«, in: Opera. Accedunt Fabii Claudii Fulgentii De aetatibus mundi et hominis. Rudolf Helm (Hrsg.), Leipzig 1898, S. 180–186, hier S. 180, 14–20: »in nuce enim duo sunt, testa et nucleus, sic in carminibus poeticis duo, sensus litteralis et misticus; latet nucleus sub testa: latet sub sensu litterali mistica intelligentia; ut habeas nucleum, fragenda est testa: ut figurae pateant, quatienda est littera; testa insipida est, nucleus saporem gustandi reddit: similiter non littera, sed figura palato intelligentiae sapit« (»denn wie die Nuss aus zwei Dingen besteht, aus Schale und Kern, so bestehen auch Dichtungen aus zweien, aus dem wörtlichen und dem geheimen Sinn [misticus]; damit du den Kern erhältst, ist die Schale zu zerbrechen; damit die Ausdrucksformen offen liegen, ist der buchstäbliche Sinn aufzubrechen. Die Schale ist ungenießbar, der Kern bietet genussreichen Geschmack – ebenso schmeckt dem Gaumen des Verstandes nicht der Wortlaut, sondern die Ausdrucksform«). Die Nussmetaphorik von Schale und Kern wird leitend auch für mythenhermeneutische Modelle des Hochmittelalters: Adam von St. Victor, Alanus von Lille und Matthäus von Vendôme kennzeichnen damit den höheren Wert der geheimen Bedeutung gegenüber der verzichtbaren äußeren Erscheinung der Erzählung. Zur Metaphorik von cortex, testa und nucleus vgl. Hennig Brinkmann, Mittelalterliche Hermeneutik, Tübingen 1980, S. 183f.; Durant W. Robertson, »Some Medieval Literary Terminology, with Special Reference to Chretien de Troyes«, in: Studies in Philology 48/1951, S. 669–692, insbes. S. 669–671. Fulgentius, »Mitologiarum libri tres«, in: Opera, S. 1–80, hier S. 11, 15–18: »certos itaque nos rerum praestolamur effectus, quo sepulto mendacis Greciae fabuloso commento quid misticum in his sapere debeat cerebrum agnoscamus.« Zur Bedeutung der Mitologiae für die mythographische Tradition des Mittelalters vgl. Robert Edwards, »The Heritage of Fulgentius«, in: Aldo Bernardo/Saul Levin (Hrsg.), The Classics in the Middle Ages. Papers of the Twentieth Annual Conference of the Center for Medieval and Early Renaissance Studies, Binghamton 1990, S. 141–151.

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tümlicher Apotheose beruhe, wie beispielsweise um 1180 Alberich von London zu Beginn seiner Mythographie De diis gentium feststellt:21 In Aegypten lebte ein überaus reicher Mann namens Syrophanes. Dieser hatte einen einzigen Sohn, den er über alle Maße liebte. Es geschah, dass der Sohn starb. Aus übermächtiger Empfindung der Liebe ließ der Vater dessen Bildnis in seinem Haus aufstellen. Während er jedoch ein Heilmittel gegen die Trauer suchte, erfand er eine noch mächtigere Quelle des Schmerzes. Schließlich wurde dieses Bildnis .  genannt, wozu wir auf Latein ›Schmerzensbild‹ sagen. Alsbald flochten die Angehörigen seiner ganzen Familie in Verehrung des Herren Kränze für das Bildnis, opferten Blumen und entzündeten Räucherwerk. Sie erlangten Nachsicht vom Herrn, wenn sie in irgendeiner Sache Zuflucht zum Bildnis nahmen, das sie mehr aus dem Gefühl der Furcht als der Liebe verehrten. Und daher heißt es auch: ›Furcht erschuf zuerst die Götter auf der Welt‹. Hierauf begann der fest verwurzelte menschliche Irrtum überall im heidnischen Bilderkult verbreitet zu werden.22

Alberich ruft nun dazu auf, diese medienpsychologisch verstärkte Referenzverschiebung der simulacra wieder rückgängig zu machen:

21

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Vgl. als weitere Belege z. B. Fulgentius, »Mitologiarum libri«, S. 15, 20–17,8 (Kap. »Unde idolum«); Isidor von Sevilla, Etymologiarum sive Originum libri XX. Wallace Martin Lindsay (Hrsg.), Oxford 1910/1911 (8, 11, 4–14); Johannes Ridewall, Fulgentius metaforalis (erstmals 1333/1334 erwähnt), zit. in: Hans Liebeschütz, Fulgentius metaforalis. Ein Beitrag zur Geschichte der antiken Mythologie im Mittelalter, Leipzig, Berlin 1926, S. 65–71 (Kap. »Ydolatria«). Alberich von London, »De diis gentium et illorum allegoriis«, in: Scriptores rerum mythicarum latini tres Romae nuper reperti. Ad fidem codicum Mss. Guelferbytanorum Gottingensis, Gothani et Parisiensis. Georg Heinrich Bode (Hrsg.), Bd. 1, Celle 1834, S. 152–256, hier S. 152, 4–16: »Fuit in Aegypto vir ditissimus, nomine Syrophanes. Hic habuit filium unigenitum, quem immodice diligebat. Contigit filium mori. Ejus simulacrum pater prae nimio dilectionis affectu in aedibus suis constituit; dumque tristitiae quaesivit remedium, seminarium potius doloris invenit. Denique simulacrum illud .  dictum est, quod nos Latine speciem doloris dicimus. Jamque universa domini familia in domini adulationem coronas simulacro plectebant, flores offerebant, odoramenta succendebant. Rei etiam ad simulacrum confugientes, veniam a domino adepti sunt, veneratique sunt illud magis timoris affectu quam amoris; unde et dictum est: Primus in orbe deos fecit timor. Exhinc inveteratus error humanus in idolorum cultu ubique gentium coepit diffundi […]« [Kursivierungen im Original]. Alberichs Mythographie ist auch bekannt unter dem älteren Verfassertitel »Mythographus tertius vaticanus«; zu Alberich vgl. Henning Sjöström, »Magister Albericus Lundoniensis, mythographus tertius vaticanus. A XIIIth century student of classical mythology«, in: Classica et mediaevalia 29/1968, S. 249–264.

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Nun aber wollen wir nacheinander einige dunkle Irrtümer des Altertums wieder überdenken, und wenn wir sie nicht erhellen können, wollen wir dennoch einige Nebel des Unwissens mit der Geißel des Rates der Autoritäten vertreiben.23

Alberichs Geißel treibt mythologischen Erzählungen im nachfolgenden Hauptteil der Mythographie ihre Irrtümer aus, indem diese auf andere, als eigentlich erklärte Signifikate bezogen werden. Das Urteil des Paris und der Göttinnenstreit zwischen Venus, Juno und Minerva ist für Alberich – wie schon zuvor für Fulgentius und nach ihm auch für Autoren wie Johannes Ridewall und Petrus Berchorius zu Beginn des 14. Jahrhunderts – eigentlich eine Debatte über kontemplative, aktive und lustorientierte Lebensweisen.24 Welche Komplexität solche referentiellen Rückstellungen gewinnen, belegt schon ein kurzer Ausschnitt aus Alberichs Eintrag zu Juppiter: Sie halten Juppiter und Juno, das heißt Feuer und Luft, für Geschwister, da diese Elemente die gleiche Klarheit besitzen. Da Juno, das heißt die Luft, tatsächlich dem Feuer unterworfen ist, wurde ihnen zu Recht die Bezeichnung ›Ehegatten‹ verliehen. Denn sie sagen, ihr beider Name komme vom ›Helfen‹. Nichts erhält nämlich alles so am Leben wie die Wärme. Auch kann kein Tier ohne Luft überleben. Außerdem wird Juppiter auf Griechisch Z/« genannt, was auf Latein mit ›Wärme‹ oder ›Leben‹ zu übersetzen ist, da nämlich dies Element glüht und Heraklit zufolge alles durch das Lebensfeuer belebt ist. Daher wird Juppiter gleichsam ›hilfreicher Vater‹ genannt.25 23

24

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Alberich von London, »De diis gentium«, S. 153, 13–16: »Nunc autem deinceps inexplicitos aliquot antiquitatis revolvamus errores, iisque si non lucem infundere possumus, aliquas tamen ignorantiae nebulas majorum flagello auctoritatum aliquatenus dimoveamus«. Zur Kontinuität der Vorstellung vom verdeckenden Charakter von Mythen und der Leitmetaphorik von Nebel und Auflösung vgl. z. B. um 1234 Johannes von Garland, Integumenta Ovidii. Fausto Ghisalberti (Hrsg.), Messina, Mailand 1933, S. 35 (1, 5–8). Alberich von London, »De diis gentium«, S. 240–242 (11, 21–23); vgl. Fulgentius, »Mitologiarum libri«, S. 36, 1–37, 20 (»Fabula de iudicio Paridis«). Zu Ridewall vgl. Liebeschütz, Fulgentius metaforalis, S. 56 (Kapitelübersicht nach der Erfurter Handschrift: »Paris iusticia«, »Minerva vita contempl.«, »Juno vita activa«, »Venus vita luxur.«); vgl. Petrus Berchorius, Reductorium morale, Liber XV: Ovidius moralizatus. Cap. i. De formis figurisque deorum. Textus e codice Brux., Bibl. Reg. 863–9. Institut voor Laat Latijn der Rijksuniversiteit Utrecht (Hrsg.), Utrecht 1966, S. 53, 17–54, 58 (»Nupcie Pelei & Thetidis«). Alberich von London, »De diis gentium«, S. 160, 23–33: »Jovem et Junonem, id est ignem et aerem quoniam paria tenuitate elementa esse videntur, germanos esse dixerunt. Quia vero Juno, hoc est aer, igni subjecta est, jure superposita mariti nomen datum est. Hos autem ambos a juvando dixerunt. Nulla enim res sic fovet omnia, quemadmodum calor. Nec sine aere ullum animal vivere potest. Praeterea Graece Juppiter Z/« dicitur, quod Latine calor sive vita interpretatur, quod videlicet hoc elementum caleat; et quod igni vitali, ut Heraclitus vult, omnia sint animata. Juppiter ergo quasi juvans pater nuncupatur« [Kursivierungen im Original].

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Der Ausdruck ›Juppiter‹ wird so von der Bezeichnung eines Gottes nacheinander auf vielfältige andere Wissensformen re-referentialisiert: auf physikalisches Wissen (»ignis«, »calor«), auf Sprachwissen von Etymologie und Synonymie (»a juvando«; »Juppiter«/»Z/««/»vita«) und ethisch-moralisches Wissen (»juvans pater«). Alberich steht mit dieser Verfahrensweise der Referentialisierung im zeitgenössischen Feld der Mythographie nicht allein. Arnulf von Orleans erklärt um 1180 Ovids Metamorphosen zu verhüllten Repräsentationen physischer und psychischer Veränderungen – gleichsam zu Aristoteles-Studien unter verzichtbarer poetischer Verkleidung.26 Für die sogenannte Digby-Mythographie aus dem letzten Viertel des 12. Jahrhunderts bezeichnen die Taten des Hercules eigentlich den stufenweisen Aufstieg von gewaltsamer Praxis zum philosophischen Leben der Kontemplation.27 Stets werden Mythen in diesen und anderen Mythographien des Mittelalters als verkrümmte Indizes von physikalischem, moralischem, psychischem, theologischem, philosophischem, sprachlichem oder ökonomischem Wissen lesbar gemacht. Zugeschriebene Fremdreferenz dominiert in diesen Fällen über die zugeschriebene Selbstreferenz von Mythen: Als entscheidend werden ihre Anschlussmöglichkeiten auf Anderes gewertet, »per unum significatur aliud« (»durch eines wird ein anderes bezeichnet«), wie Galfried von Vinsauf in seinem Rhetoriklehrbuch programmatisch festhält.28 Im Rückgriff auf Gottlob Freges Unterscheidung zwischen Bedeutung und Sinn ließe sich diese charakteristische Reorganisation der Referenz weiter präzisieren:29 Wenn ›Jupiter‹ nicht einen Gott, sondern den feurigen Äther 26

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Vgl. Arnulf von Orleans, »Allegoriae super Ovidii Metamorphosin«, in: Arnolfo d’Orleans. Un cultore di Ovidio nel seculo XII. Fausto Ghisalberti (Hrsg.), Mailand 1932, S. 157–234. Speziell zu Arnulf im Kontext der Ovidrezeption vgl. Ralph Hexter, »Medieval Articulations of Ovid’s Metamorphoses. From Lactantian Segmentation to Arnulfian Allegory«, in: Mediaevalia 13/1989, S. 63–82; Chance, Medieval Mythography. Bd 2, S. 56–81. Überliefert ist die Digby-Mythographie unter dem Werktitel Liber de natura deorum in der Handschrift Oxford, Bodleian Library, Digby 221, fol. 100r–120v. Abdruck bei Virginia Brown, »An Edition of an Anonymous Twelfth-Century Liber de natura deorum«, in: Medieval Studies 34/1972, S. 1–70; vgl. hierzu Judson Boyce Allen, »An Anonymous Twelfth-Century ›De Natura Deorum‹«, in: Traditio 26/1970, S. 352–364. Vgl. Galfried von Vinsauf, »Summa de coloribus rhetoricis«, in: Les arts poétiques du XIIe et du XIIIe siècle. Recherches et documents sur la technique littéraire du moyen âge. Edmond Faral (Hrsg.), Paris 1958, S. 321–327, hier S. 326. Galfried erläutert an dieser Stelle die Figur der significatio anhand mythologischer Beispiele. Vgl. Gottlob Frege, »Über Sinn und Bedeutung«, in: Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien. Günther Patzig (Hrsg.), Göttingen 2008, S. 23–46.

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oder die lebensspendende Wärme meint, so behaupten mittelalterliche Mythographen damit gleichbleibende Bedeutung, während sie einen irreführenden Sinn (im Beispiel Alberichs: »deus«) durch Ketten von bezeichnungsfähigen Sinnmöglichkeiten (bei Alberich nacheinander: »ignis«, »calor«, »vita«, »juvans pater« u. a. m.) ersetzen. Selbstreferenz von Mythen wird dadurch auf ein Minimalmaß reduziert. Mythen erscheinen dadurch zwar als Elemente innerhalb mittelalterlicher Wissensordnungen, sind jedoch für sich selbst nichts Wissbares. Mythen signifizieren und repräsentieren, doch werden ihnen eigenständige Präsenz und Selbstreferenz weitestgehend abgesprochen.30 (2.) Umstellungen. So wenig freilich Selbstreferenz und Fremdreferenz grundsätzlich voneinander entkoppelbar sind, so wenig können primäre Erzählung und als ›eigentlich‹ deklarierter Sinn von Mythen voneinander entkoppelt werden: Ihre Erzählungen werden auch von mittelalterlichen Mythographen – wie fragmentarisch und reduziert auch immer – zunächst reproduziert, bevor sie hermeneutisch destruiert werden. Zahlreiche Texte entfalten dabei paradoxe Spannungsverhältnisse, wenn sie zugunsten von Fremdreferenz auf aggressive Weise die Selbstreferenz von Mythen auszulöschen suchen. Narrative ›Hüllen‹ werden nicht nur epistemologisch als prekär eingestuft, sondern immer wieder als verzichtbar, ja geradezu gefährlich deklariert: »Nach physikalischen Begründungen frage ich, nicht nach Geschichten«, poltert etwa der Graf von Anjou im Dragmaticon Wilhelms von Conches, als ihm von Narcissus und Echo erzählt wird – was zähle, sei allein die nackte Wahrheit (»nuda veritas«), nicht das Schicksal einer fiktiven Nymphe.31 Mythen stünden Wissen geradezu entgegen, wie Alanus von Lille mit der Figur einer klagenden Natur inszeniert, die wahres Wissen über sich dadurch als Mysterium geheimzuhalten sucht, dass sie in figurativer Rede fal-

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Mit dieser semiotischen Engführung der Begriffspaare Repräsentation/Fremdreferenz und Präsenz/Selbstreferenz folge ich mittelalterlichem Begriffsgebrauch: »idem est repraesentare quod significare«; Thomas von Aquin, »In quattuor libros sententiarum«, in: Opera Omnia, Bd. 1, Roberto Busa (Hrsg.), Stuttgart-Bad Cannstatt 1980, S. 417 (1, 1, 1e, 4). Dabei ist zu betonen, dass die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz in mittelalterlicher Mythographie als Zuschreibung verwendet wird; nicht geht es (im strengen systemtheoretischen Sinne von Selbstreferenz) um reine Selbstbezüglichkeit von Mythen auf Mythen, sondern um Auslegungskommunikation, die Mythen auf vordergründig-wörtliche bzw. anderweitig gegebene Signifikate bezieht. Wilhelm von Conches, Dragmaticon philosophiae. Summa de philosophia in vulgari. Italo Ronca/Lola Badia (Hrsg.), Turnhout 1997, S. 255f.: »Physicam rei rationem, non fabulam quero«; vgl. dazu Bezner, Vela veritatis, S. 299–337.

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sche Göttergeschichten kolportiert.32 Der Signifikation läuft damit bei Wilhelm und Alanus stets Narration voraus: Bevor Mythen enthüllt werden können, werden diese erzählt. Mythographien gebärden sich so weder als Assimilation noch als Auslegung, sondern stets als fundamentale Korrekturen. Wenn in Kommentaren des 12. und 13. Jahrhunderts Jupiter für das Himmelsfeuer oder Aeneas’ Reise von Troja nach Rom für die Reise der Seele durch den Kosmos stehen, so basieren solche Aussagen auf der Paradoxie, dass mythische Rede nicht meint, was sie sagt, während sie sagen muss, was sie nicht meint.33 Geistliche Allegorese, dies unterstreichen im 12. und 13. Jahrhundert unter anderem Hugo von St. Victor, Johannes von Salisbury und Thomas von Aquin, setzt dagegen stets das Fundament eines wahrheitsfähigen Literalsinns voraus, der Mythen gerade abgesprochen wird: Jakob unterscheide sich von Orpheus vor allem darin, dass er wirklich existiert habe, wie ein Martian-Kommentar Mitte des 12. Jahrhunderts lapidar bemerkt.34 Bibelallego32

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Alanus von Lille, De planctu Naturae. Nikolaus M. Häring (Hrsg.), Spoleto 1978, S. 828 (Prosa 3, 121–124): »Sed tamen plerisque mee potestatis faciem palliare decreui figuris, defendens a uilitate secretum, ne si eis de me familiarem impartirem scientiam, que apud eos primitus ignota uigerent, postmodum iam nota uilescerent.« (»Ich habe mich jedoch entschieden, vielen gegenüber die Art meiner Macht durch Redefiguren zu verhüllen, um mein Geheimnis vor Geringschätzung zu schützen, damit nicht – sofern ich ihnen eine intime Kenntnis von mir gewähren sollte – das, was zuerst bei ihnen in Ansehen stand, weil es ihnen unbekannt war, später an Wert verliert, da es bekannt ist.«). Im Hintergrund steht das von Hilarius von Poitiers entwickelte Argument, naturphilosophische Mysterien seien durch Verhüllung vor Profanierung zu schützen. Vgl. Bezner, Vela veritatis, S. 59. Vgl. Westra (Hrsg.), Commentary on Martianus, S. 45 (2, 71–78): »Est autem allegoria oratio sub historica narratione verum et ab exteriori diversum involvens intellectum, ut de lucta Iacob. Integumentum vero est oratio sub fabulosa narratione verum claudens intellectum, ut de Orpheo«. (»Die Allegorie ist eine Rede, die wahres und vielfältiges Verständnis unter einer historischen Geschichte verhüllt, wie der Kampf Jakobs. Das integumentum aber ist eine Rede, die wahres Verständnis unter einer erdichteten Erzählung verbirgt wie diejenige von Orpheus«). Zur Abgrenzung von allegoretischer Bibelhermeneutik und integumentaler Mythoshermeneutik vgl. auch Fritz Peter Knapp, »Historische Wahrheit und poetische Lüge. Die Gattungen weltlicher Epik und ihre theoretische Rechtfertigung im Hochmittelalter«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 54/1980, S. 581–635; anders im Hinblick auf einen erweiterten Allegoriebegriff dagegen Brinkmann, Mittelalterliche Hermeneutik, S. 292–317 sowie Ingrid Kasten, »Heinrich von Veldeke: Eneasroman«, in: Horst Brunner (Hrsg.), Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen. Interpretationen, Stuttgart 1993, S. 75–96, insbes. S. 78f., die integumentale und allegorische Hermeneutik gleichsetzen.

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rese und Mythoshermeneutik teilen freilich gemeinsame Metaphern und Leitbegriffe der tropologischen Rede (z. B. Unterscheidungen von sensus spiritualis und sensus literalis; Übertragungssignale wie per tropologiam, mystice u. a.). Doch während der Literalsinn vorchristlicher Erzählungen des Alten Testaments zumeist als historisch wahre und daher zu bewahrende Basis für die aus ihm entwickelbaren Spiritualsinne betrachtet wird, sind Mythen seit der Patristik mit dem Verdacht belegt, schon in ihrer primären Bildsprache wahres Wissen zu verfehlen, zu verfälschen und zu verzerren.35 Wahrheitsfähig wird Mythenreferenz erst, wenn sie auf autorisierte Wissensformate umgestellt wird, was in mythographischen Texten eine förmliche Transferwut entfesselt. Nicht ohne Grund illustrieren daher Rhetoriken des 12. Jahrhunderts auch in umgekehrter Richtung das Konzept der metaphorischen Übertragung anhand von Mythen: Eine ›Übertragung‹ [translatio] liegt vor, wenn irgendein Ausdruck von seiner eigentlichen Bedeutung nach gewisser Ähnlichkeit auf eine uneigentliche übertragen wird, wie es in diesen Beispielen offensichtlich ist. […] Es ist jedoch festzuhalten, dass bei Adjektiven die translatio auftritt, bei Substantiven die significatio. Eine significatio liegt vor, wenn durch eines ein anderes bezeichnet wird wie durch ›Jupiter‹ die obere, durch ›Juno‹ die untere Luftschicht, durch ›Phoebus‹ die Sonne, durch ›Eolus‹ der Wind, durch ›Pluto‹ der Tartarus, durch ›Neptun‹ das Meer, durch ›Ceres‹ die Saat, durch ›Tetis‹ das Wasser, durch ›Bachus‹ der Wein […]. Eine significatio liegt ebenfalls vor, wenn durch ›Paris‹ der Schöne, durch ›Helena‹ die Schöne, durch ›Ulixes‹ der Listige, durch ›Achilles‹ der Starke [bezeichnet wird].36 35

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Vgl. z. B. Plotin, Enneaden (3, 5, 10); Origenes, Contra Celsum (4, 29); Augustinus, De civitate dei (6/Praefatio–6, 9). Für weitere Belege vgl. Henri de Lubac, Exégèse médiévale. Les quatres sens de l’écriture, Paris 1959–1964, Bd. 2/1, S. 305–363 und Bd. 2/2, S. 384–396; zum Verhältnis von Bibel- und Mythenallegorese zusammenfassend Bd. 2/2, S. 396: »En réalité, sous une même êtiquette, l’allégorie chrétienne et la païenne, si elles usent d’un certain nombre de procédés analogues, n’en sont deux choses foncièrement hétérogènes; ce sont deux méthodes opposées, procédant de deux doctrines et de deux esprits opposés.« Zur Unverzichtbarkeit literaler historia in der Bibelexegese vgl. exemplarisch Hugo von St. Victor, Didascalicon de studio legendi. Studienbuch. Übersetzt von Thilo Offergeld (Hrsg.), Freiburg u. a. 1997, S. 360f. (6, 3). Galfried von Vinsauf, »Summa«, S. 325f.: »Translatio est, quando aliqua dictio transfertur a propria significatione ad impropriam quadam similitudine, ut in his patet exemplis. […] Notandum autem, quod translatio fit in adjectivis, significatio in subjectis. Significatio autem est quando per unum significatur aliud, ut per ›Jovem‹ ›aer superior‹, per ›Junonem‹ ›aer inferior‹, per ›Phoebum‹ ›sol‹, per ›Eolum‹ ›ventus‹, per ›Plutonem‹ ›Tartarus‹, per ›Neptunum‹ ›mare‹, per ›Cererem‹ ›seges‹, per ›Tetidem‹ ›aqua‹, per ›Bachum‹ ›vinum‹ […]. Fit etiam significatio, quando per ›Paridem‹ ›formosus‹, per ›Helenam‹ ›formosa‹, per ›Ulixem‹ ›dolosus‹, per ›Achillem‹ ›fortis‹« [Kursivierungen im Original].

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Wenn diese Ersetzungen häufig durch Semantiken von Eigenem und Anderem strukturiert werden, so gehört es gleichzeitig zu den Kuriositäten solcher Umstellungsmythologie, die Referenzverhältnisse final umzustülpen, also ›von hinten nach vorn‹ zu begründen. Phöbus und Diana seien deshalb Kinder von Jupiter und Latona, so argumentiert beispielsweise Bernardus Silvestris, weil Sonne und Mond aus den Elementen Feuer und Wasser hervorgingen;37 Vulcanus hinke, weil das Feuer niemals gerade aufsteige.38 Es wird deutlich, wie wenig dies mit bloßer ›Umdeutung auf Christliches‹ zu tun hat, wie Blumenberg einflussreich für weite Teile der mediävistischen Mythosforschung postuliert hatte.39 Vielmehr beherrschen Operationen des fremdreferentiellen Umstellens das Feld mittelalterlicher Mythographie, die unablässig zu löschen versuchen, wovon sie doch immer wieder ausgehen, und diese unablässige Aktivität von Referenzwechseln kann als ein zweiter Grundzug betrachtet werden. (3.) Problematisierung sprachlicher Repräsentation in etablierten Wissensordnungen. Wie Frank Bezner materialreich dokumentiert hat, irritiert diese Umstellungsmythologie auch die Einschätzung der Sprachdimension in etablierten Wissenschaften. Integumentale Mythoshermeneutiken eröffnen einen »komplexen, differente Gattungen überschreitenden Diskussionsraum« über das prekäre Verhältnis von uneigentlichem und eigentlichem Sprechen, in den im Laufe des 12. Jahrhunderts selbst der biblische Schöpfungsbericht hineingezogen wird.40 (4.) Deformierter Sinn – prekäre Zeichen. Texte, die Mythen als Indizes eines entstellten Sinns bearbeiten, entwickeln Redeformen, die in ihrer unablässigen Bewegung von Selbstreferenz zu Fremdreferenz die Zeichen grundsätzlich prekär werden lassen. Ihre unruhigen Bewegungen sind im hohen Mittelalter keineswegs auf die lateinischen Gelehrtenkulturen antikenbegeisterter Magister in Paris, Orleans oder Oxford beschränkt – Spuren prekärer 37

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Westra (Hrsg.), Commentary on Martianus, S. 139 (6, 306f.): »Phebus et Diana filii sunt Iovis et Latone quia sol et luna effectus sunt ignis et aque«. Diese Transformation von Fremdreferenz in ›eigentliche‹, begründungsfähige Referenz registriert auch Demats, Fabula, S. 23: »L’existence d’une vérité suffit à rendre raison de n’importe quelle fable, et la fable se définit comme ce qui est dit parce que (quod dicitur quod)«. So Konrad von Hirsau, »Dialogus super auctores«, in: Accessus ad auctores. Bernard D’Utrecht. Conrad D’Hirsau. Dialogus super auctores. Robert B. C. Huygens (Hrsg.), Leiden 1970, S. 71–131, hier S. 85 (405f.). Vgl. Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1984, S. 195 und an anderen Stellen unter dem Begriff der ›Umbesetzung‹. Vgl. Bezner, Vela veritatis, S. 559; zur Auffassung des Genesis-Berichts (insbesondere von 1 Gen 6–7) als integumentum vgl. auch Dronke, Fabula, S. 51.

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Zeichenordnungen von Mythen finden sich ebenso in volkssprachlicher Literatur. Ich darf mich auf drei exemplarische Fälle aus der deutschsprachigen Literatur konzentrieren. Mein erstes Beispiel ist das Liet von Troye, das Herbort von Fritzlar zwischen 1190 und 1217 für den Thüringer Landgrafen verfasst.41 Das Apollon-Orakel in Delphi, so erklärt darin der Erzähler, sei in Wahrheit ein undurchschautes Gaukelspiel des Teufels gewesen, dem Heiden wie z. B. Achill vor Christi Geburt irrtümlich aufgesessen seien:42 Da der got were Da i¢t anders niht mere Wen da der tufel ¢athanas Sin ge¢pen¢te vñ ¢in getwas V eime bilde ¢prach Vñ ¢agete in ¢wa in ge¢chach Stille vñ vffenbare Zv wane vnd zv ware Beide in ern¢te vñ in ¢pot Des hett¯e ¢ie in vur ein¯e got E was ein heideni¢che diet Sie acht¯e anders geloub¯e niet Di was lange vor gotes geburt (Dass es ein Gott gewesen sein soll, damit hat es keine andere Bewandtnis, als dass der Teufel Satan in seiner dämonischen Erscheinung aus dem Bild sprach und ihnen verkündete, was ihnen widerfahren sollte – sowohl im Geheimen als auch öffentlich, sowohl irreführend als auch wahrheitsgemäß, sowohl aufrichtig als auch höhnisch. Sie hielten ihn daher für einen Gott. Da es ein heidnisches Volk war, achteten sie keinen anderen Glauben. So war es lange vor der Geburt Gottes.)

Nach dem Vorbild frühchristlicher Apologeten diffamiert Herborts Erzähler die vermeintlichen Götter der Griechen als dämonisch erfüllte Trugbilder, die es eigentlich auf einen christlichen Referenzrahmen von Teufelsspuk und Gottesgeburt zurückzurechnen gelte. Dies hält Herborts Erzähler jedoch keineswegs davon ab, an anderen Stellen des Romans heidnische Götterkulte kommentarlos passieren zu lassen oder sogar mit Anerkennung zu erwähnen.43 Vorchristlicher Polytheismus scheint somit nicht glatt auf chris41

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Zu Herborts Liet von Troye vgl. ausführlich auch Björn Reichs Beitrag in diesem Band. Herbort’s von Fritslâr liet von Troye. Georg Carl Frommann (Hrsg.), Quedlinburg, Leipzig 1837, V. 3497–3510. Übersetzung B. G. Vgl. z. B. Herbort von Fritzlar, Liet von Troye, V. 6070–6073 und V. 6121–6128.

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tozentrische Fremdreferenz umgelegt, sondern gegen eine Selbstreferenz anzuarbeiten, die narrativ mitgeführt wird.44 In ähnlicher Weise oszillieren auch Götterfiguren im Eneasroman (1170 – ca. 1186) Heinrichs von Veldeke zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz.45 Wie seine französische Vorlage greift auch Heinrichs deutschsprachige Bearbeitung von Vergils Aeneis zu Verfahren und Vokabular der Mythenanalyse, um den Prozess der Liebesentstehung zwischen der latinischen Königstochter Lavinia und dem Exilanten Eneas darzustellen. So enthüllt die Königin ihrer Tochter in einem Aufklärungsgespräch über Wesen und Entstehung der Liebe, dass der Venussohn Amor mit seiner Büchse und seinen Pfeilen eigentlich die Minne, ihre Sehnsüchte, Qualen und Linderungsmittel bezeichne:46 dû hâst dicke wol gesehen, wie der hêre Amôr stêt in dem templô, dâ man in gêt engegen der ture inne, daz bezeichent die Minne, diu gewaldech is ubr alliu lant. ein buhsen hât her an der hant, in der ander zwêne gêre: dâ mite schûzet er vil sêre, als ich dir sagen wolde. […] wil dû nû wizzen rehte, 44

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Zu Herborts Montageverfahren mit mehrfacher Referenz vgl. auch Ricarda Bauschke, »Strategien des Erzählens bei Herbort von Fritzlar. Verfahren interdiskursiver Sinnkonstitution im ›Liet von Troye‹«, in: Wolfram-Studien 18/2004, S. 347–365. Diese Spannung ist verschiedentlich beobachtet worden: vgl. Marie-Luise Dittrich, »gote und got in Heinrichs von Veldeke ›Eneide‹«, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 90/1960/1961, S. 85–122, 198–240, 274–302; Rüdiger Schnell, Causa amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur, Bern u. a. 1985, S. 187–224; Hans Fromm, »Die Unterwelt des Eneas«, in: Ludger Grenzmann (Hrsg.), Philologie als Kulturwissenschaft. Festschrift für Karl Stackmann, Göttingen 1987, S. 71–89; Carsten Kottmann, »Gott und die Götter. Antike Tradition und mittelalterliche Gegenwart im ›Eneasroman‹ Heinrichs von Veldeke«, in: Studia Neophilologica 73/2001, S. 71–85. Auch Quast/Schausten, »Amors Pfeil« beobachten ein »Nebeneinander von mythischer Rede und Allegorese« (S. 76) in Heinrichs Zeichnung der Amor-Figur. Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Ludwig Ettmüller. Ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke (Hrsg.), Stuttgart 1989, V. 9910–9919 und V. 9939–9946.

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waz diu buhse bedûte, dazn wizzent niht alle lûte, merke in allenthalben: si bezeichent die salben, die diu Minne ie hât gereit. diu senftet al die arbeit und machet ez allez gût, swen diu Minne wunt tût[.] (Du hast oft schon gesehen, wie Herr Amor [gemalt] ist im Tempel, der Tür gegenüber, durch die man eintritt. Damit ist die Minne gemeint, die über die ganze Welt herrscht. Er trägt eine Büchse in der Hand und in der andern zwei Pfeile. Mit ihnen schießt er sehr kräftig, wie ich dir sagen wollte. […] Wenn du noch genauer erfahren willst, was die Büchse bedeutet – nicht alle wissen darüber Bescheid –, so höre gut zu: Sie bedeutet die Salbe, die die Minne immer bereithält. Sie lindert alle Qual und macht alles wieder gut dadurch, daß sie heilt, wen immer die Minne verwundet.)47

Geradezu mustergültig vollzieht die Königin das mythographische Umstellungsprogramm: Die Selbstreferenz der Figur Amors und die Betrachtung seines Bildes mit Büchse und Pfeilen werden zunächst rekapituliert, bevor diese Accessoires ausdrücklich neu referentialisiert werden (»wil dû nû wizzen rehte, / was diu buhse bedûte«, »sie bezeichent die salben«). Wie Hilarius von Poitiers oder Alanus von Lille betrachtet auch Heinrichs Königin die Umstellung des mythologischen Bildes als korrektive Enthüllung eines höheren Geheimwissens (»dazn wizzent niht alle lûte«). Aller integumentalen Minnelektion zum Trotz lösen sich mythologische Götterfiguren jedoch im Eneasroman keineswegs fremdreferentiell auf. Anders als in seiner französischen Vorlage bleiben Venus und Amor bei Heinrich von Veldeke an der Liebesentstehung auffällig beteiligt. Als Lavinia erstmals Eneas vom Fenster aus erblickt, schießt Venus mit einem Pfeil auf sie, woraufhin der Getroffenen zum Auftakt ihres Liebesleidens der Schweiß ausbricht:48 Dô der hêre dare quam und sîn diu maget lussam dâ nidene wart gewar und si ir ougen kêrde dar, dâ si was ûf deme hûs: dô schôz si frouwe Vênûs mit einer scharphen strâle.

47 48

So die Übersetzung Dieter Kartschokes, Eneasroman, S. 555 und 557. Heinrich von Veldeke, Eneasroman, V. 10031–10039.

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daz wart ir al ze quâle sint uber ein lange stunden[.] (Als nämlich der Herr hinkam und das liebliche Mädchen ihn dort unten erblickte und ihren Blick auf ihn richtete von ihrem Platz im Haus aus, da schoß Frau Venus mit einem scharfen Pfeil auf sie. Das brachte ihr seither nur Schmerzen für eine lange Zeit.)49

Während der fremdreferentielle Kommentar an dieser Stelle schweigt, bekräftigt Lavinia die Darstellung des Erzählers: »Amôr hât mich geschozzen / mit dem goldînen gêre« (»Amor hat auf mich geschossen mit dem goldenen Pfeil«).50 Nicht Minne entzündet die Passion, sondern Venus löst diese aus.51 Heinrichs Liebesgötter werden somit weder als Dämonen dekonstruiert, noch als die übermächtigen Handlungsdeterminanten Vergils beibehalten – vielmehr beginnen Götterfiguren in den Figurenreden zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz zu oszillieren, und dies Schwanken lässt ihren Zeichenstatus unscharf werden. Als drittes Beispiel für solche prekären Akte der mythographischen Referenzumstellung möchte ich den zwischen 1280 und 1287 enstandenen Trojanerkrieg Konrads von Würzburg heranziehen, weil Konrads Trojaroman diese Paradoxie irreführend realer Götterfiguren in aller Offenheit auf die Spitze treibt. Die vermeintlichen Götter der Vorzeit, so unterbricht der Erzähler gleich zu Beginn mit einem euhemeristisch-kritischen Einwurf die Hochzeitsepisode um Peleus und Thetis, seien in Wahrheit Menschen gewesen. Herausragende Menschen freilich, denen besondere magische Kompetenz oder Erfindungsleistungen zur Apotheose verholfen hätten:52 nû möhte iuch nemen wunder, waz göte waeren bî der zît? si wâren liute, als ir nû sît, wan daz ir krefteclich gewalt was michel unde manicvalt von kriutern und von steinen. 49 50

51

52

Übersetzung Kartschoke, Eneasroman, S. 561. Heinrich von Veldeke, Eneasroman, V. 10110f.; Übersetzung Kartschoke, Eneasroman, S. 565. Vgl. Quast/Schausten, »Amors Pfeil«, S. 75: »›Mythische‹ Rede – hat auf mich geschossen – steht neben bereits abstrakter allegorischer Rede – die Liebe zu ihm hat mich verwundet; bei Heinrich von Veldeke sind beide Redeweisen, die mythische und die allegorische, zumindest der Tendenz nach weniger aufeinander bezogen, als dies im RdE [= Roman d’Eneas] der Fall ist.« Konrad von Würzburg, Der Trojanische Krieg. Nach den Vorarbeiten K. Frommanns und F. Roths. Adelbert von Keller (Hrsg.), Stuttgart 1858, V. 858–885. Übersetzung B. G.

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ir nützen und ir reinen art si wol erkanden und tâten in den landen von ir tugende krefte und mit ir meisterschefte sô manic wunder wilde, daz man dâ von ir bilde müeste an beten iemer sît. ouch lepten gnuoge bî der zît, die zouberaere wâren und wunder in den jâren mit gougelwîse worhten. die wurden ouch mit vorhten für göte dâ geschrîet an. und ob ein sinnerîche man schoen unde niuwe liste vant, der wart ouch bî der zît erkant für einen got der selben kunst, und truogen im die liute gunst dur daz meisterlîche dinc, daz alsô niuwer fünde ursprinc von êrst ûz sînem herzen flôz. (Nun könntet ihr fragen, was in jener Zeit Götter waren. Sie waren Menschen wie ihr heutzutage, nur dass sie große und vielfältige Macht von Kräutern und Steinen besaßen. Sie kannten ihren jeweiligen Nutzen und ihre Natur genau und wirkten an manchen Orten durch ihre mächtigen Fähigkeiten so viele fremdartige Wunder, dass man daher ihr Bildnis für alle Zeit anbetete. Auch lebten in diesen Zeiten viele Magier, die wundersames Zauberwerk trieben. Diese wurden ebenfalls aus Ehrfurcht als Götter angerufen. Und wenn ein kluger Mann eindrucksvolle, unbekannte Künste erfand, wurde er damals ebenfalls für einen Gott dieser Kunst gehalten, und die Menschen ehrten ihn für das Meisterwerk, dass auf diese Weise die Quelle neuer Entdeckungen seinem Herzen entsprang.)

Konsequent wäre es nach diesem Exkurs, Götterfiguren als Mischung von überhöhten Experten und verkappten Scharlatanen gleich zu Beginn des Trojanerkriegs zu verabschieden. Doch Konrad stärkt umgekehrt im weiteren Erzählverlauf Götterfiguren selbstreferentiell, bisweilen sogar gegen seine französische Vorlage. So motiviert etwa der Götterbote Mercur den Trojanerprinzen Paris direkt per Eilschreiben der Venus zur Raubfahrt nach Griechenland – der Roman de Troie Benoîts de Sainte-Maure hatte dagegen die Motivation in eine Traumvision verlegt und dadurch den irrealen Status der Götter markiert.53 Anders verfährt Konrad auch an vielen weiteren Stellen 53

Vgl. Konrad von Würzburg, Der Trojanische Krieg, V. 18874–18935; vgl. dagegen Benoît de Sainte-Maure, Le roman de Troie. Léopold Constans (Hrsg.), Paris 1904–1912, V. 3860–3928.

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seines Trojaromans: Im Wald von Aulis überfällt der übermächtige Meeresgott Neptun die Griechen mit einem Unwetter;54 Achills Überlegenheit in den Kämpfen vor Troja führt der Erzähler auf das Bad im Styx zurück, ohne jedoch in diesen und anderen Fällen erneut an die fremdreferentielle Kritik des Erzählauftakts zu erinnern.55 Auch bei Konrad beginnen Göttermythen dadurch in prekärer Referentialität zu schweben. Eine einflussreiche Forschungstradition der Mediävistik hatte – inspiriert vom Argumentationsmuster der Okkupation – in solchen Unschärfen allenfalls Schwundstufen oder Restbestände des imaginativen Eigenpotentials antiker Mythen im Mittelalter gesehen.56 Die hier aus unterschiedlichen Textsorten, sprachlichen Situierungen und historischen Kontexten versammelten Beispiele, die sich leicht vermehren ließen, nähren hingegen den Eindruck, dass diese referentielle Spannung als bloßer ›Rest‹ unterschätzt ist. Stattdessen könnte es sich empfehlen, sie als ein weiter verbreitetes Merkmal einer eigenen diskursiven Formation zu untersuchen. Natürlich ist nicht zu bestreiten, dass literarische Inszenierungen wie der Eneasroman durch performative Darstellungsmittel und perspektivierende Erzählverfahren in anderer Weise mythologische Selbstreferenz zur Geltung bringen als stärker analytisch ausgerichtete Texte wie Alberichs Mythographie. Unterschiedliche Ausprägungen und Akzentuierungen von Selbstrefe-

54 55 56

Vgl. Konrad von Würzburg, Der Trojanische Krieg, V. 24130–24139. Vgl. z. B. Konrad von Würzburg, Der Trojanische Krieg, V. 31170–31175. Vgl. z. B. Jauß, »Allegorese, Remythisierung und neuer Mythus«, S. 189: Der »postallegorische Mythos des Hochmittelalters« entwickle sich aus einem »Erzählrest« des Mythos, der sich semantischen Fixierungen durch allegoretische Auslegung grundsätzlich entzogen habe. Eine grundsätzliche Resistenz eines »unüberwundenen Restes« von Mythen in Prozessen wissenschaftlicher Rationalisierung ist Thema auch der fünften Diskussion des ›Terror und Spiel‹-Kolloquiums, vgl. »Mittelalter und Renaissance«. Vgl. auch Max Wehrli, »Antike Mythologie im christlichen Mittelalter«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 57/1983, S. 18–32, insbes. S. 24f. sowie Manfred Kern, »Einführung in Gegenstand und Konzeption«, in: Alfred Ebenbauer/Manfred Kern/ Silvia Krämer-Seifert (Hrsg.), Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters, Berlin, New York 2003, S. IX–XCI, der vom »Unerledigte[n] und Unerledigbare[n] des Mythos« (S. XIX) in mittelalterlichen Deutungssystemen spricht. Im Hintergrund dieser ›Restbestandsthese‹ von mythischer Selbstreferenz ist die Forschungsoptik der Warburg-Schule zu sehen, die mittelalterliche Antikenrezeption vornehmlich vom Fluchtpunkt der Renaissance aus in den Blick nahm; vgl. etwa zum »Auflösungs- oder Dekompositionsprozeß« von Mythen im Mittelalter Seznec, Das Fortleben der antiken Götter, S. 157; Panofsky, Die Renaissancen der europäischen Kunst, S. 103 (»Zerlegung«).

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renz und Fremdreferenz wären hier genauer zu sichten. Gleichwohl bestätigen sowohl literarische Inszenierung als auch theoretische Reflexionen die Existenz eines gemeinsamen Feldes, auf dem Mythos im 12. und 13. Jahrhundert als prekäre Redeform entfaltet wird, die ganz ausdrücklich auf Fremdreferenz setzt, während zugleich irritierende Selbstreferenzen mitgeführt werden. Mythen werden so zwar als Repräsentationsformen konzipiert und inszeniert, d. h. als Erzählungen, die mittels fremdreferentieller Umstellungspraktiken in Wissensordnungen eingebunden werden können, doch treten mythologische Figuren zugleich selbstreferentiell als wissbare Größen oder narrative Handlungsträger in Erscheinung.57 Führt die Unterscheidung von Präsenz und Repräsentation auf die mittelalterliche Zeichentheorie der Mythenreferenz, so wird mit ihr ein sowohl theoretisch als auch literarisch artikuliertes Feld von Äußerungen greifbar, das den Zeichenstatus von Mythen (als Verhüllung oder significatio für andere Sinnmöglichkeiten) produziert und unterläuft. Zwischen den Extremen, bloß auf Wissensordnungen beziehbar oder aber selbst wissbar zu sein, beginnen Mythen und mythologische Figuren zu changieren. Die Umrisse dieses Feldes gilt es nun genauer abzustecken.

III. Gibt es einen Mythosdiskurs des Mittelalters? Lässt sich angesichts der skizzierten Redeform der fremdreferentiellen Umstellung von einem kohärenten Mythosdiskurs des Mittelalters sprechen – oder sind die betrachteten Phänomene anderen Diskursen wie der Naturphilosophie, der Grammatik und Rhetorik oder aber literarischen Gattungen wie dem Antikenroman im engeren Sinne zuzurechnen? Versteht man mit Michel Foucaults Archäologie des Wissens einen Diskurs als Bündel von Formationsregeln, die durch spezifische Regularitäten (1.) Modalitäten, (2.) Begriffe, (3.) Gegenstände und (4.) Strategien von Äußerungen aufeinander be-

57

Besonders deutlich wird diese Spannung in zeitgenössischen Mythographien, die dieselben Gegenstände zu konträren Zeichenformen ausarbeiten: Während etwa die Integumenta Ovidii des Johannes von Garland (ca. 1180–1272) Ovids Metamorphosen als integumenta inszenieren, deren verborgene Wahrheiten es freizulegen gelte, verzichtet der Fabularius Konrads von Mure (um 1210–1281) gänzlich auf integumentale Deutung und bietet seine fabulae, allen voran diejenigen Ovids, ausschließlich narrativ dar. Vgl. zu Johannes von Garland zusammenfassend Chance, Medieval Mythography, Bd. 2, S. 236–252; zu Konrad von Mure die Einleitung zu Conradi de Mvre Fabvlarivs, Tom van de Loo (Hrsg.), Turnhout 2006, insbes. S. XLIV–LI.

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ziehen, so lässt sich durchaus das Profil eines mittelalterlichen Mythosdiskurses rekonstruieren.58 (1.) Modalitäten. Wie herauszuarbeiten war, wird das Sprechen über Mythos im Mittelalter von Verkettungslogiken organisiert, die Narrative nicht nur zu Erzählkernen dekomponieren,59 sondern diese zugleich mit anderen Aussagen verknüpfen, die als eigentliche Bezeichnung deklariert werden. Was Ideen- und Begriffsgeschichte traditionell als Euhemerismus, Mythenallegorese oder integumentale Hermeneutik beschreiben, fügt sich zu einem Bündel von Andersreden, die zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz unablässig pendeln. Dass Selbstreferenz in der Regel als irrtümlich, irreführend oder bloß fiktiv disqualifiziert wird, sollte nicht den Blick dafür verstellen, dass auch diese Selbstreferenz produziert und reproduziert wird. Nicht bloße Fremdreferenz, wohl aber fremdreferentielle Umstellungsvorgänge kennzeichnen demnach diesen Redemodus des Sinnwechsels auf vielfältigen Ebenen mythographischer Texte. (2.) Begriffe. Zur Bezeichnung dieser Praxis werden spezifische Begriffe antiker Mythosdiskurse übernommen, aber auch weitere Lehnbegriffe geprägt. Geläufig sind zum einen Substantive wie 0 « (mythos), &0   (mythologia), &0 %« (mythopoios / Mythenerfinder) oder das Adjektivattribut &0%« (mythikos / mythisch) – und dies nicht nur für griechischsprachige Autoren der Spätantike und des byzantinischen Mittelalters.60 Auch als 58

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Vgl. Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1981, S. 48–103. Mit diesen Kategorien greife ich nur Teilaspekte des foucaultschen Diskurskonzeptes auf – jene Begriffe, die mir für den hier verfolgten philologischen Zugang analytisch besonders aufschlussreich scheinen. Mit dieser Auswahl folge ich Michael Titzmann, »Kulturelles Wissen – Diskurs – Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung«, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 99/1989, S. 47–61, insbes. S. 51–53. Gerade die Zerlegung antiker Mythologien im Mittelalter hat die Forschung seit je beschäftigt: Schon Seznec untersucht die »Dekomposition« von Mythen (Seznec, Das Fortleben der antiken Götter, S. 157), Richard Newald spricht von »Atomisierung« (Richard Newald, Nachleben des antiken Geistes im Abendland bis zum Beginn des Humanismus. Eine Überschau, Tübingen 1960, S. 192f. und S. 217, hier vor allem im Hinblick auf die philosophische Rezeption). Vgl. Justinus Martyr, »Apologia pro christianis«, in: Patrologiae cursus completus. Series Graeca [im Folgenden: PG]. Jacques Paul Migne (Hrsg.), Bd. 6, Paris 1857, Sp. 363B (1, 23) und 369A (1, 26). – Clemens von Alexandria, »Cohortatio ad gentes«, in: PG 8, Sp. 73A–B (2) und 238B (12); »Stromata«, in: PG 9, Sp. 89B–92A (5, 9) und 244B (6, 3). – Origenes, Contra Celsum libri VIII. Miroslav Marcovich (Hrsg.), Leiden u. a. 2001, S. 81, 6 (2, 5); S. 252, 27 und S. 253, 5 (4, 28); S. 255, 6, S. 256, 14f., S. 256, 19f. und S. 257, 3 (4, 39); S. 264, 26, S. 265, 12 und S. 265, 21 (4, 48); S. 268, 4 (4, 50). – Methodios von Olympos, »Convivium decem virginum«, in: PG 18,

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lateinische Lehnworte begegnen mythos, mythicon oder mitologia bei mittelalterlichen Mythographen – etwa in Werken, die auf Texte und Mythoskonzepte Varros, Martians oder Fulgentius’ zurückgreifen.61 Die althochdeutsche Übersetzung von Martians mythographischer Enzyklopädie De nuptiis Philologiae et Mercurii durch Notker Labeo zeigt zudem mit einem experimentalen Übersetzungsversuch für mithos, dass auch in frühen volkssprachlichen Übertragungen eine bislang übersehene mittelalterliche ›Arbeit am Mythosbegriff‹ nachweisbar ist – eine Begriffsarbeit, die differenziertes Bemühen

61

Sp. 161C–165B (14). – Alexander von Lykopolis, »Tractatus de placitis manichaeorum«, in: PG 18, Sp. 425A–B (10) und 445B–C (25). – Synesios, »De providentia«, in: PG 66, Sp. 1213B (1,2). – Photios, »Bibliotheca«, in: PG 103, Sp. 604C–605D (189). Vgl. z. B. die Wortbelege von ›mythos‹ in Martians De nuptiis Philologiae et Mercurii. James Willis (Hrsg.), Leipzig 1983, S. 29, 6 (2, 100), S. 57, 24 (2, 220) und S. 59, 1 (3, 222). Den deutlichsten Übergang von griechischer und lateinischer Terminologie stellt Augustinus in Auseinandersetzung mit Varros Antiquitatum rerum humanarum et divinarum libri XLI her: »Deinde illud quale est, quod tria genera theologiae dicit esse, id est rationis quae de diis explicatur, eorumque unum mythicon appellari, alterum physicon, tertium civile? Latine si usus admitteret, genus quod primum posuit, fabulare appellaremus; sed fabulosum dicamus; a fabulis enim mythicon dictum est, quoniam 0 « Graece fabula dicitur« (»Was bedeutet ferner seine Aussage, es gebe drei Arten der Theologie, das heißt der Darstellung bezüglich der Götter, von denen eine die ›mythische Theologie‹ genannt wird, eine andere die ›naturphilosophische Theologie‹ und die dritte die ›Staatstheologie‹? Wenn es der lateinische Sprachgebrauch erlaubte, sollten wir die erstgenannte Art die ›fabelartige‹ [genus fabulare] nennen. Aber lasst sie uns ›fabulös‹ [fabulosum] nennen; der Ausdruck ›mythisch‹ [mythicon] ist nämlich von Fabel abgeleitet, da die Fabel auf Griechisch ›0 «‹ heißt«); Aurelius Augustinus, De Civitate dei libri I–XXII. Bernhard Dombart/Alfons Kalb (Hrsg.), Bd. 1, Turnhout 1955, S. 170f. (6, 5, 1–6). Vor Augustinus ist ›mythicon‹ u. a. bei Tertullian, Ad nationes libri duo. Jan W. P. Borleffs (Hrsg.), Leiden u. a. 1929, S. 37, 13 und S. 37, 15 (2, 1), S. 40, 16 (2, 3) und S. 49, 3 (2, 7) belegt. Auch Johannes Ridewall (gest. nach 1340) verwendet die entlehnten Ausdrücke ›mithologia‹ und ›mithos‹: vgl. Liebeschütz, Fulgentius metaforalis, S. 70 (Kap. »Ydolatria«). Für weitere Belege vgl. Horstmann, »Mythosbegriff«, S. 7–10. – Das Corpus der ›Library of Latin Texts (Series A)‹ weist für die Texte der Patristik und der erfassten mittelalterlichen Autoren (im Zeitraum von 736–1500) insgesamt 43 Belege für mythos, mythicon/mythicus, mitologia und Ableitungen (mythopoeia; mythistoria; einschl. griechischer Schreibungen im lateinischen Text) aus (Onlinerecherche unter www.brepolis.net durchgeführt am 21. 02. 2011). Dieser Befund wäre in seinem Aussagewert in historisch-semantischer Perspektive näher zu untersuchen, doch zeigt schon die relativ geringe Belegzahl, dass sich der mittelalterliche Mythosdiskurs nicht terminologisch auf den Begriff mythos konzentriert. Übergänge zu anderen Ausdrücken (z. B. integumentum), Neuprägungen und subterminologische Begriffsverwendungen bestimmen vielmehr den mittelalterlichen Diskurs.

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um spezifische Bezeichnungsmöglichkeiten für mehrdeutige Redeweise belegt.62 Auch im Mittelalter kursieren also spezifische Bezeichnungen für Mythos, von denen integumentum oder involucrum (Verdeckung, Verhüllung) nur die bekanntesten sind. Dies betrifft nicht zuletzt das Wortfeld zu lat. fabula, das als Standardausdruck des Mythosbegriffs im Mittelalter gilt.63 Bei genauerem Hinblick zeigen sich auch hier schon frühe Differenzierungsinteressen: Der Ausdruck fabula allein kann den doppelbödigen Irrtum heidnischer Götterkulte und ihrer Glaubenserzählungen nicht erfassen – Isidor von Sevilla akzentuiert sie daher attributiv als »vanae fabulae«.64 Auch der im gesamten Mittelalter rezipierte Macrobius-Kommentar zum Somnium Scipionis unterscheidet programmatisch zwischen Fabeln wie denjenigen Äsops, die vollständig aus erdichteten Lügen bestünden, und einer unzutreffenden Äußerungsweise, die hingegen Wahrheit in erdichteter Gestalt vortrage – für diese Erzählform der Mythen prägt Macrobius den Ausdruck narratio fabulosa, der auch in Mythographien des hohen Mittelalters begegnet.65 62

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Nach dem Zeugnis der Handschrift St. Gallen, Stiftsbibliothek, CSg 872 (11. Jahrhundert) übersetzt Notker die martiansche Pluralform »mithos poetice« mit ahd. »diu mêterlichen spél« (›dichterische Sagen, gleichnishafte Erzählungen‹); Notker der Deutsche von St. Gallen, Die Hochzeit der Philologie und des Merkur. Diplomatischer Textabdruck, Konkordanzen und Wortlisten nach dem Codex Sangallensis 872. Evelyn Scherabon Firchow unter Mitarbeit von Richard Hotchkiss und Rick Treece (Hrsg.), Bd. 1, Hildesheim u. a. 1999, S. 89 (Nc08910 und Nc08914). Notker wählt mit ahd. spel einen Ausdruck, der nicht einfachhin ›Erzählung‹ meint, sondern schon jene Doppelung von Selbstreferenz und Fremdreferenz konnotiert, die für mehrdeutiges figuratives Sprechen kennzeichnend ist. Vgl. Elmar Seebold (Hrsg.), Chronologisches Wörterbuch des deutschen Wortschatzes. Bd. 2. Der Wortschatz des 9. Jahrhunderts. Berlin, New York 2008, S. 785f., s.v. ›spel‹. Vgl. Werner Betz, »Zur Wortgeschichte von ›Mythos‹«, in: Hugo Moser/Heinz Rupp/Hugo Steger (Hrsg.), Deutsche Sprache. Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Friedrich Maurer zum 80. Geburtstag, Bern, München 1978, S. 21–33, insbes. S. 22. Vgl. Isidor, Etymologiae (8,11). »Vanae fabulae« ist äquivalenter Ausdruck zu 0    (›leere Erzählungen‹) – eine Kampfformel, die in der Debatte zwischen Celsus und Origenes gefallen war; vgl. Origenes, Contra Celsum, S. 22, 12 (1, 20). Macrobius, In somnium Scipionis, S. 5, 11–13 (1, 2, 7): »Fabulae, quarum nomen indicat falsi professionem, aut tantum conciliandae auribus voluptatis, aut adhortationis quoque in bonam frugem gratia repertae sunt« – grundsätzlich treffen fabulae »falsche Aussagen, was entweder um des Vergnügens willen oder zur Unterweisung« geschehe. Zur Unterscheidung von äsopischer Fabel und narratio fabulosa vgl. ebd., S. 5, 22–27 (1, 2, 9); dazu Stock, Myth and Science, S. 44f. Im 12. Jahrhundert begegnet der Ausdruck ›narratio fabulosa‹ z. B. in der oben zitierten integumentum-Definition des (pseudo-)bernardinischen Aeneis-Kommentars wie auch in Bernardus’ Macrobius-Kommentar; zur Kontinuität von Macrobius’ fabula-Unterscheidung vgl. die Einführung zu: »Poetic Fiction and Truth: William of

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Mythos als Erzählform zwischen Wahrheit und Lüge setzt damit in etablierten Begriffsfeldern der doppelten Rede (fabula, involucrum, integumentum) eine Unruhe neuer Attributionen, Differenzierungen und Substitutionen frei, in denen sich die referentielle Unruhe dieser Erzählform selbst spiegelt. Diese Begriffsgeschichte wäre eingehend erst noch zu erforschen; für die hier verfolgte Leitfrage ist jedoch schon die allgemeine Beobachtung aufschlussreich, dass Mythen und Mythenauslegung weder in einem undifferenzierten fabula-Diskurs aufgehen (so das Argument der Kontinuitätsthese), noch dem Feld geistlicher Allegorese zugeschlagen werden (so die Okkupationsthese), sondern mittelalterliche Autoren für die Objekte mythographischer Praxis vielmehr spezifische Bezeichnungen prägen. (3.) Gegenstände. Im Schnittfeld von mythographischen Redeverfahren und Bezeichnungen tritt ein Gegenstandsspektrum in den Blick, das sich durchaus nicht in Götter- und Heroenerzählungen erschöpft. Als integumenta gelten auch zu Göttern erhobene Prinzipien oder Menschen der Antike, die wie der Arzt Aeskulap oder die Magierin Medea aufgrund herausragender Fähigkeiten verehrt wurden – darin schließen mittelalterliche Mythographien an antike Diskurse an. Darüber hinaus werden im gesamten Mittelalter – unterstützt nicht zuletzt vom Begriffsgebrauch des Neuen Testaments66 – mythosspezifische Redepraktiken verwendet, um konkurrierende Glaubenslehren und -kulte als dämonistische Irrtümer zu diffamieren. Als ein solcher theologischer »Kampfbegriff« ist der Mythosbegriff nicht nur im frühen Christentum oder in der Patristik belegt, sondern durchzieht auch lateinische und volkssprachliche Texte des hohen Mittelalters:67 Für Augustinus wie für Herbort von Fritzlar sind Dämonen und Teufel Urheber bzw. Subjekte von Mythen.68 Ein wachsendes Interesse an platonischer Kosmologie und aristotelischer Naturphilosophie zieht ab dem 12. Jahrhundert neue Gegenstände auf das

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Conches, ›Bernard Silvester‹, Arnulf of Orléans, and Ralph of Longchamps«, in: Alastair J. Minnis/Alexander B. Scott (Hrsg.), Medieval Literary Theory and Criticism. c. 1100 – c. 1375. The Commentary-tradition. Überarb. Aufl., Oxford 1991, S. 113–126, insbes. S. 118f. Bis in Mythosdiskussionen der Neuzeit (etwa in Francis Bacons Mythoskonzept des verhüllten Wissens) lässt sich dieses Differenzierungsbemühen um den Fabelbegriff nachverfolgen. Vgl. 1 Tim 4,7; 2 Tim 4,4; Tit 1,14; 2 Petr 1,16. Vgl. die Belege bei Gustav Stählin, »0 ««, in: Gerhard Kittel/Gerhard Friedrich (Hrsg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. 4, Stuttgart 1966, S. 769–803. Vgl. Augustinus, De civitate dei, S. 170–178 (6,5–6,8); Herbort von Fritzlar, Liet von Troye, V. 3497–3510.

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Feld der Mythographie:69 Prozesse der Veränderung in der Natur und Sternkonstellationen, kosmologische Deutungsmodelle wie die Erzählung vom Welt-Ei, aber auch Parallelentwürfe zur christlichen Raumordnung wie Unterwelttopographien gehören zu den Gegenständen, die Mythographien repräsentieren und diskutieren. Welche Komplexität die Objektbereiche mittelalterlicher Mythographie gewinnen, belegt Ende des 12. Jahrhunderts Alberichs De diis gentium: Kulte und Götternamen der griechischen, römischen und ägyptischen Polytheismen werden nicht mehr attackiert, sondern in einen gemeinsamen fremdreferentiellen Diskurs über Kosmologie, Ethik, Physik und interkulturelle Sprach- und Zeichentheorie eingebunden. Die Grenzen öffnen sich weiter und werden damit zunehmend unscharf. Gehörte es bis zu Beginn des 12. Jahrhunderts zu den Kriterien mythischer Objekte, einem der vorchristlichen Polytheismen zu entstammen bzw. darauf zu referieren, so wird selbst eine so basale Leitunterscheidung unsicher, wenn Wilhelm von Conches die Aussage des Genesis-Berichts als Mythos charakterisiert, dass sich oberhalb des Firmaments Wasser befinden könne.70 Gottes Schöpfung der Welt als mittelalterlicher Mythos? Kaum lässt sich angesichts solcher Veränderung des Gegenstandsbereichs mittelalterlicher Mythoskonzepte jedenfalls von einem diskursgeschichtlich stabilen Spektrum sprechen. Der um 1273 vollendete Fabularius Konrads von Mure umrahmt seinen mythographischen Hauptteil, bestehend aus einer Genealogie der Götter und ihrer Beschreibungen, mit einem historischen Abriss vom Urgroßvater Abrahams bis zur Geburt Christi sowie einer alphabetischen Liste von Edelsteinen, Bäumen und Kräutern.71 Im Unterschied zu seinen distinkten Redemodalitäten und Bezeichnungen zeigt sich das Feld mittelalterlicher Mythographie in der Perspektive seiner Gegenstände also nicht als trennscharfer Diskurs, sondern allenfalls als diskursähnliche Formation. (4.) Strategien. So komplex sich die Evolution dieser Formation vollzieht, sie lässt doch mindestens drei Strategien erkennen, die ihre Geschichte beharrlich durchziehen. Auf Ebene der Institutionalisierung lassen sich zum 69

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Vgl. Chance, Medieval Mythography, Bd 2; Stock, Myth and Science; Dronke, Fabula, insbes. S. 79–153. Zweifel am Literalsinn der Genesis haben freilich Vorläufer in der christlichen Exegese – schon Origenes etwa verwirft die Schöpfung Adams und die Verwandlung von Lots Frau als unglaubwürdig; vgl. dazu Westra, »Allegorical interpretation«, S. 283. Vgl. Konrad von Mure, Fabularius; dass selbst der Hauptteil die Grenzen zwischen Mythologie und Geschichte unscharf werden lässt, belegen darin etwa die Einträge zu Julius Caesar, Pompeius, Cato oder Pontius Pilatus, die in die mythographische Reihe von Abas bis zu Zoroaster eingeordnet werden.

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einen Autorisierungsstrategien greifen: Mythographen von Hilarius von Poitiers über Alanus von Lille und Heinrich von Veldeke bis zu Konrad von Würzburg betonen die Uneigentlichkeit mythologischer Verhüllung als Geltungssteigerung eines Wissens, das sich demonstrativ vor profanem Zugriff schützt. Der prekäre Referenzstatus von Mythen erscheint in dieser Perspektive nicht als Mangel, sondern umgekehrt als Wissensausweis von gehobener Dignität. Wenn die volkssprachigen Erzählliteraturen im 12. Jahrhundert vor allem mit Antikenromanen einsetzen, so kann der Geltungsanspruch höfischer Erzählkultur auf diese Diskursstrategie der epistemischen Geltungssteigerung aufbauen. Zweitens kennzeichnet mittelalterliche Mythographie die grundlegende Strategie, epistemische Energie zu erzeugen. Mit ihren unablässigen referentiellen Umstellungsakten zielt sie primär auf Aktualisierung und Aktivierung von Wissen – epistemische Vergegenwärtigung von mythographischem Wissen bildet damit einen Spezialfall mittelalterlicher ›Erneuerungskultur‹, die sich allgemein in der Spannung von Fremdbezug und Selbstbezug entfaltet.72 Drittens verfolgen Mythographien von der Patristik bis zum Spätmittelalter Experimente mit erhöhter Irritabilität für Fremdheit. Sie entfalten Mythos als Redepraxis, die alteritäre Zeichensysteme, Praktiken und Wissensformen nicht restlos in christliche Währung ummünzt, sondern sich mit der Andersheit des Anderen fortwährend reizt – in Semantiken des Irrtums, des Uneigentlichen, des Fiktiven. Man könnte damit mittelalterliche Mythographie als einen Diskurs im Zustand permanenter ›Autoimmunreaktion‹ betrachten. Ihre Reizbarkeit und dadurch bedingte Tendenz zur Hyperkommunikation wären Phänomene, bei denen das Forschungsparadigma der Alterität konkret ansetzen könnte, ohne globale Annahmen (etwa zur Fremdheit mittelalterlicher Rationalität) voraussetzen zu müssen. Damit lässt sich die Ausgangsfrage klar beantworten: Es gibt durchaus einen Mythosdiskurs des Mittelalters, für den wir die Vokabel Mythos ge72

Diese mythographische Energie wird vielfach als ›Erneuerung‹ beschrieben, mit der Erzählungen lebendig blieben oder wieder würden – so etwa in Baudris von Bourgueil Relektüre der fulgentianischen Mitologiae: »Credo, vivit adhuc nobiscum fabula lecta, / Vivit enim quicquid fabula significat« (»Ich glaube, die vorgetragene Erzählung lebt bis jetzt unter uns, / denn was die Erzählung auch immer bezeichnet, lebt«); Baudri von Bourgueil, Carmina. Karlheinz Hilbert (Hrsg.), Heidelberg 1979, S. 222 (154, 653f.). Zur Dimension des Erneuerns vgl. grundsätzlich Burkhard Hasebrink: »Die Ambivalenz des Erneuerns. Zur Aktualisierung des Tradierten im mittelalterlichen Erzählen«, in: Ursula Peters/Rainer Warning (Hrsg.), Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Jan-Dirk Müller zum 65. Geburtstag, München 2009, S. 205–218 sowie Björn Reichs Beitrag in diesem Band.

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brauchen können, ja sogar benötigen. Während allerdings Redemodalitäten und Begriffe dieses Diskurses ein deutliches Profil bilden, zeigen sich Gegenstände und Strategien weniger stabil bzw. deutlich irritabel. Es könnte sich daher empfehlen, eher von einer diskursähnlichen Formation statt von einem voll konstituierten Diskurs zu sprechen. Welchen Befund liefert dies für das Verhältnis von Mythosdiskursen und Konzeptionen des Literarischen? Das Ergebnis der Analyse lässt sich in zwei Beobachtungen resümieren. Mit seinem ausgeprägt repräsentationalen Charakter, der sich in fremdreferentiellen Umstellungsakten manifestiert, weist der Mythosdiskurs des Mittelalters zum einen relativ dünne Grenzen zu einer Vielzahl anderer Wissensordnungen auf. Zum anderen umkreist dieser Diskurs die Herausforderung, die Selbstreferenz von Mythen nicht überspringen oder beseitigen zu können, sondern diese reproduzieren zu müssen – und damit auch die Präsenz von Narrativität und Bildlichkeit zuzulassen, wenn nicht sogar zu verstärken. Wie ich abschließend skizzieren möchte, könnte der Mythosdiskurs damit Voraussetzungen für Entwicklungen der literarischen Kommunikation schaffen, die Walter Haug als epochales Ereignis des 12. Jahrhunderts beschrieben hatte: die Fiktionalisierung des volkssprachlichen Erzählens.73

IV. Mythos und das Unbehagen literarischer Repräsentation: Zur Interferenz von Mythosdiskurs und fiktionalem Erzählen um 1200 Mythostheorie und Literaturtheorie teilen nicht nur im Bereich der lateinischen Poetologie des Mittelalters eine lange Interferenzgeschichte.74 Seit den 1970er Jahren hat die mediävistische Forschung die Spuren integumentaler Poetologie auch in volkssprachlicher Epik verfolgt und diskutiert.75 Kontro73

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Vgl. Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. 2. Aufl., Darmstadt 1992; vgl. zuletzt auch Walter Haug, »Literaturtheorie und Fiktionalitätsbewußtsein bei Chrétien de Troyes, Thomas von England und Gottfried von Straßburg«, in: Peters/Warning (Hrsg.), Fiktion und Fiktionalität, S. 219–234. Vgl. Winthrop Wetherbee, Platonism and Poetry in the Twelfth Century. The Literary Influence of the School of Chartres, Princeton 1972; für einen Überblick vgl. auch Winthrop Wetherbee, »The Study of Classical Authors. From Late Antiquity fo the Twelfth Century«, in Alastair Minnis/Ian Johnson (Hrsg.), The Cambridge History of Literary Criticism. Bd. 2. The Middle Ages, Cambridge 2009, S. 99–144. Für Verbindungen von lateinischer integumentum-Lehre und volkssprachlicher Literarästhetik plädierte früh Hennig Brinkmann, »Verhüllung (›Integumentum‹) als literarische Darstellungsform im Mittelalter«, in: Albert Zimmermann (Hrsg.),

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vers haben etwa Fritz Peter Knapp und Christoph Huber erörtert, inwiefern die mittelhochdeutsche Literaturdidaktik Thomasins von Zerklære das integumentum-Konzept übernehme und damit ein adäquates Beschreibungsmodell für den zeitgenössischen Aventiureroman liefere.76 Die Debatte befindet sich trotz jüngerer Ergänzungen seitdem in der Aporie:77 Weder bieten Thomasin oder der höfische Roman um 1200 explizite Reflexionen zur Mythosförmigkeit, die über einige viel diskutierte An-

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Der Begriff der repraesentatio im Mittelalter. Stellvertretung – Symbol – Zeichen – Bild, Berlin, New York 1971, S. 314–338; vgl. auch Brinkmann, Mittelalterliche Hermeneutik, S. 169–198. Ausführlich hat ihm Knapp, »Historische Wahrheit und poetische Lüge«, insbes. S. 623f. auf begriffsgeschichtlicher Materialbasis zu ›historia‹ und ›fabula‹ widersprochen; vgl. zuletzt auch Fritz Peter Knapp, »Fabulae – parabolae – historiae. Die mittelalterliche Gattungstheorie und die Kleinepik von Jean Bodel bis Boccaccio«, in: Mittellateinisches Jahrbuch 44/2009, S. 97–117. Skeptisch auch Walter Haug, »Fiktionalität zwischen Lüge und Wahrheit: Thomasin von Zerklære und die Integumentum-Lehre«, in: Ders., Literaturtheorie, S. 228–240, insbes. S. 231: »die Integumentum-Lehre war für eine Poetik des Chrétienschen Modells untauglich«. Christoph Huber, »Höfischer Roman als Integumentum? Das Votum Thomasins von Zerklaere«, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 115/1986, S. 79–100 rekonstruiert die Romankonzeption Thomasins als grundsätzlich integumental, verweist jedoch auf Grenzen einer schematischen Übertragung des integumentum auf den Artusroman; Fritz Peter Knapp, »Integumentum und Âventiure: nochmals zur Literaturtheorie bei Bernardus (Silvestris?) und Thomasin von Zerklære«, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch N. F. 28/1987, S. 299–307 weist gegen Huber sowohl ein integumentales Verständnis Thomasins als auch Zusammenhänge zur Romanpoetik zurück: Integumentale Differenzierungstypen der fabula seien nicht mit der Exemplarik von Aventiuren zu verrechnen. Vgl. dazu die Duplik von Christoph Huber, »Zur mittelalterlichen Roman-Hermeneutik: Noch einmal Thomasin von Zerklære und das Integumentum«, in: Volker Honemann (Hrsg.), German Narrative Literature of the Twelfth and Thirteenth Century. Studies Presented to Roy Wisbey on his Sixty-Fifth Birthday, Tübingen 1994, S. 27–38. Die Dissertation von Rolf-Peter Lacher, Die integumentale Methode in mittelhochdeutscher Epik, Frankfurt a. M. u. a. 1988 bleibt sachlich wie methodisch hinter dieser Debatte zurück; deren Stand findet sich zusammengefasst bei Christoph Huber, »Integumentum«, in: Georg Braungart u. a. (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, Berlin, New York 2000, S. 156–160. Der Überblick zur Poetologie der Lüge, mit dem z. B. Ulrich Ernst, »Lüge, integumentum und Fiktion in der antiken und mittelalterlichen Dichtungstheorie. Umrisse einer Poetik des Mendakischen«, in: Das Mittelalter 9/2004, S. 73–100 für eine diachrone Fiktionalitätstheorie plädiert, könnte Neuanstöße in der integumentumDebatte bieten (so z. B. zur volkssprachlichen Lügenpoetik des 12. und 13. Jahrhunderts: S. 93–98). Ernsts Darstellung verdeutlicht, dass das literarische Fiktionalitätsproblem in einem weiteren Kontext referenzunsicherer Rede im Mittelalter zu verorten ist.

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klänge hinausgingen, noch stellen die Romane Chrétiens de Troyes oder Hartmanns von Aue ausschließlich auf Vermittlung fremdreferentieller Wahrheit ab – sei es im Bezug auf religiöse, ethische oder soziale Normen.78 Aus der Perspektive des mittelalterlichen Mythosdiskurses könnten sich alternative Möglichkeiten bieten, diese Aporie aufzulösen und den Fiktionalisierungsschub des Romans um 1200 zu beschreiben. Wie Rainer Warning unterstrichen hat, begründet nicht die bloße Auskoppelung von Narration aus exempelförmigen Deutungsrahmen schon die Fiktionalität des Artusromans.79 Entscheidend hierfür sind vielmehr Akte des Fingierens, die zugleich imaginär und regelgebunden orientiert sind, indem sie einerseits auf sich selbst referieren (z. B. in der Selbstbezüglichkeit von Erzählstrukturen, Regeln der fiktionalen Welt oder der Dysfunktionalität des Fingierens), andererseits auf diskursive Strukturen jenseits ihres fiktiven Entwurfs Bezug nehmen. Mit anderen Worten: Auch das fiktionale Romanerzählen verdankt sich Spannungsbeziehungen von Selbstreferenz und Fremdreferenz, die Warning grundlegend als »Transgression« fasst.80 Diese Spannung verdankt sich nicht erst dem Experiment einer ›Neuerfindung von Fiktionalität‹ – sie findet sich vorgebildet in Mythosdiskursen. Wie ich zu skizzieren versuchte, kreisen mittelalterliche Mythographien weniger um einfache Oppositionen von Wahrheit und Lüge als vielmehr um Akte der Referenzumstellung, die prekäre Dynamiken von Selbstreferenz und Fremdreferenz freisetzen. Mythen erzeugen ein produktives ›Unbehagen‹ bei ihren mittelalterlichen Bearbeitern,81 weil ihr Sinn nicht transparent ist für wahrheitsfähige Bedeutung, sondern erst erzählt, bearbeitet und um78 79

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Vgl. Haug, »Literaturtheorie und Fiktionalitätsbewußtsein«. Rainer Warning, »Fiktion und Transgression«, in: Peters/Warning (Hrsg.), Fiktion und Fiktionalität, S. 31–55. Vgl. Warning, »Fiktion und Transgression«, S. 42: »Transgressiv ist somit der Akt des Fingierens selbst.« Sigmund Freud charakterisiert mit dem Begriff des Unbehagens den Effekt eines Widerstreits zwischen Gemeinschaftsbedürfnis und dem individualen Bedürfnis nach Triebabfuhr; ihr Kompromiss vollziehe sich auf Ebene der Kultur, die sozialverträgliches Triebleben ermögliche, zugleich aber Triebbegrenzung verlange und somit bei ihren Subjekten Schuldgefühle produziere. Vgl. Sigmund Freud, »Das Unbehagen in der Kultur«, in: Studienausgabe. Bd. 9: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion. Alexander Mitscherlich u. a. (Hrsg.), Frankfurt a. M. 2000, S. 191–270. In abstrakterem Sinne entlehnt, könnte der Begriff des Unbehagens pointiert den Spannungscharakter von mittelalterlicher Mythographie zwischen Restriktion und Proliferation von Referenz erfassen. Die permanente Unruhe dieser spannungsvollen Arbeit schlägt sich auch in mythographischen Texten in aggressiven Semantiken nieder, wie sie Freuds Diagnose von kulturellem Unwohlsein und Unbehagen aufgreift.

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gearbeitet werden muss, und diese prekäre Differenz von Selbstreferenz und Fremdreferenz öffnet und schließt sich in Mythographien unaufhörlich. Damit werden Berührungspunkte von mythographischer Kommunikation und literarischen Strategien greifbar, die weder auf der Ebene expliziter Literaturtheorien des Mittelalters liegen oder auf exakter Übernahme eines integumentum-Konzepts beruhen, noch auf mythologisch einschlägige Gattungen wie den Antikenroman beschränkt sind. Zugespitzt formuliert: Mythosdiskurs und fiktionaler Roman bearbeiten invers zueinander vergleichbare Spannungen von Selbstreferenz und Fremdreferenz. Während Chrétiens modellbildendes Erzählprogramm der kunstvollen Zusammenfügung des Erzählens (»bele conjointure«) der selbstreferentiellen Sinnordnung des Romans neues Eigengewicht verleiht gegenüber der fremdreferentiellen Konstruktion von exemplarischer Bedeutung,82 operieren Mythosdiskurse in der entgegengesetzten Richtung, wenn sie schwierige Selbstreferenzen auf fremdreferentielle Bedeutung umstellen. In beiden Diskursfeldern öffnet sich dabei ein prekärer Zwischenraum des Sprechens zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz. Fiktionalität wäre dann kein Sonderweg des Literarischen im 12. Jahrhundert, sondern eher als Ausdifferenzierung eines bereits etablierten, wenngleich nicht institutionalisierten Referenzmusters zu betrachten – Fiktionalität wäre unter diesen Diskursbedingungen inverse Mythologie. Handelt es sich bei solchen Analogien bzw. Inversionen um bloße Koinzidenzen – um Parallelentwicklungen, die zwar diskursgeschichtlich nebeneinander herlaufen, sich aber gegenseitig nicht nachweislich beeinflussen? Tatsächlich lassen sich Hinweise beibringen, dass Mythosdiskurse die fiktionalen Romanexperimente Ende des 12. und zu Beginn des 13. Jahrhunderts 82

Vgl. Chrétien de Troyes, Erec et Enide. Altfranzösisch/deutsch. Albert Gier (Hrsg.), Stuttgart 2000, V. 13–18: »et tret d’un conte d’avanture / une molt bele conjointure / par qu’an puet prover et savoir / que s’escïence n’abandone / tant con Dex la grace l’an done« (Übersetzung Gier, S. 5: »und er [= Chrétien de Troyes] bringt seinerseits eine Reihe von Ereignissen, wie sie erzählt werden, in einen wohlgeordneten Zusammenhang, damit man daraus zu erweisen und zu erkennen vermag, daß man nicht klug handelt, wenn man nicht sein Wissen mitteilt, solange Gott einem die Gnade dazu gibt«). Conjointure hatte Haug als Leitwort eines Erzählprogramms gedeutet, das exemplarische Bedeutungskonstruktion durch einen »experimentellen Strukturentwurf« ersetze, der auf innertextuelle Verweisung abstelle; vgl. Walter Haug, »Chrétiens de Troyes ›Erec‹-Prolog und das arthurische Strukturmodell«, in: Ders., Literaturtheorie, S. 91–107, hier S. 92. Dennoch verbindet Chrétiens Erzähler diese neue Selbstreferenz mit einer traditionell fremdreferentiellen Funktion, wenn er die Erzählsituation als Exempel von Wissenstransfer charakterisiert.

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beeinflussen. Kaum ein Artusroman kommt ohne verdeckte oder offene Bezüge auf Trojaerzählungen aus, die besonders häufig in ekphrastischen Beschreibungen hergestellt werden.83 Auffällig häufig greifen metafiktionale Reflexionen des Romans auf Objekte des mythographischen Diskurses zurück oder beziehen sich offen auf mythographische Prätexte. So stattet etwa Chrétiens Erzähler in Erec et Enide den Krönungsmantel Erecs nicht nur mit Figuren des kosmologischen Wissens aus, sondern beruft sich dafür ausdrücklich auf den Mythostheoretiker Macrobius;84 Enites Pferd – reflexives Kunstobjekt des Erec-Romans par excellence – trägt bei Hartmann »das lange liet von Troiâ« auf seinem Sattel eingearbeitet, die Satteldecke sei zudem Jupiters würdig;85 in Gottfrieds Tristanroman bettet der Erzähler die erste deutsche Literaturrevue der Volkssprache in ein Gebet an Apoll und die Musen ein.86 Schwerlich wird man angesichts so prominenter Reflexionsstellen von bloßer Anspielung gelehrten Wissens sprechen wollen. Nicht nur analoge Referenzverhältnisse, sondern auch explizite Dialoge mit dem Mythos83

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Vgl. im Anschluss an die Forschungen Haiko Wandhoffs kürzlich Björn Reich, »Helena und der Gral. Trojamythos und Adelskritik im Göttweiger Trojanerkrieg«, in: Mythes à la cour, mythes pour la cour (Courtly mythologies), Alain Corbellari (Hrsg.), Genf 2010, S. 179–190, hier S. 180. Vgl. Chrétien de Troyes, Erec et Enide, V. 6674–6681. Zu weiteren Bezügen zwischen Chrétiens Roman und der mythenaffinen ›Schule von Chartres‹ vgl. Donald Maddox, »Nature and Narrative in Chrétien’s Erec et Enide«, in: Mediaevalia 3/1977, S. 59–82 sowie Katharina Münchberg, »Eros und Erkenntnis. Chrétien de Troyes und die theologische Ästhetik der Schule von Chartres, in: Maria Moog-Grünewald (Hrsg.), Eros. Zur Ästhetisierung eines (neu)platonischen Philosophems in Neuzeit und Moderne, Heidelberg 2006, S. 17–34. Vgl. Hartmann von Aue, Erec. Mit einem Abdruck der neuen Wolfenbütteler und Zwettler Erec-Fragmente. Hrsg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff. 7. Aufl. besorgt von Kurt Gärtner, Tübingen 2006, V. 7545–7581 und 7658–7668; Zitat V. 7546; vgl. deutlich kürzer bei Chrétien, Erec et Enide, V. 5289–5298 [u. a. ohne Jupiter-Vergleich]. Vgl. Gottfried von Straßburg, Tristan und Isold. Friedrich Ranke (Hrsg.), 14. Aufl., Dublin u. a. 1969, V. 4589–4907. Dass mythologische Bezugspunkte nicht nur den Musenanruf, sondern auch die Einzelporträts von Gottfrieds Dichterschau strukturieren, hat Kern, Edle Tropfen vom Helikon, S. 174–186 gezeigt. Entsprechend erwog die Forschung schon früh grundlegende Beziehungen zum Mythosdiskurs: Charles Stephen Jaeger, Medieval humanism in Gottfried von Strassburg’s Tristan and Isolde, Heidelberg 1977 führt den gesamten Tristan auf Mythoslektüren zu Platons Timaios und Vergils Aeneis nach dem integumentalen Modell der ›Schule von Chartres‹ zurück. Zu diesen Beziehungen vgl. auch Christoph Huber, Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen. Untersuchungen zu Thomasin von Zerklaere, Gottfried von Straßburg, Frauenlob, Heinrich von Neustadt, Heinrich von St. Gallen, Heinrich von Mügeln und Johannes von Tepl, München u. a. 1988.

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diskurs kennzeichnen somit den höfischen Roman und seine poetologische Selbstreflexion. Zu den zentralen Beschreibungsschwierigkeiten, welche die Haug’sche Fiktionalitätsthese der Literaturwissenschaft vererbte, gehört die Paradoxie, dass fiktionale Erzählentwürfe um 1200 sich der exempelförmigen Bedeutungskonstruktion verweigern, aber gleichwohl ausdrücklich Exemplarik für sich reklamieren.87 Folgt man den Spuren des mittelalterlichen Mythosdiskurses, so lässt sich ein Trägermilieu für diese zweiseitigen Referenzexperimente erschließen, welche die Karriere der Fiktionalität im 12. Jahrhundert einleiten. Es könnte daher gerade das produktive Unbehagen des mittelalterlichen Mythosdiskurses zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz sein, das neue Einsichten in die historischen und systematischen Grundlagen fiktionaler Rede verspricht.

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Vgl. dazu Walter Haug, »Die Problematisierung der Legende: Hartmanns ›Gregorius‹-Prolog«, in: Ders., Literaturtheorie, S. 134–154 und ders., »Programmatische Fiktionalität: Hartmanns von Aue ›Iwein‹-Prolog«, in: Ebd., S. 119–133.

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Björn Reich

Björn Reich (Berlin)

Der Mythos und die Zahl: Evidenz und Reflexion des Erzählens im Trojaroman Herborts von Fritzlar

Die Erzählungen von Troja nehmen in der mittelalterlichen Literatur eine Sonderstellung ein, wird an ihnen doch besonders deutlich, wie eng verknüpft Historie und Mythos im mittelalterlichen Denken waren.1 Einerseits gilt das Geschehen vor Troja als Ursprungsmythos des europäischen Rittertums,2 andererseits aber auch als das erste beglaubigte Ereignis der Profangeschichte. Es stellt damit geradezu den Beginn der Datierbarkeit dar und liegt nicht in einer ›prähistorischen‹ ungreifbaren Vergangenheit; eine Indifferenz von Raum und/oder Zeit, wie moderne Theorien oft für die Definition des Mythos einfordern,3 ist nicht gegeben, schon gar keine »Geschichtslosigkeit«.4 Viele der modernen Mythostheorien sind nur bedingt auf die mittelalterlichen Texte übertragbar.5 Selbst eine klassisch-gräzistisch-motivorientierte Mythosdefinition läuft immer wieder ins Leere, wird das antike Geschehen doch stark mittelalterlich überformt, wenn etwa Paris und Hektor in Ausrüstung und kulturellem Gebaren als voll-

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Vgl. Stefan Schnell, Mittelhochdeutsche Trojanerkriege. Studien zur Rezeption der Antike bei Herbort von Fritzlar und Konrad von Würzburg, Diss. masch. Freiburg i. Br. 1953, S. 4 u. 31. Als kleine Auswahl dazu siehe: Jörn Garber, »Trojaner – Römer – Franken – Deutsche. ›Nationale‹ Abstammungstheorien im Vorfeld der Nationalstaatsbildung«, in: Klaus Garber (Hrsg.), Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit. Akten des I. Internationalen Osnabrücker Kongresses zur Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, Tübingen 1989, S. 108–163; Frantiˇsek Graus, »Troja und trojanische Herkunftssage im Mittelalter«, in: Willi Erzgräber (Hrsg.), Kontinuität und Transformation der Antike im Mittelalter. Veröffentlichung der Kongreßakten zum Freiburger Symposion des Mediävistenverbandes, Sigmaringen 1989, S. 25–43, hier S. 33; Beate Kellner, Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München 2004, hier S. 131. Vgl. etwa Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 1979, S. 109. Vgl. ebd., S. 112 und S. 165. Vgl. grundlegend zur historischen Rekonstruktion des Mythosdiskurses den Beitrag von Bent Gebert in diesem Band.

Der Mythos und die Zahl

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ständig höfische Ritter des 12./13. Jahrhunderts auftreten.6 Gerade diese »Mediävalisierung«7 darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Geschehen vor Troja durchaus als ein längst vergangenes, zeitlich weit zurückliegendes gedacht wurde, als etwas, das es zu erinnern und zu erneuern galt. Die Frage, wie mythopoetische Texte des Mittelalters – und die Trojageschichte kann aufgrund ihrer hohen Bedeutung als Beispiel par excellence dafür gelten – mit Unterscheidungen von Präsenz und Repräsentation operieren, ist eine Frage, die für das mittelalterliche Mythosverständnis zentral ist, gleichwohl bisher wenig beachtet wurde.8 Verfahren von Präsenz- oder Repräsentationserzeugung entstehen, wie ich im Folgenden zeigen möchte, stets unter bestimmten kulturellen Prämissen, die für das Mittelalter grundlegend andere sind als für die Moderne. Wie Mythos im Spannungsfeld von Präsenz und Repräsentation zu verorten ist, lässt sich nur mit einem Umweg über die Grundlagen der epistemologisch geprägten Poetik des Mittelalters erklären. Dabei soll gezeigt werden, dass die mittelalterlichen Bearbeiter mythologischer Stoffe sowohl bestrebt sind, für ihre Rezipienten das Erzählte lebendig werden zu lassen (Präsenzerzeugung), als auch den repräsentationalen Charakter der Literatur bewusst auszustellen, um die Erzählpräsenz wieder zu brechen und zur Reflexion anzuregen. Moderne Mythosbegriffe greifen nicht für die mittelalterlichen Texte, so lange die wahrnehmungstheoretischen Grundlagen, die für die Literatur der Vormoderne prägend sind und die Vorstellungen von Präsenz und Repräsentation entscheidend bestimmen, vernachlässigt werden.

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Zu diesem »Anachronismus der Antikeromane« vgl. Marc-René Jung, Die Vermittlung historischen Wissens zum Trojanerkrieg im Mittelalter, Freiburg/Schweiz 2001, S. 25f. Begriff nach: Elisabeth Lienert, Deutsche Antikeromane des Mittelalters, Berlin 2001, S. 9; vgl. Udo Friedrich/Bruno Quast, »Mediävistische Mythosforschung«, in: Dies. (Hrsg.), Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin, New York 2004, S. IX–XXXVII, hier S. XVIII. Unter ›mythopoetisch‹ verstehe ich hier schlicht poetische Texte mit mythologischem Sujet, wie sie sich z. B. in der frühen epischen Großgattung des Antikeromans finden lassen. Dass der Trojastoff bei aller Historizität auch im Mittelalter als ein mythologischer wahrgenommen wurde, zeigt sich u. a. daran, dass er unter der historischen Semantik von mitologia verhandelt wird (vgl. den Beitrag von Bent Gebert in diesem Band).

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I.

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Die Evidenz des Erzählens

Die mittelalterliche Poetik wurzelt in der Pneumatologie und Phantasmatologie ihrer Zeit,9 jenen physiologischen Grundlagen, die sich mit dem Erzeugen und Steuern von innerer Bildlichkeit (im Rahmen mentaler Vorgänge) befassen. Giorgio Agamben und Ioan P. Culianu haben insbesondere für das Spätmittelalter gezeigt, wie wichtig innerhalb des »phantasmatischen Erzählens« das Erzeugen narrativer Intensität ist,10 und diese Theorien darf man getrost bereits für das hohe Mittelalter voraussetzen.11 Die zunehmende Bedeutung der Phantasmatologie für die mittelalterliche Poetik geht Hand in Hand mit dem neu aufkeimenden Interesse an Wahrnehmungsvorgängen im 12. und – durch den Einfluss der arabischen Philosophie verstärkt – im 13. Jahrhundert. Ihre wesentliche Grundlage bildet die Galen’sche DreiVentrikel-Lehre, die trotz zahlreicher Modifikationen das ganze Mittelalter

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Das Pneuma (lat. spiritus) gilt seit Aristoteles als Träger der Wahrnehmung im Körperinneren. Als feinstoffliche Materie ist das Pneuma der Mittler zwischen dem stofflichen Körper und der unstofflichen Seele: »Das Vorhandensein eines solchen Organs [des Pneumas] ist die Voraussetzung zur Lösung des Widerspruchs zwischen Körperlichem und Unkörperlichem. Es ist so subtil, daß es dem immateriellen Wesen der Seele gleicht. Dennoch ist es ein Körper, und als solcher kann es mit der Sinneswelt in Berührung treten. Ohne dieses […] Pneuma […] als Medium hätten Seele und Leib voneinander kein Bewusstsein, da jeder für den Bereich des jeweils anderen blind ist« (Ioan Petru Culianu, Eros und Magie in der Renaissance, Frankfurt a. M., Leipzig 2001, S. 29). Das Pneuma fließt quasi als Transmitterstoff durch den ganzen Körper und transportiert dabei auch die Sinneswahrnehmungen oder aus dem Gedächtnis aufgerufenen Vorstellungen (imagines) – die über das Pneuma vermittelten Bilder werden auch als phantasmata bezeichnet. Vgl. Giorgio Agamben, Stanzen. Das Wort und das Phantasma in der abendländischen Kultur, Zürich, Berlin 2005; Culianu, Eros. Vgl. Culianu, Eros, S. 38. Der Einfluss der Wahrnehmungstheorie auf die mittelalterliche Lyrik, speziell auf den Minnesang, gilt längst als gesichert: vgl. Beate Kellner, »Gewalt und Minne. Zu Wahrnehmung, Körperkonzept und Ich-Rolle im Liedcorpus Heinrichs von Morungen«, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 119/1997, S. 33–66; Hans Jürgen Scheuer, »Die Wahrnehmung innerer Bilder im ›Carmen Buranum‹ 62. Überlegungen zur Vermittlung zwischen mediävistischer Medientheorie und mittelalterlicher Poetik«, in: Das Mittelalter 8/2003, S. 121–136; Horst Wenzel, Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, hier S. 326f. Ausführlicher behandle ich das Verhältnis von Phantasmatologie, Epistemologie und Poetik in meiner Dissertation: Björn Reich, Name und maere. Eigennamen als narrative Zentren mittelalterlicher Epik. Mit exemplarischen Einzeluntersuchungen zum Meleranz des Pleier, Göttweiger Trojanerkrieg und Wolfdietrich D, Heidelberg 2011.

Der Mythos und die Zahl

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hindurch ihre Bedeutung nicht verliert.12 Dabei wird das Gehirn im Wesentlichen in drei Hirnkammern unterteilt: die imaginatio (den Vorstellungsbereich), die ratio (die Vernunft) und die memoria (den Gedächtnisspeicher).13 Wahrnehmungsvorgänge könnte man vereinfacht etwa so beschreiben: Es strömen feinstoffliche Partikel, Wellen oder zuvor vom Körper ausgesendete Pneumastrahlen (zurück) in die Gehörgänge, Augen etc., prägen dort das körperinnere Pneuma und zeitigen schließlich Vorstellungsbilder, lat. imagines, im vorderen Bereich des Gehirns.14 Alles aktuell Wahrgenommene ist ein ›Bild‹ im Kopf des Betrachters,15 ein »Gemälde in der Seele«.16 Aber noch andere Bilder finden sich in der imaginatio. Bei Denk- und Erinnerungsprozessen werden bereits in der memoria abgespeicherte Bilder wieder nach vorne in die imaginatio transportiert, dabei gegebenenfalls von der ratio neu kombiniert und erneut als imagines wahrnehmbar.17 Alles aktiv Gedachte ist damit 12

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Auch dort, wo statt mit drei mit vier oder fünf Hirnkammern gearbeitet wird, erweisen sich diese Ausdifferenzierungen als Variationen der Grundform: Die drei Ventrikel »Vorstellung«, »Vernunft« und »Gedächtnis« bleiben als Hirnbereiche stets erhalten. Eine Übersicht der antiken und mittelalterlichen Hirnphysiologie und der DreiVentrikel-Lehre, ausgehend von den Vorsokratikern bis hin zu Vesalius, findet sich bei: Walther Sudhoff, »Die Lehre von den Hirnventrikeln in textlicher und graphischer Tradition des Altertums und Mittelalters«, in: Archiv für Geschichte der Medizin 7/1913, S. 149–205; vgl. außerdem: Michael Camille, »Before the Gaze. The Internal Senses and Late Medieval Practices of Seeing«, in: Robert S. Nelson (Hrsg.), Visuality before and beyond the Renaissance. Seeing as Others Saw, Cambridge 2000, S. 197–223, hier S. 200; E. Ruth Harvey, The inward Wits. Psychological Theory in the Middle Ages and the Renaissance, London 1975, insbes. S. 43–45; Josef Leyacker, »Zur Entstehung der Lehre von den Hirnventrikeln als Sitz psychischer Vermögen«, in: Archiv für Geschichte der Medizin 19 (1927), S. 253–286. Ausführlicher zu den verschiedenen Wahrnehmungsmodellen (insbesondere am Beispiel des Sehens) im Mittelalter siehe: Camille, »Before the Gaze«; David C. Lindberg, Auge und Licht im Mittelalter. Die Entwicklung der Optik von Alkindi bis Kepler, Frankfurt a. M. 1987; ders., »The Science of Optics«, in: Ders. (Hrsg.), Sciences in the Middle Ages, Chicago, London 1978, S. 338–368. Zum mittelalterlichen Bildbegriff vgl.: »‹B.› [Bild] wird in der Lehre von der Erkenntnis mit den entsprechenden Differenzierungen als Sammelbegriff für Wahrnehmung, Vorstellung usw. gebraucht […]. Der Ausdruck ‹B.› wird als Übersetzung vor allem für griechisch ‹eidolon›, ‹eikon› […] und lateinisch ‹imago›, ‹species›, ‹effigies›, ‹simulacrum› verwendet« (D. Schlüter/Wolfram Hogrebe, »Bild«, in: Joachim Ritter [Hrsg.], Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel 1971, Sp. 913–919, hier Sp. 915). Agamben, Stanzen, S. 125. Vgl. Hans Jürgen Scheuer, »Bildintensität. Eine imaginationstheoretische Lektüre des Strickerschen Artusromans ›Daniel von dem Blühenden Tal‹«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 122/2003, S. 23–46, hier S. 26: »Wenn dem vorderen Ventrikel

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ebenfalls nichts anderes als imago im Gehirn. Wichtig ist, dass die von äußeren Einflüssen abhängenden Bilder und die ›reinen Vorstellungsbilder‹ in ihrem ontologischen Status nicht differieren. Auch fehlt dem Menschen ein hinreichendes Unterscheidungsvermögen für beide Bildarten.18 Vielmehr stehen innere und äußere Bilder in einem ständigen Konkurrenzkampf: Je intensiver die innere Wahrnehmung ist, desto mehr wird die äußere Wirklichkeit ausgeblendet. Die reziproke Ausgleichungskraft des kommunikativen Verhältnisses von ›äußerem‹ Auge und ›innerer‹ Sehkraft erweist sich darin, daß das innere Vermögen in eben dem Maße abnehmen muß, in welchem das äußere zunimmt, und umgekehrt.19

Aus diesem Konkurrenzverhältnis der äußeren und inneren Bilder resultiert die große Bedeutung der Sprache im Mittelalter: Sprache ist in der Lage, Denk- und Erinnerungsprozesse auszulösen, gezielt abgespeicherte Bilder in der memoria der Zuhörer oder Textrezipienten zu aktivieren, zu kombinieren und zu steuern. Die abgespeicherten Bilder werden so neu verlebendigt und vergegenwärtigt (die mittelalterliche Poetologie reflektiert dies unter dem mittelhochdeutschen Begriff erniuwen), denn der Sprache soll möglichst eine so hohe Intensität verliehen werden, dass der Rezipient durch das Gehörte/Gelesene affiziert wird (Schlagworte in den Rhetoriken dafür wären: lat. movere, gr. periegematikos) und ihm dieses Gehörte/Gelesene vor Augen steht.20 Im Idealfall wird das Erzählte eben so lebendig, dass es die Außenwelt vertritt, und die Außenwahrnehmung ganz hinter das Erzählte zurückfällt. Da alles Wahrgenommene und Gedachte letztlich Bild/imago im Kopf des Wahrnehmenden/Denkenden ist, es also für den Menschen genau ge-

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ein Erinnerungsbild zugeführt werden soll, muss dieses ebenfalls erst einmal die Instanz der ratio passieren, um in das Phantasma der verlebendigenden imaginatio eingebaut zu werden«. Vgl. auch Murray Wright Bundy, The Theory of Imagination in classical and mediaeval Thought, Urbana 1927, S. 190 und Christina Lechtermann, Berührt werden. Narrative Strategien der Präsenz in der höfischen Literatur um 1200, Berlin 2005, hier S. 59. Scheuer, »Wahrnehmung innerer Bilder«, S. 120. Jörg Jochen Berns, Film vor dem Film. Bewegende und bewegliche Bilder als Mittel der Imaginationssteuerung in Mittelalter und Früher Neuzeit, Marburg 2000, hier S. 22; vgl. Marcus Tullius Cicero, Gespräche in Tusculum, Lateinisch-deutsch mit ausführlichen Anmerkungen neu herausgegeben von Olof Gigon, 4. Aufl., München 1979 (1, 20). Grundlegend: Ruth Webb, »Ekphrasis ancient and modern: the invention of a genre«, in: Word and Image 15/1999, S. 7–18, hier S. 11. Zum evidentia-Begriff in den antiken Rhetoriken und seiner Relevanz für die mittelalterliche Literatur vgl. außerdem Gert Hübner, »evidentia. Erzählformen und ihre Funktionen«, in: Harald Haferland/Matthias Meyer (Hrsg.), Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven, Berlin, New York 2010, S. 119–147, hier insbes. 123.

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nommen keine (einsehbare) Wirklichkeit hinter den imagines im Gehirn gibt, werden die sprachlich erzeugten lebendigen Bilder (imagines agentes) schließlich nicht nur zur bloßen Als-ob-Wahrnehmung, sondern zur ›Ersatzgegenwart‹. Die inneren Bilder entwickeln das, was griechisch als energeia und lateinisch als evidentia bezeichnet wird: Eine starke Eindrücklichkeit, die zur völligen Vereinnahmung des Rezipienten führt, der in diesem Moment nicht mehr vom Erzählten abstrahieren kann. Eine derart intensivierte Textpassage, die die Evidenz des Erzählten erzeugt und eine solche Vergegenwärtigung/Präsenzerzeugung leistet, bezeichnen die spätmittelaltlichen Poetiken als Ekphrasis – womit nicht nur eine beschreibende Textpassage gemeint ist, wie es der moderne Ekphrasisbegriff nahelegt, sondern eben eine (deskriptive oder narrative) Textstelle von höchster Lebendigkeit, bei der die Rezipienten das Erzählte unmittelbar miterleben.21 Im Moment des gelingenden ekphrastischen Erzählens fällt damit für den Rezipienten die Fiktionalität weg und lässt sich erst hinterher reflektierend erkennen. Evidentia, Präsenz und Ekphrasis sind im mittelalterlichen Poetiksystem also grundsätzlich nicht voneinander zu trennen:22 Gesteigerte narrative Intensität und Verlebendigung (Ekphrasis) führen zur stärksten Affizierung des Rezipienten (evidentia, energeia), indem das Erzählte für ihn Präsenz gewinnt. Ekphrastisches Erzählen macht damit das Erzählte präsent. Das bedeutet aber auch, dass die Frage, ob und wie das Erzählte für den Rezipienten präsent wird, wesentlich von den rhetorisch-narrativen Fähigkeiten des Erzählers abhängt.

II. Der mythologische Stoff im Spiegel der mittelalterlichen Präsenz-Poetik Das bisher Gesagte gilt für die gesamte mittelalterliche Poetik. Man könnte die Evidenz- und Präsenzerzeugung geradezu als Schlüssel für den Zugang zu den mittelalterlichen Texten ansehen. Für das Verständnis von mytholo21

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Zum spätantik-mittelalterlichen Ekphrasis-Begriff vgl. grundlegend Webb, »Ekphrasis«; aber auch: Raphael Rosenberg, »Inwiefern Ekphrasis keine Bildbeschreibung ist. Zur Geschichte eines missbrauchten Begriffs«, in: Joachim Knape (Hrsg.), Bildrhetorik, Baden-Baden 2007, S. 271–282, insbes. S. 273. Die Begriffe Ekphrasis und energeia werden aufgrund dessen bereits in der Antike miteinander vermengt und lassen sich nicht klar trennen (vgl. Mario Klarer, Ekphrasis. Bildbeschreibung als Repräsentationstheorie bei Spenser, Sidney, Lyly und Shakespeare, Tübingen 2001, S. 2, Anm. 2; Graham Zanker, »Enargeia in the Ancient Criticism of Poetry«, in: Rheinisches Museum für Philologie N. F. 124/1981, S. 297–311, hier S. 308). Der Begriff »Präsenz« taucht in den antiken und mittelalterlichen Quellen kaum auf und wird durch den Begriff evidentia abgedeckt.

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gischen Stoffen, insbesondere der Trojaerzählungen, sind diese poetologischen Grundlagen aber besonders wichtig: Im richtigen Erzählen von Troja wird das Geschehen vor Troja gegenwärtig, sind die Trojaner und damit die Stammväter der zuhörenden bzw. lesenden Adligen unmittelbar anwesend – die historische Linearität wird in einem genealogischen Kontinuum gleichzeitig anwesender Spitzenahnen und Nachfahren aufgehoben. Wenn Herbort von Fritzlar, dessen Liet von Troye im Folgenden beispielhaft als zu untersuchender Text herangezogen wird,23 die Geschichte Trojas erzählt, so geht es ihm darum, dem historisch-mythopoetischen Stoff Präsenz zu verleihen und ihn neu zu verlebendigen (erniuwen). Dabei stellen sich ihm jedoch zwei grundlegende Probleme in den Weg: (1.) Gewöhnung an und Konventionalisierung von Sprach- und Stilmittel(n) führt zur Abstumpfung, so dass der Leser/Zuhörer weniger gefesselt wird und das Erzählte seinen Reiz und seine Lebendigkeit verliert. Es müssen daher ständig neue Methoden gefunden werden, wie die Lebendigkeit immer wieder erreicht werden kann, denn die Geschichte Trojas ist den mittelalterlichen Adligen hinlänglich bekannt. Wie also können diese Zuhörer noch gefesselt werden? Gerade die mythologisch-antiken Stoffe unterliegen, damit ist man bei der Kategorie des erniuwens als zentralem Schlagwort der mittelalterlichen Trojaromane,24 einem beständigen Erneuerungsbedürfnis, um ihre Bedeutung für die Rezipienten nicht zu verlieren. So erklärt sich, warum gerade für das Mittelalter wichtige Stoffe mehrfach aufgegriffen werden. Die Geschichten um Troja oder Alexander den Großen werden aufgrund ihrer historischen Relevanz für den mittelalterlichen Adel immer und immer wieder versprachlicht. Allein aus der hochhöfischen Zeit von 1150–1300 liegen uns drei große Troja- und eine ganze Reihe eigenständiger Alexanderromane in der deutschen Volkssprache vor (hinzu kommen die vielfältigen Bearbeitungen in den zahlreichen Chroniken) und es ist sicher kein Zufall, dass sich vor allem rhetorisch geschulte Autoren wie z. B. Herbort von Fritzlar, Konrad von Würzburg oder Rudolf von Ems dieser Stoffe annehmen, da diese quasi als Fachleute speziell dafür ausgebildet wurden, einen Stoff neu- bzw. umzuerzählen (und durch die Variation rhetorischer Mittel neu lebendig werden zu lassen).

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Die Zitate folgen der Ausgabe von Frommann: Herbort von Fritzlar, Liet von Troye. Georg Karl Frommann (Hrsg.), Quedlinburg, Leipzig 1837, ND Amsterdam 1966. Eine besonders zentrale Rolle spielt der Begriff erniuwen in Konrads Trojanerkrieg; vgl. dazu besonders Martin Pfennig, erniuwen. Zur Erzähltechnik im Trojaroman Konrads von Würzburg, Frankfurt a. M. 1995.

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(2.) Die Trojageschichte ist sehr lang – je länger aber eine Geschichte ist, desto schwieriger wird es, den Rezipienten in dem Maße zu fesseln, dass er ganz vom Erzählten gebannt ist. Mittelalterliche Großepiker sind daher gezwungen, einzelne Textabschnitte besonders zu intensivieren; dies sind die bereits erwähnten Ekphrasen, an denen sich die Hauptprobleme des Textes bündeln, da man sich hier der Rezipientenaufmerksamkeit sicher sein kann. Wie aber erneuert man einen Stoff, der wie der Trojastoff bereits für wohl jeden Adligen zum kulturellen Kernwissen gehört und bei dem sich das Problem der Konventionalisierung daher in potenziertem Maße stellt? Wie verleiht man ihm jene narrative Intensität, die notwendig ist, um seine Bedeutsamkeit zu sichern? Der gelarte schulere Herbort (Liet von Troye, V. 18451), stolz auf seine rhetorische Bildung und durchaus selbstbewusst,25 verortet sein eigenes Arbeiten schon in den ersten Versen des Prologs innerhalb der topischen Textgenese von abbreviatio et dilatatio materiae,26 dem Ausweiten/Längen und Verringern/Kürzen des im Sinne der imitatio bereits vorhandenen Stoffes,27 seiner topischen ex- und complicatio: Swer ¢iner kvn¢t mei¢ter i¢t Der hat gewalt an ¢iner li¢t Der kan ¢i bekeren Minren vnd meren Witen vnd lengen Kvrtzen vnd lengen Des i¢t der tichtere Wi¢e vnd gewere (Liet von Troye, V. 1–8) 25

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Vgl. Ricarda Bauschke, »Geschichtsmodellierung als literarisches Spiel. Zum Verhältnis von gelehrtem Diskurs und Geschichtswahrheit in Herborts ›Liet von Troye‹«, in: Christa Bertelsmeier-Kierst/Christopher Young (Hrsg.), Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität 1200–1300. Cambridger Symposium 2001, Tübingen 2003, S. 155–174, hier S. 164; Hans Fromm, »Herbort von Fritslar. Ein Plädoyer«, in: Beiträge zur deutschen Sprache und Literatur 115/1993, S. 244–278, hier S. 249. Zu dilatatio et abbreviatio materiae siehe vor allem Hennig Brinkmann, Zu Wesen und Form mittelalterlicher Dichtung, 2. Aufl., Darmstadt 1979, hier S. 47 und Franz Josef Worstbrock, »Dilatatio materiae. Zur Poetik des ›Erec‹ Hartmanns von Aue«, in: Frühmittelalterliche Studien 19/1985, S. 1–30, hier S. 11. Imitatio meint seit Horaz die in der inventio-Lehre verankerte »Nachfolge in einer Stoffvorgabe« – vgl. Elisabeth Schmid, »Ein trojanischer Krieg gegen die Langeweile«, in: Wolfgang Harms/Jan-Dirk Müller (Hrsg.), Mediävistische Komparatistik. Festschrift für Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag, Stuttgart, Leipzig 1997, S. 199–220, hier S. 219.

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(Wer ein Meister seiner Kunst ist, der beherrscht seine Profession; er kann seinen Stoff gut machen, verringern und mehren, ausweiten und engen, verkürzen und verlängern – in diesen Dingen ist der Dichter kundig und befähigt. – Hier und im Folgenden: eigene Übersetzung)

Herbort ist sich bewusst: Der Stoff allein verbürgt noch keine Bedeutung oder kann diese zumindest nicht entfalten;28 erst die kunstvolle Bearbeitung oder besser Neu-Bearbeitung im Rahmen von abbreviatio und dilatatio materiae (»Minren vnd meren«) sichert seine Qualität.29 Herborts Selbstverortung in diesem rhetorischen Horizont ebenso wie seine explizite Hinwendung zur brevitas, also dem Kürzen des Stoffes, hat als erster Franz Josef Worstbrock betont.30 Ungewöhnlich ist nur, dass Herbort der einzige der deutschen Dichter des Mittelalters ist, der sich nicht nur offenkundig zum Kürzen des Stoffes bekennt (»So lenge ich e mit will¯e niht« – Liet von Troye, V. 97), sondern diese Zusage auch radikal einhält.31 Alle anderen haben ihre altfranzösischen Vorlagen im Sinne der dilatatio amplifiziert.32 Insgesamt scheint mir 28

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Vgl. Ricarda Bauschke, »Strategien des Erzählens bei Herbort von Fritzlar. Verfahren interdiskursiver Sinnkonstitution im ›Liet von Troye‹«, in: Wolfgang Haubrichs u. a. (Hrsg.), Wolfram-Studien XVIII. Erzähltechnik und Erzählstrategien in der deutschen Literatur des Mittelalters. Saarbrücker Kolloquium 2002, Berlin 2004, S. 347–365, hier S. 352; vgl. Dies., »Geschichtsmodellierung«, S. 169. Zum »minren unde meren« bei Herbort vgl. Bauschke, »Geschichtsmodellierung«, S. 161; Dies., »Strategien«, S. 352; Fromm, »Herbort«, S. 249; Beate Kellner, »daz alte buoch von Troye […] daz ich ez welle erniuwen. Poetologie im Spannungsfeld von ›wiederholen‹ und ›erneuern‹ in den Trojaromanen Herborts von Fritzlar und Konrads von Würzburg«, in: Gerd Dicke/Burkhard Hasebrink/Manfred Eikelmann (Hrsg.), Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, Berlin, New York 2006, S. 231–262, hier S. 243. Franz Josef Worstbrock, »Zur Tradition des Troiastoffes und seiner Gestaltung bei Herbort von Fritzlar«, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 92/1963, S. 248–274, insbes. S. 254; das brevitas-Prinzip Herborts wird in zahlreichen Untersuchungen zum Liet von Troye erwähnt; als kleine Auswahl seien genannt: Ricarda Bauschke, »Räume der Liebe – Orte des Krieges. Zur Topographie von Innen und Außen in Herborts von Fritzlar ›Liet von Troye‹«, in: Burkhard Hasebrink/Hans-Jochen Schiewer/Almut Suerbaum/Annette Volfing (Hrsg.), Innenräume in der Literatur des deutschen Mittelalters. XIX. Anglo-German Colloquium Oxford 2005, Tübingen 2008, S. 1–22, hier S. 3f.; Wilhelm Greif, Die mittelalterlichen Bearbeitungen der Trojanersage. Ein neuer Beitrag zur Daresund Dictysfrage, Marburg 1886, S. 85; Schmid, »Ein trojanischer Krieg«, S. 199. »Herbort von Fritzlar ist, soweit ich sehe, der einzige mhd. Dichter seiner Epoche, der seine afrz. Roman-Vorlage kürzt« (Schmid, »Ein trojanischer Krieg«, S. 199); vgl. Bauschke, »Strategien«, S. 354. Hessler sieht im brevitas-Prinzip Herborts ein »dem Geschmack der Zeit völlig zuwiderlaufendes Konzept« und macht es für den Misserfolg des Liet von Troye verantwortlich (Sabine Hessler, »Herborts von Fritzlar Geschichte von Jason und Medea«, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 135/2006, S. 21–34, hier S. 21).

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dabei Herborts brevitas-Methode noch nicht hinreichend erfasst, zeigt sie sich doch nicht nur im Kürzen von descriptiones oder allzu umfangreicher Kampf- und Festschilderungen aus Benoîts Vorlage,33 sondern ganz allgemein in seinem Umgang mit Sprache und – dies scheint mir besonders wichtig – in seinem Umgang mit Zahlen.

III. Der gezählte Krieg Dass Zahlen bzw. Zahlenangaben im Liet von Troye eine wichtige Rolle spielen, ist hier und da bemerkt worden. Am häufigsten findet die so genannte »Übermannigfaltigkeitsreihe« Erwähnung, die zuerst von Diebel registriert wurde.34 Während der wichtigsten Schlachten vor Troja, in denen es zu der Auseinandersetzung zwischen Hektor und Achill kommt, beginnt Herbort, das entstandene leit zu zählen. Ich gebe nur zwei Beispiele: »E was drifalt ir leit / Nv wart e fierfalt gebreit« (Liet von Troye, V. 5394f.) oder »E was die not vierfalt / Funffaltic ¢ie nv wart« (Liet von Troye, V. 5482f.). Bei zehnfachem Leid angekommen, bricht Herbort die Zählung ab, es lässt sich nun nicht mehr erfassen und ist »ûz der mâze«:35 So vil leides da was Vnd ¢o ich v der mae vil Ob ich rechte zelen will So leitet mich leit vber leit An die manicfaltickeit (Liet von Troye, V. 5872–5876) (Da war so viel Leid und derartig fern jeden Maßes, dass mich – wollte ich das Leid genau zählen – Leid über Leid bis an die Mannigfaltigkeit geleiten würde.)

Damit wird die erste Schlacht um Troja abgeschlossen,36 eine Kampfpause entsteht. Danach aber, es folgen nun Hektors Aristie und Tod, beginnt paradoxerweise die Zählung wieder einzusetzen, indem der Erzähler anfängt, das 33

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Vgl. Bauschke, »Geschichtsmodellierung«, S. 158; Dies., »Strategien«, S. 355; Schmid, »Ein trojanischer Krieg«, S. 199; Worstbrock, »Zur Tradition des Troiastoffes«, S. 254. Claus Heinrich Diebel, »Ein eigentümliches Ordnungsprincip bei Herbort von Fritslar«, in: Beiträge zur deutschen Sprache und Literatur 45/1971, S. 467–472. Der Begriff »Übermannigfaltigkeitsreihe« stammt von Fromm: vgl. Fromm, »Herbort«, S. 257. Mâze meint die Zentraltugend des Maßhaltens, der Balance, die grundlegend für das Gleichgewicht des Hofes ist (vgl. Otfrid Ehrismann, Ehre und Mut, Âventiure und Minne. Höfische Wortgeschichten aus dem Mittelalter, München 1995, S. 130). Vgl. Diebel, »Ordnungsprincip«, S. 469.

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nicht mehr zählbare übermannigfaltige Leid zu verdoppeln, zu verdreifachen etc.37 Als Beispiel mag dienen: Fierfalt was ir leit e Vber die manicfaldekeit An die funfualdekeit Ir not itzund kom¯e was (Liet von Troye, V. 7602–7605) (Vordem war ihr Leid viermal so groß wie die Mannigfaltigkeit des Leides – nun war es an die ›Fünffaltigkeit‹ gekommen.)

Erst mit Hektors Tod beim zehnfach-übermannigfaltigen Leid angekommen, wird endgültig das Zählen eingestellt (Liet von Troye, V. 10444f.).38 Diese Zählung ist längst als ein Aufmerksamkeit heischendes »Ordnungsprincip« erkannt worden.39 In ihrem ekphrastischen Charakter hebt sie die Auseinandersetzung von Hektor und Achill hervor, die in verschiedenerlei Hinsicht den Höhepunkt von Herborts Liet darstellt.40 Diese Zählweise ist »eine Strukturierungstechnik, die einzigartig ist und nur seinem [Herborts] Text angehört«.41 Die Besonderheit der Zählung sollte aber nicht den Blick dafür verstellen, dass Herbort auch sonst beständig Zahlen und Zählungen als 37 38 39

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Vgl. ebd., sowie Fromm, »Herbort«, S. 257f. Vgl. Diebel, »Ordnungsprincip«, S. 470. Ebd., S. 471; vgl. auch Reinhard Hahn, »Zur Kriegsdarstellung in Herborts von Fritzlar ›Liet von Troye‹«, in: Kurt Gärtner/Ingrid Kasten/Frank Shaw (Hrsg.), Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters. Bristoler Colloquium 1993, Tübingen 1996, S. 102–112, hier S. 106 und Michael Mecklenburg, »So horet wie vlixes ¢prach. Die Erzählung des Ulysses in Herborts von Fritzlar ›Liet von Troye‹«, in: Harald Haferland/Michael Mecklenburg (Hrsg.), Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit, München 1996, S. 41–57, hier S. 45. Deutlich wird die Sonderstellung der Hektor-Achill-Episode erstens auch an der deutlichen Aufwertung Achills gegenüber Benoît (vgl. Bauschke, »Geschichtsmodellierung«, S. 170; Worstbrock, »Zur Tradition des Troiastoffes«, S. 267) und zweitens daran, dass sie der einzige Abschnitt ist, wo Herbort seine Vorlage nicht kürzt, sondern teilweise sogar erweitert (vgl. Bauschke, »Geschichtsmodellierung«, S. 170). Allgemein zur Hektor-Achill-Episode im Liet von Troye vgl. Gerhard P. Knapp, Hector und Achill. Die Rezeption des Trojastoffes im deutschen Mittelalter. Personenbild und struktureller Wandel, Bern, Frankfurt a. M. 1974, S. 23–52 und Andreas Kraß, »Achill und Patroclus. Freundschaft und Tod in den Trojaromanen Benoîts de Sainte-Maure, Herborts von Fritzlar und Konrads von Würzburg«, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 114/1999, S. 66–98. Hartwig Mayer, »Erzählerfigur und Erzählerkommentar in Herborts von Fritzlar ›Liet von Troye‹«, in: Heinrich Beck/Anna Grotans/Anton Schwob (Hrsg.), De consolatione philologiae. Studies in Honor of Evelyn S. Firchow, Göppingen 2000, S. 245–254, hier S. 248.

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poetische Mittel einsetzt. Kaum ein anderer mittelalterlicher Autor führt derart genau die Zahlen von Heeresverbänden und Schiffen an (z. B. Liet von Troye, V. 3299–3420), »auch nennt Herbort gern die genaue Zahl der getöteten Gegner«,42 und kaum ein anderer Autor gibt derart pedantisch die exakten Angaben für die Dauer von Kämpfen oder Kampfpausen in Monaten, Wochen oder sogar Stunden. Alles zählt Herbort, alles bildet bei Herbort eine zählbare Ordnung und diese Ordnung steht in eklatantem Gegensatz zu den drastisch-brutalen Schilderungen der Kampfszenen.43 Während mit Freude an Detailreichtum, Variation und Drastik immer neue Tötungsarten angeführt werden,44 während sich seine Massenkämpfe im Gegensatz zu den so viel höfischer geschilderten Waffengängen seiner Zeitgenossen in blutigem Chaos auflösen, steht diesem Chaos die allgegenwärtige Zähl- und Messbarkeit entgegen. Gerade dort, wo das Kampfchaos zu seinem Maximum gesteigert wird, findet Herbort seine Klimax in der Zählung, ja das Chaos selbst ist zählbare Ordnung, wie das Beispiel einer Massenschlacht deutlich macht: Einer quam gegen zwein Vñ zwene quamen drin engein Die gegen vieren rit¯e Viere gegen funf¯e strit¯e Funfe ¢eh¢e be¢tund¯e Seh¢e ¢ib¯e vbe wunden Sibene ranten achte an Achte be¢tunde nvn man Nvne tat¯e zehen¯e gewalt Als ich bi her han gezalt Stige ich vfwert alfo Min zal wurde alfo ho Da v¯o eines mannes not Tufent mv¢t¯e blib¯e tot (Liet von Troye, V. 6529–6542) 42 43

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Hahn, »Kriegsdarstellung«, S. 107. Vgl. Diebel, »Ordnungsprincip«, S. 471; Maria E. Dorninger, »Der Trojanische Krieg und seine Darstellung im Mittelalter. Am Beispiel Herborts von Fritzlar. Die Faszination des Untergangs einer Kultur«, in: Peter Csobádi u. a. (Hrsg.), Europäische Mythen von Liebe, Leidenschaft, Untergang und Tod im (Musik-)Theater: Der Trojanische Krieg. Vorträge und Gespräche des Salzburger Symposions 2000, Anif, Salzburg 2002, S. 135–161, hier S. 155; Hermann Dunger, Die Sage vom trojanischen Kriege in den Bearbeitungen des Mittelalters und ihren antiken Quellen, Leipzig 1869, S. 42. Siehe vor allem Hahn, »Kriegsdarstellung«; vgl. Fromm, »Herbort«, S. 268f. und Volker Mertens, »Herborts von Fritzlar Liet von Troie – ein Anti-Heldenlied?«, in: Danielle Buschinger/Wolfgang Spiewok (Hrsg.), Heldensage – Heldenlied – Heldenepos. Ergebnisse der II. Jahrestagung der Reineke-Gesellschaft, Gotha, 16.–20. Mai 1991, Greifswald 1992, S. 151–171, hier S. 160.

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(Einer kam gegen zwei und zwei kamen dreien entgegen, die gegen viere ritten. Vier kämpften gegen fünf, fünf griffen sechs Mann an, sechs Männer besiegten sieben, sieben attackierten acht, acht Männer griffen neun an, neun fügten zehnen Leid zu. So wie ich bis hierher gezählt habe – würde ich das weiter fortsetzen, dann würde meine Zahl so hoch werden, dass zuletzt durch den Kampf eines Mannes tausend stürben.)

Auch wenn die Zählung an eine Grenze geführt wird und der Autor versichert, so könne er nicht weitermachen, er müsste sonst bis 1000 weiterzählen, ist es doch niemals eine wirkliche Grenze der Zählbarkeit, die man bei Herbort findet, sondern eine Grenze des Sprechens und Erzählens – denn mathematisch besteht in der Fortsetzung der Reihe bis 1000 kein Problem, die Erzählung würde damit jedoch völlig gesprengt und zerstört. »Inkommensurabel«, wie Reinhard Hahn meint,45 ist der Trojanische Krieg bei Herbort aber gerade nicht. Die Zahl bleibt unangefochten, Herbort zählt weiter. Die Kämpfe werden härter, die Zahlen werden höher: »Hector gewan ein¯e bo¢e¯ tac / Bie zwein bi drin / Rant¯e tu¢ent vf in« (Liet von Troye, V. 8802–8804; »Es wurde ein schlimmer Tag für Hector: In Zweier- und Dreiergruppen griffen ihn tausend Männer an.«). Überhaupt wird der Satz »Bie zwein bi drin bi vier¯e […]« (»Zu zweit, zu dritt, zu viert […]«) zur stehenden Kampfformel. Es kann nicht verwundern, dass sich prinzipiell jede Heldenaristie in Zahlenwerten ausdrücken lässt, wenn z. B. eine Lanze durch drei Gegner gestochen wird (»Mit eime ¢tiche durch dri« – Liet von Troye, V. 8845; »Mit einem Stich durch drei [Männer]«) oder mit einem einzigen Schlag zwanzig Ritter niedergemäht werden (»Zwenzic mit eime ¢lage ¢neit« – Liet von Troye, V. 8852; »[Er] tötete zwanzig [Männer] mit einem Hieb«) etc. Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. Immer bleibt das Geschehen reduzierbar auf die Zahl, in ihr bündelt sich alles. Zahlen und »Zahlenreihen dienen ihm [Herbort] […] als Mittel zur Handlungsabstraktion, mit ihnen wird das Geschehen auf höherer Ebene gebündelt«.46 Diese Bündelung ist ganz topisch gedacht:47 Die

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Hahn, »Kriegsdarstellung«, S. 109. Fromm, »Herbort«, S. 259. Vgl. Bornscheuer, Topik, S. 62 und S. 105. In der mittelalterlichen Poetik wird sowohl eine argumentative Kombinationstopik wirksam, bei der aus einem Erzählschema oder »Bild« Geschichte entfaltet wird, als auch eine mnemotechnische Topik, die Wesentliches bildhaft zentriert und memorierbar macht. Man könnte einwenden, dass hier verschiedene Topik-Begriffe miteinander vermischt werden. Aber eine klare Trennung von aristotelischer, ciceronianischer und mnemotechnischer Topoi wird im Mittelalter nicht durchgehalten und sowohl Aristoteles (Aristoteles, Organon. Bd. 1: Topik. Topik, neuntes Buch oder Über die sophistischen Widerlegungsschlüsse. Griechisch-deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Hans

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mittelalterlichen Texte sind ja auf Sinnzentren hin angelegt, in denen sich das Wesentliche der Texte spiegelt – auf die erwähnten Ekphrasen nämlich. Herbort benötigt keine ausführlichen descriptiones oder breiten Zeremonieschilderungen wie Benoît,48 weil er einem anderen, aus seinem brevitas-Ideal erwachsenen Ekphrasiskonzept verpflichtet ist:49 der Zahl als kleinster Sinneinheit, als absoluter Bündelung des Geschehens. Wo Herbort von den Kämpfen berichtet, neigt er zu immer kürzeren Sätzen und asyndetischen Reihungen:50 Praktisch beherzigt Herbort das propagierte Ideal der brevitas durch allerhand rhetorische Prozeduren, wie sie die Handbücher der Rhetorik lehren: geraffte Rede und damit der Eindruck eines beschleunigten Tempos werden erzielt durch die Einsparung des Verbs, durch asyndetische Reihungen von Substantiven, Adjektiven, Partizipien, Nebensätzen.51

Auch dies ist eben brevitas, wie schon Ricarda Bauschke und Elisabeth Schmid betonten,52 weil das ausführliche Erzählen und die narrativ breite Darstellungsweise angesichts der Dynamik des Kampfgeschehens keinen Platz bei Herbort haben. Nicht nur die Erzählung, auch die Sprache selbst wird verkürzt, abbreviiert, und die höchste Verkürzung liegt schließlich in der immer wieder vollzogenen Auflösung der Sprache zugunsten der Zahlenangaben. Auf sie lässt sich der ganze Trojanische Krieg zentrieren, aus ihnen lässt er sich topisch entfalten.

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Günter Zekl, Hamburg 1997 [163 b28]; vgl. Bornscheuer, Topik, S. 45; Uwe Hebekus, »Topik/Inventio«, in: Miltos Pechlivanos/Stefan Rieger/Wolfgang Struck/ Michael Weitz [Hrsg.], Einführung in die Literaturwissenschaft, Stuttgart 1995, S. 82–96, insbes. S. 85) als auch Cicero (Bornscheuer, Topik, S. 61) erwähnen die mnemotechnischen Topoi und ziehen selbst keine klare Grenze zu ihrer Argumentationstopik. Vgl. Fromm, »Herbort«, S. 251. Dass Ekphrasen nicht nur deskriptiv-beschreibend erzeugt wurden, sondern z. B. auch durch die Dynamik des Textes steigernde narrative Elemente (wie z. B. die Wiederholung), diskutiere ich ausführlich in meiner Dissertation im Einleitungskapitel zum Wolfdietrich D (Reich, Name und maere), sowie in dem Aufsatz: Björn Reich, »Helden und ihre Bilder. Zum narrativen Bildgebungsverfahren in der Heldenepik am Beispiel von ›Sigenot‹ und ›Eckenlied‹«, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 141/2012, S. 61–90. Vgl. ausführlich Fromm, »Herbort«, S. 254f. und Schmid, »Ein trojanischer Krieg«, S. 202f. Schmid, »Ein trojanischer Krieg«, S. 202. Bauschke, »Strategien«, S. 360; Schmid, »Ein trojanischer Krieg«, S. 202.

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IV. Qualitäten und Quantitäten Kampfgeschehen und Leid sind nicht das einzige, was Herbort zählt. Der Erzähler entwickelt eine regelrechte Zahlenmanie, indem er prinzipiell alles der Zählbarkeit unterwirft. Selbst Minneintensität (also ein emotionales Verhältnis) lässt sich in Zahlenwerten ausdrücken, wenn Herbort die nachlassenden Gefühle Helenas für Menelaos in einer vielzitierten Textpassage deutlich macht:53 Die frauwe irs leides vurga V¯o zite ie ba vnd ba An dem andern tage Was geminret ir klage Rechte dar nach in ¢ib¯e tag¯e Horte ¢ie n¯ı man niht klag¯e Bi eime halb¯e iare Minnete ¢ie in vffenbare Do da iar vmbe quam Do was ¢ie menelao gram (Liet von Troye, V. 2717–2726) (Die Dame vergaß ihren Kummer mit der Zeit immer mehr und mehr. Am nächsten Tage schon war ihre Klage verringert, genau sieben Tage später hörte sie überhaupt niemand mehr klagen, nach einem halben Jahr zeigte sie ihm [Paris] offen ihre Zuneigung und als das Jahr um war, stand sie Menelaos feindselig gegenüber.)

Dies mag Herbort’sche Ironie sein, aber hier geht es um mehr als nur um eine humorvolle Pointe. Indem die Beständigkeit bzw. Unbeständigkeit der Treue konsequent an (relativ exakten) Zeitangaben festgemacht wird, wird ihr eine in Zahlen ausdrückbare Valenz verliehen. Ähnlich werden Zahlen auch in folgendem Beispiel wirksam. In seiner einzigen größeren descriptio, der Beschreibung der Heilkemenate, in der Hektor seine Wunden auskuriert, zeigt Herbort auf verschiedene Art und Weise an, dass es sich bei dem vermeintlichen paradis (Liet von Troye, V. 9227) nur vordergründig um ein solches handelt; am auffälligsten tut er es dadurch, dass der Edelsteinkatalog, der den Paradiesstatus der Kammer bekräftigen soll, ›unvollständig‹ ist. Durch die Nennung der Steine in Paaren und die offenkundige Brechung des Systems im ersten Vers (nur hier werden drei Steine zusammen genannt), wird deutlich, dass nur elf Steine vorhanden sind: 53

Zu dieser Stelle vgl. Bauschke, »Strategien«, S. 356; Hermann Menhardt, »Herbortstudien (Fortsetzung)«, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 66/1929, S. 173–200, hier S. 193f.; Margot Siebel-Achenbach, »Die ›französische‹ und die ›deutsche‹ Helena im 12. Jahrhundert«, in: Germanisch-romanische Monatsschrift 51/2001, S. 267–283, hier S. 277.

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Swer drin quam den duchte Da da were ein paradis Ouch en was niem¯a ¢o wis Der die ¢teine erkente E enwere ob man ¢ie n¯ete Ia¢pis rubinus ¢aphirus. Amite¢tites cri¢olitus Smaradus vñ topaius Berillus calzedonius Sardonix carbunculus (Liet von Troye, V. 9226–9235) (Wer hineinkam, der glaubte, diese Kammer sei ein Paradies. Auch gab es niemanden, der weise genug wäre, die Edelsteine dort zu erkennen, es sei denn, man würde sie ihm nennen: Jaspis, Rubin, Saphir, Amethyst, Crysolith, Smaragd und Topas, Beryll, Chalzedon, Sardonyx und Karfunkel.)

Die Idealzahl der 12 Edelsteine, wie sie im Anklang an die Edelsteine des himmlischen Jerusalem in nahezu allen konventionalisierten Edelsteinkatalogen in der mittelalterlichen Literatur vorliegt, wird nicht erfüllt, die Korruption des vermeintlichen Paradieses lässt sich an der korrumpierten Anzahl der Edelsteine ablesen.54 Das Helena-Beispiel und die Heilkemenate zeigen gleichermaßen, dass Herbort, der rhetorischen Tradition gemäß, daran interessiert ist, Methoden dafür zu entwickeln, wie sich Qualitäten narrativ in Quantitäten überführen lassen.

V.

Herborts Zahlen zwischen Präsenzerzeugung und Präsenzbrechung

Die Besonderheiten von Herborts Erzählweise können mit seinem Bildungsideal erfasst und anhand seines Umgangs mit Zahlen verdeutlicht werden. Zahlen und Zählungen nutzt Herbort gleichermaßen zur Evidentialisierung sowie Präsenzerzeugung – im Sinne der mittelalterlichen Ekphrasis-Theorie – und zur Präsenzbrechung. Dabei scheint mir wichtig, Herborts Liet nicht vorschnell mit moralischen Wertungen zu versehen. Die blutige Drastik der Kampfszenen mit ihren zahlreichen so variationsfreudig vorgeführten Verstümmelungen dient, so lehrt es etwa die Rhetorica ad Herennium, einer

54

Außerdem wird der Paradies-Status der Kemenate dadurch in Frage gestellt, dass die Kunst der nigromancia durch die vierte Wundersäule der Kammer »entstanden« ist (Liet von Troye, V. 9372), eine Schlange im Paradies zu finden ist (Liet von Troye, V. 9255) und aus einer der Wundersäulen der Teufel spricht (Liet von Troye, V. 9368; vgl. Mertens, »Herborts von Fritzlar Liet«, S. 160).

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besonders starken Anschaulichkeit und Erinnerbarkeit.55 Die Frage, ob Herborts Liet von Troye das fanatisch-pazifistische Machwerk eines der Ritterwelt fern gebliebenen Klerikers ist56 oder eine radikale Abwendung vom Höfischen Roman hin zur Heldenepik darstellt,57 scheint vor diesem rhetorischen Hintergrund obsolet. Die fast unerträglich plastischen Kampfschilderungen lassen sich viel leichter aus der rhetorischen Tradition erklären, die genau eine solche Eindringlichkeit für die Erzeugung bzw. Steigerung der Bildhaftigkeit empfiehlt. Die teilweise fast grotesken Todesursachen dienen daher auch wohl kaum dazu, »Distanz« zum Erzählten zu schaffen,58 sondern vielmehr als gut memorierbare Bildträger für das Geschehen des Trojanischen Krieges. Sie dienen in ihrer Dynamik zur Ekphrasiserzeugung und Verlebendigung, zum erniuwen der Geschichte. Die Zahlen und Zählungen, die diese 55

56

57 58

Vgl. »Imagines igitur nos in eo genere constituere oportebit, quod genus in memoria diutissime potest haberi. […] si non mutas nec vagas, sed aliquid agentes imagines ponemus; si egregiam pulcritudinem aut unicam turpitudinem eis adtribuemus; […] aut si quam rem deformabimus, ut si cruentam aut caeno oblitam aut rubrica delibutam inducamus, quo magis insignita sit forma; aut si ridiculas res aliquas imaginibus adtribuemus; nam ea res quoque faciet, ut facilius meminisse valeamus.« (Ad Herennium 3, 22, 37; »Bilder müssen wir also in der Art festlegen, die man am längsten in Erinnerung behalten kann. […] wenn wir nicht stumme und unbestimmte Bilder, sondern solche, die etwas in Bewegung bringen, hinstellen; wenn wir ihnen herausragende Schönheit oder einzigartige Schändlichkeit zuweisen; […] oder wenn wir sie durch etwas entstellen, z. B. eine blutige oder mit Schmutz beschmierte oder mit roter Farbe bestrichene Gestalt einführen, damit diese um so hervorstechender sei, oder irgendwelche lächerliche Züge den Bildern verleihen; denn auch dies wird bewirken, daß wir sie uns leichter einprägen können.« – Rhetorica ad Herennium. Lateinisch-deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Theodor Nüßlein, Düsseldorf, Zürich 1994, S. 176f.; eigene Hervorhebung). Zu dieser Art der Bildkonzeption vgl. auch Tanja-Isabel Habicht/Björn Reich, »Die Farbe der Erinnerung«, in: Ingrid Bennewitz/Andrea Schindler (Hrsg.), Farbe im Mittelalter. Materialität – Medialität – Semantik, Berlin 2011, Bd. 1, S. 537–550. Vgl. Bauschke, »Geschichtsmodellierung«, S. 171f.; Fromm, »Herbort«, S. 264f.; Heinz Mettke, »Zur Bedeutung des Thüringer Hofes in Eisenach für die deutsche Literatur um 1200«, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock 27/1978, S. 89–97, hier S. 92; Günter Schade, Christentum und Antike in den deutschen TrojaEpen des Mittelalters (Herbort von Fritzlar, Konrad von Würzburg, Der Göttweiger Trojanerkrieg), Diss. masch. Berlin 1955, S. 28f. So etwa Mertens, »Herborts von Fritzlar Liet«. So etwa Bauschke, »Strategien«, S. 360; vgl. Hans-Joachim Behr, »Troia in Thüringen. Herbort von Fritzlar und sein Liet von Troye«, in: Ders. u. a. (Hrsg.), Troia – Traum und Wirklichkeit. Ein Mythos in Geschichte und Rezeption. Tagungsband zum Symposion im Braunschweigischen Landesmuseum am 8. und 9. Juni 2001 im Rahmen der Ausstellung ›Troia – Traum und Wirklichkeit‹, Braunschweig 2003, S. 150–163, hier S. 160; Dorninger, »Der Trojanische Krieg«, S. 153, Anm. 53.

Der Mythos und die Zahl

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Drastik erhöhen, wie etwa die Zahlenangaben der aufeinandertreffenden Krieger (z. B. »Einer quam gegen zwein / Vñ zwene quamen drin engein« – Liet von Troye, V. 6529f.) oder der bei einer Aristie getöteten Gegner (z. B. »Zwenzic mit eime ¢lage ¢neit« – Liet von Troye, V. 8852), sind in ihrer heldenepischen Hyperbolik Mittel, die Anschaulichkeit noch einmal zu verstärken. Gleichzeitig bilden diese Zahlenangaben an den Kampfhöhepunkten den letzten Punkt, den konsequenten Höhepunkt der brevitas, die größtmögliche Bündelung der Ereignisse auf ein erzähltopisches Zentrum hin. Herbort setzt meisterlich die Vorgaben der gelehrten Tradition um; sein Liet wird geradezu zum exemplarischen Text für rhetorisch ›richtiges‹ Erzählen. Aber, und dies ist entscheidend für Herborts Text, nicht alle Zahlenangaben dienen ihm der Präsenzerzeugung. Immer wieder wird die narrative Präsenz auch gebrochen und das Erzählen an seine Grenzen getrieben. Die Sprache zerfällt regelrecht in den Kampfsequenzen. Das Leid wird unsagbar und auch wenn Herbort zeigt, dass sich selbst »übermannigfaltiges Leid« weiterzählen lässt, so wird damit doch bewusst »das Maß des Vorstellbaren […] erheblich überschritten«;59 denn ›vierfach übermannigfaltiges Leid‹ lässt sich allenfalls abstrakt erfassen, es stellt in dem Vorstellungshorizont, den es eröffnet, aber einen radikalen Bruch zu der konkreten Eindrücklichkeit der Kämpfe dar. Die ›Übermannigfaltigkeitsreihe‹ schafft damit tatsächlich Distanz, aber nicht nur gegenüber dem Erzählten, sondern vielmehr gegenüber dem Erzählen selbst! Die Sprache und die durch Sprache erzeugten imagines zerfallen bei Herbort, und der Präsenzeffekt wird wieder gebrochen. Diese Präsenzbrechungen gehören wesentlich zu Herborts Vorstellungen von ›richtigem‹ Erzählen, denn wo der Präsenzeffekt wirksam ist, ist für den Leser ein Nachdenken über das Erzählte nicht möglich. Erst im eklatanten Bruch mit den präsenzerzeugenden Stilmitteln kann Herbort damit rechnen, auch die Reflexionsleistung seiner Leser ebenso stark anzuregen. Der Text steht dem Rezipienten dann gerade nicht mehr lebendig vor Augen, sondern wird zum Objekt der Reflexion. Dabei wird Herborts Erzählweise zur ständigen Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition seiner Zeit. Herborts Feindbilder sind nicht etwa die kriegerischen Ritter am Hofe Hermanns I. von Thüringen, die er als fanatischer Pazifist angreifen will, sondern, das wird im Prolog klar ausgeführt, andere Autoren.60 Während Herbort in kunstvoller Verschlingung von Prä59 60

Hahn, »Kriegsdarstellung«, S. 107. Vgl. Bauschke, »Geschichtsmodellierung«, S. 163; Kellner, »daz alte buoch«, S. 243f.; Mertens, »Herborts von Fritzlar Liet«, S. 159; Hans Schreiber, Studien zum Prolog in mittelalterlicher Dichtung, Würzburg-Aumühle 1935, S. 18.

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senzeffekten, die das Miterleben des Trojanischen Krieges forcieren, und Präsenzbrechungen, die die Reflexion über das Miterlebte ermöglichen, seinen Stoff gestaltet, sind die ungelehrten Autoren seiner Meinung nach wie Blinde (Liet von Troye, V. 18), weil sie in Unkenntnis der lateinischen Rhetoriken die Methoden nicht kennen, wie man eine Ekphrasis erzeugt, aber auch in einem pädagogischen Sinne richtig damit umgeht. Die Näherung an den mythologischen Stoff geschieht bei Herbort mit geradezu ausgestellter Rationalität; der Trojamythos wird an keiner Stelle als unverständlich bestaunt: Erst in der rhetorisch-technischen Bearbeitung erhält er seine präsentische Funktion, zugleich aber auch seine Valenz, die sich erst in der Reflexion des Erzählten ergibt.61 Darum ist Herborts Poetik eben keine rein affektive ›Imaginationspoetik‹ – er baut gezielt Reflexionsmomente in seinen Text ein und hebt die durchaus vorhandenen Präsenzeffekte in einer auf die ratio (als reflektierende Instanz) zielenden Erzählweise auf. Wenn Herbort das Erzählen zuletzt zugunsten des Zählens aufgibt, so ist auch dies ein klarer Verweis auf die gelehrte Bildung, denn innerhalb der septem artes liberales, auf die Herbort mehrfach explizit hinweist (z. B. Liet von Troye, V. 7660–7676),62 nehmen die mathematischen Künste des Quadriviums einen höheren Rang ein als die sprachlichen des Triviums. Die Kenntnisse der Mathematik erst, und sie mangeln den ungelehrten Autoren, ermöglichen einen weiteren Schritt zur Erkenntnis göttlicher Ordnung. Den Ungelehrten bleibt sie versagt, »[d]er Gelehrte hingegen verfüg[t] über die formale Fähigkeit der Gestaltung und kenn[t] die Wahrheit«.63 Erzählen allein kann bei Herbort keine Ordnung begründen und lässt auch keine Ordnung ersichtlich werden; diese Ordnung ist aber durchaus da, und wo Vorstellungswelt und Sprache längst versagen, hat das größtmögliche Chaos noch »Maß, Zahl und Gewicht«.64 61

62 63 64

Wenn also der Mythos, wie bei Friedrich und Quast, als das »Andere der Vernunft« (Friedrich/Quast, »Mediävistische Mythosforschung«, S. X) definiert wird und hier seine Definition stets in einer dualistischen Abgrenzung vom Christlichen, Höfischen, Literarischen oder Geschichtlichen findet (vgl. ebd., S. XXXIV), so läuft diese Definition zumindest Gefahr, das Selbstverständnis der mittelalterlichen Erzähler auszublenden. Der ›Mythos Troja‹ ist zumindest für Herbort nicht etwas Anderes, das sich jeglicher Rationalisierung entzieht. Immerhin scheint ihm aber vielleicht gerade wegen des mythischen und daher deutungsbedürftigen Stoffes eine gelarte Erzählweise besonders wichtig. Vgl. Schade, Christentum, S. 33f. Mertens, »Herborts von Fritzlar Liet«, S. 159. Die Ordnung des göttlichen Kosmos zeigt sich jenseits der verworrenen Handlungen einzelner Trojaner oder Griechen; damit vertritt der gelehrte Kleriker ein anders akzentuiertes Kosmosmodell als etwa Wolfram von Eschenbach, den er als ungelehrten Laien hier vermutlich als eines seiner Feindbilder am Hofe Hermanns

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VI. Die Ordnung und die mâze Wozu aber bricht Herbort die Präsenz des Erzählens? Was soll in seinem Liet von Troye reflektiert werden? Durch den impliziten Verweis auf die göttliche Ordnung und den auffälligen Stellenwert der Zahlen bei Herbort wird ein Punkt besonders deutlich hervorgehoben: die gestörte mâze. Die mâze (das Maßhalten) als zentrale höfische Tugend rückt Herbort ebenso wie »die Maßlosigkeit des Geschehens vor Troia immer wieder in das Bewußtsein seiner Zuhörer«:65 Schon die erste Zerstörung Trojas resultiert aus der Maßlosigkeit von Herkules’ Zorn; der Abschnitt vom Aufbruch der Argonauten nach dem Affront durch Laomedon wird eingeleitet mit den Worten: »Do Ercules die rede vernam / Der zorn im an ¢in herze kam / Al¢o v er ma ¯e gro […]« (Liet von Troye, V. 413–415; eigene Hervorhebung). Immer wieder ist es die mangelnde mâze griechischer oder trojanischer Handlungen, die von Herbort als Verstoß gegen die göttliche Ordnung angeprangert wird,66 wobei er deutlich macht, dass Maßlosigkeiten immer wieder ›korrigiert‹ werden, notfalls (und meistens) durch den Tod, in dem Gleichheit und wahre mâze von Gott wiederhergestellt werden: Die da vurturb¯e in dem mer Die blib¯e niew¯e vber¢cher Ich en¢age nit v¯o irre zierheit Sie heitt¯e de hein vnder¢cheit Weder an der mae Noch an dem gelae (Liet von Troye, V. 2915–2920) (Diejenigen, die dort im Meer ertranken, die wurden zu nichts als zu einer großen Menge. Von ihrer Herrlichkeit erzähle ich nichts, denn es gab keinen Unterschied mehr zwischen ihnen – weder an ihrer mâze noch an ihrem Benehmen.)

65

66

vor Augen hat (vgl. dazu ausführlich Bauschke, »Geschichtsmodellierung«, S. 163). Ob zu Herborts »Feindbildern« auch sein Vorlagendichter Benoît de SainteMaure gehört, dürfte nicht leicht zu beantworten sein, da Herbort ja keine konkreten Namen nennt: Immerhin könnte Herborts oft bemerkter »Oppositionsgeist« gegen Benoît darauf hindeuten (vgl. Hermann Menhardt, »Herbortstudien«, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 65/1928, S. 225–254, hier S. 227; ders., »Herbortstudien (Fortsetzung)«, S. 174 und S. 182; Fromm, »Herbort«, S. 252). Bauschke, »Geschichtsmodellierung«, S. 172. Der Begriff mâze ist nicht ohne weiteres übersetzbar und nimmt eine Schlüsselstellung unter den höfischen Tugenden ein; vgl. Otfrid Ehrismann, Ehre und Mut, Âventiure und Minne. Höfische Wortgeschichten aus dem Mittelalter, München 1995, hier S. 130. Vgl. auch Schade, Christentum, S. 35.

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Björn Reich

Der Untergang Trojas resultiert aus der Unfähigkeit der Trojaner, die richtige mâze zu wahren. Der adlige Rezipient von Herborts Liet wird durch die Besonderheit des Erzählens, das seine Evidenz stiftet, in die vergangene Geschichte zurückversetzt (Präsenzerzeugung) und zugleich zur Reflexion gezwungen (Präsenzbrechung), dass sich sein eigener Hof an der richtigen mâze auszurichten hat, um nicht ähnlich wie der trojanische dem Untergang anheimzufallen. Noch vor der ersten Schlacht wird daher Menelaos ermahnt: Edel kvnic gehabet vch wol Dehein bederbe man ¢ol Sin leit im zv leit lae¯ Swer ¢ich k¯an gemaen […] Der i¢t ein follen kum¯e man Hie ¢ult ir nem¯e bilde bi (Liet von Troye, V. 2809–2812 u. 2816f.) (Edler König, benehmt euch angemessen, kein angesehener Mann soll sich seinen Kummer zu sehr zu Herzen nehmen. Wer sich mäßigen kann, der ist ein vollkommener Mensch. Daran sollt ihr Euch ein Beispiel nehmen.)

An der mâze soll der Adlige seine inneren bilde, seine Vorstellungen ausrichten, ein Vorbild nehmen, und zu diesem Zweck führt ihm Herbort die Geschichte Trojas als Exempel vor Augen. Auf eine translatio, die von den mâzegestörten Trojanern ausgeht, hat Herbort wenig Wert gelegt67 – er erwähnt sie nur kurz und hat offenkundig auch wenig Interesse, seinen Text an den Eneasroman Heinrichs von Veldeke anzuschließen.68 Stattdessen erzählt er auffällig ausführlich von den meist misslungenen Heimkehrversuchen der Griechen und zeigt, dass auch deren Maßlosigkeit letztendlich in den Untergang führt. Trotz der mittelaltertypischen Neueinkleidung des trojanischen 67

68

Herbort wendet sich aber nicht prinzipiell gegen die höfischen Werte, sondern stellt sie nur bei den Trojanern in Frage: »Herbort evoziert den höfischen Normhorizont, akzeptiert Qualitäten wie stæte und triuwe als Leittugenden, weist sie aber zugleich als auf seine antiken Helden nicht anwendbar aus« (Bauschke, »Strategien«, S. 359). Zwar verweist Herbort auf den Eneasroman Heinrichs (Liet von Troye, V. 17381– 17385) – was wohl am Hofe Hermanns von Thüringen unumgänglich war – aber es scheint, dass höchstens der Auftraggeber eine »Vorgeschichte« zu diesem Werk gewünscht hatte. »Auch Herbort von Fritzlar kommt in seinem Liet von Troye auf Veldeke zu sprechen, muß es vielleicht, da er für den gleichen Auftraggeber arbeitet wie der Verfasser der Eneit […] Umso mehr überrascht […] der geradezu geschäftsmäßige und mit keinerlei Panegyrik unterlegte Ton, in dem Herbort über Heinrich von Veldeke spricht« (Behr, »Troia in Thüringen«, S. 152; vgl. Bauschke, »Geschichtsmodellierung«, S. 160).

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Geschehens in das zeitgenössische Gewand (Mediävalisierung), was möglichst gut vorstellbare, intensive Bildhaftigkeit erzeugt, betont Herbort in diesem Zusammenhang auch häufig die Andersartigkeit der damaligen Sitten und Gebräuche (etwa »Als man es zv den gezit¯e pflac« – Liet von Troye, V. 3172).69 Der Trojamythos wird bei ihm weniger zum Ursprungsmythos für das ideal-höfische Rittertum – höfisch ist das Liet nie und will es auch nicht sein. Er wird vielmehr zur Repräsentationsstufe eines noch nicht vollkommenen Adels, der zwar im Text ansatzweise idealisiert sein mag, aber aufgrund seiner Maßlosigkeit insgesamt nur bedingt als Vorbild dienen kann.70

VII. Fazit Das Liet von Troye ist nicht Kriegs-, sondern in erster Linie Literatur- und Geschichtskritik. Der Trojastoff scheint bei Herbort seinen Status als Ursprungsmythos teilweise zu verlieren und bildet nur noch eine vergangene Geschichte ab, die lediglich in Einzelfällen zur Identifikation mit den damaligen Helden einlädt. Die kurze Analyse von Herborts Liet hat aber, so hoffe ich, zudem gezeigt, wie kunstvoll die mittelalterlichen Erzähler im Rahmen ihrer Präsenzpoetik mit mythopoetischen Stoffen umgehen.71 Herbort spielt damit, das Geschehene unmittelbar zu verlebendigen und so das genealogische Kontinuum seiner adligen Zuhörer zu wahren, bricht aber zugleich dieses Geschehene in seiner narrativen Präsenz und inszeniert es als ›bloß‹ exemplarische Repräsentationsstufe des aktuell-gegenwärtigen Adels. Die Aneignung des Trojastoffs bewegt sich im Spannungsfeld von Präsenzerzeugung und Präsenzbrechung – wobei im Falle Herborts jeweils Zahlen zum Einsatz kommen. Durch besondere Eindrücklichkeit, die sich nicht selten an Zahlenwerten festmachen lässt, erreicht er narrative Intensität und stellt dem Hörer/Leser das Berichtete unmittelbar vor Augen (energeia, evidentia). Zugleich unterläuft Herbort seine eigene Strategie, indem er – wieder über 69 70

71

Ausführlich bei Mayer, »Erzählerfigur«, S. 249. Versteht man die Beschreibung der »korrumpierten Minnekemenate« als »mise en abyme der befehdeten Stadt und ihres Schicksals« (vgl. Bauschke, »Räume der Liebe«, S. 16), wird auch hier der Status Trojas als nur scheinbares Paradies hervorgehoben. Mit ganz anderen poetischen Mitteln, aber tendenziell einer ähnlichen PräsenzRepräsentation-Verschränkung operiert etwa auch der anonyme Verfasser des Göttweiger Trojanerkriegs; vgl. dazu ausführlich Björn Reich, »Helena und der Gral – Trojamythos und Adelskritik im Göttweiger Trojanerkrieg«, in: Alain Corbellari u. a. (Hrsg.), Mythes à la cour, mythes pour la cour (Courtly Mythologies). Actes du XIIe Congrès de la Sociéte internationale de littérature courtoise 29 juillet–4 août 2007 (Universités de Lausanne et de Genève), Genf 2010, S. 179–190 sowie Reich, Name und maere.

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Björn Reich

die Zahlen – ›nicht mehr vorstellbare Vorstellungsinhalte‹ inszeniert und so die Präsenz des Erzählten auflöst, um sein adliges Publikum zur Reflexion anzuregen. Präsenz und Präsenzbrechung, die bewusste Hervorkehrung des repräsentationalen Charakters der Literatur im Gegensatz zur Erzeugung völlig unhinterfragbar-vereinnahmender imagines sind dabei nicht vom spätantik-mittelalterlichen Poetikverständnis zu trennen, also stets unter kulturellen Prämissen zu betrachten, die in diesem Falle von Drei-VentrikelLehre, Pneumatologie und Phantasmatologie beeinflusst sind. Sie sind insofern konstitutiv für die gesamte mittelalterliche Literatur; ihre Verfahren verschärfen sich aber im Umgang mit mythologischen Stoffen, da der hohe Bekanntheitsgrad der Erzählungen die Autoren dazu zwingt, neuartige oder besonders eindrückliche Erzählverfahren zu entwickeln, um die Vergegenwärtigung des Stoffes (erniuwen) zu gewährleisten. Dies zu leisten, schafft nach Herbort nur der Gelarte, da gerade dem mythologischen Stoff gegenüber eine besonders rational-durchdachte Arbeitsweise angemessen erscheint. Wenn Andreas Hammer im Rekurs auf Claude Lévi-Strauss den mythischen Erzähler mit einem »Bastler« vergleicht, »der stets mit dem ihm zur Verfügung stehenden Material (Motive, personelle Ausstattung, Handlungskomplexe, Erzählstränge etc.) auskommen muß, das er dabei aber situativ neu anordnet«, und dabei betont, »dieses ›bricolage‹« [sic] geschehe »aber immer implizit, ohne daß darüber reflektiert würde«,72 so lässt sich dieser mythische Erzähler einem Erzähler gegenüberstellen, der sein zur Verfügung stehendes Material als kombinatorisch geschulter Topiker wie Herbort stets bewusst neu zu ordnen in der Lage ist. Aber gerade dieser Gegensatz macht deutlich, wie fließend die Grenze zwischen mythischem und ›logischem‹ Erzählen verläuft. Und daher ist auch der mittelalterliche Umgang mit mythologischem Material, gerade weil er von den poetischen und epistemologischen Prämissen seiner Zeit und deren Verständnis von Sprache und Sein (Logik und Onto-logik sind hier ja noch nicht zu trennen) abhängig ist, nicht ohne weiteres mit modernen Mythos-Konzeptionen erfassbar. Denn das grundlegend andere Verständnis von Sprache verändert auch das Verständnis von »Mythos« (von gr. mythos = Wort, Laut, Rede). Für die mittelalterliche Mythosrezeption ist Herborts Liet gleichwohl ein gutes Beispiel; freilich wäre auch den anderen Bearbeitungen antiker Stoffe vor dem Hintergrund eines Mythosverständnisses, das sich zwischen Präsenz und Repräsentation bewegt, neu nachzugehen und die spezifischen poetischen Verfahren der anderen Autoren gezielt in den Blick zu nehmen. 72

Andreas Hammer, Tradierung und Transformation. Mythische Erzählelemente im »Tristan« Gottfrieds von Straßburg und im »Iwein« Hartmanns von Aue, Stuttgart 2007, hier S. 53.

»Es ist!«

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Selma Jahnke (Berlin)

»Es ist!« Evidenz als paradoxe Leitkategorie in Karl Philipp Moritz’ theoretischen Texten zu Kunst und Mythos

Die Kunst- und Mythoskonzeption von Karl Philipp Moritz (1756–1793) enthält im Nukleus die Spannung von Präsenz und Repräsentation: Die von Moritz entwickelte radikale Autonomieästhetik ist geprägt von der Utopie, Präsenz und Repräsentation, Bezeichnetes und Zeichen im idealen Kunstwerk, wie es die antiken Mythen für Moritz jeweils einzeln und in ihrer Gesamtheit darstellen, zusammenfallen zu lassen. Inwieweit diese Utopie Ausdruck einer Sehnsucht ist, die auch Moritz’ Zeitgenossen an der Schnittstelle zwischen Spätaufklärung, Deutscher Klassik und Frühromantik erfasste, soll der erste Aspekt vorliegender Überlegung sein. Moritz versucht, auf die zentralen Fragen nach dem Wesen von Kunst und Mythos explizite Antworten zu geben, die sich jeweils für den zeitgenössischen Diskurs als sehr folgenreich erweisen. Wegen seiner Texte Über die bildende Nachahmung des Schönen und In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können wird er mittlerweile als »Begründer der Weimarer Autonomieästhetik« gefeiert,1 der »sowohl Goethe wie Schiller entscheidende Impulse für die Ausbildung der […] Weimarer Klassik« gegeben habe.2 Moritz’ mythologisches Handbuch Götterlehre oder mythologische Dichtung der Alten gilt aufgrund seiner engen Wechselwirkung mit Standpunkten von Goethe und seiner zugleich enormen Wirkung auf August Wilhelm Schlegel und Friedrich Wilhelm Schelling als Ort, an dem »die innige Verbindung zwischen Klassik und Romantik so deutlich« wird wie »nirgendwo sonst«.3 Mit Blick auf das Spannungsfeld von Präsenz und Repräsentation sollen diese Standortbestimmungen konturiert und gegebenenfalls aufeinander bezogen 1 2

3

Albert Meier, Karl Philipp Moritz, Stuttgart 2000, S. 13. Kommentar der Werkausgabe: Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchener Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm, Bd. 15: Italienische Reise. Andreas Beyer und Norbert Miller in Zusammenarbeit mit Christof Thoenes (Hrsg.), München 1992, S. 1200. Kommentar der Werkausgabe: Karl Philipp Moritz, Werke in zwei Bänden. Heide Hollmer/Albert Meier (Hrsg.), Bd. 2: Popularphilosophie. Reisen. Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1997, S. 1311.

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Selma Jahnke

werden. Zunächst wird an den Schriften zur Autonomieästhetik zu zeigen sein, wie Moritz’ Gegenüberstellung von Präsenz und Repräsentation, die jedoch regelmäßig in eine Überblendung der Polarität umschlägt, seiner Kunstauffassung eine paradoxale Struktur einschreibt, welche die Dynamik seiner Texte prägt. Danach soll die Götterlehre, in der Moritz seine Kunstkonzeption auf die antike Mythologie überträgt, auf konzeptioneller Ebene hinsichtlich der herausgearbeiteten Paradoxie einer Forderung nach absoluter Evidenz untersucht werden. Die vielzitierte Vorrede über die mythologischen Dichtungen als »Sprache der Phantasie« offenbart bereits in den ersten Absätzen ihre konzeptionelle Widersprüchlichkeit.4 Im Folgenden wird der Gesamttext der Götterlehre als Ausdruck von Moritz’ Konzept des mythenbildenden Prozesses gelesen. Dessen Paradoxalität bestimmt, so soll gezeigt werden, die Textdynamik und bildet sich auf diese Weise selber ab. Mittelpunkt und geheimes Zentrum der Götterlehre bildet der Abschnitt über Delphi, wo die Einsicht in die Unmöglichkeit von Evidenz und ihr Gegenteil zusammenfallen. Auch die einzelnen Text- und Bildelemente der Götterlehre müssen in diesem Zusammenhang als Versuch verstanden werden, die Konzeption selbst evident zu machen. Abschließend lässt sich dann noch einmal Moritz’ Standpunkt zu Kunst und Mythos in den zeitgenössischen Diskursen verorten.

I.

Sehnsucht nach Evidenz

Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts erhält »die Diskussion um das Schöne […] plötzlich eine schlechthin existentielle Bedeutung«, eine »ungeheure[] Anzahl von Versuchen, Einleitungen, Handbüchern und Abhandlungen über die Theorie des Schönen« überschwemmt den Markt.5 Das gelungene Kunstwerk, seit Winckelmann normativ verkörpert durch antike Statuen, gilt besonders den deutschen Klassizisten als »Ideal der sinnlichen Vollendung« und »Insinuierung geglückter Vermittlung[]«.6 Der »metaphysischen Obdachlosigkeit« im 4

5

6

Karl Philipp Moritz, Götterlehre oder Mythologische Dichtung der Alten. Textgestaltung und Wiedergabe der Kupferstiche nach der Ausgabe von 1795 bei Johann Friedrich Unger, Leipzig 1966, S. 7. Alessandro Costazza, »Karl Philipp Moritz und die tragische Kunst«, in: Martin Fontius/Anneliese Klingenberg (Hrsg.), Karl Philipp Moritz und das 18. Jahrhundert. Bestandsaufnahmen – Korrekturen – Neuansätze, Tübingen 1995, S. 145–176, hier S. 150f. Costazza verweist auf die Überblicke von Publikationen zu ästhetischen Fragestellungen bei Koller und Blanckenburg. Helmut Pfotenhauer, »Evidenzverheissungen. Klassizismus und ›Weimarer Klassik‹ im europäischen Vergleich«, in: Um 1800. Konfigurationen der Literatur, Kunstliteratur und Ästhetik, Tübingen 1991, S. 137–155, hier S. 138.

»Es ist!«

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Zuge der Aufklärung durch den fortschreitenden Prozess der Individuierung,7 durch das Infragestellen theologischer Deutungsmuster8 und nicht zuletzt durch die Umorientierung vom Objekt auf das Subjekt im Erkenntnisprozess, mit der Kant eine Säkularisierung der Wahrheitsauffassung einleitet,9 entspricht die wachsende Sehnsucht nach einer Kunst als »Instanz der offenkundigen, unmittelbar einleuchtenden Selbstbezeugung wahrer Erkenntnis und der immanenten Legitimation von Urteilen«.10 Sie fällt zusammen mit einem wachsenden Bewusstsein für »die Mangellogik der Begriffssprache«,11 das die rationalistische Evidenzvorstellung der descartesschen perceptio clara et distincta verändert. Die Sehnsucht nach sinnlicher Evidenz offenbart sich in Herders Bekenntnis zur antiken Plastik12 ebenso wie in Schillers Versuch einer »sinnlich objektiv[en]« Definition von Schönheit in den Kallias-Briefen.13 Schiller schreibt dort: »Schön […] ist eine Form, die keine Erklärung fordert, […] die sich ohne Begriff erklärt.«14 Auch Goethes Begeisterung für die antike Grabkunst, die in seinen Augen das Leben so wahrheitsgetreu darstellt, dass sie es wieder »herstellt«, zielt auf das Potential von Kunst, Wahrheiten unmittelbar zur Anschauung zu bringen. Er äußert einige Tage nach seinem Besuch der Igeler Säule, »das Schöne sei, wenn wir das gesetzmäßig Lebendige in seiner größten Tätigkeit und Vollkommenheit schauen«.15 Das Schöne steht demnach im Zei7 8

9 10

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Ebd., S. 145. Costazza zeichnet überzeugend den Geltungsverlust der Theodizee und die Übernahme von Elementen der Theodizeetradition durch den ästhetischen Diskurs im 17. Jahrhundert nach: Costazza, »Karl Philipp Moritz und die tragische Kunst«, S. 149. Elisabeth Sicard, Kant und das Problem der Evidenz, Basel, Paris 1981. So die Definition von »Evidenz« durch Wilhelm Halbfass in: Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Darmstadt 1972, Sp. 829–834, hier Sp. 829. Sabine M. Schneider, »Kunstautonomie als Semiotik des Todes? Digressionen im klassizistischen Diskurs der schönen Menschengestalt bei Karl Philipp Moritz«, in: German Life and Letters 52/1999, S. 166–183, hier S. 167. So schreibt Herder etwa über den »Kunstkörper« antiker Statuen: »Wir werden mit der Natur gleichsam verkörpert oder diese mit uns beseelt.« Johann Gottfried von Herder, Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume, Riga 1778, S. 97f. Friedrich Schiller, »[Kallias oder über die Schönheit] Briefe an Gottfried Körner«, in: Sämtliche Werke in fünf Bänden. Peter-André Alt/Albert Meier/Wolfgang Riedel (Hrsg.), Bd. 5: Erzählungen und theoretische Schriften, München, Wien 2004, S. 394–433, hier S. 394. Ebd., S. 403. Goethe, »Campagne in Frankreich 1792«, in: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Bd. 14: Autobiographische Schriften der frühen zwanziger Jahre, München 1986, S. 335–516, hier S. 491. Zur Leben vergegenwärtigenden Wirkung der Igeler Säule

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chen der Evidenz als »anschauende[r] Gewißheit«.16 Diese von Kant geprägte Definition verleiht dem Begriff der Evidenz eine neue Qualität, die weit über die bis in die Antike zurückreichende evidentia-Tradition einer affektischen Figur der Rhetorik hinausweist,17 indem sie ihn für eine ästhetische Sinnhaftigkeit öffnet. So wird Evidenz im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zu einer spezifischen Form von Präsenz, an deren Erfahrung durch Kunst die Hoffnung auf essentielle Erkenntnisse geknüpft wird.18

II. Kunstautonomie als Repräsentation von Präsenz Karl Philipp Moritz greift diese Sehnsucht auf und macht sie mit großer Konsequenz zur Grundlage seiner autonomieästhetischen Kunsttheorie. Die Schriften Über die bildende Nachahmung des Schönen und In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können beinhalten eine »in der Ästhetik-Geschichte singulär radikale Formulierung des Autonomiegedankens«.19 Das Zentrum der von Moritz formulierten Autonomieästhetik bildet – im Gegensatz zur bis dato gültigen Wirkungsästhetik – die absolute Selbstreferentialität der Kunst. Im idealen Kunstwerk fallen Zeichen und Bezeichnetes zusammen: »Das wahre Schöne besteht aber darin, dass eine Sache bloß sich selbst bedeute, sich selbst bezeichne, sich selbst umfasse, ein in sich vollendetes Ganzes sei.«20 Die reflexive Formel »in sich selber« verwendet Moritz in seinen theoretischen Texten exzessiv, allein auf den 33 Seiten der Bildenden Nachahmung fällt sie in dieser Form elfmal, nicht mitgezählt die zahlreichen

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vgl. ebd., S. 340f. und 437f.; ähnlichen Charakter hat auch Goethes Beschreibung antiker Sarkophage im Museo Maffeiano in Verona: Goethe, Italienische Reise, in: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Bd. 15, München 1992, S. 44f. Vgl. dort die zitierte Wendung vom Wieder-»herstellen« des Lebens. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Jens Timmermann (Hrsg.), Hamburg 1998, S. 781 (B 762). Kant definiert Evidenz als »anschauende Gewißheit« in Bezug auf die Mathematik. Zur evidentia-Tradition vgl. § 810–819 bei Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, 2. Aufl., München 1973, S. 399–407. Zur »Gemengelage ästhetisch-medialer Effekte« von Präsenz und Sinn vgl. die grundsätzlichen Überlegungen bei Lothar van Laak, »Nachahmung der Nachahmungsästhetik. Mimesis und Präsenz bei Karl Philipp Moritz«, in: Christian Kienig (Hrsg.), Mediale Gegenwärtigkeit, Zürich 2007, S. 225–241, hier S. 225. Helmut Pfotenhauer, »›Die Signatur des Schönen‹ oder ›In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können?‹. Zu Karl Philipp Moritz und seiner italienischen Ästhetik«, in: Ders. (Hrsg.), Kunstliteratur als Italienerfahrung, Tübingen 1991, S. 67–83, hier S. 67. Karl Philipp Moritz, »Über die Allegorie«, in: Werke in zwei Bänden, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1997, S. 1008–1011, hier S. 1008.

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Variationen wie »für sich ganz allein« oder »um sein [ ! ] selbst willen«. Moritz fordert die Selbstreferentialität so radikal ein, dass seine Formulierungen zum Teil tautologisch anmuten, etwa in dem Satz vom »echten Kunstwerke«, »das in allen seinen Teilen sich in sich selber spiegelnd da den reinsten Abdruck« hinterlasse, »wo alle Beziehung aufhör[e]«, da es »in sich selbst vollendet, den Endzweck und die Absicht seines Daseins in sich selber« habe.21 Veranschaulicht wird das Postulat durch eine intensive Kreis- und Spiegelmetaphorik. Eine derart selbstreferentielle Kunst ermöglicht in Moritz’ Konzept eine überzeitliche Präsenzerfahrung: »Die Erscheinung ist mit der Wirklichkeit, die Gattung mit dem Individuum eins geworden. – […] Und von sterblichen Lippen lässt sich kein erhabneres Wort vom Schönen sagen, als: es ist!«22 In der Schrift In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können arbeitet Moritz besonders den Charakter der Unmittelbarkeit heraus, der mit der Selbstreferentialität der Kunstwerke einhergeht und in dessen Zeichen sowohl Entstehung als auch Wirkung der Kunst stehen. Er veranschaulicht das »in sich vollendete Schöne« an der Philomele-Episode aus Ovids Metamorphosen. Das von der geschändeten und ihrer Zunge beraubten Philomele gewebte Tuch drücke seine eigene Entstehungsursache aus, weil schon sein »bloßes Dasein von dem schändlichen Frevel zeugt[]«, der es veranlasst habe: »Die Beschreibung war hier mit dem Beschriebenen eins geworden – die abgelöste Zunge sprach durch das redende Gewebe. […] Eben darum konnte es seiner [ ! ] schrecklichen Wirkung nicht verfehlen.«23 Das Kunstwerk vermittelt nichts außer sich selbst und es bedarf keiner Vermittlung, um seine Botschaft zu verstehen. Die Präsenzerfahrung, auf die Moritz zielt, ist gekennzeichnet durch Plötzlichkeit und Überwältigung. Als mustergültiges Kunsterlebnis führt Moritz eine Situation aus Livius’ Ab urbe condita an. Der blutbespritzte Virginius schildert die Schändung und den darauf folgenden Selbstmord seiner unschuldigen Tochter Lucretia. Sein Schmerz über den Tod der Tochter repräsentiert die Schrecken der Willkürherrschaft so unmittelbar, lässt sie den Rezipienten so präsent werden, dass diese sich sofort in den Freiheitskampf stürzen. Moritz hebt hervor, hier habe »die Erzählung, zugleich mit der erzählten Sache, auf die Gemüter« gewirkt und sie »bis ins Innerste« erschüttert.24 Au21

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Moritz, »Über die bildende Nachahmung des Schönen«, in: Werke in zwei Bänden, Bd. 2, S. 958–991, hier S. 983. Ebd., S. 991. Karl Philipp Moritz, »In wie weit Kunstwerke beschrieben werden können?«, in: Werke in zwei Bänden, Bd. 2, S. 992–1003, hier S. 992. Ebd., S. 993.

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ßerdem ist die präsentische Wirkung der Kunst geknüpft an ihre Unerfassbarkeit durch die Begriffssprache: Das Kunstwerk ist bei Moritz »über allen fernern Ausdruck durch Worte erhaben, welche eben da aufhören müssen, wo das echte Kunstwerk anfängt«. Nur so könne es den Moment der Teilhabe an »der Vollkommenheit, die im Innern der Natur verborgen« liegt, ermöglichen, eine Erfahrung präsentieren von dem, »was unsere Sterblichkeit nur dunkel ahndet.«25 Mit dieser sprachskeptischen Hoffnung auf ganzheitliche Erkenntnis durch Kunst trifft Moritz genau jene neue Evidenzvorstellung, die in der Spätaufklärung zum Bedürfnis wird. Seiner Konzeption von Ganzheit, Präsenz und Sinn stellt Moritz eine Ausdrucksform mit nicht evidenten Elementen entgegen, »bloßen Hieroglyphen oder Buchstaben«,26 wie er sie etwa in der barocken Allegorie ausmacht, die mit ihren willkürlich gesetzten Verweisen »überladen […] von sich selbst erdrückt, wie eine tote Masse« dastehe.27 Darüber hinaus brandmarkt er jede interpretierende Allegorese als unangemessen, er kritisiert Winckelmann scharf für dessen – aus Moritz’ Sicht die Ganzheit fragmentierende – Beschreibung antiker Statuen. Die Beschreibung des Apollo von Belvedere sei »eine Beleidigung des Kunstwerks«.28 Hier zeigt sich bereits Moritz’ Radikalität. Es frappiert, dass er Winckelmanns Text als Beleidigung des Kunstwerks tituliert, hatte doch Winckelmann gerade mit seinen Beschreibungen antiker Statuen normativ auf das Kunstverständnis der Autoren der deutschen Klassik gewirkt und dazu beigetragen, Kategorien wie Einheit und Abgeschlossenheit eines Werkes einzuführen, indem es ihm gelang, »die Einheit und Ganzheit des plastischen Ausdrucks im Durchgang durch die ganze Figur sprachlich zu fassen«.29 Für Moritz jedoch ist Winckelmann noch zu nah an dem »rationalistischen Typus der Kunstbeschreibung, welcher durch die Übersetzung in Worte den höheren Vernunftgehalt der Kunst glaubt[] entbinden zu können.«30

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Ebd., S. 994. Moritz, Götterlehre, S. 9. Moritz, »Über die Allegorie«, S. 1010. Karl Philipp Moritz, »Reisen eines Deutschen in Italien«, in: Werke in zwei Bänden, Bd. 2, S. 411–848, hier S. 753f. Es geht hier um: Johann Joachim Winckelmann, »Beschreibung des Apollo im Belvedere«, in: Kleine Schriften und Briefe. Wilhelm Senff (Hrsg.), Weimar 1960, S. 148–151. Bernhard Fischer, »Kunstautonomie und Ende der Ikonographie. Zur historischen Problematik von ›Allegorie‹ und ›Symbol‹ in Winckelmanns, Moritz’ und Goethes Kunsttheorie«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 64/1990, S. 247–277, hier S. 255. Pfotenhauer, »Die Signatur des Schönen«, S. 72.

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Er sieht in der Frage »Was bedeutet die Iliade? Was bedeutet die Odyssee?« den verfehlten Anspruch, »das höchste Werk der Kunst wie […] einen toten Buchstaben zu betrachten, der seinen ganzen Wert nur dadurch hat, weil er etwas außer sich bedeutet.«31 In seiner Konzeption soll das Kunstwerk nichts repräsentieren und durch nichts repräsentiert werden. Indem Moritz die absolute »ästhetische Intransigenz« fordert,32 spielt er Präsenz gegen Repräsentation aus: »Es ist« versus »es bedeutet«. Der verstörende Texteinstieg in In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können? mit dem Bild der abgeschnittenen Zunge Philomeles, das gleich im ersten Satz präsentiert wird, erscheint vor diesem Hintergrund plausibel. Das evidente, autonome Kunstwerk bedarf keiner verbalen Auslegung. Die Zunge als Organ des Sprechens lässt sich hier als Metonymie für die rationale Begriffssprache deuten. Sabine Schneider formuliert: »Das Abschneiden der Fremdreferenz ist die Bedingung für die Prägnanz des Schönen.«33 Zugleich verwendet Moritz die Philomele-Episode als Sinnbild, also als Repräsentation, für die nicht repräsentierende, nicht repräsentierbare Kunst. Das in sich vollendete Schöne soll Sein bedeuten. Ein Zeichen, und sei es auch noch so natürlich, kann seinen Zeichencharakter, den Charakter des Verweisens, nicht abschütteln. Wie tief dieser Widerspruch Moritz’ Kunstkonzeption prägt und strukturiert, soll im Folgenden durch eine Lektüre der Bildenden Nachahmung gezeigt werden. Dies bildet die Voraussetzung dafür, später in der Götterlehre die Bedeutung von Delphi zu erkennen.

III. Das Schöne als Paradox Moritz überblendet und verdichtet in Über die bildende Nachahmung des Schönen Argumente und Gedankenfiguren aus sehr unterschiedlichen Bereichen, so dass seine Leser von Goethe bis heute ihm bei aller vorgeblichen Bemühung um begriffliche Klarheit das Attribut der Dunkelheit verleihen.34 Das Paradox, das der Konzeption zugrunde liegt und auch für Moritz’ Mythosbegriff 31 32 33 34

Moritz, Götterlehre, S. 9. Pfotenhauer, »Die Signatur des Schönen«, S. 71. Schneider, »Kunstautonomie als Semiotik des Todes«, S. 168. Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, »Über die bildende Nachahmung des Schönen von Carl Philipp Moritz. Braunschweig, 1788 in der Schulbuchhandlung«, in: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Bd. 3/2: Italien und Weimar 1786–1790, München 1990, S. 271–274, hier S. 274; vgl. Pfotenhauer, »Die Signatur des Schönen«, S. 68; Sabine M. Schneider, Die Schwierige Sprache des Schönen. Moritz’ und Schillers Semiotik der Sinnlichkeit, Würzburg 1998, S. 247.

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wichtig wird, ist das Folgende: Das in Moritz’ Text fokussierte Schöne soll so absolut evident sein, dass es letztlich nicht fassbar ist. Immer wieder wird sein utopischer Charakter deutlich. Der Text Über die bildende Nachahmung des Schönen lässt sich in drei große Abschnitte gliedern:35 Der erste soll die benötigten Begriffe entwickeln (in erster Linie die Begriffe des Nützlichen, des Guten, des Edlen und des Schönen sowie die jeweiligen Gegenbegriffe), der zweite entwirft den idealen Schaffensprozess des Künstlers, dem der nicht zur wahren Bildung befähigte Dilettant entgegengesetzt wird, und der dritte lässt die Autonomieästhetik in eine Ästhetik der Zerstörung münden – ein zunächst irritierender Schluss, der jedoch gerade vor dem Hintergrund der herausgearbeiteten Gegenüberstellung und gleichzeitigen Überblendung von Präsenz und Repräsentation verständlich wird. Im ersten Teil der Bildenden Nachahmung setzt Moritz wieder und wieder an, »die Begriffe […] gehörig [zu] unterscheiden«, dem »Begriff des Schönen […] Grenzen vor[zuschreiben], die es nicht überschreiten darf«, »die Begriffe […] in ihre feinern Abstufungen zu verfolgen«, sie »so scharf wie möglich [zu] unterscheiden«.36 Wird eine Frage aufgeworfen, sucht der Text die Antwort stets in einem noch tieferen Versenken in die Begriffe: »Um nun aber die Frage zu beantworten, […] müssen wir wiederum den Begriff […] noch mehr zu entwickeln suchen.«37 Dabei sind Begriffe ausdrücklich Produkte des menschlichen Geistes und werden der organischen Anlage der Natur entgegengestellt: […] gewisse feste Grenzlinien, die in der Natur selbst nicht Statt finden, [müssen] gezogen werden […], wenn die Begriffe sich nicht ebenso, wie ihre Gegenstände, unmerklich in einander verlieren und verschwimmen sollen: ein getreuerer Abdruck der Natur können sie in diesem letzteren Falle sein, aber das eigentliche Denken, welches nun mal im Unterscheiden besteht, hört auf.38

Von den unterscheidenden Begriffen der rationalistischen Denkkraft ist also von vornherein klar, dass sie keinen »Abdruck der Natur« liefern können. Dennoch seziert Moritz durch das Anordnen und Gegenüberstellen von Begriffen allmählich den entscheidenden Begriff des Schönen. Seine Grenzmetaphorik gibt sich dabei messerscharf: Ein Begriff »schneidet doch alles, was ihm […] entgegensteht«, es werden Linien ausgemacht, die »um kein Haar35

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Auf die Dreiteiligkeit verweist zuerst Egon Menz, Die Schrift Karl Philipp Moritzens ›Über die bildende Nachahmung des Schönen‹, Göppingen 1968, S. 165. Moritz, »Bildende Nachahmung«, S. 959, 962, 963 und 968. Ebd., S. 966. Ebd., S. 960.

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breit« überschritten werden dürfen, und »Grenzen vorgeschrieben«, die »so scharf wie möglich« unterscheiden.39 Gleichzeitig thematisiert Moritz immer wieder, wie die Begriffe sich »unmerklich in einander verlieren und verschwimmen«, wie »schwer [es] werden muß, das immer ineinander sich unmerklich Verlierende gehörig auseinander zu halten«.40 Nachdem er »die Begriffe von unedel, schlecht, und unnütz« und die »von nützlich, gut, und schön« seitenlang unnachgiebig fixiert und zu ab- und aufsteigenden Stufenleitern geordnet hat, werden sie zu einem »Zirkel von Begriffen«, der »sich wieder in sich selbst verliert«. Der »Begriff vom Unnützen von dem einen« Ende der Stufenleiter wird »für den Begriff des Schönen von dem anderen Ende, gleichsam die Fuge […], in die es sich am leichtesten hineinstehlen, und unmerklich sich darin verlieren kann.«41 Die Begriffe, von denen von Anfang an klar ist, dass sie nicht die Totalität erfassen können, um die es Moritz geht, werden also zunächst einzeln in ihrer Beständigkeit in Frage gestellt und dann als System ad absurdum geführt, da ihre präziseste Abgrenzung sich als eine scheinbare entpuppt: »Die Begriffe müssen sich immer gerade da wieder entgegen kommen, wo sie am weitesten von einander abzuweichen, und sich zu verlassen scheinen.«42 Genau an dieser Stelle, an der klar ist, dass die begriffliche Fixierung gescheitert ist, bestimmt Moritz den Begriff des Schönen, indem wir uns alles, was nicht dazu gehört, um dasselbe her hinweg, und also wenigstens den wahren Umriss des leeren Raumes denken, wohinein das von uns Gesuchte, wenn es positiv von uns gedacht werden könnte, notwendig passen müsste.43

Das ist eine zweifach negative Bestimmung. Die begrifflichen Grenzen, deren Konsistenz gerade bestritten worden ist, sollen eine Leerstelle bezeichnen. Erst eine Umcodierung liefert das Gesuchte: Die Leerstelle, zum Positiv gefüllt, gibt eine Vorstellung von dem Schönen; die Untauglichkeit der Begriffe zur Erfassung von Ganzheit bestätigt die Notwendigkeit einer anderen Art der Erfassung, nämlich der unbegrifflichen, mit der die »dunkelahnende[] Tatkraft« das Schöne zu bilden vermag.44 Die Begriffssprache führt ihr eigenes Scheitern vor. Durch diesen Verzicht auf Ganzheit erreicht Moritz auf einer höheren Ebene ein neues Konzept, das des Schönen als einer 39 40 41 42 43 44

Ebd., S. 966, 961, 968, 962 und 966. Ebd., S. 960. Ebd., S. 964f. Ebd., S. 965. Ebd., S. 966. Ebd., S. 971.

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»höhere[n] Sprache«.45 Diese Konstellation entspricht der noch zu untersuchenden Textbewegung der Götterlehre, in der die einzelnen Gottheiten einerseits als stetig umgrenzte Repräsentationen für schwer fassbare Phänomene dargestellt werden, während zugleich ihre endgültige Fixierung bewusst unterlaufen und aufgebrochen wird. Im Mittelteil der Bildenden Nachahmung entwickelt Moritz das Wesen, die Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen des Schönen. Dabei wird sehr schnell klar, dass das Schöne, »das die vollkommensten Verhältnisse des großen Ganzen der Natur, eben so wahr und richtig, wie sie selbst, in seinem kleinen Umfang« fassen soll, letztlich als Utopie konstruiert ist. In Abgrenzung zum Nützlichen, das sein Wesen per Definition in einem »Zusammenhang von Dingen« entfaltet,46 soll das Schöne außerhalb jedes Zusammenhangs stehen. Das kann es nur, wenn es selbst ein Ganzes bildet, denn nur ein Ganzes braucht »weiter keine Beziehung auf irgend etwas außer sich zu haben«. Demnach, so folgert Moritz, ist »mit dem Begriff des Schönen der Begriff von einem für sich bestehenden Ganzen unzertrennlich verknüpft«.47 Zugleich schreibt Moritz, seinem Hang zur Totalität entsprechend, »der Zusammenhang der ganzen Natur« sei »eigentlich das einzige, wahre Ganze«. »Jedes einzelne Ganze« sei – wie ein schönes Kunstwerk – »wegen der unauflöslichen Verkettung der Dinge, nur eingebildet«. Das Schöne ist »ein Blendwerk«.48 In dem Moment, in dem ein Kunstwerk abgeschlossen ist, verliert es, streng genommen, seine Autonomie, da es, »sobald es einmal da ist«, »in den Umfang der Natur zurücktretend« seinen Platz »auf ihrer großen Stufenleiter« einnimmt.49 Auch die Gottheiten der Götterlehre werden jeweils als Verkörperung einer Totalität dargestellt, durch die nächste behandelte Gottheit jedoch aus dieser Totalität gerissen, so dass das Verhältnis von Teil und Ganzem stetig in Bewegung bleibt. Ein weiterer Widerspruch in der Konzeption des Schönen liegt darin, dass es sich einerseits von dem großen Ganzen der Natur dadurch unterscheidet, dass es für den Menschen fassbar ist, und zwar durch eine sinnliche Erfahrung: In so fern aber nun in einem schönen Werk die mannigfaltigen Beziehungen der einzelnen Teile zum Ganzen […] in unseren äußeren Sinn fallen, oder von unserer Einbildungskraft umfasst werden müssen, in so fern schreiben unsere Empfindungswerkzeuge dem Schönen wieder sein Maß vor.50 45 46 47 48 49 50

Moritz, »Reisen eines Deutschen in Italien«, S. 745 und 771. Moritz, »Bildende Nachahmung«, S. 973 und 966. Ebd., S. 967. Ebd., S. 969 und 970. Ebd., S. 981. Ebd., S. 968 f.

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Andererseits entzieht Moritz das Moment der Fassbarkeit aber wieder, indem er es nur dem Künstlergenie zugesteht, während er Autor und Leser im kollektiven Wir ausschließt: Durch […] reinen Genuß der schönen Kunstwerke selbst […] kann zwar etwas jenem lebendigen Begriff näherkommendes in uns entstehen […] – Allein da unser höchster Genuß des Schönen dennoch sein Werden aus unsrer eignen Kraft unmöglich mit in sich fassen kann – so bleibt der einzige höchste Genuß desselben immer dem schaffenden Genie, das es hervorbringt, selber.51

In beiden Fällen setzt Moritz Begrenzung und Entgrenzung nebeneinander. Der Begriff des Schönen wird isoliert, umgrenzt und bekommt sein Maß vorgeschrieben, um dann aus dieser Fixierung doch wieder befreit und zum Blendwerk und nie zu erreichenden Ideal verwischt zu werden. Die Spannung konzentriert sich im letzten Zitat in der Formel vom »lebendigen Begriff«. So lange das Schöne lebendig ist, entzieht es sich der begrifflichen Fixierung, sobald der Begriff gefasst ist, wird er zum »toten Buchstaben«.52 Auch diese Spannung übernimmt Moritz direkt für seine Konzeption der Götterlehre. Der Entstehungsprozess des Schönen, die titelgebende »bildende Nachahmung«, wird in Moritz’ Konzept ebenfalls auf paradoxe Weise gestaltet und als »lebendige[r] Begriff« bezeichnet.53 Um den Zusammenhang zur Mythoskonzeption nicht aus den Augen zu verlieren, kann dies hier ebenso wenig ausgeführt werden wie die Rezeptionsmöglichkeit, die Moritz für das absolute Schöne vorsieht. Es bleibt allerdings festzuhalten, dass sie dem dilettantischen Betrachter, der durch Moritz’ radikale Konzeption vom Künstler eigentlich der Mensch im Allgemeinen ist, verwehrt bleibt. Pfotenhauer konstatiert dementsprechend: »unendlich viel Hoffnung, nur kaum für uns«.54 So wie das Versagen der Begriffe im ersten Teil von Moritz im zweiten Teil zu einer Bestätigung umgedeutet wird, dass die Repräsentation von Sinn und Ganzheit eine überbegriffliche sein muss – gerade dass das Schöne sich nicht fassen lässt und außerhalb jedes Zusammenhangs bestehen soll, macht es zu einer adäquaten Nachahmung der Natur –, so rückt Moritz das Schöne auch im zweiten Teil in desto unerreichbarere Ferne, je präziser er es bestimmt in seinen Konzeptionen der Produktion (Künstler, Tatkraft, bildende Nachahmung) und Rezeption (möglicher Genuss des höchsten Schönen). Der letzte Teil des Textes muss dieses Scheitern der Fassbarkeit von Ganzheit und Sinn erneut auf einer höheren Ebene umdeuten. 51 52 53 54

Ebd., S. 974. Moritz, Götterlehre, S. 9. Ebd., 973. Pfotenhauer, »Die Signatur des Schönen«, S. 81.

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Der letzte Teil der Bildenden Nachahmung enthält jene eigentümliche Apotheose des Kunstschönen, die teleologische Stufenmodelle, biologisch anmutende Organismus- und Gattungsvorstellungen und produktions- und rezeptionsästhetische Vorgaben überblendet.55 Er bleibt dem Leser vor allem als »Feier der Zerstörung«56 in Erinnerung, fokussiert er doch die »immerwährende Zerstörung«57 als Grundprinzip der Natur, der Gesellschaft sowie der Kunst in unnachgiebiger, auf den ersten Blick unklassizistischer Weise. (Goethe, der den Text zweimal in Paraphrase wiedergibt, enthält dem Leser signifikanterweise jeweils den Schlussteil vor.)58 Die »unbefriedigte[] Sehnsucht«, das »Leiden, das sein [des Schönen, S. J.] versagter Genuß« erregt, steigert Moritz über »das bitterste Leiden« zu »Höllenqualen« und schließlich zur »immerwährenden Zerstörung des einzelnen«.59 Indem er jedoch dieses Leiden an der Unerreichbarkeit, um nicht zu sagen Unmöglichkeit des Schönen, umdeutet zum notwendigen Beweis seiner Existenz, indem Moritz die Zerstörung als dem Prinzip der Bildung eingeschrieben bejaht, gelingt es ihm auf einer höheren Ebene, seine Konstruktion von absoluter Evidenz zu retten, die das autonome Kunstwerk markiert. Denn die Evidenz, um die es Moritz in dieser radikalen Zuspitzung geht, ist keine sinnlich erfahrbare mehr, es ist eine utopische. Entsprechend beginnt der letzte Absatz: Und wenn jemals ein schwacher Schimmer des über Zerstörung und Bildung erhabenen Schönen sich uns zeigen kann, so muss es auf dem Punkte sein, wo es aus der über unserem Haupt schwebenden Zerstörung selbst uns wieder entgegen lächelt.60

In den darauf folgenden letzten sechs Sätzen wird das Zusammenfallen von Erscheinung und Wirklichkeit, von Gattung und Individuum beschworen. Das Schöne ist hier »über die Bildung selbst erhaben«. In diesem Kontext stehen die emphatischen Schlussworte »es ist!« Das absolute Schöne, das repräsentational für eine präsentische Kunst steht, ist unerreichbar. Es kann jedoch »ihm durch immerwährendes sich verjüngendes Dasein nachgeahmt« werden.61 Der 55

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Zu den überblendeten Argumentationsebenen im verdichteten Text vgl. Costazza, »Karl Philipp Moritz und die tragische Kunst«, S. 166. Hans-Edwin Friedrich, »›Die innerste Tiefe der Zerstörung‹. Die Dialektik von Zerstörung und Bildung im Werk von Karl Philipp Moritz«, in: Karl Eibl (Hrsg.), Die Kehrseite des Schönen, S. 69–90, hier S. 89. Moritz, »Bildende Nachahmung«, S. 989. Goethe, Italienische Reise, S. 629–637 und ders., »Über die bildende Nachahmung des Schönen von Carl Philipp Moritz«. Moritz, »Bildende Nachahmung«, S. 984, 986, 988 und 989. Ebd., S. 990. Ebd., S. 991.

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Utopie kann man sich also immerhin annähern, indem die gegensätzlichen Pole, aus denen sie konstruiert ist, in steter Bewegung gehalten werden. Der Begriff des Verjüngens, mit dem Moritz diese Dynamik bezeichnet, ist ein Schlüsselbegriff der Götterlehre. Der Text Über die bildende Nachahmung des Schönen zelebriert das Ausstellen, Umschlagen und Überblenden von Gegensätzen in den einzelnen Argumentationsschritten wie auch in der dialektischen Dynamik der drei Teile: von der Begriffsbestimmung über deren Scheitern, das als Gelingen des unbegrifflichen Schönen gedeutet wird, zu der Unerreichbarkeit des Schönen, die wiederum durch die Bejahung am Leiden daran doch in eine Teilhabe umcodiert werden kann. Die Feier der Zerstörung im letzten Teil ist zugleich eine Feier der Paradoxalität. Die Kommentare der Forschung ähneln in dieser Hinsicht Moritz’ eigenen Überblendungen: Die »ästhetische Theodizee«62 fällt mit einem »ästhetischen Neronismus«63 zusammen. Annette Simonis fasst in diesem Sinne zusammen: »Die ästhetische Theorie hebt, indem sie mit ihrem Gegenstand zusammen fällt, sich selber auf.«64 Auch Alo Allkemper formuliert eine ähnliche Schlussfolgerung: »Die ästhetische Konzeption Moritz’ zeigt daher an, dass ästhetische Lösungen keine sind: Sie können die Widersprüche zwischen Ich und Wirklichkeit, Sein und Sollen nur lösen, indem sie sie bestätigen.«65 Und bei Achim Geisenhanslüke heißt es schließlich: »Was das Schöne leisten soll, ist eine Überwindung von Tod und Zerstörung. Was sich hinter dem Schönen verbirgt, ist nichts als die Unaufhebbarkeit von Tod und Zerstörung.«66 Es scheint fast unmöglich, sich Moritz’ Paradoxie zu entziehen. Man muss sie lesen »als ein[en] im Prinzip unabschließbare[n] Prozess der Signifikation,

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Thomas P. Saine, Die Ästhetische Theodizee. Karl Philipp Moritz und die Philosophie des 18. Jahrhunderts, München 1977. Carsten Zelle, »Ästhetischer Neronismus. Zur Debatte über ethische oder ästhetische Legitimationen der Literatur im Jahrhundert der Aufklärung«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 63/1989, S. 397–419. Annette Simonis, »›Das Schöne ist eine höhere Sprache‹. Karl Philipp Moritz’ Ästhetik zwischen Ontologie und Transzendentalphilosophie«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 68/1994, S. 490–505, hier S. 501. Alo Allkemper, Ästhetische Lösungen. Studien zu Karl Philipp Moritz, München 1990, S. 291. Achim Geisenhanslüke, »Allegorie und Schönheit bei Moritz«, in: Ute Tintemann/Christof Wingertszahn (Hrsg.), Karl Philipp Moritz in Berlin 1789–1793, Berlin 2005, S. 127–140, hier S. 136.

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der Zirkulation und auch Subversion von Bedeutungen«67 und damit als eine präzise Präfiguration eines modernen Kunstverständnisses, die ebenso viel Potential wie Spannung in sich birgt.68

IV. Mythologie als »wahres Kunstwerk«69 In seinem Handbuch Götterlehre oder Mythologische Dichtung der Alten überträgt Moritz 1791 seine Kunstkonzeption auf die antike Mythologie. Mythologie wird bei Moritz mit autonomer Kunst gleichgesetzt. Jede historische, allegorische, didaktische und moralische Inanspruchnahme lehnt er radikal ab: Die Göttergeschichte der Alten durch allerlei Ausdeutungen zu bloßen Allegorien umbilden zu wollen ist ein ebenso törichtes Unternehmen, als wenn man diese Dichtungen durch allerlei gezwungene Erklärungen in lauter wahre Geschichte zu verwandeln sucht. […] [D]arum lehrt sie besser, weil Lehren nicht ihr Zweck ist, weil die Lehre selbst sich dem Schönen unterordnet […]. [Die Wesen und Charaktere der antiken Mythologie sind] über alle Begriffe der Moralität erhaben.70

Eine Bewertung der theologischen (Un-)Glaubwürdigkeit der heidnischen Religion gegenüber der christlichen, die die aufklärerischen Handbücher zur antiken Mythologie in der Regel unter dem Begriff des Aberglaubens liefern, fehlt bei Moritz. Er verzichtet auf die üblichen Hinweise, »zur Unterscheidung des ehemaligen Heyden- und jetzigen Christenthums« lasse sich »solcher Mythologie Unrichtigkeit gegen der christlichen Lehre Gewissheit« erweisen71 oder »diese Religion [gemeint ist der antike Götterglaube, S. J.]« sei »so völlig todt«, dass »man sie überall für falsch erkenne«.72 Die antike Mythologie stellt Moritz nicht als Religion dar, sondern als »Sprache der Phantasie«, als »eine schöne Dichtung«; ihr »Hauptendzweck« ist »Poesie«.73 Damit wertet er die Erdachtheit, die der Mythologie von jeher als ein Cha67

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So die Herausgeberinnen im Vorwort zu Claudia Benthien/Irmela Marei KrügerFürhoff (Hrsg.), Über Grenzen. Limitation und Transgression in Literatur und Ästhetik, Stuttgart und Weimar 1999, S. 16. Todorov schreibt Moritz bereits 1977 zu, er habe durch die Autonomieästhetik den Zugang zu einem neuartigen Symbolbegriff eröffnet und dadurch »unsere Moderne ein[geläutet]«. Tzvetan Todorov, Symboltheorien, Tübingen 1995, S. 143. Moritz, Götterlehre, S. 9. Ebd., S. 8, 9 und 10. Benjamin Hederich, Gründliches mythologisches Lexikon. Neuausgabe durch Johann Joachim Schwabe, Leipzig 1770, S. XIf. Karl Wilhelm Ramler, Kurzgefaßte Mythologie oder Lehre von den fabelhaften Göttern, Halbgöttern und Helden, Bd. 3: Allegorische Personen zum Gebrauch der bildenden Künstler, Berlin 1791, S. V. Moritz, Götterlehre, S. 7 und 9.

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rakteristikum zugeschrieben und zumal in der Aufklärung meist negativ konnotiert wird, zum einen positiv und zweitens zum konstitutiven Wesensmerkmal auf. Diese explizite Um- und Aufwertung des Kunstcharakters von Mythologie nach den Maßstäben der Autonomieästhetik unterscheidet Moritz’ Handbuch von allen gattungsverwandten Werken, die in den zwei Jahrzehnten vor der Jahrhundertwende wie Pilze aus dem Boden schießen.74 So ist es »in erster Linie das Verdienst von Karl Philipp Moritz«, dass der Mythos »nach Verlust seines religiösen und moralischen Anspruchs als poetische Existenz überleben konnte«, wie Christoph Jamme konstatiert.75 Dass folgerichtig Moritz’ Mythoskonzeption dieselbe grundlegende Paradoxie eingeschrieben ist wie der ästhetischen Theorie, lassen schon die ersten Sätze der Götterlehre ahnen: Die mythologischen Dichtungen müssen als eine Sprache der Phantasie betrachtet werden. Als eine solche genommen, machen sie gleichsam eine Welt für sich aus und sind aus dem Zusammenhange der wirklichen Dinge herausgehoben.76

Das Bild von der Mythologie als Sprache, also als Zeichensystem, das aber »aus jedem Zusammenhang herausgehoben«, also von allen möglichen Signifikaten abgeschnitten ist, erweist sich als bedeutsam.77 Denn bereits die Vorrede zur Götterlehre geißelt die oben zitierte Frage nach der Bedeutung von Kunst unnachgiebig als völlig verfehltes Verständnis der Kunst als »Hieroglyphe oder […] toten Buchstaben, der seinen ganzen Wert nur dadurch

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Vgl. die (unvollständige) Auflistung mythologischer Handbücher der Zeit bei: Philippe Guilbert, »Welche neuzeitlichen Strategien für die Rettung der antiken Mythologie? Vergleich von drei Handbüchern zur Götterlehre um 1790. K. W. Ramler – Chr. G. Heyne/ M. G. Hermann – K. Ph. Moritz«, in: Goethe-Yearbook. Publications of the Goethe Society of North Carolina 9/1999, S. 186–221, hier S. 187. Zusätzlich eingesehen wurden: David Christoph Seybold, Einleitung in die griechische und römische Mythologie der alten Schriftsteller für Jüngere, 3. Aufl., Leipzig 1797; Johann Georg Christian Hoepfner, Handbuch der griechischen Mythologie, Erfurt 1795 und das seit seinem Erscheinen 1724 immer wieder aufgelegte Standardwerk Hederich, Gründliches mythologisches Lexikon. Christoph Jamme, »›Sprache der Phantasie‹. Karl Philipp Moritz’ ästhetische Mythologie«, in: Dieter Burdorf/Wolfgang Schweighard (Hrsg.), Die schöne Verwirrung der Phantasie. Antike Mythologie in der Literatur und Kunst um 1800, Tübingen 1988, S. 45–61, hier S. 45. Moritz, Götterlehre, S. 7. Dass man Moritz keineswegs gewaltsam in eine moderne Schablone presst, wenn man ihm ein verschärftes semiotisches Problembewusstsein attestiert, belegt detailliert Martina Wagner-Egelhaaf, Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration, Stuttgart, Weimar 1997, S. 326–406.

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hat, dass er etwas außer sich bedeutet.«78 Wenige Zeilen weiter wird jedoch darauf hingewiesen, dass die mythologischen Dichtungen »in ihrem großen oder kleinen Umfange die Verhältnisse der Dinge, das Leben und die Schicksale der Menschen ab[spiegeln]«,79 also doch Repräsentationscharakter aufwiesen. Den mythenbildenden Prozess, so wird schon in der Vorrede der Götterlehre klar, konzipiert Moritz als Überlagerung zweier gegenläufiger Bewegungen. Einerseits beschreibt Moritz eine Bewegung der Konkretisierung, der Gestaltwerdung abstrakter Prinzipien hin zur Fassbarkeit: »Weil aber die Phantasie die allgemeinen Begriffe fliehet und ihre Bildungen soviel wie möglich individuell zu machen sucht, so überträgt sie den Begriff der höheren obwaltenden Macht auf Wesen, die sie als wirklich darstellt […]«80 Und an anderer Stelle heißt es: »Es scheint, als müsse die unermessliche Natur sich erst in diese zarten Umrisse schmiegen, um sich selbst zu fassen und wieder umfasst zu werden.«81 Andererseits betont Moritz immer wieder, dass eine endgültige Fixierung die Dichtung zu einer leblosen Repräsentation erstarren lasse: Die »zu große Nähe und Deutlichkeit des Wirklichen« würde dem »dämmernden Lichte der Phantasie schaden«: »Keines der höheren Wesen, welche die Phantasie sich darstellt, ist von Ewigkeit […]. Auch meidet die Phantasie den Begriff der Allgegenwart, der das Leben und die Bewegung in ihrer Götterwelt hemmen würde.«82 Die Kunst solle als Entsprechung der Natur »Leben und Bewegung« widerspiegeln. Wo sie auf Eindeutigkeit festgelegt werde, wo »die Hand […] den Schleier, der diese Dichtungen bedeckt, ganz hinwegziehen will«, werde »das zarte Gewebe der Phantasie« verletzt und man stoße »alsdann statt der gehofften Entdeckungen auf lauter Widersprüche und Ungereimtheiten«.83 Der Bewegung der Konkretisierung wird also die der Verschleierung und gezielten Verwischung entgegengesetzt.84

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Moritz, Götterlehre, S. 9. Ebd. Ebd., S. 10. Ebd., S. 26. Ebd., S. 7. Ebd., S. 8. Zur Tradition von Verschleierungsmetaphorik in Mythoskonzeptionen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit vgl. den Beitrag von Bent Gebert im vorliegenden Band.

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V.

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Entsprechung von Konzept und Form der Götterlehre

Ein Blick auf den Aufbau der Götterlehre zeigt, dass Moritz sein Handbuch selbst als Abbild des mythenbildenden Prozesses gestaltet, »die allgemeinen Begriffe […] soviel wie möglich individuell zu machen«, dabei aber den »weiten Spielraum« nicht einzubüßen, der allein »Leben und Bewegung« widerspiegeln und erzeugen kann. Die Götterlehre beginnt mit einer Art exordium: Hinter das principium der Vorrede setzt Moritz eine invocatio in Form des Goethe’schen Gedichtes »Meine Göttin«, das Phantasie und Hoffnung als die von Jupiter exklusiv dem Menschengeschlecht zugesellten Musen beschwört und damit dem Leser als roten Faden – oder nach Moritz’ Vokabular: »Gesichtspunkt« – mit auf den Weg gibt. Dann folgt als propositio ein Block von drei Kapiteln,85 der die antike Genealogie im Schnelldurchlauf präsentiert und unter die Vorzeichen eines ewigen Kampfes und eines ewigen gegenseitigen Ablösens von Gegensätzlichkeiten stellt.86 Immer wieder expliziert Moritz das Hervorgehen des Gebildeten aus dem Kampf mit dem Unförmigen: Daraus, dass in den mythologischen Dichtungen die Giganten den Göttern entgegengesetzt werden, sieht man, dass die Alten den Göttern keine ungeheure Größe beilegten. Das Gebildete hatte bei ihnen immer den Vorzug vor der Masse […] Gerade die Vermeidung des Ungeheuren, das edle Maß, wodurch allen Bildungen ihre Grenzen vorgeschrieben wurden, ist ein Hauptzug in der Schönen Kunst der Alten. […] Die Phantasie flieht vor dem Grenzenlosen und Unbeschränkten; die neuen Götter siegen, das Reich der Titanen hört auf und ihre Gestalten treten gleichsam in den Nebel zurück […].87

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»Die Erzeugung der Götter«; »Der Götterkrieg«; »Die Bildung der Menschen« (Moritz, Götterlehre, S. 14–34). Leider sind die Quellen, derer sich Moritz für die Götterlehre bedient, bislang unerforscht, was als eines der größten Forschungsdesiderate der Moritz-Philologie gelten muss. Für die ersten drei Kapitel der Götterlehre ist als Hauptquelle Hesiods Theogonie oder eine Übersetzung/Paraphrase derselben anzunehmen. Die einzelnen Episoden Hesiods sind zwar zum Teil umgestellt und immer wieder durch Moritz’ Kommentare unterbrochen, liefern aber inhaltlich und in ihrem Grundgestus von Kampf und Herrschaftsablösung die Basis für Moritz’ Text. Eine für Moritz’ Anliegen der fortschreitenden Eingrenzung und Manifestation abstrakter Größen durch die Dichtung besonders signifikante Umstellung des hesiodschen Stoffes ist die Auskopplung des Prometheus-Stoffes aus der Mitte der um Zeus/Jupiter kreisenden Episoden, um ihn am Ende der Genealogie zu positionieren. Moritz, Götterlehre, S. 20f.

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Es geht Moritz also um den Prozess der Konkretisierung, der besseren Fassbarkeit von zunächst das menschliche Fassungsvermögen sprengenden Vorstellungen durch die Kunst. Den klassizistischen und anthropologischen Strömungen seiner Zeit gemäß, ist der Inbegriff sinnlicher Evidenz für Moritz die gelungene Darstellung des menschlichen Körpers:88 »Es scheint, als müsse die unermeßliche Natur sich erst in diese zarten Umrisse schmiegen, um sich selbst zu fassen und wieder umfasst zu werden.«89 Hier fallen Präsenz und Repräsentation zusammen, die Darstellung der Götter in menschlicher Gestalt lässt sie zugleich sinnlich erfahrbar werden und auf abstrakte Prinzipien verweisen: »Die Morgenröte schimmert in ihrer Pracht, aber die Gesichtszüge des Menschen sind sprechend und bedeutend.« Zugleich aber betont Moritz, wie sich die Mythologie der Festlegung entzieht: »So fürchtet sich in diesen Dichtungen das Mächtigste immer vor noch etwas Mächtigerm. Bei dem Begriff der ganz unumschränkten Macht hingegen hört alle Dichtung auf, und die Phantasie hat keinen Spielraum mehr.«90 Ebenso wenig wie sich das völlig Unförmige vom Menschen erfassen lässt, kann bei Moritz eine simple Eindeutigkeit bedeutend sein. Damit die Kunst nicht zum toten Zeichen erstarrt, codiert er das bedrohliche Chaos immer wieder positiv um: So wie man sich unter dem Reiche der Titanen […] noch das Grenzenlose, Chaotische, Ungebildete dachte, worauf die Einbildungskraft nicht haften kann, so verknüpfte man doch wieder mit dieser Vorstellung von dem Ungebildeten, Umherschweifenden und Grenzenlosen, das keinem Zwange unterworfen ist, den Begriff von Freiheit und Gleichheit, der unter der Alleinherrschaft des einzigen, der mit dem Donner bewaffnet war, nicht stattfinden konnte.91

In diesem Zusammenhang erklären sich auch die beiden Titelkupfer, die Moritz dem Werk voranstellt: In dem hier beigefügten […] Umriß heben die mächtigen Söhne der Erde, unter Jupiters Donnerwagen zu Boden gestreckt, dennoch gegen ihn ihr drohendes Haupt empor. Macht ist gegen Macht empört – einer der erhabensten Gegenstände, die je die bildende Kunst benutzte.92

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Vgl. zu Herder, Winckelmann, Goethe und Moritz: Helmut Pfotenhauer, »Gemeißelte Sinnlichkeit. Herders Anthropologie des Plastischen und die Spannungen darin«, in: Um 1800, S. 79–102, hier S. 91–94. Moritz, Götterlehre, S. 26. Ebenso das folgende Zitat. Ebd., S. 24. Ebd., S. 21. Ebd., S. 20.

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Das Gebildete besiegt das Unförmige, jedoch nur vorläufig. Auch auf höherer Ebene wird fixiert und zugleich entgrenzt: Der Kampf gegensätzlicher Prinzipien wird durch die Kunst im Bild gebannt, der Bildinhalt jedoch widerspricht mit seiner Botschaft von ewiger Dynamik der formalen Endgültigkeit des Kupferstichs. Der zweite Stich zeigt Saturn und verdichtet damit das Motiv gegensätzlicher Prinzipien in einer Gestalt: »Saturnus, der seine eigenen Kinder verschlang«, gilt Moritz als Sinnbild der »alles zerstörenden Zeit« und des »alles verschlingenden Chaos«.93 Zugleich ist er Patron des »Goldenen Zeitalters«, einer in ihrem zyklischen Verlauf der ewig »vorüberrollenden Jahre« stillstehenden Zeit vor Beginn der Ereignisgeschichte, die nichts von »blutigen Kriegen, zerstörten Städten und unterjochten Völkern« weiß.94 Moritz kommentiert: »Diese Dichtung ist vorzüglich schön wegen des Überganges vom Kriegerischen und Zerstörenden zum Friedlichen und Sanften.«95 Das »Goldene Zeitalter« jedoch ist auch von »Vergessenheit« gekennzeichnet.96 In seinem altertumskundlichen Werk zur römischen Festkultur, der Anthusa von 1791, wird Moritz deutlicher: Die »Jahre [… rollen] friedlich dahin« und sinken »in Vergessenheit, ohne irgendeine Spur […] zurück zu lassen«. Sie sind dabei »so leer von allen dem […], was man große Ereignisse nennt«, dass man sich äußerst »ungern […] in ein solches Zeitalter […] wirklich zurück versetzt haben würde.«97 Die Dichtung über Saturn hält Moritz, so darf man das obige Zitat ergänzen, nicht nur für »vorzüglich schön wegen des Überganges« sondern vor allem wegen des Zugleich von »Kriegerische[m] […] und Friedlichem«, von Dynamischem und Fixiertem.98 Der Hauptteil der Götterlehre, die narratio nach der oben bemühten Terminologie der rhetorischen partes orationis, vollzieht nun vollends die gegenläufigen Bewegungen von fixierender Bildung und entgrenzender Verwischung 93 94 95 96 97

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Ebd., S. 21 und 16. Ebd., S. 21 und 33. Ebd., S. 22. Ebd., S. 33. Karl Philipp Moritz, Anthusa oder Roms Alterthümer. Ein Buch für die Menschheit, in: Sämtliche Werke. Kritische und kommentierte Ausgabe. Anneliese Klingenberg/Albert Meier/Conrad Wiedemann/Christof Wingertszahn (Hrsg.), Bd. 4/1: Schriften zur Mythologie und Altertumskunde, Tübingen 2005, S. 150. Ähnliche Kontrastüberlagerungen beschwört Moritz mit dem Bild der CestiusPyramide, das er als Titelvignette für die Anthusa wählt, als Ort der wechselseitigen Durchdringung von Leben und Tod, Natur und Kunst, Freude und Trauer, Gegenwart und Vergangenheit. In seinen Worten: »[…] es [kann] nicht leicht einen Ort geben, wo die Extremen sonderbarer aneinander grenzen« (Moritz, »Reisen eines Deutschen in Italien«, S. 522).

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nach. Dem Kapitel »Die Nacht und das Fatum, das über Götter und Menschen herrscht«, das im konturlosen »geheimnisvollen Dunkel«, dem »Gebiet der Nacht und der öden Schattenwelt« die Geheimnisse von Leben und Tod dem »Blicke der Sterblichen entzieht«,99 folgt das Kapitel »Die alten Götter«, in dem die vorolympischen Gottheiten vorgestellt werden: »Durch diese Dichtungen knüpfte die leblose Natur sich näher an die Menschen an, und man dachte sich gleichsam näher mit ihr verwandt.«100 Im Kapitel »Jupiter, der Vater der Götter« wird weiter konkretisiert: Während bei der Darstellung der alten Götter »die Phantasie der Dichter mit lauter großen Bildern [spielt]« – »es sind die großen Erscheinungen der Natur: der Himmel und die Erde, das Meer, die Morgenröte […]« – treten die neuen Göttergestalten »aus dem Nebel dieser Erscheinungen […] im Sonnenglanz hervor«.101 Der Eintritt der Menschen in die historische Zeit, den das Kapitel »Die neue Bildung des Menschengeschlechts« schildert, ermöglicht die anthropomorphe Gestaltwerdung der olympischen Götter im folgenden Kapitel, »Die menschenähnliche Bildung der Götter«:102 [F]ür die Phantasie [ist] der tröstliche Umriß einer Menschenbildung das sichere Steuer, woran er auf dem großen Ozean der Erscheinungen sich festhält. […] [U]nd gleichwie in dem hohen aufrechten Körperbau des Menschen die Festigkeit des Eichenstammes sich mit der Biegsamkeit des zarten Halmes verknüpft, so verband sein schöpferischer Genius auch mit der Stärke des tobenden Elements und mit der Majestät des rollenden Donners die Züge der redenden Menschenlippe, die winkenden Augenbrauen und das sprechende Auge.103

In der Mitte des Buches findet sich im Kapitel »Die heiligen Wohnplätze der Götter unter den Menschen« die Schnittstelle, an der sich Dichtung und Wirklichkeit berühren. Eine solche separate Aufzählung der für die Mythologie relevanten Orte gibt es in keinem der gattungsverwandten Werke. Folgt Moritz mit der Reihung der älteren und neueren Gottheiten einer durchaus gängigen Darstellung chronologischer und hierarchischer Ordnung der antiken Genealogie,104 so unterscheidet allein die Existenz dieses Kapitels seine 99 100 101 102 103 104

Moritz, Götterlehre, S. 34, 35, 38 und 35. Ebd., S. 42 und 58. Ebd., S. 59. Ebd., S. 65 und 71. Ebd., S. 71. In der überarbeiteten Auflage von Damm etwa werden zunächst die »höheren Gottheiten«, dann die »unteren Gottheiten« und schließlich die Heroen und mythologischen Erzählungen abgehandelt: vgl. Tobias Christian Damm, Einleitung in die Götterlehre und Fabelgeschichte der alten Griechischen und Römischen Welt. Neue völlig umgearbeitete Auflage, Berlin 1786. Auch Ramler sortiert nach Ordnung, Würde und Bekanntheitsgrad und hängt einen Teil über Allegorien an: vgl. Ramler, Kurzgefaßte Mythologie.

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Götterlehre eklatant von allen anderen mythologischen Handbüchern! Es geht um »Ruhepunkte, worauf [die Einbildungskraft] sich heften« könne,105 um Begegnungsstätten mit den Phantasiegeschöpfen, wie etwa im Lemma über Olympia beschrieben: »Hier senkte sich die erhabene Idee von dem Olympischen Jupiter durch die bildende Kunst des Phidias vom Himmel zur Erde nieder.«106 In den Kultstätten, religiösen Gebräuchen und Götterbildern manifestiere sich die »Religion der Phantasie« zu einer »Weihung des würklichen Lebens«.107 Danach führt der Text von der Menschenwelt im Kapitel »Das götterähnliche Menschengeschlecht« über »Die Wesen, welche das Band zwischen Göttern und Menschen knüpfen« und die Heldenmythen im Kapitel »Die Lieblinge der Götter« wieder in das Reich der Dichtung (»Die tragischen Dichtungen«) und schließlich in »Die Schattenwelt«,108 zu »schwankenden Begriffe[n]«, zu den »Ideen des Aufhörens und Verschwindens«.109 Den fünf Kapiteln, die aus der konturenlosen Nacht in fortschreitender Gestaltwerdung zur menschlichen Wirklichkeit führen, entsprechen also spiegelsymmetrisch fünf Kapitel, die den Leser nach und nach wieder ins konturenlose, ungreifbare Dunkel führen. Doch schon der Konkretisierungsbewegung der ersten Hälfte ist bereits eine gegenläufige Bewegung der Zerstörung eingeschrieben: Moritz interpretiert die vatermörderische Genealogie der Antike unter dem Begriff des Verjüngens. Uranos wird von seinem Sohn Saturnus entmannt, dieser wiederum wird zusammen mit den anderen Titanen durch Jupiter unterworfen. Dabei sind »durch die alten Gottheiten […] die neuen gleichsam vorgebildet«.110 Das Erhabene und Göttliche, was immer schon da war, läßt die Phantasie in neuer und jugendlicher Gestalt […] wiedergeboren werden […]. Weil demohngeachtet aber sich die Phantasie an keine bestimmte Folge ihrer Erscheinungen bindet, so ist oft eine und dieselbe Gottheit unter verschiedenen Gestalten mehrmal da […], die sich ihrer Ähnlichkeit wegen ineinander labyrinthisch verflochten haben.111

Moritz spricht vom »Reiz des Fabelhaften in dieser dunkeln Verwebung«.112 Indem die Götter eindeutiger werden im Sinne einer klareren Konturierung ihrer Gestalt, werden sie zugleich mehrdeutig, denn die jüngste Version trägt ihre Vorläufer wie zitiert in labyrinthischer Verflechtung in sich weiter. 105 106 107 108 109 110 111 112

Moritz, Götterlehre, S. 136. Ebd., S. 142. Moritz, Anthusa, S. 9. Moritz, Götterlehre, S. 149, 221, 243, 253 und 285. Ebd., S. 285 und 286. Ebd., S. 42. Ebd., S. 43. Ebd.

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Das Paradox zeigt sich besonders in der Mitte des Buches bei der Behandlung der heiligen Stätten. Das Wort »hier«, das Präsenz beschwört und die Möglichkeit zur Teilhabe der Menschen an der von ihnen selbst geschaffenen Dichtung in Aussicht stellt, findet sich in nahezu jedem Lemma. Zugleich wird genau an dieser Stelle, und zwar im unauffälligen und doch so bedeutsamen Absatz über Delphi, das Bewusstsein der willkürlichen Gesetztheit, also die Negierung jeder Präsenzerfahrung, unbarmherzig formuliert. Die Ratsuchenden in Delphi, denen der Blick in das Heiligtum verwehrt war, würden sich diese Täuschung ungern haben nehmen lassen, wenn einer auch den Vorhang hätte wegziehen wollen. […] Und die Täuschung der ganzen Szene, worin sich der zweideutige Ausspruch [der Pythia] hüllte, war doch dichterisch schön.113

In der Kollision gegensätzlicher Wertungen vollzieht Moritz eine doppelte Umcodierung: An den realen Orten der Dichtung wird augenfällig, dass es die Evidenz der Dichtung nicht gibt, aber genau das Bewusstsein dieser Täuschung wertet Moritz als eine Evidenz auf übergeordneter Ebene. Das Vertrauen wider besseres Wissen in das mehrdeutige Orakel ist selbst »dichterisch schön«. Der delphische Leitspruch »Erkenne dich selbst!« gewinnt vor diesem Hintergrund eine besondere Tiefe.114 Die entrealisierende Bewegung von der Menschenwelt in die Dichtung in den letzten Kapiteln läuft schließlich parallel zu einer Konkretisierung der einzelnen Figuren, die im Gegensatz zu den sich immer stärker überlagernden Göttergestalten des ersten Teils wieder stärker mit ihrem Namen an ihre Geschichte gebunden sind. Die Helden des »Götterähnlichen Menschengeschlechts« und die »Lieblinge der Götter« vervielfachen sich nicht durch Verjüngung.115 Die »Wesen, welche das Band zwischen Göttern und Menschen knüpfen«,116 die Genien, Musen, Grazien und Penaten sind einzelnen Menschen oder Bereichen klar zugeordnet. Die Protagonisten der »Tragischen Dichtungen« sind in diesen Dichtungen fixiert, ihr Leben endet nach dem vorgeschriebenen Verlauf ihrer Lebensgeschichte.117 Schließlich erfährt Aeneas ausgerechnet in der »Schattenwelt«,118 die Gestalt und somit auch 113

Ebd., S. 141. Gnothi Sauton ist auch der Obertitel von Karl Philipp Moritz’ berühmtem Projekt eines Magazins für Erfahrungsseelenkunde, das sich in psychologisch-anthropologischer Perspektive nicht zuletzt den vielfachen Brechungen der menschlichen (Selbst-)Täuschung zuwendet. 115 Moritz, Götterlehre, S. 149 und 243. 116 Ebd., S. 221. 117 Ebd., S. 253. 118 Ebd., S. 285. 114

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Evidenz auslöschen müsste, die Präsenz ewiger Geheimnisse, die in der wirklichen Welt niemals evident werden können: »Hier war es auch, wo Äneas seinen Vater Anchises fand, welcher ihn über Geburt und Tod, über Werden und Vergehen geheimnisvolle Dinge lehrte und die dunkle Zukunft vor seinem Blick enthüllte.«119 Die Götterlehre ist also als mehrfache Überlagerung gegenläufiger Bewegungen konstruiert. In dieser Dynamik und in der Paradoxalität der zentralen Passagen wird sie zum Abbild des mythenbildenden Prozesses, wie ihn die Vorrede definiert. Die Götterlehre selbst soll Präsenz repräsentieren, genau wie die Mythen, die sie referiert, und sie kann dies nur in Ablösung und Überblendung von Gegensätzen.

VI. Repräsentationen von Präsenz Neben den komplexen Überlagerungen in der Anlage des Werkes spiegelt Moritz’ Beschreibung der Gottheiten seine Konzeption von Evidenz als Paradox: Bei jeder einzelnen Gottheit hebt Moritz die Vereinigung von Elementen der Bildung und Zerstörung in einer Gestalt hervor,120 eine Synthese, die häufig in sich schon explosiv ist, dann aber wiederum durch die Gegenüberstellung einer weiteren Gottheit aus ihrer kurzen Verabsolutierung gerissen wird.121 Selbst auf Absatz- und Satzebene wird Einheit gestiftet und wieder aufgebrochen, Gegensätze gegeneinander ausgespielt, die dann doch zur Synthese gebändigt werden, um im nächsten Schritt diese Synthese selbst wieder als einen Pol eines Gegensatzpaares zu positionieren. Über Mars, dessen »Persönlichkeit und Bildung« den »Begriff des Wilden und Ungestümen, das […] Wagen zertrümmert, Helme zerschellt […] und über der grauenvollen Verwüstung triumphiert«, mildern könne, heißt es: »Demohngeachtet verliert sich zuweilen in den Dichtungen die menschenähnliche Bildung des Mars wieder in den Begriff des streitenden Heeres.« Gerade die »Unbeständigkeit des Mars« (auch im Bezug auf seine Gestaltung) mache ihn zum »Begriff des Krieges selber«, allerdings sei er »gleich119 120

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Ebd., S. 288f. Das diagnostiziert und belegt zuerst Hans Joachim Schrimpf, »Die Sprache der Phantasie. Karl Philipp Moritz’ Götterlehre«, in: Herbert Singer/Benno von Wiese (Hrsg.), Festschrift für Richard Alewyn, Köln, Graz 1967, S. 165–192, hier S. 183f. Der letzte Satz im Lemma über die Venus bezeichnet dieselbe als »alles besiegende Göttin«, der erste Satz im folgenden Lemma über Diana beginnt mit: »Drei himmlische Göttinnen sind über die Macht der Venus erhaben […]« (Moritz, Götterlehre, S. 101).

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sam um seiner selbst willen da«, keinesfalls also als vermittelndes Zeichen zu verstehen.122 Im Lemma über Minerva, die Göttin der Kunst, ist die Verbindung von Bildung und Zerstörung besonders paradigmatisch:123 »Dass in Minervens hoher Götterbildung […] das ganz Entgegengesetzte sich zusammenfindet, macht eben diese Dichtung schön, welche hier gleichsam zu einer höheren Sprache wird.«124 Verkörperungen von Moritz’ Mythos-Konzept sind auch die beigefügten Kupferstiche von Carstens und die eingestreuten Goethe-Gedichte und Passagen der Iphigenie. Sie liefern nicht Verweise auf die antiken Trägertexte und bildlichen Darstellungen des mythologischen Stoffes, die historische Echtheit verbürgen könnten, sondern werden in ihrer Autonomie als eigenständige Kunstwerke gewürdigt: »In das Gebiet der Phantasie […] soll uns ein Dichter führen, der ihr Lob am wahrsten gesungen hat.«125 Sie sollen dem Text nicht illustrativ zur Seite stehen, sondern sich selbst nach dem Prinzip des Verjüngens das antike Material produktiv anverwandeln.126 Zugleich sind sie Sinnbilder und somit doch wieder Repräsentationen des ganzen Unternehmens, besonders die bereits erwähnten Titelkupfer und das als Musenanruf verwendete Eingangsgedicht. Darüber hinaus brechen die eingefügten Kunstwerke den kunstvoll gestalteten Textverlauf der Mythologie auf und verhindern damit seine endgültige Fixierung und Erstarrung. Andersherum werden auch sie, indem sie in diesen vielschichtigen Kontext gestellt werden, vor einer eindeutigen Auslegung bewahrt. Das wechselseitige In-Frage-Stellen der Elemente der Götterlehre entspricht also der dynamischen Spannung von Moritz’ Mythos-Konzept.

VII. Moritz’ Standpunkt zwischen Aufklärung und Frühromantik Die Sehnsucht nach Klarheit und Rationalität führt in der Aufklärung zu einer historischen und anthropologischen Deutung aller Mythologie. Der Religionswissenschaftler Charles de Brosses, David Hume in seinen Schrif122 123

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Ebd., S. 95f. Zu den problematischen rezeptionsästhetischen Konsequenzen von Moritz’ ambivalentem Minerva-Entwurf vgl. Schneider, »Kunstautonomie als Semiotik des Todes?«, S. 169f. Moritz, Götterlehre, S. 92. Ebd., S. 11. Zu der Präsentation von Carstens’ Stichen vgl. Ulrike Münter, »Gebannter Bilderrausch. Bild und Text in Karl Philipp Moritz’ Götterlehre«, in: Tintemann/ Wingertszahn (Hrsg.), Karl Philipp Moritz in Berlin, S. 39–56.

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ten zur Naturreligion und in Deutschland Johann Gottfried Herder entwickeln unter dem aufklärerischen Topos der Entsprechung von Onto- und Phylogenese die teleologische Interpretation: Einer barbarischen Kindheitsstufe der Völker entspreche die Verehrung sinnlicher Gegenstände und die polytheistische Naturreligion. Moritz nimmt diese anthropologischen Argumente auf. Indem er sie jedoch unter dem Primat der Evidenz verwendet und Mythos radikal mit Kunst gleichsetzt, verlieren sie ihre teleologische Stigmatisierung des längst Überkommenen. Vielmehr adeln sie die autonome Kunst durch die proklamierte Natürlichkeit ihres Ursprungs. Der klassizistischen Kunstauffassung entsprechend, verkörpern die anthropomorphen Göttergestalten der Antike durch ihre klare Bildung und ihr Maß vorbildhaft die sinnliche Evidenz der Kunst. Moritz’ Götterlehre soll in ihrem Aufbau wie beschrieben diese Gestaltwerdung nachvollziehen. Da Moritz jedoch eine totale Evidenz vom Kunstwerk fordert, wird es zu einer Utopie: Ein Zeichen ohne Zeichencharakter, eine Eindeutigkeit durch Mehrdeutigkeit, eine Bildung durch Zerstörung, eine Ewigkeit durch Verjüngen. Auch diesen Anspruch soll die Götterlehre im Kleinen wie im Großen performativ abbilden. Diese paradoxale Konzeption von Kunst und Mythos wiederum erweist sich für die Dichter der Frühromantik als anschlussfähig. Friedrich Schlegel schreibt in seiner »Rede über die Mythologie«: »Die höchste Schönheit, ja die höchste Ordnung ist denn doch nur die des Chaos […], eines solchen, wie es auch die alte Mythologie und Poesie waren. Denn Mythologie und Poesie, beide sind eins und unzertrennlich […]« Und etwas später folgt die Frage: »Warum wollt ihr Euch nicht erheben, diese herrlichen Gestalten des Altertums neu zu beleben?«127 Ordnung als Chaos ist eines von Moritz’ Paradoxa und die Forderung nach einer »Neuen Mythologie« folgt der von ihm analysierten Logik der Verjüngung. Auch Schellings Definition der Mythologie als »vollkommene Verendlichung des Unendlichen«128 zeigt, dass Moritz’ paradoxale Mythos- und Kunstkonzeption am Anfang einer Moderne steht, die ohne einheitliche übergeordnete Ordnung Bedeutung generiert und wieder verwirft und allein in diesem unabschließbaren Prozess eine Konstante findet, die sowohl Halt als auch Verlassenheit erzeugt.

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Friedrich Schlegel, »Rede über die Mythologie«, in: Kritische Schriften und Fragmente. Studienausgabe in sechs Bänden. Ernst Behler/Hans Eichner (Hrsg.), Bd. 2, Paderborn 1988, S. 201–208, hier S. 202. Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, »Philosophie und Religion«, in: Schellings Werke. Manfred Schröter (Hrsg.), Bd. 4: Schriften zur Philosophie der Freiheit 1804–1815, München 1927, S. 1–60, hier S. 57.

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VIII. Ausblick: Evidenz als Kategorie der Psychologie – Die Gattung der Fallgeschichte Moritz gibt von 1783 bis 1793 das Magazin für Erfahrungsseelenkunde heraus, die erste große Zeitschrift der sich gerade erst formierenden Psychologie. Sie bedient sich auf breiter Basis der Gattung der Fallgeschichte und schafft dadurch eine empirische Grundlage der Psychologie – im Gegensatz zu philosophischen Erklärungsmodellen des Menschen. Das Magazin zur Erfahrungsseelenkunde solle als genuin anthropologisches Projekt »einmal ein allgemeiner Spiegel werden, worin das menschliche Geschlecht sich beschauen könnte«. Die Konzeption der nebeneinander gestellten Fallstudien ist einerseits in der Hoffnung entworfen, dass »nach und nach eingesandte Fakta« sich »vielleicht von selber fügen« und ein »größeres Ganzes« erkannt werden könne, andererseits trage jeder Fall das Ganze auch schon in sich. Der Erfahrungsseelenkundler solle »der Versuchung widerstehen, Reflexionen einzuweben«, die Fälle und ihr angenommener Zusammenhang sollten sich gleichsam aus sich selbst heraus erklären.129 Das reziproke Verhältnis von Teil und Ganzem und der Anspruch der unvermittelten Erkenntnis entsprechen den Forderungen, die Moritz auch an Kunst und Mythologie stellt. Darüber hinaus ist die Kategorie der Erinnerung im Magazin konstitutiv, sowohl die individuelle Erinnerung für die Einzelbeiträge, die häufig von Selbstbeobachtung und Kindheitserinnerung ausgehen, was ausdrücklich gefordert und reflektiert wird, als auch die kollektive Erinnerung für das Gesamtkonzept, das vorsieht, die »Erfahrungen unseres Wesens [zu] sammeln, und es für die Denker und Forscher auf[zu]bewahren«.130 Auch hier trifft die Erfahrungsseelenkunde von Moritz mit seiner Mythoskonzeption zusammen, in welcher der Begriff der Gattung Erkenntnisgewinn in der Rückbesinnung verspricht.131

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Karl Philipp Moritz, »Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungsseelenkunde«, in: Werke in zwei Bänden. Bd. 1: Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde, Frankfurt a. M. 1999, S. 793–809, hier S. 797. Karl Philipp Moritz, »Ueber den Endzweck des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde«, in: Ders. (Hrsg.), Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, Bd. 8/1, Berlin 1791, S. 1–5, hier S. 3. Becker zieht diese Parallele, wenn er über die Götterlehre schreibt, sie sei »ein Versuch, die Menschheitsgeschichte zu bewältigen«: »Erinnerung ist Therapie, Phantasie bedeutet Hoffnung« (Jochen Becker, »›Trösterin Hoffnung‹. Zu Moritz Götterlehre, in: Fontius/Klingenberg, Karl Philipp Moritz und das 18. Jahrhundert, S. 237–247, hier S. 246).

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In Moritz’ Mythologie finden sich somit Analogien zu anthropologischen Fragestellungen, während er zugleich anthropologische Fragen in struktureller Hinsicht verhandelt, wie es seine Kunsttheorie für die Mythologie fordert, nämlich unter dem Postulat der Evidenz. Auch wenn dieser Aspekt noch der eingehenden Untersuchung bedarf, so ist der hier aufscheinende Konnex von Psychologie, Mythologie und Kunst ein interessanter Umstand, vor allem unter der Berücksichtigung der Rezeption von Magazin und Götterlehre. In beiden Fällen währt sie auf breiter Basis etwa hundert Jahre, also exakt bis in die Zeit, in der Freud Psychologie und Mythologie auf spezifische Weise verknüpft und damit auf ein neues Reflexionsniveau hebt.

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Stefan Matuschek

Stefan Matuschek (Jena)

Mythologisieren: Der doppelte Bezug zum Mythos als literarisches Darstellungsmuster

Die Beiträge dieses Bandes zielen auf das Überschneidungsfeld von Mythos und Literatur, insbesondere auch von Mythostheorie und Literaturreflexion. Mein Beitrag will auf diesem Feld einen bestimmten Zusammenhang von Theorie und Praxis, genauer: von Mythosverständnis und literarischen Darstellungsverfahren zeigen. Meine These lautet: Das Mythosverständnis der Aufklärung bringt ein neues Muster literarischer Darstellung hervor, in der sich aufklärerische Mythos-Kritik mit neuer Mythisierung zu einer eigenen Qualität verbindet. Diese eigene Qualität bezeichne ich mit dem Ausdruck ›Mythologisieren‹. Es definiert sich durch den doppelten Bezug zum Mythos, durch die Gleichzeitigkeit von Mythenkritik und Mythenproduktion, von aufgeklärter Distanz zum Mythos und produktiver Hingabe an ihn. Was so entsteht, ist eine literarische Form, die auf der rationalen Unterscheidung von Geschichte und Mythos basiert und dennoch mythische Figuren zur Geschichtsdarstellung und -deutung heranzieht. Im ersten Schritt werde ich das Verfahren des Mythologisierens genauer beschreiben, im zweiten erläutern, inwiefern es ein Kind der Aufklärung ist.

I.

Mythologisieren vs. Mythisieren

Etwas ›mythisieren‹ heißt etwas ›zu einem Mythos machen‹, also zu einer nicht überprüfbaren sinngebenden Erzählung. Im Spannungsverhältnis zur Geschichtsschreibung lässt sich dieser Vorgang erfassen, indem man das historisch Verifizierbare von den literarischen oder anderen künstlerischen Zugaben der Überlieferung, Darstellung und Deutung sondert. Das wird nicht immer bis ins Letzte möglich sein, und die wissenschaftliche Historiographie hat sich in den vergangenen Jahren ausführlich mit ihren eigenen literarischen und auch in der Tendenz mythisierenden Qualitäten befasst. Die grundsätzliche Unterscheidbarkeit von historischen Ereignissen und mythischen Konstruktionen ist damit aber nicht verloren. Es kommt darauf an, das jeweilige Verhältnis von historischem Wissen und literarischer oder

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anderer Deutung zu sehen.1 Die Ausstellungsprojekte, die im Jahr 2009 die 2000-Jahr-Feier der Varusschlacht zelebrierten, zielten genau darauf. Sie setzten das archäologisch Verifizierbare neben den germanisierenden Erinnerungskult.2 Nur so wird der Mythisierungsprozess greifbar. Dass Mythisierungen heute nicht mehr vordringlich als Angriffsfelder der Ideologiekritik, sondern als konstruktive Elemente der politischen Kultur gesehen werden, hat mit der kulturwissenschaftlichen Integration der Geisteswissenschaften zu tun. Denn Mythisierungen sind ein Paradefall, um die Begegnung von Hoch-, Alltags- und Massenkultur, von Politik, Geschichtsschreibung, Publizistik, Dichtung, den verschiedenen Künsten, der Architektur, der Gebrauchskunst, der Gedenk- und Festkultur zu studieren. So offenbart sich eine Funktionsvielfalt, die nicht per se des Unheils verdächtig ist. Bei aller sachlichen Distanz zum Germanenmythos wurde in den Ausstellungen zur Varusschlacht auch dessen »Ordnungs- und Integrationsfunktion« gesehen. Wer heute von politischen Mythen spricht, will nicht überall die Propagandalüge und die Mobilmachung des Irrationalismus entlarven, sondern – um es mit dem »Mythos Varusschlacht«-Katalog zu sagen – einen »zentralen Bestandteil der politischen Kultur« analysieren, den »jedes politische Gemeinwesen, auch demokratische Gesellschaften« benötigen.3 Dennoch haftet der Mythisierung der Makel des Unwahren an. Auch wenn man sie als politische Realität oder sogar notwendigen Teil der politischen Kultur ansieht: Im Vergleich zur Historiographie steht sie als bloße Erfindung, wenn nicht Verfälschung da. Mythisieren ist Abkehr vom Wissen-Wollen. Wer mythisiert, forscht nicht, wie es war, sondern stellt es sich so vor und malt es so aus, dass es für ihn selbst und für andere einen Sinn ergibt. Verschiedenste Interessen können ihn dabei antreiben, nur nicht dasjenige, etwas genau wissen zu wollen. Wo es an Wissen fehlt, können Mythisierungen eintreten, mit der Konsequenz, dass sie die Wissenslücken verdecken. Mythisieren steht damit antonym zu Aufklären. Es bezeichnet den Gegenimpuls, Gegenaufklärung durch suggestive Geschichten. Nun ist, wie die wissenschaftliche Diskussion seit langem weiß, das Schema Aufklärung – Gegenaufklärung zu einfach, um die Präsenz des My1

2 3

Vgl. dazu Daniel Fulda/Stefan Matuschek, »Literarische Formen in anderen Diskursformationen: Philosophie und Geschichtsschreibung«, in: Simone Winko/ Fotis Jannidis/Gerhard Lauer (Hrsg.), Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen, Berlin, New York 2009, S. 188–219. Vgl. Landesverband Lippe (Hrsg.), 2000 Jahre Varusschlacht. Mythos, Stuttgart 2009. Vgl. den Beitrag »Zur Definition, Vermittlung und Funktion von politischen Mythen« von Heidi Hein-Kircher in: 2000 Jahre Varusschlacht. Mythos, S. 149–154, hier S. 153.

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thischen in der modernen Gesellschaft zu fassen. Ich möchte hier einen terminologischen Vorschlag machen, der das Schema differenziert, und zwar mit dem Ausdruck ›Mythologisieren‹. Dieser Ausdruck ist umständlicher und damit im Vergleich zum ›Mythisieren‹ nicht so einsinnig. Er enthält in sich die Spannung, die den Mythos zum Gegenstand der Kritik macht, die Spannung zwischen der mythischen und der logischen Denk- und Redeweise, zwischen dem Erzählen von nicht überprüfbaren Geschichten und dem überprüfbaren, argumentierenden Reden. Das Wort ›Mythologie‹ wird hauptsächlich in zwei Bedeutungen gebraucht: als Ausdruck für den Gesamtbestand von Mythen eines bestimmten Kulturkreises (so sprechen wir von der ›griechischen Mythologie‹ und so wollte Jacob Grimm eine ›deutsche Mythologie‹ rekonstruieren) oder zur Bezeichnung der Theoriebildung über den Mythos und die Mythen (analog den Kompositumsbildungen wie Kosmologie oder Biologie). Allerdings ist der Übergang fließend, und auch die Unterscheidung von Mythos und Mythologie verschwimmt im Gebrauch. Viele einschlägige Lexika verzichten deshalb auf differenzierende Einträge und fassen alles in eins.4 Wenn ich hier dennoch eine Unterscheidung von ›Mythisieren‹ und ›Mythologisieren‹ vorschlagen möchte, dann beziehe ich mich nicht auf die üblichen Bedeutungen von ›Mythologie‹, nicht auf den Gesamtbestand oder die Theoriebildung. Es geht mir vielmehr darum, dass der Ausdruck ›Mythologie‹ zweigliedrig ist und damit zwei verschiedene Denk- und Redeweisen zugleich markiert. Auf diese Duplizität kommt es an. Das Kompositum aus Mythos und Logos soll auf das Nebeneinander zweier unterschiedlicher Haltungen verweisen: die Hingabe an den Mythos und die gleichzeitige Distanzierung und Reflexion aus einer alternativen Denk- und Redeweise heraus. Genau so möchte ich ›Mythisieren‹ und ›Mythologisieren‹ unterscheiden: Das erste meint den einfachen, das zweite einen doppelten Bezug zum Mythos. Das zweigliedrige Wort steht für eine zweifache Tätigkeit. Es bezeichnet, wie das Duden-Wörterbuch sagt, das »Darstellen in mythischer Form«,5 aber, so möchte ich präzisieren, ein solches, das die mythische Form zugleich relativiert. Ein Beispiel: Wenn jemand in seiner Autobiographie die glückliche Wendung seiner schwierigen Geburt den Planeten mit ihren göttlichen Namen zuschreibt, kann man sagen, dass er seine Geburt mythisiere. ›Die Freund4

5

Vgl. z. B. den Artikel »Mythos, Mythologie« in: Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Basel 1984, Sp. 281–318 und den Artikel »Mythos/ mythisch/Mythologie« in: Karlheinz Barck (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 4, Stuttgart, Weimar 2002, S. 309–346. Dudenredaktion (Hrsg.), Duden. Deutsches Universalwörterbuch. 4., neu bearbeitete und erweiterte Aufl., Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich 2001, S. 1113.

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lichkeit von Jupiter und Venus haben mich gerettet‹: Ein solcher Satz macht die Geburtserzählung zum Mythos. Etwas anderes ist es, wenn man diese mythisierende Erklärung anbietet und zugleich durch eine medizinische relativiert. So macht es Goethe zu Beginn seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit: Am 28. August 1749, Mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt. Die Konstellation war glücklich; die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau, und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, Merkur nicht widerwärtig; Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig: nur der Mond, der so eben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war. Er widersetzte sich daher meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis diese Stunde vorübergegangen. Diese guten Aspekten, welche mir die Astrologen in der Folgezeit sehr hoch anzurechnen wußten, mögen wohl Ursache meiner Erhaltung gewesen sein: denn durch Ungeschicklichkeit der Hebamme kam ich für tot auf die Welt, und nur durch vielfache Bemühungen brachte man es dahin, daß ich das Licht erblickte. Dieser Umstand, welcher die Meinigen in große Not versetzt hatte, gereichte jedoch meinen Mitbürgern zum Vorteil, indem mein Großvater, der Schultheiß Johann Wolfgang Textor, daher Anlaß nahm, daß ein Geburtshelfer angestellt, und der Hebammenunterricht eingeführt oder erneuert wurde; welches denn manchem der Nachgebornen mag zu Gute gekommen sein.6

Die astrologisch-mythische und die medizinisch-reale Erklärung stehen hier nebeneinander. Und es ist keine Frage, welche von beiden als die eigentliche gelten soll. Der Modus der Verben stellt es klar: Die astrologische Erklärung verwischt sich im Konjunktiv (»mögen wohl«); der Hinweis auf die Hebamme bezeichnet dagegen indikativisch, worum es tatsächlich geht: nicht um die Gunst der Sterne, sondern um das praktische Geburtshelferwissen. Hier erzählt jemand so von seiner Geburt, als gehörte er zugleich zur Fachaufsicht, die für die medizinischen Begleitumstände dieses Vorgangs Verantwortung trägt. Es ist der diesem Autor eigene ministerielle Blick, der sich auf die eigene Lebensgeschichte zurückwendet. Er ist von aufgeklärtem, praxisorientiertem Realismus geprägt. Dass Jupiter und Venus auf seine Geburt einwirkten, glaubt er nicht ernsthaft. Der himmlische Auftakt ist deshalb kein Bekenntnis zur Astrologie. Er ist vielmehr ein literarisch-ästhetisches Verfahren, ein »Darstellen in mythischer Form«, das sich sogleich durch die andere, realistische Darstellung relativiert. Es dient hier dazu, die eigene Existenz über das faktisch Verifizierbare hinaus in die Aura schicksalhafter Begünstigung zu erheben. Diese Aura bleibt bestehen, auch wenn sich der 6

Johann Wolfgang von Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, in: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Klaus-Detlef Müller (Hrsg.), 1. Abt., Bd. 14, Frankfurt a. M. 1986, S. 15.

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Blick dann zu den medizinischen Realien wendet. »Die Konstellation war glücklich«: Das sagt hier nicht der fromme Augenaufschlag eines Sternengläubigen, sondern das Selbstbewusstsein eines Menschen, der sich für schicksalhaft begünstigt hält. So ergibt sich ein doppelter Bezug zum Mythos: Er wird zum einen durch das aufgeklärte Geburtshelferwissen negiert und zum anderen als Ausdruck des affektiven Selbstverständnisses gewählt. Diesen doppelten Bezug meine ich mit dem Ausdruck ›Mythologisieren‹. Entscheidend ist dabei, dass es nicht nur in seinem negativen, sondern auch in seinem positiven Bezug zum Mythos die Aufklärung voraussetzt. Denn Goethes himmlischer Auftakt verwendet den Mythos so, wie es die Aufklärung möglich gemacht hat: als Ausdrucksmittel des emotional-affektiven Welt- und Selbstverständnisses. Das ist der moderne Mythosbegriff, den die Aufklärung hervorgebracht hat. Dieses Mythosverständnis löst die alten fabelhaften Geschichten aus der Alternative wahr/falsch heraus, um sie als gültigen Ausdruck der menschlich-affektiven Natur- und Selbstsicht zu würdigen. Die Geschichten der Odyssee erscheinen in dieser Perspektive nicht als Lügenmärchen oder Aberglauben, sondern als authentischer Ausdruck dafür, wie ein Seefahrervolk seine Welt mit ihren Gefahren wahrnahm und verstand. Es sind vor allem Vico und Herder, die dieses Konzept entwickeln, und es ist der Altphilologe Heyne, der dafür die neuzeitlich bislang ungebräuchliche Redeweise von ›dem Mythos‹ und ›den Mythen‹ einführt, um damit die gebräuchlichen, von alters her Lüge und Irrglauben konnotierenden Bezeichnungen ›Fabel‹ und ›Mythologie‹ abzulösen.7 Goethes Mythosverwendung entspricht genau diesem aufklärerischen Konzept. Seine Rede vom freundlichen Blick zwischen Jupiter und Venus und von der Gleichgültigkeit bei Saturn und Mars drückt sein emotional-affektives Selbstbild aus: Um Macht, Schönheit und Sexus steht es bei ihm günstig; Melancholie, Krieg und Gewalt sind nicht seine Sache. Ob diese mythische Astrologie wahr oder falsch ist, steht nicht zur Debatte. Gültig ist sie als Ausdruck eines menschlichen Selbstgefühls. Indem dieses Gefühl sich mythisch artikuliert, hebt es sich aus der bürgerlichen Realität heraus. Auf der Grundlage eines aufgeklärten Mythosverständnisses nutzt Goethe den Mythos so zur Verklärung seiner eigenen Person. Anders gesagt: Die Geste, sich selbst zum Schicksalsgünstling zu verfabeln, setzt die Aufklärung über die Fabel voraus. Deutlicher wird dies, wenn man Goethes Text neben seine Vorlage hält. Mit dem astrologischen Auftakt und dem Motiv der Geburtsschwierigkeiten 7

Ausführlicher dazu mein Beitrag: »Fabelhaft und wunderbar in Aufklärungsdiskursen. Zur Genese des modernen Mythosbegriffs«, in: Hans Adler/Rainer Godel (Hrsg.), Formen des Nichtwissens der Aufklärung, München 2010, S. 111–120.

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orientiert sich Dichtung und Wahrheit an der Autobiographie des Girolamo Cardano. Auch diese beginnt mit der Konstellation der Geburtsstunde und den Auswirkungen, die sie auf den Geburtsvorgang hatte. Die epochale Differenz zeigt sich darin, dass der überzeugte Astrologe Cardano die Sterne selbst und keine unausgebildete Hebamme für das Missgeschick verantwortlich macht. Sein Missgeschick erzählt und erklärt er so: Nachdem, wie man mir erzählt, vergebens Abtreibungsmittel angewandt worden waren, kam ich zur Welt im Jahre 1501, am 24. September, als die erste Stunde der Nacht noch nicht vollendet, nur wenig mehr als die Hälfte, aber noch nicht zwei Drittel verflossen war. Die wichtigste Stellung der Figuren des horoskopischen Aspektes war so, wie ich sie im 8. Kapitel des als Anhang zu meinem Kommentar der vier astronomischen Bücher des Ptolemaeus gegebenen Buches der 12 Nativitäten mitgeteilt habe. Ich habe festgestellt, daß damals die beiden großen Sterne [Sonne und Mond] unter bestimmten Winkeln niederstiegen […]. Des weiteren aber, weil der Ort der vorhergehenden Konjunktion unter dem 29. Grad der Jungfrau lag, die den Merkur beherrscht, und da weder der Merkur noch der Ort des Mondes, noch der meines Horoskopes zusammenfielen und keiner von ihnen den vorletzten Grad der Jungfrau beschaute, so mußte ich mißgestaltet zur Welt kommen. Tatsächlich hätte es auch leicht geschehen können, daß ich zerstückt aus dem Leibe meiner Mutter kam; nur wenig hat gefehlt. So ward ich denn geboren, oder vielmehr aus der Mutter herausgezogen, fast wie tot, mit schwarzem, krausem Haar. […] Um aber wieder auf mein Horoskop zurückzukommen: da die Sonne und die beiden verderbenbringenden Sterne, auch die Venus und der Merkur, gerade in männlichen Zeichen des Tierkreises standen, behielt mein Leib normale menschliche Gestalt. Und weil der Jupiter am Ort des Horoskopes stand und die Venus Herrin der ganzen Konstellation war, so ward ich nirgends verletzt als an den Geschlechtsteilen, so daß ich von meinem 21. bis zum 31. Lebensjahre nicht mit Weibern verkehren konnte und oft darob mein trauriges Schicksal beklagt, jeden anderen um sein glücklicheres Geschick beneidet habe.8

Was bei Goethe zwei verschiedene Ausdrucksregister sind – das Mythische und das Reale –, fällt bei Cardano in eins zusammen. Die astronomische Mathematik, die mythische Benennung der Planeten und die körperliche Selbstbeobachtung bilden einen Darstellungs- und Erklärungszusammenhang. Der Mythos spielt dabei die zentrale Vermittlerrolle, denn nur durch ihn und durch keine noch so subtile Himmelsmathematik ergibt sich der Bezug des Planeten Venus zu den Geschlechtsteilen. Insofern schießen das, was der Astronom berechnet, was der mythologisch informierte Astrologe glaubt und was der junge Mann körperlich empfindet, zu einem mythisch bestimmten Bewusstsein zusammen. 8

Des Girolamo Cardano von Mailand eigene Lebensbeschreibung. Aus dem Lateinischen übersetzt von Hermann Hefele, München 1969, S. 12f. (lateinisches Original von 1575/76, Erstdruck 1643).

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An Goethes Beispiel wird sichtbar, was ›Mythologisieren‹ bedeuten soll: ein Darstellungs- und Deutungsverfahren, das aus der Spannung zwischen aufgeklärter Mythoskritik und neuer Mythisierung lebt. Hinweise, dass die an Dichtung und Wahrheit exemplifizierte Spannung kein Einzelfall, sondern ein wiederkehrendes Schema ist, gibt es viele. Zum Beispiel Goethes Iphigenie. Mit der Botschaft menschlicher Autonomie und der Psychologisierung der Götter ist sie ein Dokument aufklärerischer Mythenkritik; mit ihrer Verklärung zum Archetyp friedfertig erlösender Weiblichkeit ein neuer Mythos. Auch die »Neue Mythologie« der Frühromantik ist ein Fall des Mythologisierens und nicht des Mythisierens. Die grundsätzliche Spannung steckt schon in der Formulierung »Mythologie der Vernunft«,9 in der dieses Projekt das erste Mal greifbar ist. In Friedrich Schlegels und Schellings weiteren Ausführungen zeigt sie sich darin, dass es tatsächlich die zeitgenössische akademische Vernunft ist – Kants und Fichtes Philosophien, Wolfs textkritische Homer-Analysen –, von der aus auf eine neue Mythologie hin gedacht wird. Und zwar nicht als Widerruf, sondern als Aufnahme und Überbietung dessen, was die aktuelle wissenschaftliche Philologie und Philosophie leisten.10 Novalis’ Rede über Die Christenheit oder Europa verknüpft ihre mythische Perspektive auf ein neues goldenes Zeitalter mit der politisch rationalen Völkerbundsvorstellung, die er aus Kants Schrift Zum ewigen Frieden bezieht.11 Die im engeren Sinne literarischen Werke, die in diesen Zusammenhang gehören, sind ebenso von dieser Spannung geprägt. Sie fußen zugleich auf dem aufgeklärten Mythoskonzept sowie der aufklärerischen Offenbarungskritik, indem sie die biblischen Überlieferungen wie die antiken Mythen als Ausdrucksmittel der eigenen Subjektivität verwenden. So entstehen höchst private Fassungen des Mythischen, bei denen das Individuelle sich nicht in Mythisches verwandelt, sondern der Kontrast zwischen moderner Individualität und mythischer Tradition fast grotesk spürbar wird, wie etwa in Novalis’ 9

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11

Christoph Jamme/Helmut Schneider (Hrsg.), Mythologie der Vernunft. Hegels ›ältestes Systemprogramm‹ des deutschen Idealismus, Frankfurt a. M. 1984, S. 11–14, hier S. 13. Vgl. dazu meine Beiträge: »›Doch Homeride zu sein, auch nur als letzter, ist schön.‹ Zur Bedeutung der Mythologie bei Friedrich Schlegel«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 72/1998, S. 115–125 und: »Homer als ›unentbehrliches Kunstwort‹. Von Wolfs ›Prolegomena ad Homerum‹ zur ›Neuen Mythologie‹«, in: Dieter Burdorf/Wolfgang Schweickard (Hrsg.), Die schöne Verwirrung der Phantasie. Antike Mythologie in Literatur und Kunst um 1800, Tübingen 1998, S. 15–28. Nachweise der Kant-Zitate in: Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hans-Joachim Mähl/Richard Samuel (Hrsg.), Bd. 3: Kommentar von Jürgen Balmes, München, Wien 1987, S. 603f.

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Hymnen an die Nacht, die das Grab der eigenen Geliebten als Christusgrab und die private Trauerbewältigung als weltgeschichtliches Heilsgeschehen darstellen. Die reichste Anschauung des Mythologisierens gibt schließlich wohl Goethes Faust, der die Spannung zwischen Distanz und Hingabe zum Mythos immer wieder ironisch inszeniert: Mephisto wirkt mit allem Ernst als mythische Figur des Bösen, spricht aber zugleich wie ein aufgeklärter Psychologe und macht sich über traditionelle Teufelsvorstellungen lustig; die von Goethe erfundenen mythischen »Mütter« sind eine Groteske aus Goethes eigenem naturwissenschaftlichem Ernst und komischer, fast sich selbst karikierender mythopoetischer Phantasie. Allen diesen Beispielen ist gemeinsam, dass sie dem Mythischen einen eigenen Ernst verleihen. Sie verwenden es nicht nur als Kunstgriff, als literarischen ornatus oder als bloße Ausdruckform, die man durch anderes, nicht Mythisches ersetzen könnte. Traditionell sieht man das als ›romantischen‹ Impuls, als neue Hinwendung zum Mythischen, oder – etwas märchenhaft gesagt – als Wiederverzauberung der durch die Aufklärung entzauberten Welt. Strukturell kann man dieses Phänomen als »Infinitisierung«12 beschreiben, verstanden als Entgrenzung und Aufhebung klarer Konturen. Die mythischen Formen rauben dem Dargestellten die klaren, realistisch gegenwärtigen Konturen und reichern es suggestiv, verheißungsvoll an. So erhebt sich Goethes Selbstdarstellung über seine bürgerliche Gestalt hinaus in den Nimbus schicksalhafter Begünstigung. Novalis entgrenzt seine private Liebeszur menschheitlichen Heilsgeschichte. Schlegel und Schelling weiten Wolfs Homer-Analyse, die eine kollektive Genese der antiken Epen diagnostiziert, zur Zukunftsperspektive eines allumfassenden finalen Weltgedichts aus. Durch diese Infinitisierung unterscheiden sich die genannten Beispiele, unterscheidet sich das hier gemeinte Muster des Mythologisierens von anderen Arten der Mythosverwendung. In Goethes Nachschlagewerk zur Mythologie, in Hederichs Gründlichem mythologischen Lexikon, herrscht ein ganz anderes Konzept. Die mythischen Figuren und Geschichten gelten dort als Kanon des Bildungswissens und künstlerischer Code, als schöne Konventionen.

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Eine Anregung dazu finde ich bei Peter L. Oesterreich, der die romantische Ironie als »Infinitisierung der rhetorischen Ironie zur existenziellen Ironie« bezeichnet (Peter L. Oesterreich, »Zwischen infiniter Ironie und Neuer Mythologie. Zur Tropologie des romantischen Denkstils«, in: Stefan Matuschek [Hrsg.], Wo das philosophische Gespräch ganz in Dichtung übergeht. Platons Symposion und seine Wirkung in der Renaissance, Romantik und Moderne, Heidelberg 2002, S. 97–107, hier S. 101). Ich nehme diesen Terminus zur strukturellen Kennzeichnung des Mythologisierens.

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Hederichs Vorwort warnt, »daß man sie nicht soll für Wahrheiten ansehen, oder sonst mehr Wesen von ihnen machen, als sich geziemet.«13 Mythologisieren heißt, so könnte man es von Hederich aus formulieren, »mehr Wesen« von der Mythologie zu machen, als es einem aufgeklärten Realismus und rhetorischem Konventionalismus geziemt. Dieses »Mehr« ist der eigene Wahrheitsanspruch, der den mythischen Formen verliehen wird. So ist der Anfang von Dichtung und Wahrheit keine mythologische Verzierung, sondern drückt in seiner mythischen Form eine eigene, affektiv-emotionale Überzeugung aus. Insofern lässt Goethe sein Nachschlagewerk hinter sich und mit ihm solche Mythosadaptionen, denen der infinitisierende Impuls fehlt. Das zeigt zum Beispiel die Differenz von Goethes Iphigenie und Wielands Alceste, die man als Humanisierung, oder prägnanter: als humane Dämpfung des Mythos vergleichbar finden kann. Ihr wesentlicher Unterschied liegt darin, dass Wielands Figur im Horizont der bürgerlichen Empfindsamkeit und deren Ehemoral bleibt, Goethes Figur dagegen den realen menschlichen Horizont übersteigt. Es ist die Schlusspointe von Wielands Alceste, dass die irdische, bürgerliche »Wonne« des geretteten Ehepaares das mythische Elysium als ein bloßes »Traumgesicht« verschwinden lässt.14 Wenn Goethes Iphigenie dagegen am Ende von ihrem Bruder Orest als »Heilige«15 angesprochen wird, dann ist das keine rhetorische Hyperbel, sondern die Bestätigung ihrer von Beginn an markierten Erlöserfunktion. Iphigenie ist mehr als eine menschliche Schwester und Heiratskandidatin. Als Heilsbringerin bekommt sie eine eigene mythische Dimension. Um den romantischen Impuls der Neuen Mythologie zugleich aus einer grundlegenden menschlichen Disposition und aus seiner bestimmten historischen Situation heraus zu verstehen, kann man sich an eine Formulierung von Jürgen Stolzenberg halten. Er nennt es den »sachlichen Kern des Projekts einer neuen Mythologie« und sieht ihn in der »Disposition der menschlichen Vernunft, unter den Bedingungen der Kontingenz von dem Ausgriff auf ein letztes Unbedingtes nicht abzulassen und von ihm aus das Leben zu

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Benjamin Hederich, Gründliches mythologisches Lexikon, Leipzig 1770, ND Darmstadt 1996, S. XI (Vorbericht des ersten Verfassers). Vgl. Christoph Martin Wieland, Alceste. Ein Singspiel in fünf Aufzügen, in: Wielands Sämmtliche Werke. Bd. 26: Singspiele und Abhandlungen, Leipzig 1796, ND Hamburg 1984, S. 1–72, hier S. 70f. Johann Wolfgang von Goethe, Iphigenie auf Tauris. Ein Schauspiel, in: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. 1. Abt., Bd 5: Dramen 1776–1790. Dieter Borchmeyer unter Mitarbeit von Peter Huber (Hrsg.), Frankfurt a. M. 1988, S. 553–619, hier S. 618.

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rechtfertigen.«16 Das Aufbrechen der ständischen Gesellschaftsordnung und die Kritik traditioneller religiöser Sinngebung im 18. Jahrhundert sind in diesem Sinne als besondere Bedingungen der Kontingenz zu verstehen, auf die der romantische Impuls reagiert. Er ist, wie man weiß, eine Revolutionsreaktion, in doppeltem Sinne: Er nimmt die politische Radikalität der Französischen Revolution als intellektuelle revolutionäre Radikalität auf und versucht zugleich, die dadurch riskierte Haltlosigkeit durch neue Orientierungen zu bewältigen, und zwar durch eine solche, die gerade nicht als Produkt von Entscheidung und Wahl, sondern als eine unbedingte, unverfügbare Orientierung ausgegeben wird. Die Forderung nach einer »Mythologie der Vernunft« ist genau das: eine radikale revolutionäre philosophische Idee in der Absicht, die im Revolutionären liegende Unsicherheit durch ein neues Unbedingtes, Unverfügbares zu bewältigen. »Wir müßen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie mus [ein]e Mythologie der Vernunft werden«,17 heißt es im so genannten »Ältesten Systemprogramm«. Das dreimal wiederholte Modalverb ist hier doppeldeutig: Es ist die revolutionäre Forderung derer, die das schreiben, und will zugleich nur die Feststellung einer schicksalhaften Notwendigkeit sein. Genau das ist das Muster des Mythologisierens: der eigenen, willkürlichen Konstruktion den Anschein des von sich aus Gegebenen zu verleihen; mit Stolzenbergs Worten: dem Kontingenten den Anschein des Unbedingten.

II. Ein Kind der Aufklärung Das Mythologisieren ist ein Kind der Aufklärung. Damit ist keine Unterordnung gemeint (Mythologisieren als Form der Aufklärung), sondern das Ermöglichungsverhältnis: Die Aufklärung macht das Mythologisieren möglich. Und zwar in zweifacher Hinsicht: zum einen dadurch, dass sie die mythischen Figuren aus ihrem Aberglaubensverdacht befreit und dadurch – insbesondere auch in heidnisch-christlichem Synkretismus – zu neuer, individuell kreativer Verwendung öffnet; zum anderen dadurch, dass sie als Kritik der tradierten religiösen und ständischen Sinngebungen die Empfänglichkeit für neue Deutungsfiguren fördert. So schafft die Aufklärung die produktive wie die rezeptive Disposition zu einer innovativen Verwendung mythischer Formen. 16

17

Jürgen Stolzenberg, »Mythologie der Vernunft – Vernunft der Mythologie«, in: Jens Halfwassen/Markus Gabriel, unter redaktioneller Mitarbeit von Stephan Zimmermann (Hrsg.), Kunst, Metaphysik und Mythologie, Heidelberg 2008, S. 111–128, hier S. 121. Jamme/Schneider (Hrsg.), Mythologie der Vernunft, S. 13.

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Zum ersten Aspekt, der kreativen Öffnung, gehört Herders Stichwort vom »neuern Gebrauch der Mythologie«.18 Ein Beispiel dafür gibt Goethes neuer Gebrauch der Faust-Figur, die sich bei ihm ganz aus ihrem tradierten christlichen Legendenmuster löst. Das Volksbuch, die Puppenspiele und auch Christopher Marlowes Faust-Drama folgen alle diesem religionsdidaktischen Muster. Goethes Fassung markiert den Neuansatz des Mythologisierens. In der Stoffgeschichte des Faust löst er das Legendenmuster durch das neue Muster ab. Den zweiten Aspekt, die rezeptive Disposition, kann man sich am deutlichsten mit einer Formulierung von Novalis vergegenwärtigen. Sie gibt der Ansicht, dass die Aufklärung eine sinnentleert-kontingente Welt zurücklasse, den allgemeinsten und zugleich metaphorisch prägnantesten Ausdruck. Die »moderne Denkungsart«, heißt es in Die Christenheit oder Europa, machte die unendlich schöpferische Musik des Weltalls zum einförmigen Klappern einer ungeheuren Mühle, die vom Strom des Zufalls getrieben und auf ihm schwimmend, eine Mühle an sich, ohne Baumeister und Müller und eigentlich ein ächtes Perpetuum mobile, eine sich selbst mahlende Mühle sey.19

In diese Sinnlosigkeit setzt Novalis die alten mythischen als neue Deutungsfiguren ein, sowohl diagnostisch, indem er die französischen Revolutionäre als neuen »Sisyphus« beschreibt, der nicht mehr stein-, sondern nun »staatsumwälzend« dennoch nichts ausrichtet, als auch prophetisch, indem er die Hoffnung auf einen allgemeinen Völkerfrieden heilsgeschichtlich als »neues Jerusalem« beschwört.20 Hinter der Sisyphus-Deutung steht die unter deutschen Intellektuellen verbreitete Enttäuschung über den Verlauf der Französischen Revolution, hinter der Hoffnung auf den Völkerfrieden Kants völkerrechtlich argumentierender Beitrag Zum ewigen Frieden. Was aber dort den Bedingungen der politischen Rationalität unterliegt, wechselt bei Novalis ins irrational Unbedingte. Mythologisieren zeigt sich hier als die unter akuter Sinnlosigkeitslast gesuchte Suggestion des unbedingt Sinnvollen. Die Rezeptions- und politische Wirkungsgeschichte von Novalis’ Christenheit, die Höhepunkte in den Flugblättern der »Weißen Rose« und in der Gründungsphase

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19

20

Vgl. Johann Gottfried Herder, Vom neuern Gebrauch der Mythologie, in: Werke in zehn Bänden. Bd. 1: Frühe Schriften 1764–1772. Ulrich Gaier (Hrsg.), Frankfurt a. M. 1985, S. 432–455. Novalis, Die Christenheit oder Europa, in: Werke, Tagebücher und Briefe, Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk, München, Wien 1978, S. 732–750, hier S. 741. Vgl. ebd., S. 743 und 750.

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der Europäischen Union hatte,21 beweist, welch nachhaltige Wirkung das haben kann. Mythologisieren ist kein esoterisches Kuriosum der Frühromantiker und es ist auch kein Rückfall in puren Aberglauben. Es ist vielmehr ein spekulativer Überschuss, in dem die alten mythischen Figuren zur neuen Herausforderung des aufgeklärten Denkens werden: Sie bieten Deutungen, die auf ein aufgeklärtes Problembewusstsein antworten, doch von ihm nicht überprüft werden können. Sie geben eine passende Antwort im unpassenden Modus. Die mythischen Figuren und Perspektiven in Novalis’ Christenheit oder Europa widersprechen als solche dem rationalen politischen Krisenbewusstsein seiner Zeit, doch werden sie thematisch genau passend darauf bezogen. Goethes Selbstdarstellung entspricht den Lesererwartungen an eine reale glückliche Lebensgeschichte, hebt ihn aber als Göttergünstling über das wirkliche Leben hinaus. Die Intensität, mit der das Mythische den Realismus provoziert, ist dabei verschieden. Bei Novalis ist sie ungleich größer als bei Goethe. Das Muster aber ist dasselbe. Die Verbindung, die Aufklärung und Mythos im Mythologisieren eingehen, ist etwas anderes als die von Horkheimer und Adorno beschriebene »Dialektik«. Denn es geht nicht um das Mythische in der Aufklärung selbst oder das Aufklärungspotenzial der mythischen Geschichten. Es geht nicht darum, die beiden Begriffe wechselseitig ineinander einzuschreiben. Im Gegenteil. Im Mythologisieren kommt es auf die Spannung an, die sich zwischen dem aufgeklärten Problembewusstsein und den mythischen Deutungsfiguren ergibt. Man kann diese Spannung bei den Autoren der Dialektik der Aufklärung selbst beobachten, dort nämlich, wo sie ihre soziologischen Diagnosen mit Episoden aus der Odyssee veranschaulichen. Wenn sie den praktischen Relevanzverlust der autonomen Kunst auf die Sirenen-Episode zurückführen, indem sie den gefesselt lauschenden Odysseus zum Archetyp des bürgerlichen Kunstgenießers erklären, oder wenn sie in Kirkes Zauberkraftverlust vor Odysseus die Domestikation der Frau in der bürgerlichen Ehe sehen:22 Dann ist das ja kein historischer Beweis für die Dialektik der Aufklärung, sondern das Darstellen der eigenen Gesellschaftsanalysen in mythischer Form. Es löst die eigenen soziologischen Beschreibungen und Diagnosen aus ihrem historisch verifizierbaren Bezug und verleiht ihnen die 21

22

Vgl. dazu meinen Beitrag: »Poesie und Prosa der Europa-Idee. Novalis’ Die Christenheit oder Europa und seine modernen Leser«, in: Gerhard Kaiser/Heinrich Macher (Hrsg.), Schönheit, welche nach Wahrheit dürstet. Beiträge zur deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Heidelberg 2003, S. 167–183. Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M. 1986, S. 40f. und S. 77ff.

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Aura einer unbedingten Wahrheit. Die homerischen Figuren verwischen die Konturen der kritischen Gesellschaftstheorie und reichern sie um suggestive, nicht mehr verifizierbare Perspektiven an. Der erste Exkurs zur Dialektik der Aufklärung, »Odysseus oder Mythos und Aufklärung«, ist damit insgesamt ein Fall von Mythologisierung. Er folgt dem Muster, das um 1800 aus der Wechselwirkung von aufgeklärtem Mythosbegriff und romantischer Infinitisierung geprägt wurde.

III. Repräsentation und ›Präsenzeffekt‹ Mythologisieren ist die kreative Neuverwendung mythischer Figuren, die als eine suggestive, nicht überprüfbare Antwort auf eine aufgeklärt-rationale Problemstellung angeboten werden. Das aufgeklärte Problembewusstsein bleibt dabei bestehen, wird aber nicht argumentativ, sondern durch affektivemotional und ästhetisch wirksame Deutungsfiguren bewältigt. Diese Spannung zwischen zwei Denk- und Darstellungsweisen, zwischen rationalem Überprüfungsanspruch und unüberprüfbaren Deutungsfiguren ist das grundlegende Kennzeichen des Mythologisierens. Damit wird im Mythologisieren ein ›doppelter Bezug‹ produktiv, der sich mit der Leitdifferenz dieses Bandes fassen lässt: Mythologisieren ist ein Repräsentations-, d. h. Darstellungsverfahren, das durch narrative Evidenz eine Aura unbedingter Wahrheit und Wahrhaftigkeit zu schaffen versucht; anders gesagt: ein Repräsentationsverfahren, das auf einen affektiv-emotional und ästhetisch wirksamen ›Präsenzeffekt‹ aus ist. Dies ist das Muster, das sich in verschiedenen individuellen Fällen ausprägt. Die Spannung zwischen Rationalität und Suggestion unterscheidet das Mythologisieren von anderen Mythosverwendungen, etwa von solchen, die den Mythos nur rhetorisch ornamental einsetzen, oder anderen, die – wie zum Beispiel gläubige Legendenerzählungen – von einer durchweg mythisierenden Denk- und Darstellungsweise zeugen. Die individuellen Ausprägungen, die das Muster des Mythologisierens findet, können vielfältig sein. Sie reichen von der Hoch- bis zur Alltagskultur, von der Dichtung bis in den weiten Bereich der Essayistik im Spannungsfeld von Wissenschaftsanspruch und Deutungsphantasie. Spenglers Untergang des Abendlands ist ein einschlägiger Fall. Sie können ironisch subversiv sein wie zum Beispiel Heines Ausblick auf den »deutschen Donner«23 am Ende seiner Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, erbaulich und 23

Vgl. Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in: Sämtliche Schriften. Klaus Briegleb (Hrsg.), 2. Aufl., Bd. 3, München 1978, S. 505–641, hier S. 638.

Der doppelte Bezug zum Mythos als literarisches Darstellungsmuster

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apologetisch wie die Rede von der »Stunde Null« in Westdeutschland oder umfassend kulturpolitisch reflektiert wie Thomas Manns Doktor Faustus. Auch beschränken sie sich nicht aufs Schriftliche, sondern reichen in alle Künste, insbesondere den Film sowie in unterschiedlichste Formen der Denkmals- und Memorialkultur hinein. Mythologisieren ist also nicht nur eine Sache der Literatur. Allerdings ist es literarisch fundiert, insofern die Vorstellung vom Mythos überhaupt aus der Literatur stammt. In diesem Sinne ist das Mythologisieren ein ›literarisches Darstellungsmuster‹. Das Adjektiv schränkt nicht den Geltungsbereich ein, sondern markiert die Genese. Literarische Muster können über die Literatur hinaus wirksam werden. Auch das private familien- und lebensgeschichtliche Erzählen kann davon geprägt sein. Davon erzählt zum Beispiel Eva Menasses Roman Vienna. Dort heißt es abgekürzt »Em-Em«: »manisches Mythologisieren«.24 Es meint das Aufwärmen und Weiterspinnen von alten Familiengeschichten, deren Wahrheitsgehalt untrennbar mit phantastischen Ausschmückungen und Heroisierungen verquickt ist. Es trägt sich dort in einer jüdischen Familie am Ende des 20. Jahrhunderts zu und gehört unvermeidlich zum Programm jedes Familientreffens. Zuverlässig bewegt es auch die kritisch-realistischen, gegenwartsorientierten Familienmitglieder; auch sie lieben, so sagt der Roman, »die ganze Heimeligkeit dieses familiären Sagengutes, in das wir uns lustvoll einwickelten, weil es unser flüchtiges Zusammensein mit einer kurzen, aber kräftigen Wurzel in der Vergangenheit verankerte.«25 Eva Menasses Roman ist natürlich Literatur. Doch stellt er das Phänomen so dar, wie es im alltäglichen, nicht literarischen Erzählen begegnen kann – und wohl vielen schon begegnet ist. Der Roman erspart mir nur, an dieser Stelle meinerseits Anekdoten hervorzuholen. Mythologisieren ist, wie gesagt, keine esoterische Angelegenheit der Frühromantik, sondern ein seit der Aufklärung sich verbreitendes Muster darstellerischer Verstehens- und Deutungsbemühungen. Es scheint mir eine lohnende Aufgabe, dies klarer erkennbar zu machen.

24 25

Eva Menasse, Vienna. Roman, 4. Aufl., München 2007, S. 371. Ebd., S. 372.

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Antonia Eder (Genf)

Bewältigende Repräsentation, überwältigende Präsenz: Das Numinose in Hofmannsthals MythosDefigurationen

Hugo von Hofmannsthal, darin ganz Erbe eines humanistischen Bildungsideals, war bereits als Gymnasiast mit den klassischen Texten der griechischen und römischen Antike vertraut. Das Lebensgefühl des Ererbten, des Epigonalen prägt ihn als einen der Künstler des Fin de siècle im Wien der sukzessive untergehenden k. u. k. Monarchie. Dieses als ebenso lust- wie leidvolle Lähmung empfundene Erbe wendet Hofmannsthal in ungeheure Produktionskraft: Er beginnt, griechische Mythen neu zu bearbeiten, und tauscht seine steile Karriere als junger Lyriker gegen einen Neuanfang als Dramatiker. »Original. – Nicht dass man etwas Neues zuerst sieht, sondern dass man das Alte, Altbekannte, von Jedermann Gesehene und Uebersehene wie neu sieht, zeichnet die eigentlich originalen Köpfe aus.«1 Dieser Kommentar Nietzsches komprimiert den charakteristischen Zug original möglicher Mythosrezeption – nicht Innovation, sondern Variation des immer schon Bekannten wird hier zum Genuinen erklärt. Variation als literarisches Strukturmerkmal bedeutet jedoch nicht selten auch Eklektizismus, zu dessen Herausforderungen sich Hofmannsthal geradezu bekennt. Auf der einen Seite handelt sich Hofmannsthal die geringe stoffliche Bewegungsfreiheit in der Bearbeitung bekannter Mythen ein. Auf der anderen Seite ist es gerade dieser Enge geschuldet, dass die Bewährung umso spektakulärer ausfallen kann. Worin bewährt sich Hofmannsthal in seinen Mythosdeutungen? Was ist eben das »Uebersehene« – wie Nietzsche es nennt –, das wie neu durch seine Dramen zu sehen ist? Die Hofmannsthals Werk2 durchziehenden mythologischen Stoffe lassen in der ästhetisch deutlichen Abgrenzung vom Historismus Hofmannsthals 1

2

Friedrich Nietzsche, »Menschliches, Allzumenschliches«, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hrsg.), Bd. 2, München 1999, S. 465. Werke Hofmannsthals werden nach den Bänden folgender Ausgabe zitiert: Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch (Hrsg.), Frankfurt a. M. 1979.

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Faszination für einen irritierend archaischen und zugleich poetologisch beweglichen Mythos erkennen. Dass und wie sich diese poetologische Dynamik mit den Begriffen der Präsenz und der Repräsentation des Mythos verbindet, wird Gegenstand der folgenden Ausführungen sein. Der Fokus richtet sich dabei je auf das Verhältnis, das poetische Faktur und mythopoietisches Narrativ sowie Poetologie und Mythostheorie zueinander einnehmen. Der im Folgenden dargelegte theoretische ›Überbau‹ der Arbeit am Mythos von Hans Blumenberg lässt eine überraschende Positionierung der Mythosvariationen Hofmannsthals in der gegenwärtigen mythostheoretischen Debatte zu. Überraschend, so meine These, deshalb, da die radikale Poetologie des Dichters der Jahrhundertwende den Ansatz des Theoretikers der 1970er Jahre bereits übersteigt. Zunächst wird die Anschlussfähigkeit der Dramen Hofmannsthals an Blumenbergs zentralen Text mythostheoretischer Auseinandersetzung deutlich im Plädoyer Hofmannsthals für die Beweglichkeit des Mythos als vorgängige3 textuelle Figuration. Neben die Parallelen, die sich zwischen poetischer Mythosbearbeitung des Jung-Wiener Autors und den Auseinandersetzungen des modernen Philosophen ziehen lassen, treten in den Dramen Hofmannsthals frappante Gedankenfiguren, die über Blumenberg hinausgehende Phänomene der Mythosdegeneration entwerfen. Die Umkehrung der ideengeschichtlich jüngeren Theorieentwürfe gelingt den tragischen Mythosadaptationen um 1900 durch ein poetologisches Konzept der De-Figuration: Mythosvariation als Degeneration. Als Ausweis ihrer Dynamik zeigen die Griechendramen Hofmannsthals eine zugleich textgenerierende wie zerstörende Technik, die der Autor selbst als ein Vorgehen der »bohrenden Prosa« bezeichnet.4 Folgende Thesen liegen meinen Überlegungen zugrunde: (1.) Hofmannsthal führt anhand des Scheiterns bestimmter Figurationen den Einbruch einer Präsenz des Mythos in den – theatralen wie skripturalen – Raum der Repräsentation vor. (2.) Zu Blumenbergs These der Überwindung des Nu3

4

Der Begriff des Vorgängigen lässt sich hier wie im Weiteren als doppelt besetzt kennzeichnen: Vorgängig ist nicht bloß zeitlich Vorangegangenes, sondern auch stets weiter und immer wieder Vorgehendes; darin verbinden sich im Begriff selbst lineare und zirkuläre Vorstellungen, auf die Hofmannsthal sich bspw. in der Figur der »Spirale« bezieht (Hugo von Hofmannsthal, »Brief an Strauss vom 20. 3. 1911«, in: Richard Strauss – Hugo von Hofmannsthal. Briefwechsel. Alice Strauss/ Willi Schuh [Hrsg.], Zürich 1952, S. 112). Hugo von Hofmannsthal, »Fragmente aus dem Nachlaß 1«, in: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Rudolf Hirsch (Hrsg.), Bd. 18, Frankfurt a. M. 1987, S. 378.

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minosen (Präsenz, Wirklichkeit) durch Repräsentation (Mythos) entwirft Hofmannsthal eine radikale Gegenbewegung: der Bruch der sprachlichen Repräsentation (Mythosvariation) durch Präsenz (Namenloses, Numinoses). (3.) Die Mythosvariationen Hofmannsthals sind als eine Poetologie der Defiguration zu lesen: Eine latente, sich momenthaft vergegenwärtigende Präsenz des Mythos bricht die poetische Einheit der Repräsentation ab. Meine Überlegungen teilen sich in drei Abschnitte: Der erste wird die spezifische Antikerezeption Hofmannsthals umreißen. Im zweiten Teil wird die mythopoietisch evozierte Dynamik des Mythos in Hofmannsthals Griechendramen verfolgt, die exemplarisch an Einbrüchen von Präsenz und Abbrüchen der Repräsentation in Ödipus und die Sphinx sowie in der Elektra aufgezeigt wird. Der dritte Teil unternimmt den mit, gegen und über Blumenberg hinaus zu vollziehenden, theoretischen wie ästhetischen Zusammenschluss von Mythos und Methode.

I.

Hofmannsthals Antikerezeption Der große Kopf der Juno Ludovisi steht zwischen uns und [Goethe].5 (Hofmannsthal, Erzählungen – Erfundene Gespräche und Briefe – Reisen)

Hofmannsthals Dramen lesen sich als dichtes Kondensat widersprüchlicher, stets nebeneinander arrangierter Konfigurationen und Konstellationen, die das Heterogene in Gattung, Stil und Ton erproben. In seinen Re-Visionen antiker Mythen wie Ödipus und die Sphinx, Elektra sowie in der Ariadne auf Naxos oder dem Pentheus Fragment begegnet man gleich mehreren Großkomplexen: In der Neuausrichtung auf die Tragödie seit 1903 wird eine Motivation des Autors deutlich, der auf den Höhenkamm der Literatur will, der sich unterschätzt sieht als ›lyrisches Jungtalent‹ Loris. Hofmannsthal gewinnt mit seiner Einlassung auf den Mythos dessen Gewicht. Denn poetisch arbeitet Hofmannsthal sich mit seinen Mythosadaptationen an Größen wie Aischylos, Sophokles und Euripides ab. Gleichzeitig stellt Hofmannsthal sich unvermeidlich in eine Reihe mit den Tragikern, indem er denselben Weg betritt wie sie. Denn auch sie gestalteten bereits Variationen eines schon je bekannten Mythos, die sich im berühmten Agon der Dionysien bewähren mussten. Hofmannsthal sieht sich 2400 Jahre später vergleichbaren Wettkampfbedingungen ausgesetzt – in Form von Literatur- und Theaterkritik, Zuschauerreaktionen, Zuschauerzahlen, Aufführungswiederholungen oder angesichts 5

Hofmannsthal, Erzählungen – Erfundene Gespräche und Briefe – Reisen, S. 629 (Ergänzung A. E.).

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der Frage, wie viele und welche Theater seine Stücke im Repertoire führen und behalten. Für den modernen Dramatiker spielt nicht zuletzt aus diesen Gründen Wirkungsästhetik eine große Rolle. Im Namen der Wirksamkeit bedient er sich bestimmter Schlüsselreize, die sich als Affektästhetik kategorisieren lassen. Dazu zählen beispielsweise die mit hohem Wiedererkennungseffekt ausgestatteten Symptome der Hysterie oder die oft ausgesprochen strategische Übertretung der Grenzen des bürgerlich ›guten Geschmacks‹, wenn Hofmannsthal Motive wie Perversion, Notzucht, Inzest oder das Monströse in seinen Mythosvariationen betont. Entweder bietet sie der Mythos selbst (Atriden, Ödipus) oder Hofmannsthal zitiert die intensiv mit seinem Werk verwobenen Intertexte. Auch diese Zitat- und Motivsteinbrüche rangieren auf hohem kanonischem Niveau. Hofmannsthal schreibt seine Antikestücke auf dem Fundament nietzscheanischer Kulturkritik mit erkennbaren Zitaten und deutlichen von Bachofen, Rohde bis Freud entliehenen Motiven.6 Fruchtbar gemacht werden daneben für diese Affektästhetik die rauschhafte Wortgewalt und virile Bildermacht eines archaischen Mythos abseits »jener antikisierenden Banalitäten, welche mehr geeignet sind, zu ernüchtern als suggestiv zu wirken«.7 Hofmannsthal bescheinigt dem Mythos per se eine Überzeitlichkeit, die sich im Kern gegen idealistische Harmonisierung genauso widerständig zeigt wie gegen geschichtsphilosophische Bewegungen der Teleologie oder Dialektik. Diese »Zeitresistenz«8 verweist für Hofmannsthal auf eine dem Mythos eigene Gewalt: In der Absicht, die »Schauer des Mythos neu zu schaffen«,9 tritt Hofmannsthal hinter die klassizistische Serenität zurück, die er Winckelmann und Goethe vorwirft; diese hätten schließlich, wie er konstatiert, nie den »italischen Strand« verlassen und nie »eine wirkliche Antike, nie ein Bildwerk des fünften Jahrhunderts gesehen«.10 Hofmannsthal schwebt darum etwas genau Gegensätzliches zur »verteufelt humanen« Iphigenie vor, er will die Antike »vom großen Orient aus neu an[blicken]«.11 6

7 8

9 10 11

Zur Nietzscherezeption in Hofmannsthals Elektra vgl. Antonia Eder, »›Das maßlose Wühlen im Schmerz‹. Nietzscherezeption in Hofmannsthals Elektra«, in: Andreas Sommer (Hrsg.), Nietzsche – Philosoph der Kultur(en)?, Berlin, New York 2008, S. 467–476. Hofmannsthal, »Szenische Vorschriften zu Elektra«, in: Dramen II, S. 240. Hans Ulrich Gumbrecht, »Präsenz-Spuren. Über Gebärden in der Mythographie und die Zeitresistenz des Mythos«, in: Udo Friedrich/Bruno Quast (Hrsg.), Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin, New York 2004, S. 1–19. Hofmannsthal, Reden und Aufsätze III, S. 443. Hofmannsthal, Erzählungen – Erfundene Gespräche und Briefe – Reisen, S. 629. Hofmannsthal, Reden und Aufsätze II, S. 156.

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Mit seiner ganz eigenen Antikerezeption zielt Hofmannsthal also darauf, gemäß Nietzsches Diktum, dass die attische Tragödie selbst bereits apollinischer Schein sei, über die antiken Dramatiker hinaus- und zu den Ursprüngen des Mythos zurückzugehen. Diese Antikerezeption betont das kultische Wiederholungsmoment des Mythos: Strukturen, die in Opfer, Klage und Ritual konstitutive Ambivalenzen von Wirklichkeit, Gewalt und Ästhetik aufzeigen. So beherrschen die moderne Szene der antiken Stücke folgerichtig Gewalt, Rachsucht und Trostlosigkeit: Hofmannsthals Mythen spielen im »Hinterhof« der Paläste, in »Zellen«, »Enge, Unentfliehbarkeit, Abgeschlossenheit«.12 In seinen Mythosbearbeitungen brechen radikale Elemente des Nichtsprachlichen wie Tanz oder Pantomime den Dramentext ab; das Bühnenbild mit Farb- und Lichtregie erhält eine eigene, in den Szenenanweisungen minutiös beschriebene, also kalkulierte, performative Wirkkraft; eine expressive Körpersprache schreibt Hofmannsthal seinen Figuren auf den theatralen Leib – und nicht von ungefähr findet Richard Strauss in Hofmannsthal den kongenialen Librettisten für viele seiner Opern. Das Mythosverständnis Hofmannsthals zeigt sich der eingangs zitierten, einer durch die Jahrhunderte verfolgbaren Methode der Mythos-Ästhetik verpflichtet: der Variation. In Ergänzung zur aristotelischen Auffassung vom Mythos, wonach dieser Gegenstand und Handlung der Tragödie vorgibt,13 findet sich bei Francis Bacon ein fast erzähltheoretischer Begriff vom Mythos, der neben den Inhalten die narrative Struktur betont.14 Die Dialektik von Mythos und Aufklärung gerät mit Rousseau in den Blick, der die Mythen als Ausdruck verlorener Naivität und ursprünglicher Einheit mit der geschichtsphilosophischen Frage nach dem Ursprung menschlicher Kultur und ihrem Verhältnis zur Natur verknüpft. Er wendet die tradierte Legitimationsschuld des Mythos zu einer Bringschuld des nun defizitär erscheinenden Logos: Die rational weltdeutende Vormachtstellung scheint in einer fragwürdig gewordenen Zivilisation zunehmend geschwächt.15 Dem »auf-

12 13

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15

Hofmannsthal, »Elektra«, in: Dramen II, S. 240. Vgl. Aristoteles, Poetik. Griechisch/deutsch. Übersetzt von Manfred Fuhrmann (Hrsg.), Stuttgart 1982, S. 19. Zur Analyse des aristotelischen Mythosbegriffs vgl. Tobias Keilings Beitrag im vorliegenden Band. Vgl. Francis Bacon, De sapientia veterum liber (1609). Dt. Ausgabe: Francis Bacon, Weisheit der Alten. Philip Rippel (Hrsg.), Frankfurt a. M. 1990. Vgl. dazu auch Christoph Jamme, »Gott an hat ein Gewand«. Grenzen und Perspektiven philosophischer MythosTheorien, Frankfurt a. M. 1999, S. 95. Vgl. Karl-Heinz Kohl, Entzauberter Blick. Das Bild vom guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation, Berlin 1981.

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klärerischen Gedanken, Mythen seien Geschichten aus der Kindheit des Menschengeschlechts, […] einer noch unerleuchteten Vernunft«,16 folgt somit eine epistemologische Um- und ästhetische Aufwertung des Mythos, die sich über die Romantik bis hin zu Levi-Strauss’ Strukturalismus und Derridas poststrukturalistischer Kritik fortsetzt. Der von Hofmannsthal favorisierte Mythosbegriff lässt sich als dynamisches Narrativ beschreiben. Einem solchen Verständnis zufolge entstehen Mythen aus einer Urangst des Menschen, deren Überwindung in der Bildung von Symbolen und Metaphern, in der Genese einer Bildersprache statthat. Folgt man diesem Zusammenschluss, wirkt Ästhetik sublimierend, zivilisierend und stabilisierend auf die menschliche Gemeinschaft, indem »der geschichtliche Ursprung der Poesie identisch ist mit dem poetischen Ursprung der Geschichte«.17 Diesem Mythosbegriff als einem Prinzip der Überwindung von Bedrohlichem durch Sprache und Bilder sind ebenfalls der für Hofmannsthals Texte stimulierend wirkende Friedrich Nietzsche in der Geburt der Tragödie sowie die hier zu kontrastierende Arbeit am Mythos Hans Blumenbergs verbunden. Bei Nietzsche, Hofmannsthal und Blumenberg lässt sich die iterative Bewegung der Sprache als Grundmotiv, als konstitutiver Teil der »Denkgewohnheit«18 Mythos ausmachen: eine Bewegung, die sich als Mythosgenese beschreiben lässt. Die Versprachlichung von terrorisierender, ängstigender Wirklichkeit ist als bannender Akt, als Apotropaion in der Arbeit am Mythos formuliert. Die zentrale Geste der sprachlichen Bewältigung lässt sich auch in Hofmannsthals Position erkennen, wenn er den »Mythenbildner« als denjenigen kennzeichnet, der »die Phänomene der Welt humanisiert«.19 Inwiefern er antritt, um gerade die Brüchigkeit dieser auf viel narrativer Disziplin ruhenden Humanität zu erweisen, zeigen seine Griechendramen eindrücklich. Hofmannsthal folgt damit überlieferten mythostheoretischen Zuschreibungen von Variation, Ambivalenz und Bewegung, um sie ganz eigen zu wenden, denn im »Mythischen ist jedes Ding durch einen Doppelsinn, der sein Gegensinn ist, getragen«.20 »Apotropaion« wird bei Blumenberg als »Namengebung« gefasst, als die zu »Gestalt und Gesicht bringende Bewältigung eines uns entzogenen Zuvor«.21 Es gilt, die »numinose Unbestimmtheit in die nominale Bestimmtheit 16 17

18 19 20 21

Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 1979, S. 57. Karlheinz Barck, Poesie und Imagination. Studien zu ihrer Reflexionsgeschichte zwischen Aufklärung und Moderne, Stuttgart, Weimar 1993, S. 55f. Gerhart von Graevenitz, Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit, Stuttgart 1987. Hofmannsthal, Reden und Aufsätze III, S. 361. Ebd., S. 257. Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 22.

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zu überführen und das Unheimliche vertraut und aussprechbar zu machen«.22 Im Kontext der ästhetischen Grundfiguren der Mythosvariationen Hofmannsthals ist mit dem Numinosen ein Konzept aufgerufen, das sich nicht zuletzt durch ein fascinosum et tremendum, einen Angst erregenden und gleichzeitig anziehenden Charakter auszeichnet.23 Der Begriff des Numinosen (lat. numen – [göttlicher] Wille, Geheiß) dient der Benennung und Zurichtung dessen, was sich dem Zugriff menschlicher Erfahrungsgrößen eigentlich entzieht und insofern ebenso angsteinflößend wie faszinierend wirkt. Ursprünglich beschreibt der originär religiöse Begriff ein weder intellektuell noch empirisch fassbares (göttliches) Wirken. In Anlehnung an diese Konnotationen eines Überwältigungserlebnisses findet das Numinose Eingang in den Mythosdiskurs und die Poetologie Hofmannsthals: Die sprachliche Bewältigung eines Überwältigenden wird zunächst ästhetisch hergestellt, um dann diese Bewegung doppelnd wiederum in eine Überwältigung der sprachlichen Bewältigung zu münden. Ich werde das im Folgenden ausführen. Die sprachliche Bewältigung als eine Bannung des Numinosen zeigt sich als Vorgehen, das der Autor Hofmannsthal zunächst poetologisch befolgt, das aber seinen Figuren gerade misslingt: Obwohl Pentheus noch versucht, »sich selbst zu erklären: es ist kein Wunder«,24 demonstriert die gewaltige Herrschaftsfigur Dionysos letztlich ihre Übermacht. Obwohl Ödipus seinem Getreuen Phönix von »des Erschlagens Lust«, die er beim Tod des Vaters empfindet, und »an der Mutter Umarmens Lust« ausführlich erzählt,25 kann er sich nicht gegen die »maßlose Begier« wenden.26 Ariadne wiederum will in ritualisierten Klagen die »Schmach«, die Theseus ihr zugefügt hat, »vergessen!«, doch wie ein greller Blitz »zuckt« das Erlebte neu auf und bleibt untilgbar.27 Und auch Elektra versucht nichts anderes als die Ermordung des Vaters durch die Mutter in sprachgewaltige Bilder zu bannen, jedoch vergebens – die »nominale Bestimmtheit« umkreist bei Hofmannsthal stets vergeblich ein bedrohlich Namenloses. Doch nicht nur über den Namen führt ein Weg »zur magischen, rituellen oder kultischen Beeinflussung« der bedrohlichen Wirklichkeit.28 Hofmanns22 23

24 25 26 27 28

Ebd., S. 29. Dieses Begriffsfeld systematisiert bereits 1917 maßgeblich Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 2004. Hofmannsthal, »Pentheus«, in: Dramen III, S. 554. Hofmannsthal, »Ödipus und die Sphinx«, in: Dramen II, S. 397. Ebd., S. 395. Hofmannsthal, »Ariadne auf Naxos«, in: Dramen V, S. 201. Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 22.

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thal betritt in seinen Dramen entscheidende Zwischenstufen auf dem Gang vom Sprachlichen ins Nichtsprachliche. Flankiert von zwei Seiten, dem präsentisch Realen und der repräsentationalen Sprache, treten in einem dramatischen Zwischenraum Medien der Bannung und Beschwörung auf: Opfer, Zerreißung, Verausgabung und Tanz. All diese Phänomene sind kultisch besetzt in der dionysischen Konnotation der gewaltsamen Sprengung des Individuums29 – als Phänomene des Körpers sind sie nicht mehr Sprache und noch nicht namenlos. Diese Einbrüche eines ›Dazwischen‹ sind gestützt durch den daran zugrunde gehenden Körper und verunsichern zugleich die repräsentationale Ordnung der Wirklichkeit qua Dichtung erheblich. Hofmannsthal destabilisiert hier grundlegend eine mythischem Erzählen inhärente Zusicherung, »es sei dies zu Ende gebracht und ›schon lange her‹«.30 Er unterwandert damit eine Funktion mythischen Erzählens, der nicht zuletzt in der Spätromantik eine den Nationalstaat stabilisierende oder gar generierende Rolle zugewiesen war. Der Gedanke einer produktiven Teilhabe am Mythos als kollektiv sinn- und nationstiftender Narration wird dem konservativen Revolutionär Hofmannsthal im Alter nicht allzu fern gelegen haben, denkt man an seinen späten Text Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation (1927). Seine explizite Arbeit am Mythos in den Griechendramen zwischen 1903 und 1910 weist aber noch in eine ganz andere Richtung: Die Eigenart von Hofmannsthals Mythenbearbeitungen zeigt sich darin, dass in ihr erneuernde Wiederholung und zersetzende Variation ineinandergreifen – dass das Kritikpotential des Mythos in die Dynamik mythopoietischer Produktion eingelassen erscheint. Eine Analyse seiner Griechendramen zeigt, dass Hofmannsthals Texte zwar in einem ersten Schritt den Dialog mit ihren antiken (Sophokles), philosophischen (Nietzsche), ethno-soziologischen (Bachofen) und psychologischen (Freud) Intertexten suchen. Darüber hinaus demonstrieren sie aber in der Friktion von Theatralität, Ritualität und Intertextualität den notwen29

30

Fasziniert zeigt sich die Romantik – vor allem Friedrich Creuzers Symbolik und Mythologie der alten Völker (1810–1812) – von fernöstlichen wie griechischen, orgiastischen und individualitätssprengenden Dionysoskulten. Die Figur des Dionysos als zunächst Fremder unter den griechischen Olympiern nimmt eine prominente Stellung in den romantischen Philosophemen ein, die sich an den christlich-messianischen wie entgrenzenden Konnotationen des »kommenden Gottes« ausrichten. Eingehend formuliert und verfolgt hat diese These von Dionysos als metaphorischer Figur der Mythosdeutung in der Romantik Manfred Frank, Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie, Frankfurt a. M. 1982. Hans Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos«, in: Manfred Fuhrmann (Hrsg.), Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München 1971, S. 11–66, hier S. 57f.

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digen Zerfall von poetischen Einheiten – auch der eigenen – als poetologisches Prinzip. Die sich in diesen Dramen manifestierende Kultur der Destruktion nutzt eine Strategie des ›zerstörenden Zitierens‹ und damit gezielt das Verfahren der Intertextualität, um es noch einmal zu überbieten: Die eigene literarische Variation liefert der Autor dem stets zwingenden Zusammenbruch aus und reflektiert damit eine kontinuierliche, vorgängige Dynamik mythopoietischen Schaffens – ein nietzscheanisch gefärbtes ›gelingendes Scheitern‹.31 Im Folgenden wird dieses Vorgehen Hofmannsthals an Textbeispielen ausgeführt und so die poetische Volte in Abgleich und Kontrast zu Blumenbergs Ausführungen dokumentiert. Hofmannsthals Mythosadaptationen werden im Rückgriff auf archaische und intertextuelle Motive zu Mythosvariationen der Moderne.

II. Die Dynamik des Mythos in Hofmannsthals Griechendramen Wie ja alle Entwicklung sich in der Spirale vollzieht32 (Hofmannsthal, Brief an Strauss)

Die Griechendramen sind je eigene Variationen, Umbildungen eines antiken, nicht unmittelbar zugänglichen Kernmythos. Dass jeder Text aber nur eine von vielen möglichen Verwandlungen repräsentiert, zeichnet die transformatorische, vorübergehende, bewegliche und stets zu wiederholender Erneuerung drängende narrative Struktur des Mythos aus. Diese nicht still zu stellende Eigentümlichkeit möchte ich als Dynamik des Mythos bezeichnen.33 Hofmannsthals Dramen sind von dieser Dynamik und der aus ihr resultierenden Instabilität geprägt, ja erheben sie zum Programm. Hier ist Mythos nicht unablässiges Werden der von Wirklichkeit entlastenden Geschichten, sondern Geschichten werden mit dem Einbruch eines Numinosen konfrontiert. Dazu amalgamiert Hofmannsthal die antiken Heroinen und Heroen mit ›tagesaktuellem‹, kultursoziologisch zuzuordnendem Verhalten: So wenn er die 1903 geschaffene Atridentochter Elektra irritierend moderne Qualen schildern lässt, in denen der eigene Vater Agamemnon ihr den »Haß« als eifer31 32

33

Vgl. dazu den Beitrag von Anja Schwennsen im vorliegenden Band. Hofmannsthal in einem Brief an Strauss vom 20. 3. 1911, in: Strauss – Hofmannsthal. Briefwechsel, S. 112. Der Begriff Dynamik beschreibt treffend eine fortwährende Bewegung, eine Beweglichkeit, die etwa im Vergleich zum Begriff Prozess nicht zwingend eine lineare Vorwärtsrichtung meint, sondern durchaus ungerichtet oder zirkulär verlaufen kann. Dieser Bewegung des mythischen Erzählens sind sowohl Teleologie wie Dialektik fremd.

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süchtigen »Bräutigam«34 schickt und sie ihr Leiden als sadistisch-inzestuösen Lustgewinn des toten Vaters gespiegelt findet. In dem Maße, wie ihr Agamemnons Genugtuung als Augenzeuge dieses Leidens sicher scheint, bejaht wiederum Elektra dieses Leiden: Weil der Vater als Zuschauer wiederkommt, »die beiden Augen weit offen«,35 leidet sie »um seinetwillen« durchaus masochistisch.36 Nicht zu unterschätzen ist zudem in dieser von Hofmannsthal modern variierten Familienkonstellation der Atriden ein Lustgewinn, den Elektra selbst aus dem Zufügen von Leiden zieht: »Endlich kommt auch [sie] einmal zu dem erhebenden Gefühle, ein Wesen als ein ›Unter-sich‹ verachten und misshandeln zu dürfen«.37 Nicht umsonst destruiert sie mit mächtiger Verve die utopische Zukunft der verzweifelten Schwester Chrysothemis und weidet sich an der Todesangst ihrer albträumend verheerten Mutter Klytämnestra. Intrikate Zusammenstellungen von Motiven wie die in Wien um 1900 hochaktuellen Phänomene der psychoanalytisch diskutierten Hysterie oder des Masochismus mit denjenigen der antiken Schuldfrage und der möglichen Hierarchisierung von Vater- respektive Muttermord werden zudem flankiert von theatral wie aufführungstechnisch inszenierten Überschreitungen.38 Die von Max Reinhardt kongenial inszenierte Premiere am 30. Oktober 1903 im Kleinen Theater in Berlin hatte ein begeistertes Publikum und zwiegespaltene, euphorische bis wütende, Kritiken zur Folge.39 Man lobte Reinhardt für die 34 35 36 37

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39

Hofmannsthal, »Elektra«, S. 225. Ebd., S. 190. Ebd., S. 227. Friedrich Nietzsche, »Zur Genealogie der Moral«, in: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 300. Nietzsche bezieht sich in diesem Kontext auf die Verschränkung von christlicher Moral und leidender Priesterfigur als Inbegriff des Ressentiments. Vgl. zu Lichtregie, Bühnenbild, Ausstattung, Sprach- und Körpergestus der Darsteller die »Szenischen Vorschriften« Hofmannsthals (»Elektra«, S. 240f.); dazu Monika Meister, »Eine neue Schauspielkunst? Gertrud Eysoldts Elektra-Interpretation in der Uraufführung von 1903«, in: Ilija Dürhammer/Pia Janke (Hrsg.), Richard Strauss – Hugo von Hofmannsthal. Frauenbilder, Wien 2001, S. 195–210. Das Stück wird in den ersten vier Tagen von 22 Bühnen angenommen, ist in allen illustrierten Zeitungen besprochen, bald ist die dritte Auflage des Buches vergriffen, es folgen Aufführungen in Frankreich und England (vgl. Hofmannsthal, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 386f.). Zur (Theater-)Kritik vgl. Gotthart Wunberg (Hrsg.), Hofmannsthal im Urteil seiner Kritiker. Dokumente, Frankfurt a. M. 1972, darin u. a. die ästhetisch-moralische Kritik des konservativen Paul Goldmann (S. 113f.), der psychologisch-ästhetische Beifall einer ästhetizistisch anmutenden Reduktion Alfred Kerrs (S. 75f.) oder die schon damals von Maximilian Harden gesehene psychoanalytisch motivierte Analogie zu Bahrs Dialog und dessen Umsetzung in der Elektra als eine eher diskursanalytische Einordnung unter Verzicht auf ästhetische Kriterien (S. 82f.).

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Gesamtwirkung von Bühnenbild und Kostümen, die von Lovis Corinth und Max Kruse gestaltet waren, die Beleuchtung – minutiös entlang der literarischen Vorlage ausgeführt – und das zu Beginn gespielte musikalische Klassizismuszitat der Ouvertüre der Iphigenie von Gluck in der Bearbeitung Richard Wagners. Mit Beifall wurde auch die schauspielerische Adaptation der Elektrafigur durch Gertrude Eysoldt aufgenommen. Deren »kindlicher, geschlechtslos wirkender Körper von knabenhaften Formen«40 tritt in tanzenden und pantomimischen Elementen als körperlicher Ausdruck dem sprachlich zerfallenden Vokabular deutlich entgegen.41 Zu Recht wird daher der Elektra in diesem Zusammenspiel von Bewegung, Farbe und Raum oft eine entscheidende Stellung in der expressionistischen Modernisierung des Theaters zugesprochen. Im Gegensatz zum Nach- und Nebeneinander der Künste im traditionellen Ästhetikdiskurs verbinden sich für Hofmannsthal Musik, Licht, bildnerische Kunst und Poetik mit den spezifischen Wissensdiskursen der europäischen Moderne, die in Technik, Fortschritt und Geschwindigkeit zugleich Heilsversprechen wie Horror manifestiert sah. Die poetologische Strategie des Jahrhundertwendeautors ergibt eine veränderte – und vor allem veränderliche – Situation: eine theatral wie physikalisch neu gedachte zyklische Raum-Zeit. Ausgehend von der Relativitätstheorie Einsteins und Minkowskis vierdimensionaler Raumzeit formuliert der russische Physiker Alexander Friedmann in Die Welt als Raum und Zeit (1923) erstmals die Theorie eines veränderlichen Weltalltyps: Das Weltall schrumpft auf einen Punkt (zu nichts) zusammen, aus dem Punkt heraus vergrößert es anschließend seinen Radius wieder bis auf einen gewissen Wert, wird dann unter Verringerung seines Krümmungsradius’ erneut zu einem Punkt, und so fort.42

Diese Theorie gilt bis heute als Standardmodell des kosmologischen Urknalls. Dass sich rund zwanzig Jahre zuvor ein ästhetisch-poetologischer Vorläufer dieser iterativen Bewegung von Werden und Vergehen, Vergehen und Werden ausmachen lässt, verweist somit nun gerade nicht auf literarische Verarbeitung naturwissenschaftlicher Gesetze, allerdings ebenso wenig 40

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Carsten Niemann, Die Schauspielerin Gertrud Eysoldt als Darstellerin der Salome, Elektra und des Puck im Berliner Max-Reinhardt-Ensemble, Frankfurt a. M. 1993, S. 64. Vgl. Gabriele Brandstetter, Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt a. M. 1995, S. 198–202 und S. 279–282. In zeitlich enger Folge zu Hofmannsthals Ein Brief (1902) ist diese Hinwendung mit der Elektra (1903) zu Theater und Tanz als richtungsweisend für Hofmannsthals Poetologie zu werten. Alexander Friedmann, Die Welt als Raum und Zeit, Frankfurt a. M. 2006, hier S. 109.

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auf den Literaten Hofmannsthal als Physiker, sondern vielmehr auf die ihnen gemeinsame kulturelle Matrix.43 Diese kennt Zyklus, Kugel und Kreis seit der Antike als Idealform und Symbol des Göttlichen.44 Doch verlagert sich mit einer Dynamisierung dieser Formen das Zentrum immer auch an den Rand: Mittelpunkt und Peripherie bleiben in einer dynamisch sich bildenden und wieder zerfallenden Ringfigur – als konzentrischer Kreis – stets in Bewegung und aufeinander als gleichzeitige Anfangs- und Endpunkte bezogen. Was Friedmann durch den Punkt und den sich vergrößernden bzw. verringernden Krümmungsradius beschreibt, findet seine poetische Repräsentation in sich aufbauenden und wieder zusammensinkenden Formen, ganz plastisch etwa in Rilkes Gedicht Römische Fontäne, »Kreis aus Kreis«45 gestaltet. Bei Hofmannsthal ist es die poetologische Dynamik der mythischen Repräsentation, generierende Figuration und zerfallende Defiguration der jeweiligen Mythosvariation. Hofmannsthals Mythosbegriff favorisiert eine Erzählbewegung, die in zyklischem Aufbau und Abfall eine Ringbewegung beschreibt und sich zudem unablässig wiederholt. Diese Form bietet laut Hofmannsthal »finstere Möglichkeiten, ungeheure gegen einander wüthende Welten aus bohrender Prosa aufzubauen«, die, Rilkes Fontäne vergleichbar, sich als »ein einziger schäumender Wellenkamm« zu einer Erzählung formen, um dann in den »finstern Meeresabgrund« des Vor-Sprachlichen zurückzusinken.46 Bemerkenswert an dem Bild der »bohrende[n] Prosa« ist der subtraktive, zerstörende Charakter, der das Ideal des schöpferisch aufbauenden Künstlers invertiert und damit

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Wenn literarische Formen als Antwort auf und Verarbeitungen von wissenschaftlichen Entwicklungen gelten, lässt sich leicht ihre Eigengesetzlichkeit aus dem Blick verlieren. Um überkommenen Positionen einer ›Einflussforschung‹ zu entgehen, schlägt das Pendel mitunter aber auch in die Gegenrichtung aus: Über das Argument der ›Vorwegnahme‹ werden Literaten beispielsweise zu Naturwissenschaftlern erklärt: eine etwas hilflose Strategie, die eine potentielle Einflussrichtung nur umkehrt, statt Wissensformen und zwischen ihnen stattfindende Wechselwirkungen aneinander auszurichten, indem Ähnlichkeiten als Wissensräume einer gemeinsamen kulturellen Matrix diskutiert werden; ein Verfahren, das bereits Michel Foucault vorschlägt (vgl. Michel Foucault, Die Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 2009). Beispielsweise werden Platons als noch ungeteilt vorgestellte Urmenschen im Symposion als kugelförmig beschrieben, so wie auch die Göttin Demeter oder Plutos Gattin Persephone auf die zyklische Bewegung der Jahreszeiten hinweisen. Rainer Maria Rilke, »Römische Fontäne«, in: Sämtliche Werke, Bd. 1: Neue Gedichte. Rilke Archiv mit Ruth Sieber-Rilke (Hrsg.), besorgt durch Ernst Zinn, Frankfurt a. M. 1987, hier S. 529. Hofmannsthal, »Fragmente aus dem Nachlaß 1«, S. 378.

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eine klassische Genieästhetik unterläuft. Vielmehr parallelisiert die Metapher zunächst den bildhauenden und den sprachlich bohrenden Künstler, der aus einer amorphen Materialmasse den ihr inhärenten Gegenstand der Kunst befreit – und zwar durch Gewaltanwendung. Die Dynamik »bohrender Prosa« stellt zunächst die poetisch gestaltete Form der Mythosvariante her (Figuration), verursacht aber im zwingenden Fortgang der bohrenden Bewegung auch deren Zerstörung (Defiguration). Hofmannsthal selbst bringt es auf den Punkt: Man müsse die »Formen beleben und töten«.47 Dass dieser zweite Schritt, die De-Komposition, das Negativ eigentlicher Fokus von Hofmannsthals Mythosadaptationen ist, erweist sich am Zusammenfall der formalästhetischen Un/Ordnung, der Defiguration, und eines zuverlässig textimmanent erscheinenden ›Unnennbaren‹ – des Numinosen. Dieses Unnennbare als das ebenso Unbegreifbare wie Ungreifbare wird umso auffälliger, als Hofmannsthals mythopoietologische Protagonisten selbst eine ungeheure Sensibilität für die eigene Repräsentationalität aufweisen. Das zwei Jahre nach der Elektra entstandene Drama Ödipus und die Sphinx verfährt in dieser Weise. Am Ende des ersten Teils einer als Trilogie geplanten, doch nie vollendeten Dramenreihe zum mythischen Heros mit den psychokulturell vermutlich weitreichendsten Folgen trifft Hofmannsthals Ödipus, der durch seine Träume bereits um sein Schicksal weiß und darin von der Sphinx nur noch bestätigt wird, erstmals auf die ebenfalls immer schon wissende Jokaste. Wenn im Finale von Ödipus und die Sphinx Jokaste »mit trunkenem Blick« über den Arm von Ödipus sinkt »wie eine geknickte Blume«, erkennt sie »das Dunkel, das wir wissen, und doch lachen wir –«.48 Darin weist sie sich nicht zuletzt als wahre Griechin im Sinne Nietzsches aus, denn »arm sind sie gegen uns, die Götter, die nicht sterben können, arm!«49 Jokaste erfährt hier Vergänglichkeit als in sie eingesunkene »namenlose Lust« und »ungeheures Versprechen«.50 Diese Erfahrung ist eng verknüpft mit der kurz darauf konstatierten Variation der tragisch-griechischen Urszene der Dionysien, die göttliche Präsenz und vermittelnde Repräsentation ineinander aufgehen lässt: Dionysos wird ekstatisch evoziert und stirbt in jedem mythischen Helden erneut – die Opferszene kennt kein ›als ob‹: »Sie setzt eine

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Hofmannsthal, Reden und Aufsätze III, S. 269. Hofmannsthal, »Ödipus und die Sphinx«, S. 485. Ebd., S. 484. Vgl. zur Intertextualität von Hofmannsthals Ödipus und die Sphinx und Motiven Schopenhauers: Monika Fick, »Ödipus und die Sphinx. Hofmannsthals metaphysische Deutung des Mythos«, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 32/1988, S. 259–290. Hofmannsthal, »Ödipus und die Sphinx«, S. 485.

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Sache für die andere« (Hervorh. A. E.).51 Wenn Jokaste konstatiert: Wir »sind mehr als die Götter, wir, Priester und Opfer sind wir« (Hervorh. A. E.),52 verdoppelt sie auf frappante Weise die Stelle der Repräsentation. Im Priester wird sie Stellvertreter göttlichen Willens, im Opfer stellvertretend zum göttlich Gewollten. Diese paralysierende Überdetermination durch die gedoppelte Simultanität von Repräsentationsbezügen, ein paradoxes ›sowohl – als auch‹, verhindert die – gelingender Repräsentation normalerweise folgende – kathartische Distanzierung, die ganz im aristotelischen Sinne in Hofmannsthals Gespräch über Gedichte noch glückt. Szenisch flankiert wird diese Momentaufnahme aus Ödipus und die Sphinx von einem »plötzlichen Glanze«, der Ödipus in »heilige Vergessenheit«53 taucht, und die zusammenbrechende Jokaste wird von dem »Namenlose[n], das noch kommt und doch schon da ist«,54 überwältigt. Gleichzeitigkeit, Epiphanie, Plötzlichkeit sind in Hofmannsthals Szenenanordnung Garanten für die Erfahrung von Präsenz.55 Exemplarisch, doch nicht als ›sowohl – als auch‹, sondern umgekehrt als ›weder – noch‹ lässt sich diese Bewegung ebenso an der Elektra verfolgen. Die Heldin zerfällt von Beginn des Stückes an in zwei dramatische Medien: in das Medium des Wortes und das Medium Körper. Das Wort dient der sprachgewaltigen, auf reines Zeichen-Sein festgelegten Elektra dazu, wechselseitig den begangenen Mord am Vater Agamemnon zu erinnern und den noch zu begehenden Rachemord an der Mutter Klytämnestra zu fordern – darin ist sie lebendes Gedächtnis, Zeichen, Repräsentation. Im Körper ist sie zum anderen ein der rationalen Sprachmacht entgegenstehendes, allerdings nicht minder mächtiges Medium, in dem sich Elektras tierhaft anmutende, dionysische Entgrenzung und ihre oft als hysterisch gelesene, streng genommen aber nur als hysterische Mimesis zu lesende Rhetorik des Leibes manifestieren.56 51

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In Hofmannsthals Gespräch über Gedichte (1903) war der archaische Mensch »einen Augenblick lang […] in dem Tier gestorben«, der poetische Mensch hatte sich später »aufgelöst« in »Symbolen« (Hofmannsthal, Erzählungen – Erfundene Gespräche und Briefe – Reisen, S. 503). Im Opfer wurde die Tat zum repräsentierenden Zeichen: »Sie setzt eine Sache für die andere« (ebd., S. 498). Hofmannsthal, »Ödipus und die Sphinx«, S. 485. Ebd., S. 484. Ebd., S. 485. Vgl. zu dieser Begrifflichkeit Karl Heinz Bohrer, Das Tragische. Erscheinung, Pathos, Klage, München 2009 sowie ders., Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a. M. 1981. Vgl. Antonia Eder, »›L’amour et la haine‹ – Hysterie als poetologische Re-Mythisierung in Hofmannsthals Elektra«, in: Marion George/Andrea Rudolph/Reinhard Witte (Hrsg.), Die Atriden. Literarische Präsenz eines Mythos, Dettelbach 2009, S. 125–142.

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Symptomatisch erliegt Elektra, nach Dialogen von luzider, apollinischer Klarheit, einem finalen dionysischen Hörrausch, der sie von der bis dahin so sprachmächtig beherrschten Kommunikation mit anderen Personen abtrennt; so fragt ihre Schwester Chrysothemis Elektra wiederholt: »Hörst du nicht, so hörst du denn nicht?«57 In diesem Zustand bewegt sich Elektra nun »den Kopf zurückgeworfen wie eine Mänade« und fordert: »schweig und tanze«.58 Dieser Tanz gerät jedoch zu einem »namenlosen Tanz«59 ausgerechnet derjenigen Figur, die nichts als Zeichen war.60 Das Namenlose ihres Tanzes verdeutlicht den unmöglichen Bezug zum semio-logischen Raum der Repräsentation. In Elektra scheitern final zwei genuin verschiedene und doch beide über Repräsentation definierte Medien des Ausdrucks, das Wort und der Körper, an der hereinbrechenden Präsenz des »Namenlosen«: »Elektra liegt starr« im ›Weder – noch‹.61

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Hofmannsthal, »Elektra«, S. 233. Ebd. Ebd. Von neueren Interpretationen des Dramas und dieses Tanzes seien genannt: Mathias Mayer, der in diesem Tanz »kein Moment des Symbolischen, Darstellerischen oder Zeichenhaften« findet, er sei vielmehr »pure Präsenz« (Mathias Mayer, Hugo von Hofmannsthal, Stuttgart, Weimar, 1993, S. 60); Karl Heinz Bohrer, »Die Wiederholung des Mythos als Ästhetik des Schreckens. Hugo von Hofmannsthals Nachdichtung von Sophokles’ ›Elektra‹«, in: Ders., Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit, Frankfurt a. M. 1994, S. 63–91; Gabriele Brandstetter, Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt 1995, insbesondere »Der Tanz der Mänade«, S. 82–206 und »Feuer-Tanz«, S. 275–289; Juliane Vogel, »Priesterin künstlicher Kulte. Ekstasen und Lektüren in Hofmannsthals ›Elektra‹«, in: Hellmut Flashar (Hrsg.), Tragödie. Idee und Transformation, Stuttgart, Leipzig 1997, S. 287–306; Michael Worbs, »Mythos und Psychoanalyse in Hugo von Hofmannsthals ›Elektra‹«, in: Thomas Anz (Hrsg.), Psychoanalyse in der modernen Literatur. Kooperation und Konkurrenz, Würzburg 1999, S. 3–16; Monika Meister, »Die Szene der ›Elektra‹ und die Wiener Moderne. Zu Hugo von Hofmannsthals Umdeutung der griechischen Antike«, in: Henry Thorau/Hartmut Köhler (Hrsg.), Inszenierte Antike. Die Antike, Frankreich und wir, Frankfurt, Bern 2000, S. 59–86; und besonders instruktiv Timo Günther, »Vom Tod der Tragödie zur Geburt des Tragischen. Hugo von Hofmannsthals ›Elektra‹«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 79/2005, S. 96–130. Hofmannsthal, »Elektra«, S. 234.

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III. Mythos und Methode Dem Mythus liegt nicht ein Gedanke zu Grunde, […] sondern er selber ist ein Denken.62 (Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen IV)

Der Mythos als Denken vollzieht sich nach Blumenberg als ästhetische »Depotenzierung archaischer Ängste.«63 Blumenberg erkennt darin eine anthropologische Arbeit, die »von der Daseins- und Überlebens-Angst des Menschen herrührt«, doch im »Dienste der Erkenntnis steht«.64 Poetische Verarbeitung und ästhetische Rezeption der Wirklichkeit legen den Mythos als Distanzierungstaktik des sich qua Geschichten behauptenden Menschen gegenüber dem »Absolutismus der Wirklichkeit« aus.65 Gegen den »bitteren Ernst«66 der Wirklichkeit setzt Blumenberg in seiner ästhetisch fundierten Theorie die unendliche Potenz der Narration: »Jede Geschichte macht der blanken Macht eine Achillesferse«.67 Sein Anliegen ist der »prozessuale Nachvollzug« der »Bildbarkeit« des Mythos.68 Der Mythos lässt sich mit Blumenberg als »Inbegriff derjenigen Leistungen begreifen, die surrogativ nötig und möglich sind, um eine Welt zu ertragen und in einer Welt zu leben«.69 Erst die literarische Vergegenwärtigung ist nach Blumenberg überhaupt die »Gegebenheit des Mythos« und der Rezeptionsprozess unerlässlicher Teil der »geleisteten Arbeit an ihm.«70 Hofmannsthal schreitet mit seinen Tragödien den Weg mythischen Denkens in seiner Umkehrung ab. Er dramatisiert ein in Blumenbergs Mythosexegese stets aus- oder diffus im Dunkeln gelassenes Phänomen: den Einbruch der numinosen Präsenz, die Agonie der bilderreichen Mythosvariation. Hofmannsthal nimmt das Numinose als das Reale ernst, er lässt die Sprache Zug um Zug zurücktreten, gibt das zunächst narrativ bereitete 62

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Friedrich Nietzsche, »Unzeitgemäße Betrachtungen IV«, in: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 485; Nietzsche scheint hier die bei Graevenitz titelgebende Formulierung des Mythos als »Denkgewohnheit« vorwegzunehmen (vgl. Graevenitz, Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit). Jamme, »Gott an hat ein Gewand«, S. 100. Frank, Der kommende Gott, S. 60. Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 9. Ebd., S. 22f. Ebd., S. 22. Stefan Matuschek, »Mythos-Begriff und vergleichende Literaturanalyse«, in: Monika Schmitz-Emans/Uwe Lindemann (Hrsg.), Komparatistik als Arbeit am Mythos, Heidelberg 2004, S. 95–107, hier S. 95. Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 59. Matuschek, »Mythos-Begriff«, S. 106.

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Feld frei für präsentische Phänomene des Numinosen – in Hofmannsthals Texten stets das »Unnennbare«. In den Griechendramen kristallisiert vorerst eine Form des von Blumenberg beschriebenen Prozesses der »Namengebung«: Eine um Entlastung von der Wirklichkeit bemühte Geschichte gewinnt poetische Form. So ist Elektras blutrünstiges Sprechen nichts anderes als der Versuch, in den Zeichen der Sprache den »Absolutismus der Wirklichkeit« zu bannen: sei es die Ermordung des Vaters, sei es die visionär antizipierte Ermordung der Mutter. Die Klagen der Ariadne auf Naxos, deren Beständigkeit an den masochistischen Wiederholungszwang gemahnt, erflehen gerade nicht die von Dionysos selbstsüchtig gewährte und von ihr als Verhängnis erkannte Unsterblichkeit. Doch die poetische Form zerfällt, so dass bei Hofmannsthal stets ein Rest bleibt: Ariadne wird selbst zum anwesenden Abwesenden im Sternenbild, Elektra verharrt kataleptisch auf der Schwelle zwischen Leben und Tod, Jokaste erkennt den Tod als »in meinen Leib hineingesunken«71 und im Pentheus materialisiert sich die Bewegung der Zerreißung noch textuell-ästhetisch in der Form des Fragments. Das von Hofmannsthal stets genannte »Unnennbare« scheint als Numinoses auf im Opfer und im Tanz, in der transitorischen Entgrenzung und der strahlenden Verausgabung der scheiternden Figuren. Diese Erscheinungen sind nicht-fixierbare Dynamiken in Hofmannsthals Dramen. Als autonome, nonverbale Wege aus der skripturalen Figuration bewegen sich diese Phänomene jenseits der Handlungsschemata der mythologischen Grundstoffe. Aufgrund ihrer Vorgängigkeit manifestiert sich in ihnen, ähnlich der Theorie vom veränderlichen, sich ausdehnenden und zusammenziehenden Weltall, das tragische Ende und seine Dauer zugleich – ein Ende mit Schrecken, das einen Schrecken ohne Ende postuliert. Die von Hofmannsthal als unausweichlich behauptete stete Wiederaufnahme der narrativen mythischen Bewältigung (im Sinne Blumenbergs) besiegelt immer schon ihre nachfolgende Überwältigung. Als Kennzeichnung dieser narrativen Gewalt lässt sich in Hofmannsthals Mythenvariationen eine Dynamik von Figuration (verbalem Aufbau) und zwingend folgender Defiguration (nonverbalem Zusammenbruch) diagnostizieren. Für seine Dramen wählt Hofmannsthal aus diesem mythischen Zirkel vorzugsweise einen Ausschnitt, den des Sprachzerfalls. Er verschiebt damit einen Fokus: Die ewige Wiederkehr, das ›Stirb und werde‹ erscheint in Hofmannsthals Mythosbearbeitungen als Schatten, als Negativ, zwar ebenfalls als Konzept der produktiven Kontinuität, aber als eines der ›ewigen Zerstörung‹ – als ›werde und stirb‹.

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Hofmannsthal, »Ödipus und die Sphinx«, S. 485.

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Den nichtsprachlichen Phänomenen wird von Hofmannsthal als »Mythenbildner« zunächst noch Raum in der poetischen, skripturalen Repräsentation gegeben.72 Jedoch ist die repräsentationale Bannung in mythische Geschichten als eine sprachliche Überwältigung lesbar, die ihrerseits wiederum durchaus gewaltsame Züge trägt.73 Diese Logik einer ausgrenzenden Eingrenzung markiert die repräsentationale Formgebung durch Sprache als einen Akt formender Gewalt: Sie ist Überwindung der Kontingenz durch (Sprach-)Regeln. Das Apotropaion als mythisches Verfahren Hofmannsthals versucht jedoch nicht das Unsichtbare, Unnennbare oder Nicht-Darstellbare in dieser ersten Figuration auszulöschen, sondern bejaht dessen »defigurierende Gewalt«.74 Diese Gewalt bannt in nächster Konsequenz die instabil werdende apotropäische Geste selbst wieder. Sprache wird zu tanzender Verausgabung, Opfernde und Opfer, Schmerz und Ich fallen in eins. Die Dynamik der Überwältigung der Bewältigung suspendiert in dieser iterativen Umschlagbewegung keineswegs das Phänomen der Gewalt. Hofmannsthal gestaltet keine Befreiung, sondern die »Last des Glücks«.75 Nach Hofmannsthal konstituiert und affirmiert der Mythos die Vorgängigkeit von Genese und Verfall als gewaltsame Bedingung seiner eigenen Entstehung: Seinem Wesen nach ist er Iteration. In der sprachlichen Repräsentation figuriert sich die eine mythische Variante, um doch immer schon auf die nicht gebannten, vor-repräsentatorischen ›Geister‹ zu verweisen. Diese überschreiten den skripturalen Rahmen der Dramentexte: als Tanz (Elektra), Licht (Ariadne), körperliche Zerreißung (Pentheus), Opfer (Ödipus). Genauer: Die nonverbalen Figuren sind der Durchgang, an dem sich Präsenz und Repräsentation vorübergehend durchdringen. Dies ist die Gründungsszene der griechischen Tragödie, wenn die Gegenwart des Gottes Dionysos im ekstatischen Tanz der Mänaden Gestalt gewinnt, eines sich im anderen entfaltet – 72

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Dieses Phänomen beschreibt Bohrer als eine »permanente Rhetorik des sich überbietenden Schreckens«. Hofmannsthal produziere den Schrecken, der dem Mythos ursprünglich vorausgeht, über »Hieroglyphen«, die, wie Bohrer einwendet, wiederum schon sinn-stiftend und schrift-bildlich konservierend wirkten. Damit fröne Hofmannsthal letztlich der Rhetorik des Schreckens eher, als dass er diesen selbst evoziere (vgl. Bohrer, »Die Wiederholung des Mythos als Ästhetik des Schreckens«, S. 90f.). Zum Zusammenhang von Bannung der Gewalt und der dieser Bannung selbst inhärierenden Gegengewalt vgl. Maximilian Bergengruen/Roland Borgards (Hrsg.), Bann der Gewalt. Studien zur Literatur- und Wissensgeschichte, Göttingen 2009. Bianca Theisen, »Gewalt des Notwendigen. Überlegungen zu Nietzsches Dionysos-Dithyrambus ›Klage der Ariadne‹«, in: Nietzsche-Studien 20/1991, S. 186–209, hier S. 199. Hofmannsthal, »Elektra«, S. 233f.

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wenn Ariadnes Identität sich im Schmerz entfaltet, wenn Pentheus als Opfertier des Gottes Dionysos von den Mänaden zerrissen wird. Hofmannsthal bricht diese gelingende Tragödie der Repräsentation und damit einer aristotelisch verbürgten Distanzierung und Katharsis ab. Den repräsentationalen Raum, den Elektra als »Mänade« semiologisch noch bespielen kann,76 spaltet eine plötzliche Präsenz, die im nunmehr »namenlosen Tanz« gegenwärtig wird.77 Hier kehrt die Mythosvariation an ihrem Nullpunkt ein, im Moment der mythischen Präsenz ist die eine poetisch figurative Repräsentation an ihr Ende gekommen. Der präsenzhaft defigurative Schlusspunkt korreliert dem »Namenlosen«78 in Elektra wie dem »Namenlosen, das noch kommt und doch schon da ist« für Jokaste in Ödipus und die Sphinx.79 Als Figur der Defiguration erscheint das »Nichts«80 in Ariadne auf Naxos und das »Unnennbare«81 im Pentheus. Hofmannsthal stellt in der Instabilität, die das ebenso konstitutive wie konkurrenzielle Verhältnis von Repräsentation und Präsenz in seinen Dramen bestimmt, ein stets zu wiederholendes Neuverhandeln von Wirklichkeit und Poesie zur Diskussion.82 Damit hätte Hofmannsthal im narrativ vollzogenen Ringschluss des Scheiterns seiner mythischen Heldinnen und Helden die Gegenseite zu Blumenbergs Dispositiv der Namen-Gebung gestaltet: die Namen-Nehmung. Diese Bewegung vollzieht Hofmannsthal in seinen Mythosdramen nicht zuletzt im Zeichen theatraler und poetologischer Radikalisierung. Die Frage Blumenbergs, ob der »Mythos zu Ende zu bringen« sei,83 hätte Hofmannsthal damit poetisch ausbuchstabiert – und verneint.

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Ebd., S. 233. Ebd. Ebd. Hofmannsthal, »Ödipus und die Sphinx«, S. 485. Hofmannsthal, »Ariadne auf Naxos«, S. 219. Hofmannsthal, »Pentheus«, S. 554. Dass dieser jeweilige poetische Nullpunkt zugleich Ausgangspunkt einer nächsten möglichen und notwendigen narrativen Re-Präsentation ist, verbürgt wiederum die Konzeption der mythischen Präsenz in der Simultanität von plötzlicher Vergegenwärtigung und latenter Gegenwart – eine Latenz, der sich die Mythosvariationen Hofmannsthals erst verdanken. Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos«, S. 31.

Kunst und Mythos zwischen Präsenz und Repräsentation

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Anja Schwennsen (Hamburg)

Kunst und Mythos zwischen Präsenz und Repräsentation: Cassirers Begriff des mythischen Denkens in literaturwissenschaftlicher Perspektive

Repräsentation ist Voraussetzung von Erkenntnis – so lässt sich der methodische Ausgangspunkt von Cassirers Philosophie der symbolischen Formen zusammenfassen.1 Aber bei aller Mittelbarkeit menschlicher Erkenntnisweisen sucht Cassirer gerade auch die Präsenz sinnlicher Empfindung in seine Bewusstseinstheorie zu integrieren. Der Mythos ist darum bei Cassirer eine Gestaltung der »Fülle des Lebens«.2 Ohne den Topos von der lebensfeindlichen Abstraktion, der sich in den Diskursen der Moderne formiert, wäre diese Explikation des Mythos kaum zu verstehen – eine Explikation, die im Begriff der Gestaltung auf Form und damit auf den Aspekt der Repräsentation im mythischen Symbolbewusstsein verweist und zugleich mit dem Verweis auf das Leben die sinnliche Präsenz dieser Symbole anspricht. Cassirers Begriff des mythischen Denkens, der im Spannungsfeld von Präsenz und Repräsentation bestimmt ist, gilt es im Kontext der lebensphilosophischen Strömung3 der Moderne sowie im Zusammenhang seiner kulturanthropologischen Position zu verstehen. 1

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Ernst Cassirer, Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Birgit Recki (Hrsg.), Bd. 11: Philosophie der symbolischen Formen – Erster Teil. Die Sprache, Hamburg 2001; Bd. 12: Philosophie der symbolischen Formen – Zweiter Teil. Das mythische Denken, Hamburg 2002; Bd. 13: Philosophie der symbolischen Formen – Dritter Teil. Phänomenologie der Erkenntnis, Hamburg 2002. Vgl. Birgit Recki, »Die Fülle des Lebens. Ernst Cassirer als Ästhetiker«, in: Joseph Früchtl/Maria Moog-Grünewald (Hrsg.), Ästhetik in metaphysikkritischen Zeiten. 100 Jahre »Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft«, Hamburg 2007, S. 225–239, hier S. 235. Vgl. auch Ernst Cassirer, »Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen (1925)«, in: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), Hamburg 2003, S. 227–311, hier S. 311. Zu den Wegbereitern und Vertretern dieser Strömung zählen u. a. Schopenhauer, Nietzsche, Bergson, Dilthey, James und Simmel. Die Lebensphilosophie wird hier als Kontrastprogramm zu Rationalismus und Intellektualismus in der Moderne verstanden. Eine sehr brauchbare Übersicht zu den Philosophen des Lebens in der Moderne findet sich schon 1922 in Heinrich Rickert, Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit, 2. Aufl., Tübin-

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Anja Schwennsen

Im Rahmen von Cassirers Philosophie der symbolischen Formen treffen wir auf einen Mythosbegriff, der grundsätzlich unabhängig von Literatur ist, denn Cassirer bezieht sich auf den Mythos nicht vornehmlich als Geschichte, sondern als Bewusstseinsfunktion. Der Mythos wird von Cassirer als symbolische Form bestimmt und ist von der symbolischen Form der Kunst systematisch unterschieden. Wie in zahlreichen neuzeitlichen Mythostheorien ist jedoch auch bei Cassirer die Wissenschaft die Vergleichsgröße, an welcher der Begriff des Mythos als mythisches Denken Kontur gewinnt. Und hier, gegenüber der Abstraktheit der Wissenschaft repräsentieren sowohl Kunst als auch Mythos die »Fülle des Lebens«. Diese Konzeption mythischen Denkens in Abgrenzung zur Kunst, während andererseits die mythische Qualität der Lebensnähe in der Kunst aufgehoben zu sein scheint, bedarf der Erläuterung. Cassirers Einteilung unseres Symbolbewusstseins in reflektiertes und unreflektiertes Gestalten von Wirklichkeit spielt hierbei eine zentrale Rolle. Das Symbol als Inbegriff der Gestalt des Wirklichen wird im Folgenden anhand des Begriffspaares Präsenz und Repräsentation erläutert und in Bezug auf die zwei spezifischen Formen, Kunst und Mythos, aufgeschlossen werden. Eine Diskursanalyse zum Thema Kunst und Mythos zwischen Präsenz und Repräsentation in der klassischen Moderne rückt die Literatur gleichsam unter der Hand in den Blick. Dem zu skizzierenden lebensphilosophischen Diskursfeld ist die poetologische Reflexion immanent. Für die Herauslösung dieses immanenten Literaturverständnisses sollen hier drei methodische Annahmen gelten: (1.) Cassirer bestimmt den Mythos als symbolische Form im Kontext einer Kulturtheorie, die nicht zu verkürzen ist. (2.) Mythos und Kunst sind nach Cassirer nicht das Gleiche, sondern zwei systematisch unterschiedene Bewusstseinsphänomene. (3.) Geschichtsphilosophische und gattungsgeschichtliche bzw. stoffgeschichtliche Thesen lassen das anthropologische Argument, das Cassirer insbesondere angesichts der Eindrücke unserer physiognomischen Wahrnehmung plausibel macht,4 außer Acht.

Die Anwendung Cassirers in der literaturwissenschaftlichen Theoriebildung wird aus diesen Gründen erst dann zulässig, wenn Literatur als ein Medium gilt, an dem sich diese Bewusstseinsform nachvollziehen lässt. Die romantische Bevorzugung von Literatur als mythischem Medium schlechthin wird

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gen 1922; neueren Datums ist die Monographie von Ferdinand Fellmann, Lebensphilosophie. Elemente einer Theorie der Selbsterfahrung, Hamburg 1993. Vgl. Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 1996, S. 124.

Kunst und Mythos zwischen Präsenz und Repräsentation

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hier folglich nicht fortgeschrieben.5 Ebenso wenig möchte ich mich hier Dichtungstheorien anschließen, die den Mythos vorzugsweise in den epischen Formen vor Entstehung des Romans zu erkennen vermeinen.6 Mythisches Denken im Sinne Cassirers kann sich stattdessen, so meine die geschichtsphilosophische Ausrichtung der symbolischen Formen modifizierende These, jederzeit in jeder Art von Kunst manifestieren. Am Beispiel des Namenzaubers in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit7 von Marcel Proust möchte ich abschließend die Gestaltung mythischen Denkens im Medium der Literatur nachweisen und untersuchen.

I.

Der Mythos als Heil der Kultur

Der Mythos scheint zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Antwort auf den negativen Eindruck zu sein, man habe im Gegenwärtigen ein ursprüngliches Weltverhältnis verloren. Simmel bringt 1911 mit seinem Aufsatz »Der Begriff und die Tragödie der Kultur« die fundamentale Kulturkritik der Moderne auf den Punkt. Die kulturelle Entwicklung wird als in sich tragisch beschrieben,8 5

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Dass die aus der Romantik herrührende Vorstellung, Literatur sei ein ausgezeichnetes Medium des Mythos, nicht nur der literaturwissenschaftlich distanzierten Überprüfung bedarf, sondern als medientheoretisch überholt gelten darf, ist u. a. dem Forschungsüberblick Herwig Gottwalds zu entnehmen (vgl. Herwig Gottwald, Spuren des Mythos in moderner deutschsprachiger Literatur. Theoretische Modelle und Fallstudien, Würzburg 2006, S. 42f.). Weitere prägnante Beispiele bietet Roland Barthes’ Essays zu den Mythen des Alltags, die er ganz selbstverständlich auch in der Werbung, im Film, in der Populärwissenschaft oder in der spezifischen Einstellung gegenüber einer Alltagshandlung erkennt; vgl. Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt a. M. 1964. Prominente Beispiele für diese den Mythos einer bestimmten Epoche zurechnenden Auffassungen sind Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Darmstadt, Neuwied 1971 und die sich stellenweise auf Cassirer beziehende Ausarbeitung Clemens Lugowskis. Vgl. Clemens Lugowski, Die Form der Individualität im Roman. Mit einer Einleitung von Heinz Schlaffer, Frankfurt a. M. 1976. Der Versuch einer Transposition des verlorenen griechischen Seins in die moderne Positivität eines neuen Mythos, der sich bei beiden Autoren findet, ist als regressive Flucht aus der Moderne zu werten. Zu dieser Einschätzung vgl. auch Martin Jesinghausen-Lauster, Die Suche nach der symbolischen Form. Der Kreis um die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg, Baden-Baden 1985, S. 243. Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Aus dem Französischen übersetzt von Eva Rechel-Mertens. Luzius Keller (Hrsg.), 5. Aufl., Frankfurt a. M. 2003. Vgl. Georg Simmel, »Der Begriff und die Tragödie der Kultur«, in: Michael Landmann (Hrsg.), Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, Frankfurt a. M. 1987, S. 116–147, insbes. S. 127.

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weil ihr notwendig eine Art Regression des Subjekts innewohne. Ursprünglich sei die Idee der Kultur als Weg der Seele zu sich selbst zu beschreiben,9 in der Moderne jedoch, so lautet die Diagnose, werde das Subjekt angesichts der objektiven Kultur seiner individuellen Entwicklungsmöglichkeiten beraubt. In Anlehnung an Marx betrachtet Simmel die Seele als von den Kulturprodukten entfremdet, weil diese durch arbeitsteilige Prozesse statt aus der Einheit eines seelischen Subjekts entstünden. Eine Ausnahme sieht Simmel lediglich im Werk des Künstlers. Der Zusammenhang zwischen der Akzeptanz dieser fundamentalen Kulturkritik und dem affirmativen Mythosbezug in der klassischen Moderne geht aus den essayistischen Schriften Georg Lukács’ besonders deutlich hervor. Lukács übernimmt die Diagnose Simmels von der Entfremdung zwischen der Seele und ihren Formen nicht nur mit dem Titel seines Essaybandes Die Seele und die Formen.10 Auch Die Theorie des Romans wäre in ihrer geschichtsphilosophischen Anlage ohne den kulturskeptischen Impetus nicht denkbar. Lukács entwickelt im Zuge dieser am Ende Fragment gebliebenen Theorie einen Mythosbegriff, der bewundernd und antizipierend auf die griechischen Mythen bezogen ist. So solle der moderne Roman zurückfinden zu einer »Totalität des Seins«,11 wie sie für die antiken Mythen noch als Struktur gebendes Merkmal gewirkt habe.12 Gleichzeitig wird der Mythos als Ausdruck einer gefühlten Lebensnähe konstruiert, welche vor der kulturellen Bewegung hin zur Abstraktion gelegen habe. Die Entfernung vom Mythischen ist für Lukács immer mit der Gefahr der Lebensferne verbunden. Dem modernen Begriffssystem entgleite das Leben, während der Lebenskomplex »niemals zur Ruhe seiner immanentutopischen Vollendung« gelangen könne.13 Mit Blick auf die Fragestellung des vorliegenden Bandes – Mythos zwischen Präsenz und Repräsentation – können wir hier festhalten, dass Präsenz des Mythos im lebensphilosophischen Diskurs unsere Nähe zur Emotionalität beschreibt und mit dem Wunsch nach einem stärker am Leben orientierten Sein verbunden ist. Der Begriff des Lebens wird zum archimedischen Punkt, von dem aus Wertur9 10

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Vgl. ebd., S. 116. Georg Lukács, Die Seele und die Formen. Essays, Sonderausgabe, Neuwied, Berlin 1971. Lukács, Theorie des Romans, S. 26f. Ein sehr ähnlicher Mythosbegriff findet sich bei Hermann Broch, dessen Sichtweise Gottwald treffend paraphrasiert: Broch sehe in der mythischen Literatur einen »Garant neuer Totalität und Sinnstiftung« (Gottwald, Spuren des Mythos, S. 20f.). Lukács, Theorie des Romans, S. 66.

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teile über die Kulturgüter gefällt werden. Für die Philosophen des Lebens ist die häufig dem Mythos zugeschriebene Präsenz der Emotion stark positiv, die Wissenschaft im Sinne distanzierter Repräsentation von empirisch Nachweisbarem stark negativ konnotiert. Dieser Bezug zum Mythos ist, insofern die Wissenschaft und das abstrakte Denken als vorläufiger Höhepunkt einer als negativ empfundenen kulturellen Entwicklung stilisiert werden, geprägt von einer geschichtsphilosophischen Sichtweise. Voraussetzung dieser Sichtweise ist, dass die Produktion von Mythen in vormaligen Zeitaltern, nicht aber in der Moderne selbst anzutreffen sei, und dass die moderne Lebensweise die ursprüngliche Erfahrung mythischer Präsenz verdrängt habe. Anders Cassirer: Statt der Präsenz des Mythos steht bei ihm das Changieren zwischen Präsenz und Repräsentation im Fokus, eine dem Zeitgeist gegenläufige Grundannahme, die nicht zuletzt den lebensphilosophischen »Dualismus von Subjekt und Objekt« zu überwinden sucht.14 Georg Simmel hatte sich 1911 in seinem Essay »Der Begriff und die Tragödie der Kultur« auf die Kunst wie auf einen Ort des Rückzugs von in der Moderne verdrängten lebensnahen Daseinsformen bezogen.15 Gegenüber dieser für die Lebensphilosophie paradigmatischen Geisteshaltung nimmt Cassirer einen neuen Blickwinkel ein. Die Kunst ist nicht das letzte Refugium, in dem Subjekt und Objekt noch in Harmonie gebracht werden können, sondern sie ist ein möglicher Blickwinkel, »der uns ein reiches, anschauliches, farbiges Bild der Wirklichkeit und einen tiefen Einblick in ihre formale Struktur« gewährt.16 Die Macht der Leidenschaft wird im Werk des Künstlers zu einer bildenden und formenden Kraft. Die Form und damit das Objektive sind demzufolge in jedes Kunstwerk immer schon eingegangen und auch die Rezeption ist an den Nachvollzug des Prozesses der Formgebung gebunden.17 Die symbolischen Formen sind »Organe der Wirklichkeit« und anhand der Kunst macht Cassirer klar, wie dieses den platonischen Wirklichkeitsbegriff ablehnende Diktum zu verstehen ist: Es gibt keine Wirklichkeit, die allein außerhalb oder allein innerhalb unserer selbst existierte. »Subjektives und Objektives, Gefühl und Gestalt müssen ineinander übergehen und völlig ineinander aufgehen, wenn ein großes Kunstwerk entstehen

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Vgl. Simmel, »Tragödie der Kultur«, S. 134 und S. 137. Das Kunstwerk spielt bei Simmel eine besondere Rolle, weil es sich dem Prozess der Arbeitsteilung entziehe (vgl. Simmel, »Tragödie der Kultur«, S. 125f. und S. 146). Cassirer, Versuch über den Menschen, S. 261. Vgl. ebd., S. 229.

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soll.«18 Dieses Zusammenwirken von Objektivität und Subjektivität sei unser produktives »Gestalten zur Welt«.19 Und in Gegenbewegung zu Simmels Diagnose, die sich als Isolierung und Entfremdung des subjektiven Lebens von den starren Gebilden der Kultur respektive des objektiven Geistes paraphrasieren lässt,20 merkt Cassirer zum Ende seiner Studien zur Logik der Kulturwissenschaften an, dass von keiner Starrheit die Rede sein könne, da der Gehalt der Kulturgebilde eben nur dadurch bestehe, dass es stets aufs Neue angeeignet und dadurch aufs Neue geschaffen werde.21 Mit direktem Bezug zu Simmels Aufsatz »Der Begriff und die Tragödie der Kultur« wirft Cassirer seinem früheren Lehrer vor, dass ihn die philosophische Frage nach dem Aufbau der objektiven Welt überhaupt nicht interessiere. Simmels kulturskeptische These von der fortschreitenden Spaltung zwischen subjektiver und objektiver Welt beruhe in letzter Konsequenz auf einer Erwartung, die Cassirer als die der Mystik identifiziert: »Simmel scheint […] die Sprache des Skeptikers zu sprechen; aber er spricht in Wahrheit die Sprache des Mystikers.«22 Denn es sei die Sehnsucht aller Mystik, sich rein und ausschließlich in das Wesen des Ich zu versenken. Die Mystik fordere von uns, alle Bildwelten der Kultur als uns wesensferne Erzeugnisse zu verneinen. Sie fordere den Verzicht auf alle Symbole.23 Symbolfähigkeit ist nach Cassirer jedoch gerade die Voraussetzung für alle Kulturformen. Der Mensch verfüge über eine natürliche Symbolik, mit welcher er sich die Welt erschließe; er sei das animal symbolicum. Die Sinnempfindung, der sich einstellende Eindruck ist nach Cassirer bereits genuine Funktion des Bewusstseins, und das Bewusstsein ist, so Cassirers These, symbolisch strukturiert.24 Hier findet sich der »Wille zum Zeichen«, den Ferdinand Fellmann als notwendige Konsequenz ansieht, die aus der Lebens18

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Ernst Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942). Erste Studie. Der Gegenstand der Kulturwissenschaft«, in: Gesammelte Werke. Bd. 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), Hamburg 2007, S. 357–390, hier S. 388. Vgl. auch ders., »Der Begriff der symbolischen Form und die Systematik der symbolischen Formen«, in: Philosophie der symbolischen Formen – Erster Teil. Die Sprache, S. 9. Cassirer, »Der Gegenstand der Kulturwissenschaft«, S. 388. Vgl. Simmel, »Tragödie der Kultur«, hier insbes. S. 122, 124, 137 und 145. Vgl. Ernst Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942). Fünfte Studie. Die ›Tragödie der Kultur‹«, in: Gesammelte Werke. Bd. 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), S. 462–486, hier S. 469f. Ebd., S. 467. Vgl. ebd., S. 466. Vgl. Birgit Recki, Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 2004, S. 40f.

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philosophie zu ziehen war. Durch die Anerkennung des Symbols werde der ungemäßen Erhebung des Lebens zum Gegenprinzip der Vernunft entgegen gewirkt.25 Mit ihm [mit dem lebensphilosophischen Traum einer symbolfreien Intuition] ist nämlich endgültig deutlich geworden, daß die Zeichen das Bewußtsein der Menschen bestimmen, daß sie das Medium bilden, in dem sich ein differenziertes subjektives Erleben allererst entfalten kann. Die Herrschaft der Zeichen läßt sich nicht mehr brechen, es sei denn um den Preis einer Verarmung des Erlebens.26

Insofern ist es die absolute Anerkennung des Zeichens und nicht vornehmlich die Bestimmung der Merkmale mythischen Denkens, die Cassirers Mythosbegriff von dem seiner Vorgänger oder den kritischen Mythostheorien nach den Erfahrungen im Faschismus unterscheiden.27 Es sind die Bestimmung des Mythos als symbolische Form sowie die Bewertung des Mythos in seinem Verhältnis zur Kultur, die den Unterschied machen.

II. Der Mythos im Bestand der Kultur Der Mythos bildet den Anfang aller kulturellen Formen. Diese Formen oder auch »Organe der Wirklichkeit«28 lösen sich Cassirer zufolge erst allmählich aus dem »Mutterboden des Mythos«.29 Die Anordnung der symbolischen Formen kann insofern, um ein Bild zu verwenden, das John Michael Krois im produktiven Umgang mit Cassirers eigener Bildsprache prägt, als »zentripetal« verstanden werden.30 Im Mittelpunkt steht der Mythos, aus dem sich 25 26 27

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Fellmann, Lebensphilosophie, S. 217. Ebd., S. 218. Dieser Punkt kann hier nicht weiter ausgeführt werden. Beispiele für eine skeptische Lesart sind Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M. 2001, sowie Barthes, Mythen des Alltags. Zum Mythosbegriff Adornos/Horkheimers vgl. auch Christian Vollers Beitrag im vorliegenden Band. Cassirer, »Sprache und Mythos«, S. 233. Vgl. zu dieser Ausdrucksweise Cassirers ebd., S. 310 sowie die in The Myth of the State verwendete Formulierung »as the mainspring of human culture« (Ernst Cassirer, »The Myth of the State«, in: Gesammelte Werke. Bd. 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), S. 251–265, hier S. 262); vgl. auch Reckis Adaptation in ihrer Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (Recki, Kultur als Praxis, S. 84). John Michael Krois, »Problematik, Eigenart und Aktualität der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Formen«, in: Hans-Jürg Braun/Helmut Holzey/Ernst Wolfgang Orth (Hrsg.), Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankfurt a. M. 1988, S. 15–44, hier S. 20. Das Bild der zentripetalen Wirkrichtung der symbolischen Formen findet sich bei Cassirer in: Ernst Cassirer, »Das Sym-

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alle anderen symbolischen Formen – die Religion, die Kunst, die Sprache und die Wissenschaft – ableiten. Weder ist der Mythos das Gegenteil der Vernunft, noch hat die Wissenschaft die mythische Weltanschauung vollkommen abgelöst. Jedoch sieht Cassirer im Fortlauf der Geschichte eine gegensätzliche Dynamik entstehen, da die mythische Weltsicht nach Synthese, die Wissenschaft nach analytischer Genauigkeit strebe.31 Im Spannungsfeld dieser Dynamik entwickelt er die Reichweite und Vielfältigkeit der Kultur. Markantestes Merkmal des Mythos ist sein Wirklichkeitsbezug über das Bild. Das mythische Bewusstsein ist vom Bild besessen.32 Da im mythischen Bild zum ersten Mal Gestalt und Dauer gewonnen wird, können wir dieses gemäß der geschichtsphilosophischen Anlage der Philosophie der symbolischen Formen als die erste Stufe unserer Verfügung über die Wirklichkeit kennzeichnen. Diese Verfügung ist bei aller Präsenz des Bildes im mythischen Bewusstsein insofern Repräsentation, als sich schon in der Funktion des Bildes die symbolische Form an die Stelle setzt, an der zuvor der »Bann der Empfindung« regiert hat.33 Das mythische Bild kennt im Gegensatz zur Wissenschaft keine feste Bestimmung der Dinge und ihrer Eigenschaften, weil ihm die empirischen Daten fehlen. Während wir im diskursiven Denken besonders an den konstanten Merkmalen unserer sinnlichen Wahrnehmung interessiert sind und beständig unterscheiden zwischen substantiell und akzidentell, zwischen notwendig und zufällig sowie zwischen unveränderlich und vorübergehend, herrscht im Mythos noch kein Bewusstsein für die Zuordnung der Seinsbereiche.34 Die mythische Wahrnehmung erstreckt sich nicht über eine Zeitspanne, sondern bleibt auf den Augenblick beschränkt und so ist es der Affekt, die sinnliche Disposition des Augenblicks, welche die Gestalt der Dinge bestimmt. Die erste unterscheidbare Stufe dieser mythischen Gestaltwerdung erkennt Cassirer in der Bildung der »Augenblicksgötter«: In Liebe und Haß, in Hoffnung und Furcht, in Freude und Schrecken verwandeln sich die Züge der Wirklichkeit. Jede dieser Erregungen kann eine neue mythische Gestalt, einen ›Augenblicksgott‹ aus sich hervorgehen lassen.35

31 32 33 34 35

bolproblem und seine Stellung im System der Philosophie (1927)«, in: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), Hamburg 2004, S. 253–282, hier S. 263. Vgl. Cassirer, Versuch über den Menschen, S. 130. Vgl. Recki, Kultur als Praxis, S. 84f. Cassirer, »Sprache und Mythos«, S. 259, 303. Vgl. Cassirer, Versuch über den Menschen, S. 122f. Vgl. Ernst Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942). Zweite Studie. Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung«, in: Gesammelte Werke. Bd. 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), S. 391–413, hier S. 397.

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Die Forschungen Hermann Useners zur Entstehung der Götternamen, denen Cassirer den Gedanken des Augenblicksgottes entnimmt,36 werden von ihm als bedeutender Beitrag zur philosophischen Erkenntnislehre gewürdigt, da sie Aufschluss über die Vorgänge des unwillkürlichen und unbewussten Vorstellens zu geben versprechen. Die von Usener gegebenen Beispiele aus der griechischen und römischen Antike ergänzt Cassirer durch gleich geartete Phänomene, die er der zeitgenössischen Ethnologie entnimmt. Eine besonders ergiebige Quelle ist ihm die Materialsammlung des Missionars Jakob Spieth.37 Cassirer analysiert dessen detaillierte Sammlung mythisch-religiöser Ursprungserzählungen und stellt fest, dass in der Götterwelt der Ewe an die Stelle eines statischen Götterbegriffs ein dynamischer Götterbegriff trete. Ein Affenbrotbaum, eine Quelle, ein Fluss, ein Termitenhügel könnten in den Bereich des Sakralen aufsteigen, wenn sie trõ würden. Einzig bestimmbares Kriterium hierfür sei, dass der jeweilige Gegenstand oder Platz mit einer starken Emotion aufgeladen beziehungsweise mit der Erfahrung der Angst oder Rettung verbunden werde. Wenn beispielsweise der Fluss den vor einem wütenden Tier Flüchtenden gerettet habe, werde der Fluss trõ. Überall und spontan könne die Rettung und die Überwindung der empfundenen Angst einer dem Gegenstand oder Platze innewohnenden Macht zugeschrieben werden. Dieser Gegenstand oder Platz werde »Augenblicksgott«, indem sich in ihm kurzzeitig ein flüchtiger seelischer Inhalt objektiviere. Diese konkreten Beispiele geben Aufschluss über zwei weitere Merkmale, die Cassirer der Bestimmung des Mythischen als des vom Bild besessenen Bewusstseins hinzufügt: Der Mythos unterscheidet zwischen heilig und profan und die mythische Naturauffassung ist sympathetisch. Die mythische Wahrnehmung ist durch ein Verhältnis der Identifikation bestimmt. Überall können aufgrund einer gleich gearteten emotionalen Färbung der mythischen Wahrnehmung »Netze mythischer Gemeinsamkeiten« entstehen.38 Sympathie und Identifikation können an dieser Stelle insofern als Präsenz aufgefasst werden, als durch ihre Wirksamkeit das eigene Leben eine gesteigerte Wirklichkeit erhält. Die Pointe des Changierens zwischen Präsenz und 36

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38

Cassirer bezieht sich in seinem Aufsatz auf eine religionsphilosophische Schrift Hermann Useners: Hermann Usener, Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung, Bonn 1896. Vgl. Cassirer, »Sprache und Mythos«, S. 240f. Ebd., S. 246f. Vgl. Jakob Spieth, Die Ewe-Stämme. Material zur Kunde des Ewe-Volkes in Deutsch-Togo, Berlin 1906. In diesem Punkt stimmt Cassirers Mythosbestimmung mit derjenigen LéviBruhls überein. Vgl. Cassirer, Versuch über den Menschen, S. 127f. Den Hinweis auf diese Übereinstimmung verdanke ich Robert Segal.

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Repräsentation, die Cassirers Mythosbegriff enthält, ist damit jedoch noch nicht erfasst. Cassirer findet weitere Beispiele aus dem Bereich der religiösen Bezeichnungen, die auf eine Schicht der mythischen Begriffsbildung schließen lassen: So müsse das Mana der Algonkin und das Mulungu der Bantu als eine Art des Bemerkens verstanden werden, denn sie bezeichneten einen bestimmten Eindruck, der sich bei allem Ungewöhnlichen, Staunenswerten, Bewunderungoder Furchterregenden einstelle. Für diese Art der erstmaligen Scheidung von Heilig und Profan bildet Cassirer den Begriff der »mythisch-religiösen Urprädikation«.39 Indem er das Material Useners in dieser Weise erweitert, macht er deutlich, dass die mythisch-religiöse Urprädikation für die Funktionsweise unseres Bewusstseins paradigmatischen Charakter hat. Bemerkenswert ist, dass auch diese Urprädikation von Cassirer nicht schlechthin als Präsenz beschrieben wird, denn die Bedingung der Möglichkeit aller Gegenstandserkenntnis ist immer auch Repräsentation. Dies bedeutet für Cassirer jedoch nicht, dass die Präsenz überhaupt keinen bewusstseinstheoretischen Geltungsanspruch mehr besäße, wir können sie bloß nicht scharf von der Repräsentation unterscheiden: Denn kein Inhalt des Bewusstseins ist an sich bloß »präsent«, noch ist er an sich bloß »repräsentativ«, vielmehr fasst jedes aktuelle Erlebnis beide Momente in unlöslicher Einheit in sich.40 Cassirer spricht vom Überspringen eines Funkens, wenn sich die innere Spannung löst, die das Ich noch empfindet, wenn es ganz dem momentanen Eindruck hingegeben und von ihm besessen ist. Das, was hier Präsenz entfaltet, ist das emotional aufgeladene Bild, welches jedoch auch Ergebnis einer Formung durch das Bewusstsein, insofern also Repräsentation ist. Das erste Loslösen vom emotionalen Kontext, die Befreiung vom Affekt, kann sich Cassirer zufolge dann vollziehen, wenn sich die subjektive Erregung objektiviert, indem sie als Gott oder Dämon vor den Menschen hintritt.41 Die mythische Wahrnehmung ist der erste Schritt in Richtung eines objektiven Weltbezugs, auch wenn hier noch kein Bewusstsein von der Differenz zwischen Zeichen und Sache herrscht. Die Anerkennung dieser Differenz vollzieht sich erst durch den Übergang in eine andere symbolische Form. Diese Möglichkeit des Übergangs ist stets gegeben, da für die Philosophie der symbolischen Formen die grundlegende Annahme gilt, dass ein Anschauungsgegenstand nicht an eine einzelne Art der Sinngebung gebunden ist. 39 40

41

Cassirer, »Sprache und Mythos«, S. 284. Ernst Cassirer, »Symbolische Prägnanz«, in: Philosophie der symbolischen Formen – Dritter Teil. Phänomenologie der Erkenntnis, S. 228. Vgl. Cassirer, »Sprache und Mythos«, S. 257.

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Cassirer macht dies am Beispiel des Linienzuges klar, der als geometrische Figur, als mythisches Wahrzeichen oder als Ornament sinnvoll werden kann.42 Es ist jedoch ein genuines Merkmal des Mythos, dass der Wechsel in eine andere Modalität der Sinngebung mit dem Übergang vom unreflektierten zum reflektierten Bewusstsein einhergeht, denn alle anderen symbolischen Formen sind Weisen eines reflektierten Weltbezugs, in denen ein Bewusstsein für das Setzen von Zeichen-Inhalt-Relationen gegeben ist. Der Übergang vom Mythos in eine andere symbolische Form vollzieht sich plötzlich und wird von Cassirer darum auch als Umschlagen bezeichnet. Dieses Umschlagen ist durch den Moment gekennzeichnet, in dem wir Verfügung über die Präsenz des Bildes erlangen und es als Repräsentation erfassen. Im Mythos ist der Bann des Bildes an die Stelle getreten, an welcher zuvor der Bann der Empfindung geherrscht hatte, aber auch dieser Bann kann im fortschreitenden Prozess der Symbolisierung durch Reflexion überwunden werden. Das unwillkürliche und unbewusste Vorstellen wird gebrochen, wenn die unmittelbare Präsenz des Bildes mittelbar wird. Durch diesen Bruch, den Cassirer zwischen der reflektierten und der unreflektierten Vorstellung ausmacht, sind Kunst und Mythos getrennt. Cassirer spricht von einer Umbildung der Inhalte des mythischen Bewusstseins sowie einer Wandlung der Funktion des mythischen Gestaltens, die in der symbolischen Form der Religion begonnen und sich in der Kunst vollzogen habe.43 Die Kunst sei dasjenige Gebiet des Geistes, in dem uns die »Fülle des Lebens« zuteil werde, die wir in unwillkürlichen und unbewussten Bewusstseinszuständen wahrnehmen, aber dieses Leben sei jetzt nicht mehr mythisch gebunden, sondern ästhetisch befreit.44 Gleichzeitig sind alle Formen der Kultur ebenso wie das Kunstwerk nicht bloß starre Gebilde, sondern lebendig, insofern sie einen Prozess des Bildens durchlaufen, der wiederum auf die Spontaneität unseres Bewusstseins verweist. Für diesen Grundzug unseres Denkens findet Cassirer in »Sprache und Mythos« eine besondere Formel: Die Art der »Umsetzung eines bestimmten Anschauungs- oder Gefühlsgehalts in den Laut, also in ein diesem Inhalt selbst fremdes, ja disparates Medium« bezeichnet Cassirer als »radikale Metapher«.45 Indem Cassirer den gängigen Begriff der Metapher erweitert, der das Überschreiten einer konventionellen Ausdruck-Inhalt-Zuordnung beschreibt, sucht er einen 42 43

44 45

Vgl. Cassirer, »Symbolische Prägnanz«, S. 228f. Vgl. Ernst Cassirer, »Die Dialektik des mythischen Bewußtseins«, in: Philosophie der symbolischen Formen – Zweiter Teil. Das mythische Denken, S. 284. Vgl. Cassirer, »Sprache und Mythos«, S. 311. Ebd., S. 259 und 302.

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Punkt zu fassen, an dem Sinngehalte noch nicht als feste Größen gegeben sind, sondern erstmals gesetzt werden. Dieses erstmalige Setzen, das anhand der »Augenblicksgötter« anschaulich gemacht werden konnte, ist Cassirer zufolge eine konstitutive Bedingung für Symbolverfügung überhaupt.46 Birgit Recki, die als Erste auf dieses in der Cassirer-Forschung ansonsten vernachlässigte Theoriestück aufmerksam gemacht hat, hebt hervor, dass die »radikale Metapher« ganz allgemein für die elementare Aktivität steht, die den symbolischen Formen zugrunde liegt.47 Cassirer legt sich nicht auf die Phänomene fest, wenn er davon spricht, dass die »radikale Metapher« die »Bedingung der Sprachbildung sowie die Bedingung der mythischen Begriffsbildung selbst« sei.48 Das Bild ist ebenso wie der Laut, das »Ach!« im Augenblick der Überraschung, ein Beispiel für die »radikale Metapher«. Die Trennung zwischen Mythos und Kunst beginne Cassirer zufolge da, wo der ästhetische Ausdruck über den spontanen Ausfluss machtvoller Empfindungen, wie er sich im Ausruf manifestiert, hinausgeht. Die Kunst sei nicht bloß expressiv, sondern zugleich formend und bildend und repräsentiere auf ihre Art den »dynamischen Prozess des Lebens selbst«,49 der mit der Überwindung des Mythos verloren gehe. Mit dieser geschichtsphilosophischen Redeweise bleibt Cassirer seiner Zeit verhaftet, denn die These von der Überwindung des unreflektierten mythischen Bewusstseins durch den Bewusstseinsmodus der ästhetischen Reflexion lässt sich nicht ohne weiteres mit Cassirers Einschätzung überein bringen, der Mythos sei ein anthropologisches Essential. Obwohl Cassirer die Aktualität des Mythos in Hinblick auf unsere physiognomische Wahrnehmung betont,50 stellt er seinem umfassenden ethnologischen Material kaum ein Beispiel für zeitgenössische Phänomene mythischen Bewusstseins zur Seite. Diese phänomenologische Leerstelle drängt sich insbesondere angesichts der Betonung auf, dass der Mythos im Zentrum der Kultur stehe und für die Funktionsweise unseres Bewusstseins paradigmatischen Charakter habe. Es stellt sich die Frage, an welcher Stelle unserer Kultur wir auf dieses anhand ethnographischen Materials beschriebene Denken treffen. Cassirers geschichtsphilosophische These, der Mythos sei von den anderen symbolischen Formen abgelöst worden, bedarf angesichts dieser Frage der Modifikation – eine Modifikation, die den Schluss nach sich zieht, dass 46 47 48 49 50

Vgl. ebd., S. 302f. Vgl. Recki, Kultur als Praxis, S. 78f. Cassirer, »Sprache und Mythos«, S. 302. Cassirer, Versuch über den Menschen, S. 129. Vgl. ebd., S. 124.

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mythisches Denken immer schon und immer noch eine bedeutende Rolle in unserem Weltverhalten spielt; es ist eine Erfahrungsweise des Alltags. Die emotionalen Qualitäten des Mythos sind, wie Cassirer selbst betont, nicht verzichtbar. Sie sind eine anthropologische Notwendigkeit. Durch das Licht der Wissenschaft wird ihnen lediglich ihre objektive Geltungskraft entzogen.51 Wichtig ist hier, dass die Qualitäten des Mythos – seine Nähe zur Emotion, die suggestive Macht der Bilder, die dramatische Sicht auf die Dinge, das Moment der Identifikation, der Anthropomorphismus, die physiognomische Wahrnehmung, das mythische Setzen von Bedeutung – trotz der Wissenschaft Bereiche unseres Bewusstseins beanspruchen. Hier liegt das Argument für ein Fortbestehen der symbolischen Form des Mythos, die ich mit einem erneuten Verweis auf die Essays Barthes’ bekräftigen möchte: Barthes beschreibt genau, welche mythische Wertigkeit die Nahaufnahme einer Schauspielerin, die Bildkraft eines Werbeplakats oder das Essen eines blutigen Steaks für uns hat.52 In der Kunst sind diese Arten der Intensivierung von Wirklichkeit in besonderer Form aufgehoben. Cassirers kompensationstheoretische Überlegungen zur ästhetischen Erfahrung,53 wie sie bereits in »Sprache und Mythos« anklingen, werden im Versuch über den Menschen weiter entwickelt: Kunst ist Intensivierung von Wirklichkeit ohne Distanzverlust. Die Alltagsrelevanz der mythischen Erfahrung, die wir Cassirers Ausführungen hinzufügen müssen, verweist in noch stärkerem Maße auf den Nutzen, den wir aus der Vermittlungsleistung der Kunst ziehen. Indem die Kunst der Aufhebungsort des mythischen Denkens ist, ist sie zugleich Ort des emotionalen Lernens. Das emotionale Durchleben anhand des Kunstwerks sorgt dafür, dass wir aus der Rezeption emotional reicher hervorgehen.54 Gleichzeitig sind die im Prozess des Lesens involvierten Emotionen wie Mitleid, Kummer, Liebe, Bewunderung, Ärger, Hass und Hoffnung bereits von hoher kognitiver Komplexität.55 Der Leser ist nicht im Bann des Mythos befangen, vielmehr 51 52 53 54

55

Vgl. ebd. Vgl. Barthes, Mythen des Alltags. Vgl. Recki, Kultur als Praxis, S. 114. Vgl. die auf die Literaturrezeption bezogenen Ausführungen von Willie van Peer, »Toward a Poetics of Emotion«, in: Mette Hjort/Sue Laver (Hrsg.), Emotions and the Arts, New York, Oxford 1997, S. 116–224, insbes. S. 221. Die Überzeugung, dass Emotionen nicht reine Präsenz bedeuten, sondern mit einem Akt der kognitiven Repräsentation verbunden sind, hat auch in die Fiktionstheorie Eingang gefunden: vgl. Jerrold Levinson, »Emotion in Response to Art. A Survey of the Terrain«, in: Hjort/Laver (Hrsg.), Emotions and the Arts, S. 20–34, insbes. S. 24. Ebenso: van Peer, »Toward a Poetics of Emotion«, insbes. S. 218.

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muss er eine Verknüpfungsleistung erbringen – beispielsweise indem er sich erstens analogisierend an eine ähnlich geartete emotionale Wahrnehmung erinnert und zweitens den ästhetischen Prozess der Umsetzung durch den Autor würdigt. Der Gedanke der Katharsis erhält hier eine nicht nur über die Tragödie, sondern auch über die Literatur hinausgehende medientheoretische Wendung: Der Begriff der Reinigung lässt sich auf die Gefahren des Mythos beziehen, die ihm als unreflektiertem Weltverhalten innewohnen. Ritual, Tanz und Musik, auf die sich der Begriff der Katharsis seit Aristoteles bezieht,56 wären insofern bereits Aufhebungen und reflektierende Umarbeitungen des Mythos. Statt des auf dem Begriff der »Besserung« fußenden Dichtungskonzepts, mit dem Lessing die Katharsisauffassung der Goethezeit prägte,57 ist in philosophischer Perspektive der Begriff der »Verfügung«58 über die Bewusstseinsgehalte umfassender. Die ethische Reichweite des Begriffs der »Verfügung« geht über den pädagogischen Zeigefinger hinaus und setzt in kantischer Tradition bei der »Freiheit des geistigen Tuns« an.59 Insbesondere im Versuch über den Menschen betont Cassirer, wie Recki herausarbeitet, »den Charakter spontaner und eigenständiger Hervorbringung« sowie den Charakter authentischer Entdeckung.60 Die Sublimierung der Gefühle, die noch im Mythos den Geist in ihren Bann ziehen, vollzieht sich in der Kunst mittels der »Rationalität der Form«.61 Im Begriff der Form ist die produktive wie die rezeptive Seite der Kunst enthalten, denn das Vergnügen an Kunst ist die Freude an den Formen.62 Mittels Form und Gestaltung hält die Kunst die Balance zwischen dramatischer Präsenz und befreiender Repräsentation. Wollte man den Grad der Nähe einer jeden Kunstform zum mythischen Denken bemessen, wäre das privilegierte Medium aufgrund seiner Bildsprache eher noch der Film als die Literatur. Mit der Auflösung des Vorurteils, Mythos sei besonders in der Literatur anzutreffen, wird der Reflexivität des schriftlichen Mediums Rechnung getragen. Denn die Intensivierung von Wirklichkeit vollzieht sich in der Literatur sprachlich reflektiert. Die Suggestionskraft filmischer Bilder muss im Medium der Literatur gleichsam durch 56

57 58

59 60 61 62

Vgl. Carsten Zelle, »Katharsis«, in: Georg Braungart u. a. (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, Berlin, New York, 2000, S. 249–252, hier S. 249. Vgl. ebd., S. 250. Zum Begriff der »Verfügung« im Kontext der Philosophie der symbolischen Formen vgl. Recki, Kultur als Praxis, S. 38–40 sowie S. 114. Ebd., S. 38f. Vgl. ebd., S. 112. Cassirer, Versuch über den Menschen, S. 257. Vgl. ebd., S. 245.

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einen Umweg eingeholt werden. Phänomene mythischen Denkens sind darum, so meine These, innerhalb der Literatur an denjenigen Textstellen zu finden, deren Darstellungsweise in der einschlägigen Einführung in die Erzähltheorie von Matías Martínez und Michael Scheffel in Anlehnung an Genette als »dramatischer Modus« beschrieben ist.63 Von den drei Parametern des erzählerischen Darstellens – Zeit, Modus, Stimme – ist es der Erzählmodus, in dem sich Antworten auf das Paradox of Fiction finden. Wie muss ein Erzähltext beschaffen sein, damit wir auf fiktive Ereignisse mit realen Gefühlen reagieren? Die Antwort ist einfach: Der Erzähler muss die Distanz zum erzählten Geschehen, den Grad an Mittelbarkeit reduzieren bzw. scheinbar auflösen und er muss Fokalisierungen ins Werk setzen, die dem Leser identifikatorische Einstellungen des Bewusstseins ermöglichen. Die dramatische Sicht auf die Dinge, mit der Cassirer das mythische Bewusstsein beschreibt, findet ihre entsprechende Form im Erzähltext jedoch nicht allein im dramatischen Modus, dessen Extremform die »autonome direkte Figurenrede« ist.64 Martínez und Scheffel geben eindrückliche Beispiele, wie auch im »narrativen Modus« der »Eindruck unmittelbarer Präsenz« erzeugt werden kann:65 durch eine Art Selbstvergessenheit des Erzählers, durch das Fehlen von Kommentar und Reflexion, die sich als scheinbare Abwesenheit der narrativen Instanz auswirkt, durch Detailreichtum und nahezu zeitdeckendes Erzählen.66 Die hier erfassten Kriterien narrativer Präsenzerzeugung sollen im Folgenden am Beispiel ausgewählter Passagen aus der Suche nach der verlorenen Zeit von Proust erneut nachvollzogen und um den Aspekt der Darstellung synästhetischer Erfahrung ergänzt werden. Die Hypothese ist dabei, dass für mythisches Denken ebenso wie für den dramatischen Modus gilt, dass sie die Präsenz der Dinge hervorheben und sich durch das Fehlen einer Reflexionsinstanz auszeichnen – mit dem Unterschied, dass die Reflexionslosigkeit des Mythos tatsächlich ist, während dieselbe in der Erzählung kunstvoll inszeniert wird.

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Matías Martínez/Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 3. Aufl., München 2002, S. 49. Ebd., S. 51. Ebd., S. 50. Vgl. ebd.

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III. Mythisches Denken in Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Die Frage nach dem Mythischen in Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung von zwei Perspektiven geprägt. Zum einen bietet der Text die Möglichkeit, nach Motivkorrelationen zu suchen: Welches Szenario bei Proust entspricht welchem mythischen Stoff ? Es sind Glossare aufgestellt worden, die entsprechende Korrelationen dokumentieren.67 Eine solche Herangehensweise scheint zunächst lohnend vor dem Hintergrund, dass Proust diese Analogien in seinen Briefen und Vorarbeiten zur Suche nach der verlorenen Zeit selbst hergestellt hat. Proust selbst vergleicht die unbewussten Erinnerungen, wie er sie im Cahier 8 sammelt, mit den Schatten Vergils und mit Odysseus’ Gespräch mit den Toten aus der Unterwelt.68 Aber schon dieser kreative Vergleich zeigt, dass Prousts dichterische Phantasie den Rahmen der Motivkorrelation sprengt. Dementsprechend ist es sinnvoll, Marie Miguet-Ollangier zu folgen, die in ihrem Lexikonartikel darauf hinweist, dass wir bei Proust ganz allgemein davon ausgehen dürfen, dass er sich des mythischen Referenzsystems bedient, welches ihm seine Kultur offeriert, ohne in den mythischen Stoffen gefangen zu bleiben.69 Zudem wird die mythische Funktion durch das Zitat eines mythischen Bildes nicht automatisch übertragen. Pierre Albouy hat beispielsweise auf die humoristische Funktion des Mythoszitats aufmerksam gemacht, die selbst an tragischen Textstellen wie dem an den Orpheus-Stoff gemahnenden Telefonat Marcels mit der Großmutter von Doncière aus zum Tragen komme.70 Die Frage, welcher imaginative und nicht zuletzt künstlerische Zugewinn in Prousts Umgang mit den Mythen zu finden ist, leitet über zu einer zweiten, weniger glossarisch orientierten Perspektive: Hier sind literarisch realisierte Konzeptionen des Mythischen gemeint, die von den überlieferten Mythen abstrahieren oder ihnen auch nur in der Art des Denkens entsprechen. Es ist die schwierige Frage nach der Verbindung von mythischer Imagination und dichterischem Schaffen, der sich nicht nachgehen lässt, ohne einen allgemeinen Begriff dessen, was mythisch sei, zu befestigen. 67

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Vgl. Marie Miguet-Ollagnier, La Mythologie de Marcel Proust, Paris 1982, S. 417–420 sowie Margaret Topping, Proust’s Gods. Christian and Mythological Figures of Speech in the Works of Marcel Proust, Oxford 2000, insbes. S. 29. Vgl. Marie Miguet-Ollagnier, »Mythologie«, in: Annick Bouillaguet/Brian G. Rogers (Hrsg.), Dictionnaire Marcel Proust, Paris 2004, S. 670–672. Vgl. ebd. Vgl. Pierre Albouy, »Quelques images et structures mythiques dans ›La Recherche du Temps perdu‹«, in: Revue d’Histoire Littéraire de la France 71/1971, S. 972–987, insbes. S. 987.

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In der Proust-Forschung sind es zumeist die Bestimmungen Lévi-Strauss’,71 Lévy-Bruhls und Eliades zum Mythos,72 Merleau-Pontys Wahrnehmungstheorie,73 Piagets psychologische Bewusstseinstheorie sowie die französischen Semiotiker Genette,74 Deleuze75 und Barthes,76 die den theoretischen Ausgangspunkt bilden. Nietzsche und Cassirer finden seltener Erwähnung. Eine Ausnahme bildet die Monografie von Miguet-Ollangier, die in ihrem zweiten Teil Textstellen aus dem zweiten Band der Philosophie der symbolischen Formen mit Passagen aus der Suche nach der verlorenen Zeit in Verbindung bringt: »Enfin la conscience du héros au moment où il est assailli par l’objet qui le sollicite ressemble absolument à celle que E. Cassirer juge caracteristique de la pensée mythique.«77 Cassirers Bestimmung des mythischen Denkens wird hier zur Beschreibung des Bewusstseinszustands des Erzählers herangezogen. Anders als im ersten, als Quellensammlung angelegten Teil ihrer Arbeit folgt Miguet-Ollangier im zweiten Teil der von Albouy übernommenen Prämisse, dass jedem literarischen Werk eine mythische Struktur zugrunde liege.78 Ihre These vom mythischen Helden der Suche nach der verlorenen Zeit (»le narrateur, héros mythique«) stützt sich denn auch auf die von Vladimir Propp aufgestellten Strukturkriterien einer Heldengeschichte.79 Trotz der Bezüge zu Cassirer treffen wir bei Miguet-Ollangier also auf einen stark strukturalistisch geprägten Ansatz, der die philosophische Frage nach den Bedingungen unserer Wahrnehmung, die wir in Anwendung von Cassirers Begriff des mythischen Denkens einbeziehen müssen, nicht aufgreift. Die Beziehung zwischen sinnlicher Wahrnehmung und Repräsentation der Wirklichkeit in Prousts Suche nach der verlorenen Zeit ist hingegen in medienästhetischer Perspektive untersucht worden. Von besonderem Interesse erscheinen hier Szenen wie das Telefonat des Ich-Erzählers mit seiner Großmutter von Doncière nach Paris, das Monokel Saint Loups, das Pianola und selbstverständlich die Laterna Magica im Kinderzimmer des Erzählers. Es ist die Wahrnehmungstheorie Merleau-Pontys, die hier den theoriebildenden 71

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Vgl. Claude Lévi-Strauss, La Pensée sauvage, Paris 1962 sowie ders., Mythologiques II. Du miel aux cendres, Paris 1966. Vgl. Mircea Eliade, Mythes et mystères, Paris 1957 sowie ders., Aspects du mythe, Paris 1963. Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966. Vgl. Gérard Genette, Figures II, Paris 1969 sowie ders., Figures III, Paris 1972. Vgl. Gilles Deleuze, Proust et les signes, Paris 1964. Vgl. Roland Barthes, »Proust et les noms«, in: Ders., Le degré zéro de l’écriture. Nouveaux essais critiques, Paris 1972, S. 118–130 sowie ders., Mythen des Alltags. Miguet-Ollangier, La Mythologie de Marcel Proust, S. 390. Vgl. ebd., S. 18. Vgl. ebd., S. 377.

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Bezugspunkt der Auseinandersetzung ausmacht. Merleau-Pontys These, dass die Synästhesie die Bedingung jeder Wahrnehmung sei, wird von Volker Roloff auf dessen Proustrezeption zurückgeführt.80 Das Grundprinzip der von Proust entwickelten Ästhetik, so Roloff, sei die Medialität jeder Wahrnehmung und Erfahrung. Wenn aber beispielsweise davon die Rede ist, dass insbesondere Blicke nicht über eigene Bilder verfügten,81 und deshalb Medialität für den Blick konstitutiv sei, stellt sich die Frage, ob nicht die philosophische Frage nach der Mittelbarkeit unserer Wahrnehmung durch den Begriff des Mediums verkürzt wird. Der gleiche Eindruck entsteht angesichts der These Rainer Warnings, für Proust sei »Wahrnehmung nicht ein philosophischer, sondern immer schon ein ästhetischer Prozess«.82 Dass die Ästhetik spätestens seit Baumgarten83 eine philosophische Disziplin ist, wird hier offenbar übersehen. Die geistphilosophische Reflexion in Bezug auf die synästhetischen Effekte in Prousts Werk wird in dem Band Die Korrespondenz der Sinne ausgespart. ›Geist‹ ist darin ersetzt durch den Begriff des Mediums oder den des Gehirns.84 So kommt beispielsweise Roloff zu dem Schluss, Proust schaffe synästhetische intermediale Gebilde, die zwar als solche faszinierten, die aber keine ästhetische Botschaft vermittelten.85 Der ebenfalls von Roloff vertretenen Meinung, dass synästhetische Wahrnehmung nicht auf Mythologien rückführbar sei,86 soll hier nicht widersprochen werden. Doch möchte ich im Folgenden rekonstruieren, dass die Beschreibung synästhetischer Wahrnehmung eine Evokation mythischen Denkens ist und dieses wiederum Organisationsprinzip des Textes. Während die Frage nach der Textorganisation die Erzählung als Ebene der Autorintention betrifft, ist es vornehmlich das im Erzählten artikulierte Bewusstsein des Ich-Erzählers, in dem das mythische Bewusstsein Raum ge80

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Vgl. Volker Roloff, »Korrespondenz der Sinne und Synästhesie. Anmerkungen zur Recherche«, in: Uta Felten/Volker Roloff (Hrsg.), Die Korrespondenz der Sinne. Wahrnehmungsästhetische und intermediale Aspekte im Werk von Proust, Paderborn 2008, S. 13. Vgl. Vittoria Borsò, »Dazwischen. Marcel Proust, Deleuze und die Medialität der Wahrnehmung«, in: Felten/Roloff (Hrsg.), Die Korrespondenz der Sinne, S. 249–268, hier S. 251. Rainer Warning, »Wahrnehmungsresonanzen bei Proust«, in: Felten/Roloff (Hrsg.), Die Korrespondenz der Sinne, S. 19–31, hier S. 19. Alexander Gottlieb Baumgarten, Ästhetik. Lateinisch-deutsch. Dagmar Mirbach (Hrsg.), Hamburg 2007. Besonders deutlich wird diese Verschiebung in Kirstin Mlyneks Beitrag: Kirstin Mlynek, »Von Projektionen und Projektoren. Mediale Dispositive bei Proust«, in: Felten/Roloff (Hrsg.), Die Korrespondenz der Sinne, S. 285–302. Vgl. Roloff, »Korrespondenz der Sinne und Synästhesie«, S. 17. Vgl. ebd., S. 15.

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winnt. Bereits der erste, berühmt gewordene Satz der Suche nach der verlorenen Zeit – »Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen«87 – kann für die These einer strukturgebenden Fokussierung des Autors auf Phänomene mythischen Denkens geltend gemacht werden. Es sind diejenigen Augenblicke, in denen sich unsere Art der Verfügung über die Wirklichkeit wandelt – Schlaf, Traum und Erinnerung –, denen in der Exposition des Romans besondere Aufmerksamkeit gilt und die uns darauf vorbereiten, dass wir es auch im Fortgang des Romans mit Phänomenen des Übergangs zu tun haben werden. Ein besonders lyrisches Beispiel für den Wechsel von der reflektierten zur unreflektierten Verfügung über die Wirklichkeit findet sich in den Beschreibungen einer imaginären Bahnreise. Der Ich-Erzähler erinnert sich an eine Art des Vorstellens in seiner Kindheit, in der sich Namen mit seiner inneren Anschauung durchtränkten. Als Kind habe er sich eine Reise mit dem Einuhrzweiundzwanzig-Zug in das Seebad Balbec vorgestellt, die ihm aufgrund seiner schlechten Gesundheit bisher verwehrt worden sei: Wie hätte ich mich entscheiden können zwischen Bayeux, das in seinem edlen, rötlich schimmernden Klöppelgewand so hoch emporragte und dessen Spitze im altgoldenen Schein seiner letzten Silbe erstrahlte; Vitré, dessen Accent aigu die uralten Glasscheiben mit einem Rautenwerk aus schwarzem Holz versteifte; dem weichen Lamballe, dessen weißlicher Ton von Eierschalengelb zu Perlgrau übergeht; Coutances, normannische Kathedrale, die die golden sich rundende Fülle ihres Wortausklangs wie einen Turm aus Butter trägt; Lannion in dörflicher Stille mit dem summenden Ton der Fliege, die der Kutsche folgt; Questambert, Pontorson, komisch und naiv wie weißes Gefieder und gelbe Schnäbel auf der Landstraße zwischen diesen von Flüssen durchzogenen, poesievollen Stätten; Benodet, ein kaum verhafteter Klang, den der Fluß in sein Algengewirr hineinzuziehen versucht; Pont-Aven, weiß und rosa Flattern einer leichten Haube mit ihrem zitternden Widerschein im grünlichen Wasser eines Kanals; Quimperlé, besser befestigt und schon vom Mittelalter her zwischen den Bächen zu Haus, mit denen es sich berieselt und grau überperlt, so wie hinter den Spinnenweben an einer Fensterscheibe die Sonnenstrahlen es tun, deren Aufblitzen sich im gedämpften Schein brünierten Silbers verliert.88

Die Passage steht im dritten, »Namen und Orte: Namen« überschriebenen Teil von Unterwegs zu Swann. Der Erzähler beginnt damit, die Erinnerung an sein Zimmer in Combray mit der Erinnerung an das von ihm bewohnte Zimmer im Grand Hôtel von Balbec zu vergleichen. Vor dem Hintergrund dieser auf der Erzählebene realen Erinnerung an Balbec erinnert sich der Erzähler zudem an seine kindlichen Traumvorstellungen von Balbec, bevor er dieses tatsächlich kennen gelernt hat. Der erwachsene Erzähler beschreibt 87 88

Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Unterwegs zu Swann, Bd. 1, S. 7. Ebd., S. 558.

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eine Art des Vorstellens in Bildern, die Licht, Duft und Farbe einschlossen. Diese Traumbilder hätten sich nicht nur beim Namen Balbec, sondern auch bei der Nennung von Venedig und Florenz eingestellt. Es habe ihm in seiner Kindheit genügt, die Namen dieser Orte auszusprechen, um eine ganz bestimmte Art des Träumens zu erzeugen. Je nach dem, welcher dieser Orte gerade im Vordergrund seines Bewusstseins gewesen sei, hätten sich die jeweiligen Bilder gegeneinander abgelöst und einen Wechsel in der »Tonart seiner Gefühle« hervorgerufen.89 Das Kind hat die Namen der Städte aus der Alltagswelt heraus in den Bereich des Sakralen gehoben; es hat sie zu »Augenblicksgöttern« gemacht. In der oben zitierten Passage, in der sich die beschriebene Synästhesie der Namensbilder wieder findet, dürfen wir uns indes nicht täuschen. Es ist nicht das im mythischen Bewusstsein befangene Kind, das uns die virtuose Allegorese der Namen präsentiert, sondern es ist der erwachsene Erzähler, der, von einem reflektierten Standpunkt aus und mit ästhetischem Bewusstsein begabt, dem Zauber der Namen nachspürt. Die Virtuosität der Passage zeigt, dass der Erzähler hier bereits über seine Eindrücke verfügt. Er hat den im Sinne Cassirers mythischen Bann der Namen und die in ihm aufsteigenden Bilder bereits ästhetisch bewältigt. Es ist eines der strukturgebenden Merkmale der Suche nach der verlorenen Zeit, dass dieser Erzähler stets versucht, möglichst nah an die ehemals erlebte mythische Präsenz der Bilder heranzureichen, und diese wiederum literarisch zu erzeugen sucht. Die erzählerischen Mittel zur Erzeugung dieser Präsenz sind der auch in obiger Passage zu beobachtende plötzliche Tempuswechsel ins Präsens sowie das Prinzip der Steigerung, welches durch die Häufung der onomatopoetischen Assoziationen erzeugt wird. Der Übergang von der Vergangenheitsform ins Präsens kennzeichnet den Versuch des Erzählers, seinen reflektierten, retrospektiv berichtenden Standpunkt zu verlassen. In dieser Weise vollzieht Proust, was Cassirer beschreibt: 1. einen mythischen Umgang mit dem Namen, der durch seine Lautgestalt ohne reflektiertes Bewusstsein von der Differenz zwischen Zeichen und Sache ein Bild des vorgestellten Ortes beschwört, ein Bild, das zudem 2. Cassirers Bestimmung der radikalen Metapher als Pars pro Toto entspricht, und 3., dass in der Poesie das Wort seine ursprüngliche Bildkraft nicht nur bewahrt, sondern in einem Prozess der Aufspaltung und Umformung eine zugleich sinnliche und geistige Wiedergeburt erfährt.90 Die Kunst hat ihre Wurzeln in mythisch-ma89 90

Ebd., S. 553f. Eine mystische Ursprachenlehre wie bei Jacob Böhme lehnt Cassirer ab (vgl. Cassirer, Versuch über den Menschen, S. 200f.).

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gischen Motiven und hält den Zusammenhang mit dem Mythos, ohne dass sie die souveräne Verfügung über die Wirklichkeit je verliert.91 Proust thematisiert diesen Rückgriff, indem er einen Prozess anwachsender Kenntnis des Helden über die Prozesse geistiger Formung beschreibt. Wir lesen einen Entwicklungsroman, der auf die Befähigung zum künstlerischen Ausdruck des Erzählers hinarbeitet. Proust stellt mit seinem Werk die philosophische Frage nach den Bedingungen ästhetisch reflektierten Bewusstseins und wir entnehmen der Entwicklungsgeschichte des Erzählers, dass der Weg dorthin über unreflektierte Modalitäten der Sinngebung verläuft. Nur weil der Erzähler sich einmal im Bann der Bilder befunden hat, kann er später in ästhetischer Form über sie verfügen. Die Reminiszenz wird zum literarischen Verfahren und verweist darauf, dass wir innerhalb der Kunst nie unvermittelt auf Phänomene unreflektierten Bewusstseins treffen. Barthes formulierte 1967 eine weit reichende Überlegung, welche die Bedeutung der Namen für die Suche nach der verlorenen Zeit in eine Linie stellt mit denjenigen Ereignissen, die am Ende des Romans dafür sorgen, dass sich der Erzähler an das Schreiben seines Werks macht. Der Name sei die linguistische Form der Reminiszenz, so die These.92 Es sei aufgrund der Wandelbarkeit und semantischen Fülle der Namen sogar möglich, davon zu sprechen, dass die gesamte Poesie der Suche nach der verlorenen Zeit allein aus ein paar Namen entstanden sei.93 Barthes verweist auf eine Parallele zwischen innerer Struktur des Namens, seiner Kraft zur Essentialisierung und Plot, die an Useners und Cassirers Konzept der Augenblicksgötter erinnern: Namen eignen sich demnach in besonderer Weise, eine Verbindung zum mythisch-magischen Zusammenhalt herzustellen. Mythisches Denken – so wie Cassirer es bestimmt – geht jedoch nicht in der Namensallegorese auf. Sie gibt hier lediglich ein Beispiel für die Intensität, mit der Proust die Magie des Mythos beschwört. Weitere Beispiele lassen sich in den Momenten unwillkürlichen Erinnerns, in den Beschreibungen von Physiognomien sowie der sympathetischen Wirkung von Räumen und Gegenständen auf den Erzähler finden.94 Mythisches Denken begegnet uns in der Suche nach der verlorenen Zeit nicht bloß punktuell, sondern grundlegender als Teil des Plots.

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Vgl. Cassirer, »Sprache und Mythos«, S. 311. Vgl. Barthes, »Proust et les noms«, S. 121. Vgl. ebd., S. 124. Eine Ausarbeitung dieser Elemente findet sich in meiner zurzeit in Arbeit befindlichen Doktorarbeit Mythisches Sprechen in der Literatur, betreut von Prof. Hans-Harald Müller und Prof. Birgit Recki.

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Christian Voller (Bochum)

Wider die ›Mode heutiger Archaik‹: Konzeptionen von Präsenz und Repräsentation im Mythosdiskurs der Nachkriegszeit*

Zu dem Anfang, auf den konvergiert, wovon hier die Rede ist, will nichts zurück. Alles bemißt sich vielmehr in Distanz zu ihm.1 (Blumenberg, Arbeit am Mythos) Das Vergangene muß Gegenwart werden, um als ein Vergangenes betrachtet werden zu können.2 (F. G. Jünger, Griechische Götter)

Nachdem der Versuch Alfred Rosenbergs, den ›Mythus‹ in nationalsozialistischem Geist wiederherzustellen, für das zeitgenössische Mythosverständnis weitgehend folgenlos geblieben war, entwickelte sich in den 1940er Jahren ein Mythosdiskurs, der für die sich nun formierende Nachkriegsphilosophie prägend sein wird. War die große geschichtsphilosophische Erzählung einer Menschheit, die sich aus Naturverfallenheit und mythischem Aberglaube in Richtung Freiheit, Zivilisation, Vernunft und Selbstbewusstsein emanzipiert, schon mit dem Ersten Weltkrieg in die Krise geraten, so entzogen ihr die Ereignisse 1933–1945 die Legitimation endgültig. Heraufkunft und Niedergang des Dritten Reichs, die gemeinschaftlich verübten Verbrechen gegen die Menschlichkeit und schließlich der verlorene Zweite Weltkrieg besiegelten in Deutschland die traumatische Erfahrung einer gescheiterten Aufklärung und leisteten einer Renaissance des Mythos als deren Gegenbegriff Vorschub. Insbesondere in den westlichen Besatzungszonen und der jungen BRD entspann sich daraufhin ein Diskurs, der von dem Versuch getragen war, den Mythos zu rehabilitieren, wobei man auf Konzepte aus der Kriegs- und Zwischenkriegszeit zurückgreifen konnte. Bereits 1930 hatte Ernst Bloch prognostiziert, mit »wilder Jubelsprache und ungestörter Irratio« müsse endlich »der Feind« triumphieren, wenn die * Die ausführliche Ausarbeitung des vorliegenden Aufsatzes am Deutschen Literaturarchiv Marbach a. N. wurde durch ein Stipendium für Ideengeschichte der Gerda Henkel Stiftung ermöglicht. 1 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 1979, S. 28. 2 Friedrich Georg Jünger, Griechische Götter. Apollon, Pan, Dionysos, Frankfurt a. M. 1943, S. 8.

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progressiven Kräfte ihm den Mythos, das Primitive und die Utopie allein überließen: »Der Erfolg der nationalsozialistischen Utopie quittiert, seines Teils, den allzu großen Fortschritt des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft«.3 Gegen den Mythos hatte sich der wissenschaftliche Sozialismus Bloch zufolge in eine finstere Sackgasse manövriert. Weil er den Mythos weder überwinden noch sinnvoll in sein Programm einbinden konnte, musste er in Zeiten der Krise und der Angst dem modernen Talmi-Mythos der Nationalsozialisten unterliegen. Was Bloch für den westlichen Marxismus ausführte, übertrugen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer auf die Aufklärung im Allgemeinen, als sie in ihrer epochalen Dialektik der Aufklärung konstatierten, der Terror des Mythos sei gerade vermittels einer Aufklärung, die den Mythos unerbittlich auszumerzen trachtete, in die Welt zurückgekehrt. Und Thomas Mann hatte, ganz im Sinne Blochs, wenn auch aus dezidiert konservativer Perspektive, bereits 1941 die Losung ausgegeben, man müsse den »fascistischen Dunkelmännern« den Mythos »aus den Händen nehmen«, um dem »intellectuellen Faszismus« etwas entgegenzusetzen.4 Die traditionelle Opposition Aufklärung vs. Mythos wurde damit gerade von Seiten derer hinterfragt und durchkreuzt, die angesichts des nationalsozialistischen Triumphs an einer aufklärerischen Position festhielten. Ein Projekt, dem beispielsweise auch Ernst Cassirer zuarbeitete und das Hans Blumenberg schließlich auf den Begriff der Arbeit am Mythos bringen sollte. Der Versuch, Elemente mythischen Denkens mit der Aufklärung zu vermitteln und so konträre Pole der klassischen Geschichtsphilosophie kompatibel zu machen, traf im Nachkrieg allerdings auf ein Denken, dem sowohl der esoterische Sprachduktus als auch der antiaufklärerische Kult des Irrationalen, wie sie beispielsweise die ›Kosmische Runde‹ um Ludwig Klages, Karl Wolfskehl und Alfred Schuler kultiviert hatten, über das Dritte Reich und den Krieg hinweg verbindlich geblieben waren.5 Während der Mythos einerseits als rational vermittelter rehabilitiert und in den Dienst des Projekts 3

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Ernst Bloch, »Amusement Co., Grauen, Drittes Reich (September 1930)«, in: Ders., Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt a. M. 1985, S. 61–69, hier S. 66. Vgl. die Briefe Thomas Manns an Karl Kerényi vom 18. Februar und 7. September 1941 in: Karl Kerényi (Hrsg.), Thomas Mann – Karl Kerényi. Gespräch in Briefen, Zürich 1960, S. 97–100. Zu Thomas Manns Arbeit am Mythos vgl. insbes. Manfred Frank, »Die alte und die neue Mythologie in Thomas Manns ›Doktor Faustus‹«, in: Herbert Anton (Hrsg.), Invaliden des Apoll. Motive und Mythen des Dichterleids, München 1982, S. 78–94. Zur ›Kosmischen Runde‹ und der ersten Generation moderner Archaiker vgl. Manfred Frank, Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie, Frankfurt a. M. 1982, insbes. S. 30–41.

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Aufklärung gestellt werden sollte, arbeiteten Denker wie Walter F. Otto, die Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger, der Theologe Friedrich Karl Schumann und andere an Mythoskonzepten, die den direkten und unvermittelten Zugriff auf Ursprung und Wesen eines Mythos anstrebten, der gegen modernen Nihilismus und Aufklärung in Anschlag gebracht werden sollte, um jene ›heile Welt‹ zu restaurieren, der sich die Menschheit im Zuge der Modernisierung entfremdet hatte. Der Nachkriegsdiskurs um den Mythos war somit von zwei Positionen geprägt, anhand deren sich die hier vorgeschlagene Differenzierung zwischen einerseits repräsentationsorientierten und andererseits auf Präsenz zielenden Mythosbegriffen exemplifizieren lässt und auf ihre Tragfähigkeit als historiographische Heuristik hin überprüft werden kann. Als repräsentationsorientiert sind dabei Mythoskonzepte zu verstehen, die auf der (ursprünglichen) Vermitteltheit des Mythos insistieren, ihn selbst als vermittelnde Instanz zwischen Mensch und Welt auffassen und das mythische Denken als prozesshaft und fortschreitend analysieren. Im Mythos sind ursprüngliche Erfahrungen (der Angst und der Ohnmacht) repräsentiert, die im Weiterspinnen des mythischen Stoffs zunehmend verarbeitet und depotenziert werden. Weil der eigentlich mythische Kern des Mythos im Zuge dieser Kette von Repräsentationen der Repräsentation im bearbeiteten Mythos auf immer verloren ist, kann die Geschichte des Mythos nur als Rezeptionsgeschichte gedacht werden. Repräsentation erscheint somit in erster Linie als eine Kategorie der Vermittlung. Auf Präsenz zielenden beziehungsweise präsenzfixierten Mythoskonzepten, wie ich sie hier vorstellen möchte, ist es hingegen darum zu tun, die Vermitteltheit des Mythos, etwa im Epos, zu hintergehen, um über den Mythos mit den Mächten des Ursprungs in direkten Kontakt zu treten. Seinem Wesen nach ist der Mythos nicht auf Distanzierung und Vermittlung angelegt, sondern fungiert im Gegenteil als Tor zur Vorwelt und Residuum der Ursprünglichkeit jenseits rationaler Vermittlung. Anstatt sie denkend zu depotenzieren, gilt es deshalb, die Mächte des Ursprungs, die im mythologischen Stoff eher konserviert als repräsentiert erscheinen, vor Augen zu führen, womöglich aufs Neue zu entfesseln und zur Geltung zu bringen. Dabei wird der Mythos nicht nur traditionell als Gegenbegriff zu Ratio und Aufklärung verstanden, sondern entscheidenderweise auch zu Geschichte. Er selbst hat keine Geschichte, sondern erscheint als ursprünglich und überzeitlich zugleich. Seine zyklische Struktur wird der linear gedachten Fortschrittszeit der modernen Geschichtsphilosophie entgegengesetzt und vor dem Hintergrund des grassierenden Fortschrittsskeptizismus als Antwort auf das katastrophale Scheitern der Modernisierung präsentiert.

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Die Konfrontation der somit umrissenen Positionen während der 1940er–70er Jahre soll hier in groben Zügen rekonstruiert und über die Leitdifferenz Präsenz/Repräsentation aufbereitet werden. Das Hauptaugenmerk wird dabei auf den Arbeiten Blumenbergs für die eine und F. G. Jüngers für die andere Seite liegen. In ihnen finden sich die jeweiligen Positionen pointiert ausformuliert. Jedoch soll es nicht allein darum gehen, die augenscheinlich konträren Ansätze gegeneinanderzustellen, sondern aufzuzeigen, dass sich das Pathos repräsentationsorientierten Denkens über den Mythos aus einer Abgrenzung zu präsenzfixierten Mythoskonzepten speist und die Arbeit am Mythos zu guten Teilen als Arbeit wider eine »neuere Schwärmerei für den Mythos« gedeutet werden kann.6 Nicht nur Bloch, Cassirer, Adorno, Horkheimer und Thomas Mann begegneten mit ihren jeweiligen Mythoskonzepten »wilder Jubelsprache und ungestörter Irratio« eines konkreten Feindes, sondern auch Blumenberg war, so meine Arbeitshypothese, ein in diesem Sinne polemischer Denker, für den die Arbeiten etwa F. G. Jüngers eine willkommene Provokation darstellten, die merkliche Spuren in seinem Denken hinterlassen hat, auch wenn dies kaum je explizit gewürdigt wird. Denn wenngleich fast 20 Jahre zwischen den Bemühungen der beiden um ein adäquates Mythosverständnis liegen – Jüngers einschlägige Abhandlungen erscheinen zwischen 1943 und 1947, Blumenberg beginnt sich Mitte der 1960er Jahre intensiv mit dem Mythos auseinanderzusetzen –, verbindet sie doch der Umstand, dass sich sowohl Blumenberg als auch Jünger zeitlebens mit den Themen Mythos und Technik beschäftigten, die sie wiederholt engzuführen suchten. Für beide ergab sich daraus eine gesteigerte Sensibilität für die Figur Prometheus und die Stofftradition, die sie umrankt. Die folgende Ausführung wird sich deshalb in zwei Teile gliedern: In einem ersten Abschnitt sollen die beiden Mythoskonzepte referiert und konfrontiert werden, um eine Analyse ihrer politischen, geschichtsphilosophischen und zeitdiagnostischen Implikationen vorzubereiten. Ein Ansatz zu einer solchen Interpretation soll dann im zweiten Abschnitt am Beispiel Prometheus vorgelegt werden, dessen Geschichte die Frage nach dem Mythos seit Herder explizit, im Grunde jedoch bereits bei Aischylos,7 mit Fragen nach Geschichte, Technik und Fortschritt verbindet.

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Hans Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos«, in: Manfred Fuhrmann (Hrsg.), Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München 1971, S. 11–66, hier S. 22. Vgl. Aischylos, Der gefesselte Prometheus, insbes. V 440–471.

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I.

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›Denken über die Mythe‹ vs. ›Arbeit am Mythos‹

Während Blumenbergs Arbeit am Mythos heute allgemein anerkannt ist, sind die Versuche Friedrich Georg Jüngers, den Wesen des Mythos eine »erneuerte Verehrung« entgegenzubringen,8 indem man sie so sinnlich erfasst, wie sie in der ›Mythe‹ gezeichnet sind, weitgehend in Vergessenheit geraten. Diese Tatsache sollte allerdings nicht dazu verleiten, F. G. Jüngers Bedeutung für das intellektuelle Milieu in der jungen BRD zu unterschätzen. Seine Suche nach einem unmittelbaren Zugang zum mythischen Stoff gehört in den Zusammenhang jener ›neuen Theologie‹ (Ernst Jünger),9 die nach der Erfahrung des verlorenen Zweiten Weltkriegs breiten Schichten der deutschen Bevölkerung, namentlich den konservativen Kräften, eine neue Spiritualität ermöglichte, in der sich die Moderneskepsis, die sie schon vor dem Krieg gehegt hatten, fortschreiben konnte. F. G. Jünger war nach dem Krieg ein viel gelesener und mit Preisen ausgezeichneter Dichter, Essayist und Kulturkritiker, der als Vortragsredner insbesondere wegen seiner technikkritischen Position gefragt war. Sein Bestseller Die Perfektion der Technik ist bei Vittorio Klostermann unlängst in der achten Auflage erschienen10 und als Vorbote einer Öko-Bewegung, die Jünger als Rechtskonservativen zu Lebzeiten freilich schmähte, erlebte sein Denken verschiedene Renaissancen. Seine Überlegungen zum Thema Mythos wurden bisher allerdings kaum gewürdigt, was insofern bemerkenswert ist, als ihr Verhältnis zur Technikkritik einigermaßen evident erscheint. Sowohl die mythostheoretischen Abhandlungen als auch die zahlreichen Gedichte und Erzählungen, die mythologischem Stoff gewidmet sind, werden von dem Wunsch getragen, die Kraft des Mythos (wieder) zu entfesseln, um sie wirkmächtig gegen die technische Moderne zu stellen; und schon die Perfektion der Technik ist gespickt mit Verweisen auf die griechische Mythologie, denen nicht gerecht wird, wer sie lediglich als ornamentales Beiwerk eines humanistisch Gebilde-

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Friedrich Georg Jünger, Griechische Mythen, Frankfurt a. M. 1947, S. 12. Zur Wirkung des Begriffs einer ›neuen Theologie‹ nach Ernst Jünger auf Blumenberg vgl. dessen Artikel »Ernst Jünger – Ein Fazit« in den Düsseldorfer Nachrichten vom 26. März 1955 sowie das Vortragsmanuskript »Ernst Jünger als geistige Gestalt« (gehalten am 29. November 1949 in Kiel), in: Hans Blumenberg, Der Mann vom Mond. Über Ernst Jünger. Alexander Schmitz/Marcel Lepper (Hrsg.), Frankfurt a. M. 2007, S. 24–27 und S. 9–21. Friedrich Georg Jünger, Die Perfektion der Technik, Frankfurt a. M. 2010. Im Folgenden wird nach der zweiten Auflage des Buches von 1949 zitiert, da sie in jenem Zeitraum, um den es geht, verbreitet war: Friedrich Georg Jünger, Die Perfektion der Technik, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1949.

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ten begreift.11 Wenn Jünger 1947 »inmitten einer Zeit des Titanismus […] an einem Wendepunkt des Denkens, im Zustand jener Ungewissheit, der mit dem Fortgang des wissenschaftlich exakten Wissens genau zusammenhängt«, postuliert, die ›Mythe‹ belehre uns über manches, das die Wissenschaft vergessen habe, weshalb man die »hesperischen Bemühungen« gerade jetzt, im Nachkrieg, nicht einschlafen lassen dürfe, so steht dahinter ein Mythoskonzept, das unumwunden auf Aktualität und Wirklichkeit des Mythos in der technischen Moderne abzielt.12 Jünger möchte, wie zu zeigen sein wird, gegen die vermeintlich rationalistischen Tendenzen seiner Zeit ein ursprüngliches, reines und irrationalistisches Verständnis des Mythos etablieren und bekennt sich somit zu jener Mode »heutiger Archaik«, gegen die Adorno und Horkheimer 1944 ihren berühmten Odyssee-Exkurs ins Feld geführt hatten.13 Was die Autoren der Dialektik der Aufklärung »weit vom Schuß«,14 Blumenberg »sicher wie in der Höhle des Löwen«15 überlebt hatten, konnte F. G. Jünger skeptisch aus der ›inneren Emigration‹ am Bodensee beobachten. Bekannt geworden war er als radikaler Vorkämpfer eines neuen Nationalismus im Umfeld der Frontkämpferverbände, wo er zusammen mit seinem Bruder prototypisch für die jüngste und entschlossenste Generation jener Gruppe stand, die Armin Mohler nach dem Krieg als Konservative Revolution (re-)konstruieren sollte.16 Zum Nationalsozialismus, den er als letzte Verfallsform des demokratischen Bürgertums, als eine »plebiszitäre Demo11

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Zu Jüngers Schulbildung, die keine humanistische im engeren Sinne war, vgl. Ulrich Fröschle, Friedrich Georg Jünger und der ›radikale Geist‹. Eine Fallstudie zum literarischen Radikalismus der Zwischenkriegszeit, Stuttgart 2008, S. 53–140. Vgl. Jünger, Mythen, S. 8f. Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M. 1988 (1. Aufl. Amsterdam 1947), S. 52. Namhaft stehen Ludwig Klages und Rudolf Borchardt für die ›Mode heutiger Archaik‹. Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt a. M. 1951, S. 33. Hans Blumenberg, »Der Parteibeitrag«, in: Ders., Die Verführbarkeit des Philosophen. Hans Blumenberg-Archiv in Verbindung mit Manfred Sommer (Hrsg.), Frankfurt a. M. 2005, S. 75–79, hier S. 76. Zu Jüngers neuem Nationalismus vgl. Fröschle, Radikaler Geist. Zum Problem der Konservativen Revolution einerseits Armin Mohler, Die Konservative Revolution in Deutschland. Grundriß ihrer Weltanschauung, Stuttgart 1950, andererseits Stefan Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1993. Im Zuge seiner Recherche zu diesem Buch ›entdeckte‹ Breuer auch F. G. Jünger, den er zusammen mit Elias, Foucault, Adorno, Luhmann, Virilio, Marx, Hegel u. a. für seine Theorie einer ›dialektischen Entropologie‹ dienstbar machte (vgl. Stefan Breuer, »›Nicht der Anfang, das Ende trägt die Last.‹ F. G. Jünger und die Perfektion der Technik«, in: Ders., Die Gesellschaft des Verschwindens. Von der Selbstzerstörung der technischen Zivilisation, Hamburg 1992, S. 103–130).

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kratie«,17 wertete, ging Jünger früh auf Distanz und zog sich Ende der 1930er Jahre, enttäuscht über das Scheitern einer nationalen Revolution in seinem Sinne, aus Berlin zurück. An die Stelle von Kriegsapotheose und Nationalismus traten nun die Themenfelder Natur, Technik und Mythos, wobei das antimoderne Ressentiment, das bereits seine nationalrevolutionäre Publizistik ausgezeichnet hatte, im Grunde ungebrochen erhalten blieb. Walter Benjamin schrieb über den ›destruktiven Charakter‹, es sei die Natur, die ihm das Tempo seiner Arbeit vorschreibe, »denn er muß ihr zuvorkommen. Sonst wird sie selber die Zerstörung übernehmen«.18 So gesehen verbündete sich F. G. Jünger nach seiner Abkehr vom nationalistischen ›Tat-Denken‹ mit der Natur gegen jene Zivilisation, der er in der Zwischenkriegszeit noch mit Waffengewalt beizukommen suchte. Die Rache der ›Elementargeister‹ gegen die ›vernutzende‹ Technik (d.i. die moderne Zivilisation) ist ein, wenn nicht das Leitmotiv der Jünger’schen Technikkritik.19 Und jene ›Elementargeister‹ sind es auch, denen er ›über die Mythe‹ wieder Geltung verschaffen möchte. Nachdem er sich im Rahmen des antikisierenden Lustspiels Der verkleidete Theseus, das am 28. November 1934 in Frankfurt am Main uraufgeführt wurde, intensiv mit der antiken Mythologie auseinandergesetzt und verschiedene Gedichte verfasst hatte, die mythologischen Stoff variierten, wobei er sich 17

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Vgl. Friedrich Georg Jünger, »Über die Gleichheit«, in: Widerstand. Zeitschrift für nationalrevolutionäre Politik, Heft 4, April 1934, S. 97–101, insbes. S. 98f. Jüngers Mitarbeit an Ernst Niekischs Widerstand, dessen Hilfsredakteur er zeitweise war, ist von einiger Bedeutung, da er hier unter dem Einfluss Niekischs seine technikkritische Position herauszuarbeiten beginnt und erste Gedanken zum Mythos sowie seine antikisierenden Gedichte veröffentlicht. Walter Benjamin, »Der destruktive Charakter«, in: Ders., Gesammelte Schriften. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hrsg.), Bd. 4/1, Frankfurt a. M. 1981, S. 396–398, hier S. 397. Zur Wandlung Jüngers vom entschlossenen zum skeptischen Feind der modernen Zivilisation vgl. Daniel Morat, Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger 1920–1960, Göttingen 2007. Zu Jüngers Technikkritik vgl. Breuer, Gesellschaft des Verschwindens; Richard Herzinger/Hannes Stein (Hrsg.), Endzeit-Propheten oder die Offensive der Antiwestler. Fundamentalismus, Antiamerikanismus und Neue Rechte, Hamburg 1995; Ralf Heyer, ›Die Maschine ist kein glücksspendender Gott.‹ Fortschrittsskeptizismus und ökologische Visionen im Werk von Friedrich Georg Jünger, Stuttgart 2000; Armin Mohler, Wider die All-Gemeinheiten oder das Besondere ist das Wirkliche, Krefeld 1981, insbes. das Kapitel »Der Traum vom Naturparadies. Anmerkungen zur ökologischen Bewegung«, S. 53–93; Anton Richter, A Thematic Approach to the Work of F. G. Jünger, Frankfurt a. M., Bern 1982; Olaf Schröter, ›Es ist am Technischen viel Illusion.‹ Die Technik im Werk Ernst Jüngers, Berlin 1993; Fred Slanitz, Wirtschaft, Technik, Mythos. Friedrich Georg Jünger nachdenken, Würzburg 2000; Friedrich Strack (Hrsg.), Titan Technik. Ernst und Friedrich Georg Jünger über das technische Zeitalter, Würzburg 2000.

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auch stilistisch ›den Alten‹ verpflichtet zeigte, widmete Jünger 1943 eine erste Abhandlung Problemen der Mythosrezeption und -repräsentation.20 Der Band Griechische Götter etabliert Jüngers Konzept eines ›Denkens über die Mythe‹, das darauf zielt, »buchstäblich und genau« zu nehmen, was uns überliefert ist, anstatt den Mythos im Rahmen historischer, philologischer, philosophischer, anthropologischer usw. Untersuchungen aufzulösen: Ein schönes Gedicht, das in die Hände des Philologen gerät, muß oft manches leiden, obwohl es doch für den echten Liebhaber geschrieben ist. Das Licht des Apollon ist kein Licht, das einer historischen Einsicht entstammt, wie es denn auch keineswegs das Licht ist, welches uns der Physiker beschreibt.21

Gegen den zersetzenden Rationalismus wissenschaftlicher Mythosexegese strebt Jünger einen Punkt an, von dem aus sich eine Übersicht über jenen ›Weltstoff‹ gewinnen lässt, der im Mythos ganzheitlich repräsentiert ist. Obgleich seine Ausführungen sich zunächst an Künstler, Dichter und ›echte Liebhaber‹ richten, halten sie geschichtsphilosophische, mythostheoretische und politische Implikationen bereit, von denen noch zu sprechen sein wird. Auf Griechische Götter folgte 1944 der schmale Band Die Titanen, dessen Prometheus-Kapitel die Ursprünge der technischen Herrschaft des homo faber aus dem Geiste des Titanischen abzuleiten sucht. Die beiden Broschüren wurden 1947, erweitert um das Kapitel »Heroen« und eine Abhandlung zu Pindar, ansonsten jedoch nur geringfügig überarbeitet, zu dem Band Griechische Mythen zusammengefasst, wobei die Vorbemerkung zu Griechische Götter als methodologische Prämisse weitgehend übernommen wurde. Die Diagnose, man befinde sich inmitten einer Zeit des Titanismus an einem Wende20

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Zu der bei Kritik wie Publikum als ›zu gelehrt‹ durchgefallenen Uraufführung des Lustspiels, die im Rahmen einer NSDAP-lancierten Kampagne ermöglicht wurde, vgl. Fröschle, Radikaler Geist, S. 558–560. Jüngers einschlägige Gedichte finden sich in: Friedrich Georg Jünger, Sämtliche Gedichte. Citta Jünger (Hrsg.), Bd. 1, Stuttgart 1985. Zur Publikationsgeschichte im Einzelnen vgl. Ulrich Fröschle, Friedrich Georg Jünger (1898–1977). Kommentiertes Verzeichnis seiner Schriften, Marbach a. N. 1998. Die Erzählungen erschienen gesammelt in: Friedrich Georg Jünger, Gesammelte Erzählungen, München 1967. In Bezug auf Jüngers präsenzfixierten Mythosbegriff wäre hier beispielsweise »Dalmatinische Nacht« (S. 5–24) anzuführen, eine Kurzgeschichte, in der die chthonischen Gottheiten, ausgewiesen durch ihre Attribute, tatsächlich in der Jetztzeit auftauchen. Programmatisch ausgerichtet ist insbesondere die Vorrede zu Griechische Götter, die für Griechische Mythen erweitert wurde. Zu Jüngers Mythosbegriff vgl. weiterhin Günter Figal/Georg Knapp (Hrsg.), Mythen. Jünger-Studien, Bd. 3, Tübingen 2007; Heyer, Glücksspendender Gott; Richter, Thematic Aproach; Slanitz, Nachdenken. Jünger, Götter, S. 8.

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punkt des Denkens, gilt für Jünger 1943 also ebenso wie 1947, was symptomatisch für das Denken der konservativen Revolutionäre ist. Einsichten, die man zur Zeit des Nationalsozialismus und des Weltkriegs gewonnen hatte und im engeren Kreis der Freunde gerne als Regimekritik verstanden wissen wollte, blieben über die Niederlage des Dritten Reichs hinaus bis in die ›Okkupationszeit‹ und die Bundesrepublik hinein verbindlich. Das jahrzehntelange Zögern Adornos und Horkheimers, ihre Dialektik der Aufklärung erneut zu veröffentlichen, war F. G. Jüngers Sache nicht. Sowohl mit der Perfektion der Technik, deren Manuskript 1939 abgeschlossen vorlag, jedoch aufgrund der (Nach-)Kriegswirren erst 1946 erscheinen konnte,22 als auch mit seinen mythostheoretischen Schriften legte er Denken aus der Zeit des Nationalsozialismus vor, an dessen intellektuellem, zeitgeistdiagnostischem und kritischem Wert er auch nach dem Krieg unbeirrt festhielt. Blumenberg hingegen betrat die Nachkriegsbildfläche mit leeren Händen. Als ›Halbjude‹ qualifiziert, wurde er durch die Nationalsozialisten an einer akademischen Karriere gehindert und musste zunächst Promotions- und Habilitationsschrift vorlegen, die er zeitlebens nicht für veröffentlichungswürdig hielt. Nachdem er sich in den 1950er und 60er Jahren unter anderem mit Technikphilosophie und Fortschrittsfeindlichkeit beschäftigt hatte, wobei er die Position F. G. Jüngers kennen und kritisieren gelernt hatte,23 äußert er sich im Rahmen der Arbeitstagung Terror und Spiel der Gruppe Poetik und Hermeneutik 1968 erstmals ausführlich zum Thema Mythos.24 Für die For22

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1941 wurde das Manuskript unter dem ursprünglich vorgesehenen Titel Illusionen der Technik bei der Hanseatischen Verlagsanstalt erstmals gesetzt und für das Jahr 1942 im Verlagsprospekt angekündigt. Die Druckplatten schmolzen allerdings am 27. Juli 1942 bei einem Bombenangriff auf Hamburg ein. Jünger zog das Manuskript daraufhin zurück und übergab es dem befreundeten Vittorio Klostermann, der seinen Verlag von Frankfurt a. M. nach Freiburg i. Br. ausquartiert hatte, um Bombardements zu entgehen. Die Illusionen der Technik wurden nun gedruckt, nahezu die gesamte Auflage fiel allerdings dem Bombenangriff auf Freiburg vom 27. November 1944 zum Opfer. Erst 1946 gelangte eine zweite Auflage der Illusionen der Technik, nun unter dem Titel Die Perfektion der Technik, in den Handel. Vgl. beispielsweise den Aufsatz »Das Verhältnis von Natur und Technik als philosophisches Problem« (1951), in dem Blumenberg seinen Ansatz explizit gegen das Denken einer »unentrinnbaren Perfektion« der Technik abgrenzt: Hans Blumenberg, »Das Verhältnis von Natur und Technik als philosophisches Problem«, in: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Anselm Haverkamp (Hrsg.), Frankfurt a. M. 2001, S. 253–265, insbes. S. 254f. Die Tagung fand vom 9. bis 13. September 1968 auf Schloss Rheda (Westfalen) statt. Sämtliche Tagungsbeiträge sowie die Protokolle der Diskussionen sind dokumentiert in Manfred Fuhrmann (Hrsg.), Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München 1971.

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mulierung seiner Kernthese, der Mythos sei nicht auf sein Wesen, sondern seine kreative Bearbeitung im Laufe der Tradition hin zu befragen, konnte er auf die Dialektik der Aufklärung zurückgreifen, deren Wirkung sich in der BRD über Raubdrucke entfaltet hatte, lange bevor sie 1969 offiziell neu aufgelegt wurde. Adorno und Horkheimer hatten Homers Odyssee hier als frühestes Zeugnis ihrer philosophischen Fragmente angeführt, wobei sie auf der Trennung zwischen Epos und Mythos insistierten. Erst durch die Redaktion Homers, so führten sie aus, konnte Odysseus zum Urbild des bürgerlichen Individuums werden, dessen Begriff in jener einheitlichen Selbstbehauptung entspringt, deren vorweltliches Muster der Umgetriebene abgibt. […] Der ehrwürdige Kosmos der sinnerfüllten homerischen Welt offenbart sich als Leistung der ordnenden Vernunft, die den Mythos zerstört gerade vermöge der rationalen Ordnung, in der sie ihn spiegelt.25

In seiner ersten vorliegenden Bearbeitung ist der Mythos bereits Aufklärung und markiert eine neue Phase im historischen Prozess, wenn sein Gesang zur »sehnsüchtigen Stilisierung dessen, was sich nicht mehr singen lässt«, geworden ist.26 Die Zerstörung des Mythos wird als Spiegelung gedacht und Homer als Redakteur energisch gegen den »bösen Blick« derer verteidigt, »die mit aller scheinbar unmittelbaren Herrschaft sich einig fühlen und alle Vermittlung […] verfemen«. Die modische Ideologie, welche Liquidation von Aufklärung zu ihrer eigensten Sache macht, erweist ihr widerwillig die Reverenz. Noch in der entlegensten Ferne ist sie gezwungen, aufgeklärtes Denken anzuerkennen. Gerade seine älteste Spur droht dem schlechten Gewissen der heutigen Archaiker, den ganzen Prozeß noch einmal zu entbinden, den zu ersticken sie sich vorgenommen haben, während sie bewußtlos zugleich ihn vollstrecken.27

Recht behält der »böse Blick« dort, wo er die Linien von Vernunft, Liberalität, Bürgerlichkeit und Aufklärung unvergleichlich weiter zurückreichend als die historische Vorstellung annimmt – nicht im Ausgang des Mittelalters, sondern eben bei Homer. Was aber liegt dahinter? Für Horkheimer und Adorno ist es Vorwelt oder, mit Marx gesprochen, Vorgeschichte, aus der sich das bürgerliche Individuum bis auf Weiteres nicht zu lösen vermochte.28 Wer »keinen Zweifel« daran hegt, »daß die Frei25 26 27 28

Adorno/Horkheimer, Dialektik, S. 50. Ebd. Ebd., S. 52. Die Geschichte erscheint Adorno noch Mitte der 1960er Jahre »in ihrem Gesamtverlauf wie ein gigantischer Tausch von Ursache und Wirkung« und ist »insofern über den Mythos nicht herausgekommen« (Theodor W. Adorno, Zur Lehre von der Geschichte und der Freiheit. Rolf Tiedemann [Hrsg.], Frankfurt a. M. 2001, S. 137).

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heit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist«, aber erkannt hat, dass dieses Denken selbst »schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalte, der heute überall sich ereignet«,29 wird sich die Frage des Ursprungs also nicht stellen, sondern sein Augenmerk auf den Moment der Bearbeitung richten. Erst indem die ordnende Vernunft den Mythos spiegelt und damit nicht gänzlich zerstört, sondern aufhebt, entsteht die Möglichkeit der Freiheit. Den ›heutigen Archaikern‹ halten Adorno und Horkheimer die Sinnlosigkeit ihres Unterfangens entgegen, hinter die Spiegelung blicken zu wollen, indem sie zeigen, dass noch in der entlegensten Ferne der Aufklärung Tribut gezollt werden muss. Der Prozess kann nicht erstickt, sondern lediglich noch einmal entbunden werden, denn auch die ›heutigen Archaiker‹ arbeiten bewusstlos mit am Projekt Aufklärung, wo immer sie Quellen eines unvermittelten Mythos suchen. Das archaistische Mythosverständnis ist damit für Adorno und Horkheimer hinreichend kritisiert. Wenn der Mythos von jeher als Spiegelung eines vorweltlichen Musters erscheint, so ist nur mehr darauf zu achten, dass konsequente Aufklärung nicht ihrerseits im Glauben an ein letzthin Gegebenes zurückschlägt in Mythologie, indem sie die Reflexion abbricht.30 Das Projekt Aufklärung, das fortwährend gegen sich selbst verteidigt werden muss, hängt von der Reflexion, der Vermitteltheit, der Spiegelung ab, und Homer erscheint als erstes verfügbares Zeugnis dieser Vermittlung. Blumenberg führt diesen Gedanken als Kritik sowohl des vermeintlich aufgeklärt kritischen als auch des (neu-)romantischen Mythosbegriffs 1968 fort und entwickelt, mehrfach auf Adornos Negative Dialektik Bezug nehmend, den Gedanken, der als ›Arbeit am Mythos‹ zu einem weithin diskutierten Konzept werden sollte. Er sucht den Blick auf die Spiegelungen, Bearbeitungen und Vermittlungen des mythischen Stoffs zu klären, um gerade nicht nach dem Wesen des Mythos oder seiner Überwindung durch die Wissenschaft zu fragen, sondern die Funktion mythologischer Rezeptionsvorgänge als »Indikatoren geschichtlicher Wirklichkeitsverständnisse« zu begreifen.31 Deutlicher als in Arbeit am Mythos setzt Blumenberg diese Rezeptionsvorgänge in Zusammenhang mit einer Aufklärung, die auch ihm ein unabschließbarer Prozess ist, der jederzeit umzuschlagen droht: Es gibt nicht die endgültigen Triumphe des Bewußtseins über seine Abgründe: Bildung, Tradition, Rationalität, Aufklärung bedeuten weniger das, was einmal im Leben von Grund auf getan und für allemal getan werden kann, als vielmehr die 29 30 31

Adorno/Horkheimer, Dialektik, S. 3. Vgl. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a. M. 2003, S. 130. Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential«, S. 13.

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ständig neu instrumentierbare Anstrengung zu depotenzieren, aufzudecken, aufzulösen, ins Spiel umzusetzen.32

Die ›Arbeit am Mythos‹ stand also bereits 1968 im Dienst der Abwehr eines »Absolutismus der Wirklichkeit«,33 was jedoch noch nicht Selbstzweck war. Blumenberg ging es, mit einem Wort Anselm Haverkamps, um ein ›Weiterphilosophieren‹ nach der Krisis der Philosophie, die nicht zuletzt in der Erfahrung des Dritten Reichs ihren Ausdruck gefunden hatte: 32

33

Ebd., S. 24. Zum Verhältnis der Dialektik der Aufklärung zur Arbeit am Mythos vgl. auch Christoph Jamme, »Gott an hat ein Gewand«. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1999, S. 95–105. Jamme sieht Blumenbergs Mythosbegriff ebenfalls in der Tradition der Dialektik der Aufklärung, weist jedoch auf »grundlegende Differenzen« hin und kommt zu dem Schluss, die Arbeit am Mythos sei als »polemische Antwort« auf die Dialektik der Aufklärung zu verstehen, da sie keinen »endgültigen Triumph der Aufklärung« vorsehe. Hier wäre zu differenzieren. Tatsächlich bezieht Blumenberg sich schon 1968 (und auch 1979) polemisch auf Adornos Mythosbegriff, zitiert jedoch ausnahmslos dessen Negative Dialektik, was kein Zufall ist: In der Dialektik der Aufklärung stehen sich zwei Mythosbegriffe gegenüber. Einerseits der Mythos als die mythische, gänzlich unbegriffene Vorwelt, andererseits der bearbeitete Mythos, der als Epos gefasst wird. Diese schematische Unterscheidung wird zugunsten dialektisch zugespitzter Formulierungen allerdings fortwährend unterlaufen. Ab den 1950er Jahren, endgültig jedoch in der Negativen Dialektik, versteift Adorno sich auf den Mythos im Sinne der mythischen Vorwelt, kehrt zu einem traditionellen Mythosverständnis als Gegenbegriff zu Aufklärung zurück und verwirft somit kommentarlos zentrale Einsichten der Dialektik der Aufklärung (und der Minima Moralia). Es wäre demnach plausibel anzunehmen, dass Blumenberg gegen diesen Rückfall auf Basis der Dialektik der Aufklärung polemisiert, die einen »Triumph der Aufklärung« – so sie ihn überhaupt in Aussicht stellt – nicht als Vernichtung des Mythos avisiert, sondern entsprechend der Arbeit am Mythos als Spiegelung und Depotenzierung seiner Wirklichkeit. Ich würde deshalb folgende Lesart vorschlagen: Blumenberg entlehnt der Dialektik der Aufklärung den Eposbegriff, macht ihn sich als einheitlichen Mythosbegriff zu eigen, führt ihn fort und wendet ihn schließlich gegen Adorno, dem er schlechterdings nicht verbindlich geblieben ist. So gesehen muss Blumenbergs affirmative Lektüre der Dialektik der Aufklärung, die freilich nirgends explizit gemacht wird, geradezu betont werden, um die polemische Antwort auf Adornos philosophisches Hauptwerk zu verstehen. Zum Verhältnis Blumenberg/Adorno vgl. ausführlich Christian Voller, »Kommunikation verweigert. Schwierige Beziehungen zwischen Hans Blumenberg und Theodor W. Adorno«, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 2013, H. 2 (im Druck). »Wenn Ursprung des Dämonischen die erste Benennung des blanken Schreckens und der absoluten Ungewißheiten ist, so sind hier längst die Mittel vertraut, den Schrecken zu bannen, ihn vielleicht sogar in Dienst zu nehmen für Nützliches, in ihm nach Protagonisten der Kultur zu suchen« (Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential«, S. 23). Die griffige Formel eines ›Absolutismus der Wirklichkeit‹ findet sich jedoch erst in Arbeit am Mythos.

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Blumenbergs Anteil am Nachkrieg ist beträchtlich; in keiner philosophischen Nachkriegskarriere samt zeittypischen Vorkriegshypotheken ist eine vergleichbar tiefe, gründliche, philosophische Reaktion und Form des Durcharbeitens zu finden.34

Dass Horkheimer und Adorno das Problem der ›heutigen Archaiker‹ mit einem knappen Verweis auf die Unmöglichkeit ihres Unterfangens, einen präsenten Mythos jenseits von Vermittlung, Redaktion, ordnender Ratio und Aufklärung zu entbergen, abhandeln konnten, zeugt einerseits von einem überraschenden Optimismus, der auf der Einsicht beruht, dass auch erklärte Aufklärungsgegner sich der Dialektik der Aufklärung nicht zu entziehen vermögen. Andererseits konnten sie sich in Frankfurt gänzlich unangefochten von der ›Heideggerei‹ (Horkheimer) bewegen, jenem existenzialontologischen Sprachduktus, der den archaistischen Mythosdiskurs so deutlich prägte und für Blumenberg ein ernstes Problem darstellte. Der ›Jargon der Eigentlichkeit‹ war im Kreise Poetik und Hermeneutik zwar nicht zu Hause, lag jedoch ungleich näher als im wiedereröffneten Institut für Sozialforschung. Im Gegensatz zu Adorno, dem die Jüngers nicht der Rede wert waren und der Heidegger eine unversöhnliche Polemik gewidmet hatte,35 um in der Negativen Dialektik dann geradezu verständnisvoll auf ihn zurückzukommen, beobachtete Blumenberg sowohl Ernst Jünger und seinen Bruder als auch Martin Heidegger zeitlebens argwöhnisch, wenn auch ironisch distanziert, was eigens angelegte Mappen bezeugen, die sich im Nachlass fanden und mittlerweile publiziert sind.36 Haverkamp bringt Blumenbergs ›Weiterphilosophieren‹ auf die Formel der »pathetischen Unterdrückung eines Pathos, das an den eigenen Quellen 34

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Anselm Haverkamp, »Das Skandalon der Metaphorologie. Prolegomena eines Kommentars«, in: Anselm Haverkamp/Dirk Mende (Hrsg.), Metaphorologie. Zur Praxis von Theorie, Frankfurt a. M. 2009, S. 33–61, hier S. 35. Theodor W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, Frankfurt a. M. 1964. Zu Heidegger: Blumenberg, Verführbarkeit. Zu E. Jünger: Blumenberg, Mann vom Mond. Im Gegensatz zu E. Jünger, der einerseits das Konzept einer ›neuen Theologie‹ ausformulierte und andererseits in seinem Großessay Der Arbeiter von 1932 den Begriff des Titanischen prägte, der im Werk seines Bruders dann zentral werden wird, ist Heideggers Einfluss auf den Mythosdiskurs der Nachkriegszeit weniger offensichtlich, dafür umso tiefgreifender. Zweifellos gehört er zu jenen ›heutigen Archaikern‹, gegen die sich schon die Kritische Theorie gewendet hatte, und fungiert für Blumenberg in vielerlei Hinsicht als Kontrahent. Zum Thema Mythos sagt er jedoch wenig. Neben der theoretischen Grundlage – der ›Destruktion‹ – lieferte er aber Vokabular, Gestus und Pathos, über die man sich im archaistischen Mythosdiskurs dann verständigte.

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leidet«.37 Wenn Blumenberg sich demnach am Mythos abarbeitet, seinen Traditionslinien und deren Brüchen akribisch durch die Jahrhunderte folgt und dabei der Frage des Ursprungs gezielt aus dem Weg geht,38 greift er nicht unbedingt auf die »umlaufende Litanei, Ursprünge seien immer schon Verschiebungen, Nachspiele, Litaneien« (Friedrich Kittler), der Postmoderne vor,39 sondern begegnet polemisch einer Strömung, die ihr Heil im unverstellten, direkten Bezug auf den ursprünglichen Mythos sucht. Odo Marquard, der 1968 die Diskussion des Blumenberg-Referats leitete, stellt den Beitrag in eine Reihe der »Rehabilitierung von zu Unrecht Diskriminiertem und scheinbar Nichtigem« mit den Paradigmen zu einer Metaphorologie (die Metapher gegen den Begriff) und der Legitimität der Neuzeit (die Neugierde gegen den grassierenden Fortschrittsskeptizismus), verkennt jedoch den Ernst der Lage, wenn er die Rehabilitierung des Mythosbegriffs lapidar als »melancholische Verteidigung der Möglichkeit des Heiteren« versteht.40 Blumenberg verteidigt die heitere Unabgeschlossenheit des Mythos gegen den Ernst sowohl der christlichen als auch der aufklärerisch kritischen Dogmatik nicht allein, um die Möglichkeit des Heiteren zu behaupten, sondern begegnet dem sehr ernsthaften – und auch ernst zu nehmenden – Versuch, den ›eigentlichen‹, also unvermittelten Mythos gegen das Projekt Aufklärung (seit Homer) ins Feld zu führen. Seine pathetische Unterdrückung eines Pathos, das an den eigenen Quellen leidet, zielt in Bezug auf den Mythos explizit auf seinen langjährigen Lehrer Walter Bröcker, den Altphilologen Walter F. 37 38

39

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Vgl. Haverkamp, »Metaphorologie«, S. 35. »Eine Betrachtungsweise wie die hier vorzuschlagende sucht nicht historisch oder philologisch zu klären, was ›der Mythos‹ ursprünglich oder in einer bestimmten Phase unserer Geschichte bzw. Vorgeschichte gewesen sein mag; vielmehr wird er als immer schon in Rezeption übergegangen verstanden« (Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential«, S. 28). 1979 wird dem Ursprungsdenken noch einmal klar entgegengetreten, jedoch immerhin in Richtung einer unverfügbaren ›Vorvergangenheit‹ spekuliert: »Von Anfängen zu reden, ist immer des Ursprünglichkeitswahns verdächtig. Zu dem Anfang, auf den konvergiert, wovon hier die Rede ist, will nichts zurück. Alles bemißt sich vielmehr in Distanz zu ihm. Deshalb ist vorsichtiger von der ›Vorvergangenheit‹ zu sprechen, nicht von ›Ursprüngen‹. Diese ›Vorvergangenheit‹ ist nicht die einer Allmacht der Wünsche, die sich erst im Zusammenprall mit der Widrigkeit des vom Wunsch Ungebeugten zum Kompromiß mit der Realität und als Realismus bequemt hätte. Dort lässt sich die einzige absolute Erfahrung, die es gibt, nur vermuten: die der Übermacht des Anderen« (Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 28). Friedrich Kittler, »Eros und Aphrodite«, in: Ders./Cornelia Vissmann, Vom Griechenland, Berlin 2001, S. 67–89, hier S. 67. Erste Diskussion »Mythos und Dogma«, in: Fuhrmann (Hrsg.), Terror und Spiel, S. 527–547, hier S. 527.

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Otto, Martin Heidegger und die Brüder Jünger. Es genügt ihm nicht, den Archaikern seiner Zeit entgegenzuhalten, was schon Horkheimer und Adorno festgestellt hatten, denn damit allein war dem Spuk offenbar nicht beizukommen. Die Einsicht, dass es keinen unvermittelten Zugriff auf den Mythos gibt,41 stellt lediglich die Prämisse dar, vor der Blumenberg das Augenmerk auf die endlosen Schleifen und Mäander von Distanzierungen, Brüchen, Selbstermächtigungen und Depotenzierungen des Mythos und damit ab von Fragen nach Eigentlichkeit, Wesen und Ursprung lenkt. Zu dem Anfang, auf den die Rede vom Mythos konvergiert, will man seinerzeit eben doch zurück, und genau dagegen behauptet Blumenberg sein ironisches Pathos der Uneigentlichkeit. Ein besseres Verständnis dessen, was Hans Blumenberg mit seiner Arbeit am Mythos leistete – die immer eine Arbeit an der Aufklärung, ein ›Weiterphilosophieren‹ eben, war –, scheint deshalb Grund genug, den, wenn schon nicht als Technikkritiker, so doch als Mythostheoretiker vergessenen F. G. Jünger stellvertretend für die Nachkriegsmode ›heutiger Archaik‹ in Erinnerung zu rufen. Nicht nur, weil seine Schriften prägnant auf den Punkt bringen, wogegen Blumenberg sich zunächst energisch und später ironisch verwahrt, sondern auch, weil er sich ein Leben lang mit Technik und Mythos beschäftigte, wobei er hier wie dort die präzise Gegenposition zu Blumenberg einnahm. Technikkritik und Mythostheorie treffen sich bei Jünger vor allem in der Figur des Prometheus, die auch Blumenberg Jahre später zum »Leitfossil« seiner Arbeit am Mythos erklären wird.42 Jüngers zentrale Frage, »wie weit es eigentlich der prometheische Mensch treiben wird«, entspricht im Grunde Blumenbergs Anliegen; wo dieser jedoch Schöpfergeist, Neugierde und Selbstbehauptung im Dienst eines (nicht teleologischen) Menschheitsfortschritts am Werke sieht, erkennt jener das »Titanische in seiner geistigsten Form«, den Prototechniker und Ahnherrn des homo faber, der eine »vernutzende Spezies« ist.43 Wo diesem die Gegensatzpaare »Konstanz und Variation«, »Bindung und Ausschweifung«, »Tradition und innovatorische Kühnheit« Aufschluss über das Wirkungspotential des Prometheus-Stoffs geben sollen,44 drängt jener darauf, »buchstäblich und genau [zu] nehmen, was uns 41

42 43 44

»Was wir noch fassen können und was uns vertraut ist, ist schon die späteste Gestalt jener Mächte in der frühgriechischen Dichtung. Hier ist das Schreckliche, das tremendum und das fascinosum, schon ins Erträgliche, wenn auch noch nicht ins Ästhetische unseres Sinnes transformiert« (Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential«, S. 23). Ebd., S. 26. Jünger, Götter, S. 5. Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential«, S. 26.

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überliefert ist«.45 Wo sich für Blumenberg alles in der Distanz zum vorweltlichen Ursprung bemisst, möchte Jünger, dem der historische Prozess ein »auflösender Prozeß größten Umfanges« ist,46 ›über die Mythe‹ hinter diesen Prozess zurücktreten in eine »Welt des puren Seins«:47 Erst in der Welt der Ablösungen [vom Sein, C. V.] setzen die Versuche ein, sie [die Mythe, C. V.] zu erklären, so bei dem Kyrenaiker Euhemeros, der sie für eine Apotheose trefflicher Menschen erklärt, so bei denen, die sie symbolisch, allegorisch, als Historie oder als Beschreibung von Naturerscheinungen zu erklären versuchen.48

Sämtliche Arbeit am Mythos (in Hinblick auf Blumenberg wäre der metaphorische Gebrauch von Mythemen hinzuzufügen) erscheint Jünger als ›Euhemerismus‹, der die ›Mythe‹ endlich zu dem macht, »was sie nicht ist und nicht sein kann, eine Geheimlehre, in der die versteckte Bedeutung das Eigentliche, das Sichtbare und Ausgesprochene aber ein Uneigentliches wird.«49 Allen Versuchen, den Mythos ›uneigentlich‹ auszulegen, indem man ihm Ethnographisches, Geographisches, Chronologisches usw. »einflickt«, hafte etwas »Vages und Trübes« an: Sie »erzeugen ein künstliches, diffuses Licht, in dem der nicht gern verweilt, der eine stärkere Sonne einmal gekostet hat« – anstelle des Goldes erhalte man dünnes Kupfer.50 Den ›heroischen Realismus‹ Jüngers, der sich von jeher mit aller vermeintlich unmittelbaren Herrschaft einig wusste und alle Vermittlung verfemte, der die stärkere Sonne in den Stahlgewittern des Ersten Weltkriegs gekostet hatte und das künstliche Licht der technischen Moderne seither verabscheute, zieht es zum ursprünglichen Gold.51 Aber tappt er damit nicht blindlings in die Falle, die Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung aufzeigten?

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Jünger, Götter, S. 8 sowie Jünger, Mythen, S. 11. Ebd. Jünger, Perfektion, S. 159. Ebd. Jünger, Götter, S. 8 sowie Jünger, Mythen, S. 11. Ebd. Zu Jüngers Realismusbegriff, der in erster Linie einen Stil bezeichnet, vgl. Friedrich Georg Jünger, »Wahrheit und Wirklichkeit«, in: Widerstand. Zeitschrift für nationalrevolutionäre Politik, Heft 5, Mai 1934, S. 138–147, insbes. S. 140f. Bereits hier stilisiert Jünger den Mythos in seiner ursprünglichen Form zum Gegenmodell zersetzender Vernunft und impotenter Grübelei: »Muß man denn nicht lächeln, und hätte ein Grieche nicht laut gelacht, wenn er all diese tiefen Denker gesehen hätte […]. Weder Apollon noch Dionysos haben für solche Künste ein Auge.«

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Gewissermaßen tut er es, wie man heute konstatieren darf: Indem sich die konservative Technikkritik, deren Stichwortgeber Jünger war, Ende der 1970er Jahre mit verstreuten Überbleibseln der Außerparlamentarischen Opposition vermählte, wurde sie zum politischen Allgemeinplatz und Motor einer ›grünen Ökonomie‹. Listig stellte die Vernunft unter den Bedingungen des Spätkapitalismus noch den erklärten Gegner der technischen Zivilisation in den Dienst ihres Fortschritts. Dem Problem der Unverfügbarkeit unvermittelter Quellen zum Mythos entwand Jünger sich jedoch zunächst mithilfe einer komplexen Geschichtsmetaphysik, deren begriffliche Pfeiler er Nietzsche entlehnte.52 Seit Mitte der 1930er Jahre beginnt eine intensive Beschäftigung mit dem Konzept der ›ewigen Wiederkunft‹ an Stelle der brachialen Willen-zur-Macht-Rhetorik zu treten. Dies ermöglicht es Jünger, gegen die lineare Fortschrittszeit des Technikers eine ›kyklisch‹ verlaufende Weltzeit zu behaupten. Die Welt des ›puren Seins‹, auf welche die ›Mythe‹ noch in der entlegensten Ferne vom Ursprung rekurriert, sei im geschichtlichen Prozess nicht endgültig zersetzt worden, sondern liege ihm latent zugrunde. Nietzsche selbst erschien der Wiederkunftsgedanke als »höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann«,53 und so ist er ihm – bei bester Gesundheit – auch einfach gekommen: »bloss incarnation, bloss Mundstück, bloss medium übermächtiger Gewalten« möchte er rückblickend gewesen sein und spricht von einer Offenbarung in dem Sinn, dass plötzlich mit »unsäglicher Sicherheit und Feinheit, Etwas sichtbar, hörbar wird, Etwas, das Einen im Tiefsten erschüttert und umwirft«.54 Schon der Grundgedanke der ewigen Wiederkunft entspringt damit der kalten Höhenluft eher als der kalten Ratio; ist Bejahung höchsten Grades und nicht etwa Negation im Sinne der Dialektik. Der Hauch von Epiphanie (also wahlweise unvermittelter oder total vermittelter Präsenz des Göttlichen, des Ganzen oder des Seins), der diese eigenhändig kolportierte ›Mythe‹ durchweht, ist von einiger Bedeutung, denn er zeigt an, dass der Wiederkunftsgedanke in den Augen Jüngers elementare Gültigkeit reklamieren darf.55 Er ist nicht Analyse, die 52

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54 55

Zu Jüngers Nietzschelektüre, die hier nicht ausführlich erörtert werden kann, vgl. Friedrich Georg Jünger, Nietzsche, Frankfurt a. M. 1949 sowie Ulrich Fröschle, »Die Kyklen der Kykliker. Über die Wiederkehr der ›Wiederkehr‹ bei F. G. Jünger«, in: Bettina Gruber (Hrsg.), Erfahrung und System. Mystik und Esoterik in der Literatur der Moderne, Opladen 1997, S. 204–225. Friedrich Nietzsche, Ecce homo, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hrsg.), Bd. 6, München 1999, S. 255–375, hier S. 335. Ebd., S. 339. Zum Begriff der Epiphanie bzw. Theophanie (im gegebenen Zusammenhang sind sie austauschbar) vgl. Walter F. Otto, Theophania. Der Geist der altgriechischen Religion,

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dem Nominalwert entsprechend als Zerstückelung der Natur, also Gewalt, verstanden wird, sondern geht aus der Anschauung – Jüngers Gegenbegriff zur wissenschaftlichen Analyse – hervor, indem er dem Sein unmittelbar abgelauscht wurde. Nicht alle Gedanken Nietzsches entsprangen derart unvermittelter Einsicht, weshalb zur selben Zeit Adorno und Horkheimer an einem Nietzsche festhalten konnten, der »wie wenige seit Hegel die Dialektik der Aufklärung erkannt« habe. Während jedoch Nietzsches Verhältnis zur Aufklärung, und damit zu Homer, selber zwiespältig blieb; während er in der Aufklärung sowohl die universale Bewegung souveränen Geistes erblickte […] wie die lebensfeindliche, ›nihilistische‹ Macht, ist bei seinen vorfaschistischen Nachfahren das zweite Moment allein übriggeblieben und zur Ideologie pervertiert.56

Jünger möchte von derartigen Ambivalenzen nichts wissen und stellt sich allemal in die Tradition der vorfaschistischen Nachfahren Nietzsches, wenn er »im blinden Lob des blinden Lebens«57 die ›Mythe‹ zur Brücke zwischen geschichtlichem Prozess – der ihm nicht von souveränem Geist, sondern von ›technischer Ratio‹ getrieben scheint – und der ›kyklisch‹ konstituierten Welt des puren Seins erklärt. Im ›Denken über die Mythe‹, das ist Jüngers fortwährendes Versprechen, könne wieder erfahrbar werden, was sich einst im Engadin (vorgeschichtlich überall und ständig) ereignet habe: Das Licht Apollons, das die Wissenschaft nur ›uneigentlich‹ wiederzugeben vermag, wird sichtbar; das »panische Lied der Natur«, gegen das die Moderne uns betäubt, hörbar.58 ›Denken über die Mythe‹ erscheint so als Natur- oder Weltbetrachtung. Nach dem Muster, das Nietzsche Einsicht in die ›ewige Wiederkunft‹ gewährte, offenbaren sich Jünger zufolge auch weitere Züge des Seins direkt in der Anschauung von Natur und Welt. Der Mythos vermag den Blick dabei insofern zu klären, als er ungebrochen aus der Anschauung hervorgeht. Bevor der ›zersetzende Prozeß‹

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Hamburg 1956. Das präsenzfixierte Denken der Nachkriegsarchaik lässt sich hier besonders gut studieren. Dass der Band zudem für die Reihe Rowohlts Deutsche Enzyklopädie geschrieben wurde, zeigt an, wie populär ein präsenzfixierter Mythosbegriff seinerzeit war, obwohl Philologie und Alte Geschichte ihn weithin ad acta gelegt hatten. Nachdem der Rowohlt-Band vergriffen war, veröffentlichte F. G. Jünger die Schrift als erstes Beiheft der von ihm und Max Himmelheber herausgegebenen Zeitschrift Scheidewege noch einmal, um ein Buch wieder zugänglich zu machen, dem »Bedeutung für die Gegenwart zukommt« (Walter F. Otto, Theophania. Der Geist der altgriechischen Religion, Frankfurt a. M. 1975, S. VII). Adorno/Horkheimer, Dialektik, S. 50. Ebd. Jünger, Götter, S. 5.

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der Geschichte einsetzte, ging der Mensch ungeschieden im Sein auf und gelangte zu unmittelbaren Einsichten, die in der ›Urmythe‹ fixiert wurden. »Was uns davon überliefert ist, ist in eine neue Form eingegangen, die episch oder plastisch ist.«59 Dem dialektischen Bild des Spiegels bei Adorno/Horkheimer und Blumenbergs ›Arbeit am Mythos‹, der die Arbeit am jeweiligen Stand des Mythos alles ist, was wir erkennen können, steht damit ein morphologischer Prozess entgegen: Der ursprüngliche Mythos ist weder zerstört noch bearbeitet, sondern bleibt erhalten, wenn er selbstherrlich in eine neue Form eingeht. Das löst, wenn man so will, das Quellenproblem, oder stellt es mindestens neu, denn es gilt nun, die ›Euhemerismen‹ auszuschließen. Damit ist keineswegs die kritische Sicherung des Wahrheitsgehalts des mythischen Stoffs im Stile etwa der Enzyklopädisten gemeint, deren euhemeristische Geschäftigkeit Blumenberg immer wieder humorvoll beleuchten wird, sondern der Versuch, der ›Urmythe‹, wie sie in veränderter Form auf uns gekommen ist, eine ›erneuerte Verehrung‹ entgegenzubringen. In der Nachdichtung und -erzählung soll sie ihren eigentlichen Sinn wieder erhalten, im Denken über sie ihren überzeitlichen Wahrheitskern enthüllen. Im direkten Gegensatz zur Dialektik Adornos und Horkheimers, der es um den Zeitkern der Wahrheit – auch der mythisch verklärten – geht, möchte Jünger dem unveränderlichen, weil ewig gültigen Wahrheitsgehalt des Mythos Geltung verschaffen. Sein Konzept ist damit insofern als präsenzfixiert zu beschreiben, als es auf unvermittelte Einsicht, direkte Erfahrung, Überwältigung (auch als Läuterung), Teilhabe am ›puren Sein‹ und Offenbarung zielt. Die Konstruktion zweier unabhängig voneinander verlaufender Weltzeiten erlaubt es, im Bereich des Mythos eine ursprüngliche Kraft anzunehmen, die, gleich wie weit man sich auf der Bahn der Fortschrittszeit auch von ihr entfremdet haben mag, latent präsent und ›über die Mythe‹ verfügbar bleibt. In diesem Sinne geht es Jünger dann um die Re-Präsentation des mythischen Stoffs als Vergegenwärtigung nach dem Muster der Heidegger’schen ›Wiederholung‹: »Die Entschlossenheit, in der das Dasein auf sich selbst zurückkommt«, schreibt Heidegger in Sein und Zeit, »erschließt die jeweiligen faktischen Möglichkeiten eigentlichen Existierens aus dem Erbe, das sie als geworfene übernimmt. […] Die ›Wiederholung‹ ist die ausdrückliche Überlieferung, das heißt der Rückgang in Möglichkeiten des dagewesenen Daseins.«60 Die ›Wiederholung‹ des Möglichen wird dabei weder als ein »Wiederbringen des ›Vergangenen‹«, noch als ein »Zurückbinden der ›Gegenwart‹ an das ›Überholte‹« 59

60

Jünger, Mythen, S. 98. Zur ›Urmythe‹ vgl. auch ebd., S. 8; zum Ursprung in der ›Welt des puren Seins‹ vgl. Jünger, Perfektion, S. 159f. Martin Heidegger, Sein und Zeit, 19. Aufl., Tübingen 2006, S. 383f.

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gedacht, sondern ist ›Erwiderung‹, die sich weder dem Vergangenen überlässt noch auf einen Fortschritt zielt.61 Wer den Mythos in diesem Sinne wiederholen, seine Kraft also instand setzen möchte, kann nicht einfach in mythisches Denken verfallen: »Unser Denken ist nicht mythisches Denken, sondern Denken über die Mythe. Wir denken nicht, wie die Griechen dachten, sondern überdenken, was sie dachten.«62 Die ›Erwiderung‹, die das ›Denken über die Mythe‹ vom mythischen Denken scheidet, besteht darin, den Mythos auf die aktuelle Situation zu beziehen: »Wer auslegt, der legt hinein – das ist eine Formel alles Verstehens. Das Vergangene muß Gegenwart werden, um als ein Vergangenes betrachtet zu werden.«63 Indem Jünger seine ganze Technikkritik nun in den mythischen Stoff legt, vollbringt er eine Arbeit am Mythos, die der Blumenbergs diametral entgegengesetzt ist. Anstatt an den Mutationen eines ›Leitfossils‹ den jeweiligen Stand von Geschichte und Wirklichkeitsbegriff abzulesen, schleift er den Ballast der entfremdeten Moderne zu den vermeintlichen Ursprüngen zurück, um Aufschluss darüber zu erhalten, wie weit es der prometheische Mensch noch werde treiben können. Um hier Antwort zu erhalten, so führt Jünger aus, müsse man sich auf das Fragen verstehen, die mythischen Entsprechungen zum Heute beachten und die Koinzidenz erkennen, die das griechische Denken für unser eigenes besitzt. Die ursprünglichen Antworten des Mythos, so die Logik der Operation, haben noch immer Gültigkeit, denn die Koinzidenz verweist nicht auf akzidentielle Ähnlichkeiten zwischen uns und ›den Alten‹, sondern bringt elementare Gesetzmäßigkeiten des Seins zur Geltung.64 So vermag zwar auch Jünger die Quellen betreffend nicht hinter Homer zurückzugehen, gelangt jedoch insofern in eine mythische Vorwelt, als er den Abfall von der ruhenden Ordnung des Seins, auf die der Mythos verweist, lange vor Odysseus ansetzt; was nämlich den Seefahrer betrifft, stimmt er im Wesentlichen mit Adorno und Horkheimer überein: Wenn an ihm […] das Göttliche zurücktritt und das Humane [im Vergleich zu Achill und Ajax, C. V.] erkennbarer wird, wofür es mancherlei Belege in der Odyssee gibt, so liegt das zunächst daran, daß er das Gewaltsame durch planende Verständigkeit umgeht oder zu Fall bringt. List ist, wo immer sie angewandt wird, ein Mittel des Schwächeren, und sagen lässt sich, daß der Sieg des Schwächeren – mit Recht und Unrecht – als Sieg menschlicher Intelligenz gewertet wird.65 61 62 63 64 65

Ebd., S. 386. Jünger, Götter, S. 6 sowie Jünger, Mythen, S. 9. Ebd., S. 8 bzw. S. 9. Vgl. ebd., S. 5–8 bzw. S. 7–12. Friedrich Georg Jünger, Homers Odyssee übersetzt von Friedrich Georg Jünger, Stuttgart 1979, S. 370.

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Auf das Spiel mit Autorschaft, das Blumenberg zur Meisterschaft bringen wird, lässt Jünger sich also nicht erst ein, sondern nimmt wörtlich und buchstäblich, was ihm überliefert ist. Nicht Homer ist es gelungen, den Mythos in Vernunft zu spiegeln, sondern Odysseus selbst triumphiert durch planende Verständigkeit über das Gewaltsame. Indem er dem Zauber weder erliege noch verloren gehe, werde er zu einer »geschichtsgründenden Macht«.66 Für Adorno und Horkheimer markiert die Odyssee den Scheidepunkt zwischen Mythos und Geschichte dort, wo die »innere Organisationsform von Individualität«, Zeit, bereits aufschimmert: »Mühselig und widerruflich löst sich im Bilde der Reise historische Zeit ab aus dem Raum, dem unwiderruflichen Schema aller mythischen Zeit.«67 Das Urbild des bürgerlichen Individuums bleibt bei Adorno und Horkheimer in die Vorgeschichte verwoben. Jünger hingegen sieht einen kraftvollen Aufbruch aus dem mythischen Raum in Richtung Geschichte schon lange vor Odysseus sich abzeichnen: mit dem Aufbegehren des Titanen Prometheus.

II. Prometheus im Nachkrieg 1944 notiert Jünger über Prometheus, das »Individuelle an ihm« zeige sich in der »sich ablösenden Intelligenz, die unerschöpflich einfallsreich und fruchtbar ist«: Titanisch ist diese Intelligenz insofern, als sie ganz dem Werden zugewandt ist und sich in Widerspruch setzt mit dem ruhenden Sein des Zeus. Sie ist rastlos, tätig, kunstfertig, auf Veränderung bedacht und […] in die Zukunft weisend. […] Was er [Prometheus, C. V.] vor sich sah, war die Fülle des Möglichen, war eine Welt, die er nach seinem Bilde und auch nach seinem Gutdünken formen konnte. Mit dem Zeus oder auch gegen ihn, wenn er sich dieser Arbeit versagte.68

Jüngers Prometheus gelingt damit, was dem Odysseus, den Adorno zeitgleich für die Dialektik der Aufklärung zeichnete, versagt bleiben wird. Er tritt in eine freie Verbindung zu den Göttern, »die nicht durch Zugehörigkeit, sondern durch Anlagen, Fähigkeiten und Wissen begründet wird.«69 Prometheus ist planend aus dem Kreis getreten, steht für sich und wird nunmehr als »Gast« auf dem Olymp empfangen.70 Der Aufbruch des Individuums wird somit glorreicher gezeichnet, als es der Kritischen Theorie einfallen 66 67 68 69 70

Ebd., S. 367. Adorno/Horkheimer, Dialektik, S. 55. Jünger, Mythen, S. 82f. Ebd., S. 88. Ebd., S. 81f.

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würde, trägt den Kern des ›zersetzenden Prozesses‹ der Geschichte jedoch gleichfalls in sich: In Prometheus »ist der Wille zur Veränderung, er will etwas Neues. […] Nicht der Gedanke an eine erschaffene Welt, sondern der Gedanke, daß er eine Welt erschaffen kann, treibt ihn vorwärts.«71 Er tritt nicht bloß aus der Gemeinschaft, sondern negiert mithin das Geschaffene; er tritt nicht nur gegen Zeus und Apollon, sondern gegen die Welt des ›puren Seins‹ auf. Wider Apollons Licht und das ruhende Sein des Zeus leuchtet in ihm »hell wie der Blitzstrahl« der »Gedanke der Freiheit« und so kann er »ohne Scheu« die »großen Urbilder des Seins« betrachten.72 Der Gedanke der Freiheit ist es auch, der Prometheus isoliert und seinem Antlitz »individuelle, subjektive Züge aufdrückt«.73 Er wird sie, wie der Künstler sein Werk signiert, an die Menschen weitergeben, wenn er ihnen »das Charakteristische« und die »Spuren seiner Individualität« einprägt.74 Mit den prometheischen Zügen gehen jedoch »alle Unruhe des Werdens, alle Schaffenslust, die der Titan in seiner eigenen Brust empfindet«, einher und der prometheische Mensch will folglich Geschichte machen: »Wie alle Täter kann er sich der Tat nicht entziehen, und das Element, das er in Bewegung setzt, verschlingt ihn zuletzt.«75 Der Fortschritt, den Blumenberg unermüdlich gegen seine Gegner verteidigt und den Adorno und Horkheimer anmahnen, gerade weil er sich bisher mühselig und widerruflich ereignet hat, trägt für Jünger schon im Ursprung die Züge eines technischen Verzehrs ungeheuren Ausmaßes. Was als Morgenrot der Vernunft (Individualität, Plan, Selbstermächtigung und Fortschritt) erscheinen mag, schlägt im Moment der Ablösung vom ›puren Sein‹ in ›technische Ratio‹ beziehungsweise ›instrumentelle Vernunft‹ um – Adorno/Horkheimer und Jünger kommen sich hier, gewiss wider Willen, seltsam nahe. Die geteilte Einsicht in die Dialektik der Selbstbehauptung kann Jünger jedoch nicht genügen, denn dort, wo die Triumphe der Technik nichts mehr gelten sollen, »gerät die Figur ihres Ursprungs mit ihnen in Verruf«,76 wie Blumenberg bemerkt: »Der Lichtbringer gerät ins Zwielicht.77 Der Technikkritiker Jünger muss den Sündenfall des Prometheus nachweisen.

71 72 73 74 75 76

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Ebd., S. 89. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 84. Hans Blumenberg, »Keine Prometheiden mehr«, in: Ders., Verführbarkeit, S. 56–62, hier S. 56. Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 644.

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Dieser Sündenfall ist nicht der Feuerraub, sondern der Opferbetrug, in dessen Folge Zeus den Menschen das Feuer erst entzogen hatte. Das Opfer, das für Jünger »seinem Begriff nach ein freies Geschenk des Menschen an die Götter« war, verändert nun seinen Charakter. Eine »eigennützige Nebenabsicht« korrumpiert das ursprüngliche Ritual, denn ein betrügerisches Opfer hat nur dann Sinn, wenn man annimmt, dass das Opfer an sich erzwungen sei. »Und dieser Gedanke ist es in der Tat, den Prometheus den Menschen einflüstert, mit dem er den prometheischen Menschen vertraut macht, um eine Entfremdung zwischen ihm und den Göttern hervorzurufen.«78 Jenseits von Einflüsterung, Genuss und Entfremdung (der Trias des biblischen Sündenfalls)79 nimmt Jünger ein unentfremdetes Verhältnis der Dankbarkeit zu den Göttern an, die ihm für Natur, Ordnung und Sein stehen. Im Moment des Opferbetrugs geht es verloren. Am Beginn einer Geschichte von Entfremdung, Entfesselung und Ablösung, deren Ende der prometheische Mensch in den Ketten der Technik markiert, steht der Betrug am Opfer, dessen ursprüngliche Uneigennützigkeit Jünger ›über die Mythe‹ von Prometheus anmahnt. Für Adorno und Horkheimer ist der Betrug, der sich in der Odyssee wiederholt, von jeher im Opfer angelegt. Durch Odysseus »wird einzig das Moment des Betrugs am Opfer, der innerste Grund vielleicht für den Scheincharakter des Mythos, zum Selbstbewußtsein erhoben.«80 Der Scheincharakter des homerischen Epos, also die Spiegelung/Zerstörung des eigentlich Mythischen, gründet in der eigennützigen, listigen und souveränen »Transformation des Opfers in Subjektivität«,81 weshalb es nicht allein um den Betrug an Poseidon geht, wenn im Odyssee-Exkurs vom Opfer die Rede ist: Odysseus, der Held, der immerzu sich selbst bezwingt, wird als Opfer gegen das vermeintlich uneigennützige Opfer begriffen: Seine herrschaftliche Entsagung, als Kampf mit dem Mythos, ist stellvertretend für eine Gesellschaft, die der Entsagung und der Herrschaft nicht mehr bedarf: die ihrer selbst mächtig wird, nicht um sich und anderen Gewalt anzutun, sondern zur Versöhnung.82 78 79

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Jünger, Mythen, S. 92. »Es ist schon merkwürdig, daß die romantische Kontrastfunktion des Mythischen die Rückprojektion derjenigen Strukturen, zu denen jenes gerade kontrastieren soll, nicht ausschließt« (Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential«, S. 22). Adorno/Horkheimer, Dialektik, S. 56f. Ebd., S. 63. Ebd.

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Selten nur begegnet uns ein derart emphatisches Bild des Richtigen von Seiten der Frankfurter Schule. So nahe Adorno/Horkheimer und Jünger sich andernorts kommen mögen: Am Begriff des Opfers – in dem seinerzeit noch deutlich vernehmbar die Imperative Volksgemeinschaft, Schicksalskrieg und Heldentod mitschwingen, während er gleichzeitig schon auf Auschwitz verweist – wird deutlich, wogegen die Autoren der Dialektik der Aufklärung so entschieden auf die Zerstörung des Mythos mittels Reflexion, d. h. der Repräsentation des vorerst Überwundenen im bearbeiteten Mythos, drängen. Glück und Freiheit, Worte, welche die Kritische Theorie bis auf Weiteres dem Utopischen vorbehält, bezeichnen für Jünger die Bindung an Ordnung, Gemeinschaft und Geschick. Es war von jeher die heroische Freiheit der konservativen Revolutionäre, entschlossen zu tun, was ohnehin getan werden muss; die Moderne aber, die sie gerne als ›entfesselt‹, also emanzipiert, bezeichnen, ist unfrei, insofern es ihr an naturgegebener Bindung mangelt. Die Freiheit der Bindung, die sich als zentrales Motiv bei Heidegger ebenso findet wie bei Klages, Spengler, Schmitt, den Brüdern Jünger usw., hat sich im Nationalsozialismus nicht verwirklicht, scheint jedoch gerade deshalb in F. G. Jüngers vorgeschichtlicher Ordnung der mythischen Welt wieder auf – in schroffem Gegensatz zur sinnlosen Vereinzelung des Individuums in der technischen Moderne. Die ruhende Ordnung des Seins, die er insbesondere an Zeus, allgemeiner jedoch an die Gemeinschaft bindet, der Prometheus und Odysseus entgegentraten, erstrahlt im Lichte einer Freiheit, die identisch mit der gegebenen Ordnung ist. Ein reines, weil uneigennütziges Opfer ist nur hier möglich, in der entfremdeten Moderne ist es verloren, und die versöhnte Gesellschaft der Kritischen Theorie bedürfte seiner nicht. Selbstbehauptung und Glückswillen, für Adorno und Horkheimer unlöslich verwoben, treten bei Jünger in Widerspruch, weil die geschichtsgründende Macht des Prometheus auf einer falsch verstandenen, nämlich widernatürlichen Freiheit basiert, die nicht widersprüchlich im Sinne der Dialektik der Aufklärung ist, sondern geradewegs und unwiderruflich auf den Abgrund weist. Die Wiederholung des Mythos zielt damit letztlich auf die Restauration jener unmittelbaren Herrschaft (›pures Sein‹ oder eben ›Absolutismus der Wirklichkeit‹), deren Terror Adorno und Horkheimer genauso fürchten wie Blumenberg – nicht zuletzt, weil der just überwundene Versuch, unvermittelte Herrschaft im Deutschen Reich zu verwirklichen, sie leicht das Leben hätte kosten können. Schon der »vorgeblichen Echtheit, dem archaischen Prinzip von Blut und Opfer«, konstatieren Adorno und Horkheimer in diesem Sinne, hafte etwas vom »schlechten Gewissen und der Schlauheit der Herrschaft an«, die im »Schwindelhaften« eines Faschismus triumphie-

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ren werde,83 der am Juden dann endlos das Opfer wiederhole, an dessen Kraft er doch nicht mehr glauben könne.84 Die Schnittstelle zwischen einer Re-Präsentation des Mythos im Sinne der Wiederholung und seiner aufhebenden Zerstörung durch Spiegelung und Arbeit erscheint vor diesem Hintergrund im Nachkrieg besonders ›heiß‹. Das Ringen aufgeklärter Individualität mit dem regressiven Bedürfnis nach archaischer Gemeinschaft setzt sich hier über die militärische Niederlage des Dritten Reichs hinweg ideologisch fort. Im Nachkrieg bietet der Rückgriff auf den Mythos die Möglichkeit, hochgradig kontaminierte Begriffe wie Gemeinschaft, Opfer, Individualität, Herrschaft usw. im Hinblick auf die entlegenste Ferne zu diskutieren. Das immense Wirkungspotential eines Mythos, der »seinem Verfahren, seiner ›Form‹ nach etwas anderes nicht mehr ist«,85 zeigt sich also auch daran, dass ›über‹ ihn der Schrecken der jüngsten Vergangenheit angesprochen und bearbeitet werden kann. Nicht zuletzt deshalb tritt Blumenberg dem Drängen der ›heutigen Archaiker‹, ›über die Mythe‹ tatsächlich »wieder in einer von Göttern erfüllten Welt sein« zu können und die ›euhemeristische‹ Arbeit damit still zu stellen, energisch entgegen:86 Eine solche ästhetische Eschatologie mit ihrer eudämonistischen Parusie der Götter reißt die Teleologie des Glückswillens und die der Freiheit auseinander. Die Wiedererfüllung der Welt mit Göttern würde den Glücksanspruch des Menschen sättigen, indem er die [naturgegebenen, C. V.] Dinge zu absoluten Werten potenzierte. Aber ein solcher ›Stillstand‹ des Willens würde die Freiheit zu einem phantastischen und sinnleeren Begriff machen. Er würde den Mythos selbst, so wie er unserer Tradition präsent geworden ist, auf den hinter ihm stehenden und in ihm überwundenen absoluten Ernst zurückführen. Der Bezug der Mythologie zur Erhebung und Erfüllung des menschlichen Daseins scheint aber gerade darin zu bestehen, daß sie Entlastung von jenem Ernst, Freiheit der Imagination im Umgang mit Geschichten von einst Übermächtigem ist.87

In den Worten der Dialektik der Aufklärung: »Für die Verstrickung von Urzeit, Barbarei und Kultur«, deren ungebrochenes und deshalb ständig ›über die Mythe‹ zu reflektierendes Gewaltpotential im Nationalsozialismus unmittelbar zutage getreten war, hatte bereits »Homer die tröstende Hand im Eingedenken von Es war einmal. Erst als Roman geht das Epos ins Märchen über.«88 Das wäre dann die Arbeit am Mythos, deren Archäologie Blumenberg sich 83 84 85 86 87 88

Ebd., S. 52. Ebd., S. 177. Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 22. Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential«, S. 22. Ebd., S. 23. Adorno/Horkheimer, Dialektik, S. 87.

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hingebungsvoll widmen wird. Dass er dabei ausgerechnet Prometheus zu seinem ›Leitfossil‹ erhebt, liegt meines Erachtens nicht allein in dem Wunsch begründet, die Themen Technik und Mythos zusammenzuführen, sondern reagiert auf ein Phänomen, das Horkheimer und Adorno von Los Angeles aus kaum überblicken konnten: Weder das Verhältnis zu Odysseus noch zu Siegfried wurde im Nachkriegsdeutschland zum Gradmesser der Aufklärung und damit der Distanz sowohl zum ›puren Sein‹ als auch zum Dritten Reich, sondern Prometheus: »Prometheus ist für uns die wichtigste Gestalt, weil bei ihm die Beziehung auf den Menschen, sein Tun und seine Daseinssituation offenkundig, ja thematisch ist«, referiert beispielsweise der an Heidegger geschulte Theologe und ehemals begeisterte Nationalsozialist Friedrich Karl Schumann 1955 in Münster.89 Unvermittelte Präsenz steht auch hier im Raum, wenn postuliert wird, der Mythos sei inmitten einer hochtechnisierten Welt »mit einem Schlag« wieder »eine Art Existenzial« geworden:90 »Im Mythos wird gestalthafte Konzeption der Grundstruktur des Daseins gesehen. Es geht um Ursprung, Zeit, Schicksal, Schuld, Fluch und Sühnung im menschlichen Dasein«.91 Zwar sei es »illusionär und gefährlich, heute den Versuch einer Wiedereinsetzung der mythischen Mächte in ihr ursprüngliches Walten« zu unternehmen, wo aber das Denken sie verneine, trenne es sich von der Wirklichkeit ab. Denn mit den mythischen Kräften, nicht durch mathematische Berechnung, werde »das Seiende in seinem Sein, als Wirklichkeit erfaßt«.92 Bescheidener, zumindest im Vergleich zu Jünger, dessen ›Denken über die Mythe‹ frontal gegen die modernen Wissenschaften steht, behauptet Schumanns existentiale Wiederholung des Mythos den Status einer Komplementärwissenschaft, sieht in Prometheus jedoch gleichfalls den Frevler wider jenen »Seinszusammenhang«, den »Zeus der Herr« angeordnet hat.93 Prometheus, der Heros der Aufklärung und der Selbstermächtigung des Menschengeschlechts, ist im Nachkrieg in Ungnade gefallen. Dort, wo man im Terror eines unbegriffenen ›Absolutismus der Wirklichkeit‹ eine harmo89

90

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Friedrich Karl Schumann, Mythos und Technik. Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Köln, Opladen 1958, S. 7f. Ebd., S. 6. Neben Heidegger, den Brüdern Jünger und Walter F. Otto werden Kerényi, Schelling, Creuzer, Bachofen, Bultmann und Viktor Meyer-Eckardt als Referenzen dieses, für Blumenberg gewiss bedrohlichen, Szenarios angeführt. In der anschließenden Diskussion wundert Georg Schreiber sich: »Heute, wo wir im Epilog des Nazizeitalters stehen, warum haben Sie nicht auch Rosenberg als Gast in diesem erlauchten Kreis mit den Gedanken seines Mythos angeführt?«, darf »glücklicherweise« jedoch hinzufügen: »tempi passati« (ebd., S. 43). Ebd., S. 9. Ebd., S. 40. Ebd., S. 17.

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nische Welt des ›puren Seins‹ sieht, wo man an Gehlens Seite zwar stand, als es um die nationale Erhebung ging, die These vom ›Mängelwesen‹ Mensch jedoch nicht vernehmen wollte,94 kurzum dort, wo man sich mit der scheinbar unmittelbaren Herrschaft der mythologischen Ordnung einig wähnt, möchte man in dem Titanen nur mehr den Prototechniker sehen, der sich widerrechtlich gegen die naturgegebene Ordnung erhebt. Die Abkehr von Prometheus im Rahmen einer Nachkriegs-Archaik, für die Schumann und Jünger hier beispielhaft stehen,95 erscheint damit auf das Engste mit dem regressiven Bedürfnis verwoben, wieder in einer Zeuswelt leben zu dürfen, die keinen Fortschritt kennt, weil Bindung und Freiheit, Natur und Technik, Individualität und Gemeinschaft, Seiendes und Mögliches, Opfer und Souveränität noch nicht auseinandergetreten sind. Den Fluchtpunkt derartiger Sehnsucht markiert, in den Worten Blumenbergs, die Vorstellung einer »unverletzten Erde, der terra inviolata« als Utopie eines »Goldenen Zeitalters«, welches »die Freiheit von Mühe und Sorge gerade durch die Unkenntnis aller Art von technischer Fertigkeit besessen haben sollte«.96 Eine Perspektive, gegen die er einen Prometheus, wie noch Herder ihn gezeichnet hatte, anführt: Bei Herder ist aus dem Sonnenfunken ein elektrischer Funken geworden, aber Prometheus damit noch nicht aus der Nähe der Naturfrömmigkeit weggerückt. Der ›Künstler‹ Prometheus hat noch nicht das Odium des ›Technikers‹, die gefeierte Übergröße ist noch nicht zur kritischen Grenzfigur der Selbstbehauptung oder des ›heroischen Nihilismus‹ geworden, wovor zu schaudern wiederum mythologische Anamnesis bestärkt.97

Knapp referiert Blumenberg damit Aufstieg und Fall des Prometheus im 20. Jahrhundert: Die Konservative Revolution als Avantgarde des ›intellectuellen Faszismus‹ erhob den wütenden Titanen mit Spengler zum Urbild 94

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Das Theorem vom ›Mängelwesen‹ Mensch wird für Blumenbergs Denken grundlegend sein und Adorno die Möglichkeit bieten, Gehlen nach dem Krieg die Hand zu reichen. Vgl. beispielsweise auch Karl Kerényi, Prometheus. Das griechische Mythologem von der menschlichen Existenz, Zürich 1946; Émile M. Cioran, »Prometheus ist für immer kompromittiert. Aussichten auf die Nach-Geschichte«, in: Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hrsg.), Die Zukunft der Vergangenheit. Lebendige Geschichte, klagende Historiker, Freiburg i. Br., Basel, Wien 1975, S. 135–144. Zu denken wäre hier auch an Günther Anders, der die Gestimmtheit der Nachkriegszeit als ›prometheische Scham‹ fasste (Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, München 1956, insbes. S. 21–97). Hans Blumenberg, Geistesgeschichte der Technik. Alexander Schmitz/Bernd Stiegler (Hrsg.), Frankfurt a. M. 2009, S. 29. Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential«, S. 27.

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des faustischen Menschen,98 stellte ihn mit Hans Freyer in den Dienst ihres heroischen Nihilismus,99 machte ihn mit Heidegger zum ›ersten Philosophen‹ und Sachwalter der Deutschen Universität,100 um ihm dann im Zuge von ›Kehre‹, Revisionen des eigenen Denkens und neuen Einsichten in das Wesen der Technik die Gefolgschaft aufzukündigen. Prometheus, den man nun wieder in Ketten sehen möchte, büßt das schlechte Gewissen derer, die sich in jungen Jahren emphatisch auf ihn berufen hatten, woraus jene ›mythologische Anamnesis‹ resultiert, die Blumenberg dann als ›neue Theologie‹ und erneuerte Mythenverehrung zu schaffen macht. Das agonale Prinzip eines ewigen Kampfes der Titanen gegen die Götter war den Konservativen Revolutionären, die nun als naturfromme Fortschrittsskeptiker, neue Theologen und »dichtende Polytheisten« auftraten,101 als gestalthafte Konzeption der Grundstruktur des Daseins verbindlich geblieben, im Laufe des Krieges hatten sie allerdings die Fronten gewechselt, um nun gelassen »den Sturz der Titanen« vorauszusehen.102 Während Prometheus in den Augen der geläuterten Nationalrevolutionäre also übermächtig bleibt und nur im Bunde mit den ›Mächten des Elementaren‹ (E. und F. G. Jünger), den Olympiern (F. G. Jünger) oder einem ›gnädigen Gott‹ (Heidegger) zu Fall gebracht werden kann, setzt Blumenberg auf eine anders geartete Depotenzierung des Titanen: Man bedenke […], wie schon die antike Komödie die prometheische Theomachie ›heruntergespielt‹ hatte – der Mythologie darin ganz konsequent folgend, wie ich meine, deren ganze Intention ›Herunterspielen‹ der großen Gott-Mensch-Konflikte war –: der Prometheus der Komödie ist ›nur noch der kleine Gauner, der den Göttern das Opferfleisch stiehlt‹.103

Dem ernsthaften Schaudern der Technikkritiker begegnet Blumenberg, indem er Prometheus herunterspielt. Um ›weiterphilosophieren‹ zu können, 98 99

100

101 102

103

Vgl. Oswald Spengler, Der Mensch und die Technik, München 1931, insbes. S. 10f. Vgl. Hans Freyer, Prometheus. Idee zur Philosophie der Kultur, Jena 1923, insbes. S. 17f.: »Daß es vergehen wird, weiß er [Prometheus, C. V.], ehe er beginnt, aber er hält dieses geschichtliche Schicksal nicht für einen Einwand gegen das Recht seines Werkes. Nicht alles, was einstürzt, ist ein kindisches Kartenhaus.« Vgl. Martin Heidegger, Die Selbstbehauptung der Deutschen Universität. Rede, gehalten bei der feierlichen Übernahme des Rektorats der Universität Freiburg i. Br. am 27. 5. 1933, Frankfurt a. M. 1990, insbes. S. 11. Dass Heidegger ausgerechnet in der Rektoratsrede, und nur dort, auf Prometheus zu sprechen kam, war Blumenberg noch in reifen Jahren eine spitze Miniatur wert (vgl. Blumenberg, »Prometheiden«). Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential«, S. 22. Brief Ernst Jüngers an Henri Plard vom 24. September 1978. Abgedruckt in: Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Stuttgart 1982, S. 316. Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential«, S. 27.

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drängt er darauf, die Arbeit am Mythos nach dem Krieg dort wieder aufzunehmen, wo das Schreckliche, das tremendum und das fascinosum, bereits ins Erträgliche, ja Komische transformiert worden waren. Gegen die ›Mode heutiger Archaik‹, der es darum zu tun ist, die latente Gewalt des Mythos gegen die Moderne zu entfesseln, behauptet Blumenberg im Rückgriff auf die Dialektik der Aufklärung einen Mythos, dessen Funktion präzise darin besteht, Gewalt und Gewalten zu bezähmen, indem sie beständig reflektiert, bearbeitet und heruntergespielt werden. Der Titan wird ihm zum ›Leitfossil‹ einer Arbeit am Mythos, die sich insbesondere dem Menschenfreund Prometheus widmen wird, wie noch die Aufklärung ihn gesehen hatte. F. G. Jünger hingegen, dem die wissenschaftliche Arbeit am Mythos durch einen »Mangel an Ernst in der Sache« gekennzeichnet ist,104 verleiht seiner Hoffnung auf den Sturz des Titanen Ausdruck, indem er eine Tragödie zu Ende dichtet, deren Ausgang die Rezeptionsgeschichte seit Aischylos offen zu halten versuchte. Das Gedicht Der Gesang des Prometheus von 1934 präsentiert den wütenden Monolog des Gefesselten Prometheus wider Zeus und Hermes in deutschen Hexametern, erweitert das überlieferte Material jedoch um folgende Verse: Dieses war der Gesang des hohen Fürsten Prometheus, Doch der Blitzstrahl des Zeus schlug den Titanen hinab.105

Martin Heidegger, der Jüngers Dichtung kannte und schätzte, scheint dieses Motiv aufzugreifen, wenn er in seinem Vortrag über »Die Kehre« 1949 einen »Einblitz von Welt in das Gestell« antizipiert, der »unvermittelt« und »jäh« sich ereignen werde. Ihrem »menschlichen Eigensinn« entsagend, würden die, »denen unter der Herrschaft der Technik Hören und Sehen durch Funk und Film vergeht«, in seiner Folge Einblick erhalten in »das, was ist«, um im »gewahrten Element von Welt« als »Sterbliche dem Göttlichen« gelassen entgegenzublicken.106 Heideggers ›Gelassenheit‹ erweist sich damit als genau jene Fügsamkeit gegen Götter und Ananke, aus der den blinden Menschen zu führen Prometheus einst angetreten war.

104 105 106

Jünger, Götter, S. 7. Jünger, Gedichte, S. 49. Martin Heidegger, »Die Kehre«, in: Ders., Bremer und Freiburger Vorträge, Frankfurt a. M. 1994, S. 68–77, hier S. 73–77.

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III. Fazit Während die Geschichte der Selbstermächtigung des Menschengeschlechts also von Seiten einer wortgewaltigen Nachkriegs-Archaik in den mythischen Raum hinabgeschlagen werden soll, dem sie sich Adorno und Horkheimer zufolge doch nie hatte entwinden können, beziehungsweise dem ›Seyn‹ selbst überantwortet wird – wobei es bei Schumann, Jünger und Heidegger gleichermaßen blitzt und donnert wie einst In Stahlgewittern –, philosophiert Blumenberg diskret weiter, indem er sie als eine Folge von schöpferischen, ausschweifenden und innovatorisch kühnen Repräsentationen des Immergleichen erzählt. Die tiefgreifenden Gegensätze im Denken über Geschichte, Selbstbehauptung und (technische) Moderne, die hier anhand der Differenzierung zwischen repräsentationsorientierten und präsenzaffinen Mythoskonzepten herausgearbeitet und akzentuiert wurden, schlagen sich damit auch in der literarischen Praxis nieder. Denn es ist nicht ganz trivial, anzumerken, dass den ausufernden Studien Blumenbergs, die sich dem Mythos nur vermittels einer nicht enden wollenden Kette von Zitaten (oft genug Zitaten von Zitaten), Anspielungen und ironischen Brechungen nähern, um endlich Fragment zu bleiben, wie die philosophischen Fragmente Adornos und Horkheimers, auf Seiten der ›heutigen Archaik‹ kurze, schwärmerische Abhandlungen, Gedichte und esoterisch konzentrierte Vorträge gegenüberstehen.107 Die Zeiten der großen theoretischen Entwürfe über das Weltganze sind vorbei, was Heidegger wie kein anderer Philosoph seiner Generation zur Geltung gebracht hat und was Blumenberg seinerseits zum Ausgangspunkt der philosophischen Arbeit im Nachkrieg erklärt. Aber nicht erst mit dem Scheitern von Sein und Zeit und der ›mythologischen Anamnesis‹ der Konservativen Revolution erweisen sich Dichtung und charismatisch gesprochenes Wort als Mittel der Wahl, das Ganze und die Mächte des Ursprungs zu beschwören. Jünger, Heidegger und Schumann zitieren nicht, sie evozieren und stellen sich damit in eine textfeindliche Tradition, die bis auf 107

Fragment bleiben Blumenbergs große Bücher insofern, als nicht recht klar wird, warum sie an einem bestimmten Punkt ›enden‹. Thesen und Motiv sind in aller Regel schnell exponiert, es folgt die Durchführung, in der sich »Beispiele von unterschiedlicher Komplexion anschließen – oft genug ohne konklusiv zu werden« (Anselm Haverkamp, »Editorisches Nachwort«, in: Hans Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit, Frankfurt a. M. 2007, S. 115–119, hier S. 118). Arbeit am Mythos stellt hier gewiss keine Ausnahme dar und hätte der immanenten Logik zufolge ad infinitum fortgesponnen werden können. Ein Verdacht, dem übrigens u. a. das von Blumenberg zusammengetragene Konvolut »Materialsammlung zum Mythos (1985–1995)« Vorschub leistet, das im Deutschen Literaturarchiv Marbach verwahrt wird.

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Platons Sokrates zurückreicht. Ob das Licht des Apollon in Jüngers impressionistisch verfeinerter Formulierung erstrahlt, der panische Reigen im zyklischen Satzbau vor Augen gestellt wird oder der Blitzstrahl des Zeus den Titanen bedrohlich zischend in den Orkus hinabschlägt; ob der Mythos ›mit einem Schlag‹ wieder ein Existenzial wird oder das ›Seyn‹ als ›Einblitz‹ sich ereignet: Die Worte, die Superiores verheißen und Divinität inkorporieren sollen, machen den Umstand vergessen, dass sie selbst Medium sind. Die Technizität seiner kunstvoll gesetzten Verse überspielt Jünger, indem er sie der Autorität einer kosmischen Harmonie überantwortet, wie er sie in Natur und ›Mythe‹ vorfindet, dabei jenen ›Alten‹ nacheifernd, durch die einst die Musen selbst sprachen. Dem Wunsch, den unvermittelten, reinen Mythos zu entbergen und wiederzubeleben, entspricht eine Sprache, die ihrerseits keinen Umweg beschreiten möchte. Ein Dichten, Philosophieren, Sprechen allerdings, das Legitimation wie Ziel derart aus der unmittelbaren, nur notdürftig vermittelten Teilhabe am Transzendenten ableitet, trägt den morbiden Wunsch in sich, endlich selbst überflüssig zu werden. Denn die unvermittelte Präsenz des Ganzen würde die symbolische Ordnung der Sprache ihrer vermittelnden und von daher stets uneigentlichen Grundlage berauben, wobei es letztlich unerheblich ist, ob sie angesichts des ›Absolutismus der Wirklichkeit‹ zu nackter, unbegrifflicher Angst regredieren würde oder sich die Menschen in der Welt des ›puren Seins‹ den leichtlebenden Göttern Homers anglichen – preisgegeben wäre hier die Notwendigkeit, dort die Möglichkeit sprachlicher Vermittlung. Als Gegenentwurf zu Irrationalismus, Technikfeindschaft, Geschichtspessimismus und Todessehnsucht eines archaistischen Denkens, das fortwährend darum bemüht ist, das auf immer Verlorene zu wiederholen und das Unsagbare zu beschwören, erscheint Blumenbergs ›Weiterphilosophieren‹ vor allem als ein Weitersprechen unter den Bedingungen der ursprünglich entfremdeten Moderne. Seine Bücher, die mit Franz Josef Wetz als »ein Stück Trauerarbeit« verstanden werden müssen, in denen der Philosoph »von etwas Abschied nimmt, ohne den Abschied vom Abschied jemals zu vollziehen«,108 begnügen sich deshalb nicht damit, den Mythos als von jeher in Repräsentation übergegangen zu verabschieden, sondern schreiben die Geschichte der Distanzierung vom unbegrifflichen Ursprung ihrerseits ›über die Mythe‹ fort. Dort, wo Blumenberg sich einmal dazu hinreißen lässt, eine Utopie zu formulieren – er tut dies, auch darin der Kritischen Theorie verwandt, äu108

Franz Josef Wetz, »Abschied ohne Wiedersehen. Die Endgültigkeit des Verschwindens«, in: Ders./Hermann Timm (Hrsg.), Die Kunst des Überlebens. Nachdenken über Hans Blumenberg, Frankfurt a. M. 1999, S. 28–54, hier S. 31.

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ßerst selten –, zeichnet er folglich kein Reich überwältigender Evidenz, sondern träumt von einer Welt, »in der zunehmend die Bedingung, Leser des ›Ulysses‹ [nach James Joyce, C. V.] sein zu können, erfüllt wird«109 – das wäre eine Welt, die sich von den Schrecknissen des eigentlich Mythischen ebenso frei gemacht hat wie von den Zumutungen körperlicher Arbeit, um sich in aller Ruhe der intellektuellen, ausschweifenden und frei schaffenden Arbeit am Mythos widmen zu können.

109

Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 94.

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Robert A. Segal

Robert A. Segal (Aberdeen)

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My specialty is theories of myth. Theories, which come from both the social sciences and the humanities, are generalizations about myth. Theories claim to know the answers to questions about any myth. Theories differ not merely in the answers that they give to questions – otherwise they would be the same theory! – but more deeply in the questions they answer. The main questions that theories seek to answer are of the origin, the function, and the content of myth. Directly or indirectly, these questions bear on the relationship of myth to literature. Origin means why and how myth arises. The origin proposed by a theory is recurrent rather than historical. The origin refers not to the time and place of the first appearance of myth but to the recurrent origin. It refers to why and how myth arises whenever and wherever it does. The answer to the why of origin is not a location but a need, which antedates myth and which myth is created to fulfill. What the need is, varies from theory to theory. It can range from the brute need for food to the sublime need for meaningfulness in life. A theory claims to know the necessary cause of myth but not the sufficient one. A theory claims not that wherever there is hunger, myth will arise, but rather that wherever myth arises, it arises to satiate hunger. Few explanations of any human or indeed natural event claim to offer more than necessity, and most explanations offer sufficiency rather than necessity. Unusual is an explanation that purports to be both necessary and sufficient. The how of origin refers to the means by which myth arises. For example, a theory may contend that even with the need for food, a myth will not arise without a group. Or a theory may contend that even with a need for explanation of the physical world, a myth will not arise unless there already exists the belief in god. Some theories downplay or even ignore the how of origin. To provide both the why and the how is ordinarily still to provide only the necessary cause of myth. Function means why and how myth lasts. Like the origin, the function is recurrent. The why of the function is the flip side of the why of the origin: whatever need explains the creation of myth explains the continuation of myth. The how is the means by which myth lasts. For example, a theory may assert that myth lasts only as long as it is tied to a ritual.

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Like the explanation of origin, the explanation of function claims only necessity. For example, in The Golden Bough the pioneering Scottish anthropologist J. G. Frazer argues that myth originates and functions to provide food, but not that myth continues to serve this need once science arises or before religion, to which he ties myth, arose.1 Theories of myth from the social sciences – anthropology, economics, psychology, political science, and sociology – tend to focus on the questions of origin and function. Why and how human beings come to do and continue to do whatever they do is the preoccupation of social scientists. It is not that social scientists confine themselves to behavior and ignore texts. It is that they tend to be concerned more with why and how texts are created and read (or heard) than with what texts say. Ironically, one contemporary trend in the study of culture is the reading of behavior as a text – a trend that goes back to the philosopher Paul Ricoeur and to the anthropologist Clifford Geertz. In one sense of an admittedly confusing pair of terms, the emphasis in the social sciences is on the explanation rather than on the interpretation of myth.2 By contrast, theories of myth from the humanities – art, literature, philosophy, religious studies, and literature – tend to focus on interpretation rather than explanation. The question of content is the focus. How to read artifacts is the preoccupation of humanists. For example, is myth to be read symbolically rather than literally? If so, what is being symbolized? Must myth be a story? If so, what distinguishes myth from other kinds of stories? Are there recurrent themes or patterns in myth? The questions of origin and function are hardly incompatible with the question of content. Certainly some theories seek to answer all three questions. For example, both Freudian and Jungian theories at once explain and interpret myth. These theories not only identify who creates and uses myth and why but also offer full glossaries for reading myth, for translating the literal meaning into a psychological one. Freud’s early disciple Otto Rank3 and Jung’s follower Joseph Campbell4 identify the supposedly uniform plots of hero myths, plots that symbolize the psychological meanings. Furthermore, myth for both Freudians and Jungians works by the unconscious identification of the reader with the myth. Their approach to myth is consummately 1 2

3 4

James G. Frazer, The Golden Bough, London 1890. On the uses of these terms in the social sciences, see Robert A. Segal, Explaining and Interpreting Religion. Essays on the Issue, New York 1992. Otto Rank, The Myth of the Birth of the Hero, New York 1914 [1909]. Joseph Campbell, The Hero with a Thousand Faces, New York 1949.

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like that of reader-response criticism: myth works because it is really about its readers. It is really autobiography in the guise of biography. In Primitive Culture5 the pioneering English anthropologist E. B. Tylor not only accounts for the origin and function of myth but also argues insistently for a literal rendition of it. A myth that on the surface describes Zeus’ casting a thunderbolt against those humans who have failed to show appropriate respect to him is truly about a god named Zeus who supposedly acted in this way for this reason. Still, most theories emphasize either the questions of origin and function or the question of content. For example, in Myth in Primitive Psychology6 the Polish anthropologist Bronislaw Malinowski, known as a pioneering functionalist, simply takes for granted a literal reading of myth and concentrates on the function (though also, despite the misleading term functionalist, on the origin). It is not that he ignores the content. On the contrary, the function of myth for him depends on the content. For Malinowski, all myths trace present-day social phenomena back to an origin long ago. Why is present-day Trobriand society divided into clans? Because, according to myth, clans existed even when Trobrianders lived below ground. Myth reconciles members of society to impositions that they might otherwise resist. Myth works by the power of tradition: accept this restriction because it is so old, and accept myth because it is sacred. But Malinowski is uninterested in the way myth tells its story. He is not interested in character, in technique, or in style. He is interested only in the facts contained in myth. If Malinowski concentrates on the function (as well as the origin) of myth, the German theorists of myth Rudolf Bultmann and Hans Jonas limit themselves almost wholly to the content of myth. In “New Testament and Mythology” Bultmann interprets the mythology of the New Testament.7 In The Gnostic Religion Jonas interprets the mythology of Gnosticism.8 Both Bultmann and Jonas were students of the early, existentialist Heidegger. Both seek to translate the literal meaning of their mythologies into existentialist terms. Taken literally, myth for both Bultmann and Jonas, as for Tylor and Frazer, is a primitive, pre-scientific, and false explanation of the world. Moderns cannot accept myth. But taken symbolically, myth is an expression rather than an explanation, and an expression of what it means to live in a 5 6 7

8

Edward B. Tylor, Primitive Culture, New York 1958 [1871]. Bronislaw Malinowski, Myth in Primitive Psychology, London, New York 1926. Rudolf Bultmann, “New Testament and Mythology”, in: Kerygma and Myth, HansWerner Bartsch (ed.), London 1953 [1941], pp. 1–44. Hans Jonas, The Gnostic Religion, Boston 1963 [1958].

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world in which one can or cannot rely on the presence of a solicitous god. Bultmann writes to make the Christian myth acceptable to moderns. Jonas writes to make ancient Gnosticism at least relevant to them. Bultmann’s celebrated, if excruciatingly misleading, term demythologizing means not the elimination of myth but on the contrary the preservation of it by the translation of its subject matter from the physical world to the human condition. Jonas, while not using the term of Bultmann, his teacher, does the same with Gnostic mythology. Myth for both is no longer – indeed never was – about why rain falls or why humans die but is about what it is like to live in a world – still the physical world – in which rain can or cannot be counted on to fall when needed or humans can or cannot expect to live to old age. Insofar as the guide to mythology comes from existentialism, myth is dispensable. What matters is that for both Bultmann and Jonas the content of myth cannot, as for Tylor and Malinowski, be straightforwardly read but demands deciphering. Demythologizing is akin to a literary exercise. Finally, what Bultmann and Jonas do is matched by what the French writer Albert Camus does in his retelling of the myth of Sisyphus.9 Read literally, Sisyphus is about someone cast into Tartarus for having defied Zeus. Read existentially, Sisyphus symbolizes the condition of all humanity. The world treats humans with callousness and pain not because any god controlling it so dictates but because there is no god. Camus is a secular existentialist rather than, like Bultmann and Jonas’ Gnostics, a religious one.

I.

Mythic Themes in Literature

The most obvious relationship between myth and literature has been the continuation of myth in literature. A standard theme in literature courses in at least the English-speaking world is the tracing of myths in Western literature. Usually, it is specific figures and events that are traced – for example, the figure of Prometheus and the return home to Ithaca of Odysseus (Ulysses). Also popular is the tracing of mythic categories, such as that of the hero or of the trickster. The myths in which those figures, events, and categories are found are both Greco-Roman and biblical. Courses begin with the Church Fathers, who utilized classical mythology even while warring on paganism, and proceed through Petrarch, Boccaccio, Dante, Chaucer, Spenser, Shakespeare, Milton, Goethe, Byron, Keats, and Shelley, and then on to Joyce, Eliot, Gide, Cocteau, Anouilh, and O’Neill. The same has commonly been done for biblical myths. 9

Albert Camus, The Myth of Sisyphus and Other Essays, New York 1960 [1955].

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Both classical and biblical myths have alternatively been read literally, been read symbolically, been rearranged, and been outright rewritten. And they are to be found in all of the arts, including music and film. Freud used the figures Oedipus and Electra to name the most fundamental human drives, and he took from others the figure Narcissus to name self-love. The pervasiveness of classical, or pagan, mythology is more of a feat than that of biblical mythology, for classical mythology has survived the demise of the religion of which it was once a part, whereas biblical mythology has been sustained by the nearly monolithic presence of Christianity. Indeed, classical mythology has been preserved by the culture tied to the religion that killed off classical religion.10 Till recently, the very term paganism has had a negative connotation. Deeper than the perpetuation in literature of mythic figures, events, and categories has been the perpetuation of mythic themes. Lionel Trilling, the most celebrated American literary critic of the twentieth century, taught a famous undergraduate course at Columbia University on modern literature. In his equally famous essay “On the Teaching of Modern Literature” he asserts that one theme of modern literature so central as “to constitute one of the shaping and controlling ideas of our epoch” has been “the disenchantment of our culture with culture itself ”. He contends that “it seems to me that the characteristic element of modern literature […] is the bitter line of hostility to civilization which runs through it”.11 Trilling attributes this theme to Nietzsche and Freud but most of all to Frazer: I asked myself what books of the age just preceding ours had most influenced our literature […]. It was virtually inevitable that the first work that should have sprung to mind was Sir James Frazer’s The Golden Bough. Anyone who thinks about modern literature in a systematic way takes for granted the great part played in it by myth, and especially by those examples of myth which tell us about gods dying and being reborn […].12

10

11

12

On the preservation of classical mythology, see Douglas Bush, Mythology and the Renaissance Tradition in English Poetry, Minneapolis 1932; Douglas Bush, Mythology and the Romantic Tradition in English Poetry, Cambridge/Mass. 1937; Gilbert Highet, The Classical Tradition, New York 1939; Jean Seznec, The Survival of the Pagan Gods, New York 1953 [1940]; Malcolm Bull, The Mirror of the Gods, London 2005. Lionel Trilling, “On the Teaching of Modern Literature”, in: Lionel Trilling, Beyond Culture, New York 1968 [1961], p. 3. Ibid., p. 14.

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Where Frazer is conventionally read as scorning myth and religion as outdated primitive counterparts to science, itself exclusively modern, Trilling reads him as celebrating the primitivism that scientific modernity has lost: Scientific though his purpose was, Frazer had the effect of validating those old modes of experiencing the world which modern men, beginning with the Romantics, have sought to revive in order to escape from positivism and common sense.13

For Trilling, Frazer espouses primitivism against civilization, and the heart of primitivism is myth. Frazer himself wrote almost exclusively on primitive culture. Insofar as, for Trilling, Frazer favors the primitive over the modern, Frazer is not arguing for the continuation of the primitive in the modern. But Trilling and others take modern literature itself to constitute a rejection of the modern in favor of the primitivism described by Frazer. In The Literary Impact of “The Golden Bough” American literary critic John Vickery, spurred by Trilling’s tribute to Frazer, traces the influence of Frazer’s key themes on the chief modernists in English literature: Yeats, Eliot, Lawrence, and Joyce.14 The titles of his chapters make clear Vickery’s focus on Frazer’s theory of myth – for example, “William Butler Yeats: The Tragic Hero as Dying God” and “James Joyce: Ulysses and the Human Scapegoat”. Frazer is hardly the only theorist of myth enlisted by modern writers. For example, in Ancient Myth in Modern Poetry American literary critic Lillian Feder shows the influence of Freud and Jung as well as of Frazer on, above all, Yeats, Pound, Eliot, and Auden.15 Of the influence of Freud and Jung, she writes: “All these poets reflect the new awareness that myth is a guide to and expression of unconscious feelings and instincts”.16 She credits Frazer with “discover[ing] behind ancient and primitive rites assumptions and patterns of thought and feeling that persist in some form throughout man’s social history”.17 For Feder, as for Vickery and as for Trilling, the influence of myth on literature is to be found not in allusions to ancient figures or events but in themes. Those themes are eternal. Myth remains germane to literature because myth, rightly grasped, is not about the fall of Troy or the fall of Jericho but about human nature. 13 14 15 16 17

Ibid., p. 17. John B. Vickery, The Literary Impact of “The Golden Bough”, Princeton 1971. Lillian Feder, Ancient Myth in Modern Poetry, Princeton 1971. Ibid., p. 60. Ibid., p. 181.

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Above all, for Feder, Vickery, and Trilling, the influence of myth on literature is the influence of theories of myth on literature. Myth is influential on writers because of what theorists find in myth. One might, then, contend that it is the theories of Freud, Jung, and Frazer that are the main influence on modern writers, but it is what the theories say of myth that is the link.18

II. The Mythic Origin of Literature If one way that myth influences literature is by the carrying over to literature of mythic figures, events, categories, and themes, another, tighter way is by the purported creation of literature out of myth. The most important account of the mythic origin of literature has been that which roots literature in the ritualist theory of myth – a seemingly odd way of connecting myth to literature but in fact one not so odd at all. Myth is commonly taken to be words, usually in the form of a story. A myth is read or heard. It says something. Yet there is a conception of myth that finds this view contrived. According to the myth and ritual, or myth-ritualist, theory, myth does not stand by itself but is tied to ritual. Myth is not just a statement but an action. Myth is consummately performative. The pioneering myth-ritualist was the nineteenth-century Scottish biblicist and Arabist William Robertson Smith, but it was his fellow Scot Frazer who developed the theory into its standard form.19 Yet it was left to others to apply Frazer’s theory to literature. Frazer actually offers two versions of myth-ritualism, versions that he fails to disentangle. In one version the king is a mere human being and simply plays the role of the god. The dramatic enactment of the death and rebirth of the god, who is the god of vegetation, magically causes the rebirth of the presently dead god and in turn of presently dead vegetation. The ritual is performed annually at the end, or the would-be end, of winter. In the other version of the ritual the king is himself divine, with the god of vegetation residing in him, and is actually killed and replaced. The soul of the god is then transferred to the new king. The killing of the king does not

18

19

For an annotated bibliography of scholarship on myth and literature, see Bernard Accardi et al., Recent Studies in Myths and Literature. 1970–1990, Westport 1991. See also George Nash, “Myth and Modern Literature”, in: The Context of English Literature. 1900–1930, Michael Bell (ed.), London 1980, pp. 160–185; Michael Bell, Literature, Modernism and Myth, Cambridge 1997. Frazer does not develop myth-ritualism until the second edition of the work (1900), which is actually dedicated to Smith.

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magically induce the killing of the god but instead simply preserves the health of the god, for the king is killed at the first sign of weakness or at the end of a fixed term so short as to minimize the chance of illness or death in office. The state of the king determines the state of the god of vegetation and in turn the state of vegetation itself. What part myth actually plays in this second version of myth-ritualism is not easy to see. The myth of the death and rebirth of the god is not enacted. Instead, the residence of the god is simply changed. Nevertheless, this second version of myth-ritualism has proved the more popular by far. Outside of religion, Frazer’s myth-ritualist theory has been applied to science, philosophy, and sports. But the most notable application has been to literature. The English classicist Jane Harrison, who in Themis had already applied the first version of Frazer’s myth-ritualism to ancient Greek religion, proceeded to derive all art, not just literature, from the same version.20 In Ancient Art and Ritual she speculated that gradually people ceased believing that the imitation of an action caused that action to occur.21 Yet rather than abandoning ritual, they now practiced it as an end in itself. Ritual for its own sake became art, her clearest example of which is drama. More modestly than she, her fellow classicists Gilbert Murray and F. M. Cornford rooted specifically Greek epic, tragedy, and comedy in myth-ritualism. Murray then extended the theory to Shakespeare.22 Other standard-bearers of the theory have included Jessie Weston on the Grail legend, E. M. Butler on the Faust legend, C. L. Barber on Shakespearean comedy, Herbert Weisinger on Shakespearean tragedy and on tragedy per se, Francis Fergusson on tragedy, Lord Raglan on hero myths and on literature as a whole, and Northrop Frye and Stanley Edgar Hyman on litera-

20 21 22

Jane E. Harrison, Themis, Cambridge 1912. Jane E. Harrison, Ancient Art and Ritual, New York, London 1913. See Gilbert Murray, “Excursus on the Ritual Forms Preserved in Greek Tragedy”, in: Jane E. Harrison, Themis, Cambridge 1913, pp. 341–363; Gilbert Murray, Euripides and His Age, New York, London 1913, pp. 60–68; Gilbert Murray, Aeschylus, Oxford 1940; Gilbert Murray, “Dis Geniti”, in: Journal of Hellenic Studies, 71/1951, pp. 120–128; Gilbert Murray, “Hamlet and Orestes. A Study in Traditional Types”, in: Proceedings of the British Academy, 6/1913–14, pp. 389–412; Francis M. Cornford, “The Origin of the Olympic Games,” in Jane E. Harrison, Themis, Cambridge 1913, ch. 7; Francis M. Cornford, The Origin of Attic Comedy, London 1914; Francis M. Cornford, “A Ritual Basis for Hesiod’s Theogony” [1941], in: Francis M. Cornford, The Unwritten Philosophy and Other Essays, William K. C. Guthrie (ed.), Cambridge 1950, pp. 95–116; Francis M. Cornford, Principium Sapientiae, William K. C. Guthrie (ed.), Cambridge 1952, pp. 191–256.

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ture generally.23 As literary critics, these myth-ritualists have been concerned less with myth itself than with the mythic origin of literature. They interpret works of literature as the outgrowth of myths once tied to rituals. For those literary critics indebted to Frazer, as most are, literature harks back to Frazer’s second myth-ritualist scenario. “The king must die” becomes the familiar summary line. For literary myth-ritualists, myth becomes literature when myth is severed from ritual. In this respect the mythic origin of literature is odd, if not ironic. Myth becomes literature when it ceases to be active myth. When tied to ritual, myth is religious literature; when cut off from ritual, myth becomes secular literature, or plain literature. When tied to ritual, myth can serve the explanatory and, even more, magical functions ascribed to it by myth-ritualists. Myth can even change the world. Bereft of ritual, myth is demoted to mere commentary. Literary myth-ritualism is a theory not of myth and ritual themselves, the existence of both of which is simply assumed, but of their impact on literature. Yet literary myth-ritualism is not a theory of literature either, for it refuses to reduce literature to myth. Literary myth-ritualism is an explanation of the transformation of myth and ritual into literature. Let us consider a few examples. In From Ritual to Romance the English medievalist Jessie Weston applied Frazer’s second myth-ritualist version to the Grail legend.24 Following Frazer, she maintains that for ancients and primitives alike the fertility of the land depended on the fertility of their king, in whom resided the god of vegetation. But where for Frazer the key ritual was the sacrifice of an ailing king for the rejuvenation of the god, for Weston the aim of the Grail quest was the rejuvenation of the ailing king and thereby of the god. Furthermore, Weston adds an ethereal, spiritual dimension that transcends Frazer. The aim of the quest turns out to have been mystical oneness with god and not just food from god. It is this spiritual dimension of the legend that inspired T. S. Eliot to use Weston in “The Waste Land”. Weston is not reducing the Grail legend 23

24

See Jessie L. Weston, From Ritual to Romance, Cambridge 1920; E. M. Butler, The Myth of the Magus, Cambridge, New York 1948; C. L. Barber, Shakespeare’s Festive Comedy, Princeton 1959; Herbert Weisinger, Tragedy and the Paradox of the Fortunate Fall, London, East Lansing 1953; Francis Fergusson, The Idea of a Theater, Princeton 1949; Lord Raglan, “Myth and Ritual”, in: Journal of American Folklore, 6/1955, pp. 454–461; Northrop Frye, Anatomy of Criticism, Princeton 1957, pp. 131–239; Stanley E. Hyman, “Myth, Ritual, and Nonsense”, in: Kenyon Review, 11/1949, pp. 455–475. Weston, From Ritual to Romance.

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to primitive myth and ritual but is merely tracing the legend back to primitive myth and ritual. The legend itself is literature, not myth. Because Frazer’s second myth-ritualist scenario is not about the enactment of a myth of the god of vegetation but about the condition of the reigning king, the myth that gives rise to the Grail legend is not the life of a god like Adonis but the life of the Grail king himself. In Anatomy of Criticism Canadian Northrop Frye, perhaps the most celebrated twentieth-century literary critic in the English-speaking world, argued that not one genre but all genres of literature derive from myth – specifically, the myth of the hero.25 Frye associates the life cycle of the hero with several other cycles: the yearly cycle of the seasons, the daily cycle of the sun, and the nightly cycle of dreaming and awakening. The association with the seasons comes from Frazer. The association with the sun, never attributed, perhaps comes from Friedrich Max Müller. The association with dreaming comes from C. G. Jung. The association of the seasons with heroism, while again never attributed, may come from the Frazerian Lord Raglan, author of The Hero.26 Raglan turns Frazer’s myths of dying and rising gods into myths of dying kings, who are succeeded rather than reborn. Frye’s own heroic pattern, which he calls the quest-myth, consists of four broad stages: the birth, triumph, isolation, and defeat of the hero. For Frye, each of the main genres of literature parallels at once a season, a stage in the day, a stage of consciousness, and most of all a stage in the heroic myth. Romance parallels at once spring, sunrise, awakening, and the birth of the hero. Comedy parallels summer, midday, waking consciousness, and the triumph of the hero. Tragedy parallels autumn, sunset, daydreaming, and the isolation of the hero. Satire parallels winter, night, sleep, and the defeat of the hero. The literary genres do not merely parallel the heroic myth but derive from it. The myth itself derives from ritual – from the version of Frazer’s myth-ritualism in which divine kings are killed and replaced. 25

26

See not only Frye’s Anatomy of Criticism but also Northrop Frye, “The Archetypes of Literature” [1951], in: Northrop Frye, Fables of Identity, New York 1963, pp. 7–20; Northrop Frye, “Myth, Fiction, and Displacement” [1961], in: Northrop Frye, Fables of Identity, New York 1963, pp. 21–38; Northrop Frye, “Literature and Myth”, in: James Thorpe (ed.), Relations of Literary Study, New York 1967, pp. 27–55; Northrop Frye, “Symbolism of the Unconscious” (1959), in: Robert D. Denham (ed.), Northrop Frye on Culture and Literature, Chicago 1978, pp. 84–94; Northrop Frye, “Forming Fours” [1954], in: Robert D. Denham (ed.), Northrop Frye on Culture and Literature, Chicago 1978, pp. 117–129; Northrop Frye, “Myth”, in: Antaeus, 43/1981, pp. 64–84. Lord Raglan, The Hero, London 1936.

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Frazer’s theory of myth thus constitutes the chief source for Frye’s theory of literature. Like most other literary myth-ritualists, Frye does not reduce literature to myth. On the contrary, he, most uncompromisingly of all, insists on the autonomy of literature. He faults Murray and Cornford not for speculating about the myth-ritualist origin of tragedy (Murray) and comedy (Cornford) – a nonliterary issue – but for interpreting the content of either as the enactment of Frazer’s scenario of regicide – the literary issue. Yet Frye proceeds to enlist both Frazer and Jung to help extricate the content, not just the origin, of literature. For he takes their key works to be themselves works of literary criticism and not merely theoretical works: the fascination which The Golden Bough and Jung’s book on libido symbols [i. e., Symbols of Transformation (Jung’s Collected Works, vol. 5)] have for literary critics is […] based […] on the fact that these books are primarily studies in literary criticism.27 The Golden Bough isn’t really about what people did in a remote and savage past; it is about what the human imagination does when it tries to express itself about the greatest mysteries, the mysteries of life and death and afterlife.28

Frye thus reads Frazer the way Trilling, Vickery, and Feder do, though these three do not go so far as to deem The Golden Bough itself a literary work. Frye likewise singles out Jung’s Psychology and Alchemy (Jung’s Collected Works, vol. 12) as “a grammar of literary symbolism which for all serious students of literature is as important as it is endlessly fascinating”.29 Because Frye brings myth and literature so closely together, his literary criticism is confusingly called myth criticism, of which he himself is often considered the grandest practitioner. Similarly, his literary criticism is called archetypal criticism because in innocently calling the genres of literature archetypes, he is mistaken for a Jungian and, again, for the grandest of Jungian practitioners. He is assumed to be reading literature psychologically rather than, as he insists, literarily.30

27 28 29 30

Frye, “The Archetypes of Literature”, p. 17. Frye, “Symbolism of the Unconscious”, p. 89. Ibid., p. 129. To compound the confusion, there are outright Jungian literary critics who are aptly called archetypal critics, beginning with Maud Bodkin, Archetypal Patterns in Literature, London 1934. To compound the confusion yet further, there are postJungians who call themselves archetypal psychologists rather than Jungians. The most prominent are James Hillman and David Miller, both of whom write voluminously on myth. See James Hillman, Re-Visioning Psychology, New York 1975; David L. Miller, The New Polytheism, Dallas 1981.

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In Violence and the Sacred and other works the French literary critic René Girard offers the sharpest break between myth and literature.31 Like Frye, Girard faults Harrison and Murray for conflating myth and ritual with tragedy. But he faults the two even more sternly for domesticating tragedy. For Harrison and Murray, myth merely describes the Frazerian ritual, and tragedy merely dramatizes it. Worse, tragedy turns an actual event into a mere theme.32 For Girard, myth covers up the ritual, and tragedy, as in Sophocles’ plays about Oedipus, uncovers it. In its function myth for Girard is thus the opposite of literature – a most original view of their relationship. Girard’s criticism of Harrison and Murray and ultimately of Frazer is, however, directed at Frazer’s second myth-ritualist scenario. There the king is outright killed. But Harrison and Murray use instead Frazer’s first myth-ritualist scenario, in which the king merely plays the part of the god of vegetation. Here the god dies, but the king does not. Girard’s charge that Harrison, Murray, and in part Frazer miss the human killing that underlies all tragedy is thus embarrassingly misdirected.

III. Myth as Story versus Myth as Science If one way of tying myth to literature is by locating in literature mythic figures, events, categories, and themes, and if another way is by deriving literature from myth, a third way is by tying myth to story rather than to science. Let me explain. A topic in the study of myth as common as that of myth and literature is that of myth and science. Here science means natural rather than social science. If one can generalize, the nineteenth-century view was that myth was the primitive counterpart to science, which was assumed to be exclusively or at least largely modern. Myth was taken to arise and serve to explain all physical events. In origin and function, myth was identical with science. The difference was in the explanation. Where the mythic explanation attributes events to decisions by gods or to the condition of gods, the scientific explanation attributes events to impersonal processes, taking the form of laws. Tylor, for whom myth is an explanation as an end in itself, and Frazer, for whom the explanation is a means to the securing of food, epitomize the 31

32

See René Girard, Violence and the Sacred, London, Baltimore 1977 [1972]; René Girard, ›To Double Business Bound‹, London, Baltimore 1978; René Girard, The Scapegoat, London, Baltimore 1986 [1982]; René Girard, Things Hidden since the Foundation of the World, London, Baltimore 1987 [1978]. See Girard, Violence and the Sacred, p. 6.

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nineteenth-century position. For Tylor, myth is the exact counterpart to theoretical science. For Frazer, myth is the exact counterpart to applied science. If one can generalize further, the twentieth-century view of myth was that it is anything but the primitive counterpart to science, itself still considered largely modern. Either myth is not about the physical world, or myth is not an explanation or manipulation of the physical world. Myth is instead about society, the mind, or the place of humans in the physical world. Myth arises and functions to unify society, to facilitate the experience of the unconscious, or to express the place of humans in the world. Malinowski, Freud, Jung, Bultmann, Jonas, and Camus typify the twentieth-century approach to myth. So do Trilling, Vickery, and Feder in their reading of Frazer, which I myself do not share. Finally, so does Hans Blumenberg, as we shall see.33 One ramification of the typically nineteenth-century view of myth – a view that still exists – is the downplaying of myth as literature. While it would be excessive to assert that any story is myth, it would not be excessive to assert that any myth is a story. To be sure, there are approaches to myth that do not make myth a story. The approach to myth from political science sees myth as ideology, which can take the form of a conviction or a credo without any accompanying story. But most theories do assume a story, whatever they make of the story. Even Claude Lévi-Strauss’ rejection of the story, or diachronic dimension, of myth in favor of the structure, or synchronic dimension, starts with myth as a story. The real issue is the significance accorded the story by a theory.34 The status accorded story cuts across the divide between the centuries and instead divides more along social scientific versus humanistic lines. Compare Tylor with Blumenberg. Tylor takes for granted that a myth is a story. But he deems myth a causal explanation of events in the physical world that merely happens to take the form of a story. Of course, myth tells the story of how Helius or Apollo becomes responsible for the sun and exercises that responsibility. But what interests Tylor is the information itself, not the way it is conveyed. Here he is like Malinowski in the twentieth century. He ig33

34

On the relationship between myth and science, see chapter 1 in: Robert A. Segal, Myth. A Very Short Introduction, Oxford, New York 2004 (German translation: Robert A. Segal, Mythos. Eine kleine Einführung, Stuttgart 2007). I use story rather than narrative, the term preferred today. On the distinction, see Shlomith Rimmon-Kenan, Narrative Fiction, London, New York 2002 [1983], p. 3. On the yet further distinction among story, narrative, and plot – all of which I innocently use interchangeably – see Paul Cobley, 2001, Narrative, London, New York 2001, pp. 4–7.

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nores such standard literary considerations as characterization, time, voice, point of view, and reader response, just as the analysis of a scientific law would. (The twentieth-century focus on models and metaphors in science long postdates Tylor.) Because myth for Tylor is intended to explain recurrent events, it can be rephrased as a law. Whenever rain falls, it falls because the god of rain has decided to send it, and always for the same reason. When the sun rises, it rises because the sun god has chosen to mount his chariot, to which the sun is attached, and to drive across the sky, and again always for the same reason. Tylor despises those contemporaries who read myth poetically, allegorically, or metaphorically – for him synonymous terms for nonliteral. For Tylor, the how of the origin of myth is observation, inference, and generalization, just as in science. Myth is the product of reason. His nemeses, by contrast, attribute myth to imagination: The superficial student [of myth], mazed in a crowd of seemingly wild and lawless fancies, which he thinks to have no reason in nature nor pattern in this material world, at first concludes them to be new births from the imagination of the poet, the tale-teller, and the seer.35

For Tylor, to read myth nonliterally is to trivialize myth. It is to turn explanations of physical events into merely literary descriptions of those events. Worse, it is to change the subject matter of myth from the physical world to, say, ethics. In turn, it is to change the origin and function of myth. Because science explains why the sun rises and falls, and does so literally, myth must do the same. Where Frye and others argue that literature is not reducible to myth, Tylor argues that myth is not reducible to literature.36 In the wake of postmodernism, in which arguments in all fields, including science and law, are recharacterized as stories, Tylor’s indifference to the story aspect of myth is notable. Antithetical to Tylor stands Blumenberg, who would classify Tylor as a conspicuous representative of the Enlightenment approach to myth – one of

35 36

Tylor, Primitive Culture, vol. 1, p. 273. Tylor’s opposition between myth and literature seems artificial from the standpoint of the American literary critic Kenneth Burke, who in The Rhetoric of Religion argues that myth is the transformation of metaphysics into story. Myth expresses through story what “primitives” cannot express directly: metaphysical priority (Kenneth Burke, The Rhetoric of Religion, Boston 1961). Going even further than Burke, fellow American literary critic Richard Chase reduces myth to literature (Richard Chase, “Myth as Literature”, in: English Institute Essays 1947, New York 1948, pp. 3–22).

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the two approaches that in Work on Myth he castigates.37 (The other is the Romantic approach.38) While Blumenberg cites Tylor only once, and in passing,39 it is clear how he would respond to Tylor’s view. Blumenberg rejects this supposedly Enlightenment view of myth on the grounds that myth continues to exist in modernity, which he, like all other theorists of myth, equates with the age of science.40 The survival of myth in the wake of science proves that the function of myth was never scientific. By a scientific explanation Blumenberg means a genetic, or an etiological, one. As he writes in criticism of the Enlightenment view: That the relationship between the “prejudice” called myth and the new science should [for the Enlightenment] be one of competition necessarily presupposes the interpretation of individual myths as etiological.41

Blumenberg offers four arguments for his view of myth as nonetiological. It is the middle two of the four arguments that bear on myth as story. Blumenberg asserts that myths tell stories rather than give reasons: In the [erroneous] etiological explanation of myth […] the recognition of myth as an archaic accomplishment of reason has to be justified by its having initially and especially given answers to questions, rather than having [in actuality] been the implied rejection of those questions by means of storytelling.42

Furthermore, within a myth anything can derive from anything else, in which case there must be scant interest in accurate derivation and therefore in derivation itself: “When anything can be derived from anything, then there just is no explaining, and no demand for explanation. One just tells stories”.43 Indeed, myth presents mere “sequences” rather than “chronology”, by which he means causality.44 Blumenberg’s arguments for myth as nonetiological are, in my opinion, tenuous. Undeniably, myths tell stories rather than give arguments. But this difference in form need scarcely mean a difference in function. Tylor, for his part, disregards the form for the content and sees myth as presenting argu37 38

39 40 41 42 43 44

Hans Blumenberg, Work on Myth, Cambridge/Mass. 1985 [1979]. In Work on Myth Blumenberg rails more fervently against the Enlightenment view of myth than against the Romantic view. In The Legitimacy of the Modern Age he rails against Romanticism almost exclusively (Hans Blumenberg, The Legitimacy of the Modern Age, Cambridge/Mass. 1983 [1973], part 1, esp. chapters 3–4). Blumenberg, Work on Myth, p. 151. Ibid., pp. 263–264, 274. Ibid., p. 265. Ibid., p. 166; see also pp. 184–185, 257–259. Ibid., p. 127. Ibid., p. 126; see also p. 128.

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ments in the form of stories. Plato, Plotinus, and other ancient critics of myth as story take for granted that the function of myth is the same as that of philosophy, which Blumenberg rightly associates with science. Insofar as Thales and other Presocratics succeed Homer and Hesiod, Homer and especially Hesiod must be providing etiologies of their own. Undeniably as well, in myth anything can derive from anything else. In fact, nearly anything at all can happen. But even the most fantastic etiologies are not therefore less etiological. Even if anything can happen in myth, myth is still reporting how it did happen. Whether Tylor is more convincing than Blumenberg or Blumenberg more convincing than Tylor, they constitute the opposing positions on the nature of myth as story and as explanation. For Tylor, myth is an explanation that incidentally takes the form of a story. For Blumenberg, myth is a story and therefore not an explanation. The function, or “work”, of myth, which is to make humans feel “at home in the world” rather than to explain the world, requires the taking of myth as a story.45

45

Ibid., p. 113.

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Annette Simonis

Annette Simonis (Gießen)

Repräsentation als literarische und ästhetische Reflexionsform: Mediale Transformationen von antiker Mythologie in der Moderne und Gegenwart

I.

Mythos und Literatur als Spannungsfeld und wechselseitiger Anregungshorizont

Mythos und Literatur stehen zueinander in einem interessanten reziproken Verhältnis. Es gehört zu den Eigenheiten vieler literarischer Texte, Aspekte mythischer Erfahrung zu verhandeln, und zu den Besonderheiten von Mythen, die Genese von Erzählungen, mündlichen und schriftlichen Traditionen, zu stimulieren. Wie Hans Blumenberg gezeigt hat, manifestieren sich mythische Momente stets in vielfältigen ästhetischen sowie kulturellen Bearbeitungen und Transformationen.1 Der ursprüngliche Mythos ist – spätestens seit der Erfindung der Schrift in den antiken Hochkulturen – immer nur mittelbar durch die zahlreichen Bearbeitungsstufen und -formen zu erahnen. Innerhalb der philosophischen Mythendiskussion des 20. Jahrhunderts nimmt Blumenbergs Ansatz im Rückblick insofern eine hervorgehobene Position ein, als er die methodologische Fundierung der aktuellen kulturwissenschaftlichen Mythenforschung vorwegnimmt. Denn in seiner Konzeption von Mythen und mythologischen Überlieferungsformen wird die Privilegierung eines Grundmythos im Sinne eines ursprünglichen mythischen Gehalts oder Substrats nachhaltig unterwandert. Somit sind Mythen gleichsam immer schon zerstreut in ästhetische Pluralität, in rhizoide und transitorische Konfigurationen. Wer vom Zorn des Achilles singt, ist aus der ursprünglichen mythischen Präsenz schon herausgetreten, hat, wie Adorno und Horkheimer es formulieren würden, den ersten Schritt des Aufklärungsprozesses bereits vollzogen.2 ›Arbeit am Mythos‹ impliziert dabei nicht nur Ferne und Distanz, sondern auch Reflexivität. Die 1

2

Vgl. Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, 5. Aufl., Frankfurt a. M. 1990, S. 192–238. Zur Variabilität und kulturellen Bedeutsamkeit von Mythen vgl. auch Annette Simonis/Linda Simonis (Hrsg.), Mythen in Kunst und Literatur. Tradition und kulturelle Repräsentation, Köln u. a. 2004. Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Die Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M. 1988, S. 15.

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mythische Figuralität wirkt in der ästhetischen Dimension von Schrift und Bild als eine spezifische Reflexionsform des Mythologischen. Durch die ästhetische Gestaltung nimmt die Darstellung von Mythen indes durchaus wiederum suggestive und mitunter sogar auratische Momente an; sie kann neue Mythen anregen und erzeugen. Mythengenese und Mythenreflexion gehen in den ästhetischen Repräsentationen somit häufig eine wechselseitige Verbindung ein, die sich als Spannungsverhältnis oder als wechselseitige Potenzierung äußern kann.

II. Mythengenese und Ausdifferenzierung mythologischer Repräsentationen im Verlauf der kulturellen Evolution Der vorliegende Beitrag verfolgt das Ziel, die oben genannten Aspekte im Folgenden in systematisch-theoretischer Hinsicht zu vertiefen und die gewonnenen Erkenntnisse sodann anhand von verschiedenen ästhetischen Adaptionen bzw. Transformationen des Orpheus-Mythos in der neueren europäischen Kulturgeschichte exemplarisch zu veranschaulichen. Die bedeutendsten kulturellen Funktionen und spezifischen Merkmale von Mythen lassen sich im Anschluss an Blumenbergs wegweisende Studie Arbeit am Mythos nachvollziehen. Dort wird die entscheidende Rolle des Mythos im Rückblick auf die Anfänge der Menschheitsgeschichte erörtert. Während der Werkzeuggebrauch des steinzeitlichen Menschen, der in kulturanthropologischen und biologischen Kontexten oft als Motor und Indiz einer spezifisch menschlichen Entwicklung genannt wird, bei Blumenberg eher eine untergeordnete Bedeutung trägt, übernimmt die Mythengenese die Schlüsselaufgabe, als Keimzelle der kulturellen Evolution zu fungieren: Welchen Ausgangspunkt man auch wählen würde, die Arbeit am Abbau des Absolutismus der Wirklichkeit hätte immer schon begonnen. Unter den Relikten, die unsere Vorstellung von der Frühzeit des Menschen beherrschen, sein Bild als das des tool-maker prägen, bleibt all das unauffindbar, was auch geleistet werden musste, um eine unbekannte Welt bekannt, ein ungegliedertes Areal von Gegebenheiten übersichtlich zu machen. Dazu gehört das der Erfahrung Unzugängliche hinter dem Horizont. Den letzten Horizont, als den mythischen ›Rand der Welt‹, zu besetzen, ist nur der Vorgriff auf die Ursprünge und Ausartungen des Unvertrauten. Der homo pictor ist nicht nur Erzeuger von Höhlenbildern für magische Jagdpraktiken, sondern das mit der Projektion von Bildern den Verläßlichkeitsmangel seiner Welt überspielende Wesen. Dem Absolutismus der Wirklichkeit tritt der Absolutismus der Bilder und Wünsche entgegen.3 3

Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 13f.

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Bei Blumenberg erscheinen die Anfänge des Mythos und die Mythengenese selbst als wirkungsvolles Remedium gegen das Unberechenbare, Unheimliche, die durch einen imaginären Überschuss bewältigt werden. Ihm zufolge eröffnet das mythische Denken eine neue Sphäre der Bedeutsamkeit, die die Angst vor dem Überhandnehmen des Absolutismus der Wirklichkeit – der Bedrohungen durch die empirische Lebenswelt – abzuwehren vermag. Jene ordnungsstiftende Aufgabe zeichnet sich im differenzierten Aufbau der alteuropäischen und altorientalischen Mythensysteme ab. Die ästhetische Ordnung der Mythologien ist aber keineswegs statisch. Wir haben es stattdessen mit einer ausgesprochenen Vielfalt und Dynamik der ästhetischen und kulturellen Modellierungen zu tun. Das griechisch-römische Göttersystem etwa ist eine besonders offene Mythenarchitektur, denn es lässt den Import neuer Göttergestalten zu.4 Schon in der Antike erweist sich die Mythenproduktion als letztlich unendlich, rhizom-ähnlich, inkalkulabel, irreduzibel. Das aufschlussreiche Spannungsfeld zwischen Grundmythos und Kunstmythos, in dem sich auch Blumenbergs Thesen bewegen, wurde oben bereits erwähnt. Es ist bezeichnend, dass Blumenberg die genannte Leitdifferenz zugleich verwendet und ihr durchaus eine Schlüsselstellung einräumt, sie aber auch fast im selben Atemzug wieder unterläuft: Auch wenn ich […] zwischen dem Mythos und seiner Repräsentation unterscheide, will ich doch nicht der Annahme Raum lassen, es sei ›Mythos‹ die primäre archaische Formation, im Verhältnis zu der alles Spätere ›Rezeption‹ heißen darf […].5

Ferner ist die Rede von der Beständigkeit des Grundmythos gegenüber einer marginalen Variabilität. Beide Aspekte werden nachdrücklich hervorgehoben: Einer »hochgradigen Beständigkeit« des »narrativen Kerns« wird eine »ausgeprägte marginale Variationsfreudigkeit«6 gegenübergestellt. Beide eigentlich gegenläufigen Tendenzen charakterisieren gleichermaßen die mythologische Überlieferung, wobei letztlich die Unterscheidung zwischen Grundmythos und Kunstmythos in der mythologischen Praxis verschwimmt. Denn der Grundmythos ist außerhalb seiner zahlreichen ästhetischen und medialen Modellierungen nicht greifbar, oder wie Blumenberg sagt: »Der Mythos ist immer schon in Rezeption übergegangen, und er bleibt in ihr […].«7 4

5 6 7

Vgl. ebd., S. 264: »Dagegen ist die mythische Denkform gekennzeichnet durch die fast unbegrenzte Vereinigungsfähigkeit heterogener Elemente unter dem Titel des ›Pantheon‹.« Vgl. ferner Jan Assmann, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, 3. Aufl., München 2001. Vgl. auch ders., Die Mosaische Unterscheidung. Oder der Preis des Monotheismus, München, Wien 2003, S. 49–53. Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 133. Ebd., S. 40. Ebd., S. 299.

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Somit begegnet uns der Mythos nach Blumenberg immer schon im jeweiligen Zustand einer spezifischen ästhetischen oder poetischen Adaption und in seiner jeweiligen medialen wie kulturellen Bedingtheit, die den Rezipienten wiederum zu spezifischen Abstraktionsleistungen herausfordert. Reizvoll erscheint gerade der Tatbestand, dass sich ein erster Mythenstifter und ein genaues Entstehungsdatum nicht ausmachen lassen: So sicher es ist, dass Mythen erfunden worden sind, obwohl wir keinen Erfinder und keinen Augenblick der Erfindung kennen, wird doch diese Unkenntnis zum Indiz dafür, daß sie zum Bestand des Uralten gehören müssen und alles, was wir kennen, schon in die Rezeption eingegangener Mythos ist.8

Die unterschiedlichen Gestaltungen des Mythos stehen gleichberechtigt nebeneinander – es gibt unter ihnen keine privilegierte dogmatische Fassung: »Im Mythos geschieht das Totale und das Endgültige nicht, sie sind Produkte der dogmatischen Abstraktion.«9 Mythen nehmen offenbar dennoch, ohne eine dogmatische Prägung aufzuweisen, einen privilegierten Ort im kulturellen Gedächtnis ein. Es ist jene offene und zugleich modellierbare Qualität, die den Charakter des Mythos nach Blumenberg auszeichnet. Gerade weil letzterer in allen seinen Variationen dennoch auf einen systematischen Kern bezogen bleibt, ist er dazu prädestiniert, zu einem geeigneten Medium philosophischer Reflexion zu werden. Nicht selten geben antike Mythen bis in die Gegenwart Anlass und Gegenstand der philosophischen Reflexion und können als Initialzündung und Kristallisationsmedien von originellen philosophischen Gedankengebäuden wirken. Sie verhelfen abstrakten argumentativen Zusammenhängen zu anschaulicher Prägnanz, indem sie einen Erfahrungsbereich jenseits der gewöhnlichen Alltagswahrnehmung erschließen, der aber durchaus noch innerhalb der ererbten kulturellen Gedächtnishorizonte liegt und dem Leser dadurch zugänglich wird. Von Horkheimer und Adorno über Camus,10 Blumenberg und Blanchot11 lässt sich eine solche kreative Indienstnahme mythologischen Personals zur Entfaltung komplexer philosophischer Gedankenzusammenhänge beobachten. Ausgerechnet die mythische Gestalt des Odysseus vermag als Repräsentant des neuzeitlichen Subjekts, wenn nicht gar des modernen Bewusst8 9

10 11

Ebd., S. 294. Ebd., S. 296. Zum Verhältnis von Mythos und Dogma vgl. auch die prägnanten Formulierungen auf S. 269. Vgl. Albert Camus, Le Mythe de Sisyphe. Essai sur l’absurde, Paris 1985 (1. Aufl. 1942). Vgl. Maurice Blanchot, Le Livre à venir, Paris 1959. Deutsche Übertragung: Ders., Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur, München 1962.

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seins in Erscheinung zu treten. In der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno wird die Geschichte der Irrfahrt und Heimkehr des antiken Helden in die Allegorie der modernen Subjektwerdung transformiert, die im Zeichen der Naturbeherrschung und Selbstdisziplinierung steht. Adornos Odysseus avanciert zum Prototyp des aufgeklärten bürgerlichen Individuums, dessen effektive Leistungsfähigkeit indes um den Preis des Verzichts und der Entsagung erkauft ist: Er eben kann nie das Ganze haben, er muss immer warten können, Geduld haben, verzichten, er darf nicht vom Lotos essen und nicht von den Rindern des heiligen Hyperion, und wenn er durch die Meerenge steuert, muss er den Verlust der Gefährten einkalkulieren, welche Szylla aus dem Schiff reißt.12

Die Begegnungen des Seefahrers Odysseus werden dergestalt neutralisiert – wie im Falle der Episode mit den Sirenen, deren Gesang er nur als Gefesselter am Mast des Schiffes hören darf – sie werden nur mehr greifbar als »Sehnsucht dessen, der vorüberfährt«.13 Für Blumenberg hingegen verkörpert Odysseus die wissenschaftliche Neugier und, damit verbunden, die spezifische Aufbruchsstimmung und neuartige wissenschaftliche Mentalität des neuzeitlichen Menschen.14 Er geht von Dantes Darstellung der Situation des Odysseus in der Divina Commedia aus, die jener im 26. Canto des Inferno evoziert: Dante lässt Odysseus nicht in die Heimat zurückkehren, sondern über die Grenzen der bekannten Welt, über die Säulen des Herkules hinaus auf den Ozean vordringen. Dort entschwindet er dem Blick im Ungewissen, getrieben von seinem ungehemmten Wissensdrang und dem endgültigen Schiffbruch am Berg Eden, der irdisches Paradies und Purgatorium vereinen soll, preisgegeben.15

Auch wenn sich Odysseus in Dantes Göttlicher Komödie im Inferno befindet und göttliche Strafe auf sich zieht, erweist sich seine Grenzüberschreitung durch die Schifffahrt ans Ende der Welt auch als Zeichen einer rastlosen Wissbegierigkeit und Neugier, die ein neues Zeitalter antizipiert. In seiner 12 13

14

15

Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 65. Ebd., S. 67. Jeffrey Thomas Nealon kennzeichnet Adornos Odysseus in diesem Sinne als »a prototype of the bourgeois individual« (Jeffrey Thomas Nelson, Alterity politics. Ethics and performative subjectivity, Durham, London 1998, S. 32). Zum Konzept der wissenschaftlichen Neugier vgl. auch Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 2007. Vgl. zu diesem Gesichtspunkt auch den interessanten Beitrag von Eva Horn, »Zur literarischen Archäologie der wissenschaftlichen Neugierde (Frankenstein, Faust, Moreau)«, in: Dies./Bettine Menke/Christoph Menke (Hrsg.), Literatur als Philosophie – Philosophie als Literatur, München 2005, S. 153–171. Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 89f.

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›Verfallenheit an die Weltneugierde‹16 zeichnet sich Blumenbergs Odysseus auch als eine positive, wenn nicht gar heroische Figur aus, denn für den Philosophen gilt die Neugier als eine anthropologische Grundkonstituente und als zentrale Triebfeder wissenschaftlichen Denkens. Die Begegnung mit Mythen oder Mythenfragmenten aus der kulturellen Überlieferung lässt den modernen Beobachter nicht unbeteiligt, sondern fordert nicht selten eine intellektuelle Selbstverortung heraus, eine existenzielle, philosophische oder poetische Standortbestimmung. Blumenberg betont darüber hinaus, dass Mythen keine Antworten formulieren, sondern an Stelle dessen zu einer Anerkennung von Fragen führen können. Sie inspirieren eine narrative und philosophische Auseinandersetzung, eine longa fabulositas,17 eine Lust zu fabulieren, die sich auch im Medium des Poetischen äußert, in der Lyrik sowie in den epischen und dramatischen Gattungen.

III. Ästhetische Modellierungen mythologischer Überlieferungsformen zwischen Präsenz und Repräsentation Mythische Überlieferungen sind, auch im Kontext der modernen Dichtung und Ästhetik, weiterhin überaus anregend und produktiv. Besonders das unabschließbare, bewegliche Formprinzip, das traditionelle ganzheitliche Konzepte und jegliche Rahmungen sprengt, spricht moderne Künstler und Gegenwartsautoren an. Es wird mitunter zum integralen Bestandteil mythopoetischer Selbstreflexion erhoben. Die künstlerische Aufgabe besteht vor allem darin, dem Schwebenden, Unfasslichen, Ungreifbaren und Luftigen des Mythos eine materiell-konkrete Gestalt zu geben und eigene, jeweils individuell und kulturell bedingte Modellierungen zu verleihen. Gerade durch ihre Wandelbarkeit, Unabgeschlossenheit und innere Dynamik entsprechen Mythen in hohem Maße den Anforderungen der Moderne und Gegenwart und erscheinen daher keineswegs rückwärtsgewandt. Fraglich ist hingegen, ob sich die Aspekte mythischer Präsenz in der Moderne und Gegenwart weiterhin aufrecht erhalten lassen und welche Funktion sie in einem postantiken oder gar postmodernen Ambiente übernehmen könnten. Insofern die Ausdifferenzierung der Mythen im Laufe ihrer kulturellen Überlieferungsgeschichte unweigerlich eine fortschreitende Fragmentarisierung und Pluralisierung in vielfältige Rezeptionsstufen impliziert, hat sie auch den Verlust jener mythischen Präsenzerfahrung im Sinne einer ganzheitlichen, unmittelbar gegebenen Form und Erlebnisqualität zur 16 17

Vgl. ebd., S. 89. Ebd., S. 221.

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Folge.18 Die Verbindung von Mythos und Präsenz, deren Annahme auch für die Antike bereits prekär ist, scheint in der europäischen Neuzeit und Moderne abhanden gekommen. Vor der Folie einer unhintergehbaren Pluralität und Polyvalenz mythologischer Überlieferungen und Gestaltungen wäre zu fragen, wie es kommt, dass literarischen und künstlerischen Mythenadaptionen überhaupt eine je verbindliche kulturelle Bedeutung zugewiesen werden kann und inwiefern sie in einem bestimmten Zeitraum, einer gegebenen Epoche, als kulturelle Repräsentationen fungieren können. In diesem Zusammenhang ist zu überlegen, wie es Mythenbearbeitungen gelingen kann, innerhalb eines weitgehend enthierarchisierten mythenkulturellen Netzwerks Suggestivkraft, überindividuelle Verbindlichkeit bzw. Bedeutsamkeit und kulturelle Autorität anzunehmen. Wenn man die Notwendigkeit erkennt, im Blick auf die moderne Mythenrezeption seit der frühen Neuzeit auf die Kategorie der Präsenz im emphatischen Sinne zu verzichten, so wäre nach anderen Konzepten zu suchen, die geeignet wären, jene in ihrer Funktion als Gegenstück zu Repräsentation ggf. zu ersetzen bzw. zu vertreten. Hier bietet es sich an, auf den Begriff der Evidenz zurückzugreifen, welcher derzeit in kultur- und medienwissenschaftlichen Kontexten rege diskutiert wird. Evidenz kann nämlich im Unterschied zum Konzept von Präsenz, das in der Regel eng mit Vorstellungen von Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit assoziiert ist, auch sekundär, etwa durch gewisse argumentative oder medientechnische Strategien, erzeugt werden19 und mit Suggestionen bzw. Simulationen von Präsenz und Authentizität einhergehen. Die kulturelle Wirksamkeit und Überzeugungskraft der mythologischen Darstellungen ist an ihre jeweilige (z. B. poetische oder ästhetische) Evidenz gekoppelt, die sich aber nicht mehr notwendig als ganzheitliche oder unmittelbare Qualität versteht. Noch ein weiterer Aspekt lohnt sich genauer zu betrachten: Wenn moderne Mythenadaptionen die Differenz von Repräsentation und ›Präsenzsuggestion‹ aufgreifen, dann geschieht dies bereits in einem fortgeschrittenen Stadium der Ausdifferenzierung mythologischer Systeme oder Denkgebäude und die Leitunterscheidung von Mythos und Präsenzannahmen wird in den 18

19

Eine solche Annahme mythischer Unmittelbarkeit findet sich im metaphysischen Mythosbegriff des 19. Jahrhunderts in Schellings gegen Hegel gewendeter Philosophie der Mythologie. Vgl. die aufschlussreiche Studie von Markus Gabriel, Der Mensch im Mythos. Untersuchungen über Ontotheologie, Anthropologie und Selbstbewußtseinsgeschichte in Schellings »Philosophie der Mythologie«, Berlin 2006. Vgl. den aufschlussreichen Sammelband Michael Cuntz/Barbara Nitsche/Isabell Otto/Marc Spaniol (Hrsg.), Die Listen der Evidenz, Köln 2008.

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Werken häufig selbst zum Gegenstand der Betrachtung und kulturellen Verhandlung; es handelt sich dann um ein re-entry, einen Wiedereintritt der Form in die Form bzw. der Differenz in die Differenz.20 Die Ausgangsunterscheidung von Mythos und Präsenzsuggestion wird auf einer Ebene der Beobachtung höherer Ordnung beleuchtet. Daher richtet sich der Blick des Betrachters stärker auf das Wie der mythologischen Repräsentation als auf deren Semantiken selbst, um die Besonderheiten der medialen Form und die ästhetische Gestaltungsdimension zu beobachten. Am Beispiel verschiedener moderner Adaptionen des Orpheus-Mythos lässt sich diese Perspektivenverschiebung exemplarisch nachvollziehen.

IV. Orpheus revisited Eine besonders vielfältige und produktive Rezeption antiker Mythen in der Moderne und Gegenwart kann beispielhaft anhand des Orpheus-Mythos und seiner neuzeitlichen Rezeptionsgeschichte in Literatur und Kunst beobachtet werden.21 Der Lyriker Michael Hamburger diagnostiziert in diesem Sinne das Wiederauftauchen der ältesten, scheinbar atavistischen Funktionen von Dichtung und Dichter selbst in den hochtechnisierten und kommerzialisierten pluralistischen Kulturen. Selbst der mythische Archetypus des Orpheus gehört zu den wiederkehrenden Gestalten.22 20

21

22

Zum Konzept des re-entry, des Wiedereintritts der Form in die Form, und seinen mathematischen Grundlagen siehe auch George Spencer Brown, Laws of Form, New York 1979, S. 56–72. Vgl. ferner Dirk Baecker/Frank E. P. Dievernich/ Thorsten Schmidt (Hrsg.), Strategien der Organisation. Ressourcen – Strukturen – Kompetenzen, Wiesbaden 2004, S. 160. Zu den Orpheus-Mythen in der Antike vgl. die erhellende Untersuchung von Annick Béague/Jacques Boulogne/Alain Deremetz/Françoise Toulz, Les visages d’Orphée, Villeneuve d’Ascq 1998. Zur Rezeption und Adaption der Orpheus-Sage in der Romania siehe http://www.danser-en-france.com/repertoire/orphee.htm (Stand: 29. 06. 2011). Vgl. außerdem die kompakte Anthologie Wolfgang Storch (Hrsg.), Mythos Orpheus. Texte von Vergil bis Ingeborg Bachmann, Leipzig 2001. Vgl. ferner Claudia Maurer Zenck (Hrsg.), Der Orpheus-Mythos von der Antike bis zur Gegenwart. Die Vorträge der interdisziplinären Ringvorlesung an der Universität Hamburg, Frankfurt 2004 und Christine Mundt-Espin (Hrsg.), Blick auf Orpheus, Tübingen, Basel 2003. Michael Hamburger, Das Überleben der Lyrik. Berichte und Zeugnisse. Walter Eckel (Hrsg.), München 1993, S. 241f. Zur Bedeutung des Orpheus-Motivs für Hamburgers Poetik vgl. auch dessen Gedicht »Orpheus Street, London S. E. 5«, das Geoffrey Miles in seiner kommentierten Anthologie abdruckt: Geoffrey Miles (Hrsg.), Classical Mythology in English Literature. A Critical Anthology, London, New York 1999, S. 161f.

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Die mythologischen Erzählungen über den unvergleichlichen thrakischen Sänger Orpheus, der auf der Lyra spielte und die wilden Tiere durch seinen Gesang und sein Spiel faszinierte, der in die Unterwelt aufbrach, um seine verstorbene Gattin Eurydike aus dem Totenreich zurückzuholen, ist schon in der Antike in zahlreichen Fassungen überliefert23 und hat auch die neuzeitlichen Dichter und Künstler zu immer neuen Adaptionen und Interpretationen stimuliert. Der mythologische Dichter-Sänger Orpheus kann bis in die Gegenwartskultur als Leitfigur dienen, weil er eine ausgeprägte poetische Metareflexion und damit verbunden diverse Selbstverortungen moderner Künstler und Dichter ermöglicht.24 Die Lyrikerin Ingeborg Bachmann gehört zu denjenigen Dichtern und Dichterinnen des 20. Jahrhunderts, die die Orpheus-Gestalt als poetische Identifikationsfigur ausgiebig genutzt und zugleich problematisiert haben. Ingeborg Bachmann: Dunkles zu sagen25 Wie Orpheus spiel ich auf den Saiten des Lebens den Tod und die Schönheit der Erde und deiner Augen, die den Himmel verwalten, weiß ich nur Dunkles zu sagen. Vergiß nicht, daß auch du, plötzlich, an jenem Morgen, als dein Lager noch naß war von Tau und die Nelke an deinem Herzen schlief, den dunklen Fluß sahst, der an dir vorbeizog. Die Saite des Schweigens […] griff ich dein tönendes Herz. Verwandelt ward deine Locke ins Schattenhaar der Nacht, der Finsternis schwarze Flocken beschneiten dein Antlitz. 23

24

25

U.a. in Texten von Pindar (vierte pythische Ode), Diodor von Sizilien (Bibliotheca historica), Platon (Symposion, Apologie des Sokrates), Ovid (Metamorphosen) und Vergil (Georgica). Die Reflexivität der Orpheus-Figur ist, genauer gesagt, eine doppelte: Nicht nur die Tatsache, dass er eine Sängerfigur ist, begründet dieses Potential, sondern auch die Länge seiner Adaptionsketten, die in der Moderne zunehmend das Wie der Repräsentation fokussieren. Eben diese Doppeloptik lässt das Orpheus-Motiv bis in die Gegenwart attraktiv erscheinen. Erstveröffentlichung ohne Titel in Stimmen der Gegenwart, Jg. 2, Wien 1952, S. 53.

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Und ich gehör dir nicht zu. Beide klagen wir nun. Aber wie Orpheus weiß ich auf der Seite des Todes das Leben, und mir blaut dein für immer geschlossenes Aug.

In dem oben zitierten Gedicht gelangt ein ambivalentes Verhältnis des lyrischen Ich zum Sänger Orpheus zum Ausdruck. Der einleitende Vergleich »wie Orpheus« gibt sich als ein deutliches, fast aufdringliches rhetorisches Moment zu erkennen, das zwar semantisch gesehen die Vergleichbarkeit zwischen dem dichterischen Ich und der antiken Mythenfigur behauptet, das aber zugleich auch – mit der Nennung der Vergleichspartikel »wie« an exponierter Stelle zu Beginn des Gedichts – die Nicht-Identität der beiden hervorkehrt. Eine unmittelbare Präsenz mythischer Erfahrung wird von der rhetorischen Figuralität durchkreuzt und unterbunden. Das tertium comparationis zwischen der Sprecherin und dem mythologischen Sänger ist also von Anfang an prekär; die Vergleichbarkeit zwischen der mythischen Antike und der Gegenwart des lyrischen Ich wirkt problematisch, auch wenn sie im Folgenden in einer Serie von eindrucksvollen poetischen Bildern und Metaphern evoziert wird (»Saiten des Lebens«, »Schönheit«, »Auge«, »Himmel«, »Saiten des Schweigens«). Die Bilder erinnern zum Teil an vertraute symbolistische Motive; zugleich handelt es sich um Chiffren, die sich nicht restlos auflösen bzw. hermeneutisch erschließen lassen. Der Titel »Dunkles zu sagen« indiziert neben der Referenz auf die geheimnisvolle Orpheus-Gestalt noch einen weiteren poetologischen Sinn. Bachmann greift hier auf die Situation des Orpheus zurück, um sich damit zugleich programmatisch zur hermetischen Lyrik der Moderne zu bekennen, an eine symbolistische Traditionslinie Anschluss zu suchen und Dichter wie Stéphane Mallarmé und Rainer Maria Rilke als Vorbilder zu wählen. Gleichzeitig finden sich versteckte Anklänge an die Lyrik Paul Celans, dem Bachmann sich freundschaftlich verbunden fühlte und in dem sie in der Nachkriegszeit einen wahlverwandten Dichter-Kollegen erkannte. Das Augenmotiv ist neben dem »Schattenhaar« und den »finsteren Flocken« eines derjenigen geheimen Indizien, die auf Celans Gedichte hindeuten und eine verschlüsselte Verbindung von Bachmanns und Celans Werk erahnen lassen. Man vergleiche etwa folgende Gedichte von Paul Celan, die über ein ähnliches Figuren- und Motivrepertoire verfügen:26 26

Auswahl an Gedichten Paul Celans aus dem Zyklus Sprachgitter, Band 1 der Werkausgabe: Paul Celan, Gesammelte Werke in sieben Bänden, Beda Allemann/Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher (Hrsg.), Frankfurt a. M. 2000, S. 157 bzw. S. 178.

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Paul Celan: UNTEN Heimgeführt ins Vergessen das Gast-Gespräch unsrer langsamen Augen. Heimgeführt Silbe um Silbe, verteilt auf die tagblinden Würfel, nach denen die spielende Hand greift, groß, im Erwachen. […] Kristall in der Tracht deines Schweigens. Paul Celan: IN DIE FERNE Stummheit, aufs neue, geräumig, ein Haus –: komm, du sollst wohnen. […] Schärfer als je die verbliebene Luft: du sollst atmen, atmen und du sein.

Denjenigen Rezipienten, die den latenten Zusammenhang und die intime Beziehung zwischen Bachmann und Celan nicht kennen,27 wird die direkte Ansprache an ein nicht näher bestimmtes Du in Bachmanns Gedicht »Dunkles zu sagen« auffallen und sie beschäftigen. Ist damit, so könnte man sich fragen, der Leser bzw. Adressat des Textes gemeint, der hier in die mythologische Situation selbst miteinbezogen wird? In dieser Lektüreoption sind die Rezipienten selbst aufgefordert, mythologische Aspekte in der evozierten, gegenwärtigen Situation im Gedicht wieder zu erkennen und deren Evidenz wahrzunehmen (oder ggf. abzulehnen).28 Dabei wird die Evidenzwahrnehmung nicht allein durch die poetischen Textstrukturen des Gedichts gesteuert, sondern ist zugleich in entscheidender Hinsicht rezeptionsästhetisch bedingt: Erst die jeweilige ästhetische Erfahrung, die individuelle Gedichtlektüre, kann die Aspekte von Evidenz im Kunstwerk realisieren,29 wobei die jeweiligen individuell und kulturell be27

28

29

Über die Liebesbeziehung zwischen Paul Celan und Ingeborg Bachmann hat erst kürzlich die Edition des Briefwechsels der beiden nähere Auskünfte gegeben. Zuvor waren die biografischen Hintergründe jener Liaison selbst im engeren Freundeskreis nicht bekannt gewesen. Vgl. Ingeborg Bachmann/Paul Celan, Herzzeit. Briefwechsel. Bertrand Badiou/Hans Höller/Andrea Stoll/Barbara Wiedemann (Hrsg.), Frankfurt a. M. 2008. Vgl. auch die erhellenden Rezensionen in der Neuen Zürcher Zeitung, 30. 08. 2008, und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 30. 08. 2008. Ingeborg Bachmann schreibt offensichtlich noch für ein bildungsbürgerliches Lesepublikum, dem die antiken Mythen durchaus grundsätzlich vertraut sind. Vgl. dazu ausführlich Judith Siegmund, »Das Kunstwerk zwischen Produktion und Rezeption. Zur Reichweite des Begriffs ästhetische Erfahrung und zu seiner

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dingten Voraussetzungen auf Seiten des Rezipienten (wie z. B. frühere Lektüre-Erfahrungen, vorhandenes oder nicht-vorhandenes mythologisches Vorwissen, Kunsterfahrungen) eine Schlüsselrolle bei der Evidenzerzeugung spielen. Mehr implizit denn explizit verwendet Bachmann den Orpheus-Mythos in einem anderen Text, in ihrem Gedicht »Die gestundete Zeit« (1953). Darin wird der antike Mythos in ein Nachkriegsszenario einbezogen, das mit Momenten des Krisenhaften, mit Metaphern und Figuren der Extremsituation, durchsetzt ist. Der Orpheus-Mythos erscheint nur mehr in fragmentarisierter Form, wird aber durch zwei wesentliche Elemente in seinem Kern sichtbar. Zum einen gleicht die Geliebte, die im Sand versinkt, zweifellos der Eurydike-Gestalt. Überdies ist das Verbot, sich nach ihr umzusehen, integraler Bestandteil des Gedichts. Der Appell »Sieh dich nicht um« dient als eine Art Angelpunkt, er strukturiert zusammen mit anderen emphatischen Aufforderungen an den (fiktiven) Adressaten die poetische Textur. Ingeborg Bachmann: Die gestundete Zeit30 Es kommen härtere Tage. Die auf Widerruf gestundete Zeit wird sichtbar am Horizont. Bald musst du den Schuh schnüren und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe. […] Ärmlich brennt das Licht der Lupinen. Dein Blick spurt im Nebel: die auf Widerruf gestundete Zeit wird sichtbar am Horizont. Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand, er steigt um ihr wehendes Haar, er fällt ihr ins Wort, er befiehlt ihr zu schweigen, er findet sie sterblich und willig dem Abschied nach jeder Umarmung.

30

reduktionistischen Fassung in rezeptionsästhetischen Theorien«, in: Sonderforschungsbereich 626 (Hrsg.), Ästhetische Erfahrung. Gegenstände, Konzepte, Geschichtlichkeit, Berlin 2006. Ingeborg Bachmann, Die gestundete Zeit, Frankfurt a. M. 1953, S. 1 (Erstveröffentlichung in: Die Neue Zeitung. Die amerikanische Zeitung in Deutschland, Jg. 8, Nr. 191, 15. 08. 1952, S. 4).

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Sieh dich nicht um. Schnür deinen Schuh. Jag die Hunde zurück. Wirf die Fische ins Meer. Lösch die Lupinen! Es kommen härtere Tage.

Bemerkenswert ist hier ferner, dass der Sand in der zweiten Strophe unauffällig personifiziert wird, wodurch er als eine Art Allegorie des Todes erscheint, der Eurydike in den Hades hinabzieht, ohne dass diese mythologischen Konnotationen eigens erwähnt würden. Die augenscheinliche Alltäglichkeit des Mythos mindert hier allerdings weder die Macht der mythologischen Denkfigur noch das Rätselhafte, das die Textaussage umgibt. »Sieh dich nicht um« avanciert mit Hilfe der mythologischen Konnotationen zu einem emphatischen Appell, der zugleich an die Orpheus-Figur und an den Leser adressiert wird. Wie kein zweiter Autor des 20. Jahrhunderts hat der dem Surrealismus nahe stehende französische Künstler und Regisseur Jean Cocteau den Orpheus-Mythos aufgegriffen und in vielfacher Hinsicht künstlerisch bearbeitet, zunächst als surrealistisches Drama in dem tragischen Einakter Orphée von 1926, in zahlreichen Zeichnungen und Gemälden sowie schließlich als filmisches Gesamtkunstwerk in dem berühmten Orphée von 1949/50, der zwischen surrealem Künstlerfilm und dem frühen Film noir auffallend changiert. Nicht zufällig betonen Biographen und Interpreten immer wieder die außerordentliche künstlerische Begabung und Vielseitigkeit Cocteaus.31 Daher lassen sich im Werk Cocteaus die medialen Transformationen antiker Mythen und intermediale Ausprägungen mythologischer Themen besonders gut beobachten und erfassen. Auch in Cocteaus Filmen vermischen sich die Ebenen der Literatur, Malerei und des kinematographischen Mediums. Deshalb ist Cocteaus Orphée-Film auch in literarischer und kunsttheoretischer Hinsicht hochinteressant. Schon der Vorspann gibt sich als ein subtiles intermediales Arrangement aus Text und Bild zu erkennen, indem 31

Jochen Kürten schreibt darüber zu Recht: »Jean Cocteau verfügte über so viele Talente, dass es immer schwer fiel ihn einzuordnen. War er nun ein Dichter, der auch hinter der Filmkamera stand? Oder ein Maler, der auch Bühnenbilder entwarf und nebenbei Ballettchoreografien schuf ? Oder war er Theaterautor, der seine Phantasiefiguren auch in anderen Medien sehen wollte? Jean Cocteau war all das zusammen, oft gleichzeitig, er jonglierte mit den Künsten, verschränkte sie miteinander, schuf in den verschiedensten Sparten Meisterwerke« (Wachträume von Cocteau, 2009, http://www.dw-world.de/dw/article/0,,4730022,00.html, Stand: 29. 06. 2011).

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Zeichnungen Cocteaus und Handschrift sowie gezeichnete Großbuchstaben einander kunstvoll überlagern. Beide gemeinsam, Schrift und Zeichnungen, erinnern durch die auffallenden Punktierungen zudem an Sternzeichen, die nach den Gestalten aus der antiken Mythologie benannt sind. Die Schrift erscheint hier als ein konstitutiver ästhetisch-materieller Bestandteil des Film-Oeuvre Cocteaus, der in Kombination mit der Zeichnung als Kunstwerk eigener Art anschaulich wird. Zudem enthält der Vorspann bereits auffallende Spiegelmotive, die auch für die mythopoetische Struktur des Films als Ganzes zentral sind.32 Am Ende des Vorspanns wird denn auch die mythologische Geschichte vom thrakischen Sänger Orpheus und Eurydike erzählt. Ein literarisches Zitat und mythologisches Narrativ dient als Initialzündung der sich daraus entfaltenden Filmsequenzen. Darüber hinaus erscheint der Orphée-Film von 1950 insbesondere deshalb höchst aufschlussreich, weil Cocteau in seinem Film unterschiedliche Reflexionsstufen des Mythos kunstvoll überlagert. Die Hauptfigur Orphée, dargestellt durch Jean Marais, wird eingangs als ein zeitgenössischer Pariser Dichter vorgestellt, der das Café des Poètes frequentiert. Er gerät in den sich anschließenden Sequenzen in bedeutungsvolle Spiegelsituationen, als er den gewaltsamen Tod eines Dichterkollegen miterlebt und die Fahrt in einem schwarzen luxuriösen Wagen in Begleitung einer Frau seine erste Unterweltserfahrung einleitet. Der Umstand, dass eine Frau – Maria Casares – den Tod in seiner mythologischen Erscheinungsform verkörpert – ist neu gegenüber den antiken Todesgöttern Hades und Pluto. Er wird durch das grammatische Genus von französisch la mort angeregt. So sieht sich Cocteau dazu inspiriert, den Tod in verführerischer Gestalt als femme fatale auftreten zu lassen, die im Film auch »la princesse« apostrophiert wird. Daran, dass wir es mit Spiegelungen und modernen Reflexionsformen des antiken Mythos zu tun haben, lässt der Film keinen Zweifel, zumal Cocteau das reflexive und selbstreflexive Moment seiner Mythenadaption in einem symbolträchtigen Gebrauch des Spiegelmotivs wirkungsvoll in Szene setzt. So wird in der ersten Filmsequenz das Cafe des Poètes dem Betrachter zunächst in Spiegelschrift auf der Rückseite der Markise gezeigt. 32

Zur Bedeutung und literarischen Vorgeschichte des Spiegelmotivs im Film von Cocteau vgl. den aufschlussreichen Beitrag von Manuel Köppen, »Das Genie im Spiegel. Melancholie und Künstlerträume in Jean Cocteaus »Orphée« (1949)«, in: Zeitschrift für Germanistik 18/2008, S. 119–132. Vgl. auch die interessante DVDKritik von Anke Westphal, »Der Gang durch die Spiegel. Über eine Edition mit drei Filmen des Universalgenies Jean Cocteau«, in: Berliner Zeitung, 22. 10. 2009, http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/ 2009/1022/film/0042/index.html (Stand: 29. 01. 2010).

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Abb. 1 und 2: Vorspann aus Orphée (1949/1950), Regie: Jean Cocteau

Später wird die Musik von Glucks Orpheus-Oper (Orfeo ed Euridice) – der Reigen der seligen Geister auf den elysischen Feldern – aus dem Radio ertönen. Die genannten Spiegelungen werden zunächst vom Zuschauer und Zuhörer nur an der Peripherie wahrgenommen, sie bereiten aber jenen eindrucksvollen Gang durch den Spiegel vor, den Jean Marais als Orpheus an einem der Höhepunkte des Filmgeschehens vollzieht. Unterstützt durch magische Handschuhe vermag Orphée die auf den ersten Blick undurchlässige Oberfläche des Spiegels zu durchdringen und in die zweite Wirklichkeit hinter dem Spiegel einzutreten. Dabei verwandelt sich der Spiegel bei der Berührung mit den Handschuhen in ein fluides Medium, dass an das Element des Wassers erinnert, zugleich Element der Melancholie und Symbol des Unterweltflusses Styx.

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Abb. 3: aus Orphée (1949/1950), Regie: Jean Cocteau

Das ausgewählte Filmbild zeigt eine Nahaufnahme der Handschuhe, während im Hintergrund der Einstellung etwa im Bildmittelpunkt Orpheus selbst als Träger derselben mit erhobenen Händen und nach vorne gerichtetem Blick zu sehen ist. Links am Rande steht als weiterer Beobachter des Geschehens und interessante Nebenfigur noch Orpheus’ Freund und Begleiter, der sich als Mediator zwischen Leben und Tod und als Psychagoge, als mythologischer Seelenbegleiter, erweist. Allein die doppelte Anwesenheit eines Details, der Hände, macht also die Spiegelung bzw. Spiegelsituation erfahrbar. Noch in anderer Hinsicht ist das gewählte Filmbild aufschlussreich und die Bildkomposition sehr subtil. Die Blicke der beiden im Bild bzw. Spiegelbild festgehaltenen Personen sind beide frontal nach vorne gerichtet und führen über die Grenzen des Spiegels und des Film-Bildes hinaus, indem sie in den Zuschauerraum schauen und den Betrachter fixieren. Der Rezipient sieht sich dergestalt in die Spiegelsituation miteinbezogen. Der Blick des gespiegelten Orpheus und seines Betrachters begegnet nicht nur ihrem im Bild abwesenden Pendant in der innerfiktiven Filmrealität, sondern auch einem imaginären Gegenüber, das durch den Filmrezipienten besetzt werden kann. Das mythologische Geschehen in seinen vielfältigen Brechungen ist nichts anderes als die Spiegelung, das Reversbild des Rezipienten. Der Spiegel trägt somit eine mehrfache symbolische Bedeutung – er gibt das ästhetische Bild einer mythologischen Situation wieder und wird somit auch zum Symbol medialer Vermitteltheit – selbstreflexives Zeichen der unhintergehbaren Medialisierung des Mythos, die im neuen Medium des Films besonders eklatant ist. Die Frage, ob die mediale Repräsentation des Orpheus-Mythos in ihrer Mittelbarkeit auch Evidenz zu erzeugen vermag, lässt

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Abb. 4: aus Orphée (1949/1950), Regie: Jean Cocteau sich nur unter Berücksichtigung der besonderen Zuschauersituation beantworten, die dem Film eingeschrieben ist. Insofern sich der Beobachter als potentieller Orpheus im Schnittpunkt der ästhetischen Spiegelungen wieder erkennt, kann er virtuell am mythologischen Filmgeschehen partizipieren. Ungeachtet der subtilen medialen Konstruiertheit entbehrt Cocteaus Film aus der Rezipientenperspektive nicht der mythologischen Erlebnisqualität und Erkenntnisoption.33 Die Vieldeutigkeit des Films und die Fülle seiner Lektüremöglichkeiten werden durch intermediale Referenzen und visuelle Zitate aus dem kulturellen Bildgedächtnis intensiviert. Als sich Orphée nach seiner ersten Unterweltfahrt im schwarzen Wagen der Princesse unvermutet in der innerfiktiv realen Wirklichkeit wiederfindet, liegt er am Rande einer Pfütze, in der sich sein Gesicht spiegelt. Einmal mehr haben wir es mit einer der vielen rätselhaften Verdopplungen und Spiegelungen der Orpheus-Gestalt zu tun, aber auch mit einem mythologischen Bildzitat, das auf den Tod des Orpheus vorausweist. In der griechischen Sage wird Orpheus von Mänaden im Gefolge des Dionysos zerrissen und sein Kopf in einen Fluss geworfen. Besonders die Maler des 19. Jahrhunderts und Fin de Siècle wie John William Waterhouse, Gustave Moreau, Jean Delville und Odilon Redon haben das Haupt 33

In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass die zeitgenössischen Zuschauer der Cocteau’schen Filme noch über ein anderes bildungsbürgerliches und mythologisches Wissen verfügten als der heutige Kinobesucher und dass auch die filmtechnischen Effekte eine intensivere Wirkung entfalten konnten als im Kontext der gegenwärtigen Filmindustrie, die eine Hochkonjunktur von special effects verzeichnet.

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Abb. 5: aus Orphée (1949/1950), Regie: Jean Cocteau

des Orpheus als Bildsujet gewählt, das in den Gemälden häufig eins wird mit dem Instrument des Musiker-Poeten Orpheus, mit der Leier, die seit der frühen Neuzeit mit der Laute austauschbar wurde. Die Rückkehr des Orpheus aus dem Totenreich ist eine notwendig temporäre, denn als Sterblicher wird er, darauf deuten die Spiegelung seines Gesichts auf der Wasseroberfläche und das Eintauchen des Kopfes hin, entsprechend der mythologischen Lektüre unweigerlich dorthin zurückkehren. Während die Oberflächenspiegelung das von den Mänaden abgeschlagene Haupt im Wasser antizipiert, sind beide Bilder wiederum metonymisch verbunden mit der mythologischen Vorstellung der schattenhaften Körperexistenz im Hades. Spiegelungen haben Cocteaus Orphée derart nachhaltig geprägt, dass sie sich bei ihm auch auf der medientechnischen und medienästhetischen Ebene deutlich manifestieren. Wenn die Prinzessin, Maria Casares, und mit ihr Orphée in die Gegenwelt des Todes hinein fährt, dann wird diese Grenzüberschreitung nicht allein dadurch indiziert, dass ein Bahnübergang, eine Schwelle, überquert wird, sondern unter anderem auch in der Verkehrung des durch die Scheibe des Autofensters wahrnehmbaren Hintergrunds angedeutet. Hier ist die Landschaft plötzlich als negativ sichtbar, die Bäume und Pflanzen als weiße Schatten vor schwarz-grauer Folie. In surrealistischen Inversionen präsentiert sich das Totenreich. Ein solches Inversions- und Reflexionsspiel findet eine subtile Fortsetzung in Le Testament d’Orphée von 1960, in dem der Autor und Regisseur Jean Cocteau selbst eine Hauptrolle spielt. Am Strand begegnet Cocteau einem pferdeähnlichen Wesen, das aufrecht auf zwei Beinen geht. Bei genauerer

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Abb. 6: Odilon Redon: Orphée (1905)34

Abb. 7: Jean Delville: Mort d’Orphée (1893)35

3435

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http://www.artcyclopedia.com/artists/detail/Detail_redon_odilon.html?noframe (Stand: 29. 06. 2011). http://www.jeandelville.org/Paintings/images/Khnopff0105.jpg (Stand: 29. 06. 2011).

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Abb. 8: aus Orphée (1949/1950), Regie: Jean Cocteau

Betrachtung handelt es sich um einen umgekehrten Zentauren, ein Wesen mit Menschenbeinen und Füßen und dem Oberkörper eines Pferdes. In der antiken Mythologie war ein Zentaur bekanntlich ein Wesen mit menschlichem Oberkörper und Pferdebeinen und Pferdeschwanz. Eine ähnliche Umdeutung findet sich in Magrittes Bildern im Blick auf die Nixe bzw. Wassernymphe: Auch Magritte stellt ein mythologisches Zwischenwesen – halb Frau halb Fisch – dar, aber in einer interessanten Umkehrung. Eine besondere Pointe im Umgang mit mythologischen Vorbildern tut sich bei Magritte auf, wenn man seine Titelwahl L’Invention collective bedenkt. Das dargestellte Zwitterwesen mit Fischkopf bzw. -oberkörper und menschlichem Unterkörper wird als eine Kollektivvorstellung ausgegeben, obschon die Darstellung zunächst eher als ein eigenwilliges und hochgradig individuelles Vorstellungsbild des Malers erscheint. Von der ikonographischen Tradition der Sirenen und Seejungfrauen, die im 19. Jahrhundert meist als schöne Frauen mit Fischschwänzen dargestellt wurden (man vgl. etwa die bekannten Bilder von Herbert James Draper und John William Waterhouse), weicht das Gemälde jedenfalls markant ab und durchkreuzt das vertraute ästhetische Bild erotischer, verführerischer Weiblichkeit. Mythologische bzw. kollektive Erinnerung und ästhetische Evidenz treten hier in ein vom Künstler offenbar intendiertes, konfliktreiches Spannungsverhältnis. Auch der Zuschauer von Le Testament d’Orphée muss auf weitere surreale Umkehrungen ähnlich denen in den Gemälden Magrittes vorbereitet sein; entsprechend finden sich auch solche temporaler und dynamischer Natur,

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Abb. 9 und 10: aus Le Testament d’Orphée (1960), Regie: Jean Cocteau

die filmtechnisch durch Zeitraffung und das Hineinkopieren von Filmsequenzen im Rückwärtslauf erstellt werden. So wird beispielsweise ein Foto durch die Flammen nicht zerstört, sondern wiederhergestellt. Es zeigt den Poeten Jacques Cégeste aus dem früheren Orphée-Film von Cocteau. Ein Sprung oder Sturz ins Meer wird filmisch geschickt im Rückwärtslauf und rekursiven Zeitraffer gezeigt, so dass er das Auftauchen aus den Wellen wirkungsvoll in Szene setzt: Der Dichter Cégeste, der im früheren OrpheusFilm bereits zu Beginn ums Leben kam, steigt durch den genannten filmischen Effekt plötzlich und überraschend aus der Brandung auf. Im mythologisch-phantastischen Film Cocteaus sind die empirischen Gesetzmäßigkei-

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Abb. 11: René Magritte: L’Invention collective (1935)36

ten der realen Welt außer Kraft gesetzt zugunsten einer magischen und mythischen Dimension. 36 Während in der empirischen Wirklichkeit die Vernichtung eines Blatts Papier im Feuer nach den thermodynamischen Grundgesetzen irreversibel ist, lässt die Filmnarration die Fotografie im Rückwärtslauf vollständig wieder entstehen. So bewirkt das filmische Medium eine zauberhafte Verwandlung der Wirklichkeit, ein Prozess, der in Le Testament d’Orphée zudem immer wieder selbstreflexiv offen gelegt und in zahlreichen ästhetischen Variationen durchgespielt wird. »Der Kinematograph ist eine mächtige Waffe, um die Menschen zu veranlassen, in wachem Zustand zu träumen«, schrieb Cocteau im Jahre 1948, und notierte weiter: »Die Nacht der Säle und das Mondlicht der Leinwand sind eigenartig genug, um jene kollektive Hypnose hervorzurufen, durch die auch die indischen Fakire wirken.«37 Mythen können dem surrealistischen und post-surrealistischen Verständnis zufolge offenbar nicht zuletzt deshalb als Triebfedern und Kristallisationspunkte kollektiver Traumvisionen fungieren, weil die individuelle Imagination aus ihnen einen transsubjektiven Bezugspunkt gewinnen kann, ein Substrat mythischer Überlieferung. Letzteres umfasst zugleich eine kulturelle Bedeutsamkeit, die noch vor der individuellen Aneignung des Künstlers liegt und durch sie prägnant zu Tage gefördert und ausgestaltet wird. Interessanterweise begegnen wir solchen Anleihen beim mythologischen Diskurs selbst dort noch, wo bereits der unwiederbringliche Verlust mythologischer Repräsentationen in der aktuellen Gegenwartskultur beklagt wird. 36 37

http://www.abcgallery.com/M/magritte/magritte57.html (Stand: 29. 06. 2011). Zitiert nach Wachträume von Cocteau.

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In seinem Essay Der zertrümmerte Orpheus geht der Literaturkritiker Michael Braun der Frage nach, ob der Dichter der Gegenwart noch über jene mythische und charismatische Ausstrahlung verfüge, wie sie ihm in vormodernen Zeiten zuerkannt wurde.38 Erstaunlicherweise manifestieren sich die Spuren des Orpheus-Mythos noch in der Negativbilanz von Brauns zeitkritischer Diagnose, denn in die Schilderung der Gegenwart als Verfallsgeschichte der Poesie und Entzauberung mythologischer Räume haben sich unwillkürlich die vertrauten Bilder und Metaphern der antiken Unterweltdarstellung eingeschlichen und auch das Motiv der Zerstückelung der Glieder des getöteten Orpheus wird in der Logik des Mythos emphatisch überhöht: Schauen wir uns den Dichterkönig unserer Tage einmal in Großaufnahme an. Es ist ein trostloses Bild, eine Figur am Ende einer Verfallsgeschichte. Als Lichtgestalt und charismatisches Genie hat dieser Dichterkönig abgedankt, er hat sein altes Terrain, die Natur, verlassen und ist abgetaucht in eine rätselhafte Schattenwelt. Sein Lebenselixier ist die Nacht, seine bevorzugten Aufenthaltsorte sind die Dunkelzonen der Metropole. Man findet ihn an der Peripherie der Städte, in heruntergekommenen Vergnügungsvierteln, in Diskotheken und Techno-Clubs, in denen ein ungezügelter Hedonismus seine letzten Ekstasen sucht. Dort wird das Bild des Dichterkönigs auf Leinwände geworfen, dort wird seine auratische Gestalt in ihre Einzelteile zerlegt.39

So gleicht ausgerechnet der moderne Dichter der Gegenwart, dessen mangelnde Anschlussfähigkeit an bewährte poetische Traditionen in Brauns Schilderung wortreich beklagt wird, jener berühmten antiken Sagengestalt, dem »zertrümmerten Orpheus«,40 dessen Kopf zusammen mit der Lyra im Fluss Hebros dahin trieb, ehe er in Lesbos (oder, nach einer anderen Variante des Mythos, in Smyrna) geborgen und in einem Heiligtum verehrt wurde. Noch die Abkehr von Aspekten mythischer Präsenz in der Dichtung der Gegenwart vollzieht sich mitunter im Zeichen eines ästhetischen Sprachgebrauchs, der mit Mythen-Zitaten und mythologischen Metaphern angereichert ist. Auch intermediale Referenzen intensivieren dabei die wirkungsmächtige mythologische Suggestivität. Als eindrucksvolles Bildzitat erinnert die Anspielung auf den Tod des Orpheus und die Zerstückelung seines Körpers nicht zuletzt an das oben erwähnte Gemälde Odilon Redons mit dem Titel Haupt des Orpheus, an ein beliebtes und vertrautes Bildsujet im 19. und 38

39 40

Michael Braun, Der zertrümmerte Orpheus. Über Dichtung, Heidelberg 2002, S. 15–27, hier S. 15 (lesenswerte Besprechungen des Essaybands finden sich in der Neuen Zürcher Zeitung vom 14. 09. 2002 und der Süddeutschen Zeitung vom 20. 05. 2003). Ebd. Ebd.

Repräsentation als literarische und ästhetische Reflexionsform

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20. Jahrhundert, das einen festen Ort im kollektiven Bildgedächtnis gefunden hat. Vielleicht artikuliert sich auf diese Weise am deutlichsten ein paradoxes Verhältnis zwischen der Gegenwartskultur und den Repräsentationen des Mythos, das zugleich den Verlust mythischer Aura und die bleibende Bedeutung mythologischer Repräsentationen indiziert.

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Uwe Mayer

Uwe Mayer (Gießen)

Jenseits des Wiedererzählens: Literatur als Herausforderung präsenzorientierter Mythoskonzeptionen am Beispiel der Canongate-Reihe The Myths (2005–2007)

I.

Retelling universal and timeless stories? – Ein Verlagsprojekt im Zeichen der mythologischen Differenz von Präsenz und Repräsentation

Fragen nach der Funktion oder nach der Aktualität des Mythos lassen sich offenbar besonders trefflich unter Rückgriff auf die mythologische Differenz von Präsenz und Repräsentation beantworten: Mythen – so eine populäre und im Folgenden näher zu beleuchtende Konzeption – können einerseits als Repräsentationen verstanden werden, in denen überwältigende Präsenzerfahrungen und menschliche Grundbefindlichkeiten zum Ausdruck kommen. Andererseits produzieren Mythen als Repräsentationen selbst Präsenzeffekte, da sie ihre Rezipienten mit einer spezifischen Unmittelbarkeit oder Evidenz ansprechen. Ganz im Sinne dieser präsenzorientierten Mythoskonzeption verortet auch der britische Canongate-Verlag sein 2005 gestartetes Projekt The Myths, das auf einer denkbar einfachen Grundidee basiert: Namhafte Autoren bebzw. verarbeiten mythologische Stoffe in kurzen Romanen. Allen Texten, die in der Reihe The Myths erscheinen, ist dabei die folgende Auskunft vorangestellt, die zum einen ein präsenzorientiertes Mythosverständnis anspricht und zum anderen die Minimalprogrammatik des Verlagsprojektes umreißt: Myths are universal and timeless stories that reflect and shape our lives – they explore our desires, our fears, our longings and provide narratives that remind us what it means to be human. The Myths series brings together some of the world’s finest writers, each of whom has retold a myth in a contemporary and memorable way.1

Auch wenn die Begriffe der Präsenz und der Repräsentation in dieser Ankündigung keine Verwendung finden, lässt sich die entsprechende mytholo1

Vgl. die im Folgenden vorgestellten Texte der Reihe, z. B. Margaret Atwood, The Penelopiad. The Myth of Penelope and Odysseus, Edinburgh 2005.

Jenseits des Wiedererzählens

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gische Differenz doch identifizieren. Sie kondensiert in der scheinbar unverfänglichen Formulierung to retell a myth (im Zitat: »each of whom has retold a myth«). Einerseits ist der Rückgriff auf diese Formulierung – einen Mythos wieder- oder neuerzählen – eine naheliegende, weil scheinbar unprätentiöse Wahl, zumal sich so verschiedene Modi des Umgangs mit mythologischem Material zusammenfassen lassen. Andererseits weist der Ausdruck retelling – gerade im Vergleich mit denkbaren Alternativen wie rewriting, revising oder reinterpreting – bemerkenswerte Konnotationen auf, die gerade vor dem Hintergrund der mythologischen Differenz von Präsenz und Repräsentation aktiviert werden. So bezeichnet retelling bzw. Wiedererzählen nicht nur einen beliebigen Repräsentationsakt, sondern erinnert zugleich an die präsentische Dimension bzw. performative Kraft der (erneuernden) Wiederholung, wie man sie der mündlichen Tradierung des Mythos an prähistorischen Feuerstellen, in antiken Hochkulturen und bei Naturvölkern zuschreibt.2 Insofern fungiert die Formulierung »each of whom has retold a myth« – trotz ihrer vordergründigen Schlichtheit – als sprachliche Verknüpfung von Mythos und Literatur, die eine funktionale Nähe dieser Felder und zugleich ein spezifisches Schema von Präsenz und Repräsentation suggeriert.3 2

3

Vgl. hierzu z. B. den folgenden Lexikoneintrag: »unter [Mythos] versteht man meist mündlich tradierte Erzählungen […]. Mythentraditionen finden sich v. a. bei den antiken Hochkulturen und den sogenannten Naturvölkern« (Annette Simonis, »Mythos«, in: Ansgar Nünning (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, 4., aktualisierte und erweiterte Aufl., Stuttgart 2008, S. 525). Dabei wird der mündlichen Tradierung des Mythos (im Rahmen eines Rituals bzw. als Ritualhandlung) nicht selten eine präsentisch-performative Qualität zugesprochen. Vgl. hierzu z. B. Christoph Jammes Antwort auf die Frage nach einer Minimaldefinition des Mythos: »Schon der Versuch einer Einigung auf eine Minimaldefinition ist mit Risiken behaftet. Versucht man es trotzdem, wäre der Mythos als mündlicher Kommentar einer Kulthandlung zu bestimmen. […] Als eine – mit magischer Kraft ausgestattete – rituelle (Ersatz-)Handlung ist der Mythos Teil des Kultus« (Christoph Jamme, »Gott an hat ein Gewand«. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien, Frankfurt a. M. 1999, S. 21f.). Auch wenn er den Begriff in einer anderen Bedeutung verwendet, sei an dieser Stelle auf Franz Josef Worstbrock hingewiesen, der »Wiederzählen« als einen mediävistischen Fachterminus geprägt hat. Nach Worstbrock ist literarisches Erzählen im Mittelalter vor allem ein Wiedererzählen, bei dem sich der Erzähler um die kunstfertige Aufbereitung eines bereits vorliegenden Stoffes bemüht (vgl. Franz Josef Worstbrock, »Wiedererzählen und Übersetzen«, in: Walter Haug (Hrsg.), Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, Tübingen 1999, S. 128–142). Während sich das mediävistische Interesse damit vorrangig auf rhetorische Bearbeitungs- und Abweichungsverfahren richtet, akzentuieren Mythosdiskurse mit dem Konzept des Wiedererzählens dagegen primär Aspekte der Kontinuität oder Wiederkehr.

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Im Fall der zitierten Verlagsankündigung wird die Suggestion einer präsentischen Qualität des Wiedererzählens dadurch forciert, dass Mythen dort zuvor schon als »universal and timeless stories that reflect and shape our lives« definiert wurden. Der Mythos transzendiert nach dieser Definition in seiner Universalität und Zeitlosigkeit die kontextuelle und historische Bedingtheit, die andere Geschichten bzw. Repräsentationsformen maßgeblich prägt. Darüber hinaus wird ihm sogar eine performative Wirkung bei der Formung »unseres Lebens« zugesprochen (»shape our lives«). Die Funktion des Mythos und seiner literarischen Repräsentation wäre demnach zu jeder Zeit und an jedem Ort identisch: »to help us to cope with the problematic human predicament«.4 So formuliert es zumindest Karen Armstrong in ihrer populärwissenschaftlichen Short History of Myth, die den ersten und einzigen nicht-fiktionalen Band der Reihe The Myths darstellt. Nun ließe sich freilich einwenden, dass Verlagstexte (oder populärwissenschaftliche Einführungen) nicht in erster Linie wissenschaftlichen Ansprüchen, sondern kommerziellen Erwägungen genügen müssen – und man sie daher argumentativ nicht zu stark belasten sollte. Allerdings greift die (sicherlich auch kommerziell motivierte) Emphase der Verlagsankündigung in diesem konkreten Fall lediglich weitverbreitete Vorstellungen zum Verhältnis von Mythos und Literatur auf. Die Konstellation von Präsenz und Repräsentation, die sich in der Formel retelling universal and timeless stories verdichtet, bestimmt auch literatur- und kulturwissenschaftliche Debatten zum Mythos, wie an zwei Beispielen zu zeigen sein wird. Darüber hinaus ist es sogar möglich, ein entsprechendes mythostheoretisches Muster zu rekonstruieren, das die »Denkgewohnheit« Mythos spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts nachhaltig geprägt hat.5 Bemerkenswert erscheint der hier skizzierte Zusammenhang nun freilich erst, wenn man die literarischen Texte der Reihe The Myths genauer in den Blick nimmt. Denn in diesen Texten begegnet man einer literarischen Form der Mythosrezeption, die nur bedingt die in der Verlagsankündigung geweckten Erwartungen einlöst. Mit der Formel retelling universal and timeless stories lassen sich die Besonderheiten der Texte nämlich kaum erfassen. Dies gilt sowohl für Margaret Atwoods The Penelopiad. The Myth of Penelope and Odysseus (2005) als auch für Alexander McCall Smiths Dream Angus. The Celtic God of Dreams (2006) und Salley Vickers Where Three Roads Meet. The Myth of Oedipus 4 5

Karen Armstrong, A Short History of Myth, Edinburgh 2005, S. 6. Der Begriff der Denkgewohnheit bezeichnet hier Mythosauffassungen bzw. Mythoskonzepte, deren Geschichte und Muster. Vgl. dazu Gerhart von Graevenitz, Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit, Stuttgart 1987, insbes. S. VII–XXVI.

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(2007). Diese Texte bestechen nicht primär durch die Unmittelbarkeit eines auf Präsenzeffekte zielenden Wiedererzählens universeller und zeitloser Geschichten. Vielmehr scheinen sie nachdrücklich auf ihrer Literarizität zu insistieren und bezeugen so eine distanziert beobachtende Reflexivität der literarischen Mythosrezeption, die eine Herausforderung für populäre präsenzorientierte Mythoskonzeptionen darstellt.

II. Repräsentationen als/mit Präsenzeffekt: Umrisse eines mythostheoretischen Musters Die präsenzorientierte Mythoskonzeption, die in der Formel vom Wiedererzählen universeller und zeitloser Geschichten ihren pointierten Ausdruck findet, ist nicht nur ein Produkt der populären Imagination oder – im Fall der eingangs zitierten Verlagsankündigung – das Resultat kommerzieller Kalkulation. Auch in der wissenschaftlichen Reflexion des Mythos finden sich solche Konzeptionen (oder zumindest wesentliche Aspekte solcher Konzeptionen), wie zwei jüngere Publikationen aus dem Bereich der Literatur- und Kulturwissenschaft illustrieren. Die hier ausgewählten Publikationen zeichnen sich durch die Prägung intuitiv ansprechender Begriffe (Mythenkorrektur bzw. Mythosaktualisierung) aus, die auf spezifische Formen des (literarischen) Umgangs mit dem Mythos verweisen. Im Zusammenhang mit der Reihe The Myths erscheinen sie außerdem erwähnenswert, da beide ungefähr zeitgleich mit den ersten Texten der Reihe entstanden sind. 2005 erschien der Band Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption. Den Herausgebern zufolge zeichnet sich die Mythenkorrektur als spezieller Fall der Mythenrezeption dadurch aus, dass der narrative Kern eines Mythos in der Bearbeitung berührt oder »die traditionelle Bedeutung eines Mythos ins Gegenteil verkehrt« wird.6 Die Einleitung des Bandes beschränkt sich aber nicht auf diese definitorische Festlegung, sondern formuliert auch eine These, die direkt auf die mythologische Differenz von Präsenz und Repräsentation zurückgreift: »Das Bedürfnis, Mythen zu 6

Martin Vöhler/Bernd Seidensticker/Wolfgang Emmerich, »Zum Begriff der Mythenkorrektur (Einleitung)«, in: Martin Vöhler/Bernd Seidensticker (Hrsg.), Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption, Berlin, New York 2005, S. 1–18, hier S. 6. Das Konzept der Mythenkorrektur basiert auf einer einschlägigen Definition Hans Blumenbergs, die eine diskussionswürdige mythologische Differenz entfaltet: »Mythen sind Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit« (Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 1979, S. 40).

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tradieren, ist ein Indiz dafür, dass in ihnen wichtige traumatische Konflikte aus der gewaltreichen Geschichte der menschlichen Gattung zur Sprache kommen.«7 Mythos bezeichnet demnach eine verbale Repräsentation, die auf eine verstörende vorsprachliche Präsenzerfahrung – die Stichworte sind Trauma und Gewalt – zurückzuführen ist. Das Interesse am Mythos entspringe zwar einerseits einer Repräsentationslust, sei anderseits aber auch mit »dem Interesse am Schrecklichen und Unerklärlichen«8 verbunden. Insofern wäre die Mythosrezeption das Medium einer latenten Präsenz: Sie [d. h. die Präsenz] ist »vorhanden, aber (noch) nicht [oder nicht mehr] in Erscheinung tretend; nicht unmittelbar sichtbar od. zu erfassen«.9 Diese Annahme bedeutet zugleich eine Aufwertung der Mythenrezeption (und damit auch des Spezialfalls der Mythenkorrektur). Schließlich verleiht es der Beschäftigung mit dem Mythos eine besondere anthropologische Tiefe, wenn man die mythologische Repräsentation emphatisch als Präsenzeffekt, d. h. als Effekt einer vorgängigen Präsenzerfahrung, versteht.10 Neben der Beschreibung mythologischer Repräsentationen als Präsenzeffekt finden sich in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung auch Beschreibungen des Mythos bzw. des Mythischen als Repräsentation mit Präsenzeffekt. Als Beispiel bietet sich der 2006 erschienene Band Mythosaktualisierungen. Tradierungs- und Generierungspotentiale einer alten Erinnerungsform an, der mythos- und erinnerungstheoretische Überlegungen verknüpft. In der Einleitung des Bandes wird das Mythische (als eine spezifische Qualität) wie folgt bestimmt: Es tilgt »für den teilhabenden Adressaten unmerklich die zeitlich-historischen Kontexte des Erzählten, wirkt aber als präsentische Evidenzerfahrung merklich auf Gegenwart und Zukunft«.11 Das Mythische stellt sich laut dieser begrifflichen Festlegung als ein Erinnerungsmodus dar, 7

8 9

10

11

Vöhler/Seidensticker/Emmerich, »Zum Begriff der Mythenkorrektur (Einleitung)«, S. 12. Ebd. Dudenredaktion (Hrsg.), Duden. Deutsches Universalwörterbuch, 5., überarbeitete Auflage, Mannheim u. a. 2003, S. 994. In diesem Zusammenhang spielt der Rückgriff der Autoren auf Hans Blumenbergs Arbeit am Mythos eine wichtige Rolle. Denn obwohl Blumenberg insgesamt ein repräsentationsorientiertes Mythoskonzept vorstellt, bindet er doch den Repräsentationscharakter des Mythos an eine vorgängige Präsenzerfahrung, nämlich an den Absolutismus der Wirklichkeit, und an deren Erträglichmachung oder Bannung im Akt des benennenden und erzählenden Repräsentierens. Stephanie Wodianka, »Zur Einleitung: ›Was ist ein Mythos?‹ – Mögliche Antworten auf eine vielleicht falsch gestellte Frage«, in: Dies./Dietmar Rieger (Hrsg.), Mythosaktualisierungen. Tradierungs- und Generierungspotentiale einer alten Erinnerungsform, Berlin, New York 2006, S. 1–13, hier S. 4.

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der seinen Repräsentationscharakter unterschlägt und dadurch eine latente Präsenz beschwört bzw. Evidenzerfahrungen induziert. Die mythologische Konstellation von Präsenz und Repräsentation, die in der Verlagsankündigung zur Reihe The Myths evoziert wird, findet offenkundig auch in zeitgenössischen Ansätzen der Literatur- und Kulturwissenschaft eine Bestätigung. Diese Ansätze folgen wiederum einem Muster, das bereits in älteren, mittlerweile klassisch zu nennenden Mythostheorien entwickelt wurde. Eine ausgesprochen prominente Realisierung dieses Musters stellt Sigmund Freuds Deutung des Ödipus-Stoffes dar.12 Freud geht davon aus, dass »der König Ödipus [des Sophokles] den modernen Menschen nicht minder zu erschüttern weiß als den zeitgenössischen Griechen«.13 Er bescheinigt der mythologischen Repräsentation damit eine besondere Evidenz und liefert die folgende Begründung: »Es muß eine Stimme in unserem Innern geben, welche die zwingende Gewalt des Schicksals im Ödipus anzuerkennen bereit ist […].«14 Und weiter heißt es: »Sein Schicksal ergreift uns nur darum, weil es auch das unsrige hätte werden können, weil das Orakel vor unserer Geburt denselben Fluch über uns verhängt hat wie über ihn.«15 Die Rede ist hier vom Fluch »der die Moral beleidigenden Wünsche, welche die Natur uns aufgenötigt hat […].«16 Der Begriff des Fluches scheint auf das abzuzielen, was eben als latente Präsenz bezeichnet wurde. In jedem Fall bringt der Mythos laut Freud eine verstörende Präsenzerfahrung (»die zwingende Gewalt des Schicksals« oder – nüchterner – eine latente psychische Disposition) zur Sprache und mutet deshalb so universell und zeitlos an: »Während der Dichter in jener Untersuchung die Schuld des Ödipus ans Licht bringt, nötigt er uns zur Erkenntnis unseres eigenen Inneren, in dem jene Impulse, wenn auch unterdrückt, noch immer vorhanden sind.«17 Auch Carl Gustav Jung versteht Mythen als Repräsentationen, die auf eine latente Präsenz verweisen. So definiert er sie etwa in seinem Essay »Wotan« (1936) als Charakterisierungen von Göttern, in denen wiederum die Gewalten der menschlichen Seele personifiziert seien. Von zentraler Bedeutung sind laut Jung in diesem Zusammenhang die Archetypen, d. h. »feststehende ursprüngliche Typen und Bilder […], welche dem Unbewußten zahlreicher

12

13 14 15 16 17

Vgl. Sigmund Freud, Studienausgabe. Bd. II: Die Traumdeutung, Frankfurt a. M. 2000, S. 265–268. Ebd., S. 266. Ebd., S. 267. Ebd. Ebd. Ebd.

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Völkerstämme eingeboren sind«.18 Diese Archetypen können, wie Jung für das nationalsozialistische Deutschland am Beispiel Wotan zu zeigen versucht, von Zeit zu Zeit reale und gesellschaftlich grundlegende Wirkungen entfalten: »In den Ruhezeiten dagegen ist einem die Existenz des Archetypus Wotan so unbewusst wie eine latente Epilepsie.«19 In dieser Perspektive fungiert der Mythos nicht nur als eine reagierende Repräsentation auf eine vorgängige Präsenz (i.e. die Gewalten der Seele), sondern hält jene Präsenz latent verfügbar. Nun besitzt die Psychologie kein mythostheoretisches Monopol auf ein emphatisches Muster von Präsenz und Repräsentation. Auch der anthropologisch-strukturalistische Ansatz Claude Lévi-Strauss’ scheint auf einem solchen Muster aufzubauen. Lévi-Strauss unterzieht die verschiedenen Fassungen eines mythologischen Stoffes (d. h. verschiedene Repräsentationen) einer strukturalen Analyse und identifiziert so die konstitutiven Einheiten des Mythos. Ziel der Analyse ist die Offenlegung einer präsentischen (d. h. einer produktiven, aber noch nicht selbst vermittelten) und latenten Tiefenstruktur von Mythen, die allerdings nicht als eine Urfassung der mythologischen Geschichte zu verstehen ist: »Es gibt keine ›wahre‹ Fassung, im Verhältnis zu der alle anderen Kopien oder deformierte Echos wären. Alle Fassungen gehören zum Mythos.«20 Nicht eine Urfassung, sondern eine Logik mythischen Denkens gilt es mittels der strukturalen Analyse zu rekonstruieren. Die Mythen bilden in dieser Perspektive lediglich die repräsentationale Oberflächenstruktur, die durch die Präsenz einer tiefenstrukturellen Logik mythischen Denkens generiert wird. Lévi-Strauss betont dabei nachdrücklich, dass dieser Zusammenhang keineswegs nur von ethnologischem oder historischem Interesse sei, sondern eine universelle und zeitlose Bedeutung genieße: Die Logik des mythischen Denkens erschien uns ebenso anspruchsvoll wie die, auf der das positive Denken beruht, und im Grund kaum anders. […] Vielleicht werden wir eines Tages entdecken, dass im wissenschaftlichen Denken dieselbe Logik am Werke ist und dass der Mensch allzeit gleich gut gedacht hat.21

Ebenfalls einen strukturalistischen Ansatz, allerdings mit einer kritischen Prägung des Mythosbegriffs, bietet Roland Barthes, der in seinen Mythen des Alltags Repräsentationssysteme mit starken Präsenz- bzw. Evidenzeffekten 18

19 20 21

Carl G. Jung, »Wotan«, in: Ders., Gesammelte Werke. Bd. 10: Zivilisation im Übergang, Solothurn, Düsseldorf 1995, S. 203–218, hier S. 212. Ebd. Claude Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie I, Frankfurt a. M. 1977, S. 241. Ebd., S. 254.

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in den Blick nimmt. So beschreibt Barthes – etwa am Beispiel der Titelseite einer Illustrierten – den Mythos als ein doppeltes semiologisches System, bei dem es so scheint, »als ob das Bedeutende das Bedeutete stiftete«.22 Die damit angesprochene Funktion des Mythos gilt es laut Barthes freilich kritisch zu hinterfragen, denn der Mythos »verwandelt Geschichte in Natur«.23 Er unterschlägt in diesem Sinne seinen eigenen Repräsentationscharakter und erweckt den Anschein von Unmittelbarkeit und Zeitlosigkeit, was dazu dient, ideologische Botschaften als vermeintlich selbstevidente, überzeitlich gültige Fakten zu verbreiten. Versucht man nun von den genannten mythostheoretischen Ansätzen zu abstrahieren, gibt sich eine spezifische Denkfigur bzw. ein mythologisches Muster zu erkennen.24 So gehen die Ansätze in der Regel von einer präsentischen Tiefenstruktur aus, die als anthropologisch-psychologische Konstante, als universelle Erfahrung oder Logik bestimmt wird. Fassbar erscheint diese Tiefenstruktur in variierenden Oberflächenrepräsentationen (d. h. in Mythen), denen man wiederum selbst ein Präsenzpotential zuschreibt bzw. denen man zutraut, Präsenz etwa in Form von Evidenz produzieren zu können. Ergeben sich nun aus diesem mythologischen Muster – mit seiner Betonung von Präsenzerfahrungen bzw. Präsenzeffekten – auch Implikationen im Hinblick auf die literarische Mythosrezeption? Man kann zumindest annehmen, dass die rekonstruierte Denkfigur auch in dieser Hinsicht Vorstellungen und Erwartungen nachhaltig geprägt hat – resultierend etwa in der Annahme, literarische Mythosrezeption diene der Vergegenwärtigung einer präsentischen Tiefenstruktur und/oder der Erzeugung von Präsenzeffekten. Einen pointierten Ausdruck findet diese Annahme natürlich in der Formel vom Wiedererzählen universeller und zeitloser Geschichten, die unser Leben reflektieren und formen (retelling universal and timeless stories that reflect and shape our lives). Allerdings sollte die Rekonstruktion einer mythostheoretisch fundierten Denkfigur nicht den Blick auf die literarischen Gegenstände diktieren. Denn wie sich in den folgenden Abschnitten zeigen wird, beschränken sich die literarischen Texte der Canongate-Reihe The Myths keineswegs auf ein Wiedererzählen universeller und zeitloser Geschichten. Vielmehr scheinen sie ge22 23 24

Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt a. M. 2003, S. 113. Ebd. Es geht dabei keineswegs darum, die Heterogenität von Mythostheorien einzuebnen. Allerdings vermag eine Abstraktion den Blick auf Regeln oder Muster der »Denkgewohnheit« Mythos zu lenken, die sich gerade in ihren vor- oder nachtheoretischen Manifestationen (z. B. im populären Mythosdiskurs) nicht immer als kohärent oder schlüssig darstellt.

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rade die Universalität und Zeitlosigkeit (und somit auch den Präsenzanspruch) der mythologischen Repräsentation zum Gegenstand literarischer Reflexion zu machen. Die genannten mythostheoretischen Ansätze werden dadurch keineswegs entwertet. Allerdings sollten – gerade angesichts eines umfassenden Angebots an Mythosdefinitionen und -theorien – eben auch jene Eigenheiten des literarischen Mythosdiskurses Aufmerksamkeit finden, die bei einer (zu) engen Rückbindung an den theoretisch-wissenschaftlichen Mythosdiskurs oftmals abgeblendet werden.

III. Stories that don’t hold water: Selbstreflexive Mythenkorrektur und literarische Interdiskursivität in Margaret Atwoods The Penelopiad The Penelopiad. The Myth of Penelope and Odysseus (2005) bildet den literarischen Auftakt zur Reihe The Myths und ist als Wieder- oder Neuerzählung einer universellen und zeitlosen Geschichte nur unzureichend beschrieben. Dabei mutet Margaret Atwoods Text bei oberflächlicher Betrachtung durchaus wie eine plakative Wieder- oder besser noch Gegenerzählung an, zumal schon der Titel eine entsprechende Lesart suggeriert: Mit ihrer Penelopiad, so könnte man erwarten, liefert Atwood einen feministischen Gegenentwurf zu Homers Odyssee, in dem die (weibliche) Perspektive Penelopes zu ihrem Recht kommt. Die Heimkehr des Odysseus wird dann auch tatsächlich neu geschrieben und der listenreiche Held dabei (wie zu erwarten) in ein kritisches Licht gerückt. In Penelopes Erzählung erscheint dabei insbesondere die durch Odysseus veranlasste Erhängung der 12 Mägde, die sich während der Abwesenheit des Hausherrn mit den aufdringlichen Freiern der Penelope eingelassen hatten, als eine grausame Ungerechtigkeit. Da die vertraute mythologische Geschichte somit insgesamt unter umgekehrten Vorzeichen erscheint, mag man durchaus von einem Akt der Mythenkorrektur sprechen.25 Darüber hinaus könnte sich der Eindruck aufdrängen, Atwoods Text setze präsenzorientierte Mythoskonzeptionen literarisch um – etwa wenn man den Erzählgestus zu Beginn des Textes betrachtet, der eine mythische Präsenz zu beschwören scheint. Penelope nimmt als Erzählerin eine vermeintlich überzeitliche Position ein, da sie sich aus dem Reich der Toten zu Wort meldet: »Now that I’m dead I know everything.«26 Dieser Satz – der 25

26

Vgl. Vöhler/Seidensticker/Emmerich, »Zum Begriff der Mythenkorrektur (Einleitung)«, S. 6. Atwood, The Penelopiad, S. 1.

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erste des Textes – behauptet einen zugleich überzeitlichen und autoritativen Wissensanspruch und verspricht dem Leser eine glaubhafte (Wieder-)Erzählung. Penelopes Version der Ereignisse zeichnet sich dann auch dadurch aus, dass sie vorgeblich schon immer in der bekannten Fassung der Geschichte angelegt gewesen sei. Zumindest wird der Leser in der Einführung der Autorin auf diese Fährte gesetzt: »The story as told in The Odyssey doesn’t hold water: there are too many inconsistencies. I’ve always been haunted by the hanged maids […]«.27 Die Unterstellung, dass die Schilderung der Odyssee nicht kohärent und somit nur bedingt glaubwürdig sei, geht mit der Annahme einher, dass in der tradierten Geschichte etwas verborgen bleibe. Das Wort haunted verweist in diesem Sinne auf eine unangenehme Wahrheit, die der Leserin Atwood evident erscheint und die es mittels einer Mythenkorrektur – hier als einer Manifestation des Latenten – erzählerisch freizulegen gilt. Dementsprechend re-präsentiert Atwoods Neuerzählung nicht nur einen prestigeträchtigen Stoff, sondern lenkt das Augenmerk des Lesers auch auf die außerliterarischen Phänomene, die vermeintlich schon in Homers Fassung zur Disposition stehen: Das Geschlechterverhältnis, soziale Unterschiede und schließlich die Gewalttätigkeit des listenreichen Helden, die der patriarchalischen Regulierung sozialer Beziehungen dient (und sich nicht nur gegen äußere Bedrohungen richtet). In dieser Hinsicht erscheint The Penelopiad durchaus als eine mythologische Repräsentation, die einerseits vorgängige Präsenzerfahrungen verarbeitet und andererseits Evidenz stiftet, da Atwoods Korrektur das schon Vorhandende und Bekannte aufgreift und im Bemühen um größere Plausibilität lediglich neu sortiert und interpretiert. Hat man es deshalb nun mit einem Musterbeispiel des feministischen Wiedererzählens universeller und zeitloser Geschichten zu tun? Wird mit The Penelopiad letztendlich ein gängiges mythostheoretisches Muster von Präsenz und Repräsentation literarisch realisiert? Solche Beschreibungen mögen griffig sein, blenden aber gewisse Dimensionen des Textes aus. So erweist sich Penelopes Alternativerzählung bei genauerer Betrachtung keineswegs als vollkommen überzeugende oder durchweg integere Version der Ereignisse. Oft bestimmt der Konjunktiv die Schilderung, was zum einen die Grenzen der vermeintlichen Allwissenheit der Erzählerin aufdeckt und zum anderen die Vorstellung einer universellen und zeitlosen Ernsthaftigkeit des Mythos desavouiert. So ist sich Penelope nicht sicher, ob ihr Gatte Odysseus tatsächlich heroische Abenteuer erlebt oder nur anrüchige Erfahrungen gesammelt hat: 27

Ebd., S. xv.

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He’d made his men put wax in their ears, said one, while sailing past the alluring Sirens – half-bird, half-woman – who enticed men to their island and then ate them, though he’d tied himself to the mast so he could listen to their irresistible singing without jumping overboard. No, said another, it was a high-class Sicilian knocking shop – the courtesans there were known for their musical talents and their fancy feathered outfits.28

Die eingangs geweckte Erwartung, eine der Zeit enthobene Penelope könnte eine überzeugendere, ja objektive Version der Geschichte enthüllen, wird jedoch nicht nur durch diese ironische Unentschiedenheit unterlaufen. Vielmehr entpuppt sich die Erzählerin selbst als eine in das Geschehen verstrickte Figur, die nicht zuletzt um ihren guten Ruf bemüht ist. Wäre die aus dem Reich der Toten berichtende Penelope tatsächlich der Zeit und allzumenschlicher Verstrickungen enthoben, würde sie wohl kaum ein ganzes Kapitel darauf verwenden, »Slanderous Gossip« zurückzuweisen: At this point I feel I must address the various items of slanderous gossip that have been going the rounds for the past two or three thousand years. […] We’ve all heard rumours that later proved to be entirely groundless, and so it is with these rumours about me. The charges concern my sexual conduct.29

Zumindest stellenweise lässt sich somit »eine Diskrepanz zwischen den Intentionen und dem Wertesystem des Erzählers und dem (Vor)Wissen und [den] Normen des Lesers« ausmachen, die Zweifel an der Verlässlichkeit der Erzählerin Penelope nähren.30 Komplementiert wird die Wahl einer unzuverlässigen (oder zumindest nur eingeschränkt zuverlässigen) Erzählerin durch die Multiperspektivität des literarischen Textes, da »mehrere Versionen desselben Geschehens nebeneinander stehen«.31 Atwood fügt in die Erzählung Chorpassagen ein, in denen die Haupthandlung vom Chorus of the Maids spöttisch kommentiert wird. Penelopes Perspektive wird so durch die Perspektive der Dienerinnen, die von Odysseus für ihren vermeintlichen Verrat erhängt wurden, ironisch und manchmal auch zynisch relativiert. In diesem Zusammenhang verweist die 28 29

30

31

Ebd., S. 91. Ebd., S. 143. Penelopes Schilderung kreist außerdem immer wieder um die Rivalität der Odysseus-Gattin mit Helena. Bruno Zerweck, »Unzuverlässigkeit, erzählerische«, in: Ansgar Nünning (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, 4., aktualisierte und erweiterte Aufl., Stuttgart 2008, S. 742. Vera Nünning/Ansgar Nünning, »Von ›der‹ Erzählperspektive zur Perspektivenstruktur narrativer Texte: Überlegungen zur Definition, Konzeptualisierung und Untersuchbarkeit von Multiperspektivität«, in: Dies. (Hrsg.), Multiperspektivisches Erzählen. Zur Theorie und Geschichte der Perspektivenstruktur im englischen Roman des 19. und 20. Jahrhunderts, Trier 2000, S. 3–38, hier S. 3.

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Autorin in ihren abschließenden Anmerkungen auf den Einsatz des Chores als traditionelles Mittel der Brechung: »The Chorus of the Maids is a tribute to the use of such choruses in Greek drama. The Convention of burlesquing the main action was present in the satyr plays performed before serious drama.«32 Freilich könnte man versucht sein, die zum rhythmischen Mitsprechen verleitenden Liedtexte der Chorpassagen als präsenzorientierte Textelemente zu beschreiben. Jedoch unterlaufen schon die einleitenden Regieanweisungen eine solche Rezeption, indem sie den Modus der komischen Brechung unterstreichen. So heißt es z. B.: »As Performed by the Twelve Maids, in Sailor Costumes«.33 Dabei zielen die Chorpassagen nicht nur auf komische Effekte, sondern ermöglichen eine multiperspektivische Auffächerung der Erzählung. Schließlich widmet sich Atwoods Text (neben der vernachlässigten Perspektive Penelopes) auch – dies unterstreicht die Einführung der Autorin – dem Schicksal der Twelve Maids. Ihnen verleiht der Chorus of the Maids eine Stimme, wodurch die vermeintlich binäre Opposition von patriarchalischem Mythos und feministischer Mythenkorrektur aufgebrochen wird. Als komischer Gegen-Gegenentwurf, der den sozialen Unterschied zwischen den weiblichen Betroffenen freilegt, fordern die Chorpassagen die Vorstellung einer geschlossenen weiblichen Gegenerzählung heraus. Sie verdeutlichen, dass auch Penelopes Version der Ereignisse nur eine mögliche, perspektivisch beschränkte Repräsentation darstellt, die man mit weiteren Versionen kontrastieren könnte. Dies gilt umso mehr, als Atwoods Text genau genommen nicht nur die Perspektiven Penelopes und der Dienerinnen nebeneinander stellt, sondern auch die Perspektive der homerischen Odyssee im Hintergrund bzw. im Erwartungshorizont des Lesers mitführt. Der literarische Text geht in dieser Hinsicht über ein Wieder- oder Neuerzählen universeller und zeitloser Geschichten insofern hinaus, als durch die multiperspektivische Auffächerung nicht mehr allein das erzählte Geschehen (d. h. das mythologische Material) im Zentrum der Mythosrezeption steht: Durch die multiperspektivische Auffächerung verlagert sich der Akzent vom erzählten Geschehen auf den Modus der Wirklichkeitserfahrung. Darüber hinaus erfolgt durch die Kontrastierung unterschiedlicher Darstellungen oder Deutungen eine ständige Relativierung der perspektivisch gebundenen und gebrochenen Sichtweisen sowie der von den Perspektiventrägern repräsentierten Werte und Normen.34 32 33 34

Atwood, The Penelopiad, S. 198. Ebd., S. 93. Nünning/Nünning, »Von ›der‹ Erzählperspektive zur Perspektivenstruktur narrativer Texte«, S. 3f.

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The Penelopiad reflektiert somit die Bedingtheit des Erzählens etwa durch perspektivische Beschränkungen – und wirft zugleich die Frage auf, inwiefern eine Erzählung überhaupt universell und zeitlos sein kann. Das Moment der Reflexion beschränkt sich im Hinblick auf die Chorpassagen allerdings nicht auf die Kommentarfunktion oder eine multiperspektivische Auffächerung, sondern kommt auch in einer karikierenden Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Mythosdeutungen zum Tragen. In der Chorpassage mit dem Titel »An Anthropology Lecture« räsonieren die Twelve Maids über die anthropologische Bedeutung der Zahl 12 und bringen dabei sogar archäologische Belege ins Spiel: »Would you like to see some vase paintings, some carved Goddess cult objects? No?«35 Was auf den ersten Blick wie eine postmoderne Spielerei anmutet, hat durchaus kritische Brisanz. Denn die Twelve Maids schließen ihre Anthropologievorlesung mit einer grundsätzlichen Kritik an einem Mythosdiskurs, der menschliche Schicksale bei der Beschäftigung mit Fruchtbarkeitskulten, Ritualen oder Symbolen vollkommen ausblendet: Never mind. Point being that you don’t have to get too worked up about us, dear educated minds. You don’t have to think of us as real girls, real flesh and blood, real pain, real injustice. That might be too upsetting. Just discard the sordid part. Consider us pure symbol.36

Wird in der sarkastischen Anthropologievorlesung ein blinder Fleck des wissenschaftlich-theoretischen Mythosdiskurses angeprangert, so geht es in einer späteren Chorpassage mit dem Titel »The Trial of Odysseus, as Videotaped by the Maids«37 um die moralischen Bewertungen, die den Mythosdiskurs – oft unbewusst – prägen. In der Form eines Mini-Dramas präsentiert die Chorpassage einen im 21. Jahrhundert stattfindenden Gerichtsprozess gegen Odysseus, der wegen der Ermordung der Freier angeklagt ist. Die Twelve Maids fordern in diesem Prozess auch eine Berücksichtigung ihrer Erhängung, was der Richter aber zurückweist: Standards of behaviour were different then. It would be unfortunate if this regrettable but minor incident were allowed to stand as a blot on an otherwise exceedingly distinguished career. Also I do not wish to be guilty of an anachronism. Therefore I must dismiss the case.38

Vor dem Hintergrund der vorgelegten Alternativerzählung zur Odyssee erscheint die aufgeklärte (d. h. in diesem Fall relativistische) Toleranz des Rich35 36 37 38

Atwood, The Penelopiad, S. 167. Ebd., S. 168. Ebd., S. 175–184. Ebd., S. 182.

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ters natürlich fragwürdig. Interessanterweise ist der Richter zwar bereit, die grausamen Verfehlungen des Odysseus zu übersehen, empfindet aber die magisch-übernatürlichen Elemente des Mythos, die in Form schwebender Furien seinen Gerichtssaal durcheinander bringen, als unerträglich: »What’s going on? Order! Order! This is a twenty-first-century court of justice!«39 Man mag darin die Versinnbildlichung einer normativen Schlagseite des modernen Mythosdiskurses erkennen. Im Bild der Furien, die in einem modernen Gerichtssaal schweben, zeigt sich außerdem eine Dimension des Literarischen, die man interdiskursiv nennen kann. Literatur (und das schließt die literarische Mythosrezeption ein) ist nicht nur ein Spezialdiskurs, der z. B. fiktive Geschichten hervorbringt, sondern kann auch als Interdiskurs betrachtet werden, dessen kulturelle Funktion »in der (wenn auch stets partiellen und imaginären) Re-Integration […] des in den Spezialdiskursen sektoriell zerstreuten Wissens« liegt.40 In der angesprochenen Textpassage treffen Figuren aus einem mythologisch-literarischen Diskurs auf die Konventionen moralischer und juristischer Diskurse. Der literarische Text inszeniert damit eine »Interaktion dessen, was durch Konvention und kulturelle Praxis voneinander getrennt ist«.41 Diese Interaktion – man könnte auch von Reintegration sprechen – zielt nicht zwangsläufig »auf eine oberflächliche Harmonisierung, sondern löst vielmehr […] konfliktorische Prozesse und krisenhafte Turbulenzen aus«.42 Die wilden Furien im Gerichtssaal verursachen ohne Frage Turbulenzen – und die Konfrontation von konkreten mythologischen Stoffen, wissenschaftlichem Mythosdiskurs und zeitgenössischen Moralvorstellungen dürfte sich in vielen Fällen als konfliktreich erweisen. Man kann den kritischen Gestus, den die Chorpassagen in diesem Zusammenhang entfalten, 39 40

41

42

Ebd., S. 184. Jürgen Link/Ursula Link-Heer, »Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse«, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 77/1990, S. 88–99, hier S. 93. Hubert Zapf, »Das Funktionsmodell der Literatur als kultureller Ökologie. Imaginative Texte im Spannungsfeld von Dekonstruktion und Regeneration«, in: Marion Gymnich/Ansgar Nünning (Hrsg.), Funktionen von Literatur. Theoretische Grundlagen und Modellinterpretationen, Trier 2005, S. 55–77, hier S. 71. Ebd. Die Annahme, dass Literatur als Interdiskurs fungiert, ist bei Zapf in ein Funktionsmodell der Literatur als kultureller Ökologie eingebettet. Vgl. ausführlicher dazu Hubert Zapf, Literatur als kulturelle Ökologie. Zur kulturellen Funktion imaginativer Texte am Beispiel des amerikanischen Romans, Tübingen 2002. Zapf betrachtet Literatur im Rahmen seines Funktionsmodells weiterhin als kulturkritischen Metadiskurs, was man auch für Atwoods Penelopiad in Anschlag bringen könnte. Vgl. dazu im vorliegenden Beitrag die Ausführungen zu Salley Vickers’ Where Three Roads Meet.

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natürlich als integralen Bestandteil einer Mythenkorrektur betrachten, welche die tradierte Geschichte in einem neuen Licht erscheinen lässt. Aber ebenso wie erzählerische Unzuverlässigkeit und Multiperspektivität lenken auch die interdiskursiven Chorpassagen den Blick über die mythologische Geschichte hinaus auf den Perspektivismus und die Historizität der (literarischen wie theoretischen) Mythosrepräsentation. Diese über die eigentliche Erzählung hinausgehende Themensetzung bringt schließlich die Erzählerin im Kapitel »Home Life in Hades« selbst auf den Punkt, wenn sie eine (historische) Distanz zu ihren Zuhörern konstatiert: »I was looking in on your world the other night […].«43 Offenbar ist die Welt der Penelope nicht die Welt der Leser. Statt durch Universalität und Zeitlosigkeit besticht der mythologische Stoff vielmehr durch seine Bedeutungsflexibilität, was die Gattin des Odysseus dann auch zu einem Seitenhieb auf ihre schöne Rivalin Helena nutzt: »I understand the interpretation of the whole Trojan War episode has changed […]. Now they think you were just a myth. It was all about trade routes. That’s what the scholars are saying.«44 Wenn hier ein Mythosverständnis explizit thematisiert wird, bezeugt dies zum einen den ironischen Grundton der Penelopiad (»just a myth«). Zum anderen ist es ein weiterer Beleg dafür, dass Atwoods Text – über die Wieder- oder Neuerzählung einer universellen und zeitlosen Geschichte hinaus – Mythos als ein Repräsentations- und Interpretationsphänomen inszeniert, das zur ideologischen, wissenschaftlichen und moralischen Aufladung einlädt. Die präsentischen Dimensionen des Mythos, die in verschiedenen mythostheoretischen Ansätzen identifiziert und in der paratextuellen Rahmung der Reihe The Myths aufgerufen werden, treten damit in den Hintergrund. Im interdiskursiven Spiel mit verschiedenen Repräsentationsmöglichkeiten und angesichts der Selbstreflexivität einer Mythenkorrektur, die sich selbst relativiert, werden tendenziell jene Erwartungen enttäuscht, die sich auf die erzählerische Vergegenwärtigung einer universellen und zeitlosen Präsenzerfahrung oder auf ein besonderes Evidenzpotential der mythologischen Repräsentation richten.

43 44

Atwood, The Penelopiad, S. 185. Ebd., S. 187.

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IV. Clouds, shadows and the movement of the breeze: Literarische Kontigenzexposition und die Flüchtigkeit mythologischer Repräsentationen in Alexander McCall Smiths Dream Angus Mit Alexander McCall Smiths Dream Angus. The Celtic God of Dreams (2006) ist in der Reihe The Myths ein weiteres Beispiel für literarische Mythosrezeption erschienen, das sich mit der Formel vom Wiedererzählen universeller und zeitloser Geschichten nur unzureichend beschreiben lässt. Das liegt nicht zuletzt an der Struktur des Textes: In Dream Angus wechseln sich mythologische Episoden aus dem Leben des keltischen Traumgottes Angus (zugleich eine Art keltischer Eros) mit Kurzgeschichten ab, die vorwiegend im Schottland des 20. Jahrhunderts spielen. Auch wenn letztere inhaltlich an die jeweils vorangehenden mythologischen Episoden anknüpfen, muss man das Verhältnis der beiden alternierenden Textebenen – d. h. der mythischen Welt der Angus-Episoden und der zeitgenössischen Welt der Kurzgeschichten – insgesamt als unbestimmt bezeichnen. Zudem bleiben die jeweils abgeschlossenen Kurzgeschichten untereinander weitgehend unverbunden. Man mag dementsprechend allenfalls die mythologischen Episoden als Wiedererzählung bezeichnen – im Fall der Kurzgeschichten (also der eigentlichen Aktualisierung des mythologischen Stoffes) hat man es wohl eher mit einem assoziativen und diffundierenden Erzählen zu tun. Dabei gibt es durchaus eine unübersehbare Konstante, denn in allen Kurzgeschichten stellen Träume das zentrale Ereignis dar, die als überwältigende Präsenz in das Leben der jeweiligen Hauptfiguren einbrechen und nicht ohne Folgen bleiben. Der Präsenzcharakter der Träume kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass sie jeweils in konkreten Figuren eine Gestalt gewinnen. Jene Figuren initiieren oder dominieren die jeweiligen Träume und können als moderne Wiedergänger des keltischen Traumgottes gedeutet werden. Darauf weist auch der Autor selbst in seiner Einführung hin: »The part played by Angus, or the Angus figure, in each of these [stories], may be elusive, but such a figure is present in each of them.«45

45

Alexander McCall Smith, Dream Angus. The Celtic God of Dreams, Edinburgh 2006, S. xv. Wenn hier von einer Präsenz der mythologischen Figur in den verschiedenen Geschichten die Rede ist, dann muss man dies nicht im emphatischen Sinne als Präsenzbeschwörung verstehen. Allerdings könnte man einwenden, dass es in Dream Angus um die universelle und zeitenthobene Bedeutung von Träumen geht, die nicht nur vorgängige Präsenzerfahrungen verarbeiten, sondern auch handfeste Folgen haben können. Demnach würde der Text ein Latenzmodell des Traumes (nicht des Mythos) aufrufen, das sich über die Differenz von Präsenz und Repräsentation entfaltet.

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Dass die Wiederkehr des Traumgottes einem Einbruch oder einer Heimsuchung gleichkommt, illustriert besonders anschaulich die erste Kurzgeschichte, die von einem frisch verheirateten Ehepaar auf Hochzeitsreise (»on the very edge of Scotland«46) handelt. Müde begibt sich die junge Ehefrau zu Bett, während ihr Gatte noch einen abendlichen Spaziergang unternimmt: »She drifted off to sleep and then back, half awake, half asleep, into drowsy consciousness. He had come back into the room. […] He whispered something into her ear, something she did not hear properly, but which she felt she understood, had taken in.«47 Doch schon kurz darauf stellt sich mit der tatsächlichen Rückkehr des Ehemanns heraus, dass es ein Fremder gewesen sein muss, den die junge Frau im Zimmer gespürt hatte. Verunsichert wenden sich die Eheleute an die Hotelbesitzer, die zu beruhigen versuchen und deshalb ihre eigene Vermutung lieber für sich behalten: »She saw Angus.«48 Einigermaßen beruhigt, begibt sich das Ehepaar schließlich zu Bett: »She lay awake for some time. He dropped off to sleep, but she lay there, aware of the attenuated light outside, the faint glow that seemed to come from the hills. Then drowsiness overcame her and she drifted off to sleep. To dreams. She dreamed of his secrets.«49 Wie in diesem Fall brechen auch in den anderen Kurzgeschichten Träume mit einer unerklärlichen und wundersamen Kraft in das Leben der Protagonisten ein und geben diesem eine neue Bedeutung oder Richtung. Steht somit also nicht doch ein universelles und zeitloses Thema im Mittelpunkt der Mythosrezeption, das in einer Wiedererzählung neu vergegenwärtigt wird und den Leser mit besonderer Evidenz anspricht? Bei einer Fokussierung auf das Traummotiv drängt sich diese Lesart durchaus auf. Der Gesamteindruck, den der Text vermittelt, weist freilich in eine andere (entgegengesetzte?) Richtung. Denn die wirkmächtige Präsenz des einzelnen Traums ist in eine Textstruktur eingebettet, die in ihrer Episodenhaftigkeit tendenziell das Flüchtige der Träume (und nicht deren überwältigende Präsenz) betont. Schon die mythologischen Episoden aus dem Leben des Angus muten bisweilen anekdotisch an, so z. B. wenn es um die Tierliebe des Traumgottes geht (»Angus is kind to pigs«50). Und weitgehend anekdotisch wirken auch die einzelnen Kurzgeschichten, da jene zwar thematisch an die jeweils vorangehenden mythologischen Episoden anknüpfen, aber dabei kein übergrei46 47 48 49 50

Ebd., S. 30. Ebd., S. 31. Ebd., S. 33. Ebd., S. 34. Ebd., S. 99.

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fendes Schema erkennen lassen: So handelt die mythologische Episode »Angus is kind to pigs« nicht nur von der Tierliebe des keltischen Gottes, sondern auch von Menschen, die in Schweine verwandelt wurden und nun von ihren einstigen Artgenossen bedroht werden. Daran schließt sich eine Kurzgeschichte aus einem Forschungslabor an, in dem Schweine unter Einsatz menschlicher DNA als Ersatzteillager für Organe gezüchtet werden – und sich eine für alle Beteiligten überraschende Romanze anbahnt. In einem anderen Fall sind die mythologische Episode »The childhood of Angus« und die darauffolgende Kurzgeschichte »My brother« durch die Thematisierung von geschwisterlichen Beziehungen miteinander verknüpft. Das Verhältnis der beiden alternierenden Textebenen wird offenkundig mit jeder Episode thematisch neu bestimmt. In immer wieder neuer Gestalt tritt auch die Angus-Figur in den verschiedenen Geschichten auf. Der Autor selbst, der in seiner Ankündigung auf die Präsenz dieser Figur ausdrücklich hinweist, räumt zugleich ein, dass sich deren jeweilige Rolle oder Bedeutung nur schwer erfassen lässt: »The part played by Angus, or the Angus figure, in each of these [stories], may be elusive […].«51 In der bereits zitierten Geschichte einer jungen Ehefrau tritt die Angus-Figur als ein Unbekannter auf, den man noch am ehesten als tatsächliche Reinkarnation des Traumgottes deuten kann. In einer anderen Geschichte wird die Angus-Rolle von einem Onkel ausgefüllt, der seinem schlafenden Neffen eine Warnung einflüstert. Auch ein Psychotherapeut, der sich insbesondere für die Träume seiner Patienten interessiert, füllt die AngusRolle aus. Wie diese Beispiele illustrieren, zeigt sich die Präsenz der AngusFigur vielgestaltig und folgt dabei keiner erkennbaren Logik. Da ihr Auftreten erzählerisch höchstens vage motiviert wird, erscheint die Inkarnation des Traumgottes als deus ex machina. Entsprechend der Vielgestaltigkeit, in der die Angus-Figur präsent wird, nehmen auch die Träume unterschiedlich Gestalt an und haben unterschiedliche Konsequenzen: Sie enthüllen intime Geheimnisse, lindern Trennungsschmerz, beugen mittels einer Drohung persönlichem Verrat vor oder führen zur Versöhnung mit dem untreuen Ehegatten. Freilich könnte man diese Vielfalt (genauso wie die Vielgestaltigkeit der Angus-Figur) einerseits als Veranschaulichung der weitreichenden Universalität menschlichen Träumens interpretieren. Andererseits bleibt festzuhalten, dass sich die Vielfalt der Situationen und Ereignisse, der Figuren und Figurenkonstellationen in den verschiedenen Kurzgeschichten nicht zu einem Ganzen zusammenfügt, sondern assoziativ, offen und unabgeschlossen bleibt. 51

Ebd., S. xv.

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Dabei erscheint es angesichts der Struktur des Textes nicht abwegig, in der Lebensgeschichte des Traumgottes Angus eine mythologische Präfiguration oder Tiefenstruktur (also ein Ordnungsprinzip) der modernen Kurzgeschichten zu vermuten. Doch wer erwartet, dass die modernen Kurzgeschichten in den mythologischen Episoden ihre Begründung finden oder jene – lediglich in anderem Gewand – neu vergegenwärtigen, sieht sich vermutlich enttäuscht. Es sind zwar konkrete Bezüge zwischen den Textebenen auszumachen, doch erscheinen diese weder besonders naheliegend, noch zwingend oder gar evident. Aus der Kenntnis der mythologischen Episoden lassen sich keine belastbaren Leseerwartungen im Hinblick auf die jeweils folgenden Kurzgeschichten ableiten. Vielmehr muss sich der Leser immer wieder neu überraschen lassen, wo in den Kurzgeschichten an die mythologische Vorlage angeknüpft wird und wohin diese Anknüpfung letztendlich führt (oder besser: diffundiert). Mag man als Leser bei Margaret Atwoods Penelopiad durchaus den Eindruck gewinnen, dass die neue Version (also die Wiedererzählung im engeren Sinne) bereits in der tradierten mythologischen Geschichte angelegt ist, so fällt es schwer, in Dream Angus eine über punktuelle Verknüpfungen und das Traummotiv hinausgehende erzählerische Motivation oder gar Determination aufzudecken. Vielmehr scheint die Mythosrezeption in Dream Angus insgesamt im Zeichen der Kontingenz zu stehen: Sie inszeniert »das Nichtnotwendige: das, was auch hätte nicht sein können oder auch hätte anders sein können«.52 Die modernen Kurzgeschichten in Dream Angus kann man in diesem Sinne als kontingente Aktualisierungen bezeichnen, denn bei ihnen handelt es sich um mögliche, aber keineswegs notwendige Aktualisierungen einer mythologischen Vorlage. Der Textstruktur zum Trotz wird in Dream Angus keine mythische Parallele zwischen der mythologischen Welt der Angus-Episoden und der modernen Welt der Kurzgeschichten inszeniert. Eine solche Parallele könnte eine eigene Logik und damit eine innere Notwendigkeit entwickeln, also gleichsam dem Eindruck der Kontingenz durch syntagmatische Ordnung vorbeugen. Aber Dream Angus setzt mit jeder Kurzgeschichte neu an. Diese Mythosrezeption im Paradigma53 betont die eigene (schöpferische) Selektivität und ist mit der Vorstellung eines vergegenwärtigenden Wieder52

53

Gerhart von Graevenitz/Odo Marquard, »Vorwort«, in: Dies. (Hrsg.), Kontingenz, München 1998, S. XI–XVI, hier S. XI. Die Begriffe Kontingenzbewältigung und Kontigenzexposition, verknüpft mit der Unterscheidung von syntagmatischem und paradigmatischem Erzählen, sind einem Aufsatz Rainer Warnings entlehnt: Rainer Warning, »Erzählen im Paradigma. Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition«, in: Romanistisches Jahrbuch 52/2001, S. 179–209.

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erzählens kaum zu vereinbaren. Zugleich kann man diese Art der literarischen Kontingenzexposition als ein Korrektiv zu jenen präsenzorientierten Mythoskonzeptionen betrachten, die kausale – also notwendige – Zusammenhänge zwischen vorgängigen Präsenzerfahrungen, mythologischen Repräsentationen und deren Präsenzeffekten postulieren.54 Abschließend bleibt festzuhalten, dass die literarische Mythosrezeption in Dream Angus weniger auf präsentisch-unmittelbare Dimensionen des Mythos als auf dessen ausgeprägten Repräsentationscharakter zielt. Dieser Zugang zum Mythos kommt vielleicht am eindrücklichsten in jener Definition zum Ausdruck, die Alexander McCall Smith in seiner Einleitung anbietet: »Myth is a cloud based upon a shadow based upon the movement of the breeze.«55 Das Mythosverständnis, das in dieser poetischen Definition auf den Punkt gebracht wird, kreist offenkundig nicht um Präsenz, Unmittelbarkeit oder Evidenz. Und dementsprechend geht die literarische Mythosrezeption in Dream Angus auch nicht in einer verbindlichen Universalität oder Zeitlosigkeit auf, sondern in der Flüchtigkeit eines Erzählens, das zwar an mythologische Geschichten anknüpft, aber dabei die eigene Kontingenz offenlegt.

V.

You like stories, Dr Freud? – Literarische Metadiskursivität in Salley Vickers’ Where Three Roads Meet

Salley Vickers’ Where Three Roads Meet. The Myth of Oedipus (2007) bietet zwar auch eine Wieder- bzw. Neuerzählung der Ödipus-Geschichte, bemerkenswert ist aber vor allem deren Rahmung in Form eines Totengesprächs: Der wohl berühmteste Interpret des Ödipus-Stoffes, Sigmund Freud, erhält in seinen letzten, von einer schmerzhaften und entstellenden Krebserkrankung 54

55

In diesem Zusammenhang könnte man auf die »These vom zunehmenden Kontingenzbewußtsein« verweisen, derzufolge »in der modernen Welt: nach der Schwächung Gottes und der Schwächung des transzendentalen Subjekts […] nichts mehr notwendig und alles kontingent [ist]« (Graevenitz/Marquard, »Vorwort«, S. XII). Mit dieser These wird auch die Frage aufgeworfen, inwiefern Literatur »zu diesem Wachstum der Kontingenzerfahrung beigetragen [hat]« (ebd.) oder Kontingenzerfahrungen kompensieren kann. Andererseits muss man der These nicht zwangsläufig und uneingeschränkt zustimmen, da einflussreiche zivilisatorische Diskurse gerade darauf abzielen, Kontingenz durch die Fokussierung auf Kausalitäten, durch rationalisierende Erklärungsmuster o.Ä. zu bannen. Literarische Kontigenzexposition könnte dann die Funktion eines diskursiven Gegengewichts erfüllen, das die Möglichkeit von Kontingenz im kulturellen Bewusstsein hält. McCall Smith, Dream Angus, S. xiv.

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gezeichneten Lebensmonaten wiederholt Besuch von Teiresias, dem blinden Seher aus der sophokleischen Ödipus-Tragödie. Bei diesen Besuchen entfaltet Teiresias seine Version der Geschichte um Ödipus und tritt dabei in einen Dialog mit dem schwerkranken Psychoanalytiker. Mit dieser Grundkonstellation widmet sich Where Three Roads Meet nicht nur einer universell und zeitlos anmutenden Geschichte, sondern darüber hinaus einer der prominentesten Deutungen dieser Geschichte und damit auch der wissenschaftlich-theoretischen Deutung des Mythos im Allgemeinen. Die Bedeutung des Mythos, so eine im Text implizite These, liegt in seiner Deutung. In diesem Sinne betont Teiresias wohl mit einigem Recht: »No one hears the same story since your retelling, Dr Freud.«56 Where Three Roads Meet präsentiert sich dem Leser nicht zuletzt als literarische Auseinandersetzung mit Sigmund Freud und dem psychoanalytischen Menschenbild. Der mythologischen Geschichte und ihrer Deutung kommt dabei die Funktion eines Prüfsteins zu, wie es die Freud-Figur im Text selbst formuliert: »that story has been the linchpin of my life«.57 Bildlich verdichtet sich dies, wenn der schwerkranke Freud auf der Couch platziert und dem Mythosinterpreten damit die Rolle des zu untersuchenden Patienten zugewiesen wird.58 Dabei geht es in Where Three Roads Meet nicht um eine Generalabrechnung mit der Freud’schen Theorie oder der psychoanalytischen Ödipus-Deutung, die in Form aussagekräftiger Zitate aus der Traumdeutung eingangs umrissen wird. Teiresias äußerst sich in seiner Erzählung und Auslegung der Ödipus-Geschichte bisweilen durchaus zustimmend zu verschiedenen Freud’schen Einsichten.59 An anderer Stelle zeigt er sich freilich eher uninteressiert an den Kommentaren seines Zuhörers (»If you prefer, Doctor. In any event […]«) und deutet dabei an, dass die psychoanalytische Interpretation zwar nachvollziehbar klingen mag, aber deswegen noch lange nicht zwingend ist.60 Schließlich verweist Teiresias auf bekannte Einseitigkeiten des Freud’schen Ansatzes: »Sex has a place but take it from me it is only part of the story.«61 Die reservierte Distanz des Teiresias gegenüber der Freud’schen Psychoanalyse betrifft insbesondere deren Universalitätsanspruch, was pointiert in einer rhetorischen Frage an den nie um eine psychologische Erklärung verlegenen Freud zum Ausdruck kommt: »Isn’t everything grist to

56 57 58 59 60 61

Salley Vickers, Where Three Roads Meet. The Myth of Oedipus, Edinburgh 2007, S. 169. Ebd., S. 110. Vgl. z. B. ebd., S. 190. Vgl. ebd., S. 114. Ebd., S. 115. Ebd., S. 104.

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your mill?«62 Schließlich bescheinigt Teiresias dem bekanntesten ÖdipusInterpreten: »Don’t get me wrong, Doctor. You got the size of the drama right, if not the entire point of it. Because, if I may say so, here in all the world was the one person you could safely say didn’t have the complex you dreamed up for him.«63 Mit der Inszenierung eines Totengesprächs stellt Vickers’ Text eine prominente (mythos-)theoretische Präsenzbehauptung zur Diskussion, die mythologische Repräsentationen auf latente Wunschphantasien zurückführt. Dabei steht schon der literarische Ansatz im Kontrast zur theoretischen Mythosinterpretation: Hatte Freud in seiner Traumdeutung literarischen Repräsentationen (der sophokleischen Ödipus-Tragödie bzw. des dort scheinbar gestalteten Ödipus-Komplexes) eine latente Präsenz im realen Seelenleben zugesprochen, so wird in Vickers’ Text die reale Person Sigmund Freud zu einer literarischen Repräsentation. Schließlich geht es aber weniger um einen konkreten Gegenentwurf zur Freud’schen Ödipus-Deutung als vielmehr um die Frage, inwiefern eine theoretisch-interpretatorische Vereindeutigung einerseits oder eine totalisierende Deutung der mythologischen Geschichte andererseits möglich und sinnvoll sind. Eine entsprechende Skepsis kommt insbesondere gegen Ende des Textes zum Ausdruck, als sich der sterbende Freud noch einmal der Identität seines ungewöhnlichen Besuchers versichern will. Die Antworten des Teiresias ziehen nämlich in Zweifel, dass man mythologische Repräsentationen ohne Weiteres auf einen realen oder präsentischen Kern zurückführen kann: – Who are you? Really? – I am Tiresisas. – Not a figment of my imagination? – The two are not incompatible. […] Is a dream real? – A dream is an unconscious reality. A reflection … – … A reflection of a reflection of a reflection. Where does reality start? And end?64

Der Traum – und damit zumindest in psychoanalytischer Perspektive auch der Mythos65 – zeichnet sich laut dieser Bestimmung vor allem durch seinen 62 63 64 65

Ebd., S. 103. Ebd., S. 169. Ebd., S. 192. Vgl. hierzu – neben den bereits erwähnten Passagen aus der Traumdeutung – die folgende Vermutung Sigmund Freuds: »[…] es ist z. B. von den Mythen durchaus wahrscheinlich, daß sie […] den Säkularträumen der jungen Menschheit entsprechen« (Sigmund Freud, »Der Dichter und das Phantasieren«, in: Ders., Studienausgabe. Bd. 10: Bildende Kunst und Literatur, 7., korrigierte Auflage, Frankfurt a. M. 1980, S. 169–179, hier S. 178).

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Repräsentationscharakter aus. »A reflection of a reflection of a reflection« bezeichnet geradezu das Gegenteil von überwältigender Präsenzerfahrung oder überzeugenden Evidenzeffekten. Ganz offensichtlich konzentriert sich die literarische Mythosrezeption also auch in Where Three Roads Meet nicht auf eine Wieder- oder Neuerzählung universeller und zeitloser Geschichten, sondern macht die entsprechende Mythoskonzeption selbst zum Gegenstand. Man kann dem literarischen Text in dieser Hinsicht eine metadiskursive Reflexivität bescheinigen, womit eine spezifische Funktionsbestimmung des Literarischen angesprochen ist: Als kulturkritischer Metadiskurs widmet sich Literatur der »Repräsentation typischer Defizite, Einseitigkeiten und Widersprüche dominanter Systeme zivilisatorischer Macht«.66 Zählt man wissenschaftliche Paradigmen oder Theorien sowie deren Streben nach Vereindeutigung zu diesen Systemen zivilisatorischer Macht, dann nimmt Where Three Roads Meet ohne Zweifel eine metadiskursive, d. h. in diesem Fall mythostheoriekritische, Funktion wahr. Die literarische Kritik an der Freud’schen Deutung mythologischer Repräsentationen weist die Fokussierung auf einen konkreten präsentisch-realen Kern als Reduktion aus. Diese Reduktion mag wissenschaftlich geboten und erhellend sein, den Anspruch auf eine umfassende Deutung des Stoffes kann man mit ihr nicht erheben. In diesem Sinne warnt Teiresias seinen Zuhörer Freud schon zu Beginn seiner Nacherzählung der Ödipus-Geschichte: »It is of the senseless I would like to speak. A story without sense. No sense. Or maybe all sense.«67 Selbst im Hinblick auf den Ausgang der Geschichte betont der blinde Augenzeuge noch einmal die irreduzible Vielschichtigkeit der mythologischen Repräsentation und korrigiert damit den Anspruch seines Zuhörers auf das eine und wahre Ende der Geschichte: »– I want to hear the end of the story. – I promised you an end. – Tell me, then, if you will be so kind, my particular Theban colleague, how the story ended for you.«68 Geradezu vorbildlich kommt an dieser Stelle eine spezifische Funktion moderner Literatur und damit auch moderner literarischer Mythosrezeption zum Tragen: »Die Wiederherstellung von Komplexität gegen vereindeutigende Reduktionsformen von Bewusstsein und Erfahrung […].«69 Die Infragestellung einer eindeutig zu bestimmenden Rückbindung an vorgängige Präsenzerfahrung impliziert freilich nicht, dass mythologische Repräsentationen als bedeutungslos betrachtet werden müssen. Vielmehr 66 67 68 69

Zapf, »Das Funktionsmodell der Literatur als kultureller Ökologie«, S. 67. Vickers, Where Three Roads Meet, S. 18. Ebd., S. 175. Zapf, »Das Funktionsmodell der Literatur als kultureller Ökologie«, S. 66f.

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verweist Where Three Roads Meet auf die Funktion der mythologischen Repräsentation als Projektionsfläche und als Medium der Selbstreflexion. Zumindest ließe sich so Vickers’ interpretatorische Aufladung der Ödipus-Geschichte durch Affinitäten zwischen den Figuren Ödipus und Freud deuten. In Where Three Roads Meet zeigen sich beide Figuren in Sorge um ihre Kinder, beide erdulden körperliche Gebrechen, müssen das Schicksal des Exils ertragen und teilen schließlich die Aussicht auf Unsterblichkeit. Damit wird die Bedeutung der mythologischen Geschichte für ihren Interpreten herausgestellt (durchaus auch im Sinne einer »stor[y] that reflect[s] and shape[s] our lives«), wobei sich diese Bedeutung freilich nicht mit der vermeintlich objektiven Bedeutung deckt, die der Interpret selbst in seiner Traumdeutung identifizierte. Auf jeden Fall erinnert Vickers’ Text daran, dass Literatur nicht nur als Spezialdiskurs Geschichten (wieder- oder neu-)erzählt, sondern als Metadiskurs eben auch das Erzählen sowie die Interpretation von Geschichten selbst zum Gegenstand erheben kann.

VI. Jenseits des Wiedererzählens: Zur Reflexivität der literarischen Mythosrezeption Mythen werden häufig als Repräsentationen verstanden, die einerseits vorgängige Präsenzerfahrungen zum Ausdruck bringen und andererseits als Repräsentationen selbst Präsenzeffekte erzielen, indem sie ihre Rezipienten mit einer spezifischen Unmittelbarkeit ansprechen. Diese Denkfigur steht auch hinter jener Mythosdefinition (»universal and timeless stories that reflect and shape our lives«), die der Canongate-Verlag seiner Reihe The Myths zugrunde legt. Sie nährt die Erwartung, literarische Mythosrezeption diene primär dem Wiederzählen – durchaus im Sinne einer performativen Vergegenwärtigung – universeller und zeitloser Geschichten. Tatsächlich widmen sich die vorgestellten Texte von Margaret Atwood, Alexander McCall Smith und Salley Vickers auch und nicht zuletzt solchen Themen, die universell und zeitlos anmuten: Sie erzählen von Gewaltexzessen, vom Träumen, von körperlichem Verfall und Todeserwartungen, von dramatischen Schicksalsschlägen und verzweifelter Sinnsuche. Allerdings sind diese Themen in den vorgestellten Texten nicht Gegenstand eines präsenzbeschwörenden oder evidenzstiftenden Wiedererzählens, sondern einer auf Beobachtung und Reflexion abzielenden literarischen Inszenierung. Eine auffällige Gemeinsamkeit der Texte besteht darin, dass sie die Repräsentation des jeweiligen mythologischen Stoffes, d. h. die Wiedererzählung im engeren Sinne, einrahmen und dadurch perspektivieren. Die Rahmung wird dabei auf verschiedene Weisen realisiert – durch den Einsatz eines Cho-

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res bei Atwood, durch die Episodenstruktur bei McCall Smith oder durch das Totengespräch bei Vickers. Die Ankündigung des Verlags – »some of the world’s finest writers, each of whom has retold a myth in a contemporary and memorable way« – bedarf in jedem Fall einer Präzisierung. Genau genommen bieten die Texte nämlich keine Wiedererzählungen, sondern vielmehr literarische Inszenierungen solcher Wiedererzählungen. Oder anders formuliert: Die literarischen Texte erzählen nicht nur mythologische Geschichten, sondern sie erzählen auch von diesen Geschichten, deren Deutungen und bisweilen ganz allgemein von der Bedeutung dessen, was man Mythos nennt. Die literarische Rahmung der wiedererzählten Geschichten schafft dafür die notwendige Distanz, wodurch zugleich etwaige Erwartungen an mythische Unmittelbarkeit und Evidenz unterlaufen werden. Die vorgestellten Texte aus der Canongate-Reihe The Myths konfrontieren ihre Leser nicht nur mit universellen und zeitlosen Geschichten oder Themen, sondern auch mit unzuverlässigem Erzählen und erzählerischer Multiperspektivität, sie zeugen vom inter- und metadiskursiven Potential der Literatur oder widmen sich der Offenlegung von Kontingenz. Damit bringen sie konkrete Formen und Funktionen des Literarischen ins Spiel, die Ausweis literarischer Reflexivität sind und zugleich begründen, warum man mit präsenzorientierten Mythoskonzeptionen im Hinblick auf die literarische Mythosrezeption bisweilen an Grenzen stößt. Damit ist nicht gesagt, dass präsenzorientierte Mythoskonzeptionen grundsätzlich problematisch wären. Vielmehr illustrieren die ausgewählten Beispiele, dass die literarische Mythosrezeption zwar mythisch anmuten mag, in jedem Fall aber literarisch ist – und sie bieten Belege dafür, dass Literatur zwar ein Medium des Erzählens, aber eben auch der Beobachtung und Reflexion sein kann. Dementsprechend – und obwohl eine populäre Mythoskonzeption sowie eine einschlägige Verlagsankündigung dies nicht unbedingt erwarten lassen – leisten die vorgestellten Texte ihren literarischen Beitrag zur »Denkgewohnheit« Mythos auch jenseits eines Wiedererzählens universeller und zeitloser Geschichten.

Unsterbliche Bildergeschichten

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Anne Keßler-Persaud (Göttingen)

Unsterbliche Bildergeschichten: Zur Repräsentation und Präsentifizierung indischer Mythologie in den Comics der Amar Chitra Katha

Die Comics der Serie Amar Chitra Katha (ACK, dt. »Unsterbliche Bildergeschichte«) nehmen seit einigen Jahrzehnten für manche Kinder, Jugendliche und Erwachsene hinduistischer Traditionen eine signifikante Rolle in der Tradierung und Rezeption ihrer Mythen, also traditioneller Götter- und Heroenerzählungen,1 ein. Für einige bilden sie eine – zuweilen die primäre – Zugangsquelle zu diesen Erzählungen. Im Folgenden werden zunächst zwei Aspekte von Mythendarstellungen des hinduistischen Kontexts besprochen, die als Koordinatensystem zur Einordnung des Phänomens ACK dienen und diese Comicserie so in ihrem kulturellen Kontext verorten sollen. Der erste Aspekt besteht in den medialen Strategien der Tradierung und Rezeption hinduistischen Erzählguts, der zweite in der Unterscheidung repräsentationaler und präsentifikatorischer Verfahren solcher Mythosdarstellungen. Es wird zu zeigen sein, dass der (zeitweilige) Erfolg der ACK wesentlich auf einem Gleichgewicht zwischen Repräsentation und Präsentifizierung hinduistischer Mythen beruht – ein Gleichgewicht, welches durch die Eigenschaften des Mediums Comic ermöglicht wird.

I.

Mediale Strategien der Tradierung und Rezeption hinduistischer Mythologie

In indischen Traditionen werden verschiedene Medien verwendet, um mythologische Stoffe zu kommunizieren. Neben den erzählerischen, textlichen und kultischen Darstellungsformen haben seit den siebziger Jahren auch Co1

Im vorliegenden Aufsatz werden die Begriffe Mythos und Mythologie verwendet, um traditionelle Götter- und Heroenerzählungen beziehungsweise Systeme solcher Erzählungen zu bezeichnen. Hierzu und zur Verwendung des Mythosbegriffs im Bereich indischer Religionen vgl. Anne Keßler, »Zwischen Mythos und Ritual: Die Rezitation des S¯ury¯as¯ukta im Hochzeitsritual vedischer und hinduistischer Traditionen«, in: Christoph Jamme/Stefan Matuschek (Hrsg.), Die mythologische Differenz. Studien zur Mythostheorie, Heidelberg 2009, S. 209–236, insbes. S. 207–214.

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Anne Keßler-Persaud

mics als Medium indischer Mythologie Verbreitung gefunden. Der Begriff Medium soll sich hier auf die wahrnehmbare Seite von Mythen beziehen, also auf die ›materiale‹, hörbare, lesbare, sichtbare, ertast-, riech- und schmeckbare Seite von Mythendarstellungen.2 Primär werden im vorliegenden Aufsatz Sprache, Schrift, Bild und Handlung als Kodierungsformen von Mythen unterschieden. Jedes dieser Medien hat seine eigenen Potentiale und Limitationen. Ihre Speicher- und Zirkulationsfähigkeiten unterscheiden sich. Sie stellen Erhalt, Rezeption, Aktualität und/oder erlebte Wirklichkeit der mythologischen Stoffe sicher. Zudem gehört jedem Medium eine spezifische Autoren- und Rezipientengruppe an. Je nach Ereignis, Gruppe und Trägerschicht kommt Sprache, Schrift, Handlung oder Bild der höchste Stellenwert zu.3 Eine wichtige und – wie Ethnologen argumentiert haben – die früheste Darstellungsform von Mythen ist das Erzählen.4 In nicht-literalen Gesellschaften, aber auch in literalen Gesellschaften, die wie die indische das oral Tradierte hoch schätzen, können mythologische Stoffe als »memoria« dienen.5 Im Modus der mündlichen Tradierung wird das Erzählgut jedoch nicht nur erhalten, sondern kann laufend aktualisiert werden.6 In oralen Traditionen »wird nur das tradiert, was auch gebraucht wird, und das, was tradiert wird, wird auch gebraucht«.7 Überkommenes kann stillschweigend in Vergessenheit geraten, Neuerungen können eingefügt und Schwerpunkte situationsbedingt gesetzt werden. Mündlich tradierte Götter- und Heroengeschichten befinden sich »im Kontext«.8 Erzählungen können – in ihrem Kontext – überzeugen und das Erzählte »gegenwärtig« machen. Hierbei 2

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Zu Medien religiöser Kommunikation vgl. Daniel Münster, Religionsästhetik und Anthropologie der Sinne. Vorarbeiten zu einer Religionsethnologie der Produktion und Rezeption ritueller Medien, München 2001, insbes. S. 77–79 und S. 93–94. Vgl. ebd., S. 79–81. Die mündliche Mitteilung ist das »ureigenste Medium« von Mythen (Karl-Heinz Kohl, Mythen im Kontext. Ethnologische Perspektiven, Frankfurt a. M. u. a. 1992, S. 9). Vgl. Christoph Jamme, »Gott an hat ein Gewand«. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1999, S. 185. Orale Religionen sind ausgesprochen flexibel. Mythologische Rezitationen lassen in synchroner wie diachroner Hinsicht beachtliche Variation erkennen. Sie weisen zahlreiche Möglichkeiten des inneren Wandels und der Absorption von Ideenimporten auf (vgl. Münster, Religionsästhetik, S. 86). Aleida Assmann/Jan Assmann, »Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis«, in: Klaus Merten/Siegfried Schmidt/Siegfried Weischenberg (Hrsg.), Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen 1994, S. 114–140, hier S. 130. Kohl, Mythen im Kontext, vgl. auch Münster, Religionsästhetik, S. 86f.

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kommt dem Erzähler oder der Erzählerin eine zentrale Rolle zu. Denn das Gesprochene umfasst nicht nur den Inhalt der Erzählung, sondern auch Betonung, Mimik und Gestik des Sprechers.9 »Die mündliche Inszenierung ist multimedial, körperlich und damit ›multisensorisch‹.«10 Von vielen, vor allem jungen Inder(inne)n wird das Erzählen allerdings oft als unzeitgemäß empfunden. Urmilaji, eine Erzählerin aus Himachal Pradesh, sagt über ihre Kinder und Enkel: There’s no time these days. Children go to school and do homework in the evenings. People with jobs are gone from morning to night. And parents too, they want their children to read books rather than listen to stories – after all, there is such an expense in education. Everyone is constantly busy. When are they going to ask for stories? They have no time for worship, for getting wisdom through stories? Whatever time is left over, you know, it’s spent before the TV.11

Urmilaji macht hier deutlich, dass ihr das Erzählen als eine Art der Gottesverehrung gilt und Weisheit hervorbringt. Sie spricht weiterhin zwei Medienwechsel an und stellt fest, dass heute sowohl Texte als auch das Fernsehen höher bewertet werden als das Erzählen.12 Die hierarchisch hohe Stellung von Texten, vor allem von schriftlich fixierten Texten, begründet sich in ihrem besonderen Potential zur langfristigen und personenunabhängigen Konservierung von mythologischen Stoffen. Durch das Medium Schrift sowie durch Institutionen der Kanonisierung von Texten wird dieses Wissen »speicherbar«.13 Fixierte Texte als Darstellungsform von Mythen wurden von der Ethnologie und Religionswissenschaft jedoch als sekundär gegenüber Erzählungen ausgewiesen.14 Mythologische Stoffe wurden in vielen Kulturen, ausgehend von zunächst erzählend vermittelten Vorstellungen, erst in einem zweiten Schritt verschriftlicht oder in kanonisierter Form mündlich tradiert. So basiert die uns heute überlieferte epi-

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Vgl. Kohl, Mythen im Kontext, S. 9. Münster, Religionsästhetik, S. 92, vgl. hierzu Assmann/Assmann, »Das Gestern im Heute«, S. 134. Kirin Narayan, Mondays on the Dark Night of the Moon. Himalayan foothill folktales, New York 1997, S. 21. Hervorhebungen im Zitat A. K.–P. Implizit erscheinen Texte hier als verlässliche, von Eltern geförderte Bildungsmedien. Das Fernsehen erscheint dagegen als Medium der Unterhaltung, welches freiwillig von Kindern genutzt wird. Durch das Medium Schrift tritt – nach der von Assmann und Assmann entwickelten Terminologie (»Das Gestern im Heute«, S. 121–123) – das »Speichergedächtnis« zum »Funktionsgedächtnis« hinzu. Kohl, Mythen im Kontext, S. 9 und Jamme »Gott an hat ein Gewand«, S. 150.

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sche und puranische Literatur15 Indiens auf Erzählungen oder oral poetry, die in verschiedensten Varianten existier(t)en. Keine der überlieferten Versionen des Mah¯abh¯arata, eines der Epen der indischen Traditionen, kann als »ursprüngliche« gelten. Sie wurden erst fixiert, als sie niedergeschrieben wurden.16 Durch ihre schriftliche Ausformulierung werden Mythen fixiert und zugleich verändert.17 Solche fixierten Götter- und Heroengeschichten sind paraphrasierbar, summierbar, kritisierbar und vor allem interpretierbar.18 Solche literalisierten Mythen können in ihrer fixierten Form autoritativ werden und in dieser unter Umständen ihre eigene Aktualität überdauern. Sie können im Laufe der Jahrhunderte unverständlich werden, da sie – anders als oral tradierte Mythosdarstellungen – nicht direkt aktualisiert werden können.19 Eine textliche Fixierung von Erzählgut ist in aller Regel das Resultat einer Professionalisierung von Religion. Solche Texte werden zumeist von religiösen Spezialisten, also von Priestern, tradiert und nur von ihnen direkt rezipiert. Die religiöse Gemeinschaft tritt oft nur über bildliche oder performative Darstellungen mit solcherart literalisierten Mythen in Verbindung. So berichtet der Ethnologe Milton Singer prägnant: Seldom did I come across an Indian who had read these stories [scil. Mah¯abh¯arata, R¯am¯ayan·a and Bh¯agavatapur¯a·na20] as I did, simply in a book. This is not how they learn them and it is not how they think of them.21 15

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Die beiden großen Epen der indischen Traditionen sind Mah¯abh¯arata und R¯am¯ayan·a. Diese beiden äußerst umfangreichen Textsammlungen sind ungefähr zwischen dem fünften vorchristlichen und dem vierten nachchristlichen Jahrhundert zusammengetragen worden und behandeln die Lebensgeschichte des Helden R¯ama beziehungsweise den großen Krieg zwischen den miteinander verwandten Fürstenfamilien P¯an·dava und Kaurava. Die Pur¯an·as bilden dagegen eine sehr heterogene Textgruppe. Es handelt sich zumeist um Sammelwerke, die neben Götter- und Heroengeschichten auch verschiedenste Anweisungen zu Bräuchen, Ritualen und Heilverfahren enthalten. Systematisierung und Verschriftlichung der unterschiedlichen Mah¯abh¯arata-Erzählungen sind brahmanischen Redaktoren zuzuschreiben (vgl. John Brockington, »The Textualization of the Sanskrit Epics«, in: Lauri Honko [Hrsg.], Textualization of Oral Epics, Berlin, New York 2000, S. 193–216). Die nordindische Version des Sanskrit-Mah¯abh¯arata berichtet selbst von ihrer Verschriftlichung: Hier wird erzählt, dass die Gottesgestalt Gane´sa das gesamte Mah¯abh¯arata auf Palmblättern niedergeschrieben habe (The Mah¯abh¯arata. Vishnu S. Sukthankar [Hrsg.], Poona 1933–1972, Bd. Appendices 1/1, S. 884f.). Vgl. Wolfgang Braungart, Ritual und Literatur, Tübingen 1996, S. 68. Vgl. Assmann/Assmann, »Das Gestern im Heute«, S. 135. Vgl. Keßler, »Zwischen Mythos und Ritual«. Zu den Epen, also Mah¯abh¯arata und R¯am¯ayan·a, sowie den Pur¯an·as vgl. Anm. 15. Milton Singer, When a Great Tradition Modernizes. An Anthropological Approach to Indian Civilization, New York 1972, S. 76.

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Auch die Interaktion zwischen dem R¯amcaritm¯anas, einer im 16. Jahrhundert von Tulsid¯as verfassten Bearbeitung der R¯ama-Legende, und seinem Publikum findet – wie Lutgendorf es treffend formuliert – nicht »primarily through the medium of the written word«22 statt. Für das Funktionieren von Religionen ist eine bildliche Wahrnehmbarkeit und performative Lebendigkeit ihrer Gottesgestalten und deren Handlungen ein zentrales Moment. Visualisierungen und temporäre Dramatisierungen, die innerhalb eines breiten Spektrums von Ritualen und anderen performativen Ereignissen stattfinden können, gehören daher zu den am weitesten verbreiteten medialen Strategien von Religionen.23 Selbst literale Traditionen bleiben auf Inszenierung und Performance angewiesen.24 Formen der Visualisierung und Dramatisierung reichen vom Götterbild25 bis hin zur Verkörperung von Gottesgestalten bei performativen Ereignissen wie Ritualen und Festen. Gerade die hinduistischen Traditionen basieren in weiten Teilen auf der Sichtbarkeit ihrer Gottesgestalten in Bildern und anderen, eine visuelle Ebene umfassenden Medien.26 Hinduism is an imaginative, an ›image-making‹, religious tradition in which the sacred is seen as present in the visible world […]. India is a visual and visionary culture, one in which the eyes have a prominent role in the apprehension of the sacred.27

Anikonische wie ikonische Kultbilder spielen seit etwa zwei Jahrtausenden eine herausragende Rolle in Indien.28 Die Gegenwärtigkeit einer Gottesge22

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27 28

Philip Lutgendorf, The Life of a Text. Performing the R¯amcaritm¯anas of Tulsidas, Berkeley 1991, S. 2. Vgl. Jörg Rüpke, Historische Religionswissenschaft. Eine Einführung, Stuttgart 2007, S. 36f. Vgl. Münster, Religionsästhetik, S. 92. Burkhard Gladigow (Religionswissenschaft als Kulturwissenschaft, Stuttgart, 2005, S. 69 und S. 85f.) unterscheidet Kultbilder und Götterbilder. Ersteres bezeichnet ein Bild, »dem unmittelbar kultische Verehrung gilt, das im Tempelinneren dauerhaft aufgestellt ist«. Ein Götterbild ist dagegen eine Nachbildung des Kultbildes oder eine ›unmittelbare‹ Wiedergabe von Göttern. Solche Götterbilder finden sich im indischen Kontext zum Beispiel in der Malerei, auf Postern und in Comics. Es gibt auch hinduistische Traditionen, die Gott als jenseits aller Qualifikationen (nirgun·a) auffassen (vgl. Thomas Oberlies, Hinduismus. Die großen hinduistischen Religionen, das Ritual, Tempel und Priester, das indische Kastenwesen, Frankfurt a. M. 2008, S. 75). Diana Eck, Dar´san. Seeing the Divine Image in India, 2. Aufl., Chambersburg 1985, S. 10. Ebd., S. 38. Der vedische Kult, also der indische Kult vor der Zeitenwende, besaß noch keine Götterstatuen. Stattdessen wurden »die Götter in den zentralen Ritualen herbeigerufen und in rituellen Epiphanien durch Menschen – eben die ›Priester‹ – dargestellt« (Thomas Oberlies, Der Rigveda und seine Religion, Berlin 2012, S. 247).

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stalt in ihrem Kultbild stellt sich jedoch – nach traditionellem Glauben – nicht ohne Zutun von religiösen Spezialisten ein. Die Herstellung und Installation (pratisth¯a) von Kultbildern erfolgt durch komplexe rituelle Hand˙˙ lungen. Die wichtigste Handlung besteht im »Öffnen der Augen« des Kultbildes beziehungsweise der göttlichen Manifestation. Bis zur Installation im Tempel sind die Augen des Kultbildes von einer Schicht aus Honig und geklärter Butter verdeckt. Erst wenn die Statue an ihrem permanenten Platz steht, werden die Augen von einem Priester »geöffnet«, indem er die Schicht aus Honig und Butter mit einer goldenen Nadel entfernt.29 Nach Abschluss dieser Handlungen kann das gegenseitige »Anblicken« (dar´sana) von Gottesgestalt und Gläubigem stattfinden. Hierbei »gibt« die Gottesgestalt dar´sana und der Gläubige empfängt es (Hindi: dar´san den¯a bzw. len¯a). Dieses Anblicken ist dann effektiv, wenn sich Gläubiger und Gottesgestalt gegenseitig in die Augen blicken. Daher sind hinduistische Kultbilder zumeist frontal ausgerichtet und zuweilen auch mit deutlich übergroßen Augen dargestellt. Dar´sana bedeutet Berührung, Begreifen und Verstehen zwischen Gottesgestalt und Gläubigem30 und zeigt die geglaubte Gegenwärtigkeit der Gottesgestalt im Kultbild an. Dar´sana als Tausch der Blicke ist das wichtigste Moment einer p¯uj¯a, der hinduistischen Gottesverehrung.31 Die p¯uj¯a ist als Empfang und Ehrung eines Gastes konzipiert. Um die Gottheit als solche ehren zu können, muss zunächst ihr Kommen veranlasst werden. Dies leisten Riten, die die Gegenwart des Gottes in der das Zentrum der P¯uj¯a bildenden Figur sicherstellen: Lieder werden gesungen und Sprüche rezitiert, die ihn zum Kommen bewegen, wobei ein brennender Leuchter kreisförmig […] um das Götterbild geschwenkt wird.32

Das Kultbild wird dann in vielfacher Weise geschmückt und verköstigt, bevor der Gott am Ende der p¯uj¯a wieder entlassen wird. Diese Art der religiösen Interaktion mit dem Kultbild, das tägliche Einladen und Umsorgen der Gottesgestalt sowie das rituelle dar´sana, begründen die geglaubte Anwesenheit des Gottes. Die genannten Handlungen zielen darauf, das Kultbild als

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Vgl. Eck, Dar´san, S. 51–55; Shingo Einoo, »Notes on the Installation Ceremonies Described in the Gr·hyaspari´sis·t·as«, in: Ders./Jun Takashima (Hrsg.), From Material to Deity. Indian Rituals of Consecration, New Delhi 2005, S. 95–113 und Hiromichi Hikita, »Consecration of Divine Images in Temples«, in: ebd., S. 143–197. Vgl. Eck, Dar´san, S. 9f. Ebd., S. 6. Oberlies, Hinduismus, S. 24.

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bloße Darstellung einer Gottesgestalt mit der Gottesgestalt selbst zu »verwechseln«.33 Auch bei Dramatisierungen mythischer Handlungen versammeln sich Gläubige – zuweilen mehrere Millionen –, um dar´sana zu erhalten. Bei vielen Ritualen, Festen und anderen performativen Darstellungen gelten die Akteure als Verkörperungen der Gottesgestalten (svar¯up) und Heroen.34 Die Götter stehen als lebendig agierende Personen im Tempel oder auf der Bühne. Lutgendorf berichtet von einer R¯aml¯ıl¯a, einer Dramatisierung des R¯amcaritm¯anas: Die Helden des Epos formten gegen Ende der Aufführung eine Reihe und richteten ihre Gesichter gerade nach vorne.35 Auf diese Weise ermöglichten sie dem Publikum das ersehnte dar´sana. Danach stiegen die Jungen von der Bühne herab und gingen zu den vorbereiteten Sänften. In diesen wurden sie in langsamer Prozession zum Hauptgebäude der veranstaltenden Organisation getragen und gaben so mehreren tausend Personen dar´sana.36 Auch Fernsehen und Kino, Medien mit hohen Speicher- und Zirkulationsfähigkeiten,37 folgen dem Paradigma der Dramatisierung. Die beiden großen hinduistischen Epen, Mah¯abh¯arata und R¯am¯ayana, etwa wurden in den ˙ achtziger Jahren als Fernsehserien ausgestrahlt – und waren so beliebt, dass das öffentliche Leben Indiens zur Sendezeit zum Erliegen kam. Viele Hindus schmückten ihre Fernsehgeräte, wuschen sich vor der Sendung wie vor 33

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Adrian Stähli, »Die mediale Präsenz des Bildes oder: Was meinen wir eigentlich genau damit, wenn wir danach fragen, was ein Bild sei?«, in: Christian Kiening (Hrsg.), Mediale Gegenwärtigkeit, Zürich 2007, S. 127–146, hier S. 135. Anzeichen der Gegenwart einer Gottesgestalt im Darsteller ist – ähnlich wie im Hochzeitsritual (vgl. Keßler, »Zwischen Mythos und Ritual«, S. 228) – in aller Regel das Aufsetzen der Krone (vgl. Darius L. Swann, »R¯am L¯ıl¯a«, in: Farley P. Richmond/Darius L. Swann/Phillip B. Zarrilli [Hrsg.], Indian theatre. Traditions of Performance, Honolulu 1990, 215–236, hier S. 226–228). Die Schauspieler ›gefrieren‹ und formen ein tableau vivant. Solche ›lebenden Bilder‹ werden auf Hindi jh¯an˙ k¯ı genannt. Zu tableaux vivants in den Traditionen des nordindischen Mathur¯a siehe Norvin Hein, The Miracle Plays of Mathur¯a, Delhi 1972, S. 17–30. Jh¯an˙ k¯ıs bilden auch außerhalb von Bühnendarstellungen ein wichtiges Genre hinduistischer Gottesverehrung (vgl. Brigitte Luchesi, »Jhanki. Ritual Visualization of Hindu Deities in Himachal Pradesh«, in: M¯arg. A Magazine of the Arts 63/2011, S. 50–61). Vgl. Lutgendorf, The Llife of a Text, S. 277. Aufgrund der überregionalen Verbreitung von Fernsehsendungen verfügen diese über das Potential, andere Versionen der Epen (dauerhaft) zu überschreiben (vgl. hierzu Philip Lutgendorf, »R¯am¯ayan·a, TV Production«, in: Margaret A. Mills u. a. [Hrsg.], South Asian Folklore. An Encylopedia, New York, London 2003, S. 511f.).

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einer p¯uj¯a und erhielten zuweilen dar´sana, wenn die agierenden Gottesgestalten die Zuschauer direkt anblickten.38 Dramatisierungen wie Rituale, Feste, Bühnenaufführungen und Fernsehsendungen sind für die Kommunikation komplexer mythologischer Stoffe oft effektiver als statische Visualisierungen wie Kultbilder. Denn in Dramatisierungen wie der R¯aml¯ıl¯a, bei der die ganze oder Teile der R¯ama-Legende aufgeführt werden, können komplexe Handlungsabläufe transportiert werden. Aber auch in Visualisierungen, vor allem in solchen, die von Erzählungen, Liturgien oder literarischen Texten begleitet werden, kann auf einen mythischen Handlungsablauf angespielt werden beziehungsweise kann dieser unter Umständen sogar als ganzer kommuniziert werden. Das Medium des Comics stellt eine solche Form der von Texten begleiteten Visualisierung dar. Comics werden seit Ende der sechziger Jahre als Medium für indische Mythologie genutzt. Bei der Darstellung von mythologischen Stoffen sind sie ebenso effizient wie zum Beispiel Erzählungen, das ureigenste Medium von Mythen.39 Die im Hauptteil dieses Aufsatzes zu besprechende, zeitweise sehr erfolgreiche Comicserie Amar Chitra Katha macht vorwiegend hinduistische Erzählungen verfügbar. Aber auch etwa jainistische Traditionen stellen, dem Vorbild der ACK folgend, ihre kanonischen Texte in Comics dar.40 Das Erfolgsrezept der ACK hat Vorläufer in Europa und Amerika, so unter anderem die auf Grimms Märchen basierenden ›Märchenbuchfilme‹ von Egon von Tresckow, die Comicserie Classics Illustrated, die die Ilias und die Odyssee ebenso wie The Three Musketeers und Robinson Crusoe adaptiert hat, und die von M. C. Gaines produzierten Comics Picture Stories from the Bible, die in den USA hohe Verkaufszahlen erreichen.41 Comics verfügen wie das Fernsehen über eine hohe Zirkulationsfähigkeit. Sie sind zudem zumeist sehr günstig zu erwerben und erfordern anders als Tonbänder und Videos keine technischen Abspielgeräte. Comics werden außerdem häufig an andere Personen verliehen und sogar an die nächste Ge38 39 40

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Ebd., S. 512. Vgl. Kohl, Mythen im Kontext, S. 9. Bildästhetik, Sprache, Umfang und einleitender Text dieser jainistischen Comicserie Diwakar Chitra Katha (Mahavir Seva Trust Presentation [Hrsg.]) ähneln dem Vorbild der ACK deutlich. Zudem findet sich auf dem Titelblatt ein ähnliches Sonnensymbol, wie die ACK es als Markenzeichen verwendet. Auch diese Comics basieren auf Originaltexten. Manche Hefte tragen schon auf dem Titelblatt die ›Literaturangabe‹, so beispielsweise das erste Heft der Serie: »A Story From Ancient Jain Literature ›Trishtishalaka Purush Charitra‹.« Vgl. Rolf Wilhelm Brednich, »Comics«, in: Ders. (Hrsg.), Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, Bd. 3, Berlin u. a. 1981, S. 88–101, hier S. 93.

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neration vererbt. Die Speicherfähigkeit dieses Mediums ist ebenfalls hoch, handelt es sich doch um gedruckten Text. Aufgrund dieser Eigenschaften steht das Massenmedium Comic, wie auch das Fernsehen,42 häufig in der Kritik. Denn die Comic-Hefte verfügen über das Potential, andere, vor allem lokale Versionen von Mythen zu ›überschreiben‹. Als Darstellungsformen hinduistischer Mythologie stehen die verschiedenen hier besprochenen Medien nicht unverbunden nebeneinander. Im vorliegenden Aufsatz sind vor allem diachrone Verknüpfungen zwischen ihnen von Interesse. Während literarische Texte in aller Regel letztlich auf Erzählungen oder oral poetry beruhen, greift man bei der Darstellung von mythologischen Stoffen in neuen Medien wie Comics und Fernsehen häufig implizit oder explizit auf autoritative Texte zurück. Ähnlich wie manches traditionelle Schauspiel43 können sie Texte, die oft dem Autoritätsbereich religiöser Spezialisten angehören, ›lebendig‹ machen. Dieser spezifische Fall einer diachronen Verknüpfung von medial unterschiedlichen Mythosdarstellungen soll für die ACK im dritten Abschnitt dieses Aufsatzes ausführlich besprochen werden. Diese Analyse beruht wesentlich auf der Unterscheidung von repräsentationalen und präsentifikatorischen Strategien von Mythosdarstellungen, die im folgenden Abschnitt darzulegen sind.

II. Repräsentation, Präsentifizierung und Präsenzeffekte hinduistischer Mythologie In Ergänzung zur medialen Dimension der Tradierung hinduistischer Mythologie wird im Folgenden eine weitere Differenzierung der unterschiedlichen Darstellungen mythologischen Erzählguts vorgenommen, die Überschneidungen mit der medialen Dimension aufweist, jedoch nicht deckungsgleich mit ihr ist.44 Diese Differenzierung besteht in der Unterscheidung von repräsentationalen und präsentifikatorischen Darstellungsstrategien. 42 43

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Vgl. Lutgendorf, »R¯am¯ayan·a, TV Production«, S. 511f. Die traditionellen Stoffe des Yaks·ag¯ana-Tanztheaters basieren nahezu ausschließlich auf den Epen und dem Bh¯agavatapur¯a·na. Die direkten Vorlagen sind zumeist die südindischen Versionen dieser Texte, also die mittelalterlichen Bearbeitungen der Epen in kanaresischer Sprache. Viele Theaterstücke können auf ihren »Basistext« zurückgeführt werden. Es sind jedoch auch lokale, mündlich tradierte Erzählungen in die Aufführungen eingebaut, die sich nicht (mehr) zu ihren Quellen zurückverfolgen lassen (vgl. Katrin Fischer, Yaks·ag¯ana. Eine Einführung in eine südindische Theatertradition. Mit Übersetzung und Text von »Abhimanyu k¯a·laga«, Wiesbaden 2004, S. 9). Susanne Langer unterscheidet in ihrer Symboltheorie zwischen diskursiven Symbolen und präsentativen Symbolen der Kunst und des Rituals. Sie verknüpft diese

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Als repräsentationale Aspekte einer Darstellung von Götter- oder Heroenerzählungen sollen hier solche Strategien bezeichnet werden, die auf den Erhalt dieses traditionellen Wissens zielen. Hierzu wird die Speicherfähigkeit der verwendeten Medien genutzt. Präsentifikatorische Aspekte offenbaren sich dagegen in Verfahren, die die breite Rezeption des mythologischen Erzählguts ermöglichen oder fördern, indem sie eine Infrastruktur für Präsenzeffekte schaffen. Solche Präsenzeffekte, also die geglaubte Anwesenheit einer Gottesgestalt oder die erlebte Gegenwärtigkeit einer mythischen Handlung, sind grundlegend für das Funktionieren von Mythologie. II.1. Repräsentation Die Verfahren einer Darstellung, durch die dieser ein repräsentationaler Charakter zugeschrieben werden kann, greifen auf die konservierenden Fähigkeiten des betreffenden Mediums zurück. Diese werden genutzt, um den Erhalt des mythologischen Erzählguts sicherzustellen. Im Prinzip verfügt jedes Medium über einen Anteil repräsentationaler Fähigkeiten. Manuskripte, Bücher und andere statische Aufzeichnungen sichern den Erhalt des dargestellten mythologischen Stoffes auf materielle Weise. Aber auch durch orale und performative Medien wie Rezitationen, Erzählungen, Rituale und Feste kann mythologisches Erzählgut erhalten werden, wenn die entsprechenden Aufführungen in ungebrochener Tradition reproduziert werden. Heute handelt es sich bei vornehmlich repräsentationalen Darstellungen sehr häufig um schriftlich oder mündlich fixierte Texte. In überregionalen Traditionen kommt vor allem schriftlich fixierten Texten eine wichtige Rolle beim Erhalt des mythologischen Erzählguts zu. Im lokalen Kontext sind aber häufig die dort oral tradierten Erzählungen sowie Rituale und Schauspiele einander gleichgestellte Repräsentationen. Um als repräsentational anerkannt zu werden, bedürfen Mythosdarstellungen einer Darstellungsautorität. Im indischen Kontext werden Erzählungen und Texte in der Regel über die ihnen zugeschriebene Verfasserschaft lebeiden Ebenen jedoch deutlich mit den jeweils verwendeten Medien. Diskursive Symbole seien solche, die idealsprachlich artikuliert werden, präsentative Symbole dagegen solche, die nicht-sprachlich, also sinnlich realisiert werden (vgl. Susanne Langer, Philosophie auf neuem Wege, Frankfurt a. M. 1987 [= Philosophy in a New Key. A Study in the Symbolism in Reason, Rite, and Art, Cambridge 1942] und Peter Bräunlein, »Bildakte: Religionswissenschaft im Dialog mit einer neuen Bildwissenschaft«, in: Brigitte Luchesi/Kocku von Stuckrad [Hrsg.], Religion im kulturellen Diskurs. Festschrift für Hans G. Kippenberg zu seinem 65. Geburtstag, Berlin u. a. 2004, S. 195–231, hier S. 196).

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gitimiert. Bei solchen Darstellungen können die diesen zugeschriebenen ›ursprünglichen‹ Verfasser im (Erzähl-)Text genannt werden. Die Textsammlung, die traditionell als ´sruti bezeichnet wird, umfasst nur solche Texte, die »[von einer Autoritätsperson] gehört wurden« und daher als über jeden Zweifel erhaben gelten.45 Die ´sruti besteht aus den vier Vedas, den ältesten Textsammlungen der vedischen Tradition, die – je nach Tradition – als »ewig« (nitya) oder von Gott (¯ı´svara) verfasst gelten.46 Andere Texte knüpfen an diese Autorität an, indem sie sich als »fünfter Veda« bezeichnen und angeben, alles relevante Wissen zu umfassen.47 Häufig werden auch von jüngeren Texten eine Gottesgestalt oder ein Seher als ihr Autor ausgewiesen. Die klassischen hinduistischen Traditionen schreiben die Autorschaft des Mah¯abh¯arata (1.1.15) sowie vieler Pur¯anas zumeist dem Seher Kr sna Dvaip¯ayana ˙ ˙˙ ˙ oder Vy¯asa zu.48 Ihre Vertreter glauben, dass dieser Seher direkten Zugang zu einem allumfassenden Wissen hatte. Manche Texte, die von Vy¯asa verfasst sein sollen, wurden – so die Texte selbst – später von einer Gottesgestalt, oft Brahm¯a, autorisiert. In anderen Fällen gilt eine Gottesgestalt selbst als Verfasser des Textes,49 die diesen Text dann an Vy¯asa oder einen anderen Seher weitergegeben haben soll. Erzählungen und Texte beinhalten zuweilen ganze Listen von Überlieferern.50 Auch heute können mythologische Stoffe nicht von beliebigen Personen auf repräsentationale Weise erzählt und weitergegeben werden. Traditionell werden sie von den ältesten Mitgliedern einer Gemeinschaft oder von Heiligen (s¯adhu) tradiert und vorgetragen.51 Die Autorität dieser Vortragenden wirkt legitimierend auf Erhalt und Aktualisierung der Erzählstoffe. Ähnliche Autoritätsmuster finden sich im Bereich von Ritual, Festen und Schauspiel. 45

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Der ´sruti-Textgruppe steht die smr·ti gegenüber. Dies sind Texte, die nur »erinnert« sind und daher weniger autoritativ als die ´sruti-Texte (vgl. Anne Keßler-Persaud, »Sanskrit Texts and Language«, in: Knut Jacobsen/Johannes Bronkhorst [Hrsg.], Brill’s Encyclopedia of Hinduism, Bd. 2, Leiden 2010, S. 3–18, hier S. 4). Ebd. Unter anderem werden das Mah¯abh¯arata, die Pur¯an·as und das N¯a·t ya´sa¯ stra als »fünfter Veda« bezeichnet (vgl. Mah¯abh¯arata 1.57.74; Ch¯andogya-Upan·is·ad 7.1.2). Vgl. Bruce M. Sullivan, Kr··s·na Dvaip¯ayana Vy¯asa and the Mah¯abh¯arata. A New Interpretation, Leiden u. a. 1990, S. 1. Vgl. z. B. Agnipur¯a·na 1.7–8. Die Bhagavadg¯ıt¯a gilt indischen Traditionen als von Kr·s·n·a selbst gesprochen (Keßler-Persaud, »Sanskrit Texts and Language«, S. 12). Solche Lehrer-Schüler-Genealogien (param · par¯a) können sehr detailliert sein (vgl. etwa Br·had¯aran· yaka-Upanis·ad 6.5). Vgl. etwa Kirin Narayan, Storytellers, Saints, and Scoundrels. Folk Narrative in Hindu Religious Teaching, Philadelphia 1989 und Narayan, Mondays on the Dark Night of the Moon.

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Anne Keßler-Persaud

Eine Möglichkeit der Legitimation für neue mythologische Texte, Comics und Fernsehserien ebenso wie für performative Darstellungen besteht im Rückbezug auf einen älteren, autoritativen Text wie etwa der ´sruti-Sammlung. Solche extern legitimierten Darstellungen verweisen durch diese ›Quellenangabe‹ auf ihre niedrigere Position in der Repräsentationshierarchie. So können sich zum Beispiel die R¯aml¯ıl¯a genannten Dramatisierungen des R¯amaErzählguts auf den mittelalterlichen Text des R¯amcaritm¯anas berufen. In dieser Zitierung zeigt sich die dem Text zugeschriebene Autorität/Repräsentativität. Für die nordindischen R¯ama-Traditionen hat das R¯amcaritm¯anas – neben anderen Texten – autoritativen oder kanonischen Charakter erlangt. Seine Strophen werden im Bezug auf das R¯ama-Erzählgut als »Beweis« oder »Bestätigung« (pram¯ana) angeführt.52 ˙ repräsentativen Mythosdarstellungen ist jedoch keiDie Hierarchie unter neswegs fixiert, sondern sowohl regional als auch geschichtlich flexibel. Heute berufen sich zum Beispiel manche Hindus auf dem Gebiet mythologischer Erzählungen nicht auf klassische Texte, sondern selbstverständlich auch und zum Teil vornehmlich auf mythologische Filme und Fernsehserien sowie auf die in diesem Aufsatz diskutierten Comic-Hefte der Amar Chitra Katha. Dieser Autoritätserwerb ist den repräsentationalen Strategien der jeweiligen Darstellungen zuzuschreiben. II.2. Präsentifizierung und Präsenzeffekte Als präsentifikatorische Aspekte einer Darstellung mythologischer Stoffe sollen hier solche Verfahren bezeichnet werden, die darauf ausgerichtet sind, eine breite Rezeption der mythologischen Erzählstoffe zu fördern. Die Frage nach präsentifikatorischen Verfahren betrifft damit direkt die Funktion oder das Funktionieren von Mythologie. Warum werden die mythologischen Darstellungen rezipiert? Für den Kontext des alten Griechenlands benennt Jan Bremmer »die reine Unterhaltung« als eine Teilmotivation: Chorlyrik mit ihrer Kombination von Musik, Tanz und Lied bot wahrhaftig ein gutes Schauspiel, und für Tausende von Athenern müssen die dramatischen Aufführungen eine willkommene Unterbrechung der langen Wintermonate gewesen sein.53

Auch für den Kontext hinduistischer Traditionen ist der Aspekt der Unterhaltung nicht zu unterschätzen. Die Bereitschaft von Laien (vor allem der 52 53

Lutgendorf, The Life of a Text, S. 10. Jan Bremmer, Götter, Mythen und Heiligtümer im alten Griechenland, Darmstadt 1996, S. 67.

Unsterbliche Bildergeschichten

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jüngeren Generation), das Erzählgut zu rezipieren, ist keine Selbstverständlichkeit. Sie hängt maßgeblich von Medium und Form ab, in denen der mythologische Erzählstoff dargeboten wird. So werden die klassischen (Sanskrit-)Texte außerhalb des professionalisierten religiösen Bereichs in der Regel nicht oder nicht als Texte rezipiert. An Ritualen und Festen, die den gleichen oder ähnlichen mythologischen Inhalt transportieren, nehmen dagegen Millionen Hindus teil. Auch mythologische Fernsehserien und Comics gehören zu derzeit erfolgreichen Darstellungsformen. Präsentifikatorische Verfahren zielen jedoch nicht allein auf religiöse Unterhaltung, sondern wollen eine Infrastruktur zur Erzeugung von Präsenzphänomenen oder -effekten bereitstellen.54 Sie ermöglichen eine »wie auch immer geartete Erfahrung der Gegenwart des Göttlichen«55 und können »den Eindruck (oder vielmehr die Illusion) hervorrufen, vergangene Welten könnten erneut greifbar werden«.56 Präsentifikatorische Verfahren können rein sprachlicher Natur sein und beispielsweise durch überzeugenden Vortrag, bildhafte Rede oder Singen von Liedern Präsenzeffekte erzeugen. Aufgrund der starken Illusionskraft des Visuellen sind viele Präsentifizierungsformen – insbesondere im hinduistischen Kontext – insgesamt bildhaften Charakters oder umfassen eine visuelle Ebene. Denn bildliche Medien sind konstitutive Faktoren in der pragmatischen Konstruktion religiöser Erfahrung. Dabei steht die Effizienz der Vergegenwärtigung einer Gottheit durch das Medium des Bildes in unmittelbarem Zusammenhang mit der medialen Präsenz, die das Bild produziert.57

Die stärkste Form der Präsentifizierung besteht im hinduistischen Kontext in der Darstellungen von Gottesgestalten, die ihren Blick auf Kultteilnehmer, Betrachter oder Zuschauer richten. Denn das oben besprochene gegenseitige »Anblicken« (dar´sana) von Gottesgestalt und Betrachter wird nicht nur als Anzeichen von Präsenz des Gottes gewertet, sondern sogar als Interaktion zwischen Gott und Betrachter.

54

55 56 57

Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a. M. 2004, S. 127. Stähli, »Die mediale Präsenz des Bildes«, S. 132. Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik, S. 115. Stähli, »Die mediale Präsenz des Bildes«, S. 132.

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II.3. Zusammenspiel von Repräsentation und Präsentifizierung Repräsentation, Präsentifizierung und das Entstehen von Präsenzeffekten sind essentiell für den Erhalt und das Funktionieren von Mythologie. Präsenzeffekte setzen in aller Regel eine präsentifikatorische Infrastruktur voraus. Die Präsentifizierung bedarf wiederum repräsentationaler Akte, um legitimiert zu sein. Beide Aspekte können von einem einzelnen Text oder einer performativen Tradition getragen werden. Zu solchen selbstreferentiellen Darstellungen können unter anderem oral tradierte Erzählungen, Theater und Liedgut vieler lokaler Traditionen zählen. Repräsentationale und präsentifikatorische Aspekte können jedoch auch unterschiedlichen Darstellungen zugeschrieben werden. Denn repräsentationale Aspekte einer Darstellung begründen lediglich die Autorität derselben und zielen auf den Erhalt des mythologischen Stoffes, nicht jedoch auf die breite Rezeption desselben. Daher muss eine repräsentationale Darstellung nicht in jedem Fall auch die Darstellung eines Mythos sein, die von den Mitgliedern einer kulturellen Gemeinschaft tatsächlich rezipiert wird. Manche Repräsentationen werden von der gesamten oder von Teilen einer solchen Gemeinschaft nicht oder nicht mehr direkt rezipiert. Sie werden von Spezialisten gehütet und tradiert. Vor allem in professionalisierten und/oder überregionalen Religionen erfüllen in der Regel stark konservierende Medien wie fixierte Texte den Aspekt der Repräsentation, während die für das Evozieren von Präsenzeffekten notwendige Präsentifizierung von visuellen oder performativen Medien getragen wird. Hier wird einem Text als Medium der Repräsentation eine Visualisierung oder temporäre Dramatisierung als Medium der Präsenz gegenübergestellt.58 Ein konkretes Beispiel kann diese Konstellation von Repräsentation und Präsentifizierung aus einer emischen Perspektive verdeutlichen. Der Maharaja Udit Narayan Singh ließ in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts einen M¯anas D¯ıpik¯a betitelten kommentierenden Text zum R¯amcaritm¯anas verfassen. Das R¯amcaritm¯anas ist ein wichtiger und hoch geschätzter Text, vor allem in den hinduistischen Traditionen Nordindiens. Er gilt vielen als repräsentativ für das R¯ama-Erzählgut. Dieser Text wird jedoch nur von wenigen Menschen gelesen.59 Stattdessen wird die von ihm erzählte Geschichte in stärker präsentifikatorisch ausgerichteten Darstellungen rezipiert. In der 58

59

Christian Kiening, »Mediale Gegenwärtigkeit. Paradigmen – Semantiken – Effekte«, in: Ders. (Hrsg.), Mediale Gegenwärtigkeit, Zürich 2007, S. 9–70, hier S. 56 weist jedoch darauf hin, dass die Beziehung zwischen Text und Bild nicht grundsätzlich eine Beziehung zwischen Repräsentation und Visualisierung ist. Lutgendorf, The Life of a Text, S. 2.

Unsterbliche Bildergeschichten

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M¯anas D¯ıpik¯a wird erklärt, dass es drei solcher Verwirklichungen des Textes gebe: die R¯aml¯ıl¯a, das Citra-R¯am¯ayana (wörtl. »das in Bildern bestehende R¯a˙ m¯ayana«) und die M¯anas D¯ıpik¯a selbst. Udit Narayanas Nachkomme be˙ schrieb 1983 das Verhältnis von Text und Darstellungen Philip Lutgendorf gegenüber: His view was that his ancestor had aspired to »bring the M¯anas to life« and communicate it to the widest possible audience. To this end he had commissioned the M¯anas d¯ıpik¯a, but when it was finished he reflected that it was too scholarly to reach the masses. Then he spent a fortune on an illuminated version, only to conclude that it too could never have a wide impact. At last he had the inspiration of his life: the overhaul of a local R¯aml¯ıl¯a into the great pageant-cycle of today. With this third tilak [dt. »Zierde] he at last achieved his goal. Concluded the maharaja, »And that is what is different about our R¯aml¯ıl¯a: it is not just a l¯ıl¯a; it is a commentary on the R¯amcaritm¯anas«.60

Diese Erklärung stellt eine deutlich hierarchische Beziehung zwischen dem Text und seinen Realisierungen her. Der fixierte Text des R¯amcaritm¯anas dient als Repräsentation, ist autoritativ.61 Er kann aber ohne Verkörperungen kein weites Publikum erreichen. Denn für die meisten Menschen ist er in seiner textlichen Form nicht rezipierbar. Jede Realisierung muss sich am Text messen, sie wird durch Rückbezug auf den Text veredelt. Je lebendiger die Präsentifizierung, desto effektiver ist sie. Erst durch solche Darstellungen in anderen als rein schriftlichen Medien wird die Geschichte R¯amas präsent, also gegenwärtig, erfahrbar und miterlebbar. Ein vergleichbares Verhältnis von Repräsentation und Präsentifizierung weisen auch die Comics der Amar Chitra Katha auf, die im Folgenden vorgestellt und analysiert werden sollen. Es wird hier jedoch zu zeigen sein, dass die kurzen, auf autoritativen Texten basierenden Bildergeschichten sowohl auf Repräsentation als auch Präsentifizierung hin angelegt sind. Die Integration dieser beiden Anliegen wird durch das Medium Comic zwar nicht vorgegeben, aber doch ermöglicht.

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Ebd., S. 330. Die Autorität des Textes zeigt sich auch in seiner materiellen Anwesenheit bei R¯aml¯ıl¯a-Aufführungen. Der den Seher Vy¯asa verkörpernde Darsteller hält auf der Bühne oft das R¯amcaritm¯anas als Buch in seinen Händen (vgl. Swann, »R¯am L¯ıl¯a«, S. 231–233).

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III. Die Comicserie Amar Chitra Katha Die Comicserie Amar Chitra Katha (ACK), im Jahr 1969 von Anant Pai gegründet,62 adaptiert die klassischen Götter- und Heldenerzählungen hinduistischer Traditionen ebenso wie die Lebensgeschichten verschiedener Dichter, Mystiker und nationaler Helden Indiens. Die einzelnen Panels sind mit Sprechblasen und umfangreichem erklärendem Text versehen, der auf Englisch verfasst ist. Nur einige ausgewählte Comic-Hefte werden in einem zweiten Schritt auch in andere Sprachen übersetzt. Die Standardhefte umfassen 32 Seiten und werden nahezu seit Beginn der Serie in Farbe gedruckt. Neben diesen Einzelheften gibt es 3-in-1- und 5-in-1-Sammelausgaben sowie bumper issues, die zumeist aus über 90 Seiten bestehen. Inzwischen umfasst die ACK ungefähr 400 Comic-Hefte, von denen laut Verleger bisher über 90 Millionen Exemplare verkauft wurden.63 Die ACK ist die erste und erfolgreichste indische Comicserie. Die höchste Zahl von Veröffentlichungen erzielte sie zwischen 1974 und 1984. In dieser Zeit wurden 23 bis 30 Titel pro Jahr verfasst.64 In den letzten Jahren sind zwar fast ausschließlich Nachdrucke erschienen, aber diese werden auch heute noch im In- und Ausland von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gelesen. Im Bereich »Mythologie« hat die ACK jedoch Ende der achtziger Jahre durch die Ausstrahlung der großen Fernsehserien des Mah¯abh¯arata und R¯am¯ayana deutlich an Absatz eingebüßt.65 ˙ III.1. Mythologie und Epos in der ACK Die Hefte der ACK sind in flexible thematische Abteilungen untergliedert. In der Umschlagklappe des Heftes Valmiki’s Ramayana (Nr. 10001, 1997)66 62

63 64 65 66

Vgl. Norbert Victor Barth, India Book House und die Comicserie Amar Chitra Katha (1970–2002). Eine kulturwissenschaftliche Medienanalyse, Würzburg 2007, S. 19; online unter: http://d-nb.info/989452212/34 (Stand: 29. 06. 2011). Angaben laut http://www.ack-media.com/ (Stand: 29. 06. 2011). Vgl. Barth, India Book House und die Comicserie Amar Chitra Katha, S. 40. Vgl. Lutgendorf, »R¯am¯ayan·a, TV Production«. Die Nummer und gegebenenfalls auch die alte Nummer eines Comics werden jeweils nach dem Titel angegeben. Während die originale Zählung der Hefte bei Nr. 11 einsetzt, folgen die Neuauflagen der ACK-Comics einer neuen Nummerierung, die mit Nr. 501 beginnt. Eine Liste der Hefte mit alter und gegebenenfalls neuer Nummerierung findet sich bei Barth, India Book House und die Comicserie Amar Chitra Katha, S. 240–252. Das Erscheinungsjahr der Erstausgabe des Comics wird nach der Nummer genannt. Alle ACK-Comics sind von Anant Pai herausgegeben und bei India Bookhouse Pvt. Ltd., Mumbai, erschienen. Die Zitate ent-

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sind die Kategorien »Mythology«, »Folktales«, »History« und »Biography« genannt. Im Media Catalogue (2009) wurden die Abteilungen weiter differenziert. Sie umfassen nun »Epics and Mythology«, »Bravehearts«, »Fables and Humour«, »Visionaries« und »Indian Classics«. Diese Kategorien werden im Media Catalogue jeweils kurz umschrieben. Die Abteilung »Epics and Mythology« ist in folgender Weise charakterisiert: Of gods and goddesses, demons and sages, princes and princesses. Stories that are our inheritance and acquaint us with our roots. The best tales from the Ramayana and Mahabharata, and also from the Puranas.67

Diese Definition umfasst einen substantialistischen, einen funktionalistischen sowie einen textualen Aspekt. Die Akteure einer Erzählung, die der ACK als »episch« beziehungsweise als »mythologisch« gilt, sind nicht menschlicher, sondern göttlicher, übermenschlicher oder gottähnlicher Natur. Weiterhin müssen diese Erzählungen dem Traditionserhalt und der Identitätsbildung dienen. Die in der ACK präsentierten Geschichten sind »das Erbe« der indischen Nation und sollen Inder(innen) mit ihren »Wurzeln« in Kontakt bringen.68 Dieser funktionalistische Aspekt verbindet alle Erzählungen der ACK miteinander. Es wird weiterhin festgelegt, welchen literarischen Genres epische und mythologische Erzählstoffe entstammen. Nur die Erzählungen des R¯am¯ayana, des Mah¯abh¯arata und der Pur¯anas, also ˙ ˙ Texte klassisch-hinduistischer Couleur, gelten der ACK als Quelle von Epos und Mythologie.69 Die Unterscheidung zwischen Epos und Mythologie wird in der oben gegebenen Definition implizit textual begründet. Durch die Reihenfolge der Nennung werden die epischen Erzählungen als solche des R¯am¯ayana und Mah¯abh¯arata bestimmt, während mythologische Geschichten ˙

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stammen, wenn nicht anders angegeben, jeweils dem einleitenden Text auf der Innenseite der Umschlagklappe der einzelnen Comic-Hefte. ACK media catalogue, online unter: http://www.amarchitrakatha.com/images/ pdf/ack_media_catalogue.pdf (Stand: 14. 11. 2009), S. 3. Zum Zeitpunkt der Drucklegung war der Media Catalogue nicht mehr online verfügbar. Dieser Anspruch wird explizit gemacht in Werbeslogans wie »Amar Chitra Katha … 5000 years of India’s Mythology, History, Legend – the Very Soul of Indian Culture« und »The Route to Your Roots« (ACK Nr. 399 bzw. 395, zitiert nach Frances Pritchett, »The World of Amar Chitra Katha«, in: Lawrence A. Babb/Susan S. Wadley [Hrsg.], Media and the Transformation of Religion in South Asia, Philadelphia 1995, S. 76–106, hier S. 81). Die Lebensgeschichte Buddhas (Nr. 510 [= Nr. 22, 1971]), Mah¯av¯ıras (Nr. 594 [= Nr. 82, 1975]), und Guru N¯anaks (Nr. 590 [= Nr. 47, 1973]) sind in der Abteilung »Visionaries« untergebracht. Die buddhistischen Vorgeburtsgeschichten ( j¯ataka) sind unter »Fables and Humour« zu finden (vgl. ACK Media Catalogue, S. 7f.).

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tendenziell den Pur¯anas entstammen.70 Eine Unterscheidung zwischen ˙ Epos, in dem (heroisierte) Menschen agieren, und Mythologie, die in der Sphäre der Götterwelt angesiedelt ist, wird nicht getroffen.71 Die Verwendung des komplexen und oft kontrovers diskutierten Terminus Mythologie als Bezeichnung für das Erzählgut hinduistischer Traditionen ist bemerkenswert. Denn diese Traditionen kennen keine Begriffe, die Mythos oder Mythologie in allen Bedeutungsfacetten entsprechen würden;72 Ähnliches gilt für das Epos.73 Die ACK verwendet den fremden Begriff Mythology und prägt ihn somit gezielt für indische Traditionen. Anders als in vielen westlichen und/oder akademischen Diskursen ist Mythology hier jedoch positiv belegt und beinhaltet keinerlei pejorative Konnotation. Durch den Namen Amar Chitra Katha, also »Unsterbliche Bildergeschichte«, wird suggeriert, dass die dargestellten Erzählungen als unvergängliche Geschichten über das Potential verfügen, eine indische (National-)Identität zu begründen. Durch ein gemeinsames Repertoire an unvergänglichen Erzählungen wird – so das Versprechen der ACK – das gemeinschaftsstiftende kulturelle Gedächtnis Indiens erhalten. Dieses national-kulturelle Anliegen zeigt sich schon in der Entstehungsgeschichte der ACK. Anant Pai, Gründer der Serie, berichtet – wohl etwas dramatisierend – von der Begebenheit, die ihn zum Verfassen der ersten ACK-Hefte inspirierte: 1967 stand der damalige Ingenieur in einem Buchladen in Delhi. Dort war auf einem Fernseher eine Quizsendung für Kinder zu sehen. Die jungen Teilnehmer konnten mit Leichtigkeit Fragen zu englischer Geschichte und griechischen Gottesgestalten beantworten,74 versagten jedoch selbst bei wenig speziellen Fragen zu hinduistischer Mythologie wie etwa bei der Frage nach dem Namen von R¯amas Mutter.75 Anant Pai war ent70

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Auch in wissenschaftlichen Analysen wird der westliche Begriff Mythos, wenn er denn übersetzt wird, zumeist mit pur¯a·na (¯akhy¯ana) in Verbindung gebracht (vgl. Keßler, »Zwischen Mythos und Ritual«, S. 207). Zum Verhältnis zwischen Mythos und Epos vgl. Fritz Graf, Griechische Mythologie. Eine Einführung, Düsseldorf 2004, Kap. 3: »Mythos und Epos«, S. 58–78. Vgl. Keßler, »Zwischen Mythos und Ritual«, S. 207f. Monier Monier-Williams gibt mah¯ak¯avya, itih¯asa und v¯ıracaritravis·aya k¯avya als Übersetzungen für ›Epos‹ an (A dictionary English and Sanskrit, London 1851, ND = Delhi u. a. 1956, S. 234). Vgl. Carina Stefanie Back, Vom rezitierten Purana zur gemalten Bildergeschichte. Informationstransfer bei der Umsetzung indischer mythologischer Überlieferung in Comics, Münster u. a. 2007, S. 16. R¯ama ist der Held des hinduistischen Epos R¯am¯ayan·a. Seine Mutter, Kausaly¯a, ist die älteste der drei Ehefrauen König Da´sarathas. Sie spielt zwar keine zentrale Rolle im Epos, zählt aber dennoch zu den wichtigeren Figuren.

Unsterbliche Bildergeschichten

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setzt darüber, dass indische Jugendliche so wenig über »hinduistische Mythologie« wussten. Er überlegte, wie dieser Missstand behoben werden könnte, und entschied sich für das Medium des Comics.76 Anant Pai setzte sich zum Ziel, indische Kinder und Jugendliche mit ihren »Wurzeln« in Kontakt zu bringen. Die ACK wird daher mit Slogans beworben wie »You want your children to know all about the culture of India. Amar Chitra Katha takes you on a trip right down to the roots of your heritage«.77 Anant Pai will der »Entfremdung indischer Kinder von ihrer eigenen Kultur« entgegenwirken.78 Diese konstatierte Entfremdung ist laut Pai vor allem auf die Kolonisierung Indiens durch die Briten und auf die Globalisierung zurückzuführen. Die ersten Hefte der ACK – vier der ersten fünf veröffentlichten Comics sind Adaptationen klassisch-hinduistischer Göttererzählungen und gehören der Kategorie Mythologie an –79 wurden kostenlos an verschiedene Schulen verteilt. Anschließend wurde das Wissen der Schüler(innen) getestet. Da die Ergebnisse Erfolg versprechend waren, abonnierten zahlreiche Schulen sowie andere Bildungsinstitutionen die Comicserie.80 Sie stellen seither einen wesentlichen Teil der Abnehmer der ACK dar. Die Hefte werden aber auch außerhalb schulischer Institutionen von Kindern, Jugendlichen sowie Erwachsenen der indischen Mittelklasse gelesen.81 Im Lauf der Jahre ist mit der ACK eine Bibliothek von Klassikern entstanden, die verschiedenste Erzählungen aus den Bereichen hinduistischer, jainistischer, buddhistischer und christlicher Traditionen82 ebenso wie Bio-

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Vgl. Pritchett, »The World of Amar Chitra Katha«, S. 76; Barth, India Book House und die Comicserie Amar Chitra Katha, S. 88 und Karline McLain, India’s immortal comic books. Gods, Kings, and Other Heros, Bloomington 2009, S. 24. Pritchett, »The World of Amar Chitra Katha«, S. 81. McLain, India’s Immortal Comic Books, S. 24. Dies sind die Hefte Krishna (Nr. 501 [= Nr. 11, 1970]), The Pandava Princes (Nr. 626 [= Nr. 13, 1970]), Savitri (Nr. 511 [= Nr. 14, 1970]) und Rama (Nr. 504 [= Nr. 15, 1970]). Vgl. hierzu Barth, India Book House und die Comicserie Amar Chitra Katha, S. 40. McLain, India’s Immortal Comic Books, S. 43. Vgl. John Stratton Hawley, »The Saints Subdued. Domestic Virtue and National Integration«, in: Babb/Wadley (Hrsg.), Media and the Transformation of Religion in South Asia, S. 107–134, insbes. S. 128. Es findet sich ein Comic Jesus Christ (Nr. 6 der »special issues« auf der »product list«). Die muslimischen Traditionen sind deutlich unterrepräsentiert. Von 436 Comic-Heften der ACK stellen nur 50 Hefte einen muslimischen Protagonisten ins Zentrum ihrer Erzählung (vgl. Aruna Rao, »From Self-knowledge to Super Heroes. The Story of Indian Comics«, in: John Lent [Hrsg.], Illustrating Asia. Comics, Humor Magazines and Picture Books, Honolulu, S. 37–63, insbes. S. 44).

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graphien nationaler Persönlichkeiten umfasst.83 Den Kern des Kulturkanons ACK bilden jedoch nach wie vor die Götter- und Heldenerzählungen hinduistischer Traditionen. Die Abteilung »Epics and Mythology« ist die zahlenstärkste84 und findet sich bei der Nennung der verschiedenen Abteilungen stets an erster Stelle, während die Reihenfolge der anderen Kategorien schwankt.85 Zudem basiert die Mehrzahl der best-selling titles auf mythologischen Erzählstoffen hinduistischer Traditionen.86 III.2. Die Repräsentationsautorität der ACK Die Comic-Hefte der ACK werden von Millionen indischer Leser(innen) als legitime und verlässliche Quelle der Hindu-Religionen und der indischen Kultur anerkannt.87 Diese Repräsentationsautorität hat sich die ACK vor allem über ihre konsequenten Quellenangaben erworben. Nahezu jedes ihrer Comic-Hefte ist in einem kurzen Text auf der Innenseite der Umschlagklappe mit Quellenverweisen versehen. Die Comics der Abteilung »Epics and Mythology« werden in diesen Klappentexten zumeist als Adaptationen literarisch fixierter Texte der klassisch-hinduistischen Traditionen ausgewiesen. Diese Quelltexte umfassen im Wesentlichen die beiden großen Epen, R¯am¯ayana und Mah¯abh¯arata, sowie die Pur¯anas, hier insbesondere das Bh¯aga˙ ˙ vatapur¯ana.88 Diese klassischen Texte sind von vielen Hindu-Gemeinschaften ˙ als autoritative Quelle hinduistischer Mythologie anerkannt.

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Trotz dieser Breite ist der Anspruch der ACK, die Kultur ganz Indiens zu präsentieren, äußerst kritisch zu betrachten (vgl. Hawley, »The Saints Subdued«, S. 130 und McLain, India’s Immortal Comic Books, S. 207–211). Der ACK media catalogue (2009) bietet 72 Einzelhefte in der Abteilung »Epics and mythology«, 58 in »Bravehearts«, 12 in »Indian classics«, 62 in »Fables and humour« und 45 in »Visionaries«. Vgl. auch Barth, India Book House und die Comicserie Amar Chitra Katha, S. 39. Vgl. unter anderem die Abteilungen auf der Homepage der ACK (http:// www.amarchitrakatha.com) sowie im ACK media catalogue, Valmiki’s Ramayana (Nr. 10001, 2005 [= 1997], S. 97) und Fn. 102. Laut Rao, Illustrating Asia, S. 44 umfassen die »limited editions« der 50 »best-selling-titles« 21 Erzählungen über hinduistische Gottesgestalten, 14 Erzählungen aus der »hinduistischen Mythologie«, 13 Comics zu historischen Persönlichkeiten, von denen je eine muslimisch, buddhistisch beziehungsweise jainistisch ist. Die letzten beiden Comics der beliebtesten fünfzig erzählen buddhistische Tierfabeln. Zur Kundenausrichtung der ACK vgl. Barth, India Book House und die Comicserie Amar Chitra Katha, S. 87. Vgl. McLain, India’s Immortal Comic Books, S. 52. Vedische Texte dienen nur sehr wenigen Comic-Heften der ACK als Quelle.

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Ausschnitte dieser und anderer Texte dienen der ACK als Grundlage zur Erstellung ihrer Bildergeschichten. Manche Comics der ACK basieren nach eigenen Angaben auf einem einzigen Abschnitt eines solchen Textes, wie etwa Tales of Vishnu (Nr. 512 [= Nr. 160, 1977]), der sich auf die Erzählung des Bh¯agavatapur¯ana beruft. Im Falle des Comics Bhagawat – The Krishna ˙ Avatar (»special issue«, 2000) wird sogar das entsprechende Kapitel angegeben. In der Umschlagklappe heißt es, dass dieser Comic »auf dem zehnten Kapitel des Bh¯agavatapur¯ana basiert«. Andere Comics sind Hybride, die auf der Grundlage mehrerer ˙Texte erstellt wurden. Der Comic Tripura (Nr. 689 [= Nr. 301, 1984]) beruft sich auf das S´ivapur¯ana und Matsyapur¯ana. Einige ˙ ˙ Comics adaptieren jedoch auch orale Traditionen. So basiert der Comic Tales of Arjuna (Nr. 525 [= Nr. 198, 1979]) laut Klappentext »auf einer in Südindien beliebten Erzählung«. In der Abteilung »Epics and Mythology« sind solche Fälle allerdings selten.89 Am Beispiel des Comics The Churning of the Ocean (dt. »Die Quirlung des Weltmeeres«; Nr. 538 [= Nr. 273, 1982]) soll nun die Texttreue der ACK verdeutlicht werden. Im Klappentext des Comics werden Bh¯agavatapur¯ana und ˙ Mah¯abh¯arata als wichtigste Quellen genannt.90 Im Folgenden wird der Vergleich der letzten zweieinhalb Seiten des Comics mit Mah¯abh¯arata 1.17.18–31 dargestellt.91 Denn dieser Textabschnitt bildet die Vorlage für den letzten Teil des Comics. Die Erzählung des Bh¯agavatapur¯ana 10.53–11.48 weicht da˙ von deutlich ab. Insgesamt folgt der Comic dem Text des Mah¯abh¯arata bemerkenswert genau. Dieser enge Textbezug wird durch die Erzählstruktur der Epen und Pur¯anas ermöglicht. Diese Texte (und insbesondere das Mah¯abh¯arata) sind ˙9293

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Einige Comics anderer Abteilungen basieren laut Klappentext auf Geschichten und Legenden, so beispielsweise Tulsidas (Nr. 551 [= Nr. 62, 1974]), Mirabai (Nr. 535 [= Nr. 36, 1972]), Tales of Shivaji (Nr. 597 [= Nr. 268, 1982]), Kabir (Nr. 623 [= Nr. 55, 1974]) und Noor Jahan (Nr. 701 [= Nr. 148, 1977]). Die entsprechenden Textabschnitte sind Bh¯agavatapur¯a·na 8.5–11 und Mah¯abh¯arata 1.17–19. Aber auch R¯am¯ayan·a, Matsyapur¯a·na und Vis··nupur¯a·na berichten von der Quirlung des Milchmeeres. Für ausführliche Referenzen zu diesem Erzählstoff siehe V. M. Bedekar, »The Legend of the Churning of the Ocean in the Epics and in the Pur¯an·as. A Comparative Study«, in: Pur¯a·na 9/1967, S. 7–61. Zur Illustration der nachfolgenden Vergleiche von Texttradition und Comic wären Bildbeispiele wünschenswert gewesen. Bedauerlicherweise verweigerte der Verlag Amar Chitra Katha Media jedoch den unbefristeten Bildabdruck.

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Anne Keßler-Persaud Mah¯abh¯arata (MBh)

ACK-Comic The Churning of the Ocean

A

MBh 1.17.18–20: Thus the terrifying tumult of war was rampant when the Gods Nara and N¯ar¯ayan·a joined the battle. The blessed Lord Vis·n·u, upon seeing the divine bow in Nara’s hand, called up with his mind his D¯anava-destroying discus. No sooner thought-of than the enemyburning discus appeared from the sky in a blaze of light matching the sun’s, with its razor-sharp circular edge, the discus Sudar´sana, terrible, invincible, supreme.92

S. 27, Panels 1–3: Der Gott Vis·n·u tritt in den Kampf zwischen Devas und Asuras ein. Er wird mit vier Armen dargestellt. In seinen Händen hält er ein Schwert, eine Keule und einen Bogen. Eine seiner Hände ist noch frei (Panel 1). Er stellt sich einen Diskus vor. Dies ist durch eine Denkblase dargestellt (Panel 2). Im nächsten Panel fliegt der Diskus Vis·n·u zu, der ihn mit seiner freien Hand auffängt (Panel 3).

B

MBh 1.17.21–24: And when the fiercely blazing, terror-spreading weapon had come to hand, God [Vis·n·u] with arms like elephant trunks loosed it, and it zigzagged fast as a flash in a blur of light, razing the enemy’s strongholds. Effulgent like the Fire of Doomsday, it felled foe after foe, impetuously tearing asunder thousands of D¯anavas and Daityas as the hand of the greatest of men let go of in the battle. Here it was ablaze licking like a fire, there it cut down with a vehemence the forces of the Asuras. Now it was hurled into the sky, then into the ground, and like a ghoul it drank blood in that war.93

S. 28, Panels 1–2: In den beiden oberen Panels sind die Asuras zu sehen, wie sie von Vis·n·us Diskus niedergestreckt werden. Ihre Arme werden abgetrennt und sie stehen in Flammen. Vis·n·u selbst ist nicht zu sehen. Nur eine seiner Hände ist abgebildet.

C

MBh 1.17.25–27: Undiscouraged, the Asuras hammered blows on the host of Gods with mountains, and the mighty warriors, their lustre fading like shredded clouds, took by the thousands to the sky. Then, like

S. 28, Panels 3–6: Die Asuras flüchten sich in den Himmel und stellen sich auf die Wolken (Panel 3). Sie schleudern Berge aus dem Himmel auf die Erde, die etwa dreimal so groß sind wie sie selbst (Panel 4).

92

93

Übersetzung von Johannes A. B. van Buitenen, The Mah¯abh¯arata, Bd. 1: Book 1. The Book of the Beginning, Chicago u. a. 1973, S. 75. Ebd., S. 75f.

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iridescent clouds, giant wooded mountains with truncated peaks came down sowing terror and crashed roaring into one another. Earth with its forests was pounded on all sides by the fall of the big mountains and began to shake as the battlefield of the warriors, who thundered upon one another, raged furiously.94

Noch in der Luft stoßen diese Berge unter lautem Donnern zusammen (Panel 5) und entwurzeln schließlich die Bäume, wenn sie auf die Erde aufschlagen. Die Erde bebt (Panel 6).

D

MBh 1.17.28–29: Now Nara darkened the pathways of the sky with his gold-tipped arrows, cleaving with feathered shafts the flying mountain peaks in the horrifying onslaught of the Asura armies. Pressed by the Gods, the grand Asuras dug into the earth and plunged into the salty sea, when they heard in the sky the raging Sudar´sana discus that shone like a roaring fire.95

S. 29, Panels 1–3: Vis·n·u mit seinen vier Armen zerstört die herabgeschleuderten Berge, indem er goldene Pfeile auf sie schießt. Die Berge zerfallen zu Staub (Panel 1) und die Asuras sind besiegt. Einige flüchten sich in die Erde, d. h. sie steigen in eine Grube hinab (Panel 2). Andere springen kopfüber in den Ozean (Panel 3).

E

MBh 1.17.30: And, having won the day, the Gods returned Mount Mand¯ara with great honour to its own site; and, thundering everywhere along skies and heaven, the clouds went as they had come.96

S. 29, Panel 4: Es sind die Götter abgebildet, wie sie den Berg Mand¯ara ehren, nachdem sie ihn an seinen alten Platz zurückgebracht haben.

F

MBh 1.17.31: The Gods hid the Elixir securely and gave themselves to the most exultant joy. And the Slayer of Vala with the other Immortals gave the treasury of the Elixir to the diademed God for safekeeping.97

S. 29, Panel 5: Die Götter fliegen zu ihren Himmelsschlössern zurück, nachdem sie den Unsterblichkeitstrunk zu sich genommen haben.

94959697

94 95 96 97

Ebd., S. 76. Ebd. Ebd. Ebd.

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schachtelartig aufgebaut.98 In die Rahmenerzählung sind Suberzählungen eingefügt, die wiederum didaktische Geschichten und mythologische Darstellungen wie zum Beispiel die »Quirlung des Milchmeeres« enthalten. Solche mythologischen Abhandlungen sind zumeist einer der Figuren der Suberzählungen in den Mund gelegt. Aufgrund der Schachtelstruktur bietet die epische und pur¯anische Literatur einige übersichtliche Darstellungen von ˙ Götter- und Heroenerzählungen, die sich relativ getreu in das Medium des Comics überführen lassen. An manchen Punkten wird der Text des Epos im Comic jedoch vereinfacht dargestellt oder gekürzt. So werden die in Mah¯abh¯arata 1.17.18 genannten Gottesgestalten Nara und N¯ar¯ayana (naran¯ar¯ayanau devau) im Comic un˙ Hier ist es nicht Nara, ter Visnu subsumiert (vgl. Zeile A und˙D der Tabelle). ˙˙ der einen Bogen in seiner Hand hält, sondern Visnu selbst. Das Götter- oder ˙˙ Seherpaar Nara-N¯ar¯ayana wurde in späteren Texten in der Tat mit Visnu ˙ ˙˙ identifiziert,99 so dass die Darstellung des Comics zwar vom Text des Maha¯ bh¯arata, nicht aber von späteren hinduistischen Traditionen abweicht. Der blutige Angriff des Gottes Vit nu wird im Mah¯abh¯arata (1.17.21–24) wort˙˙ reich beschrieben. Dieser gewalttätigen Passage entsprechen im Comic jedoch nur zwei Panels, die zudem Visnu nicht abbilden (vgl. Zeile B). Die ˙˙ Gottesgestalt ist nur auf der vorhergehenden Seite zu sehen (vgl. Zeile A). Eine solche Kürzung oder Zensur gewalttätiger Szenen, zumal wenn die Gewalt von Göttern ausgeübt wird, ist charakteristisch für die ACK.100 Das letzte Panel weicht deutlich vom Text des Epos ab. Während die Götter dem Mah¯abh¯arata gemäß den Unsterblichkeitstrunk Visnu überreichen, damit die˙˙ ser ihn schützt, trinken sie ihn dem Comic zufolge selbst und fliegen dann in ihre Himmelsschlösser zurück. Das Vorbild dieser Darstellung findet sich im Bh¯agavatapur¯ana 8.11.45. Dieser Text lässt die Götter nach dem Kampf mit ˙ den Asuras in den Himmel (trivistapa) zurückkehren.101 ˙˙ 98

99 100 101

Zur Erzählstruktur der Epen vgl. Renate Söhnen, Untersuchungen zur Komposition von Reden und Gesprächen im R¯am¯ayan·a, Reinbek 1979 und Michael Witzel, »On the Origin of the Literary Device of the ›Frame Story‹ in Old Indian Literature«, in: Harry Falk (Hrsg.), Hinduismus und Buddhismus. Festschrift für Ulrich Schneider, Freiburg 1987, S. 380–414. Vgl. Oberlies, Hinduismus, S. 52f. Vgl. McLain, India’s Immortal Comic Books, S. 110. Zu tatsächlichen Abweichungen mancher ACK-Comics vom Quelltext siehe Back, Vom rezitierten Purana zur gemalten Bildergeschichte, S. 100, und McLain, India’s Immortal Comic Books, S. 108. Das Entfernen oder ›Zensieren‹ von gewalttätigen Szenen fällt in der gesamten ACK auf. Die starke Zentrierung der Comic-Erzählungen auf einen Protagonisten oder eine Protagonistin rückt ebenfalls in den Blick.

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Der weitgehend enge Bezug der ACK-Comics zu den klassischen Texten bildet die Grundlage für die Repräsentationsautorität, die sich die ACK erworben hat. Auch in der Werbung wird die genaue textliche Recherchearbeit gepriesen. Auf der älteren Version der Homepage wurde in zwei Panels dargestellt, wie streng die editorischen Richtlinien der ACK sind.102 Der Textbezug wird hier bewusst als besonders verlässliches Qualitätskriterium eingesetzt, das keinen Zweifel an der Authentizität der Comics zulässt. Das Verhältnis zwischen Text und Comic sollte – so stünde zu erwarten – deutlich eines von Quelle und Adaptation sein, von repräsentationaler Darstellung und präsentifikatorischer Illustration. All die zitierten klassischen Texte werden in den Klappentexten der ACK jedoch deutlich als literalisierte Formen der hinduistischen Mythen behandelt. Die alten Texte werden datiert, es wird auf Interpolationen hingewiesen, Unterschiede zwischen einzelnen Textrezensionen werden benannt und verschiedene Versionen nebeneinander gestellt. In Bhagawat – The Krishna Avatar (»special issue«, 2000) wird etwa das Bh¯agavatapur¯ana datiert: ˙ Although composed in the era before Christ, the Bhagawat Purana in its present form is dated by most scholars to the sixth century AD and its tenth chapter to the tenth century AD.103

In Valmikis’s Ramayana (Nr. 10001, 2005) wird das letzte Kapitel des alten Textes als Interpolation charakterisiert, ebenso wie die Strophen, welche R¯ama als Inkarnation Visnus bezeichnen: »In the Puranas, Rama is described ˙˙ as an avatar of Vishnu, but Valmiki does not refer to him as a God. The few verses which do so are considered interpolations.« In Ganesha (Nr. 509 [= Nr. 89, 1975]) wird das mythologische Faktum der Geburt Gane´sas mit ˙ den vielen Versionen der Pur¯anas kontrastiert: »The legends surrounding the ˙ birth and exploits of Ganesha are many. Every Purana narrates a different version of the same incident.« Ebenso wird in The Churning of the Ocean auf verschiedene Quellen der Erzählung hingewiesen: »with minor variations […] found in the Puranas as well as in the two epics«. In Krishna and Narakasura (Nr. 522 [= Nr. 167, 1978]) werden Unterschiede zwischen der Version des Bh¯agavatapur¯ana und einer südindischen Erzählung (»story«) genannt. ˙ 102

103

Homepage der ACK, http://www.amarchitrakatha.com/main_page/main. asp?cid=2 (Stand: 06/2005; zum Zeitpunkt der Drucklegung war die Internetseite in dieser Form nicht mehr verfügbar). Wie bei den verschiedenen Abteilungen der ACK wird auch bei den Regalbeschriftungen im linken Panel »Mythology« an erster Stelle genannt. Bhagawat – The Krishna Avatar, »special issue« der ACK, 2000, Innenseite der vorderen Umschlagklappe.

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Die ACK positioniert sich in dem Gefüge von repräsentationalen Texten nicht in erster Linie als Adaptation dieser Texte. Vielmehr wird die Serie als ein weiterer Schritt in der literarischen Tradition Indiens kommuniziert. Sie stellt sich als ebenso authentisch dar wie die alten Texte. So wird die ComicAusgabe des großen Epos Mah¯abh¯arata angekündigt als »acknowledged as an authentic source«.104 Der Comic The Churning of the Ocean wird, nachdem Unterschiede und Widersprüche zwischen den zugrunde liegenden Texten aufgezeigt wurden, im Klappentext als »unsere Version« bezeichnet.105 Auf diese Weise hat sich die ACK eine eigene Repräsentationsautorität erworben. Die Hefte dieser Serie dienen – ganz wie vom Herausgeber intendiert – vielen Inder(inne)n vor allem der Mittelschicht sowie auch Auslandsinder(inne)n als verlässliche und zuweilen als geradezu autoritative Quelle klassischreligiösen Erzählguts. III.3. Präsentifizierung als Projekt der ACK In ihrem eigentlichen Projekt, der religiösen Bildung von Kindern und Jugendlichen und der Förderung einer breiten Rezeption hinduistischer Mythologie, ist (oder war) die ACK (über Jahrzehnte) ebenso erfolgreich wie in ihrem Authentizitätsanspruch. Gerade in den Kleinfamilien der Mittelschicht haben die Comics die Aufgabe der Überlieferung hinduistischer Mythologie, die in den traditionellen joint families bei der jeweils ältesten Generation lag, zum Teil übernommen. Dies wird bei den im Ausland lebenden Inder(inne)n noch deutlicher: Frances Pritchett, Professorin für Hindi und Urdu an der Columbia University, berichtet in einem Aufsatz von 1995, dass die ACK für ihre indischen Studierenden – und besonders für die zweite Generation der Emigranten – die wichtigste Zugangsquelle zur traditionellen hinduistischen Mythologie war.106 Für die indische community in Pittsburgh berichtet Narayanan: 104

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106

ACK, Nr. 408, S. 32, zitiert nach Pritchett, »The World of Amar Chitra Katha«, S. 87. Der Text auf der Innenseite der vorderen Umschlagklappe lautet: »This popular tale with minor variations is found in the Puranas as well as in the two epics. There is some difference, however, regarding the number of the articles which appeared from the ocean of milk. The Ramayana, the Mahabharata and the Padma Purana specify the number as nine, while the Bhagavata [Purana] specifies it as ten, the Vayu Purana as twelve and the Matsya Purana as fourteen. Similarly, there are slight differences regarding the role of the asura, Rahu. Our version is derived mainly from the Bhagawat [sic!] Purana and the Mahabharata« (The Churning of the Ocean, ACK Nr. 538, 1999). Vgl. Pritchett, »The World of Amar Chitra Katha«, S. 76.

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[T]here may be an entire generation of young Hindus growing up in this country [scil. USA] who have been educated on the myths recounted by Amar Chitra Katha, India’s best-known ›classic comic‹ series.107

Die ACK schließt eine Lücke in der Tradierung hinduistischer Mythologie. Die alten Texte, die in den Comics als Referenz angegeben werden, sind für viele Hindus, unter ihnen die breite Masse der Leserschaft der ACK, nicht direkt rezipierbar. Die meisten der klassischen, oft auf Sanskrit verfassten Texte waren schon traditionell nicht zur individuellen Lektüre konzipiert. Heute sind zudem nur die wenigsten des Sanskrit mächtig.108 Aber auch Schriften auf Hindi oder Tamil sind für viele Auslandsinder(innen) der zweiten und dritten Generation in einer Fremdsprache geschrieben. Die Bildergeschichten der ACK stellen für diese Gruppe einen willkommenen Zugang zu hinduistischer Mythologie dar, sind sie doch auf Englisch verfasst.109 Die Wahl dieser Sprache konveniert weiterhin vielen Familien, die zuhause eine indische Sprache sprechen, ihre Kinder jedoch anhand englischer Literatur erziehen möchten. Parents wanted their children to learn English, and be ready for an increasingly westernized world, but were uneasy about the lack of traditional cultural knowledge that this lifestyle resulted in. Amar Chitra Katha provided a way for parents to accomplish the task of cultural education with little effort. In this way, Amar Chitra Katha played an important part in the transmission of traditional stories and myths.110

Die Beliebtheit der ACK beruht jedoch nicht nur auf ihrem Bildungsanspruch und -erfolg. Die wichtigsten Faktoren, also die im engeren Sinn präsentifikatorischen Strategien der ACK, sind die Bildlichkeit des Mediums, die Faktizität, mit der die göttlichen und oft übernatürlichen Handlungen dargestellt

107

108

109

110

Vasudha Narayanan, »Hinduism in Pittsburgh. Creating the South Indian ›Hindu‹ Experience in the United States«, in: John Hawley/Vasudha Narayanan (Hrsg.), The Life of Hinduism, Berkeley 2006, S. 231–248, hier S. 241. Der Census of India 2001 (http://www.censusindia.net; Stand: 15. 06. 2010) zählt zwar 14 135 Personen, die Sanskrit als ihre Muttersprache angeben, vgl. hierzu jedoch Keßler-Persaud, »Sanskrit Texts and Language«, S. 17. Englisch ist die einzige Sprache, die (abgesehen von Sanskrit als elitärer lingua franca) in ganz Indien sowie unter den meisten im Ausland lebenden Inder(inne)n verbreitet und akzeptiert ist. Während Hindi in Südindien oft als oktroyierte Sprache gesehen wird, genießt das Englische in der gesamten indischen Republik Verbreitung und ausreichende Akzeptanz. Diese Sprache wird in der Regel nicht in erster Linie als Symbol der Kolonialisierung angesehen, sondern vor allem als ›Bildungssprache‹. Rao, »From Self-knowledge to Super Heroes«, S. 43.

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werden, und die auf Identifikation angelegte storyline. Diese Elemente bilden eine Infrastruktur für Präsenzphänomene. Die Handlungen der Gottesgestalten, wie sie von den klassischen Texten dargestellt werden, wurden nicht von Beginn der ACK an als reale Begebenheiten präsentiert. Während der Anfangsphase der Serie versuchte Anant Pai, die übernatürlichen Ereignisse, von denen die alten Erzählungen berichten, zu rationalisieren. Denn er selbst versteht solche Ereignisse als »symbolisch«. Über die Quirlung des Milchmeeres sagt er etwa: The Ocean of Milk, it is churned in search of nectar, but first poison comes out, not nectar. This is symbolic. It means that daring to doubt your faith brings you uncertainty and unhappiness also. This is the poison. But if you keep churning, then all your doubts eventually become clear, and you receive the amrit – the nectar – finally.111

Wie das Quirlen des Milchmeeres, so ist auch das Anheben des Berges Govardhana ein übernatürliches Element einer hinduistischen Erzählung, welches Pai als symbolisch interpretiert. In der ersten Auflage des ersten Heftes der ACK, Krishna, wurde nicht abgebildet, wie Kr sna den Berg anhebt.112 Die ˙˙ ˙ Rationalisierung dieses zentralen Elements der Kr sna-Legende fand jedoch ˙ ˙ wurden daher auch bei den Leser(inne)n der ACK keinen Anklang. ˙Bald übernatürliche Elemente der alten Erzählungen in den Comics als reale Ereignisse dargestellt.113 Die ACK gibt – wie auch die alten Texte – keine symbolischen Interpretationen der mythischen und/oder epischen Handlungen. Übernatürliche Ereignisse werden in beiden Medien als real und logisch dargestellt. Denn beide Erzählweisen zielen auf Effekte von Wissen und Präsenz, nicht auf solche von (interpretativ hergestelltem) Sinn.114 Die Comics der ACK machen ihrem Publikum die mythologischen Stoffe jedoch zunächst nur mit dem Anspruch verfügbar, zur Kenntnis der Mythologie zu verhelfen. Weder in der Werbung noch in den Umschlagklappen der ACK wird kommuniziert, dass durch die Comics der ACK (religiöse) Präsenzeffekte erzeugt werden sollen. Ganz im Gegenteil wird in den Werbeslogans nur der Bildungscharakter der Comics hervorgehoben. Es wird nicht angekündigt, dass durch die Rezeption der Bildergeschichten religiöses Ver111 112 113

114

Vgl. McLain, India’s Immortal Comic Books, S. 35. Zu »übernatürlichen Ereignissen« vgl. auch ebd., S. 49f. In der ACK sind mythologische ebenso wie historische Comics erschienen. Auch dies lässt die in den mythologischen Comics dargestellten Handlungen als real erscheinen (vgl. McLain, India’s Immortal Comic Books, S. 51). Vgl. dazu Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik.

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dienst erworben würde. Und die Texte der Comic-Hefte sind nicht für einen rituellen Gebrauch gedacht.115 Weiterhin findet sich in den Klappentexten der Comics, die mir zur Verfügung stehen, kein expliziter Verweis auf eine Anwesenheit der Gottesgestalten in den Bildern. Diese Darstellungen sind keine von Göttern ›bewohnten‹ Kultbilder, die durch die pratisth¯a-Zeremonie ˙˙ installiert wurden.116 Die Titelseiten der ACK zeigen die Gottesgestalten daher in aller Regel nicht frontal. Der für dar´sana notwendige Augenkontakt zwischen Gott und Leser ist in diesen Fällen unmöglich. Es finden sich allerdings innerhalb mancher Comics Panels, die diesen Kontakt zulassen, manchmal geradezu fordern. Tales of Vishnu (Nr. 512 [= Nr. 160, 1978], S. 7) und Sati and Shiva (Nr. 550 [= Nr. 111, 1976], S. 3, 20 und 30) bieten Darstellungen der entsprechenden Gottesgestalten, die einen Augenkontakt herstellen und so das in hinduistischen Religionen zentrale dar´sana der Götter auch während der individualisierten Lektüre der Comics ermöglichen. Der Comic Ganesha (Nr. 509 [= Nr. 89, 1975]) verlangt diese visuelle Berührung nachdrücklich. Denn das Heft schließt mit einer Darstellung des elephantenköpfigen Gottes und seiner Mutter Parvat¯ı, bei der beide in der für Kultbilder typischen frontal ausgerichteten Haltung den Leser direkt ansehen. Auch die Handgesten entsprechen weitgehend den für Kultbilder und ›Götterposter‹ gebräuchlichen.117 Solche Abbildungen können, zumal im Kontext der Geburtsgeschichte eines Gottes, Präsenzeffekte erzeugen. Die Comic-Hefte der ACK werden oft in devotionaler Stimmung gelesen und von vielen Hindus als legitimes Tor zu göttlicher und epischer Welt gesehen – auch wenn sie nicht explizit als solches beworben werden. Einige Leser(innen) bewahren die Hefte im Hausschrein auf und schlagen sie wie traditionelle Texte in Tücher ein.118 Die Art der möglichen Präsenzeffekte, also einer geglaubten Anwesenheit der entsprechenden Gottheit im Comic, kann mit den durch Götterposter erzeugten verglichen werden.119 Während die pratisth¯a-Zeremonie bei der In˙˙ 115 116 117

118 119

Vgl. McLain, India’s Immortal Comic Books, S. 16f. Vgl. ebd., S. 16f. Eine reich bebilderte Analyse der in Himachal Pradesh verwendeten Götterposter und Kalenderkunst gibt Brigitte Luchesi, »Dar´san-Bilder: Hinduistische Verehrungspraxis und populäre Poster in Nordindien«, in: Bärbel Beinhauer-Köhler (Hrsg.), Religiöse Blicke – Blicke auf das Religiöse. Visualität und Religion, Zürich 2010, S. 201–225. Vgl. McLain, India’s Immortal Comic Books. Rao vergleicht die Bildästhetik der ACK-Comics mit der der populären Götterposter: »Most illustrators […] have developed a vigorous, cinematic style that resembles calendar art, or film posters, but do not depart radically from western styles« (Rao, »From self-knowledge to super heroes«, S. 40).

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stallation von Kultbildern in Tempeln unerlässlich ist, werden im populären Bereich hinduistischer Traditionen Götterposter, die in nahezu jedem Hausschrein und jeder Rikshaw zu finden sind, auch ohne eine solche rituelle Installation durch religiöse Spezialisten als verehrungswürdig erachtet.120 Die Götterposter wie auch die Comics, deren Darstellungsweisen sich in der Regel an der klassischen Ikonographie ausrichten, profitieren jedoch von dem institutionalisierten Bereich hinduistischer Religionen, die Phänomene von Präsenz rituell aufbauen. Durch den zumeist ikonischen Kult und das Paradigma des Sehens von Göttern (dar´sana) ist Bildlichkeit in weiten Teilen der hinduistischen Traditionen hoch bewertet. In den Comics wird den Rezipienten neben dem Sehen der Gottesgestalten auch ein Miterleben göttlicher oder mythologischer Handlungen ermöglicht. Die Handlungen, wie sie in den Comics präsentiert werden, sind an stereotypen Schemata ausgerichtet. Die ACK lehnt sich hier an das Genre der amerikanischen Superhelden-Comics an. In der Mehrzahl der Bildergeschichten findet sich eine Gottesgestalt oder ein Held, der als zentrale Identifikationsfigur dient. So lassen sich, um ein Beispiel anzuführen, die Erzählungen, die sich um den Lebensweg des epischen Helden R¯ama ranken, aus der Perspektive unterschiedlicher Einzelcharaktere erleben. Die Quellentexte, die den entsprechenden Comics zugrunde liegen, rücken dabei in den Hintergrund. Denn die ACK präsentiert in der Mehrzahl ihrer Hefte keine Texttraditionen,121 sondern jeweils an Indian hero who will be instantly likeable in his formulaic characterization and a storyline that will be immediately understandable and reassuring in its formulaic pattern in which good battles evil.122

Die verschiedenen Texttraditionen, Epochen- und Genreunterschiede sowie der unterschiedliche religiöse Status dieser Texte werden dem Protagonisten eines Comics in aller Regel untergeordnet. So erschien im Jahr 1998 beispielsweise ein 5-in-1-Heft Stories of Rama (Nr. 1005, 1998). Es umfasst die Comics Ancestors of Rama (Nr. 572 [= Nr. 122, 1977]), Dasharatha (R¯amas Vater, Nr. 570 [= Nr. 105, 1976]), Rama (Nr. 504, [= Nr. 15, 1970]), Hanuman 120

121

122

Vgl. H. Daniel Smith, »Impact of ›God posters‹ on Hindus and their devotional traditions«, in: Babb/Wadley (Hrsg.), Media and the Transformation of Religion in South Asia, S. 24–50, insbes. S. 36f. Es gibt jedoch auch Comics, die den Text nicht dem Protagonisten des Comics unterordnen, sondern einen Text in den Mittelpunkt stellen. Zu diesen Comics zählen The Mahabharata (40 Bde.), The Gita (Nr. 505 [= Nr. 127, 1977]), Mahabharata (Nr. 582 [= Nr. 20, 1971]), Valmikis’s Ramayana (Nr. 10001, 2005) und Tulsidas’ Ramayana – Ram Charit Manas (»special issue«, 2007). McLain, India’s Immortal Comic Books, S. 14.

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(Nr. 502, [= Nr. 19, 1971]) und The sons of Rama (Nr. 503 [= Nr. 18, 1971]). Der erste Teil des Heftes, Ancestors of Rama, basiert auf K¯alid¯asas Drama Raghuvam´sa (5. Jh.), welches der orthodoxen Tradition zu keinem Zeitpunkt als ˙ religiös verbindlich galt. Dasharatha, Rama und Hanuman wurden dagegen auf Grundlage von V¯alm¯ıkis R¯am¯ayana erstellt, dem ältesten überlieferten R¯a˙ m¯ayana-Text (5. Jh. v. Chr.–4. Jh. n. Chr.). The sons of Rama stellt wiederum eine ˙ Adaptation des Sanskrit-Schauspiels Uttarar¯amacarita des Bhavabh¯uti (8. Jh.) dar.123 Durch die Zentrierung der Erzählung auf einen – göttlichen oder heldenhaften – Protagonisten wird die Identifikation mit demselben gefördert. Die Gottesgestalten sind nicht in der Ferne angesiedelt, sondern werden greifbar. Auch dieses Charakteristikum der Comics ist präsentifikatorisch.

IV. Resümee Der große Erfolg der Comicserie Amar Chitra Katha, der sich auch in der vielfältigen wissenschaftlichen Aufmerksamkeit spiegelt, die dieser Serie in den letzten Jahrzehnten zuteil geworden ist, beruht, so die These des vorliegenden Aufsatzes, auf einem Gleichgewicht von repräsentationalen und präsentifikatorischen Aspekten der Darstellung mythologischer Stoffe. Durch den engen Textbezug und den vergleichsweise hohen Anteil an erklärendem Text in den Panels hat sich die Serie eine eigene Repräsentationsautorität erworben. Der Textbezug beziehungsweise der zitierte Primärtext werden in den meisten Fällen jedoch nur in der Werbung und in der Einleitung der einzelnen Comics erwähnt. Titel und Hauptteil stellen dagegen zumeist eine(n) Protagonisten/in in den Mittelpunkt. Die Zentrierung der Handlung auf eine Identifikationsfigur und die stereotypen Handlungsschemata sowie vor allem die Bildlichkeit bieten den Leser(inne)n der ACK eine Infrastruktur für das Entstehen von Präsenzeffekten. Visualisierungen als mediale Strategie sind in den hinduistischen Religionen fest etabliert. Sie bilden ein Fundament für die Konzipierung von Kultbildern, Götterstatuen, Ritualen und Schauspielen. Die klassischen Traditionen evozieren durch solche Darstellungen der Gottesgestalten auf institutionalisierte, oft rituelle Weise Präsenzeffekte, die sich insbesondere im Moment des dar´sana, des gegenseitigen Anblickens von Gottesgestalt und Gläubigem/r, zeigen.

123

Vgl. Pritchetts (»The World of Amar Chitra Katha«, S. 82–85) Analyse der Stories from the Ramayana (Navaratna, Nr. 2).

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Die ACK knüpft implizit an solche Präsentifizierungsformen an. Denn die Darstellung der hinduistischen Götter folgt der klassischen Ikonographie. Insbesondere die – wenn auch seltenen – Frontaldarstellungen der Gottesgestalten in den Comic-Heften ermöglichen das Entstehen von Präsenzeffekten. Die Bildlichkeit des Mediums Comic dient im indischen Kontext somit nicht primär der leichteren Rezipierbarkeit der mythologischen Erzählungen, sondern passt sich in die mediale Praxis hinduistischer Traditionen ein. Im Verlauf der Entwicklung der ACK gestand man allerdings den repräsentationalen Aspekten mehr und mehr Raum zu. »After a while […] the comics began to seem as dry and dusty as the historical texts they were based on.«124 Diese Tendenz begann mit der Herausgabe der 40-teiligen Mah¯abh¯arata-Serie. Das erste Heft wurde 1985, das letzte 1989, vier Jahre später, gedruckt und vielfach kritisiert.125 Die Tendenz, den Quelltext auch im Hauptteil der Comics bemerkbar und sichtbar zu machen, setzt sich bis in die Gegenwart fort. So wurde etwa im Jahr 1997 eine ausführliche Adaptation des Sanskrit-R¯am¯ayana erstellt. Im Titel des Comics wird nicht der ˙ Held R¯ama oder ein anderer Protagonist genannt, sondern Autor und Name des klassischen Textes: Valmikis’s Ramayana. Dieser Comic ist mit 95 statt 32 Seiten etwa dreimal so umfangreich wie die regulären Hefte der ACK. Es finden sich Seitenzahlen, Kopfzeilen, erklärende Fußnoten und deutlich mehr Paneltext als in dem Comic-Heft Rama (Nr. 504 [= Nr. 15, 1970]), welches dieselbe Erzählung behandelt und zu den ersten Heften der ACK zählt. In jüngster Zeit ist ein weiterer Comic aus dem Bereich des R¯ama-Erzählguts erschienen, der den Quelltext noch stärker in den Vordergrund rückt. Auch hier sind Autor und Titel genannt: Tulsidas’ Ramayana – Ram Charit Manas (»special issue«, 2007). Dieser Comic ist in fünf Kapitel untergliedert und umfasst insgesamt 160 Seiten. Neben Seitenzahlen, Kopfzeilen, umfangreichen Fußnoten und sehr viel erklärendem Panel-Text finden sich als Abschluss jeden Kapitels – dies ist ein Novum – Originalzitate auf Avadh¯ı, dem nordindischen Dialekt, in dem das R¯amcaritm¯anas verfasst ist, sowie ihre englische Übersetzung. Diese Ausrichtung der Comics auf den zugrunde liegenden Text läuft der medialen Präsenz, welche die Bilder produzieren, zuwider.126 Herstellung und Erhalt der durch engen Textbezug erworbenen Repräsentationsautorität 124 125 126

Rao, »From Self-knowledge to Super Heroes«, S. 46. Vgl. McLain, India’s Immortal Comic Books, S. 46. Vgl. Rao, »From Self-knowledge to Super Heroes«, S. 46.

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der ACK sind auf Kosten der Präsentifizierung mythologischer Stoffe im Verlauf der Jahre deutlich in den Vordergrund gerückt. Die junge Tradition der ACK-Comics, ein Element von Präsenzkultur, befindet sich in einem Prozess der Umstellung hin zu einem repräsentationalen Medium – ein Prozess, den auf ähnliche Weise viele Erzähltraditionen des indischen Subkontinents durchlaufen (haben), die letztlich verschriftlicht werden/wurden.

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Autorinnen und Autoren

Autorinnen und Autoren

Dr. des. Antonia Eder; Germanistik, Universität Genf; Veröffentlichungen (Auswahl): »›L’amour et la haine‹. Hysterie als poetologische Re-Mythisierung in Hofmannsthals Elektra«, in: George/Rudolph/Witte (Hrsg.), Die Atriden. Literarische Präsenz eines Mythos (2009); »Pentheus’ Labyrinth. Autorität als Raum- und Textmodell in Hofmannsthals Pentheus-Fragment«, in: Colloquium Helveticum 41 (2010); Der Pakt mit dem Mythos. Hugo von Hofmannsthals ›zerstörendes Zitieren‹ von Nietzsche, Bachofen, Freud (in Drucklegung). PD Dr. Wolfram Ette; Neuere Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft, Technische Universität Chemnitz; Veröffentlichungen (Auswahl): Freiheit zum Ursprung. Mythos und Mythoskritik in Thomas Manns JosephsTetralogie (2002); »Aggregat Leben. Ovid und Alexander Kluge«, in: Komparatistik. Jahrbuch der DGAVL (2009/2010); Kritik der Tragödie. Über dramatische Entschleunigung (2011). JProf. Dr. Bent Gebert; Deutsche Literatur mit Schwerpunkt Mittelalter, Universität Konstanz; Veröffentlichungen (Auswahl): »Sinnwenden. Thesen und Skizzen zu einer Archäologie tropologischer Mythoskonzepte«, in: Jamme/Matuschek (Hrsg.), Die mythologische Differenz. Studien zur Mythostheorie (2009); »Beobachtungsparadoxien mediävistischer Mythosforschung«, in: Poetica 43 (2011); Mythos als Wissensform. Epistemik und Poetik des ›Trojanerkriegs‹ Konrads von Würzburg, Berlin 2013. Selma Jahnke, M.A.; Deutsche Literatur, Humboldt-Universität zu Berlin; Veröffentlichungen: »›Liederreich‹ oder ›liederlich‹ – Die Begegnung Adelbert von Chamissos mit Helmina von Chézy im Jahr 1810 als Inszenierung von Liedern in Briefen«, in: Federhofer/Weber (Hrsg.), Korrespondenzen und Transformationen. Neue Perspektiven auf Adelbert von Chamisso (2013); »Eine Schriftstellerin überquert den Rhein. Helmina von Chézys nachträgliche Abgrenzung vom französischen Rollenmodell der Madame de Genlis«, in: Busch/Hengelhaupt/Winter (Hrsg.), Französisch-deutsche Kulturräume um 1800. Bildungsnetzwerke – Vermittlerpersönlichkeiten – Wissenstransfer (2012). Tobias Keiling, Ph.D.; Philosophie, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br./SFB 1015, Muße; Veröffentlichungen (Auswahl): »Dekonstruktion und Phänomenologie mythologischer Differenzen«, in: Jamme/Matu-

Autorinnen und Autoren

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schek (Hrsg.), Die mythologische Differenz. Studien zur Mythostheorie (2009); »Kunst, und doch Methode? Überlegungen zu Husserl, Heidegger und Gadamer«, in: Phänomenologische Forschungen (2010); »Ort und Zeit im Meridian. Heidegger in Derridas Celan-Interpretation«, in: David Espinet (Hrsg.), Schreiben. Dichten. Denken. Heidegger und die Literatur (2010); Heideggers ›Ursprung des Kunstwerks‹. Ein kooperativer Kommentar (2011; Hrsg. zus. mit David Espinet). Anne Keßler-Persaud, M.A.; Indologie, Georg-August-Universität Göttingen; Veröffentlichungen (Auswahl): »Zwischen Mythos und Ritual. Die Rezitation des S¯ury¯as¯ukta im Hochzeitsritual vedischer und hinduistischer Traditionen«, in: Jamme/Matuschek (Hrsg.), Die mythologische Differenz. Studien zur Mythostheorie (2009); »Sanskrit texts and language«, in: Jacobsen (Hrsg.), Brill’s Encyclopedia of Hinduism (2010); »›Praj¯apati is the glory in a woman‹. The rites of procreation in the Taittir¯ıya Gr hyas¯utras’ marriage ritual«, ˙ in: Zeitschrift für Indologie und Südasienstudien 28 (2011). Prof. Dr. Stefan Matuschek; Neuere deutsche Literatur/Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Friedrich-Schiller-Universität Jena; Veröffentlichungen (Auswahl): »Mythos-Begriff und vergleichende Literaturanalyse«, in: Schmitz-Emans/Lindemann (Hrsg.), Komparatistik als Arbeit am Mythos (2004); Die mythologische Differenz. Studien zur Mythostheorie (2009; Hrsg. zus. mit Christoph Jamme); »Was heißt ›Mythologisieren‹? Oder: Warum und wie sich die romantische Neue Mythologie der Aufklärung verdankt«, in: Ries (Hrsg.), Romantik und Revolution. Zum Reformpotential einer unpolitischen Bewegung (2012). Uwe Mayer, M.A.; Anglistische Literatur- und Kulturwissenschaft, JustusLiebig-Universität Gießen; Veröffentlichungen (Auswahl): »Der Mythos, das Eigene und das Fremde. Strategien literarischer Mythosrezeption«, in: Jamme/Matuschek (Hrsg.), Die mythologische Differenz. Studien zur Mythostheorie (2009); »Writing Ireland. Zur literarischen Verhandlung nationaler Identität in Werken von William Butler Yeats, James Joyce und Seamus Heaney«, in: Altnöder/Nünning/Hallet (Hrsg.), Schlüsselthemen der Anglistik und Amerikanistik. Key Topics in English and American Studies (2010); »Anders-Identität zwischen Eigenem und Fremdem. Dramatische Mythosrezeption in Sarah Kanes ›Phaedra’s Love‹«, in: Altnöder/Lüthe/Vejmelka (Hrsg.), Identität in den Kulturwissenschaften. Perspektiven und Fallstudien zu Identitäts- und Alteritätsdiskursen (2011).

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Autorinnen und Autoren

Dr. Björn Reich; Germanistische Mediävistik, Humboldt-Universität zu Berlin; Veröffentlichungen (Auswahl): »Helena und der Gral. Trojamythos und Adelskritik«, in: Corbellari [u. a.] (Hrsg.), Mythes a la cour, mythes pour la cour (Courtly Mythologies) (2010); Name und maere. Eigennamen als narrative Zentren mittelalterlicher Epik. Mit exemplarischen Einzeluntersuchungen zum Meleranz des Pleier, Göttweiger Trojanerkrieg und Wolfdietrich D (2011); »Die Farbe der Erinnerung«, in: Bennewitz/Schindler (Hrsg.), Farbe im Mittelalter. Materialität – Medialität – Semantik (2011; zus. mit Isabel Habicht). Anja Schwennsen, M.A.; Sprach- und Literaturwissenschaft, Hamburg. Professor Robert A. Segal, PhD; Religious Studies, University of Aberdeen; Veröffentlichungen (Auswahl): The Myth and Ritual Theory. An Anthology (1998, Hrsg.); Myth. Critical Concepts in Literary and Cultural Studies (2007); Mythos. Eine kleine Einführung (2007). Prof. Dr. Annette Simonis; Allgemeine und Vergleichende Literaturund Kulturwissenschaft, Justus-Liebig-Universität Gießen; Veröffentlichungen (Auswahl): Literarischer Ästhetizismus. Theorie der arabesken und hermetischen Kommunikation der Moderne (2000); Mythen in Kunst und Literatur. Tradition und kulturelle Repräsentation (2004, Hrsg. zus. mit Linda Simonis); Intermedialität und Kulturaustausch. Beobachtungen im Spannungsfeld zwischen Künsten und Medien (2009, Hrsg.). Christian Voller, M.A.; Europäische Kulturgeschichte, Ruhr-Universität Bochum; Veröffentlichungen: »Das Augenhorn der Schnecke. Ein physiognomischer Essay«, in: Beltrand-Vidal/Hagestedt (Hrsg.), Les Carnets Bd. 11. Œuvres et correspondances. Dialogues d’Ernst Jünger (2012); »Im Zeitalter der Technik? – Technikfetisch und Postfaschismus«, in: Elbe [u. a.] (Hrsg.), Anonyme Herrschaft. Zur Struktur moderner Machtverhältnisse (2012). Prof. Dr. Bernhard Zimmermann; Klassische Philologie, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br.; Veröffentlichungen (Auswahl): Die griechische Tragödie (1986; 3. Auflage 2005); Dithyrambos. Geschichte einer Gattung (1992; 2., um ein Vorwort erweiterte Auflage 2008); Europa und die griechische Tragödie. Vom kultischen Spiel zum Theater der Gegenwart (2000).