Zeitmontagen: Formen und Funktionen gezielter Anachronismen 3515123660, 9783515123662

Anachronismen werden üblicherweise als Fehler in der zeitlichen Zuordnung verstanden und können tatsächlich aus Unkenntn

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Table of contents :
INHALT
(Antje Junghanß / Bernhard Kaiser / Dennis Pausch)
Einleitung
MITTEL DER ZEITBESTIMMUNG
(Christoph Schubert)
Anachronismen in der lateinischen Pseudepigraphie
der späteren Antike
(Anja Wolkenhauer)
Wann starb Kaiser Claudius? Über das semantische
und epistemische Potential von Zeitbestimmungen
am Beispiel der Apocolocyntosis
LEGITIMATIONSSTRATEGIEN
(Karen Piepenbrink)
‚Zeitmontagen‘ in der Gesetzgebung Justinians I
(Stefan Fraß)
Warum Kleisthenes nicht der Begründer der Demokratie sein konnte.
Erinnerungskulturelle Anachronismen und die Legitimation
der demokratischen Ordnung im klassischen Athen
(Ross Brendle)
Archaism and Anachronism on Panathenaic Prize Amphorae
(Anke Walter)
iamque dies, nisi fallor, adest – Aeneas und der römische Kalender
VERFREMDUNGSEFFEKTE
(Philipp Geitner)
Unzeitige Gegenwart – Der Anachronismus
in Ovids „Metamorphosen“
(Markus Kersten)
Literaturgeschichte im historischen Epos.
Anachronismen, Realismus und Metapoetik
(Rachel Bryant Davies)
An anachronasm or blunder? Dibdin’s Melodrama Mad!
and the Siege of Troy as British history on the nineteenth-century
London stage
ANACHRONIEN ALS LITERARISCHE TECHNIK
(Alfred Lindl) nunc ad temporum ordinem redeo – Narrative Zeitmontagen in Tacitus’ Nerobüchern
(Irene Polinskaya)
The Distant Present and the Near Past. The Mounting of Time
in the Herodotean Aiginetikos Logos
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Zeitmontagen: Formen und Funktionen gezielter Anachronismen
 3515123660, 9783515123662

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Zeitmontagen Formen und Funktionen gezielter Anachronismen Herausgegeben von Antje Junghanß, Bernhard Kaiser und Dennis Pausch

Klassische Philologie Franz Steiner Verlag

Palingenesia 116

Antje Junghanß / Bernhard Kaiser / Dennis Pausch Zeitmontagen

PALINGENESIA Schriftenreihe für Klassische Altertumswissenschaft Begründet von Rudolf Stark Herausgegeben von ChrIStoPh SChubErt Band 116

Zeitmontagen Formen und Funktionen gezielter Anachronismen 7. Kleine Mommsen-Tagung am 14./15. Oktober 2016 in Dresden Herausgegeben von Antje Junghanß, Bernhard Kaiser und Dennis Pausch

Franz Steiner Verlag

Coverabbildung: Phönix in einem Mosaik aus Antiochia am Orontes, jetzt im Louvre. Fondation Eugène Piot, Monuments et Mémoires, publ. par l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres 36, 1938, 100. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12366-2 (Print) ISBN 978-3-515-12367-9 (E-Book)

INHALT Antje Junghanß / Bernhard Kaiser / Dennis Pausch Einleitung ................................................................................................................. 7 MITTEL DER ZEITBESTIMMUNG Christoph Schubert Anachronismen in der lateinischen Pseudepigraphie der späteren Antike ................................................................................................ 23 Anja Wolkenhauer Wann starb Kaiser Claudius? Über das semantische und epistemische Potential von Zeitbestimmungen am Beispiel der Apocolocyntosis ........................................................................... 41 LEGITIMATIONSSTRATEGIEN Karen Piepenbrink ‚Zeitmontagen‘ in der Gesetzgebung Justinians I.................................................. 61 Stefan Fraß Warum Kleisthenes nicht der Begründer der Demokratie sein konnte. Erinnerungskulturelle Anachronismen und die Legitimation der demokratischen Ordnung im klassischen Athen.............................................. 75 Ross Brendle Archaism and Anachronism on Panathenaic Prize Amphorae .............................. 89 Anke Walter iamque dies, nisi fallor, adest – Aeneas und der römische Kalender .................. 101 VERFREMDUNGSEFFEKTE Philipp Geitner Unzeitige Gegenwart – Der Anachronismus in Ovids „Metamorphosen“ ................................................................................. 119

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Inhalt

Markus Kersten Literaturgeschichte im historischen Epos. Anachronismen, Realismus und Metapoetik ....................................................... 143 Rachel Bryant Davies An anachronasm or blunder? Dibdin’s Melodrama Mad! and the Siege of Troy as British history on the nineteenth-century London stage ........................................................................................................ 161 ANACHRONIEN ALS NARRATIVE TECHNIK Alfred Lindl nunc ad temporum ordinem redeo – Narrative Zeitmontagen in Tacitus’ Nerobüchern ............................................... 179 Irene Polinskaya The Distant Present and the Near Past. The Mounting of Time in the Herodotean Aiginetikos Logos ................................................................... 209

EINLEITUNG Antje Junghanß, Bernhard Kaiser, Dennis Pausch (Dresden) Als Sophokles im Athen des 5. Jh. v. Chr. seine Tragödie über den Tod des Herakles, die Trachinierinnen, auf die Bühne bringt, lässt er Deianeira, die Gattin des Protagonisten, gleich zu Beginn festhalten, dass schon ein altes Sprichwort sage, niemand sei vor seinem Tode glücklich zu preisen.1 Die antiken Scholien zu diesem Stück erkennen hierin eine Wiedergabe jenes berühmten Ausspruches, den Solon in der Mitte des 6. Jh. v. Chr. vor König Krösus getan haben soll.2 Sie konstatieren daher, dass diese Worte im Mund der mythologischen und damit in ein noch viel früheres Jahrhundert gehörenden Figur der Deianeira einen ἀναχρονισμός darstellen.3 Wenngleich eine explizite Begriffsbestimmung fehlt, legt der Kontext nahe, dass mit dem ἀναχρονισμός eine Auffälligkeit in der zeitlichen Verortung der Darstellung markiert wird. Offenbar muss es zur Abfassungszeit der entsprechenden Scholien bereits eine Vorstellung von historisch möglichen bzw. unmöglichen Konstellationen gegeben haben. In ähnlicher Hinsicht aufschlussreich ist auch eine Stelle aus Ciceros De re publica. Dort wendet Manilius sich mit der Frage an Scipio, ob es denn zutreffe, dass Numa ein Schüler des Pythagoras gewesen sei, wie es allgemein überliefert werde.4 Scipio äußert sich tadelnd über diese Falschaussage; tatsächlich trennten rund 140 Jahre Pythagoras und Numa voneinander.5 Hier kommt der Begriff des 1 2 3 4 5

Soph. Trach., 1–3: λόγος μέν ἐστ᾽ ἀρχαῖος ἀνθρώπων φανείς, // ὡς οὐκ ἂν αἰῶν᾽ ἐκμάθοις βροτῶν, πρὶν ἂν // θάνῃ τις, οὔτ᾽ εἰ χρηστὸς οὔτ᾽ εἴ τῳ κακός. Cf. v. a. Herodot 1,30–32. Schol. Soph. Trach. 1: ὁ τρόπος ἀναχρονισμός· μεταγενέστερος γὰρ ὁ Σόλων; Den Hinweis auf diese Passage verdanken wir Philipp Geitner. Cic. rep., 2,28 f.: Quae cum Scipio dixisset, Verene, inquit Manilius, hoc memoriae proditum est Africane, regem istum Numam Pythagorae ipsius discipulum aut certe Pythagoreum fuisse? Saepe enim hoc de maioribus natu audivimus, et ita intellegimus vulgo existimari; neque vero satis id annalium publicorum auctoritate declaratum videmus. Tum Scipio: Falsum est enim Manili, inquit, id totum, neque solum fictum, sed etiam imperite absurdeque fictum […]. Nam quartum iam annum regnante Lucio Tarquinio Superbo Sybarim et Crotonem et in eas Italiae partis Pythagoras venisse reperitur; Olympias enim secunda et sexagesima eadem Superbi regni initium et Pythagorae declarat adventum. Ex quo intellegi regiis annis dinumeratis potest anno fere centesimo et quadragesimo post mortem Numae primum Italiam Pythagoram attigisse; neque hoc inter eos qui diligentissime persecuti sunt temporum annales, ulla est umquam in dubitatione versatum. Ähnlich auch Cic. orat., 2,154: …quidam Numam Popilium, regem nostrum, fuisse Pythagoreum ferunt, qui annis ante permultis fuit quam ipse Pythagoras… Bei Humm 2004, 126 f., findet sich eine Auflistung der Autoren, die neben Cicero auf die Fehldatierung hingewiesen haben.

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Anachronismus (oder eine lateinische Entsprechung) nicht vor; gleichwohl zeigt sich deutlich, dass Cicero ebenfalls ein Bewusstsein für die Chronologie von Ereignissen hatte – und er dieses streng genommen sogar für seine Dialogfiguren (das Gespräch spielt im Jahr 129 v. Chr.) voraussetzte. Beide Passagen sowie eine ganze Reihe weiterer Beispiele stehen in einem Spannungsverhältnis zu der wiederholt formulierten Ansicht, in der Antike habe es ein solches Bewusstsein noch nicht gegeben.6 Wie Pat E. Easterling für die griechische Tragödie7 oder Jacques Poucet für die römische Geschichtsschreibung der Republik8 zeigen konnten, ist davon auszugehen, dass zeitliche Inkongruenzen für die Zeitgenossen der jeweils behandelten Texte sehr wohl als solche erkannt worden sind. Der Beleg aus den Scholien steht zudem der relativ verbreiteten Annahme entgegen, auch der Terminus des Anachronismus sei eine Prägung des 16. Jahrhunderts.9 Wenngleich wohl keine begriffliche Kontinuität von der Antike bis zur Neuzeit anzunehmen ist, lässt sich doch eine semantische Nähe des antiken ἀναχρονισμός zum modernen Terminus feststellen. In der Antike blieben das Substantiv wie auch das stammverwandte Verb beschränkt auf die philologische Fachsprache;10 das Bewusstsein für die Chronologie historische Abläufe sowie die Fähigkeit, Verstöße dagegen wahrzunehmen, war jedoch (wie die besprochene Stelle aus Ciceros De re publica anzeigt) nicht an die Verwendung von Fachtermini gekoppelt.11 Die Diagnose eines Anachronismus – ob explizit so benannt oder auch nicht – kann konstatierend erfolgen wie etwa beim unbekannten Autor des angesprochenen Scholions, aber auch, wie die zitierte Cicerostelle anzeigt, mit tadelndem Unterton. Diese Konnotation des Fehlerhaften scheint auch in der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit Verstößen gegen die Chronologie zu dominieren: Die Armbanduhr am Handgelenk des römischen Legionärs im Sandalenfilm wird ebenso als Schnitzer verspottet, wie eine „aus der Zeit gefallene“ Begrüßungsformel lächerlich wirkt; schärfer noch wird in der Regel im wissenschaftlichen Kontext Kritik geäußert, wenn moderne Kategorien auf Epochen angewendet werden, in denen es

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Für eine Zusammenfassung dieser Sichtweise cf. Buck 2001, 225–236; Lay Brander 2011, 14– 16. Zur Herausbildung des Epochenbewusstseins als Charakteristikum der Neuzeit cf. Koselleck 1989, ferner z. B. Schiffman 2011, v. a. 144–147. 7 Cf. Easterling 1985. 8 Cf. Poucet 2000, 285–328, v. a. 287–293. 9 Cf. z. B. Landwehr 2013, 11–13 (mit weiteren Angaben). 10 Cf. z. B. Stemplinger 1956; Easterling 1985; Nünlist 2009, 117–119, 228 (jeweils mit Beispielen). 11 Gewiss legt die Prägung eines entsprechenden Begriffs in der Wissenschaft ein breiteres Bewusstsein für die Existenz des Phänomens nahe. Über die Gründe, warum der Ausdruck offenbar während der Antike nicht im Lateinischen als Fremdwort aufgegriffen wurde, lässt sich natürlich nur spekulieren, doch finden sich an vergleichbaren Stellen analoge Begriffe, mit denen das Gemeinte ausgedrückt werden kann. Cf. z. B. Gell. 10,16,8: κατὰ πρόληψιν historiae oder Serv. Aen., 6,359: anticipatio. Ferner wäre anzumerken, dass sich Begriffe auch ohne Belege für ihre Verwendung durch die Zeitgenossen als legitim und nützlich erwiesen haben, um die Gesellschaft und die geistige Vorstellungswelt der jeweils untersuchten Epoche besser beschreiben zu können.

Einleitung

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diese noch gar nicht gab.12 Mit Landwehr lässt sich für die aufgezählten Varianten von handwerklichen, epochalen und konzeptionellen Anachronismen sprechen.13 Deren Etikettierung als Fehler wird von ihm jedoch problematisiert. Selbst für den handwerklichen Anachronismus, der vermeintlich eindeutig auf schlichten Fehldatierungen beruht, stellt Landwehr die Frage, ob „diese Zeitenvermischung unabsichtlich oder intentionell“ geschieht.14 Auch dieser Band verfolgt einen Ansatz, der den Anachronismus nicht als Fehler betrachtet, sondern anhand konkreter Beispiele aus Kunst, Literatur und Gesellschaft die Möglichkeit seiner absichtsvollen Verwendung ins Zentrum der Betrachtung rückt. In den einzelnen Beiträgen geht es jeweils um die Frage, was für das Verständnis eines Werkes gewonnen werden kann, wenn Auffälligkeiten in der Chronologie als bewusst eingesetzte Darstellungsmittel betrachtet werden. Denn, um einmal mehr auf die Passage aus Ciceros De re publica zurückzukommen, die von Scipio scharf getadelte Vorstellung, Numa sei Schüler des Pythagoras gewesen, lässt sich zwar rein rechnerisch als unzutreffend bewerten, muss aber insgesamt nicht zwingend Zeichen schlechter Dichtung (imperite absurdeque fictum, Cic. rep., 2,28) sein. Stattdessen ließe sich ebenso auch nach der Funktion einer solchen Aussage fragen.15 Eine solche Untersuchung der Funktion setzt eine bestimmte Darstellungsabsicht voraus, die sich allerdings in aller Regel nicht beweisen lässt. Immerhin finden sich in einer Reihe antiker Texte Formulierungen, die einzelnen Autoren ein absichtsvolles Spiel mit Zeit(en) „unterstellen“: wenn es beispielsweise in einem Scholion zur Hekuba des Euripides heißt, es sei typisch für diesen Autor, die eigene Zeit und diejenige der Heroen zu vermischen,16 oder, stärker noch, wenn in dem als Servius Danielis bekannten Vergilkommentar den Ausführungen zur historisch angemessenen Bedeutung des Wortes talentum in der Aeneis noch die Überlegung 12 Exemplarisch verweisen wir hier auf die althistorische Forschungsdiskussion, ob es gestattet sei, antike Gemeinschaften als Staaten zu bezeichnen. Ein konziser Überblick über die Auseinandersetzung findet sich in Lundgreen 2014, bes. 18–28. 13 Landwehr 2013, 23 f. 14 Landwehr 2013, 23. Der eigentliche Schwerpunkt liegt für ihn gleichwohl auf den konzeptionellen Anachronismen; seine Überlegungen gehören damit in den Zusammenhang einer umfangreichen – und an dieser Stelle leider nicht abbildbaren – Methodendiskussion innerhalb der Geschichtswissenschaften. Diese Methodendiskussion nimmt ihren Ausgangspunkt in der These des französischen Historikers Lucien Febvre, nach der Rabelais kein Atheist habe sein können, weil die Kategorie des Atheismus dem 16. Jahrhundert noch fremd gewesen sei. Cf. zur Methodendiskussion in der modernen Geschichtswissenschaft neben Landwehr z. B. Rancière 2015 [1996]; Spoerhase 2004; Didi Huberman 2000. 15 Humm 2004, 137, schlägt vor: „… que le pythagorisme de Numa a été forgé dans le but de justifier par une autorité ancienne et incontestée de profondes réformes institutionnelles…“ Zugleich vertritt er die Überzeugung, dass diese Legende vor den Anfängen der annalistischen Geschichtsschreibung entstanden sei. Wenn er recht hat in seiner Annahme, dass in dieser Zeit mit historischen Fakten noch recht unbekümmert umgegangen wurde, dann wäre zwar die Verbindung Numas mit dem Pythagoreismus noch immer absichtsvoll, ein bewusstes Spiel mit der Chronologie stünde aber infrage. 16 Schol. Eur. Hec., 254: ἐστὶ τοιοῦτος ὁ Εὐριπίδηϛ περιάττων τὰ καθ᾽ἑαυτὸν τοῖς ἥρωσι τοὺς χρόνους συγχέων cf. z. B. Stemplinger 1956, 104; Poucet 2000, 287 f.

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hinzufügt wird, „es sei denn der Dichter habe etwa den Gebrauch seiner Zeit in das Zeitalter der Heroen einfügen wollen.“17 Aufschlussreich ist ferner eine Überlegung, die von Aulus Gellius auf Hygin, einen Philologen aus augusteischer Zeit, zurückgeführt wird: Dieser habe in seinen Erklärungen zur Aeneis zwischen dem anachronistischen Vorwissen des Autors und dem seiner Figuren unterschieden und dabei vor allem letzteres scharf getadelt, während ersteres für ihn ein legitimes literarisches Verfahren darstellte.18 In der wertungsfreien Diagnose des Anachronismus im eingangs erwähnten Scholion ließe sich unter Umständen auch eine Bereitschaft des unbekannten Kommentators erkennen, die Vermischung der Zeitebenen als Teil der künstlerischen Aussage zu verstehen.19 Insgesamt bleibt es hypothetisch, hinter Anachronismen eine Absicht zu vermuten. Umgekehrt ist jedoch meist ebenso wenig zu beweisen, dass ein unabsichtlich unterlaufener Fehler vorliegt. Insofern erscheint es uns trotz der nur selten gegebenen Möglichkeit zur Verifizierung legitim und sinnvoll zu sein, Abweichungen von der Chronologie als Technik ernst zu nehmen, sie also einerseits in ihrer konkreten Gestalt genauer zu beschreiben und andererseits zu überprüfen, welchen Beitrag sie zum Verständnis des jeweiligen Textes oder Werkes in seiner Gesamtheit leisten können. Als Leitbegriff unseres Ansatzes schlagen wir das Kunstwort der Zeitmontagen vor, eine handwerkliche Metapher, die den Gedanken des absichtsvollen In- und Aneinandersetzens von Zeit(en) besonders deutlich markiert20 und es uns zugleich erlaubt, das Phänomen einer bewussten Vernachlässigung historischer Bedingtheiten in künstlerischen Produktionen in einem etwas weiteren Zugriff zu betrachten. Denn Zeitmontagen müssen nicht anachronistisch sein. So enthalten literarische Texte in aller Regel Pro- und Analepsen, welche die Chronologie der Darstellung insofern durchbrechen, als sie in Vor- oder Rückgriffen von einer linearen Erzählung der Geschehenszusammenhänge abweichen. Es ist davon auszugehen, dass diese Anachronien (Begriff nach Genette)21 bewusste Gestaltungselemente sind, mit denen eine bestimmte Absicht verfolgt wird. Für unsere Frage nach dem hermeneutischen Mehrwert, den absichtsvoll in ein Werk integrierte Ana17 Serv. Aen., 10,526: nisi forte usum temporis sui heroicis temporibus poeta voluerit applicare, cf. z. B. Poucet 2000, 290. 18 Gell., 10,16, v. a. 6–8; cf. ferner Vell., 1,3,2–3,3; Serv. Aen., 6,359: ergo anticipatio est, quae, ut supra diximus, si ex poetae persona fiat, tolerabilis est; si autem per alium, vitiosissima est. 19 Angesichts des für die griechische Tragödie allgemein charakteristischen Strebens nach einer Aktualisierung ihrer historischen Stoffe gibt es aus anderen Stücken genügend Parallelen für die anachronistische Rede- und Denkweise von Figuren, um eine solche Annahme auch hier plausibel zu machen. Cf. Easterling 1985. 20 Der Begriff findet sich prominent auch bei Didi-Huberman 2000, etwa 16: „… un extraordinaire montage de temps hétérogènes formant anachronismes.“ (Hervorhebungen des Autors), geht dort aber auf Reflexionen von Gilles Deleuze über Zeitdarstellungen im Kino zurück (ib., 25; le montage = der Schnitt). Didi-Huberman verwendet das Bild der „montages du temps“, um einerseits das Ineinanderragen von Stilen zu beschreiben (sodass etwa auch, wie im eingangs von ihm gewählten Beispiel, Renaissancegemälde in bestimmten Elementen Charakteristika früherer Epochen aufweisen können), andererseits aber ganz ähnlich wie wir, für bewusst aneinander gesetzte Zeiten/Zeitpunkte. 21 Genette 1994, v. a. 22–31.

Einleitung

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chronismen haben können, erweist sich die Untersuchung der Funktionen von Anachronien, deren Intentionalität ja leichter außer Frage steht, als hilfreich, um eine Vorstellung von der Palette der Wirkabsichten zu entwickeln, und wird so auch in zwei Beiträgen unseres Bandes explizit betrieben, in anderen zumindest gestreift. Auch für die Beschreibung der Art und Weise, wie Zeiten aneinander montiert werden können (um in unserem Bild zu bleiben), bilden die narratologischen Kategorien der Pro- und Analepsen einen möglichen Zugang, nämlich den, die Richtung des Anachronismus in den Blick zu nehmen: Ebenso wie in den Anachronien Späteres in den Gang der laufenden Geschichte hineinragen oder Früheres nachgetragen werden kann, ist es bei absichtsvoll eingesetzten Anachronismen einerseits denkbar, in ein Werk Elemente einer zurückliegenden Epoche einzufügen. Andererseits können Figuren mit Wissen oder bestimmten Attributen ausgestattet werden, die erst der Zeit zwischen dem dramatischen Datum und der lebensweltlichen Abfassung der jeweiligen Darstellung entstammen. Diese finden sich auf der Ebene der Ausstattung, Kostümierung oder Redeweise oder sind konzeptuell tiefer in die Handlung eingeschrieben, wenn etwa die Motive, Pläne und Verhaltensweisen der Protagonisten betroffen sind. Ein solches „Zuviel“ an Wissen liegt etwa vor, wenn Sophokles seiner Deianeira ein Diktum in den Mund legt, das er kennen konnte, sie aber streng genommen nicht; gleichsam ein Attribut haben wir in der Numalegende, wenn dem sagenhaften König ein Weiser zur Seite gestellt wird, dem er niemals hätte begegnen können. Diese Form des Anachronismus tritt häufiger auf und wird auch in der Mehrzahl der Beiträge dieses Bandes thematisiert. Warum aber integriert nun ein Künstler absichtlich archaisierende Elemente in sein Werk? Oder warum lässt er seine Figur von Ereignissen wissen, die einer viel späteren Epoche entstammen? Hier setzt die Frage nach den Funktionen absichtsvoller Anachronismen an, die im Zentrum unseres Bandes steht. Nimmt man etwa an, dass die Armbanduhr am Handgelenk des römischen Legionärs kein Versehen ist, könnte man sie als komischen Bruch mit dem konsequent antiken Dekor verstehen; derlei Beispiele, in denen eine Vermischung von Zeiten der Erheiterung dienen soll, gibt es in großer Zahl. Betrachtet man daneben einmal mehr die eingangs besprochene Sophokles-Passage, so könnte das Zuviel an Wissen, über das Deianeira verfügt, ein gelehrtes Spiel mit Intertextualität sein, es könnte eine Reminiszenz an Solon darstellen. Die Verbindung von Numa und Pythagoras könnte von dem Bemühen getragen sein, den König durch seine Bekanntschaft mit dem Weisen besonders auszuzeichnen und in seiner eigenen Weisheit zu legitimieren. Der vorliegende Band versammelt Beiträge der verschiedenen altertumswissenschaftlichen Disziplinen, die aus einem je eigenen Blickwinkel Beispiele präsentieren, in denen Zeiten aneinander montiert werden. Dabei wird jeweils untersucht, auf welche Weise und mit welchem Ziel die Montage erfolgt. Die Frage der Darstellungsziele bzw. Funktionen bildet die Gliederungsgrundlage unseres Bandes, ohne mit dieser Unterteilung jedoch einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Unser Band beginnt mit zwei Beiträgen, die gut geeignet sind, in unsere Themenstellung einzuführen. Den Auftakt bilden die Überlegungen von Christoph Schubert, der sich dem Phänomen der gezielten Anachronismen aus entgegengesetzter Richtung annähert, indem er in seinem Beitrag Verstöße in den Blick nimmt,

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von denen angenommen werden kann, dass sie vom Verfasser nicht beabsichtigt oder zumindest stillschweigend in Kauf genommen worden sind. Die Analyse verfolgt dabei das Ziel, im Umkehrschluss Folgerungen bezüglich der literarischen Strategien zu ermöglichen, die mit dem Einsatz gezielter Anachronismen verbunden sein dürften. Schubert wählt für seine Untersuchungen den Bereich der spätantiken primären Pseudepigraphie, weil diese Texte besonders häufig durch das Auftreten von Anachronismen gekennzeichnet seien. Anhand dreier Beispiele entwirft er in Ansätzen eine Typologie anachronistischer Normverstöße. So werden zunächst Anachronismen auf der Sachebene beschrieben, die noch einmal in Verstöße gegen historische Fakten (hierin gehören auch die Verstöße gegen die Chronologie) und in unreflektierte Übertragungen späterer Denkmuster unterteilt werden können. Hinzu treten Formen von Anachronismen, die besonders im pseudepigraphischen Schrifttum vorkommen, da in den Texten zumeist immanent der Anschein erweckt wird, zu einer früheren Zeit verfasst worden zu sein, als sie es tatsächlich sind. Im Aufsatz werden Anachronismen auf der Ebene des sprachlichen Ausdrucks, Diskrepanzen formeller Natur und schließlich Abweichungen von den ursprünglichen Gepflogenheiten der gewählten Textgattung aufgezeigt. Aufgrund der Tatsache, dass die Schriften trotz der zum Teil recht offensichtlichen Existenz von Anachronismen dennoch über lange Zeit breit rezipiert wurden, sei nach Schubert damit zu rechnen, dass zumindest gewisse Lesergruppen hinsichtlich der anachronistischen Normverstöße keine ausgeprägte Sensibilität besessen haben, wobei die Toleranz auch hinsichtlich der Formen der Anachronismen je unterschiedlich ausgefallen sei. Der zweite einführende Beitrag stammt von Anja Wolkenhauer und konzentriert sich am Beispiel der Apocolocyntosis auf die möglichen Konnotationen unterschiedlicher Varianten von Zeitangaben. Die Satire stellt die Forschung bekanntlich nicht nur hinsichtlich Autorschaft und Datierung vor Probleme, sondern enthält auch eine lange Reihe interpretatorischer Herausforderungen. In ihrem Aufsatz widmet sich Wolkenhauer den scheinbar tautologischen Mehrfachdatierungen des Todeszeitpunkts von Kaiser Claudius gleich zu Beginn des Werkes. Dabei zeigt sie überzeugend, dass gerade durch das Nebeneinander gattungsspezifischer Zeitangaben deren „nicht-temporale Implikationen“ zum Tragen kommen. So besitze die pseudo-historiographische eponyme Jahresdatierung im Prooemium eine beglaubigende Funktion, indem sie den Duktus amtlicher Dokumente aufweise. Zugleich biete sie aber die Möglichkeit, in leichter Abwandlung der konventionellen Datierweise, das Register kaiserzeitlicher Panegyrik anzuschlagen. Ganz in der Tradition der Gattung erscheinen auch die sich anschließenden epischen Zeitperiphrasen semantisch aufgeladen, wobei der Effekt durch absichtliche Ungenauigkeiten in der Chronologie noch verstärkt werde. Im Gegensatz zu den affirmativ-beglaubigenden Prosapartien zugunsten Neros ständen jedoch die widersprüchlichen Zeitbestimmungen und die Verwendung untypischer Jahreszeitencharaktere ganz im Dienst der Diffamierung des sterbenden Herrschers, wie sie dann für die übrige Satire bestimmend werden soll. Neben der impliziten Kommentierung des Geschehens soll durch die wiederholte Variation der Datierung relativ unbemerkt für den Tod ein genauer „Zeitpunkt in der öffentlichen memoria“ fixiert werden, was eine Abfassung der Schrift in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Thronwechsel wahrscheinlich mache.

Einleitung

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In ähnlicher Weise wie bei Christoph Schubert, wo Anachronismen als Marker dafür dienen, Texte als Pseudepigrapha zu identifizieren und ungefähr datieren zu können, macht Anja Wolkenhauer durch eine genaue Untersuchung der Zeitangaben eine bestimmte Datierung der Apocolocyntosis wahrscheinlich. Zusätzlich unterstreicht sie durch ihre Analyse, dass die zeitliche Verortung von Geschehnissen (de)legitimierende Kraft haben kann. Dieser Aspekt der Legitimation steht im Zentrum der zweiten Sektion unseres Bandes. In vier Beispielen wird gezeigt, dass durch gezielte Rückgriffe auf Vergangenes oder auch Vorgriffe auf Späteres, im Erzählgeschehen eigentlich noch Unbekanntes, gleichsam Traditionslinien gezogen werden, die dazu geeignet sind, einem gegenwärtigen Zustand besondere Bedeutung zu verleihen. Karen Piepenbrink geht in ihrem Beitrag zu den im Rahmen seiner umfangreichen Gesetzgebungsinitiativen getroffenen programmatischen Aussagen Justinians von einem weiten Verständnis der Zeitmontage aus, indem sie herausarbeitet, wie Justinian die einzelnen Zeitstufen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft reflektiert sowie zueinander in Beziehung setzt. Dabei zeigt sich, dass er sein nomothetisches Wirken, welches von den etablierten Statusgruppen teils argwöhnisch beäugt wurde, insbesondere durch Bezugnahmen auf die Vergangenheit zu legitimieren sucht. Nach den Beobachtungen von Piepenbrink kommen im Zuge dessen allerdings gegenläufige Argumentationsmuster zur Anwendung. Während zum einen bestimmte Neuerungen damit begründet würden, dass die bisherigen Regelungen nicht mehr zeitgemäß gewesen seien, knüpfe Justinian in anderen Kontexten wiederum explizit an historische Institutionen an, wobei er den kontinuitätswahrenden Charakter der getroffenen Maßnahmen besonders herausstreiche. Hier ist mit Piepenbrink von einem gezielten Einsatz von Anachronismen auszugehen: Gerade die begründet vollzogenen Brüche mit überkommenen Regelungen lassen auf ein gewisses Epochenbewusstsein schließen, so dass anzunehmen ist, dass die Kontinuitätsbehauptungen keinesfalls in naivem Glauben aufgestellt wurden. Die Überzeugung, von der alten res publica zeitlich entkoppelt zu sein, spiegelt sich nicht zuletzt in dem von Piepenbrink dokumentierten Anspruch Justinians, Begründer eines neuen Zeitalters zu sein. Legitimierende Funktion besitzt die gezielte Verwendung des Anachronismus auch in dem Beispiel, auf das Stefan Fraß unsere Aufmerksamkeit lenkt. Im Gegensatz zu den historischen Tatsachen habe sich im kollektiven Gedächtnis der Athener des 5. Jahrhunderts die anachronistische Vorstellung durchgesetzt, nicht Kleisthenes, sondern Solon bzw. Theseus seien die Begründer der demokratischen Ordnung gewesen. Zwar dürfte den Athenern allmählich das Bewusstsein von der Fehlerhaftigkeit dieser historischen Konstruktion abhanden gekommen sein, doch scheint nach Fraß selbst bei den Zeitgenossen der kleisthenischen Reformen die Tendenz bestanden zu haben, gleichsam gegen ihr eigenes Erleben anachronistische Erinnerungsnarrative zu bevorzugen. Abgesehen von den Vorteilen, die eine Rückbindung einer politischen Ordnung an einen quasi-mythischen Gründer für die Legitimation dieser Ordnung selbst besitzt, scheinen nach Fraß auch die besonderen Umstände der Reformen dazu beigetragen zu haben, dass Kleisthenes nicht den Platz in der athenischen Erinnerungskultur bekommen hat, der ihm eigentlich gebührt hätte. Im

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Interesse einer Befriedung des Gemeinwesens, das durch die Spaltung des Adels, die Intervention des spartanischen Königs Kleomenes I. und den Aufstand des Demos in große Unruhe geraten war, hätten alle Beteiligten Verzicht auf eine prominente Rolle in der Erinnerungspolitik geübt und daher der anachronistischen Konstruktion den Vorzug gegeben. Ross Brendle illustriert die legitimierende Funktion absichtsvoller Anachronismen eindrücklich am Beispiel panathenäischer Preisamphoren, die ab ca. 560 v. Chr. bis ins erste vorchristliche Jahrhundert hinein bei den großen Panathenäen als Siegerpreise der gymnischen sowie hippischen Disziplinen verliehen wurden. Auf der Vorderseite der Amphoren war stets Athena Promachos abgebildet, auf der Rückseite eine Wettkampfszene. Das Besondere an den Amphoren liege darin, dass sie sämtlich im schwarzfigurigen Stil gestaltet sind, obwohl dieser ab ca. 500 v. Chr. durch den rotfigurigen abgelöst wurde. Die Darstellung der abgebildeten Athleten folge ab dem Beginn des vierten vorchristlichen Jahrhunderts dem jeweiligen Zeitgeschmack; die Vorderseiten der Vasen sei hingegen archaisierend gestaltet. Es handle sich hier um eine bewusste Entscheidung: Die nach 500 mit deren Herstellung betrauten Künstler arbeiteten ansonsten durchweg im rotfigurigen Stil, seien für den Anlass des Festes aber mit der Gestaltung schwarzfiguriger Amphoren beauftragt worden, auf denen also gezielt Elemente verschiedener Zeiten ineinander griffen. In dieser besonderen Gestaltung der Amphoren sieht Brendle eine Inszenierung auf zwei Ebenen. Einerseits werde durch die beständige Beibehaltung des schwarzfigurigen Stils ausgedrückt, dass die Panathenäen gleichsam zeitlos seien, zugleich würde durch den gleichbleibenden Stil und die Mischung zeitgenössischer und archaisierender Darstellungselemente eine lange Traditionslinie markiert, welche die Bedeutung des Festes und der Stadt Athen hervorhebe. Zum Abschluss dieser Sektion konzentriert sich Anke Walter in ihrem Beitrag auf einen Anachronismus in der Aeneis. Das Epos sei insgesamt voll von chronologischen Verstößen; der von ihr thematisierte findet sich im fünften Buch und steht im Kontext der Rückkehr der Trojaner nach Sizilien. Aeneas merke dort gegenüber seinen Gefährten an, dass sich seit dem Tod seines Vaters genau ein Jahreskreis vollendet habe. Anke Walter führt aus, dass bereits Servius in Aeneas’ kalendarischem Bewusstsein einen Anachronismus diagnostiziert und zuvor Ovid in seinen Fasti nahegelegt habe, dass die benannte Passage einen anachronistischen Vorgriff auf die erst später entstandenen Parentalia darstelle. Allerdings sei weder hier noch dort die Funktion des Anachronismus umfänglich erfasst worden. Walter macht deutlich, dass die sichere Diagnose des Aeneas, es handle sich um den väterlichen Todestag, nur vor dem Hintergrund des julianischen Kalenders möglich sei, der erst zu Vergils Lebzeiten eingeführt worden ist. Dass Aeneas diesem Kalender bereits folge, könne als Beleg für das Konzept des fatum gelesen werden, nach dem das römische imperium mitsamt seinen Charakteristika bereits angelegt sei, bevor es sich realisiere. Die anachronistische Feststellung des Jahrestages diene der Legitimation einer Zeitordnung, die als zwangsläufig und gleichsam seit jeher gültig dargestellt wird; in einem größeren Kontext sei das von göttlicher Intuition geleitete Handeln des Aeneas als Ausweis der Zwangsläufigkeit der römischen Geschichte zu verstehen, die sich bereits in ihren Anfängen erfülle.

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Die Beiträge der dritten Sektion unseres Bandes sind Texten gewidmet, in denen durch Zeitmontagen Verfremdungseffekte intendiert zu sein scheinen. Hierbei handelt es sich um ein durchaus irritierendes ästhetisches wie intellektuelles Spiel, das dazu einlädt, den jeweiligen Text auf mehreren Ebenen zu verstehen, insofern als durch gezielt eingesetzte Anachronismen eine Reflexion über die Objektivität zeitlicher Ordnung oder etwa auch die Möglichkeiten bzw. Gefahren einer Vorbildwirkung historischer und mythischer Erzählungen angeregt wird. Wie vermittels anachronistischer Elemente in der fiktionalen Literatur eine zusätzliche Sinnebene in einen Text eingezogen werden kann, stellt Philipp Geitner exemplarisch anhand einer Episode aus den „Metamorphosen“ Ovids dar. Seine Analyse zeigt, dass die Kombination von zeitgebundenen Elementen unterschiedlicher Epochen nicht dazu führe, dass die intradiegetische Welt jeglicher Chronologie entbehre. Vielmehr könne die „Profilierung eines individuellen Zeitverständnisses“ nur vor dem Hintergrund einer implizit gegebenen Vorstellung einer chronologischen Richtigkeit vonstattengehen. Die anachronistischen Überblendungen seien so markant, dass sie vom gebildeten Leser leicht zu erfassen seien, und gleichzeitig so subtil, dass das Handlungsgeschehen durch sie nicht dominiert werde. Der Sinn dieser Darstellungsweise soll sich offenbar nicht darin erschöpfen, den mythischen Stoff zu aktualisieren und dem Leser in einem zeitgenössischen Kolorit möglichst anschaulich nahe zu bringen. Tatsächlich entziehe sich die vom Erzähler imaginierte Wirklichkeit gerade einer eindeutigen zeitlichen und faktualen Positivität. Durch die Unbestimmtheit werde die poetische Darstellung stattdessen als individuelle Aneignung des Mythos ausgewiesen und zugleich die Relativität der Perspektiven unterstrichen. Darüber hinaus garantiere das Nebeneinander der verschiedenen Zeitebenen die notwendige Distanz, um die Repräsentationen der fiktionalen Welt als Spiegel der realen Welt betrachten zu können. Markus Kersten wirbt in seinem Beitrag für einen Interpretationsansatz, bei dem intertextuelle Anspielungen und metapoetische Aussagen auch zur Ausdeutung des Geschehens auf der Handlungsebene herangezogen werden. Kersten konzentriert seine Überlegungen dabei auf das historische Epos, da darin im Gegensatz zur mythologischen Epik, in der eine vorliterarische Welt zur Darstellung komme, die realistische Möglichkeit gegeben sei, die Figuren durch ihre unterschiedlich ausgeprägte Kenntnis kanonischer Literatur zu charakterisieren und mehr noch in ihrem spezifischen Handeln zu motivieren. So werde in Lucans bellum civile das kulturelle Versagen der Akteure nicht zuletzt durch deren lückenhafte literarische Bildung markiert. Die von Kersten beschriebene Deutungsperspektive lasse es aber auch zu, das Handeln der Protagonisten im Verhältnis zu Referenztexten zu reflektieren, die wie die vergilische Aeneis erst nach der Zeit der Eposhandlung entstanden sind und somit nur den Rezipienten, nicht aber den Akteuren des bellum civile bekannt sein dürften. Die metaleptische Überschreitung der Grenze zur Welt des Erzählers, die durch einen solchen „literarhistorischen Anachronismus“ bewirkt werde, führe zu einer Betonung der literarischen Fiktion mit der Folge, dass dem Handlungsgeschehen allgemeine Aussagen über den Wert literarischer Zeugnisse für ein moralisches Verantwortungsbewusstsein entnommen werden können.

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Rachel Bryant-Davies wendet sich in ihrem Beitrag vorrangig der komischen Wirkung zu, die absichtsvolle Anachronismen haben können. Sie illustriert diese an John Dibdins Melodrama Mad! Or The Siege of Troy, einer außergewöhnlich erfolgreichen Burleske des 19. Jahrhunderts, die den Troja-Mythos aufgreift und mit dem zeitgenössischen Londoner Dekor vermischt. Das Stück sei, so BryantDavies, ab dem Prolog mit seiner Vielzahl an chronologischen und geographischen Inkongruenzen als Spiel angelegt, dessen Reiz darin liege, diese Verstöße zu erkennen. Die Anachronismen selbst seien teilweise auffällig markiert, sodass auch Zuschauer ohne klassische Bildung sie ohne weiteres diagnostizieren könnten und sich als hinreichend kompetent erlebten, um das Spiel gleichsam mitzuspielen. Daneben enthalte das Stück auch zahlreiche voraussetzungsreichere Anachronismen, die auf intertextuellen bzw. intertheatralen Bezügen oder auf innerantiken Zeitmontagen beruhten. Bezugnahmen auf kanonische Literatur bzw. Dramen seien typisch für die Gattung der Burleske; für das Melodrama Mad! beschreibt Bryant-Davies vor allem eine shakespearesche Durchdringung des antiken Mythos. Diese subtileren Anachronismen machten das Stück besonders beliebt bei Aristokraten, die aufgrund ihres weiteren Bildungshorizontes auch diese Nuancen goutieren könnten. Dibdins virtuoser Einsatz absichtsvoller Anachronismen sei nun insgesamt aber nicht nur als ästhetisches Vergnügen konzipiert. Bryant-Davies schlägt vor, im Stück zugleich einen Reflex der wissenschaftlichen Kontroversen um die Existenz und Verortung Trojas zu sehen, die Dibdin in ihren Grundzügen vertraut gewesen sein dürften. Vor allem aber sieht sie in der Inszenierung des Trojastoffes zugleich auch eine Kritik Dibdins an der übersteigerten Antikenverehrung des 19. Jahrhunderts, indem nämlich die Frage aufgeworfen werde, ob eine Ruinenstadt wie Troja geeignet sei, als Vorbild zu dienen. Die beiden Beiträge der letzten Sektion sind schließlich dem erzählerischen Gestaltungselement der Anachronie gewidmet, welche in ihren unterschiedlichen Ausprägungen und Funktionen gewisse Ähnlichkeiten mit dem Anachronismus aufweist. Beide Phänomene lassen sich daher gut unter dem Klammerbegriff der „Zeitmontage“ zusammenfassen. Während jedoch der Anachronismus einen Verstoß gegen eine rekonstruierbare historische Chronologie bedeutet, stellt die Anachronie nach Genette lediglich eine „Dissonanz zwischen der Ordnung der Geschichte und der der Erzählung“ dar, die zudem deutlich leichter toleriert wird. Im Rückgriff auf die bekannten Beschreibungskategorien der Narratologie entwickelt Alfred Lindl anhand der Nerobücher von Tacitus’ Annalen eine systematische Klassifikation der verschiedenen Erscheinungsformen der Anachronie, um sie zugleich hinsichtlich ihres funktionalen Gebrauchs einer Bewertung zu unterziehen. Die unterschiedlichen Formenklassen werden mit Hilfe illustrativer Beispiele detailliert beschrieben, wobei zu berücksichtigen sei, dass nicht alle anachronen Passagen eindeutig einer bestimmten Klasse zugeordnet werden können und die Differenzierungen darum nicht als disjunkt anzusehen sind. Mit den Formen variierten zugleich auch die korrespondierenden Funktionen recht stark. Die Analepsen sollen nach Lindl in der Hauptsache der fehlenden Kohärenz der annalistischen Darstellungsweise entgegenwirken und den Leser im Sinne einer Verständnishilfe mit relevanten Hintergründen versorgen. Dagegen steigerten die Prolepsen vornehmlich

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die erwartungsvolle Spannung beim Leser, unter anderem indem sie einen alternativen Geschehensausgang imaginieren. Für alle Formen sei zudem eine manipulative Darstellungsabsicht kennzeichnend, die den Leser in eine kritische Distanz zur Erzählung bringt und ihn idealerweise zu einer vergleichenden Geschichtsbetrachtung anregt. Nicht zuletzt werde durch die Vielfalt der unterschiedlichen Formen von Vor- und Rückverweisen bewirkt, dass sich der Erzählrhythmus trotz der engen Limitierungen des annalistischen Formats abwechslungsreich und unterhaltsam gestalte. Insgesamt könne somit nach Lindl kein Zweifel bestehen, dass die Anachronien vom Narrator gezielt eingesetzt werden. Das Auftreten von Anachronien innerhalb eines narrativen Texts wird in der Forschung zuweilen kritisch annotiert. In ihrer gründlichen Analyse von Herodots Ägina-Exkurs, in dem wir über den Ursprung der Feindschaft zwischen Ägina und Athen informiert werden, macht Irene Polinskaya dagegen an einem Beispiel deutlich, wie die Verschränkung von Episoden aus ganz unterschiedlichen Zeiten der Haupterzählung Struktur und Profil geben kann. Analepsen seien kein Notbehelf, mit dem der Autor der gewaltigen Stoffmenge vergeblich Herr zu werden sucht, sondern eine anspruchsvolle narrative Technik mit dem Ziel, den Hörer bzw. Leser zu gegebener Zeit mit wichtigen Hintergrundinformationen zur Haupthandlung zu versorgen. Polinskaya identifiziert dabei verschiedene Erklärungsmuster, die dem Rezipienten helfen sollen, das historische Geschehen zu verstehen und einzuordnen. So markiere z. B. die Rede von einer ἀρχή bei Herodot zumeist den Ausgangspunkt einer unheilvollen Entwicklung, Reflektionen über den sich zyklisch vollziehenden Aufstieg und Niedergang von Städten stellten ein weiteres Muster für die Deutung der berichteten Ereignisse bereit. Zudem werde im Ägina-Exkurs der Bezug zur Welt des Erzählers hergestellt, indem wiederholt zeitgenössische Diskurse referiert werden. Vermittels dieses Nebeneinanders der Zeiten, das von Polinskaya genau nachgezeichnet und am Ende in einer Gesamtansicht aufgeführt wird, werde erfahrbar gemacht, wie Ereignisse, die weit zurückliegen, bis in die Gegenwart hineinwirken können, was einer Einladung gleichkomme, die eigene Lebenswelt stets im Lichte der Vergangenheit zu betrachten. Die hier gewählten Gliederungskategorien gehen auf die Diskussionen im Rahmen der siebenten Kleinen Mommsen-Tagung zurück, die am 14. und 15. Oktober in Dresden stattfand und aus der dieser Band hervorgegangen ist. Die Tagung wurde gemeinsam veranstaltet vom Dresdner Institut für Klassische Philologie, der Professur für Alte Geschichte und dem Münzkabinett der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden als eine gemeinsame altertumswissenschaftliche Spurenlese zum Thema „Zeitmontagen. Formen und Funktionen gezielter Anachronismen“. Im Zentrum der Tagung stand immer wieder das Bemühen, die im Einzelnen präsentierten Beispiele zueinander in Beziehung zu setzen und darüber den Einsatz gezielter Anachronismen besser beschreiben zu können. Es wurde deutlich, dass Zeitmontagen in verschiedenen Formen auftreten können; ganz entscheidend war aufgrund der Annahme der Intentionalität letztlich immer die Frage, mit welchem Ziel die jeweils vorgestellte Zeitmontage vorgenommen wurde. Der vorliegende Band versteht sich als Annäherung an die Thematik, als Anregung, hiervon ausgehend, weiter zu denken.

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Der Band selbst wäre undenkbar gewesen ohne die ertragreiche Tagung, zu deren inhaltlicher Konzeption neben dem Herausgeberteam maßgeblich Philipp Geitner, Prof. Dr. Martin Jehne, Dr. Christoph Lundgreen und beitrugen. Die Veranstaltung wurde dankenswerterweise großzügig unterstützt von der MommsenGesellschaft, der Gesellschaft der Freunde und Förderer sowie dem Bereich Geistes- und Sozialwissenschaften der TU Dresden. Einen reibungslosen Verlauf der Veranstaltung verdanken wir einer Reihe von Student*innen der Klassischen Philologie wie auch der Alten Geschichte, die uns aus freien Stücken helfend zur Seite standen und die zuverlässig immer dort waren, wo sie gebraucht wurden. Bedanken möchten wir uns auch bei Dr. Wilhelm Hollstein für die Freundlichkeit, unsere Gäste als Auftakt zur Tagung zu einer Führung durch das Münzkabinett einzuladen. Für den Band selbst gebührt unser Dank zunächst den Beiträger*innen, die sich bereitwillig auf einen gemeinsamen Weg der inhaltlichen Auseinandersetzung eingelassen haben. Wir danken weiterhin der DFG für die Bezuschussung der Druckkosten im Rahmen der Sachbeihilfe. Bezüglich der formalen Prozesse, die im Zuge der Entstehung eines solchen Bandes zu bewältigen sind, geht ein großer Dank an Roman Dorniok und Tom Wetterling sowie Gunther Gebhard und Steffen Schröter, die mit der Formatierung und dem Korrektorat der Texte betraut worden sind. Außerdem danken wir dem Steiner Verlag, insbesondere in Person von Katharina Stüdemann, die das Wachsen und Werden dieses Bandes von Anfang an zugewandt, kundig und charmant begleitet hat. Dresden, im Dezember 2018 Antje Junghanß Bernhard Kaiser Dennis Pausch LITERATURVERZEICHNIS Barnes, Annette / Barnes, Jonathan (1989): Time Out of Joint. Some Reflections on Anachronism. The Journal of Aesthetics and Art Criticism 47/3, 253–261. Buck, Thomas Martin (2001): Vergangenheit als Gegenwart. Zum Präsentismus im Geschichtsdenken des Mittelalters. Saeculum 52, 217–244. Easterling, Pat E. (1985): Anachronism in Greek Tragedy. Journal of Hellenic Studies 105 (1985), 1–10. Didi-Huberman, Georges (2000): Devant le temps. Histoire de l’art et anachronisme des images, Paris. Genette, Gérard (1994): Die Erzählung, München. Humm, Michel (2004): Numa et Pythagore: vie et mort d’un mythe. In: Deproost, Paul-Augustin / Meurant, Alain (Hgg.): Images d’origines. Origines d’une image, Louvain-la-Neuve, 125–137. Koselleck, Reinhart (1989): Vergangene Zukunft der Frühen Neuzeit. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt, 17–37. Landwehr, Achim (2013): Über den Anachronismus. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 61, 5– 29.

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MITTEL DER ZEITBESTIMMUNG

ANACHRONISMEN IN DER LATEINISCHEN PSEUDEPIGRAPHIE DER SPÄTEREN ANTIKE Christoph Schubert (Wuppertal) Um gezielte, vom Autor eines Textes intendierte und vom idealen Leser als solche mit Verständnisgewinn wahrnehmbare Anachronismen besser beurteilen zu können, kann es hilfreich sein, ihr Gegenteil, unbeabsichtigte, nicht wahrgenommene oder stillschweigend tolerierte Anachronismen, ins Auge zu fassen. Der folgende Beitrag versucht, anhand einiger Beispiele aus der spätantiken lateinischen Literatur ansatzweise eine solche Folie zu entwerfen, die der klareren Erfassung und Beschreibung der Bedingungen dient, die ein gezielter Anachronismus erfüllen muss. Unter Anachronismus wird dabei im landläufigen Sinn ein Normverstoß verstanden, der in irgendeiner Form einer von einer Gemeinschaft anerkannten Konstruktion zeitlicher Abläufe widerspricht.1 Eine Binnendifferenzierung wird sich aus der Analyse ergeben, wobei insbesondere vier Kategorien, sprachliche, sachliche, formale und wesensmäßige Anachronismen innerhalb des Materials zu beobachten sein werden. Unbeabsichtigte, unbemerkte oder hingenommene Anachronismen finden sich verstreut über die gesamte antike Literatur von Homer an. Im Folgenden sind Texte aus dem pseudepigraphischen Schrifttum der späteren Antike ausgewählt, da dieses zwar nicht regelhaft, aber doch häufig durch das Auftreten von Anachronismen ausgezeichnet ist, die vom zeitgenössischen Publikum nicht erkannt oder ignoriert wurden und erst von der modernen Kritik aufgedeckt bzw. thematisiert und oft als zentrales Kriterium des pseudepigraphischen Charakters herangezogen wurden. Die Pseudepigraphie zeichnet sich mithin durch eine gewissermaßen natürliche Ana1

Der Begriff scheint bislang auch innerhalb der Literaturwissenschaft der modernen Sprachen ein zwar oft gebrauchter, aber weder intensiver problematisierter (das neue Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft handelt den Anachronismus nonchalant unter dem Stichwort Archaismus ab) noch produktiver Begriff zu sein. Hinzuweisen ist aber auf den von Albizu 2011 herausgegebenen Zürcher Tagungsband und darin besonders auf den Beitrag von Lay Brander mit einer Begriffsgeschichte seit dem Mittelalter und dem Entwurf einer hermeneutischen Funktionalisierung nach Paul Ricœur. Lay Branders weite Definition des Anachronismus „auf jegliche Interferenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ (18) hin ist im Folgenden angelegt: „Der Anachronismus ist damit die Negation von Chronismus, er umfasst jegliches Phänomen, das sich dem ‚Normalzustand‘ einer objektiven, physikalischen Zeit entgegen stellt“ (ib.). Aus philosophischer Sicht bemüht sich um eine fruchtbare Anwendung (mit sehr unterschiedlicher inhaltlicher Füllung) u. a. der von Speer 2003 herausgegebene Würzburger Tagungsband; für die Geschichtswissenschaft sei auf den grundlegenden Beitrag von Landwehr 2013 hingewiesen.

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chronismenhaltigkeit aus, die sie zu einer geeigneten Vergleichsgröße machen sollte. Zur Komplexitätsreduktion beschränken sich die folgenden drei chronologisch rückläufigen Beispiele auf primäre Pseudepigrapha und blenden den Bereich sekundärer Pseudepigraphie und moderner Fehlzuschreibungen aus.2 I. DREI BEISPIELE 1. Vindicta Salvatoris Handschriftlich ab dem 9. Jahrhundert bezeugt, gehört die bewusst anonymisierte kleine Schrift Vindicta Salvatoris zu den jüngsten Stücken des Pilatus-Komplexes, der sich sukzessive im Verlauf der Spätantike gebildet hat und eine Untergruppe der Apokryphen zum Neuen Testament darstellt. Ebenso wie zwei weitere eng verwandte und ebenfalls antijüdische Texte, die Mors Pilati und die Cura sanitatis Tiberii, handelt es sich um eine originär lateinische Schrift, die im Kern auf eine Grundschrift des 6. oder auch erst 7. Jahrhunderts n. Chr. zurückgehen dürfte.3 Ihr Inhalt sei kurz vorgestellt: Bald nach Jesu Kreuzigung und Auferstehung bricht ein gewisser Nathan, Sohn des Naum, ein Ismaelit aus Judäa und frischgebackener Christ, auf Geheiß des Pontius Pilatus zu Kaiser Tiberius auf, der an Geschwüren und Fieber leidet und den alle neun Arten von Lepra gleichzeitig plagen. Nathan wird auf seiner Seereise durch einen Nordwind nach Burgidalla in der Region Equitanien verschlagen, welches eine Stadt in Libien ist und wo zu dieser Zeit Titus als Vasall des Tiberius König ist. Auch Titus leidet an einer Krankheit, einem Krebsgeschwür, das sein Gesicht vom rechten Nasenflügel bis zum Auge entstellt hat. Er lässt Nathan zu sich 2

3

Von primärer Pseudepigraphie, also Texten, die von ihren Verfassern selbst unter einem anderen oder keinem Verfassernamen (absichtliche Anonymisierung) in Umlauf gebracht wurden, ist sekundäre Pseudepigraphie, die ein mit dem (korrekten oder primär pseudepigraphischen) Verfassernamen versehenes bzw. primär anonymisiertes oder auf dem Überlieferungsweg anonym gewordenes Werk einem anderen Autor zuschreibt oder sekundär anonymisiert, streng zu trennen, auch wenn angesichts des Erhaltungszustands der antiken Literatur die Zugehörigkeit zu einer der beiden Kategorien im Einzelfall schwer zu ermitteln sein kann. Zur raschen Orientierung über das Phänomen der antiken Pseudepigraphie cf. Pokorný/Stemberger 1997; Gerlitz/Wolter 1997; Speyer/Heimgartner 2001; Zimmermann 2003. Grundlegend bleiben die Studie von Speyer 1971 und die Beiträge von Hengel 1971, Brox 1975, Brox 1977 und Meade 1986. Forschungsübersichten und -impulse geben in neuerer Zeit u. a. Baum 2001, Di Tommaso 2001, Janßen 2003, Ehrman 2013 und Lied 2015, wie die Beiträge im „Journal for the Study of the Pseudepigrapha“ generell zu beachten sind. Zur wichtigen Gruppe der Pseudepigrapha innerhalb der christlichen Apokryphen cf. auch Markschies 2012 passim; eine knappe allgemeine Typologie gibt Guzmán Guerra 2011, 26–29. Zur Pilatus-Literatur und jeweils auch zur Vindicta Salvatoris cf. im Überblick Schmidt 1997; Röwekamp 1999; Röder 2010; Schärtl 2012, 231–240. Grundlegend zu den mittelalterlichen Texttraditionen und Verästelungen in der volkssprachigen Rezeption der Vindicta Salvatoris Schreckenberg 1977, 53–68; Izydorczyk 1997, der sich im Anschluss an Dobschütz für eine Datierung der Vindicta erst um 700 n. Chr. ausspricht (60).

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kommen und fragt ihn nach Heilmitteln. Solche besitzt Nathan nicht, erzählt Titus aber von Jesus, dem Emanuel, der viele Wunder, unter anderem an der blutflüssigen Veronica, getan hat und fleischlich auferstanden ist. Titus erkennt sofort, dass Tiberius nur deshalb von Krankheit geschlagen wurde, weil unter seiner Herrschaft mit der Kreuzigung Jesu eine solche Untat begangen wurde. Voll Zorn möchte er die Juden, die Jesus ans Kreuz geschlagen haben, der auch ihn hätte heil machen können, eigenhändig umbringen. Der Vorsatz genügt, um ihn auf wundersame Weise vom Krebs zu befreien, und voll Freude lässt er sich von Nathan taufen. Danach setzt er seinen Plan in die Tat um und bittet Vespasian, der offenbar ein enger Freund von ihm ist, ihn mit seinen Soldaten zu unterstützen. Beide brechen ins Heilige Land auf. Sie erobern nach sieben Jahren Jerusalem und stecken Pontius Pilatus ins Gefängnis. Brieflich berichten sie davon dem Kaiser Tiberius, der daraufhin seinen Vertrauten Velosianus schickt. Dieser findet Nicodemus, Joseph von Arimathia und schließlich Veronica. Velosianus erhält von ihr das Schweißtuch mit dem Konterfei des Herrn und bringt dieses nach Rom. Als Tiberius es sieht, betet er Christi Bild an, wird von allem Aussatz rein und lässt sich von Nathan, der erneut zugegen ist, taufen. Um einen kleinen Einblick in die Machart des Textes zu geben, seien zwei Auszüge, der Anfang der Vindicta Salvatoris und die Taufe des Titus, ausgeschrieben:4 (1) In diebus Tiberii Caesaris imperatoris, Herode tetrarcha, sub Pontio Pilato traditus fuit Christus a Iudaeis et revelatus a Tiberio. In diebus illis erat Titus regulus sub Tiberio in regione Equitaniae in civitate Libiae quae dicitur Burgidalla. Titus namque vulnus habebat in nare dextra propter cancrum, et habebat faciem dilaceratam usque ad oculum. (2) Exivit quidam homo de Iudaea nomine Nathan filius Naum: erat enim Ismaelita, qui pergebat de terra in terram et de mari in mare et in omnibus finibus terrae. Nathan vero missus a Iudaea ad Tiberium imperatorem ad portandum pactum eorum ad urbem Romanam. Erat autem Tiberius insanus et ulceribus et febribus plenus, novemque genera leprae habebat. (3) Voluitque Nathan ad urbem Romanam pergere. Insufflavit vero ventus septentrionalis et impedivit navigium illius, et deduxit eum ad portum Libiae civitatis. Videns autem Titus navem venientem cognovit quod de Iudaea esset: et admirati sunt omnes et dixerunt quod nunquam viderant aliquod lignum sic inde venisse. (…) (10) Et cum hoc dixisset, praecepit se baptizari. Vocavit autem ad se Nathan et dixit ei Quomodo vidisti baptizari eos qui in Christo credunt? Venias ad me et baptiza me in nomine patris et filii et spiritus sancti, amen. Nam et ego firmiter credo in dominum Iesum Christum ex toto corde meo et ex tota anima mea: quia nusquam est alius in universo mundo qui me creavit et a vulneribus me salvum fecit. Et cum hoc dixisset, nuntios misit ad Vespasianum cum omni festinatione venire cum viris fortissimis, sic paratis quasi ad bellum. (11) Tunc Vespasianus tulit secum quinque millia viros armatos, et concurrerunt ad Titum. Et cum venissent ad civitatem Libiae, dixit ad Titum Quidnam est quod huc me venire fecisti? Ille autem dixit Scias quod Iesus venit in hunc mundum, et in Iudaea in loco qui dicitur Bethleem natus est, et traditus fuit a Iudaeis et flagellatus et crucifixus in calvario monte, et tertia die resurrexit a mortuis: et viderunt eum discipuli eius in eadem carne qua natus est: et manifestavit 4

Eine befriedigende Edition des fluiden Textes fehlt. Im Folgenden wird die teils konjektural verbesserte Fassung bei Tischendorf 1876, 471–486, gegeben.

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Christoph Schubert se discipulis eius, et crediderunt in eum. Et nos quidem volumus discipuli eius fieri. Nunc eamus et deleamus inimicos eius de terra, ut nunc cognoscant quia non est similis domino deo nostro super faciem terrae. (12) Consilio autem inito exierunt de civitate Libiae quae dicitur Burgidalla, et ascenderunt in navigio et perrexerunt Ierosolimam, et circumdederunt regnum Iudaeorum et coeperunt mittere illos in perditionem (…)

Es genügt ein flüchtiger Blick, um den Text als ein sprachlich und innerhalb seiner Gattung spätes Erzeugnis zu erkennen. Allein das Bekenntnis des Titus vor seiner Taufe in Kapitel 10 enthält mit der Konstruktion credere mit in und Akkusativ eine erst ab Tertullian zu belegende rein christliche Bildung5, mit der Phrase ex toto corde meo et ex tota anima mea einen klaren, in Vetus Latina und Vulgata gleichlautenden Biblizismus nach der Formulierung des Liebesgebotes in Deuteronomium 6,56 und mit salvum facere in der Bedeutung von Rechtfertigung eine typisch christliche Prägung, zu denen auch der metaphorische Gebrauch von vulnus für die Missetat des Menschen vor Gott zählt.7 Um so sprechen zu können, hätte Titus eine lateinische Bibelübersetzung kennen müssen. Anachronistisch an diesem Text ist allerdings nicht seine sprachliche Gestalt – denn er ist anonymisiert und verzichtet auf eine Selbstdatierung, behauptet also nicht, als solcher alt zu sein –, vielmehr sind wesentliche Elemente der Erzählung teils untereinander widersprüchlich und damit wechselseitig anachronistisch, teils überhaupt anachronistisch, anders gesagt: Es liegen sowohl massive interne Anachronismen als auch absolute Anachronismen auf der Sachebene vor. Zur ersten Kategorie gehört die Vermischung historischer Fakten aus der Regierungszeit des Tiberius (14–37 n. Chr.), unter dem Pontius Pilatus Statthalter von Judäa und Samaria war (26–36 n. Chr.), mit solchen aus dem Jüdischen Krieg (66–70 n. Chr.), den Vespasian und Titus leiteten. Die Abberufung des Pilatus 36 n. Chr. erfolgte eben nicht durch Titus und Vespasian, sondern durch den Legaten von Syrien, Vitellius, und hatte mit der Belagerung und Eroberung von Jerusalem, die keine sieben Jahre, sondern von März bis August 70 n. Chr. dauerte, nichts zu tun, etc. Zu den absoluten Anachronismen gehört die Darstellung des Titus als eines Königs (regulus), der in „Equitanien“ in Analogie zu den spätantiken germanischen Staatenbildungen ein Teilkönigreich führt, das vom römischen Kaiser anerkannt ist. Sein Verhältnis zu Vespasian bleibt einigermaßen unklar, ist aber eher das zu einem Waffenbruder oder einem anderen germanischen Teilkönig als das eines römischen Sohnes zu seinem Vater, etc. Für eine historische Erzählung mit dem Anspruch, historisch verbürgte Wahrheit zu berichten, als welche sich der Text gibt, handelt es sich also aus heutiger Perspektive um evidente Anachronismen, die noch dazu mit erheblicher geographischer Konfusion einhergehen. Sie haben aber eine gläu5 6 7

TLL IV s. v. credo 1149,28–69; Blaise 1954, 229 s. v. credo; Mohrmann 1961, 195–203. TLL IV s. v. cor 940,50 f. Zu salvum facere Blaise 1954, 73,5 s. v. salvus (2); Mohrmann 1961, 90 f., 120, sowie Mohrmann 1979, 83; zu vulnus Blaise 1954, 863, s. v. vulnus (1). Schon klassisch ist creare für den Schöpfungsakt (TLL IV s. v. creo 1161,21–74), tritt bei den Christen aber massiert auf, cf. Koffmane 1879–1881, 67 f.

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bige Aufnahme dieses Textes und seine Tradierung über das gesamte Mittelalter hinweg nicht verhindert, ja er ist seinerseits zum Ausgangspunkt einer verzweigten, auch volkssprachigen Legendenbildung geworden.8 Das Beispiel zeigt, dass die Empfindlichkeit gegenüber dieser Art sachlicher interner und absoluter Anachronismen zu bestimmten Zeiten, bei bestimmten Lesern und für bestimmte literarische Kontexte sehr gering sein konnte. 2. Gesta Pilati Ein gegenteiliges Beispiel liefern die Gesta Pilati, wie Tischendorf die lateinische Übersetzung zur Unterscheidung von ihrer griechischen Vorlage, den Acta Pilati, nannte, die ebenfalls aus dem Komplex der um Pilatus gruppierten Pseudepigraphen stammen. Die griechischen Acta Pilati, die ausführlich über den von Pilatus geleiteten Prozess gegen Jesus berichten, sind als erster Teil in das sogenannte Nikodemus-Evangelium eingegangen, zu dem als zweiter großer Block der Descensus, der Bericht über den Abstieg Jesu in das Reich des Todes, gehört. Möglicherweise ist eine erste Stufe der Acta schon im 2. Jahrhundert n. Chr. entstanden und vielleicht ist bereits ab dem 3. Jahrhundert mit lateinischen Übersetzungen zu rechnen, wenn man die Hinweise einiger Kirchenschriftsteller auf Pilatus-Schriften mit frühen Vorformen der uns erhaltenen Stücke identifizieren darf; sicher bezeugt ist der Text ab dem 4. Jahrhundert, wobei die verbreitetste lateinische Rezension erst im 5. Jahrhundert entstand.9 Weder die komplexe und nach wie vor nicht vollständig entschlüsselte Entstehungsgeschichte, noch die reiche Wirkungsgeschichte, noch auch die problematischen Inhalte der im Nikodemus-Evangelium vereinigten Texte können hier ausgeführt werden.10 Im Folgenden soll nur die chronologische

8 9

Cf. zur Wirkungsgeschichte die Hinweise oben Anm. 3 und Schärtl 2012, 240. Cf. zur schwierigen Datierung die oben Anm. 3 genannte Literatur sowie Gounelle/Izydorczyk 1997, 101–119; Schärtl 2012, 233–238. Die in den Handschriften teils mit den Acta Pilati verbundene Anaphora Pilati hat zuletzt Baudoin 2016, 231–234, besprochen und in der erhaltenen Textform auf das 5. Jahrhundert datiert. 10 Nach der noch immer maßgebenden Edition von Tischendorf 1876, 210–432, und der Ausgabe von Santos Otero 1999, 388–465, hat Kim 1973 den lateinischen Text, wie ihn der Codex Einsiedeln Stiftsbibliothek ms. 326 bietet, ediert, Gounelle 2008 die byzantinischen Fassungen aufgearbeitet. Eine französische Übersetzung der lateinischen Rezension A geben Gounelle/ Izydorczyk 1997 (nach Kim), eine deutsche Übersetzung der Rezensionen Griechisch A (nach Tischendorf) und Lateinisch A (nach Gounelle/Izydorczyk) bei Schärtl 2012. In der Series Apocryphorum des Corpus Christianorum wird derzeit eine neue Edition vorbereitet. Die jüngste Literatur ist bequem auf den von der Association pour étude de la littérature apocryphe chrétienne (AELAC) betreuten Seite (http://wp.unil.ch/aelac/bibliographie/) recherchierbar. Herauszuheben ist die grundlegende Studie von Schärtl 2011 zu den Pilatus-Akten sowie die Einleitung in das Nikodemus-Evangelium bei Gounelle/Izydorczyk 1997, 17–119, darin 86–101 zu den griechischen und lateinischen Textfassungen.

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Fiktion des Vorspanns auf der Stufe der verbreitetsten lateinischen Rezension aus dem 5. Jahrhundert n. Chr. interessieren.11 Ego Aenias protector eram prius Hebraeus et sectator legis; sed gratia salvatoris maximo pro dono me apprehendit, cognovi Christum Iesum in sacra scriptura et accessi ad eum ad credendum ei, ut dignus fierem sancto baptismate. Ante omnia quaesivi hypomnemata quae confecta sunt illis temporibus de domino nostro Iesu Christo et quae Iudaei vulgarunt sub Pontio Pilato. Haec lingua hebraica scripta inveni volente domino nostro Iesu Christo. Ego igitur in linguam graecam converti, regnantibus excelsis Theodosio anno decimo septimo sui consulatus et quinto Valentiniani, indictione nona. Quicumque legitis hunc librum et haec transfertis in alium librum, recordantes mei orate pro me Aenia minimo, ut deus mihi misericors sit mihique remittat peccata quae in eum patravi. Pax sit eis qui haec legent eorumque familiis universis in seculum. Amen. Factum est autem in anno XVIIII. imperii Tiberii Caesaris imperatoris Romanorum et Herodis filii Herodis regis Galilaeae, anno XVIIII. principatus eius, VIII. Kal. Aprilis, quod est XXV. die mensis Martii, consulatu Rufini et Rubellionis, in anno quarto ducentesimae secundae olympiadis sub principatu sacerdotum Iudaeorum Ioseph et Caiphae: quanta post crucem et passionem domini historiatus est Nicodemus, acta a principibus sacerdotum et reliquis Iudaeis, mandavit ipse Nicodemus litteris hebraicis. Annas et Caiphas et Somne et Datam, Gamaliel, Iudas, Levi, Neptalim, Alexander et Iairus et reliqui Iudaeorum venerunt ad Pilatum accusantes dominum Iesum Christum de multis et dicentes: Istum novimus filium Ioseph fabri ex Maria natum, et dicit se esse filium dei et regem: non solum hoc, sed et sabbatum violat et paternam legem nostram vult dissolvere. (…)

Der Text beginnt mit einer Selbstvorstellung des angeblichen Schreibers, der aus ursprünglichem Ananias auf dieser Rezensionsstufe zu einem Aenias geworden ist. Aenias sei ein jüdischer Leibwächter gewesen, habe sich nach der Lektüre der Heiligen Schrift zum Christentum bekehrt, habe nach alten jüdischen Aufzeichnungen von Jesu Prozess vor Pilatus gesucht und sei fündig geworden. Diese habe er aus dem Hebräischen ins Griechische übersetzt, und zwar in der Regierungszeit des Theodosius und Valentinian.12 Trotz der Präzision der Angaben zu Theodosius und Valentinian und dem Jahr der Indiktion lässt sich daraus keine eindeutige Datierung gewinnen, da sich die Angaben, gleichgültig welche Namensträger man annimmt und welcher Textvariante für die Zahlenangaben man folgt, nicht harmonisieren lassen.13 Der Vorspruch schließt mit der Bitte um frommes Gedenken an den Schreiber.

11 Der Text nach Tischendorf 1876, der bei seinem Rekonstruktionsversuch mit fraglicher Berechtigung massiv nach der koptischen Fassung korrigiert hat. Kim 1973 und Gounelle/Izydorczyk 1997 beschränken sich darauf, die mittelalterliche Texttradition für Verbesserungen der zentralen Handschrift zu benutzen. Eine valide Rekonstruktion der älteren lateinischen Textstufen steht aus. 12 Diese Angaben stammen bereits aus der griechischen Vorlage; der lateinische Übersetzer blendet sich und seine Tätigkeit völlig aus. 13 Weder für das Paar Theodosius I. (*347, Augustus 379–395) / Valentinian II. (*371, Augustus 374–392) noch für Theodosius II. (*401, Augustus 408–450) / Valentinian III. (*419, Augustus 425–455) lässt sich die Indiktionsangabe, die, wo sie in den Handschriften enthalten ist, einheitlich mit 9 überliefert wird und so innerhalb der gemeinsamen Regierungszeiten ca. auf die

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Es schließt sich eine für den Beginn von Prozessakten typische Datierung an, die sehr ausführlich ausfällt. Angegeben wird in dieser Rezension das 19. Jahr der Regierung des Tiberius, das wäre 32/33 n. Chr. Merkwürdig ist die Gleichsetzung mit dem 19. Jahr der Regierung des Herodes Antipas, der bereits 4 v. Chr. Tetrarch wurde; vielleicht ist aber erst ab seiner erneuten Bestätigung durch Tiberius gerechnet, also auch mit 32/33 n. Chr. Rätsel gibt die Angabe der Konsuln Rufinus und Rubellio auf, da solche nie gemeinsam amtiert haben und Rubellius (nicht Rubellio) überhaupt nur zweimal in den Konsulatslisten erscheint, einmal C. Rubellius Blandus als Suffektkonsul 18 n. Chr., dann L. Rubellius Geminus als eponymer Konsul 29 n. Chr. Üblicherweise wird daher eine Verballhornung von L. Rubellius Geminus und C. Fufius Geminus vermutet, die 29 n. Chr. Konsuln waren.14 Die Datierung auf den 25. März weist hingegen auf das Jahr 31 n. Chr. hin, da in diesem der Ostersonntag, an dem die angebliche Niederschrift des Prozessprotokolls erfolgte, nach dem julianischen Kalender und der seit dem Konzil von Nizäa favorisierten Berechnung am ehesten auf den 25. März fiel.15 Das vierte Jahr der 202. Olympiade führt indes erneut auf 32/33 n. Chr. Nimmt man die zahlreichen ernst zu nehmenden Textvarianten im Lateinischen, im Griechischen und in den anderen spätantik-frühmittelalterlichen Übersetzungssprachen hinzu und sieht von Korruptelen ab, durch die Abwegiges eingedrungen ist, lichtet sich das scheinbare Chaos. Denn immer ist es der Zeitraum von 29 n. Chr. bis 32/33 n. Chr., der angesteuert wird. 29/30 n. Chr. und 32/33 n. Chr., das 1. und das 4. Jahr der 202. Olympiade, sind nun die beiden für das Todesjahr Christi in der Alten Kirche am breitesten diskutierten Daten; die dazwischenliegenden Jahre könnten als der Versuch eines Kompromisses zu deuten sein. In der scheinbar wirren Datierung spiegelt sich also wohl weniger das mangelnde chronologische Bewusstsein des Verfassers als die umstrittene Fixierung des Ereignisses selbst, die sich in der reichen Variantenbildung niedergeschlagen hat. Auf die erste Fiktion des Leibwächters und Übersetzers Aenias folgt die zweite Fiktion, die den Nikodemus des Johannes-Evangeliums zum Verfasser der angeblichen hebräischen Vorlage macht. Innerhalb des Corpus der narrativ gestalteten Prozessakten fällt dann die völlige Absenz irgendwelcher nachprüfbarer historischer Daten ins Auge. Das Beispiel ist typisch für zahlreiche Pseudepigrapha. Es zeigt, dass nicht nur erhebliche Mühe darauf verwendet wird, die fingierte Verfasserschaft zu beglaubigen, sondern auch darauf, die Überprüfbarkeit zu vereiteln. Ein hebräisches Original ist da, wenn der durchschnittliche Rezipient nicht über die nötigen Sprachkenntnisse

Jahre 380/381, 425/426 und 440/441 führt, mit den tradierten Angaben zu den Regierungsjahren bzw. Konsulaten oder Nobilissimatsjahren (17 oder 18 für Theodosius, 5 oder 6 für Valentinian) gut synchronisieren; cf. Schärtl 2012, 237 f. mit Anm. 15, die 425 n. Chr. favorisiert, und Schärtl 2011, 35–38, auch zu den Schlüssen, die die Amtsbezeichnung des Ananias/Aenias (nicht) erlauben. 14 Cf. zu diesem und den anderen Daten Schärtl 2011, 40–42. 15 Zur Problematik der Osterfestberechnung cf. knapp Visoná 1995, 523 f.; Vogtherr 2004, 607 f.; ausführlich Strobel 1977; Nothaft 2012.

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verfügt, eine carte blanche. Die Tatsache der Übersetzung im Abstand von vierhundert Jahren hebelt jede stilistische Kritik aus und legitimiert den Pseudepigraphen, sein eigenes Idiom zu verwenden, das als das eines angeblichen Nicht-Muttersprachlers und Soldaten ohnehin keine Sprach- und Stilkritik zulässt, geschweige denn in der lateinischen Sekundärübersetzung. Die Wahl eines zwar benannten, aber niemandem bekannten angeblichen Verfassers, des Leibwächters Aenias, verwehrt die Möglichkeit biographischer Überprüfung.16 Das Fehlen von Daten innerhalb des Textes macht diesen vollends unangreifbar. Der einzige kleine Missgriff, den sich der Autor vielleicht erlaubt hat, könnte die Angabe zu den Kaisern Theodosius und Valentinian sein, sofern nicht auch hier eine bewusste Verschleierungstaktik anzusetzen ist. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass für die Rezipienten dieses Textes historische Glaubwürdigkeit offensichtlich wichtig war und sich nicht nur in zuverlässigen Gewährsleuten wie Nikodemus, sondern auch in Daten und Zahlen spiegelte. Die Beglaubigungsstrategien weisen auf eine entwickelte Sensibilität für chronologische Angaben hin, deren Existenz in dieser Ausführlichkeit sonst schwer erklärbar wäre: einen guten Historiker macht in den Augen des Publikums offenbar eine gewisse (gattungsspezifische) Zahlenverliebtheit aus. Ihre Grenze findet diese Sensibilität allenfalls dort, wo die Regierungszeiten von Theodosius und Valentinian hätten nachgerechnet werden müssen. Freilich hat der Autor dies durch die Wahl von Kaisern erschwert, deren Namen häufiger begegnen, und der lateinische Übersetzer dadurch, dass er nicht klar nach dem Regierungsantritt, sondern nach Konsulaten datiert. En passant sei bemerkt, dass die Spätantike noch erheblich elaboriertere und gelungenere Verfasserfiktionen hervorgebracht hat. Das unter dem Namen des Evangelisten Matthäus laufende Kindheitsevangelium (Pseudo-Matthäusevangelium) besitzt in der jüngeren Textfamilie A als Vorspann zwei Briefe, in deren erstem die Bischöfe Chromatius und Heliodor an Hieronymus schreiben, sie verfügten nur über häretisch entstellte Kindheitsevangelien, hätten aber davon gehört, dass Hieronymus eine orthodoxe Originalfassung auf Hebräisch entdeckt habe, die er doch übersetzen möge. Hieronymus antwortet im zweiten Brief, dass dem so sei, er sich über die manichäischen Machwerke selbst bereits geärgert habe und daher das bisher im Geheimen treu von Generation zu Generation weitergegebene Buch ins Lateinische bringe.17 Chronologisch stimmt hier alles: Chromatius von Aquileia und Heliodor von Altinum sind anerkannt rechtgläubige Zeitgenossen des Hieronymus, die mit ihm tatsächlich korrespondierten. Das Antwortschreiben des Hieronymus

16 Dies gilt auch für den ursprünglichen Ananias (Hananias), bei dem der Leser wohl an die Gestalt in Apostelgeschichte 9 und 22 gedacht haben wird, von der dort jenseits der Tatsache, dass es sich um einen Jünger Jesu handelte, der sich durch Frömmigkeit, Gesetzestreue und seinen guten Ruf bei den Juden auszeichnete, über sein Mitwirken an der Heilung des Paulus in Damaskus hinaus nichts berichtet wird. 17 Zum Pseudo-Matthäusevangelium cf. einführend Ehlen 2012 (mit Literatur); ausführlich Gijsel/Beyers 1997, 1–275.

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wird sogar mit typisch hieronymianischen Wendungen versehen.18 Tatsächlich ist sowohl der Briefwechsel als auch der Hinweis auf manichäische Fälschungen frei erfunden, wie die Thematisierung angeblicher fremder Fälschungen überhaupt eine beliebte Beglaubigungsstrategie von Fälschern ist.19 In Bezug auf die Gesta Pilati ist festzuhalten, dass hier nicht einzelne Inhalte anachronistisch sind – die Angabe zu Theodosius und Valentinian ist wohl einfach falsch, aber nicht anachronistisch –, sondern die literarische Form. Der Text gibt sich, von der vorangestellten Datierung an, als eine Dokumentation in Form eines Prozessprotokolls, hält das Formular des Protokolls aber nicht durch, sondern verfällt schon im ersten Kapitel in einen dramatischen Erzählstil. Eine solche Dramatisierung der alten Form des Verhörprotokolls gehört als literarische Erscheinung aber erst zu den spätantiken Weiterentwicklungen der Gattung und wäre für die behauptete Ursprungszeit undenkbar.20 Im Kleinen anachronistisch ist die Form der Datierung. Denn es ist hochgradig unwahrscheinlich, dass der Römer Pilatus zu Datierungszwecken den amtierenden Hohepriester erwähnt oder die Datierung auf den 8. Tag vor den Kalenden des April derart umständlich erläutert hätte. Mutatis mutandis gilt dies, wenn man Nikodemus als Verfasser der Angaben betrachtet. Formverstöße dieser Art, man könnte sie formale Anachronismen im Großen und Kleinen nennen, haben die Rezeption des Textes in keiner Weise beeinträchtigt, sodass man – anders als für chronologische Daten und Fakten – für diesen Bereich von fehlender Sensibilität seines Publikums ausgehen darf. 3. Epistulae Senecae ad Paulum et Pauli ad Senecam Rund ein Jahrhundert früher als die oben zitierte Rezension entstanden die Epistulae Senecae ad Paulum et Pauli ad Senecam. Es handelt sich um 14 kurze Briefe vergleichsweise banalen Inhalts: Seneca und Paulus tauschen Freundlichkeiten aus, schicken einander die neuesten Bücher und äußern sich zum Stil und der latinitas ihrer Werke. Seneca entwickelt den Plan, Kaiser Nero mit Paulus und dem Christentum bekannt zu machen, was ohne Erfolg bleibt. Lediglich der 11. Brief über den Brand Roms und den Brandstifter Nero wirkt etwas inhaltsreicher.21 Der Briefwechsel ist sicher unecht; er hatte keine griechische Vorlage, sondern ist auf Latein konzipiert worden; er dürfte in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts entstanden 18 Zu den beiden fingierten Briefen cf. Speyer 1971, 80 f.; Ehlen 2012, 983 f.; Gijsel/Beyers 1997, 83–85, 278–285 mit Anmerkungen. 19 Cf. zu dieser Beglaubigungsstrategie Speyer 1971, 62 f. mit Beispielen, zu weiteren Verfahren der Echtheitsbeglaubigung 44–84. 20 Die Acta Pilati gehören, anders als es der traditionelle Obertitel Nikodemus-Evangelium nahelegen könnte, nicht zu den literarischen Formen des Evangeliums, fallen aber auch nicht unter die typischen römischen Prozessakten (zum Unterschied cf. Gounelle/Izydorczyk 1997, 21), sondern dramatisieren mit ihren langen wörtlichen Reden das Geschehen, sodass Furrer 2000 und Furrer 2010, 72–78, zu Recht von „drame liturgique“ spricht. 21 Gerade dieser Brief dürfte aber, zusammen mit dem 14. Brief, eine nachträgliche Ergänzung des Briefwechsels, eine Art Fälschung zweiten Grades sein, cf. Ramelli 2014.

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sein, jedenfalls kennen ihn Hieronymus und Augustin schon als verbreiteten Text. Eine Rahmenfiktion fehlt.22 Zur Veranschaulichung sei als Beispiel der 10. Brief ausgeschrieben: Senecae Paulus salutem. Quotienscumque tibi scribo et nomen meum subsecundo, gravem sectae meae et incongruentem rem facio. Debeo enim, ut saepe professus sum, cum omnibus omnia esse et id observare in tua persona quod lex Romana honori senatus concessit, perfecta epistola ultimum locum eligere, ne cum aporia et dedecore cupiam efficere quod mei arbitrii fuerit. Vale, devotissime magister. Data ante diem quintum Kalendas Iulias Nerone tertio et Messalla consulibus

Anachronistisch an diesem Brief ist einmal die Sprache, die markante spätlateinische Erscheinungen aufweist. Für subsecundare stellt der Text den Erstbeleg dar, nur Gellius hat davor einmal subsecundarius gebildet.23 Devotus in der Grußformel tritt erst in der Spätantike bei Anreden auf, allerdings nie wie hier in Bezug auf den Empfänger.24 Anachronistisch ist auch die Form. Das bis Plinius übliche klassische Formular der Briefanrede hatte das Muster aliquis alicui salutem. Erst ab der Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr., erstmals bei Fronto, wird der Adressat wie hier an den Anfang gerückt. Anstelle des historisch korrekten Formulars ist das zeitgenössische verwendet.25 Fehlerhaft, aber nicht anachronistisch ist in der handschriftlichen Überlieferung die Datierung, die ein gemeinsames Konsulat von Messalla und Nero für die 4. Amtsperiode des Kaisers angibt. Statt der von Fürst gewählten konjekturalen Richtigstellung auf das 3. Konsulat Neros sollte man den Text wohl besser als typischen Fälscherirrtum belassen.26 Absurd und insofern auch für die frühe Kaiserzeit anachronistisch ist die Vorstellung, es habe das Gesetz oder den Brauch gegeben, in Briefen an Senatoren den eigenen Namen erst am Ende des Brieftextes zu nennen. Denn zu keiner Zeit wollte irgendein römischer Senator erst nach der Lektüre eines Briefes erfahren, wer ihm schrieb. Als inhaltlichen Anachronismus wird man innerhalb des Briefcorpus generell die breite Thematisierung des stilistischen Ausdrucks und der Brieftheorie zu bewerten haben, die im vorangestellten Beispiel mit der qualitas personae anklingt, auf deren Status Rücksicht zu nehmen ist. Denn im Brief das richtige Briefschreiben

22 Die Briefchen sind intensiv und sehr kontrovers diskutiert worden; zu den Einleitungsfragen Fürst 2006, 3–22, der eine abgewogene Interpretation gibt. Der im Folgenden zitierte lateinische Text folgt seiner Ausgabe. 23 Gellius praef. 23; cf. Blaise 1954 s. v. subsecundo, der als Beleg nur Hil. mat., 7,8 angibt. 24 Cf. TLL V,1 s. v. devotus 884, 21–29; Fürst 2006, 52 Anm. 130. 25 Cf. Fürst 2006, 39 Anm. 26. 26 Cf. ib., 52 Anm. 132.

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zu thematisieren, gehört zur späten selbstreflexiven Phase der Briefliteratur und damit in das 4. und 5. Jahrhundert, nicht aber in das 1. Jahrhundert n. Chr.27 Dies führt, zusätzlich zu den bisher beobachteten Formen der inhaltlichen, formalen und sprachlichen Anachronismen auf eine weitere Spielart, die man wesensmäßigen Anachronismus nennen könnte. Die Erfindung der epistulae Pauli et Senecae als solche beruht auf dem typisch spätantiken Gebrauch des Briefes in den höheren Schichten, der nicht zur Überbrückung räumlicher Distanz dient – Paulus und Seneca halten sich beide in Rom auf, können einander jederzeit besuchen und tun dies nach Ausweis der Briefe auch – und der auch nicht zur Mitteilung wesentlicher Inhalte verwendet wird, sondern bei dem die Tatsache, überhaupt einen Brief geschrieben zu haben, als Zeichen der Verbundenheit wichtig ist.28 Genau dies trifft auf den Briefwechsel von Paulus und Seneca zu: Erheblich ist nicht der Inhalt der Mitteilungen, sondern die schiere Existenz von Briefen. Diese Abart der Gattung Brief gab es zu Senecas Zeiten so noch nicht. Daher ist das Pseudepigraphon der Seneca-Paulus-Briefe insgesamt wesensmäßig anachronistisch. Gelesen wurde es dennoch als authentisches Dokument und avancierte zu einem wichtigen Motor der christlichen Seneca-Rezeption. Sogar Hieronymus, der sonst falsche Zuschreibungen durchaus kritisch beurteilt, konstatiert dies und stellt trotz spürbarem Unbehagen die Authentizität in De viris illustribus 12 nicht in Frage: Lucius Annaeus Seneca Cordubensis, Sotionis Stoici discipulus, et patruus Lucani poetae, continentissimae vitae fuit, quem non ponerem in catalogo Sanctorum, nisi me illae Epistolae provocarent, quae leguntur a plurimis, Pauli ad Senecam, et Senecae ad Paulum. In quibus cum esset Neronis magister, et illius temporis potentissimus, optare se dicit, eius esse loci apud suos, cuius sit Paulus apud Christianos. Hic ante biennium quam Petrus et Paulus coronarentur martyrio, a Nerone interfectus est.

II. DIE BEDEUTUNG DER ANACHRONISMEN FÜR AUTOREN, LESER UND KRITIKER PRIMÄRER PSEUDEPIGRAPHIE Angesichts dieser Beispiele und der massiven Präsenz primärer Pseudepigraphie in der Spätantike stellt sich generell die Frage, wie es mit der antiken Echtheitskritik stand und welche Bedeutung sprachliche, inhaltliche, formale und wesensmäßige Anachronismen für sie besaßen. 27 Zu den Funktionen und Topoi des christlichen Briefwesens und zur Brieftheorie grundsätzlich Thraede 1970; Conring 2001; Gemeinhardt 2007, 184–243; Schröder 2007, 136–284; Bauer 2011, 12–109; markante Beispiele der Thematisierung der Brieftheorie in Briefen der Spätantike gibt Thraede 1970, 180–191. 28 Cf. Fürst 2006, 11–14, und ausführlicher Fürst 1998 zu diesem in der Spätantike weit verbreiteten Phänomen, das Briefeschreiben ganz in den Dienst der amicitia-Pflege zu stellen, das die Erfindung des Seneca-Paulus-Briefwechsels als eines geeigneten Mittels, eine Freundschaft der beiden Männer zu „dokumentieren“, erklärt. Selbstverständlich kommen auch vor der Spätantike Briefe, insbesondere kurze Billets, vor, die lediglich der Kontaktpflege dienen. Einen gesamten Briefwechsel nur mit solchen zu bestücken, dürfte aber für die klassische Zeit nicht gut denkbar sein.

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Nach wie vor hilfreich sind die Übersichten zur paganen, jüdischen und christlichen Echtheitskritik, die Wolfgang Speyer in seiner grundlegenden Studie gegeben hat.29 Demnach operieren die antiken Kritiker mit nahezu derselben Fülle an Instrumenten, die wir heute noch verwenden, vom paläographischen Befund, sprachlich-stilistischen und metrischen Argumenten bis zum Nachweis innerer Unstimmigkeiten oder allgemeinen Plausibilitätserwägungen. Zwei Verfahren sind besonders gut zu dokumentieren, nämlich die sprachlich-stilistische Kritik, die von hellenistischer Zeit an durch die antike Philologie und ihre hauptsächlichen Träger, die Grammatiker, betrieben wird, und das Verfahren, die Zugehörigkeit eines Textes zu einem bekannten Autor aufgrund inhaltlicher Abweichungen etwa in der philosophischen oder theologischen Position zu bestreiten. Beide Varianten liefern auch in der römischen Spätantike die Hauptargumente, wo Echtheitskritik getrieben wird. Demgegenüber werden chronologische Ungereimtheiten erheblich seltener gegen die Echtheit ins Feld geführt;30 Hieronymus etwa argumentiert in De viris illustribus, wo er Fehlzuschreibungen begründet, standardmäßig mit dem Stil oder häretischen Inhalten, nie mit Datierungen;31 für die Argumentation mit Formverstößen habe ich in der Spätantike noch kein Beispiel gefunden. Dieser Befund deckt sich mit dem, was man den Anstrengungen der Fälscher bzw. der Autoren primär pseudepigraphischer Texte entnehmen kann. Auf den sprachlich-stilistischen Aspekt wird immer Rücksicht genommen, häufig, indem echte Zitate eingestreut werden oder eine Fiktion zum Einsatz kommt, die einen stilistisch bedenklichen Text salviert: „Paulus“ muss nach echtem Paulus klingen, und wenn er das nicht tut, muss es einen triftigen Grund dafür geben.32 Ebenso viel Energie wird auf die Plausibilisierung des angeblichen Verfassernamens auf der Sachebene verwendet. Für diesen unerwartete Inhalte müssen als Geheimlehre, als mündliche Tradition vertrauenswürdiger Schüler, als Fund alter Schriften im Grab des Verfassers etc. legitimiert werden.33 Demgegenüber werden Datierungen und sonstige Zahlen und Fakten zwar nicht achtlos, aber lockerer behandelt. Ohne eine genaue Statistik liefern zu können, ergibt sich der Eindruck, dass die vier unterschiedenen Gruppen von Anachronismen, sprachlich-stilistischer, inhaltlicher, formaler und grundsätzlicher Natur, in dieser Reihenfolge mit absteigender 29 Speyer 1971, 111–128, 152–155, 179–218. 30 Einige Beispiele aus Augustin und Eusebios von Cäsarea bei Speyer 1971, 184. Die Beurteilung von Anachronismen als Fehlern begegnet öfter, cf. e. g. die explizite Kritik an anachronistischen Ortsbezeichnungen bei Velleius Paterculus 1,3. 31 Die Kritik propter styli dissonantiam führt etwa zur Verwerfung von Schriften, die Simon Petrus, Paulus und Minucius Felix zugeschrieben wurden. Zur Problematik des grundsätzlich dogmatischen Standpunkts der christlichen Echtheitskritik cf. Speyer 1971, 201 f. 32 Anders als die knappe Erwähnung der Nachahmung des Stils bei Speyer 1971, 82 (mit einigen paganen und christlichen Beispielen), suggeriert, scheint mir eine Reihe von Verfahren der Echtheitsbeglaubigung, die Speyer bespricht, ein wichtiges Ziel darin zu besitzen, Stilkritik abzuwehren, so u. a. die Einführung bestimmter falscher Verfasser- und Übersetzernamen (besonders die von so gut wie unbekannten oder frei erfundenen Personen), die Behauptung fremdsprachiger Urschriften, die Untermischung von kleineren und größeren originalen Textbausteinen, aber etwa auch eine besonders offensiv vorgetragene Wahrheitsbeteuerung. 33 Cf. zu diesen Verfahren der Beglaubigung mit Beispielen ib., 65–79.

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Intensität gemieden wurden. Wenn sprachlich-stilistische Anachronismen auftreten, liegt es offenbar nicht am fehlenden Willen, sondern der Fähigkeit des Pseudepigraphen, sie zu vermeiden. Bei irrigen Daten und Fakten – mit Ausnahme von Lehrinhalten – ist die Nonchalance etwas höher, wie auch die Toleranz auf Seiten der Rezipienten stärker ausgeprägt scheint. Formale Verstöße sind erstaunlich häufig zu beobachten. Dass wesensmäßige Anachronismen nicht noch öfter zu finden sind, dürfte an der vergleichsweise hohen Stabilität der Gattungen und literarischen Formen in der Antike liegen. Man wird die Erklärung dafür in der Wertigkeit von Sprache, Stil und Sachwissen innerhalb der spätantiken Kultur der Paideia suchen dürfen. Ein durch Grammatik- und Rhetorikunterricht sprachlich-literarisch gebildetes Publikum war zweifelsohne leichter in der Lage, auch feine sprachlich-stilistische Verstöße zu bemerken, während ihm das Nachrechnen jahrhundertealter Datumsangaben erheblich schwerer fallen musste. Das Empfinden für die ständige historische Metamorphose von Gattungen und Textsorten ist schließlich in der Antike – sieht man von der teleologischen Vorstellung einer Entfaltung der Genera hin zu ihrer Vollform und von Dekadenzmodellen ab – gegenüber einer statarischen Literaturbetrachtung generell schwächer ausgebildet gewesen. Gegen die naive und natürliche Annahme, früher hätten die Menschen zumindest ähnlich wie heute gelebt, gedacht und geschrieben, kommt ja nicht einmal unser zutiefst historisiertes Denken wirklich an. III. EINIGE FOLGERUNGEN FÜR DIE ERFORSCHUNG GEZIELTER ANACHRONISMEN Für die Autoren der Pseudepigrapha stellt die Vermeidung von Anachronismen mithin nicht die zentrale, aber eine nicht zu vernachlässigende Teilaufgabe innerhalb der Herstellung von Glaubwürdigkeit dar. Wenn man die Blickrichtung umkehrt, ergibt sich für einen Autor gezielter Anachronismen, die ein Leser als solche wahrnehmen soll, die Aufgabe, sicher zu stellen, dass sie die Wahrnehmungsschwelle überschreiten und das Apriori der auktorialen Glaubwürdigkeit durchbrechen. Aus der Betrachtung der Pseudepigraphie lassen sich, differenziert nach ihren Spielarten, mehrere Forschungsfragen ableiten: Die Spätantike wartet mit literarischen Fälschungen mit Täuschungsabsicht auf, von denen sich Leser tatsächlich täuschen ließen.34 Vorhandene Anachronismen wurden entweder gar nicht bemerkt oder, wo Normabweichungen auffielen, nicht für Normverstöße, sondern allenfalls für Irrtümer gehalten. Angesichts der daraus ersichtlichen Unaufmerksamkeit bzw. Toleranz der Leser ergibt sich für Autoren, die mit gezielten Anachronismen operieren wollten – in literarischen Fäl34 Hierzu zählen z. B. als größere Textgruppen die unter dem Namen des Cyprian von Karthago und dem des Athanasius teils auf Griechisch, teils auf Latein im Laufe der Spätantike in Umlauf gebrachten Schriften. Schon der Beginn der Pilatus-Literatur und der rund um das Testimonium Flavianum erdichteten Texte sind ebenfalls als Fälschungen zu betrachten, cf. dazu Speyer 1978; Whealey 2003.

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schungen selbst kann es sie nicht geben –, die Aufgabe, diese so zu gestalten, dass sie nicht als Fehler oder Irrtum, sondern als sinnhaft wahrgenommen wurden. Damit stellt sich die Frage nach literarischen Strategien, die das Verständnis eines Anachronismus als gewollter Anachronismus garantieren. Diese werden vor allem darauf zielen, zum einen grundsätzlich eine nicht-naive, gewissermaßen literarische Lesehaltung zu schaffen, und zum anderen die Anachronismen auffällig genug zu markieren. Als wichtiger, wenn auch nicht absoluter Maßstab wird hier die Rezeption und die antike Echtheitskritik ins Spiel kommen: Wo Anachronismen den Zeitgenossen gar nicht auffielen oder nur als Fehler wahrgenommen oder moniert wurden, liegt die Vermutung nahe, dass entweder tatsächlich keine absichtsvollen Anachronismen vorhanden sind oder jedenfalls ihre künstlerische Aussage nicht verstanden wurde. Jenseits literarischer Fälschungen wird etwa für die pseudo-vergilischen und pseudo-ovidischen Gedichte des 1. Jahrhunderts n. Chr. die Existenz einer Pseudepigraphie diskutiert, die in offener Komplizenschaft mit dem Publikum biographisch interessante Stücke dazuerfindet.35 In diesem Subgenre, das sich dem rein literarischen oder rhetorischen Gebrauch fingierter Verfassernamen nähert und weniger als fälschende, denn als fiktionale Pseudepigraphie anzusehen ist, könnten durchaus gezielte Anachronismen auftreten. Sie wären in diesem Fall als Teil eines reizvollen literarischen Spiels zu deuten. Es stellt sich die methodische Frage, wie sie sich im Einzelfall von Verfasserirrtümern abgrenzen lassen. Für die christlichen Pseudepigrapha zum Neuen Testament aus dem späten 1. und frühen 2. Jahrhundert wird als Motiv, unter dem Namen des Paulus oder Johannes weitere Schriften zu verfassen, der Nachweis von Apostolizität als ausschlaggebend erwogen, in der Terminologie Wolfgang Speyers echte religiöse Pseudepigraphie, die ebenfalls von Fälschungen abzugrenzen ist.36 Ähnliches gilt für jüdische Pseudepigrapha, die in nach-prophetischer Zeit die Namen von Propheten benutzen, und für philosophische Schriften, die unter dem Namen eines Schuloberhaupts laufen.37 Allen diesen Texten gemeinsam ist, dass sie auf kanonische Autoren oder Werke zurückblicken und ihre Leser Unstimmiges und Unwahrscheinliches höherer Ziele wegen hinnehmen, also auch Anachronismen um der Bedeutung des Inhalts willen akzeptieren. Gerade das jüdische und das christliche Beispiel werfen dabei die Frage auf, welche Rolle das Zeitkonzept und die Geschichtsauffassung eines bestimmten Publikums für die Wahrnehmung von Anachronismen haben. Neben der Differenzierung in verschiedene Arten von Anachronismen drängt sich hier eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen subjektiv 35 Cf. zum Phänomen Holzberg 2005; Peirano 2012 (36–73 eine Übersicht zu den aus den antiken Rezeptionszeugnissen ableitbaren Spielarten der Pseudepigraphie); Stachon 2014 (mit teils fragwürdigen Schlüssen). Einen ähnlichen Fall stellen die erfundenen Verfassernamen der Historia Augusta dar, die wohl ebenfalls weniger täuschen als amüsieren sollen. 36 Cf. dazu Speyer 1965–1966; Speyer 1972; Kaestli 1993; Zimmermann 2003; cf. zudem die um Differenzierung bemühten Beiträge in Frey 2009. 37 Cf. für die griechischen Pseudepigrapha zum Alten Testament die neue umfassende Aufarbeitung von Siegert 2016. Das Paradebeispiel paganer philosophischer Pseudepigraphie sind die unter das Label „Pythagoras“ gestellten pythagoräischen Schriften.

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wahrgenommenen bzw. wahrnehmbaren und aus heutiger Sicht objektiv festzustellenden Anachronismen auf, die im besten Fall zu einer Typologie verschiedener Lesergruppen und ihrer subjektiven Möglichkeiten, Anachronismen zu erkennen, führen könnte. LITERATURVERZEICHNIS Albizu, Cristina (Hg.) (2011): Anachronismen – Anachronismes – Anacronismi – Anacronismos, Pisa. Baudoin, Anne-Catherine (2016): Truth in the Details: The Report of Pilate to Tiberius as an Authentic Forgery. In: Cueva, Edmund P. / Martínez, Javier (Hgg.): Splendide Mendax. Rethinking Fakes and Forgeries in Classical, Late Antique, and Early Christian Literature, Groningen, 219–238. Bauer, Thomas Johann (2011): Paulus und die kaiserzeitliche Epistolographie, Tübingen. Baum, Armin Daniel (2001): Pseudepigraphie und literarische Fälschung im frühen Christentum. Mit ausgewählten Quellentexten samt deutscher Übersetzung, Tübingen. Blaise, Albert (1954): Dictionnaire Latin-Français des auteurs chrétiens, Turnhout. Brox, Norbert (1975): Falsche Verfasserangaben. Zur Erklärung der frühchristlichen Pseudepigraphie, Stuttgart. Brox, Norbert (Hg.) (1977): Pseudepigraphie in der heidnischen und jüdisch-christlichen Antike, Darmstadt. Conring, Barbara (2001): Hieronymus als Briefschreiber. Ein Beitrag zur spätantiken Epistolographie, Tübingen. Di Tommaso, Lorenzo (2001): A Report on Pseudepigrapha Research since Charlesworth’s Old Testament Pseudepigrapha. Journal for the Study of the Pseudepigrapha 12 (2), 179–207. Ehlen, Oliver (2012): Das Pseudo-Matthäusevangelium. In: Markschies, Christoph / Schröter, Jens (Hgg.): Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. I. Band in zwei Teilbänden: Evangelien und Verwandtes. 7. Auflage der von Edgar Hennecke begründeten und von Wilhelm Schneemelcher fortgeführten Sammlung der neutestamentlichen Apokryphen, Tübingen, 983–1002. Ehrman, Bart D. (2013): Forgery and counterforgery: the use of literary deceit in early Christian polemics, Oxford. Frey, Jörg u. a. (Hgg.) (2009): Pseudepigraphie und Verfasserfiktion in frühchristlichen Briefen, Tübingen. Furrer, Christiane (2000): Du récit au drame: Passion évangelique et Actes de Pilate. In: Marguerat, Daniel / Curtis, Adrian (Hgg.): Intertextualités. La Bible en échos, Genf, 305–318. Furrer, Christiane (2010): La Passion dans les Acta Pilati. In: Nicklas, Tobias u. a. (Hgg.): Gelitten. Gestorben. Auferstanden. Passions- und Ostertraditionen im antiken Christentum, Tübingen, 69–96. Fürst, Alfons (1998): Pseudepigraphie und Apostolizität im apokryphen Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus. JbAC 41, 77–117. Fürst, Alfons (Hg.) (2006): Der apokryphe Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus, Tübingen. Gemeinhardt, Peter (2007): Das lateinische Christentum und die antike pagane Bildung, Tübingen. Gerlitz, Peter / Wolter, Michael (1997): Pseudonymität. TRE, Bd. 27, Berlin/New York, 659–670. Gijsel, Jan / Beyers, Rita (Hgg.) (1997): Libri de nativitate Mariae; textus et commentarius; PseudoMatthaei Evangelium; Libellus de nativitate Sanctae Mariae, 2 Bde., Turnhout. Gounelle, Rémi (Hg.) (2008): Les Recensions Byzantines de l’Évangile de Nicodème, Turnhout. Gounelle, Rémi / Izydorczyk, Zbigniew (Hgg.) (1997): L’Évangile de Nicodème ou Les Actes faits sous Ponce Pilate (recension latine A) suivi de La lettre de Pilate à l’empereur Claude, Turnhout.

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WANN STARB KAISER CLAUDIUS? Über das semantische und epistemische Potential von Zeitbestimmungen am Beispiel der Apocolocyntosis Anja Wolkenhauer (Tübingen) VORBEMERKUNG Die folgenden Überlegungen zielen darauf, das semantische Potential lateinischer Zeitbestimmungen und seine Bedeutung für das Textverständnis an einem Beispiel deutlich zu machen. Dabei geht es primär um die nicht-temporalen Implikationen der Zeitangaben, d. h. darum, was diese Zeitbestimmungen als mit zu bedenkendes ‚Surplus‘ in sich tragen. Voraussetzung einer derartigen Überlegung ist das Vorhandensein einer Vielfalt von Zeitbestimmungen mit unterschiedlichen, literarisch, historisch, sozial etc. geprägten Konnotationen, d. h. ein kulturell ausdifferenziertes Vokabular, aus dem sich ein Autor bedienen kann, wie man es im Lateinischen findet: Stunden können in Rom z. B. numerisch, nach Witterungserscheinungen oder nach den ihnen zugeordneten charakteristischen Tätigkeiten benannt werden; Tagesdaten kalendarisch, nach Fest- oder Gedenktagen oder nach Bezugspunkten im natürlichen Jahresgang; Jahre schließlich numerisch, eponym, nach regionalem, römischem oder griechischem Modell. Die vielen unterschiedlichen Verfahren, ‚Zeit‘ im Lateinischen zu benennen, gaben historischen Sprechern Instrumente an die Hand, um die Hörer zu lenken und die Glaubwürdigkeit oder Überzeugungskraft ihrer Texte zu verstärken. Die primäre und oft als einzige angenommene Funktion der Zeitangabe als Fixierung eines Ereignisses innerhalb einer berichteten Folge kann mit einem semantischen Überschuss verbunden sein. Daher ist es möglich, von den Texten ausgehend danach zu fragen, wie unterschiedliche Verfahren, das Vergehen von Zeit zu beschreiben, eingesetzt werden und welches nicht-chronologische Potential in ihnen jeweils aktualisiert wird. Diese Fragestellung ist eher kulturwissenschaftlich und textpsychologisch als narratologisch geprägt, da sie primär die aus der textexternen Welt gespeiste Semantik der Zeitangaben in den Blick nimmt und nach ihrer Funktion fragt. Zeitangaben sind an literarische Gattungen gebunden und fungieren als zentrale Gattungsmarker (erinnert sei nur an die eponyme Jahresdatierung des historiographischen Schrifttums oder die ‚rosenfingrige Eos‘ des epischen Duktus). Die Integration spezifischer Zeitperiphrasen in zuvor anders konditionierte Kontexte ist vor diesem Hintergrund als bedeutungstragende Ausstellung differenter Zeitquali-

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täten und ihrer semantischen Implikationen zu bestimmen. Dabei entstehen bedeutungsrelevante Differenzen, Grenzmarkierungen, Bruchlinien. Parodien wiederum sind aufgrund der ihnen immanenten Überzeichnung gute Hilfsmittel, um zu erkennen, wie semantische Profile angelegt sind und was mit der Gattungsmarkierung jeweils verbunden ist. Daher konzentrieren sich die folgenden Überlegungen mit der Apocolocyntosis auf einen Text, der parodistische Schreibweisen nutzt, und arbeiten das spezifische Surplus der dort so überreich positionierten Zeitangaben heraus. Die Relevanz der Überlegungen nicht nur auf grundsätzlicher Ebene, sondern auch für das gewählte Beispiel erweist sich darin, dass sie ein neues und bislang ungesehenes Argument für die umstrittene Datierung des Textes liefern. DER TEXT UND SEIN HISTORISCHER HINTERGRUND Die folgenden Überlegungen gehen von den ersten Kapiteln der „Verkürbissung des Kaisers Claudius“ (Apocolocyntosis) aus. Das in der Forschung meist Seneca zugeschriebene Werk beschreibt Tod, Himmel- und Höllenfahrt des Kaisers Claudius.1 Reich an vielfältigen Gattungsreferenzen folgt es einem fünfaktigen dramatischen Aufbau:2 Auf den Tod des Claudius (1–4) folgen eine Diskussion mit Herkules vor der Himmelstür (5–7) und Reden im Göttersenat (8; hier ist eine Lücke im überlieferten Text), bis mit den entscheidenden Reden von Janus, Diespiter und Augustus eine Lösung erreicht ist (9–11) und Claudius aus dem Olymp verbannt wird; als Nachspiel schließen sich sein Weg in die Unterwelt, Gerichtsverhandlung und Verurteilung an (12–15). Die Gattungsbestimmung der Apocolocyntosis bereitet gewisse Schwierigkeiten. Einigkeit besteht über ihren witzig-aggressiven Grundton, der gemeinsam mit dem karnevalesken Kontext und der sprachlichen Form des Prosimetrums ihre Einordnung als menippeische Satire rechtfertigt. Gleichwohl schwankt die Zuordnung innerhalb des komischen Spektrums; je nachdem, ob Witz, Literarizität oder konkreter Zeitbezug fokussiert werden, gilt sie als Parodie, Satire, Invektive, Spottschrift, Pamphlet, Propaganda, Palinodie oder (so der mittelalterliche Titel) als ludus.3 Im Werk werden in schnellem Wechsel unterschiedlichste Stil- und Gattungsreferenzen sichtbar. Man hat versucht, im Rahmen der grundlegenden fünfaktigen Struktur jedem einzelnen Akt ein parodiertes literarisches Genus zuzuordnen, was zu der Reihe „Tragödie – Komödie – Epos – Senatssitzung – pompa funebris und

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Textgrundlage: Roncali 1990. Kommentare liegen vor von Weinreich 1923 (grundlegend); Russo 51965; Lund 1994; Schönberger 1990; Eden 1984. Die Versuche, die Apocolocyntosis anderen Autoren – allen voran Petron – zuzuschreiben, haben mich nicht überzeugt; ich halte Seneca weiterhin für einen wahrscheinlichen Autor. Für die hier vorgebrachten Überlegungen spielt die Autorschaft allerdings kaum eine Rolle. Korzeniewski 1982; darauf aufbauend Blänsdorf 1986, bes. 12 f. Dazu Blänsdorf 1986, bes. 1, 20.

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Gerichtssitzung“ führte.4 Blänsdorf weist hier jedoch darauf hin, dass diese Zuordnung nur eine Perspektive des Verständnisses aufzeigt, jeder einzelne Akt hingegen wieder von einer Vielzahl knapper, blitzlichtartig aufscheinender Referenzen geprägt ist. Aus der Konfrontation der Stile, Motive und Genera bezieht der Autor einen guten Teil seines Witzes, der sich gegen historische Personen und Ereignisse, aber eben auch mit ihren eigenen Mitteln gegen Eigenheiten der zeitgenössischen Literatur richtet.5 In der Gestaltung der Zeitangaben parodiert er historiographische und epische Vorlagen; die Dichtungsparodie lässt sich mit der von Seneca ausgesprochenen, doch z. B. auch bei Quintilian anklingenden Kritik an ausufernden Zeitperiphrasen verbinden.6 Für Himmel- und Höllenfahrt des Kaisers darf man Fiktionalität annehmen; über seinen Tod, um den es im Folgenden geht, gibt es grundlegende Informationen aus anderen Quellen. Kaiser Claudius starb im Oktober 54 n. Chr. unter ungeklärten Umständen; in den Berichten wird meist ein vergiftetes Pilzgericht dafür verantwortlich gemacht. Von den beiden Aspiranten auf den Thron, Britannicus und Nero, wurde Nero sein Nachfolger, während Britannicus erst eingesperrt und bald darauf ermordet wurde. Im Folgenden geht es allein um die Darstellung des entscheidenden Moments von Tod und Nachfolge, die hier als Teil einer propagandistischen Inszenierung verstanden wird.7 Ruurd Nauta hat überzeugend argumentiert, dass die Apocolocyntosis in den Kontext der Saturnalien des Jahres 54 n. Chr. gehört, was eine positive Haltung zu Nero, die Ausrichtung auf den mündlichen Vortrag und eine primäre Rezeption in seinem direkten Umfeld impliziert. Man darf also, wenn man dieser Frühdatierung folgt, nicht nur Claudiusbewältigung, sondern auch politisch motiviertes Nerolob erwarten. Wer die Position Neros stärken wollte, dürfte zu dieser Zeit, so ist zu erwarten, Todes- und Nachfolgezeitpunkt so eng wie möglich zusammenrücken, um herauszustellen, dass diese Nachfolge unproblematisch und gradlinig, ja geradezu alternativlos erfolgt sei. 4

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Blänsdorf 1986, 12 f. nach Korzeniewski 1982. Diese Gliederung macht ungewollt eine Besonderheit der Apocolocyntosis sichtbar: Der Autor bezieht sich nicht auf ein eindeutig benennbares literarisches Vorbild, sondern auf viele, so dass es sinnvoller scheint, ihm bei seiner Abrechnung mit Claudius parodistische Verfahrensweisen zu attestieren, als das Werk per se als Parodie zu bezeichnen. Es gibt keine Vorlage, von der er sich absetzen müsste oder die er zerstört; keinen literarkritischen Zielpunkt, der schon im Titel formuliert wäre (wie etwa, um einen schon mehrfach gemachten Vergleich heranzuziehen, bei der von Aristoteles erwähnten Deilias des Nikochares). Russo 51965, 52, sieht in apocol., 1 die Historiker parodiert, in apocol., 2 die „versificatori e poetastri di perifrasi“, stellt also weniger literarische Topoi und Gattungen als vielmehr konkrete Autoren ins Zentrum seiner Überlegungen. Sen. epist., 122,1–13; Quint. inst., 8,6,59–61. Alternativ ist hier natürlich die Spätdatierung des Textes ins 2. nachchristliche Jahrhundert oder später zu erwägen, wie sie zuletzt etwa Holzberg 2016 wieder vorgebracht hat. Geht man von der Spätdatierung aus, dürften die konkreten Probleme des Thronwechsels im Text keine besondere Rolle spielen; für Holzbergs ‚Seneca impersonatus‘ sind die Details der Nachfolge bedeutungslos und in der historiographischen Literatur ausreichend genau vertreten. Ich meine, am Detail der Zeitangaben zeigen zu können, dass sie durchaus eine zentrale Rolle spielen, und werte dies als Bestätigung der Datierung auf die Saturnalien 54 n. Chr.

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Unter diesen Prämissen erscheinen einige literarische Eigenheiten der Apocolocyntosis in einem neuen Licht. Der genaue Todeszeitpunkt des Kaisers Claudius ist – wie so oft bei sterbenden Herrschern – nach dem Befund aller historischen Quellen unklar. Der Tod kam offenbar nicht plötzlich, sondern erst nach einer gewissen Leidenszeit, die Vorbereitungen auf das Danach ermöglichte. Sowohl Tacitus als auch Sueton heben hervor, dass die Bekanntgabe des Todes um einige Zeit herausgezögert wurde, um dem Nachfolger einen guten ‚ersten Auftritt‘ zu einer astrologisch glückverheißenden Stunde zu ermöglichen.8 Dieser erste Auftritt Neros als designierter Kaiser erfolgte, so heißt es dann wieder übereinstimmend, am dritten Tag vor den Iden, d. h. am 13. Oktober, in den glückbringenden Mittagsstunden zwischen der sechsten und siebten Stunde.9 Damit ist ein Terminus ante quem für den Tod gegeben, während als Terminus post quem Claudius’ letzter Auftritt bei den Augustalia, vermutlich am 12. Oktober, anzusetzen ist.10 Die folgenden Überlegungen gehen von einer Mehrfachdatierung aus, die an exponierter Stelle in der Eingangssequenz des Werkes (1,1; 2,1–2; 2,4) steht, wo sie den Todeszeitpunkt des Kaisers Claudius auf unterschiedliche Weisen bestimmt. In allen vier Fällen 8

Suet. Claud., 44 f., zum Todeszeitpunkt 45,1: Mors eius celata est, donec circa successorem omnia ordinarentur. Itaque et quasi pro aegro adhuc vota suscepta sunt et inducti per simulationem comoedi, qui velut desiderantem oblectarent. Tac. ann., 12,68 f.: Antoniam quoque et Octaviam sorores eius attinuit, et cunctos aditus custodiis clauserat, crebroque vulgabat ire in melius valetudinem principis, quo miles bona in spe ageret tempusque prosperum ex monitis Chaldaeorum adventaret. Tunc medio diei tertium ante Idus Octobris, fortibus palatii repente diductis, comitante Burro Nero egreditur ad cohortem, quae more militiae excubiis adest. ibi monente praefecto faustis vocibus exceptus inditur lecticae. dubitavisse quosdam ferunt, respectantis rogitantisque ubi Britannicus esset: mox nullo in diversum auctore quae offerebantur secuti sunt. inlatusque castris Nero et congruentia tempori praefatus, promisso donativo ad exemplum paternae largitionis, imperator consalutatur. Cf. auch Plin. nat., 2,92, 22,92 [sic!]; Sen. Oct., 164 f.; Iuv. 5,147 f., 6,620 f. Dazu mit weiteren Belegen Vössing 2004, 397 ff., der die Quellen diskutiert, das Datum des 13.10. jedoch nicht weiter in Frage stellt. 9 Den Amtsantritt Neros datiert Sueton sehr exakt (was ebenso seinem vielfach belegten ‚Genauigkeitsbewusstsein‘ wie exakter Kenntnis zugeschrieben werden kann) auf die Mittagsstunde: Septemdecim natus annos, ut de Claudio palam factum est, inter horam sextam septimamque processit ad excubitores, cum ob totius diei diritatem non aliud auspicandi tempus accommodatius videretur (Suet. Nero, 8). Während Neros Auftritt hielt Agrippina Britannicus im Zimmer zurück, was von einigen Beobachtern registriert wurde: iam primum Agrippina, velut dolore victa et solacia conquirens, tenere amplexu Britannicum, veram paterni oris effigiem appellare ac variis artibus demorari ne cubiculo egrederetur. […] dubitavisse quosdam ferunt, respectantis rogitantisque ubi Britannicus esset: mox nullo in diversum auctore quae offerebantur secuti sunt (Tac. ann., 12,68,2). 10 Die Feier der Augustalia erstreckte sich über mehrere Tage; die Ausdehnung ist in der Forschung umstritten, wobei die Diskussion dadurch erschwert wird, dass auch der Todestag des Germanicus (10.10.19 n. Chr.) in diese Zeit fällt, auch wenn 35 Jahre später keine strenge Staatstrauer mehr herrschte. Der wichtigste Tag des Festzyklus war der Feiertag der Rückkehr des Augustus nach Rom im Jahre 19 v. Chr. am 12. Oktober. Man darf daher annehmen, dass das bei Sueton erwähnte Mahl des Kaisers mit den Priestern (Suet. Claud., 44,1 f.: quidam tradunt epulanti in arce cum sacerdotibus) an diesem Tag stattgefunden hat (dazu Lebek 1988). Damit reduziert sich der zu überprüfende Zeitraum auf die Stunden zwischen dem 12. Oktober abends und dem 13. Oktober mittags.

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werden die Verbindungen, die zwischen bestimmten literarischen Gattungen und bestimmten Zeitperiphrasen bestehen, genutzt, um die Zeitbestimmung chronologisch und semantisch zu konnotieren. Die Analyse aller vier Zeitangaben und ihres semantischen Überschusses zeigt, wie diese zur Verschiebung und Fixierung eines bestimmten Datums in der öffentlichen memoria genutzt werden (können). HISTORIOGRAPHISCHES PROÖM UND EPONYME DATIERUNG Die erste Datierung erscheint als Teil eines pseudo-historiographischen Proöms. Sie bildet ein wichtiges, durch die Anfangsstellung betontes Rädchen im chronologischen Beglaubigungsapparat. Dieser steht, wirkungsästhetisch betrachtet, im Dienst der Satire, deren Witz aus der Spannung zwischen ‚faktualer‘ Form und fiktionaler Füllung entsteht: Im Himmel der Apocolocyntosis gilt die römische Zeitrechnung. Quid actum sit in caelo ante diem III. Idus Octobris anno novo, initio saeculi felicissimi, volo memoriae tradere. Nihil nec offensae nec gratiae dabitur. Haec ita vera. Si quis quaesiverit unde sciam, primum, si noluero, non respondebo. Quis coacturus est? Ego scio me liberum factum, ex quo suum diem obiit ille, qui verum proverbium fecerat, aut regem aut fatuum nasci oportere. (Sen. apocol., 1)11

Worum es geht, steht nur andeutungsweise in diesem Proöm, das alle Topoi des historischen Proöms kurz streift, um sie gleich wieder fallen zu lassen.12 Aber das zuallererst genannte Datum ist offenbar aussagekräftig genug, um die Gedanken des Hörers in die richtige Richtung zu lenken: Der 13. Oktober des Jahres, das man heute als 54 n. Chr. bezeichnet, ist der Tag, an dem Claudius für tot erklärt wurde und Nero als sein Nachfolger die Szene betrat. Tod und Nachfolge erscheinen als ein einziges und innerhalb kurzer Zeit vollendetes Ereignis. Die Tagesangabe steht voran und entspricht ganz der üblichen Form einer Tagesdatierung; sie ist offenbar so wichtig, dass sie auch in der Parodie unverändert beibehalten werden muss. 11 „Was sich zugetragen hat im Himmel am 13. Oktober, im neuen Jahr, zu Beginn eines glücklichen und glückverheißenden Zeitalters, das will ich dem Gedächtnis überliefern. Es werden keine Zugeständnisse gemacht werden, weder dem Ärger noch dem Wohlwollen. Alles ist wahr. Wenn einer wissen will, woher ich das weiß – dann werde ich erst einmal, wenn ich keine Lust habe, gar nicht antworten. Wer wird mich zwingen können? Ich weiß, dass ich ein freier Mann geworden bin, seit jener starb, der das Sprichwort wahrgemacht hatte, man müsse entweder als König oder als Narr geboren werden.“ 12 Zu den Topoi des historiographischen Proöms cf. Weinreich 1923, 13–30; Janson 1964, bes. 64–83; Earl 1972. Die in der Forschung wiederholt konstatierte Nähe der Passage zur Historiographie liegt neben der eponymen, auf öffentliche Dokumente verweisenden Form der Datierung in der Betonung des Wahrheitsgehalts der Erzählung und der Objektivität des Autors (apocol., 1,1) sowie der ironischen Distanzierung von seinen Gewährsleuten (apocol., 1,3). Das Proöm endet mit dem Beglaubigungstopos, der die nächste Erzählebene einführt: das, was die bekanntermaßen unglaubwürdigen Zeugen berichteten, soll nun erzählt werden: quae tum audivi certa clara affero (apocol., 1,3). Erhellend ist hier der Blick auf Lukian, der in seiner Abhandlung zur rechten Art Geschichte zu schreiben, Spezifika des historiographischen Stils parodiert (Lukian. hist. conscr., 14–33). Leider sind die Formen der Datierung nicht darunter (eine kommentierte Übersicht bietet Avenarius 1956, 113–118).

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Die folgende Jahresangabe deutet in ihrer Zweigliedrigkeit die in historischen Kontexten übliche eponyme Datierung an, in der das Jahr nach den beiden amtierenden Konsuln bezeichnet wird und die etwa Tacitus und Sueton im entsprechenden Kontext verwenden.13 Sie ist die auf griechischem Vorbild beruhende, am weitesten verbreitete und in offiziellen Dokumenten benutzte römische Datierweise. Sie wurde nicht nur in der Zeit der Republik verwendet, sondern konnte sich bis hin zu Konstantin halten – gegen die varronisch-numerische Datierung a.u.c., aber auch gegen die allmählich sich durchsetzende Datierung nach den Regierungsjahren der Kaiser.14 Censorins exemplarische Vielfachdatierung bezeugt anschaulich das zumindest theoretisch mögliche bunte Nebeneinander in der Kaiserzeit.15 Gewöhnlich steht die eponyme Datierung am Anfang eines Textes oder Textabschnittes, dessen Inhalt eine genaue Datierung und/oder eine staatliche Authentifizierung erfordert. Die Fasten verzeichnen sie, juristische und annalistisch geprägte Texte verwenden sie. Censorinus fasst ihre Orientierungsfunktion zusammen, indem er sie mit derjenigen des Titels einer Buchrolle vergleicht; sie ist ihm index et titulus [sc. anni].16 Durch die Rückbindung an ‚offizielle‘ Quellen betont die Konsulatsdatierung die Allgemeingültigkeit und staatliche Garantie des Datums und implizit des ganzen Schriftstücks. Ihre Funktion als ‚Standarddatierung‘ zeigt sich deutlich nicht nur in der langen Verwendungsdauer, sondern auch in der Möglichkeit, die etablierte Formel als ‚Vehikel‘ zu benutzen und in variierender, oft scherzhafter Weise neu zu füllen. Dieser Gestaltungsspielraum wird seit der Kaiserzeit immer stärker sichtbar, so z. B. in Senecas ironisch-bitterer Bemerkung über Frauen, die ihr Alter nicht nach den Konsuln, sondern nach der Zahl ihrer Gatten berechneten;17 in Claudians Variatio des toga-rara-Gedankens, in der er nach Feldfrüchten datiert,18 oder auch in der spätantiken Urkundenparodie des testamentum porcelli, eines Saturnalienscherzes, der in seiner urkundengetreuen Datierung fingierte Konsuln mit den sprechenden Namen Bratpfann und Pfefferfass einführt: sub die XVI kal. Lucerninas […]Clibanato et Piperato consulibus.19

13 Cf. Tacitus’ Beginn der Darstellung von Claudius’ Ermordung: Marco Asinio Manlio Acilio consulibus (Tac. ann., 12,64) oder auch Suetons Datierung des Todes: excessit III. Id. Octob. Asinio Marcello Acilio Aviola coss. (Suet. Claud., 45). Die eponyme Datierung, die sich in einigen Handschriften der Apocolocyntosis findet, ist als hyperkorrekte Interpolation anzusehen. 14 Samuel 1972, 249–276, bes. 253–255. Beispiele zur Form: Lommatzsch 1906–1909, 567 f. 15 Cens. 21,6–9. 16 Cens. 21,6. 17 Sen. benef., 3,16 (über die inzwischen allgemeine Üblichkeit der Scheidung): Numquid iam ulla repudio erubescit, postquam illustres quaedam ac nobiles feminae, non consulum numero, sed maritorum, annos suos computant? 18 Claud. carm. min., 20 (De sene Veronensi), 11 f. 19 Das testamentum porcelli, ein vermutlich ins 4. nachchristliche Jahrhundert zu datierendes Scherztestament, beginnt folgendermaßen: porcellus comprehenditur a famulis, ductus sub die XVI kal. lucerninas, ubi abundant cymae, Clibanato et Piperato consulibus. et ut vidit se moriturum esse, horae spatium petiit et cocum rogavit, ut testamentum facere posset. Zum Text cf. die Übersicht v. Schmidt 1989. Die Datierung folgt Mariotti 1978.

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Beide Aspekte, die durch die Tradition abgesicherte Authentifizierungsmacht und die auf dem gleichen Wege abgesicherte variable Füllung der Form, prägen auch die erste Datierung der Apocolocyntosis. Sie bezeugt nicht nur die selbstverständliche Vorherrschaft der zweigliedrigen Datierungsformel weit über die Grenzen der historiographischen Genera hinaus und betont vor allem den intendierten Urkundencharakter des Dokuments,20 seinen staatlich beglaubigten Wahrheitsanspruch, sondern greift mit anno novo, initio saeculi felicissimi auch ins Register der kaiserlichen Panegyrik. Der Autor wandelt die klassische Datierung zu einer Aussage über die Qualität der Zeit ab: Sein neues Jahr (annus novus) beginnt zu einem ungewöhnlichen Termin mitten im Herbst und markiert keinen Wechsel im Konsulat, sondern den Beginn eines neuen Zeitalters, des saeculum felix,21 das durch Neros Regierungsantritt in Sichtweite rückt. In der anschließenden laus Neronis (4,1 f.) wird diese neue Zeit als aurea aetas charakterisiert, eine Zeitstufe, die durch römische Konsuln nicht zu messen ist. DIE EPISCHE ZEITPERIPHRASE IM VERGLEICH MIT CALPURNIUS An das historiographische Proöm schließt sich die Darstellung des kaiserlichen Todeskampfes an. Im Wechsel von poetischer Periphrase und glossierend knapper, alltagsnaher Prosa beginnt die Schilderung von Claudius’ Todestag mit einer ausführlichen Zeitbestimmung. Die epische Zeitangabe wird zweimal, in der Mitte und am Ende, abrupt gestoppt, so dass auf die bilderreiche Beschreibung des Herbstes eine prosaische Datierung folgt, auf das in unveränderter Diktion ausgeführte Bild der nachmittäglich sinkenden Sonne dann die in burleskem Ton vorgebrachte Nachricht von Claudius’ Tod. Die Forschung hat sich mit diesen Datierungen dort, wo sie sie zur Kenntnis nahm, immer schwergetan, da sie offensichtlich ebenso redundant wie ungenau sind.22 Weinreich sah in ihnen den Beginn der Exposition

20 Es wäre verlockend, von der Parodie römischer Amtssprache, die sich auch andernorts im Text, etwa in der formelhaften Orts- und Handlungsangabe und in der Darstellung des Göttersenats findet, einen Bogen zu konkreten Texten, besonders zu den acta diurna oder acta senatus zu schlagen, die dazu dienten, wichtige Ereignisse und Beschlüsse des Senats in kürzester Frist öffentlich bekannt zu machten. Damit würde der Saturnalienvortrag sich selbst als ‚öffentliches Plakat‘ imaginieren – eine höchst reizvolle mediale Transgression, die der öffentlichen Bekanntmachung der kaiserlichen Apotheose ein ebenbürtiges Pasquill anheftete. Leider ist nicht genügend Material erhalten, um die Frage nach einem charakteristischen formelhaften Anfang der acta eindeutig zu beantworten. Grundlegend: Mommsen ³1888, 1004–1021; eine kritische neuere Diskussion bietet Baldwin 1979. 21 Zum saeculum felix cf. Hanfmann 1951, 167 f.; Kloft 1972, 217 f. 22 Pötscher 1997 arbeitet den formal chiastischen Aufbau der Passage heraus: Auf die epische Bestimmung der Jahreszeit folgt die prosaische; auf die prosaische Angabe der Tageszeit die epische. Adamietz 1986, 367, hingegen nimmt die beiden ersten Kapitel gemeinsam in den Blick und konstatiert, in apocol., 1 sei der Witz als Kontrast zwischen historiographischem Anspruch und spöttischer Korrektur, in apocol., 2 zwischen epischer Stilisierung und ironischem Prosakommentar angelegt.

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und des ‚echten‘ Stückes; er widmete ihnen eine historisch weit ausgreifende motivgeschichtliche Studie.23 Korzeniewski ordnete sie als Proöm ein und charakterisierte sie als „Parodie senecaischer Tragödienanfänge“.24 Sullivan sieht sie als Auseinandersetzung mit kallimacheischer Detailverliebtheit.25 Die stärker textkritisch motivierten Arbeiten von Schäublin und Pötscher hingegen lenken den Blick auf die Binnenstruktur der Datierungen und arbeiten ihren Aufbau heraus.26 Allen Arbeiten gemeinsam ist, dass sie die Vielfalt der Zeitbestimmungen nicht als funktional bzw. erklärungsbedürftig auffassen. Registriert man aber ihre Überdeterminiertheit, so kann man die Fragerichtung umkehren und fragen: ‚Wozu dient der große rhetorische Aufwand, den der Autor mit den Zeitangaben treibt?‘ Die Zeitperiphrase lautet:27 Iam Phoebus breviore via contraxerat arcum lucis et obscuri crescebant tempora Somni, iamque suum victrix augebat Cynthia regnum et deformis Hiems gratos carpebat honores divitis Autumni iussoque senescere Baccho carpebat raras serus vindemitor uvas.28

23 Weinreich 1937/1979, 6. Weinreich betont die Zusammengehörigkeit von metrischen und prosaischen Passagen und führt das bei Seneca erstmalig belegte Motiv auf eine prosimetrische Literaturform zurück. 24 Korzeniewski 1982, 106. 25 Sullivan 1985, 81 f. 26 Schäublin 1987; Pötscher 1997. 27 Sen. apocol., 2,1–4. Zur Textgestaltung: Das überlieferte ortum ist vielfach kritisiert worden; die Konjekturen (orbem, arcum, actum, auctum, horas) zielen alle darauf, die als schräg empfundene Kombination zweier bildlicher Ausdrücke aufzulösen und in die geläufige Metapher der Sonnenbahn zu überführen. Der Vergleich mit Sen. benef., 4,13 oder Macr. Sat., 1,14,13– 15 macht jedoch deutlich, dass die zentrale Aussage durch die einander gegenüberstehenden Verben contrahere und crescere getragen wird. Das, was wächst und schrumpft, ist an den beiden genannten Stellen der Tag; dieser oder geeignete Synonyme sind hier anzunehmen. Ich habe das von Eden 1984 konjizierte, im Vergleich zu ortum passendere, zugleich auch etwas gesuchtere und paläographisch leicht erklärbare arcum übernommen. In der Beibehaltung des doppelten carpebat (v. 4, v. 6) folge ich Roncali 1990 gegen die Konjekturen, die die unschöne Wiederholung durch Setzung von spargebat, rapiebat, captabat u. ä. zu vermeiden suchen. Von Roncali weiche ich wieder ab mit Pötschers erst nach Roncalis Edition publizierter, inhaltlich und paläographisch überzeugender Konjektur des überlieferten adquiescunt zu haud quiescunt: Pötscher 1997, 124 f. Lunds Doppelkonjektur in mathematica aquiescunt omnes poetae […] medium diem inquirant basiert auf seiner m. E. unzutreffenden Deutung der vorgenannten horologia (cf. dazu Lund 1994, 23 f.) und geht falsch in der Annahme, mit ortus und occasus describere sei der astronomische terminus technicus gemeint – cf. dagegen Sen. epist., 122,11–13. Lund 1994, 68. Ältere Konjekturen diskutiert Scholz 1979, der die Überlieferung verteidigt. 28 Die Bestimmung des serus vindemitor als letztem Handlungsträger oder als prädikativer Ergänzung des Hiems ist umstritten, aus inhaltlichen Gründen scheint mir das zweite trotz der großen Distanz zutreffend. Dass in seinem Handeln zugleich eine noch genauere Datierung auf die Zeit der Nachlese vorgenommen wird, hat in überzeugender Weise Stefano Grazzini 2004– 2005, bes. 295, gezeigt. Diese Nachlese ist in südlicheren Gefilden nicht als ‚Spätlese‘ der besten, absichtlich am Rebstock gelassenen Trauben zu verstehen, sondern eher als ein (aus

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Puto magis intellegi, si dixero: mensis erat October, dies III idus Octobris. horam non possum certam tibi dicere: facilius inter philosophos quam inter horologia conveniet, tamen inter sextam et septimam erat. Nimis rustice! haud quiescunt omnes poetae, non contenti ortus et occasus describere, ut etiam medium diem inquietent, tu sic transibis horam tam bonam?29 Iam medium curru Phoebus diviserat orbem et propior nocti fessas quatiebat habenas obliquo flexam deducens tramite lucem: Claudius animam agere coepit nec invenire exitum poterat.30

Der Text bewegt sich, so könnte man sagen, schlingernd auf seinen Gegenstand zu. Im Proöm war bereits der 13. Oktober genannt worden, zudem die neugewonnene Freiheit des Sprechers und ein unzuverlässiger Zeuge für die hinkende Himmelfahrt des Claudius.31 Derartige Anspielungen können nur dann zu einer Erzählung zusammenfließen, wenn ein umfangreiches Vorwissen auf Seiten der Hörer vorliegt, aufgrund dessen sie diese großen Lücken in der Erzählung schließen können. Der Autor wendet sich wieder einem Aspekt zu, der eigentlich im ersten Satz des Textes bereits geklärt erschien: Der Datierung der Ereignisse auf den 13. Oktober, nun in epischem Stil. Wozu die Wiederholung, und was bewirkt der Wechsel des sprachlichen Registers? In der epischen Zeitperiphrase bietet sich viel Raum für die verhüllte Andeutung des Kommenden, für die Vorbereitung einer Stimmung, für ein symbolisches Geschehen.32 Im Allgemeinen findet man in epischen Zeitperiphrasen am häufigsten die Verbindung von Morgendämmerung mit Klärung und Neubeginn; daneben stehen etwa die Bewegungslosigkeit des Mittags, die Erfüllung des Abends oder die Lähmung bzw. Erwartung, die die Nacht vor einem entscheidenden Ereignis

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ökonomischen Gründen?) erfolgendes Nachsuchen nach Wildtrieben, die später reifen, und die Suche nach vergessenen Trauben; eine Sklavenarbeit. Die hora bona gewinnt hier einen Doppelsinn: meint sie zuerst nur die Mittagszeit, die wie Auf- und Untergang der Sonne spätestens seit Ovid gleichberechtigtes Objekt epischer Paraphrasen war, so erscheint dahinter die hora fatalis der postulierten Sterbestunde des Claudius, einer Freudenstunde für Autor und Leser. „Schon hatte Phoebus den Kreisbogen des Lichts in einem kürzeren Weg zusammengeschnürt, und es wuchsen die Zeiten des dunklen Schlafes; schon weitete Cynthia siegreich ihre Herrschaft aus, und der ungestalte Winter riss den anmutigen Schmuck des reichen Herbstes ab und pflückte als später Winzer noch vereinzelt hängende Trauben, während der bacchische Most schon im Fass reifen sollte. ‚Ich glaube, man versteht mich besser, wenn ich sage: Der Monat war Oktober, der Tag der dritte vor den Iden. Die Stunde kann ich dir nicht genau sagen: man findet leichter zwischen Philosophen eine Übereinstimmung, als dass man gleichgehende Uhren fände; aber es war zwischen der sechsten und siebten Stunde.‘ – ‚Du bist allzu schlicht! Alle Dichter ruhen nicht und sind nicht zufrieden damit Auf- und Untergänge zu beschreiben, so dass sie auch noch die Tagesmitte belästigen, du aber willst eine so gute Stunde einfach übergehen?‘ Schon hatte Phoebus den Tageskreis mit seinem Wagen mittig zerteilt und schüttelte, der Nacht schon recht nah, die erschlafften Zügel, während er die sinkende Sonne auf geneigter Bahn hinabgeleitete: Da begann Claudius, sein Leben auszuhauchen, aber er konnte den Ausgang nicht finden.“ Eine Lektüre ausgehend vom Begriff des unzuverlässigen Erzählers bietet Rühl 2011. Für Valerius Flaccus und Apollonios Rhodios exemplarisch erarbeitet bei Gärtner 1998.

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prägen.33 Die Festlegung der Jahreszeitencharaktere entspricht in etwa denen des Tages (Frühjahr – Morgen usw.), wobei hier zusätzlich noch einzelne, durch Sternbilder oder Feste gekennzeichnete Phasen – wie die Zeit des herbstlichen Plejadenuntergangs oder die Saturnalien – einen deutlich definierten Eigencharakter besitzen. Die im Folgenden diskutierte epische Zeitperiphrase enthält in ungewöhnlicher Weise zwei Zeitangaben. Sie zielt zuerst auf die Jahreszeit, dann, nach dem Prosaeinschub, auf die Tageszeit: Herbsttag, nachmittags. Mit dem charakteristischen Incohativformular (iam, iam, iam …) baut der Autor einen Spannungsbogen auf, der auf den erlösenden Moment der Vollendung hinzielt, der mit dem Tod des Kaisers erreicht wird. Auf dem Weg dorthin wird ihm unter der Hand der goldene Herbst zum Frühwinter, so dass das semantische Potential der benachbarten Jahreszeit in Reichweite gelangt. Die ersten vier Verse bestimmen die Jahreszeit durch Personifikationen, wobei unerwartete Ergänzungen zu den jahreszeitlichen Topoi hinzutreten:34 Phoebus und Somnus charakterisieren das für den Herbst typische Verhältnis von sinkender Tages- zu steigender Nachtlänge, während Autumnus dives die Erntezeit evoziert. Cynthia victrix und deformis Hiems bringen das eingangs erwähnte ‚Surplus‘ in die Jahreszeitenperiphrase ein. Sie gehören als Gestirn bzw. Jahreszeit zwar den gleichen Kategorien an wie die vorgenannten und besitzen auch zeitliche Bedeutung, haben hier aber diese Funktion gerade nicht inne: Denn Mondphasen haben nichts mit der Jahreszeit zu tun, und der Winter ist bei der Beschreibung eines milden Herbsttages deplatziert:35 mindestens zwei grobe Ungenauigkeiten, die jedem antiken Leser aufgefallen sein dürften. Wenn aber Cynthia und Hiems hier nicht der Datierung dienen, wozu werden sie dann ins Feld geführt? Erinnert man sich an den eingangs skizzierten primären sozialen Ort des Textes, den mündlichen Vortrag im hofnahen Raum kurz nach dem Tod des Kaisers, so darf man eine hohe Hörersensibilität hinsichtlich der jüngsten Ereignisse am Hof unterstellen. Wenige Hinweise reichten aus, um ein bestimmtes Textverständnis anzuregen, das späteren Lesern, denen Zeitbezug und Performanz fehlten, leicht verschlossen bleiben konnte. Die Epitheta victrix und deformis ermöglichen es, die Personifikationen der Naturphänomene nicht nur als solche, sondern auch als tatsächliche Personen zu verstehen. Sie lassen in der siegreichen Göttin, die allein den Gesetzen der Natur folgend (und daher vollkommen schuldlos) ihre Herrschaft ausdehnt, und im ungestalten Winter, der sich in armseliger Nachlese den letzten ver33 Stellensammlungen zur Tageszeitenperiphrase bei Weinreich 1937/1979, 32–35; Reuschel 1935, 43–57; Brauneiser 1944; eine systematische Übersicht bietet Bardon 1946. Cf. auch die unabhängige Jahreszeitenschilderung im Epigramm: Courtney 1988. 34 Schon Lund hat darauf hingewiesen, dass der Darstellung vom Sterben des Jahres und der Natur „auch eine sinnbildliche Bedeutung zukommt“ und die Passage mit dem Beginn einer neuen Ära unter Nero (apocol., 4) verbunden: Lund 1994, 65. 35 Ebenso unpassend ist die erwähnte Nachlese der Weintrauben: Nach Plin. nat., 18,319 dauert das iustum vindemiae tempus in Italien von den Äquinoktien bis zum Plejadenuntergang Anfang November, so dass die Erwähnung eines serus vindemitor bereits Mitte Oktober für zeitgenössische Hörer deutlichen Signalcharakter gehabt haben muss.

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gessenen Trauben widmet, Charaktere erkennen, die für die kompetenten Hörer des Kaiserhofes Namen und Gestalt hatten: Hinter der für die Zeitbestimmung so unnötigen siegreichen Cynthia victrix und dem ungestalten Winter, hiems deformis, zeichnen sich Agrippina minor und der hinkende Claudius ab.36 Zur Ikonographie des Winters gehören Alter und Hässlichkeit; häufig werden auch die weißen Haare und der unsichere Gang des Alters auf ihn übertragen. Die Weißhaarigkeit, vor allem aber der ungleiche, hinkende Gang gehören ihrerseits zu den Charakteristika des Kaisers Claudius und wurden bereits im ersten Kapitel prominent erwähnt.37 Auch die unzeitgemäße Nachlese des serus vindemitor mag als Anspielung auf Claudius’ Trunksucht verstanden worden sein.38 Durch die geschickte Überlagerung von Winterikonographie und Claudiusbild erscheint der Kaiser in der hässlichen und armseligen Unterlegenheit des Winters, der einzigen Jahreszeit, die stets mit negativen Epitheta versehen wird:39 Wildheit, Härte und Grausamkeit (saevitia, rigor und crudelitas) kennzeichnen sie und den Kaiser – der Gegenentwurf, Nero als junger Frühling und Verkünder der goldenen Zeit, ist aus der Panegyrik wohlvertraut.40 Diese pointierte Überlagerung tritt noch deutlicher zutage, wenn man eine intertextuell signifikante Passage bei Calpurnius Siculus heranzieht, dessen Werk vermutlich in derselben Zeit entstand.41 Calpurnius leitet seine erste Ekloge, in deren Zentrum ebenfalls ein Thronwechsel und der Beginn einer besseren Zeit stehen, mit einer epischen Zeitperiphrase ein. Sie entwirft eine spätsommerliche Szenerie, deren Reichtum an Licht und Frucht dem Autor Anlass zur Schilderung des kommenden goldenen Zeitalters bietet:42

36 Diese Anspielung ist den Kommentatoren offenbar entgangen; lediglich Ball 1902, 160, stutzt angesichts der unüblichen Datierung der Ernte, geht dieser Beobachtung jedoch nicht weiter nach. O’Gorman 2005, 101, gelangt auf einem gänzlich anderen Weg – der Untersuchung der Funktion von Zitaten in der Apocolocyntosis – ebenfalls dazu, in der Jahreszeitenbeschreibung mehr als eine Zeitangabe zu vermuten, ohne die Beobachtung jedoch weiter zu verfolgen: „What does the verse give us to understand about the date of Claudius’ death? The seasonal imagery of these six lines conveys darkness, deformity, limitation and belatedness – how much of this is ‚circumlocution‘, speaking around the point, or is it speaking precisely to the point of Claudius’ reign and death […]?“ Dobesch 2002 sieht auch in der Figur der Klotho Hinweise auf die sonst im Hintergrund verbleibende Agrippina. 37 Sen. apocol., 1,2 unter Nutzung von Verg. Aen., 2,724 (dort über das Hüpfen des kleinen Iulus): Quaerito ab eo qui Drusillam euntem in caelum vidit: idem Claudium vidisse se dicet iter facientem non passibus aequis cf. seine Beschreibung in 5,2 als weißhaarig und hinkend (bene canum […] pedum dextrum trahere). 38 Suet. Claud., 5, 33. 39 Dazu Dehon 2002 ; Dehon 1993; in den Anmerkungen zur Apocolocyntosis (269–271) notiert er die Ungenauigkeit der Datierung, zieht aber daraus keine Schlüsse. 40 Ausführlich bei Schubert 1998. 41 Zur Datierungsproblematik cf. Anm. 45. 42 Calp. 1,1–3.

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Unter der in der Forschung weitgehend akzeptierten Prämisse, dass beide Autoren denselben historischen Referenzpunkt haben, könnte die Darstellung kaum unterschiedlicher ausfallen: Während die Apocolocyntosis Laubfall, Nachlese und Winter bemüht, entwirft Calpurnius einen heißen, in Fruchtbarkeit schwelgenden Herbsttag.44 Er verlegt den Thronwechsel in eine Spätsommerszenerie, deren Reichtum an Licht und Frucht ihm Anlass zur Schilderung des kommenden goldenen Zeitalters bietet. Der Autor der Apocolocyntosis hingegen hat das Sterben des alten Kaisers im Blick. Bei ihm herrscht kein milder Spätsommer, sondern ein dunkler und karger Herbst. Da der Tod naht, betont er die langen Nächte und den Verlust des Laubes, nicht die reiche Ernte. Da Claudius kein Ende finden kann, spiegelt der Autor ihn im serus vindemitor, der in einer Mischung aus Geiz und Unersättlichkeit noch immer nach den letzten Früchten sucht. Er überzeichnet den Wort- und Bilderreichtum epischer Zeitperiphrasen, so dass neben ihrer ureigentlichen Funktion, der Datierung, deutlich markiert eine aktuelle Geschichtsdeutung und Claudiusschmähung transportiert wird. Beide Autoren benutzen die symbolische Deutbarkeit der Jahreszeitenperiphrase bei der Beschreibung des Thronwechsels von Claudius zu Nero: Der Autor der Apocolocyntosis mit dem Ziel, mit ihrer Hilfe der Vergangenheit bestimmte (negative) Qualitäten zuzuschreiben, Calpurnius für den Blick auf eine goldene Zukunft.45 DER UHRENVERGLEICH Die eingeschobene Prosadatierung übersetzt die epische Zeitperiphrase in die Sprache des Alltags, genauer: in die Sprache derjenigen Chronotope, in denen die genaue Zeitbestimmung eine Rolle spielte. Sie ist nicht nur epenkritisch und durch Knappheit und Registerwechsel witzig, sondern dient auch dazu, das Datum durch Wiederholung in der Erinnerung zu fixieren.46 Man kann dem Witz jedoch noch mehr abgewinnen: 43 „Noch hat der sich neigende Sommer die Pferde der Sonne nicht gebändigt, obwohl schon die Pressen auf den triefenden Trauben liegen und der gärende Most wild braust und zischt.“ 44 Die Ungewöhnlichkeit der Darstellung in der Apocolocyntosis erweist sich auch dann, wenn man auf Senecas Werk blickt: Denn auch für ihn gehört der Laubfall gewöhnlich späteren Phasen des Jahres an: Sen. Med., 715–716: aut rigida cum iam bruma discussit decus / nemorum et nivali cuncta constrinxit gelu; cf. Herc. O. 382–384; Herc. O. 1577. Die Nachlese wird bei Seneca sonst nicht erwähnt. 45 Ich teile die Auffassung, dass Calpurnius hier die Thronbesteigung Neros besingt. Zur Diskussion um die Datierung cf. exemplarisch Horsfall 1997; Baldwin 1995. 46 Der Versuch von Lund 1994, 67, in ihr eine Kritik der Astrologie zu sehen, basiert m. E. auf einer Missdeutung von horologium. Die von ihm als einziges Argument in Anschlag gebrachte Stelle aus Vitruv (1,1,10) belegt nur, dass die Konstruktionsweise von Uhren diejenige des Himmels abbildet, nicht dass „inter horologia in Bezug auf die Astrologie/Astronomie“ (Lund) stehen müsse: Beiden unterliegt eine ratio, aber weder sind sie identisch noch sind Uhren per

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Die Datierung des Todes erhält in der Prosa Klarheit und Genauigkeit. Schon die ‚absteigende Reihe‘ vom Monat über den Tag bis zur Stunde, in der der Verfasser die Datierung vornimmt, dient dem Ausweis exakten Wissens.47 Der Verfasser ermittelt den Todesmoment so genau, wie es nur irgend möglich ist; Zeitangaben unterhalb der Stunde sind – bis auf fachwissenschaftliche Kontexte – in der römischen Antike nicht üblich; sie finden sich vor allem in der forensischen Rhetorik, Medizin und Astrologie.48 Dabei geht er einen entscheidenden Schritt weiter als der bisherige Text und gelangt bis zu einer exakten Stundenangabe, von der er sich allerdings sofort wieder distanziert: Der Tod könnte in der Mittagszeit erfolgt sein, sicher aber sei das nicht, Uhren seien nun einmal chronisch ungenau, da könne man nichts machen. Für die Relativierung greift der Autor auf eine Alltagserfahrung zurück – v. a. in privaten Kontexten gab es z. B. durch die Nutzung von Importsonnenuhren regelmäßige Abweichungen von rund einer halben Stunde, wie sowohl die Uhrengeschichte des Plinius als auch der archäologische Befund aus Pompeji ergiebig bezeugen.49 Zugleich aber schließt die Heranziehung der Uhrenzeugen eine größere Varianz aus: Ihre Nennung und die erwartbare Genauigkeit, verbunden mit der Tatsache, dass jemand auf eine Sonnenuhr geschaut zu haben scheint, bezeugen unwiderlegbar den Tod am 13. Oktober mittags. Die Heranziehung dieses stummen ‚Uhrenzeugen‘ ist also, erzählstrategisch betrachtet, ein höchst kluger Schachzug. Zum einen steht damit eine Zeitangabe im Raum, die die Differenz zwischen Claudius’ Tod und Neros Auftritt auf weniger als eine Stunde, d. h. unter die Messgrenze senkt: Beides scheint im selben Moment erfolgt zu sein. Mit dem gleichen Wortlaut, inter sextam et septimam, spricht dann auch Tacitus über den Moment, zu dem sich der junge Nero öffentlich gezeigt habe: Die Zeitangabe ist in der Welt, die Lücke zwischen Tod und Nachfolge ist geschlossen, eventuelle Einwände müssten an die Uhrenzeugen gerichtet werden.

se ein Hinweis auf astrologisches Handeln. Damit ist auch die Möglichkeit dieser Verse, auf 3,2 vorauszuweisen, deutlich eingeschränkt. Zwar wird dort das Unvermögen der mathematici erwähnt, die rechte Todesstunde vorherzusagen, jedoch wird dieser Mangel zur Gänze Claudius angelastet, der nie ganz geboren war, so dass man ihm kein zutreffendes Horoskop hatte stellen können. In der Geschichte der instrumentellen Zeitforschung wird sie häufig herangezogen, um zu belegen, dass Sonnenuhren nur ein gewisses Maß an Exaktheit erreichen, besonders dann, wenn bei der Aufstellung nicht bedacht wird, dass sie nur für einen spezifischen geographischen Ort konstruiert sind (Boorstin 1984, 31). Ball 1902 meint, dass die Bemerkung sich allein auf Wasseruhren beziehe, ohne diese Einschätzung jedoch zu begründen. 47 Dies bestätigt ein Blick auf Censorinus: Dort dient die ‚absteigende Reihe‘ zur möglichst exakten Bestimmung eines Geburtstags; hier bestimmt sie den Todesmoment so genau, wie es nur irgend möglich ist. 48 Dem Phänomen der Genauigkeit widmet sich der in Entstehung begriffene Band von Jackson/ Symons 2019. Das Bemühen, die Todesstunde genau festzuhalten, zeigt sich auch in Suet. Dom., 16,2 (ebenfalls gegen Mittag, nach der 5. Stunde). 49 Dazu cf. Wolkenhauer 2011; Gibbs 1976; Winter 2013 ad indicem.

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„EINES NATÜRLICHEN TODES“ Die vierte und letzte Zeitbestimmung gilt ebenfalls der Todesstunde, nun wieder im epischen Maß. Im Verlauf weniger Verse verschiebt der Autor die Zeit bis weit in den Nachmittag hinein, wobei er sich des vertrauten Zeitbildes von der Sonnenfahrt am Himmel bedient. Phoebus’ Wagen hat die Mitte von Tag und Himmel überschritten, mit erschlafften Zügeln (fessas […] habenas) ziehen die Pferde ihn Richtung Untergang.50 Die dreifache Wiederholung des absteigenden Weges (flexam lucem – obliquo tramite – deducens) betont das Sinken der Sonne, wie man es am späten Nachmittag beobachten kann; die Nacht ist nahe (propior nocti). Die Zeitangabe wird dadurch um keinen Deut genauer, gewinnt aber einen neuen Ton hinzu: Der Blick Richtung Abend evoziert die Vorstellung von einem allmählichen Erlöschen der Kräfte und einem bevorstehenden Ende. Keine Tageszeit, so könnte man überspitzt sagen, ist so sehr dazu prädestiniert, das natürliche und altersgemäße Hinscheiden eines von seinen Amtsgeschäften erschöpften Kaisers zu veranschaulichen wie der herabsinkende Abend. Vielleicht also dient diese Zeitperiphrase primär dazu, diese Natürlichkeit – secundum naturam – des Todes in der Erinnerung abzusichern. ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK Die vorgelegte Studie lenkt den Blick auf die über die Zeitbestimmung hinausgehenden semantischen Qualitäten von Zeitangaben und zeigt exemplarisch, wie dieses ‚Surplus‘ für das Verständnis eines literarischen Textes nutzbar gemacht werden kann. Zu Beginn der Apocolocyntosis nutzt der Autor die etablierte Form der eponymen Datierung zur impliziten Themenbestimmung und zur manipulativen Datumsfixierung mit deutlich panegyrischer Ausrichtung, indem er die üblichen zwei Konsuln durch zwei lobpreisende Epitheta der neuen Zeit Neros ersetzt. Zugleich betont die Verwendung der zweigliedrigen Datierungsformel den intendierten Urkundencharakter des Dokuments, seinen sozusagen staatlich beglaubigten Wahrheitsanspruch, der auch durch die Parodie noch hindurchscheint. Die Analyse der folgenden epischen Zeitperiphrasen zeigt, dass diese maßgeblich zur Rezeptionslenkung beitragen, indem sie den Zeitpunkt und die Naturgemäßheit des Todes herausarbeiten sowie eine implizite Charakterisierung des Toten liefern. Der Uhrenvergleich hingegen, als Witz eingeführt, sagt weniger über die römische Uhrenbaukunst aus als darüber, dass die instrumentell vermittelte Genauigkeit schon in der römischen Antike glaubwürdige und zugleich unüberprüfbare Argumente lieferte.

50 Verg. Aen., 11,913 f.; Ov. met., 15,419 f.; Sen. Ag., 460 f.; cf. Bardon 1946, 107. Dahlmann 1975, 34, bezeichnet die Verstriade zwar im Zusammenhang mit anderen Tageszeitenperiphrasen zutreffend als „Nachtbeginn“, geht dieser Beobachtung aber nicht weiter nach.

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Betrachtet man diese Datierungen im Zusammenhang, so wird kenntlich, wie sie mit allen Mitteln darauf hinarbeiten, ein bestimmtes Todesdatum in der Erinnerung zu verankern: den 13. Oktober mittags. Dabei bedient der Autor sich etablierter Authentifizierungsstrategien, die auf die Datierweise staatlicher Dokumente, auf epische Visualisierungen mit ihren jeweiligen semantischen Räumen, auf Fokusverschiebungen und die Mittel von Witz und Parodie zurückgreifen. Er nutzt seine einprägsamste Pointe, den Uhrenvergleich, als Höhe- und Endpunkt des Datierungsmarathons, so dass er sogar das Lachen seiner Hörer als Erinnerungsträger in den Dienst nehmen kann. Zentraler Gegenstand der Eingangskapitel der Apocolocyntosis ist also, wenn man der vorgetragenen These folgen mag, die Arbeit am öffentlichen Gedächtnis, mit dem Ziel, den Tod des Kaisers zu naturalisieren und ihn möglichst weit in den 13. Oktober hinein zu verlagern, wobei er zugleich die Charakteristika der Naturnotwendigkeit und Selbstverständlichkeit gewinnt. Am Ende scheinen Tod und Nachfolge zu koinzidieren, und die politisch sensible Lücke zwischen beiden wird unsichtbar. Wenn man, wie zuletzt geschehen, die Spätdatierung der Apocolocyntosis ins zweite nachchristliche Jahrhundert wieder zur Diskussion stellen möchte,51 greift die vorgeschlagene Erklärung nicht: Sie ist eng an die Zeitumstände des Übergangs zwischen Claudius und Nero gebunden und ist nur dort sinnvoll, wo noch an der memoria gearbeitet wird. Sie motiviert die Vielfachdatierungen in ihrer spezifischen Form. Dies bedeutet zugleich, dass die Spätdatierung ihrerseits andere überzeugende Motive für die ‚überschüssige‘ Vielfachdatierung vorbringen müsste, um Bestand zu haben. LITERATURVERZEICHNIS Adamietz, Joachim (1986): Senecas Apokolokyntosis. In: Adamietz, Joachim (Hg.): Die römische Satire, Darmstadt, 356–382. Avenarius, Gert (1956): Lukians Schrift zur Geschichtsschreibung, Meisenheim. Bachtin, Michail M. (2008): Chronotopos, Frankfurt/M. Baldwin, Barry (1979): The acta diurna. Chiron 9, 189–203. Baldwin, Barry (1995): Better late than early: reflections on the date of Calpurnius Siculus. Illinois Classical Studies 20, 157–167. Ball, Allan P. (1902): The satire of Seneca on the apotheosis of Claudius commonly called the Apokolokyntosis, New York u. a. Bardon, Henri (1946): L’aurore e le crepuscule. Thèmes et clichés. Revue des Études Latines 24, 82–115. Blänsdorf, Jürgen (1986): Senecas Apocolocyntosis und die Intertextualitätstheorie. Poetica 18, 1– 26. Boorstin, Daniel J. (1984), The Discoverers. A History of Man’s Search to know His World and Himself, London. Brauneiser, Martha (1944): Tagzeiten und Landschaft im Epos der Griechen und Römer, Würzburg. Courtney, Edward (1988): The Roman Months in Art and Literature. Museum Helveticum 45, 33– 57.

51 Holzberg 2016.

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LEGITIMATIONSSTRATEGIEN

‚ZEITMONTAGEN‘ IN DER GESETZGEBUNG JUSTINIANS I. Karen Piepenbrink (Gießen) 1. EINLEITUNG Justinian I. ist zweifelsohne jenen römischen Kaisern zuzurechnen, die sich durch einen markanten Gestaltungswillen auszeichnen.1 Dies manifestiert sich nicht zuletzt in seiner Gesetzgebung – sowohl in den konkreten Erlassen, die in sämtliche Lebensbereiche eingreifen, wie auch in den programmatischen Äußerungen, welche sich insbesondere in den Prooemien seiner Novellen finden. Auch wenn heute zumeist angenommen wird, dass jene Prooemien nicht aus seiner eigenen Feder, sondern der seines quaestor sacri palatii Tribonian stammen,2 den er maßgeblich mit seinen Kodifikationsprojekten betraut hatte,3 darf als gesichert gelten, dass diese Texte in enger Abstimmung mit dem Herrscher entstanden sind, dessen Selbstverständnis zuverlässig widerspiegeln und eine exzellente Quelle zur Erforschung seiner Repräsentation, vor allem für die Phase vom Beginn seiner Regentschaft bis in die frühen 540er Jahre darstellen.4 Justinian präsentiert sich hier sowohl als ‚Restaurator‘ wie auch als ‚Innovator‘, nimmt Rekurse auf die Vergangenheit vor und inszeniert sich zugleich als Begründer eines neuen Zeitalters, das seiner Vorstellung nach nicht nur ein kurzes Intermezzo bilden, sondern bis in die Zukunft prägend wirken sollte.5 Ein Großteil der Forschungen, welche die Dimension der Zeit in der justinianischen Gesetzgebung in den Blick nehmen, widmet sich deren retrospektiven Tendenzen.6 Dies gilt namentlich für zahlreiche juristische Arbeiten, in denen u. a. diskutiert wird, inwieweit sich in dem Gesetzgebungswerk ‚archaisierende‘ Tendenzen 1

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Forschungskontroversen bestehen diesbezüglich jedoch hinsichtlich der Tatsache, welchen Grad an Systematik der Anspruch des Kaisers aufweist und welche Phasen seiner Herrschaft er umfasst. Zu den Hintergründen der Debatte Leppin 2007, 683. In jüngster Zeit dominiert in dem Zusammenhang die These, dass jener Gestaltungswille sich im Wesentlichen auf die Jahre zwischen 527 und 541 konzentriert; so besonders Meier 2003, bes. 104–114. Zur Verfasserfrage bes. Honoré 1978, 70–138. Die Rolle Tribonians und der von ihm geleiteten Kommissionen wird in den Einleitungsgesetzen, welche den verschiedenen Sammlungen jeweils voranstellt sind und diese eröffnen, mehrfach zur Sprache gebracht; zu den einzelnen Stellen Ebrard 1947, bes. 31 f. Zum Quellenwert speziell der Prooemien für das kaiserliche Selbstverständnis und seine Selbstdarstellung Dölger 1953 [1938/39], 25–29; Hunger 1964, bes. 16; Jones 1988, 154. Zu letzterem eingehend Meier 2003, 101–233; Justinians Zukunftsoptimismus in der ersten Phase seiner Herrschaft steht in markantem Gegensatz zu den apokalyptischen Vorstellungen seiner Zeit; zu jenen Vorstellungen Meier 2000, bes. 157 f. So etwa Donatuti 1953; Mazal 2001, bes. 253.

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ausmachen lassen, in welchem Grade es sich als ‚klassizistisch‘ kennzeichnen lässt und in welcher Relation ‚Archaismus‘ und ‚Klassizismus‘ in dem Zusammenhang stehen.7 Daneben existieren althistorische Beiträge, in denen speziell der Frage nachgegangen wird, ob bzw. in welchem Umfang sich der Restaurationsanspruch, den der Kaiser in seinen Novellen erhebt, in der Realpolitik niedergeschlagen hat.8 Andere Rechts- oder Allgemeinhistoriker nehmen demgegenüber das Moment der ‚Innovation‘ in den Blick, das stark verknüpft ist mit dem dezidiert christlichen Anspruch des Kaisers und der theologischen Legitimation seiner Herrschaft.9 Einige der Forscher fokussieren beide Momente, d. h. die retrospektiven wie die zukunftsorientierten Tendenzen, und studieren, wie sich diese auf den ersten Blick divergierenden Größen zueinander verhalten.10 Mehrheitlich streichen sie heraus, dass Justinian einschneidende Neuerungen zu kommunizieren sucht, indem er suggeriert, dass sie keinesfalls als prinzipiell neuartig einzuschätzen seien, sondern vielmehr an historische Vorbilder anknüpften.11 Hiervon ausgehend möchte ich im Folgenden auf der Basis der Gesamtheit der Novellen sowie der justinianischen Konstitutionen erkunden, wie der Kaiser mit verschiedenen Zeitstufen operiert, in welcher Weise und mit welchen Intentionen er ‚Zeitmontagen‘ vornimmt, d. h. unterschiedliche Zeitebenen zueinander in Beziehung setzt und sie verknüpft, welche Adressaten er dabei im Blick hat und wie sich sein Vorgehen im Kontext der Epoche interpretieren lässt. Dabei geht es mir nicht um ‚Montagen‘ im Bereich der Gesetzeskompilationen, d. h. um die Verflechtung älterer Rechtstexte mit Erlassen aus justinianischer Ära. Dieses Phänomen ist in juristischen Studien im Zusammenhang mit der Frage nach Interpolationen bereits eingehend untersucht worden und berührt den bewussten Umgang mit der Zeit nur indirekt.12 Stattdessen konzentriere ich mich auf die Ebene der programmatischen Aussagen, da sich dort unmittelbar fassen lässt, wie der Kaiser kalkuliert mit Zeitebenen hantiert, dabei auch gezielt mit ‚Montagen‘ arbeitet. Dazu betrachte ich temporale Anspielungen in den Gesetzestexten und eruiere, wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hier konzipiert und zueinander in Relation gesetzt werden.

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Zur Debatte hierüber etwa Pringsheim 1929; Riccobono 1931; Schindler 1966, bes. 336–344; Wieacker 1970; Archi 1970, 151–179; Dannenbring 1972, 129. 8 So besonders Noethlichs 2000. 9 Cf. z. B. Archi 1985, bes. 228–230; Jones 1988, bes. 196. 10 So etwa Jones 1988, bes. 206; Stolte 1994; Humfress 2005, bes. 161; grundsätzlich auch Pazdernik 2005, bes. 185 f. 11 So beispielsweise Maas 1986; Bell 2013, 274. 12 Einen Überblick über diese Forschungen gibt Kaser 1986.

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2. ‚ZEITMONTAGEN‘ IM JUSTINIANISCHEN GESETZGEBUNGSWERK 2.1 Zur Thematisierung der Gegenwart Betrachten wir zunächst, in welchen Kontexten Justinian Gegenwart reflektiert und wie er diese mit den beiden anderen Zeitstufen in Verbindung bringt. Der Kaiser geht bei der Promulgation neuer Einzelgesetze wie auch bei der Begründung der von ihm in Auftrag gegebenen Kompilationen davon aus, dass aktuell im Bereich des Rechts Handlungsbedarf bestehe, auf den er mit seinen Regelungen Bezug nimmt. Er greift diesen auf verschiedenen Ebenen: Zum einen resultiert er aus seiner expansiven Politik, v. a. den militärischen Erfolgen gegen Goten und Vandalen, die es notwendig machen, neue Regionen ins Reich zu integrieren bzw. ältere, zurückgewonnene zu reintegrieren. Dies verlangt die Schaffung administrativer Strukturen, die vielfach über Gesetze implementiert werden.13 Darüber hinaus begegnet der Umstand, dass in bestehenden Provinzen organisatorische Defizite ausgemacht werden, die ihrerseits Anlass zu Restrukturierungen geben.14 Daneben ist Justinian mit Rechtsunsicherheit konfrontiert, die sich zum Teil in konkreten Anfragen manifestiert.15 Dabei geht es um den Umgang mit konfligierenden Bestimmungen wie auch mit Regelungen, die unverständlich geworden sind bzw. nicht mehr zeitgemäß scheinen.16 Exemplarisch sei eine Verfügung aus dem Codex Iustinianus vom Jahr 532 herausgegriffen, die sich mit Testierrechten von Soldaten befasst (De testamento militis): „Obwohl es nach der älteren Gesetzgebung einem Unmündigen erlaubt war, ein Testament zu errichten, wenn er den Rang eines Tribun erhalten hatte, so erscheint es doch unserem Zeitalter unangemessen, einer Person, welche zu vollem Verstande noch nicht gelangt ist, wegen der den Soldaten bewilligten Rechte, dieselben Befugnisse einzuräumen, wie den Personen von gereiftem Verstande, und ihr zu gestatten, aufgrund dieser Berechtigung in so zartem Alter ihren Eltern oder anderen Verwandten dadurch, dass sie ihr Vermögen Fremden vermachen, Schaden zuzufügen. Es ist dies daher künftig nicht mehr erlaubt.“17

13 Const. Tanta/Dedōken, pr. (a. 533); Cod. Iust., 1,17,2 pr. (a. 533); 1,27,1 f. (a. 534); Const. Imperat., 1 (a. 533); Nov. Iust., 1, pr. (a. 535); Beispiele zu einzelnen Provinzen thematisiert Hunger 1964, 176. 14 Cf. z. B. Nov. Iust., 11,1 f. (a 535); die Thematik begegnet überdies in den Novellen 24–31 mit Blick auf die kleinasiatischen Provinzen; hierzu Hunger 1964, 175. Ähnlich argumentiert der Kaiser im Zusammenhang mit seinen Bemühungen, die Funktion der defensores zu stärken; cf. Nov. Iust., 15 pr. 1 (a. 535). 15 Cf. z. B. Cod. Iust., 6,58,12 (a. 532), 7,32,12 (a. 531/2); zu Belegen aus den Novellen Humfress 2005, 175. 16 Cf. etwa Inst. Iust., 2,10,10, 2,13,5; Cod. Iust., 6,33,3 (a. 531); Nov. Iust., 2,5 (a. 535), 8 pr. (a. 535), 126 pr. (a. 546); weitere Belege nennt Hunger 1964, 165–167; zum historischen Kontext Noethlichs 1996, 220. 17 Cod. Iust., 6,21,18 (a. 532); übers. R. Haller; im Original heißt es in der lateinischen Fassung: Licet antiquis legibus permittebatur pupillis, si tribunatum numeri mereantur, ultimum elogium conficere posse, attamen indignum nostris temporibus esse videtur eum, qui stabilem mentem

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Maßnahmen dieser Art erfordern die Sichtung und wenn nötig Eliminierung einzelner Paragraphen oder gar ganzer Gesetze, mit denen der Kaiser seine Juristen beauftragt. Die Dimension der Gegenwart greifen wir damit insbesondere anlässlich pragmatischer Reflexionen, in denen der Kaiser akuten Gestaltungsbedarf benennt und entsprechende Maßnahmen initiiert. 2.2 Zu Reminiszenzen an die Vergangenheit Spätestens bei der Feststellung, dass Regelungen nicht mehr zeitadäquat seien, gerät zudem die Vergangenheit ins Visier, die an der Stelle als kontrastiv zur Gegenwart gezeichnet wird. Dabei wird auf die Vergangenheit rekurriert, um gegenwärtigen Reformbedarf zu explizieren. Verbreitet begegnet in dem Kontext die Vorstellung, dass die menschliche Natur einem beständigen Wandel unterworfen sei und die staatlichen Gesetze dem regelmäßig angepasst werden müssten.18 Daneben stoßen wir auf das – auf den ersten Blick hierzu gegensätzliche – Phänomen, dass aktuelle Reformpläne mit Einrichtungen der Vergangenheit verknüpft werden. In dem Fall findet keine antithetische Betrachtung der beiden Zeitstufen statt, sondern eine Betonung von Parallelen und Kongruenzen sowie des paradigmatischen Charakters von Erscheinungen der Vergangenheit. Zumeist werden dabei punktuelle Bezüge auf die Geschichte vorgenommen. Ein markantes Beispiel ist der Rekurs auf die republikanische Prätur, der anlässlich der Einführung einer neuen Institution gleichen Namens praktiziert wird. Es handelt sich um ein Amt, das Justinian in mehreren kleinasiatischen Provinzen installiert und in dem militärische und zivile Kompetenzen, die bis dato von verschiedenen Funktionsträgern wahrgenommen wurden, zusammengeführt werden.19 Dies zielt auf Synergieeffekte und Effizienzsteigerung,20 ist aber verbunden mit einem Stellenabbau. Durch die Reminiszenz auf die Republik suggeriert der Gesetzgeber, dass es um ein Amt mit ausgedehnten Zuständigkeiten und hoher Reputation für seine Träger gehe. Wir haben es hier mit

nondum adeptus est, propter privilegia militum sapientium hominum iura pertractare et in tenera aetate ex tali licentia parentibus forte suis vel aliis propinquis nocere propriam substantiam extraneis relinquentem. Ideoque hoc fieri nullo modo concedimus. 18 Cf. etwa Const. Tanta/Dedōken, 18 (a. 533); Cod. Iust., 1,17,2,18 (a. 533); Nov. Iust., 7,2 (a. 535), 49 pr. (a. 537), 60 (a. 537), 74 pr. (a. 538), 84 pr. 1,1 (a. 539); Ed. Iust., 7 pr. (a. 542); zu der Überlegung mit weiteren Belegen Jones 1988, 175; Humfress 2005, 175; Pazdernik 2005, 201; grundsätzlich zu diesem Gedanken in den justinianischen Gesetzen auch Fögen 1987, 141 f. 19 Cf. etwa Nov. Iust., 13 pr. 1 f. (a. 535), 20 (a. 536), 21 (a. 536), 24 (a. 535), 25 pr. (a. 535); 26,1 (a. 535), 27,1 (a. 535), 28 (a. 535), 29,1 (a. 535), 30,1 (a. 536); zu jenen Reformmaßnahmen auch Noethlichs 2001, Sp. 715–719; Humfress 2005, 169. 20 Cf. Sarris 2006, bes. 209.

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einem gezielten Anachronismus zu tun,21 der zur Legitimation einer Reformmaßnahme eingesetzt wird.22 Die Verknüpfung zwischen den beiden Positionen konkretisiert sich in ihrer identischen Benennung. Adressaten derartiger Argumentationen sind Angehörige des ordo senatorius, die sich auch in justinianischer Zeit noch über römische Traditionen definieren und besonders sensibel auf Einschränkungen ihrer öffentlichen Wirkmöglichkeiten reagieren.23 Auf eine Wertschätzung republikanischer Magistraturen durch Justinian selbst ist hieraus keinesfalls zu schließen. Überdies ist er sich sehr wohl bewusst, dass sich der Handlungsrahmen gegenüber der Republik grundlegend gewandelt hat. Beides wird wenige Jahre später mehr als deutlich, als er zunächst für die Aufhebung der Jahreszählung nach Konsuln und bald darauf für die Aufgabe des herkömmlichen Konsulats als einer nicht mehr zeitgemäßen Einrichtung plädiert.24 Punktuelle Vergangenheitsbezüge greifen wir auch bei Referenzen auf ältere Gesetze, die der Republik wie der Kaiserzeit entstammen können. Besonders beliebt ist der Verweis auf die Zwölf Tafeln, bei dem es dem Herrscher mehrheitlich nicht um konkrete inhaltliche Bezugnahmen zu tun ist, sondern um die Vorstellung, dass jene frührepublikanischen Gesetze sich durch Einfachheit und Klarheit ausgezeichnet hätten.25 Er thematisiert dies, wenn er im Rahmen seiner eigenen legislatorischen Tätigkeit den Anspruch erhebt, generelle Bestimmungen zu erlassen, Ausnahmetatbestände einzuschränken, Komplexität zu reduzieren und Transparenz zu schaffen.26 Derartige Postulate propagiert er als Rückkehr zu alten Prinzipien, die nach wie vor goutiert würden, in der Praxis aber an Bedeutung eingebüßt hätten. Markant sind auch die Verweise auf die sog. lex regia, durch die der populus Romanus seine Souveränität auf den Kaiser übertragen habe.27 Dieses vermeintliche Gesetz, das erstmals von Ulpian erwähnt wird,28 erlaubt Justinian eine historische Legitimation seines kaiserlichen Ranges. An anderen Stellen vermittelt er demgegenüber den Eindruck, dass die römische Rechtsgeschichte sich durch Kontinuität auszeichne und er selbst sich in diese Tradition stelle. Jener Gedanke begegnet etwa, wenn er seinen Respekt gegenüber der Gesetzgebung vormaliger Kaiser artikuliert – meist verbunden mit dem Anspruch, sich an den gleichen Prämissen und Wertvorstellungen zu orientieren wie jene, etwa dem Prinzip des favor libertatis oder dem Grundsatz der clementia bzw. 21 Dies konkretisiert sich auch sprachlich an den in der Novelle 24 verwendeten Formulierungen antiquitatem ad rem publicam reducere und imitatio priorium; Nov. Iust., 24,1 (a. 535). 22 Zugleich handelt es sich um einen Fall von intentionaler Geschichte, in dem in hohem Grade mit Fiktionen gearbeitet wird; zu der Erscheinung Maas 1986. 23 Zu dem Phänomen mit zahlreichen Beispielen Cameron 1985, 19 f., 228; Maas 1992, bes. 4– 7; Cataudella 2003, bes. 415 f.; Brodka 2004, 149; Kelly 2004, 14–17; Pazdernik 2005, 197 f.; Bell 2013, bes. 267–286; Leppin 2011, 101; Börm 2015, 316, 336 f. 24 Zu beiden Maßnahmen ausführlich Meier 2002; Kreutz 2008, 265. 25 So z. B. Inst. Iust., 3,2,3b; Cod. Iust., 6,4,4 (a. 531), 6,58,14 (a. 531); Nov. Iust., 22,2 (a. 535). 26 Cf. Inst. Iust., 3,2a. b; Cod. Iust., 1,17,2,13. 17 (a. 533), 2,56,5,3 (a. 530), 22 pr. (a. 535), 68,1,2 (a. 538), 98 pr. (a. 539), 118 pr. (a. 543), 120 pr. (a. 544); zu der Vorstellung, die er besonders mit den Zwölf Tafeln verbindet, Behrends 2008, 201. 27 Inst. Iust., 1,2,6; Const. Deo auctore, 7 (a. 530); Cod. Iust., 1,17,1,7 (a. 530). 28 Zum Ursprung der Vorstellung Noethlichs 2001, Sp. 709.

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der humanitas.29 Daneben findet sich die Aussage, dass er an Bestimmungen früherer Regenten anknüpfe oder diese in deren Sinne ergänze. So heißt es etwa in den Institutiones im Abschnitt „Über die Ersitzung und den langfristigen Besitz“ (De usucapionibus et longi temporis possessionibus): „Durch eine Verordnung des vergöttlichten Kaisers Mark Aurel wird bestimmt, dass derjenige, der vom Fiskus eine fremde Sache gekauft hat, den Eigentümer der Sache mittels einer Einrede abwehren kann, wenn nach dem Verkauf fünf Jahre vergangen sind. Doch hat eine Konstitution des Kaisers Zeno seligen Angedenkens für diejenigen, die vom Fiskus durch Kauf, Schenkung oder irgendeinen anderen Titel etwas erwerben, so gut vorgesorgt, dass sie selbst sofort unangreifbar werden und Sieger bleiben, mögen sie verklagt werden oder selber klagen. Aber gegen die kaiserliche Staatskasse dürfen diejenigen noch innerhalb von vier Jahren klagen, die meinen, ihnen ständen an den Sachen, die veräußert worden sind, aus Eigentum oder Pfandrecht Klagerechte zu. Aber auch für diejenigen, die von unserem Haus oder dem der verehrungswürdigen Kaiserin etwas erworben haben, hat unsere kürzlich veröffentlichte kaiserliche Konstitution dasselbe bestimmt, was für fiskalische Veräußerungen in der vorerwähnten Konstitution des Kaisers Zeno enthalten ist.“30

Maßgeblich für die Auswahl der betreffenden Herrscher ist deren Bedeutung als Nomotheten. Welcher Phase der römischen Kaiserzeit sie zuzurechnen sind, ist dagegen ebenso wenig von Interesse wie ihre religiöse Affiliation.31 Ähnlich verhält es sich mit seiner Würdigung prominenter Juristen, auf deren namentlicher Nennung er in seiner Gesetzessammlung ausdrücklich besteht und an deren Bestimmungen er ebenfalls anschließen möchte.32 Daneben stoßen wir auf pragmatische Gesichtspunkte, darunter den Umstand, dass der Kaiser zahlreiche ältere Gesetze expressis verbis bestätigt,33 oder dass er herausstellt, dass seine Novellen nicht 29 Zum Anspruch des Eintretens für die Freiheit, meist im Zusammenhang mit Regeln, die den Rechtsstatus von Personen betreffen, Cod. Iust., 11,48,21 (a. 530); Nov. Iust., 54 pr. (a. 537), 81,1 (a. 539); zu dem Motiv und seiner historischen Kontextualisierung Krumpholz 1992, 98. Zum Rekurs auf die clementia Nov. Iust., 4,3 (a. 535), 53,3 (a. 537); zur humanitas Inst. Iust., 2,20,3; Cod. Iust., 4,29,25 (a. 531), 5,27,8 (a. 528), 6,25,7,1 (a. 530), 6,58,14,1. 4 (a. 531); Nov. Iust., 22,8 (a. 535), 23 pr. (a. 536). 30 Inst. Iust., 2,6,14; übersetzt R. Knütel u. a. Im Original lautet die Passage: Edicto divi Marci cavetur, eum qui a fisco rem alienam emit, si post venditionem quinquennium praeterierit, posse dominum rei per exceptionem repellere. constitutio autem divae memoriae Zenonis bene prospexit his qui a fisco per venditionem vel donationem vel alium titulum aliquid accipiunt, ut ipsi quidem securi statim fiant et victores existant, sive conveniantur sive experiantur: adversus sacratissimum autem aerarium usque ad quadriennium liceat intendere his qui pro dominio vel hypotheca earum rerum quae alienatae sunt putaverint sibi quasdam competere actiones. nostra autem divina constitutio, quam nuper promulgavimus, etiam de his qui a nostra vel venerabilis Augustae domo aliquid acceperint haec statuit quae in fiscalibus alienationibus praefata Zenoniana constitutione continentur. Cf. auch Inst. Iust., 2,19,6; 3,11,7; Cod. Iust., 1,3,45 (a. 530); Nov. Iust., 7 pr. (a. 535), 12 pr. (a. 535), 22,15 (a. 535), 80,10 (a. 539), 89 pr. (a. 539), 90 pr. (a. 539), 107 pr. (a. 541). 31 Eine Präferierung spätantiker christlicher Kaiser ist entsprechend nicht zu erkennen. 32 Zur Reverenz speziell gegenüber einschlägigen Juristen und deren Erlassen Const. Deo auctore, 6 (a. 530); Const. Tanta/Dedōken, 10; 20 (a. 533); Cod. Iust., 1,17,1,5 f. (a. 530), 1,17,2,20 (a. 533); zu weiteren Belegen cf. Donatuti 1953, bes. 231–233; zum Gedanken der Fortschreibung des Juristenrechts Inst. Iust., 3,27,7; Nov. Iust., 22,43 (a. 535), 97 pr. 2 (a. 539). 33 Cf. z. B. Nov. Iust., 2 pr. (a. 535), 6,8 (a. 535).

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rückwirkend Geltung beanspruchen,34 so dass vor ihrem Inkrafttreten getroffene Vereinbarungen oder gefällte Urteile nicht durch sie tangiert werden. Die Vergangenheit bleibt also unberührt; der Geltungszeitraum der neu erlassenen Regelungen ist allein die Zukunft. Zudem verweist er bei neuen Erlassen darauf, dass sie lediglich auf Missstände reagierten, die bereits früher moniert worden seien.35 Dabei schließt er sich der seit langem und wiederholt zum Ausdruck gebrachten Ansicht an, dass das römische Recht – ungeachtet aller Wertschätzung – durch eine zunehmende Konfusion gekennzeichnet sei.36 Intention sämtlicher Referenzen auf die Vergangenheit ist, dem Vorwurf der ‚Neuerungssucht‘ zu begegnen, der nicht nur in Prokops Anekdota einen zentralen Kritikpunkt bildet, sondern den der Kaiser auch persönlich in seinen Gesetzen andeutet.37 Dabei räumt er durchaus ein, Innovationen vorzunehmen, betont aber, diese auf ein Minimum zu reduzieren; außerdem gibt er zu bedenken, dass viele vermeintliche Neuregelungen tatsächlich Ergänzungen oder Präzisierungen älterer Bestimmungen darstellten, durch die jene qualitativ verbessert würden – und dies nicht auf der Grundlage beliebiger neuer, sondern bewährter herkömmlicher Maßstäbe.38

34 Cf. etwa Cod. Iust., 1,3,52,12 (a. 531), 3,28,33,1 (a. 529), 6,23,29,7 (a. 531); Nov. Iust., 19 pr. (a. 536), 22 pr. 1 (a. 535), 66,1,4 (a. 538), 73,9 (a. 538), 76,1 (a. 538), 78,1 (a. 539), 100,2,1 (a. 539), 101,4,1 (a. 539), 115,1 (a. 542), 117,8 (a. 542), 123,44 (a. 546). Gleiches gilt, wenn er bemerkt, dass eine Neuregelung sich nur auf bestimmte Aspekte einer Rechtsangelegenheit bezieht, so dass in sämtlichen anderen Bereichen die älteren bestehen bleiben; dazu z. B. Cod. Iust., 6,22,9 (a. 530), 6,22,11 (a. 531); Nov. Iust., 23,4 (a. 536), 39,1 (a. 536), 49,1 (a. 537), 50,2 (a. 537), 58 (a. 537), 66,1,4 (a. 538), 82,11,1 (a. 539), 94 pr. 1 (a. 539). 35 So beispielsweise Cod. Iust., 3,1,14 (a. 530), 3,31,12,1 (a. 531), 3,33,17 (a. 531), 4,38,15 (a. 530), 5,4,24 (a. 530), 5,11,7,1 (a. 530), 6,26,10 (a. 531), 6,27,5,1 (a. 531), 6,29,4 (a. 530), 6,30,19 (a. 529), 6,30,20 f. (a. 531), 6,35,12 (a. 532), 7,7,1 (a. 530), 7,33,12 (a. 531), 7,40,3 (a. 531), 8,11,1 (a. 532), 8,54,34 (a. 529). 36 Const. Deo auctore, 1, 5 (a. 530); Const. Tanta/Dedōken, pr. (a. 533); Cod. Iust., 1,17,2 (a. 533). Zu dem Gedanken Noethlichs 1996, 220. Insgesamt geht Justinian davon aus, dass positives Recht in Rom bereits seit 1400 Jahren existiere; zur Eigentümlichkeit dieser Vorstellung Meier 2003, 113. 37 Cf. Prokop. Anek., 9,50; 11,1 f.; 14; zu den Reaktionen Justinians etwa Inst. Iust., 2,14 pr.; Nov. Iust., 91,1 (a. 539). Zu den Bemühungen des Kaisers, jenem Vorwurf entgegenzuwirken, auch Humfress 2005, 175. 38 Cf. z. B. Cod. Iust., 4,1,12,6 (a. 529), 4,18,2 (a. 531), 5,4,25,3 (a. 530), 6,28,4 (a. 531), 6,30,22,13a (a. 531). Auch beträfen sie vielfach nur Teilaspekte, wohingegen wesentliche Passagen erhalten blieben; cf. Cod. Iust., 6,22,9 (a. 530), 6,22,11 (a. 531); Nov. Iust., 23,4 (a. 536), 39,1 (a. 536), 49,1 (a. 537), 50,2 (a. 537), 58 (a. 537), 66,1,4 (a. 538), 82,11,1 (a. 539), 94 pr. 1 (a. 539).

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2.3 Zur Perspektivierung der Zukunft Schließlich findet sich in seiner Gesetzgebung eine ausgeprägte Zukunftsperspektive, die unmittelbar mit seiner Ambition verbunden ist, ein neues, glückliches Zeitalter zu begründen.39 Diese wiederum geht einher mit seinem spezifischen Konzept eines christlichen Kaisertums, auf dessen Grundlage er sich nicht nur als exklusiv vom Christengott beauftragter, sondern auch als von diesem ausnehmend begünstigter und demzufolge ungewöhnlich erfolgreicher Herrscher versteht – zumindest bis in die frühen 540er Jahre.40 Jene Referenz auf das Christentum hat jedoch keinesfalls zur Konsequenz, dass Justinian intendiert, das römische Recht umfassend im christlichen Sinne zu transformieren und damit zu erneuern. Ebenso wenig verbirgt sich hinter seinen Bezugnahmen auf die Zukunft eine dezidiert christlicheschatologische Position.41 Sein Zukunftsentwurf ist eher statischer Natur und zielt auf die Konservierung des von ihm geschaffenen Zustandes.42 Die Legitimation über den Christengott äußert sich allem voran in einer Überhöhung und Sakralisierung seiner Person, was seine Loslösung von traditionellen Bezugskreisen wie auch seinen Anspruch auf außerordentliche Handlungskompetenz impliziert.43 Im Bereich der Gesetzgebung manifestiert sich das u. a. in der Weise, dass Justinian für sich reklamiert, Rechtsfragen nicht nur mit Blick auf die Gegenwart, sondern erstmals auch für die Zukunft verbindlich zu klären.44 Damit setzt er sich von sämtlichen früheren Gesetzgebern ab und markiert gegenüber der Vergangenheit eine Zäsur. Sein gesetzgeberisches Wirken differiert in Quantität wie Qualität von allem Bisherigen – so sein Verständnis.45 Aufgrund seines Ausgreifens auf die Zukunft 39 Zu seinen diesbezüglichen Vorstellungen mit zahlreichen Belegen Meier 2003, 104–136. Auch die in der Forschung lange vorherrschende Tendenz, von einem ‚justinianischen Zeitalter‘ zu sprechen, steht hiermit in Zusammenhang; zu jenem Forschungskonzept Leppin 2007, 659– 662. 40 Entsprechend inszeniert er sich insbesondere in den Prooemien seiner Novellen wie in den Promulgationskonstitutionen zu seinen Gesetzessammlungen; zu letzterem Fears 1981, Sp. 1143. 41 Letzteres steht in Kontrast zu den Endzeiterwartungen, die in seiner Zeit stark verbreitet sind und denen er sich in späteren Phasen seiner Herrschaft auch selbst verschreibt; cf. zu jenen Vorstellungen die Literaturhinweise in Anm. 5. 42 Dies kommt besonders in dem Anspruch zum Ausdruck, dass seine Maßnahmen für die Ewigkeit Gültigkeit besitzen sollen; dazu mit Belegen Archi 1990, 21. 43 Das gilt in gleicher Weise für das Bild des Kaisers in der Ekthesis des Agapetos; dazu mit Belegen Henry III 1967, bes. 307 f. 44 Hierzu grundsätzlich Const. Tanta/Dedōken, 1 (a. 533); mit Blick auf einzelne Neuregelungen z. B. Cod. Iust., 1,3,55,3. 7 (a. 534), 1,14,12,4 f. (a. 529), 1,4,34,4 (a. 534), 1,5,19 (a. 530), 3,31,12,1 (a. 531), 3,33,13–16 (a. 530), 4,29,24 (a. 530), 5,4,23,7 f. (a. 520–523), 5,4,26,1 (a. 530), 5,51,13 (a. 530), 5,70,6 (a. 530), 6,2,20–22 (a. 530), 6,4,3 (a. 529), 6,20,29 (a. 528), 6,29,3 (a. 530), 6,37,23 f. (a. 531), 6,46,7 (a. 532), 8,38,13 (a. 530); Nov. Iust., 1,1 (a. 535), 2,3 (a. 535), 32 pr. (a. 535), 34 pr. (a. 535), 95 epil. (a. 539), 133 pr. 1 (a. 539). Der Anspruch, Rechtsfragen endgültigen Lösungen zuzuführen, kommt auch im Begriff der perfectio zum Ausdruck, der in dem Zusammenhang verbreitet begegnet; so Inst. Iust., 3,2,7; Nov. Iust., 7 pr. (a. 535), 22,43 (a. 535); weitere Belege nennt Jones 1988, 195. 45 Hierzu unter Betonung des Umstandes, dass dies nur mit göttlicher Unterstützung möglich sei, Const. Deo auctore, 2 (a. 530); Const. Imperat., 3 (a. 533); Nov. Iust., 109 pr. (a. 541).

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mache es zudem künftige juristische Kontroversen überflüssig.46 Wenn er im Rahmen seiner Kompilationen ältere Gesetze bestätige, so beruhe deren Gültigkeit fortan auf der Autorisierung durch seine Person, nicht mehr auf herkömmlichen Rechtsgründen.47 Altes und Neues können dabei ‚montiert‘ werden, ohne dass zwingend auf inhaltliche Kohärenz zu achten wäre. Die Verknüpfung legitimiert sich über die Gestaltungskompetenz des Kaisers, die sich ihrerseits auf göttliche Gnade gründet. Ein spezifischer Nexus von Vergangenheits- und Zukunftsbezug ist schließlich an Stellen auszumachen, in denen Justinian auf vermeintliche historische Anfänge rekurriert, etwa die ursprüngliche Konstituierung der römischen res publica oder spätere Neubegründungen, wie er sie mit Caesar und Augustus assoziiert.48 Diese können herangezogen werden, um sein eigenes Projekt eines neuen Zeitalters historisch zu fundieren. 2.4 Zur Relation der Zeitebenen Nun stellt sich allerdings die Frage, inwieweit seine Reflexionen zur Zukunft konform gehen mit seinen Überlegungen zu den anderen Zeitstufen, die wir zuvor betrachtet haben. Wie verhält sich sein Anspruch, Zukunft verbindlich gestalten zu können, zur Vorstellung von der varietas naturae, die regelmäßige Gesetzeskorrekturen erfordere? Liegt hier nicht ein eklatanter Widerspruch vor? Tatsächlich formuliert Justinian jene beiden Gedanken in verschiedenen Kontexten und vermeidet so unmittelbare Kollisionen. So begegnen die Reflexionen zu historischem Wandel prioritär in Zusammenhängen, in denen Entwicklungen in der Vergangenheit beleuchtet und Handlungsbedarf in der Gegenwart illustriert werden sollen. Im Übrigen geht Justinian nicht so weit, Rechtsprobleme, die sich gesetzespositivistisch nicht hinreichend bewältigen lassen, für die Zukunft gänzlich auszuschließen. Singuläre Entscheidungen sind seiner Ansicht nach weiterhin möglich, sollten aber dem Kaiser vorbehalten bleiben.49 Aus seiner Sicht liegt hier keine Kontradiktion vor, da er die generelle Gesetzgebungskompetenz des Kaisers wie auch dessen

46 In dem Kontext steht auch sein Verbot der Kommentierung der von ihm veranlassten Gesetzessammlungen; zu dem Komplex Const. Deo auctore, 7, 12 (a. 530); Cod. Iust., 1,17,1,12 (a. 530), 1,17,2,21 (a. 533); Const. Tanta/Dedōken, 19, 21 (a. 533); zur Diskussion über diese Maßnahme in der juristischen Forschung Klingenberg 1995, 409–421; Kuypers 1986, bes. 77 mit Verweisen auf die ältere Literatur. 47 Zur Bestätigung älterer Gesetze durch seine Person z. B. Cod. Iust., 1,3,52,5 f. (a. 531), 1,5,19 (a. 530), 1,17,2,20 (a. 533), 3,10,2 (a. 532), 4,35,23 (a. 531/2), 6,35,11 (a. 531); Nov. Iust. 124,4 (a. 544); explizit zum Gedanken, dass jene Gesetze ihre Legitimation durch seine Bekräftigung erhielten, etwa Cod. Iust., 1,17,1,10 f. (a. 530), 4,28,7 (a. 530); Const. Deo auctore, 7 (a. 530); Const. Tanta/Dedōken, 10 (a. 533); Nov. Iust., 59 pr. (a. 537). 48 Cf. bes. Nov. Iust., 47 pr. (a. 537); dazu Hunger 1964, 174. Zu möglichen Anknüpfungen Justinians an die Tradition der Säkularfeiern, besonders jene des Augustus, cf. Meier 2003, 150– 165. 49 Er betont dabei einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Kompetenz zur Gesetzgebung und zur Gesetzesauslegung; cf. etwa Cod. Iust., 1,14,12 (a. 529).

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Recht auf Einzelfallentscheidungen gleichermaßen aus dem göttlichen Willen herleitet.50 Ähnlich steht es mit den Inkonsistenzen zwischen den Referenzen auf die als vorbildlich verstandene Historie auf der einen und dem Postulat eines Bruchs mit der als nicht mehr zeitgemäß begriffenen Vergangenheit auf der anderen Seite. Auch diese Aussagen werden in unterschiedlichen Kontexten formuliert. In Gesetzen, in denen bevorzugt mit Vergangenheitsbezügen gearbeitet wird, wird gewöhnlich nicht mit christlichen Vorstellungen operiert, welche die Zukunft fokussieren.51 Hinzu kommt, dass auf inhaltlicher Ebene diesbezüglich zahlreiche Kongruenzen existieren: So bedeutet der Bezug auf das Christentum in der Mehrzahl der Fälle keineswegs eine Abkehr von herkömmlichen Werten. Oftmals findet sich vielmehr die Überzeugung, dass die bisherigen Wertvorstellungen, an denen sich kaiserliches Handeln traditionell auszurichten hat – namentlich iustitia, clementia und liberalitas – nicht nur weiterhin Bestand haben, sondern sogar mit gesteigerter Intensität verfolgt werden, da sie nun zusätzlich als göttlich legitimiert begriffen werden.52 Spannungen sind in dem Zusammenhang nur an der Stelle zu erwarten, wo der Kaiser seinen exklusiven Gottesbezug herausstreicht und sich damit von den herkömmlichen Akzeptanzgruppen zu emanzipieren trachtet. Das aber sucht er zu vermeiden, indem er bei Sachfragen, die speziell die Angehörigen des Senatorenstandes betreffen, vorzugsweise traditionell vergangenheitsbezogen argumentiert.53 3. ZUSAMMENFASSUNG Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden in Justinians Gesetzgebungswerk vielfältig zueinander in Beziehung gesetzt und miteinander verknüpft. Referenzen auf die Vergangenheit wie die Zukunft dienen dabei grundsätzlich der Funktion, nomothetisches Wirken in der Gegenwart zu legitimieren. Justinian operiert dazu nicht mit einem konsistenten Zeitkonzept, sondern verbindet differierende, teils konfligierende Vorstellungen: Vergangenheit kann als Kontinuum wie auch als Zeitraum präsentiert werden, der zahlreiche Brüche aufweist. Sie vermag zum zentralen 50 Relevant ist an der Stelle auch das Motiv des νόμος ἔμψυχος, das bei ihm in einem christlichen Begründungszusammenhang steht; cf. Nov. Iust., 105,2,4 (a. 537); grundsätzlich zum Selbstverständnis Justinians als Gesetzgeber Simon 1984, 466, 479 f.; Evans 1996, 60 f.; Harries 1999, 212 f. 51 Letzteres geschieht höchstens in der Weise, dass der Gedanke der Beauftragung durch den Christengott allgemein artikuliert wird; cf. etwa Cod. Iust., 1,27,1,6–10 (a. 534), 1,27,2 (a. 534); Nov. Iust., 1 pr. (a. 535), 24,2 (a. 535), 28,4 (a. 535); zur Relation von christlichen Begründungen und Rekursen auf die Vergangenheit in der justinianischen Gesetzgebung Piepenbrink 2017, 369 f. 52 Zur Betonung seiner besonderen ‚Milde‘ und ‚Menschlichkeit‘, die mit dem Bezug auf das Christentum und die Abkehr von der ‚Strenge‘ der Vergangenheit einhergingen, Inst. Iust., 2,20,3; Cod. Iust., 4,29,25 (a. 531), 5,27,8 (a. 528), 6,25,7,1 (a. 530), 6,58,14,1. 4 (a. 531); Nov. Iust., 22,8 (a. 535), 23 pr. (a. 536); grundsätzlich zur Verknüpfung römischer Tradition und christlicher Ausrichtung in der Selbstdarstellung Justinians Cameron 1991, 193 f. 53 Dies hat Maas anhand jener Novellen, mit denen der Kaiser administrative Reformen durchführt, die zuvorderst die Senatoren betreffen, nachdrücklich demonstriert; cf. Maas 1986, 28.

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Referenzpunkt erhoben oder auch als solcher zurückgewiesen zu werden; letzteres geschieht, wenn das Moment der Gestaltung der Zukunft in den Vordergrund tritt. Diese Diversität korreliert mit den Handlungsbedingungen der justinianischen Herrschaft: Zum einen hat er den Erwartungen der herkömmlichen Akzeptanzgruppen zu entsprechen – im Bereich der Gesetzgebung nachgerade jenen des ordo senatorius, dessen Angehörige die legislatorischen Aktivitäten des Kaisers argwöhnisch beobachten, zum anderen sucht er sich aus traditionellen Handlungszusammenhängen zu lösen und seine Stellung ausschließlich nach dem Modell des Gottesgnadentums zu legitimieren.54 Die Perspektivierung einer Zukunft, die sich durch Abgrenzung von der Vergangenheit auszeichnet, ermöglicht es Justinian, einen grundlegenden Wandel in den Handlungsbedingungen im Verlauf der Zeit wahrzunehmen. Entsprechend verfügt er über die Fähigkeit, Anachronismen zu identifizieren und auch zu problematisieren.55 Zugleich produziert er selbst gezielte Anachronismen, sobald er mit Vergangenheitsbezügen operiert. Schließlich hat er Vorsicht walten zu lassen, wenn er die Alterität von Zukunft stark betont, um innovative Maßnahmen zu begründen. Hier drohen leicht Akzeptanzprobleme, die sich selbst durch Verweise auf den göttlichen Willen nicht hinreichend bewältigen lassen. In Anbetracht dessen greift er wiederum zu einer ‚Zeitmontage‘, indem er die Wertvorstellungen, die er in seinem Gesetzeswerk implementieren möchte und die das Imperium Romanum künftig charakterisieren sollen, nicht als Neuerungen, sondern als Steigerung herkömmlicher virtutes zu kommunizieren sucht. Betrachten wir abschließend, wie sich die ‚Zeitmontagen‘, die in seinem Gesetzeswerk auszumachen sind, typologisieren lassen: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft können als Dimensionen einer linearen Entwicklung gezeichnet werden. Das passiert gewöhnlich dann, wenn der Kaiser das Moment der Tradition illustrieren möchte. Soll dies expliziert werden, hebt er hervor, dass die Zeitstufen bruchlos zu einem Kontinuum gefügt werden. Weitaus häufiger aber stoßen wir auf das Phänomen, dass der Gesetzgeber punktuell und selektiv verfährt, indem er einzelne Elemente aus der Vergangenheit auf konkrete Handlungsanforderungen der Gegenwart bezieht und in ihrer Bedeutung für die Zukunft reflektiert. Dabei geht er davon aus, dass die Vergangenheit neben Paradigmatischem auch Brüche bzw. Phasen der Dekadenz aufweist, die ihrerseits als Anknüpfungspunkte ungeeignet sind. In diesem Fall wird weitaus offensichtlicher ‚montiert‘ als im zuvor betrachteten. Dies geschieht jedoch nicht uniform, sondern weist eine Variationsbreite auf, insbesondere hinsichtlich der Art und Weise, wie dabei Sinn produziert wird. So ist es möglich, dass die Sinnstiftung über die Vergangenheit geleistet wird, wobei die 54 Zur Relevanz des ‚Akzeptanzsystems‘ für Justinian Diefenbach 1996, 37–41; Pfeilschifter 2013, bes. 28–38; zur Konzeption des Modells mit Blick auf den Prinzipat Flaig 1992, bes. 174–207; zur Fokussierung des Gottesgnadentums, die in der Intensität vorher nicht begegnet ist und in der Forschung auf Legitimationsprobleme zurückgeführt wird, Karayannopoulos 1975 [1956], 250 f., 257; Meier 2003, 108. 55 Besonders in der Weise, dass er Einrichtungen als unzeitgemäß begreift; zu diesem Aspekt des Anachronismusbegriffs, der sich keinesfalls auf die Neuzeit beschränkt, Schmidt-Biggemann 2003, 29 f.

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memorierten exempla ihre herkömmliche Konnotation bewahren und diese zugleich auf die Zukunft transferiert wird. Solches ist vornehmlich bei Sujets zu beobachten, bei denen die Interessen der traditionellen Eliten tangiert sind und der Kaiser dem Vorwurf der ‚Neuerungssucht‘ zu begegnen hat. Daneben stoßen wir auf den Fall, dass historische Elemente radikal dekontextualisiert werden und in der Verknüpfung mit Neuem alternative Sinneinheiten entstehen, die sich aus dem Zukunftsverständnis speisen. Ein erheblicher Spielraum tut sich überdies auf hinsichtlich der Intensität der Verknüpfung der verschiedenen Elemente. Sie reicht von bloßen Summierungen – etwa bei Aneinanderreihungen alter und neuer gesetzlicher Bestimmungen – bis hin zur Schaffung von Synthesen, deren einzelne Bestandteile zum Teil kaum mehr identifizierbar sind.56 Die dazu erforderliche Integrationskraft wird vorrangig aus der Person des Kaisers und seiner außerordentlichen Handlungskompetenz bezogen. Besonders deutlich wird dies beim Anspruch Justinians, ein homogenes Gesetzeswerk zu schaffen, dessen Legitimation exklusiv aus dem kaiserlichen Wirken resp. göttlichen Willen herzuleiten sei. LITERATURVERZEICHNIS Archi, Gian Gualberto (1970): Giustiniano legislatore, Bologna. Archi, Gian Gualberto (1985): Nuovi valori e ambiguità nella legislazione di Giustiniano. In: Archi, Gian Gualberto (Hg.): Il mondo del diritto nell’epoca giustinianea. Caratteri e problematiche, Ravenna, 225–249. Archi, Gian Gualberto (1990): Il potere normativo imperiale nella Costantinopoli di Giustiniano. Tradizione e Innovazione. Subseciva Groningana 4, 9–25. Behrends, Okko (2008): Der Schlüssel zur Hermeneutik des Corpus Iuris Civilis. Justinian als Vermittler zwischen skeptischem Humanismus und pantheistischem Naturrecht. In: Avenarius, Martin (Hg.): Hermeneutik der Quellentexte des Römischen Rechts, Baden-Baden, 193–297. Bell, Peter N. (2013): Social Conflict in the Age of Justinian. Its Nature, Mangement, and Mediation, Oxford. Bergemann, Lutz u. a. (2011): Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels. In: Böhme, Hartmut u. a. (Hgg.): Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, München, 39–56. Börm, Henning (2015): Procopius, his Predecessors, and the Genesis of the ‚Anecdota‘. Antimonarchic Discourse in Late Antiquity. In: Börm, Henning (Hg.): Antimonarchic Discourse in Antiquity, Stuttgart, 305–346. Brodka, Dariusz (2004): Die Geschichtsphilosophie in der spätantiken Historiographie. Studien zu Prokopios von Kaisareia, Agathias von Myrina und Theophylaktos Simokattes, Frankfurt/M. u. a. Cameron, Averil (1985): Procopius and the Sixth Century, London. Cameron, Averil (1991): Christianity and the Rhetoric of Empire. The Development of Christian Discourse, Berkeley u. a. Cataudella, Michele R. (2003): Historiography in the East. In: Marasco, Gabriele (Hg.): Greek & Roman Historiography in Late Antiquity. Fourth to Sixth Century A. D., Leiden/Boston, 391– 447. 56 Damit greifen mehrere der Momente, die in der aktuellen kulturwissenschaftlichen Forschung mit dem Konzept der ‚Montage‘ assoziiert werden; cf. dazu Bergemann u. a. 2011, 51.

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WARUM KLEISTHENES NICHT DER BEGRÜNDER DER DEMOKRATIE SEIN KONNTE Erinnerungskulturelle Anachronismen und die Legitimation der demokratischen Ordnung im klassischen Athen Stefan Fraß (Bochum/Gießen) 1. EINLEITUNG Politische Ordnungen müssen, sollen sie von Dauer sein, mit einer gewissen transzendenten Natur ausgestattet und der alltäglichen Verfügbarkeit entzogen werden. Dies gilt zumindest für die Grundprinzipien, auf denen politische Ordnungen fußen. Dies bedeutet etwa, dass grundlegende Prinzipien der politischen Herrschaftsorganisation oder auch die Kompetenzen der einzelnen politischen Institutionen nicht bei jedem Entscheidungsfindungsprozess von den politischen Akteuren grundsätzlich infrage gestellt werden. Das athenische Gemeinwesen der klassischen Zeit ist hierfür ein instruktives Beispiel. Dies gilt im Besonderen, da es im Verlauf des 5. Jahrhunderts in Athen zur Entstehung einer demokratischen Herrschaftsordnung gekommen ist. Eine solche Ordnung war nicht nur global betrachtet etwas eher Ungewöhnliches. Gleichermaßen bedeutete die Demokratie für die griechische Welt etwas Neues, auch wenn die Entwicklung einer solchen Herrschaftsform in Athen keinesfalls einen Einzelfall darstellte.1 Jedenfalls wird die neue athenische Ordnung doch unter einem besonderen Legitimationsdruck gestanden haben. Diesem versuchte man dann im demokratischen Athen standzuhalten, indem – in anachronistischer Weise – die Ursprünge der demokratischen Ordnung in einer fernen Vergangenheit verortet wurden. Im kollektiven Gedächtnis des Athener kam es zu einer falschen historischen Zuordnung bzw. zu der Übertragung eines im 5. und 4. Jahrhundert gegenwärtigen politischen Konzeptes in das frühe 6. Jahrhundert bzw. sogar in eine mythische Vorzeit.2 Doch stellte dieser Anachronismus für die athenischen Bürger – zumindest die demokratisch gesinnten – keinen Normverstoß dar, sondern entfaltete vielmehr eine eigenständige Legitimationskraft.3 Dieser Prozess 1 2 3

Cf. dazu etwa die Studien von Robinson 1997 und Robinson 2011, in welchen alle demokratischen Entwicklungen in der antiken hellenischen Welt außerhalb des athenischen Gemeinwesens zusammengetragen worden sind. Zu den Begriffen ‚Erinnerungskultur‘ und ‚kollektives Gedächtnis‘ sowie deren Begriffsgeschichte cf. Berek 2009, 38–42. Durch Anachronismen eine Form von Legitimation zu erzeugen, lässt sich etwa auch für die ‚Panathenäischen Preisamphoren‘ (cf. dazu den Beitrag von Ross Brendle) zeigen. Die archaisierende Gestaltung dieser Siegerpreise erzeugte im sozio-religiösen Kontext der Panathenäen

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scheint eine Eigendynamik entwickelt zu haben. Zumindest war wohl den meisten athenischen Bürgern der klassischen Zeit der Anachronismus bald nicht mehr bewusst, wenn im öffentlichen Diskurs die Ursprünge der Demokratie bei Solon oder gar dem mythischen König Theseus verortet wurden. 2. DIE BEGRÜNDUNG DER DEMOKRATIE IM KOLLEKTIVEN GEDÄCHTNIS DER ATHENER Die meisten modernen Historiker verbinden die Entstehung einer demokratischen Ordnung in Athen zu Recht mit dem Wirken des Politikers Kleisthenes am Ende des 6. Jahrhunderts. Dieser wurde durch seine politischen Reformen zum entscheidenden Wegbereiter einer Entwicklung, welche schließlich im Laufe des 5. Jahrhunderts zu einer demokratischen Ordnung führte. Doch konnte Greg Anderson in einer Studie überzeugend darlegen, dass diese Ansicht von den athenischen Bürgern des 5. und 4. Jahrhunderts nicht geteilt wurde.4 Für die Athener war vielmehr Theseus, der in der mythischen Überlieferung der Generation des Herakles angehörte, der weitaus wichtigere Akteur in Bezug auf die Entstehung ihrer politischen Ordnung. Darüber hinaus war es eben für die Athener auch dieser Heros gewesen, welcher mittels eines Synoikismos das athenische Gemeinwesen mit seinem urbanen Siedlungszentrum überhaupt erst gegründet hatte. Ebenso wichtig für die Athener war Solon, welcher als Gesetzgeber zu Beginn des 6. Jahrhunderts das Gemeinwesen grundlegend reformiert haben soll. Solon und Theseus galten im kollektiven Gedächtnis der Athener als die Begründer bzw. Neubegründer des athenischen Gemeinwesens. Diese beiden Figuren waren es, die im kollektiven Gedächtnis als Ordnungsstifter und damit als Kulturheroen fungierten. Da die politische Ordnung im 5. und 4. Jahrhundert in Athen nun aber eine demokratische war, konnten damit selbstverständlich in den Augen der Athener auch nur Theseus und Solon die Begründer einer solchen Ordnung gewesen sein.5 Betrachtet man nun dieses Phänomen genauer, dann existierten im kollektiven Gedächtnis der Athener der klassischen Epoche wenigstens zwei verschiedene Auffassungen zum Ursprung der Demokratie nebeneinander.6 So führte die anachronistische Verortung des Ursprunges der demokratischen Ordnung von Solon, der

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– deren Ursprung im kollektiven Gedächtnis der Athener ebenfalls mit dem mythischen Kulturheros Theseus verbunden gewesen ist – offenbar eine eigenständige Legitimationskraft. Cf. dazu Anderson 2007, 106, der seinen Befund klar auf den Punkt bringt: „Cleisthenes was in fact never at any point remembered as the founder of democracy by his fellow citizens“. Cf. dazu Anderson 2007, besonders 107–119. Allerdings beriefen sich auch die oligarchisch gesinnten Kreise in der athenischen Elite im 5. und 4. Jh. auf die Ordnungsstifter der Vergangenheit, wie Solon und Kleisthenes, um ihren politischen Vorstellungen mehr Gewicht zu verleihen (cf. dazu Rhodes 2011, 13–20). Cf. dazu die konzise Zusammenstellung aller Zeugnisse bei Anderson 2007, 107–119.

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das athenische Gemeinwesen neu konstituiert habe, hin zu Theseus,7 der es gegründet habe. Sowohl Aristoteles als auch der Autor der pseudo-aristotelischen Athenaion politeia sehen in Solon den entscheidenden demokratischen Reformer.8 Bei Thukydides und in den Hiketiden des Euripides scheint hingegen Theseus der Vater der Demokratie zu sein.9 Auch in einer der Reden des Demosthenes wird Theseus wörtlich als Schöpfer der Demokratie und Gründer des einheitlichen athenischen Gemeinwesens bezeichnet.10 Diese Vorstellungen gipfelten dann in einer Verbindung des athenischen Anspruches auf Autochthonie11 mit dem Anspruch einer fast schon naturgegebenen Ursprünglichkeit der Demokratie im athenischen Gemeinwesen: „Sie waren Ureinwohner [= Erdgeborne] und hatten das Land, das sie besaßen, als Mutterland und Heimat. Als Erste und Einzige zu jener Zeit vertrieben sie die Gewaltherrscher aus ihrem Land und führten die Demokratie ein.“12 (Übers.: Ingeborg Huber)

Zumindest aus der modernen historischen Perspektive wurde also die gegenwärtige politische Ordnung der klassischen Zeit, deren Ursprung sehr präzise in das Jahr 508/07 v. Chr. datiert werden kann, in anachronistischer Weise in eine unverfügbare Vergangenheit verlegt. Es stellt sich nun die Frage, wie es zu einem solchen erinnerungskulturellen Anachronismus überhaupt kommen konnte. Um dies zu beantworten, muss man den politischen Prozess in Athen während des Jahres 508/07 v. Chr. genauer betrachten. Zur Bedeutung dieses Prozesses und zur Rolle, die die unterelitäre Bürgerschaft darin spielte, hat Josiah Ober eine bedenkenswerte These aufgestellt:13 So habe sich Kleisthenes lediglich an die Spitze einer ‚demokratischen‘ Bewegung aus der 7 8 9

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Cf. zur ‚demokratischen‘ Rezeption des Theseus-Mythos Walker 1995, besonders 35–82, 143– 170. Cf. Aristot. pol., 2,1273b 35–39; Ath. pol., 5–12, 41,2. Cf. Thuk. 2,15,1–2, der zumindest die demokratischen politischen Institutionen als Teil des politischen Wirkens des Theseus imaginiert. Bei Euripides (Suppl., 349–355, 404–408) ist die Sache eindeutiger, wenn Euripides (Suppl., 355) seinen Theseus über die athenische Gesellschaft Folgendes sagen lässt: ἐλευθερώσας τήνδ᾽ ἰσόψηφον πόλιν. Cf. Demosth. or., 59,75: Θησεὺς συνῴκισεν αὐτοὺς [die Athener] καὶ δημοκρατίαν ἐποίησεν. Cf. dazu Loraux 1993, 37–71. Natürlich war dies nur eine Fiktion, so etwa Connor 1994, 34– 38, hier 38: „The claim of Attic autochthony is not a description of social reality.“ Dies muss allerdings nicht bedeuten, dass der athenische Anspruch auf Autochthonie „a reflection of the anxiety of a people who knew that they were of very diverse origins and preferred not to look too closely at the descent lines of their fellow citizens“ ist. Auch wenn es starke lokale Traditionen in Attika während der gesamten klassischen Zeit gegeben hat (cf. ib., 38–41), so wird das athenische Gemeinwesen kaum den fassbaren Grad an Stabilität erreicht haben können, ohne einen starken Gemeinsinn zu besitzen, welcher sich eben auf solche Ansprüche gründete. Cf. Lys. or., 2,17 f.: ἀλλ᾽ αὐτόχθονες ὄντες τὴν αὐτὴν ἐκέκτηντο μητέρα καὶ πατρίδα. πρῶτοι δὲ καὶ μόνοι ἐν ἐκείνῳ τῷ χρόνῳ ἐκβαλόντες τὰς παρὰ σφίσιν αὐτοῖς δυναστείας δημοκρατίαν κατεστήσαντο. Es ist in diesem Zusammenhang unerheblich, ob diese Rede tatsächlich von Lysias stammt. Wichtig ist, dass sie ein genuines Zeugnis der athenischen Erinnerungskultur des 4. Jahrhunderts darstellt (cf. Todd 2000, 25–27). Cf. Ober 1996, 32–52; zu den kleisthenischen Reformen cf. etwa auch Flaig 2004a, 45–53; Samons 2004.

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Masse der politisch minderberechtigten athenischen Bürger gestellt und für diese die eingeforderten demokratischen Reformen lediglich formuliert.14 Dies tat er gegen Isagoras, dem amtierenden Archonten des Jahres 508/07 v. Chr., mit welchem er sich seit der Vertreibung des letzten Peisistratiden im Jahr 510 v. Chr. in einem Kampf um die Macht in Athen befand.15 Als Isagoras in dieser Auseinandersetzung zu unterliegen drohte, rief er seinen Gastfreund Kleomenes I., den König von Sparta, zu Hilfe. Doch die Rückgewinnung der politischen Initiative währte für Isagoras nicht lange, denn Kleomenes übernahm sehr schnell die politische Führungsrolle in der eigentlich innerathenischen Auseinandersetzung, indem er Kleisthenes und dessen Unterstützer aus der athenischen Elite zwang, ins Exil zu gehen. Danach machte sich Kleomenes daran, Isagoras als Quisling der Spartaner zu installieren. Die politische Institution des ‚Rates der Fünfhundert‘, durch die Reformen zur eigentlichen Regierung des athenischen Gemeinwesens geworden, wiedersetzte sich dem. Kleomenes okkupierte daraufhin die Agora, um den Rat unter Druck zu setzen. Diese Aktion löste einen spontanen Volksaufstand aus, und eine Bewegung aus dem Demos vertrieb ohne die Hilfe elitärer Anführer gewaltsam die spartanische Besatzung samt Isagoras und seinen Anhängern aus Athen. Erst dadurch wurde die endgültige Durchsetzung der demokratischen Reformen, welche Kleisthenes vor der spartanischen Intervention vorgeschlagen hatte, ermöglicht. Nach der Vertreibung der Spartaner konnte dieser aus dem Exil zurückkehren. Durch die autonomen Handlungen von Rat und Volk wurde die Vormacht der alten Elite gebrochen und die Demokratie konnte sich im weiteren Verlauf des 5. Jahrhunderts entfalten.16 Folgt man dieser These von Ober, dann kann die Bedeutung des Demos in diesem Entwicklungsprozess also gar nicht unterschätzt werden.17 Dies gilt auch dann noch bis zu einem gewissen Grade, wenn man dieser weitreichenden These nicht vollständig folgen will. Denn die politische Entwicklung des Jahres 508/07 v. Chr. ist zweifelsohne ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Demokratie gewesen 14 Cf. Ober 1996, 52: „But it is to see his [Kleisthenes’] genius not in an ability to formulate a prescient vision of a future democratic utopia, nor in an ability to hide a selfish dynastic scheme behind a constitutional façade, but rather in his ability to ‚read‘ – in a sensitive and perceptive way – the text of Athenian discourse in a revolutionary age, and to recognize that Athenian mass action had created new political facts“. 15 Anders kann man Hdt. 5,66,1 wohl kaum deuten, auch wenn er nicht wörtlich von einer Stasis spricht: ἐν δὲ [Athen] αὐτῇσι δύο ἄνδρες ἐδυνάστευον, Κλεισθένης […] καὶ Ἰσαγόρης. Cf. außerdem Athen. pol., 20,1; dazu Stein-Hölkeskamp 1989, 154–167, welche zurecht betont, dass es sich hierbei um die „typischen Kämpfe um Vorherrschaft“ zwischen Vertretern der Elite handelte, ohne „daß breitere Schichten in der ersten Phase der Auseinandersetzung in die Konkurrenz der beiden Dynasten involviert gewesen wären.“ 16 Cf. Ober 1996, 32–52, hier 35: „And thus, demokratia was not a gift from a benevolent elite to a passive demos, but was the product of collective decision, action, and self-definition on the part of the demos itself.“ 17 Cf. dagegen aber etwa Anderson 2003, 43–84, hier 81: „[…] the new order was not the spontaneous creation of a popular revolutionary fervor, however much the support of nonelite citizens might have been crucial to its success. Rather, it should be seen as a massive, ingenious, and artfully self-conscious exercise in social engineering – the product, in short, of a vision from above, not below.“

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und wurde – selbst wenn man alles Revolutionäre an diesen Ereignissen zurückweisen würde18 – zumindest von der breiten Masse des athenischen Demos aktiv unterstützt. Trotzdem wurde im kollektiven Gedächtnis der Athener weder diesem Ereignis noch dem politischen Großreformer Kleisthenes die Bedeutung eingeräumt, welche eigentlich zu erwarten gewesen wäre.19 Denn für Kleisthenes blieb im kollektiven Gedächtnis der Athener zumeist nur als Verdienst übrig, die klassische Phylen-Ordnung eingeführt zu haben.20 Außerdem erinnerte man sich an ihn durchaus noch als jemanden, welcher die althergebrachte demokratische Ordnung des Solon nach dem Sturz der Peisistratiden wiederhergestellt hatte. Zumindest bezeugt diese Vorstellung Isokrates: „Ich vertrete nämlich folgende Ansicht: Der einzige Weg, zukünftige Gefahren abzuwehren und gegen bereits eingetretenes Unheil Abhilfe zu schaffen, dürfte sein, wenn wir jene Demokratie wiedereinführen wollten, die Solon, der größte Volksfreund, eingerichtet hat und die Kleisthenes nach der Vertreibung der Tyrannen und nach der Rückführung des Volkes an die Macht wiederhergestellt hat.“21 (Übers.: Christine Ley-Hutton)

Darüber hinaus war Kleisthenes dafür bekannt, dass er die athenische Ordnung noch demokratischer gemacht hatte, als sie ohnehin schon war, wie etwa in der Athenaion politeia festgehalten wurde: „Infolge dieser Maßnahmen [also der kleisthenischen Reformen] wurde die Verfassung viel demokratischer als die Solons.“22 Selbst bei dem oft zitierten Zeugnis des Herodot, nach welchem Kleisthenes der Begründer der Demokratie gewesen sei,23 ist auch eine andere Interpretation möglich. Man kann dieses Quellenzeugnis durchaus so lesen, dass Kleisthenes nur der Wiederhersteller der Demokratie gewesen sei, nicht aber ihr eigentlicher Begründer.24 Diese Lesart würde dann gut mit der im 4. Jahrhundert fassbaren Tradition zusammenpassen, dass Solon die Demokratie begründet habe und Kleisthenes diese Ordnung nach dem Ende der Tyrannis in demokratischerer Form neu errichtet habe. Zumindest nach der im kollektiven Gedächtnis dominanten Erinnerungstradition galt Kleisthenes daher auch nicht als der Begründer der Demokratie.

18 So etwa Flaig 2004a, besonders 45–50, welcher versucht zu zeigen, dass Isagoras die legitime Ordnung, verkörpert durch den Rat, bedrohte und das athenische Volk diese nur verteidigt hat, also aller revolutionäre Anspruch für die Ereignisse des Jahres 508/07 zurückzuweisen sei. Die Bedeutung des Demos wäre aber auch in diesem Szenario gegeben. 19 Cf. dazu allgemein Hansen 1994; Flaig 2004a; Anderson 2007. 20 Dafür wurde er dann auch noch im 2. Jh. n. Chr. mit einem Grabmonument in Athen geehrt (cf. Paus. 1,29,5). 21 Isokr. 7,16: εὑρίσκω γὰρ ταύτην μόνην ἂν γενομένην καὶ τῶν μελλόντων κινδύνων ἀποτροπὴν καὶ τῶν παρόντων κακῶν ἀπαλλαγήν, ἢν ἐθελήσωμεν ἐκείνην τὴν δημοκρατίαν ἀναλαβεῖν, ἢν Σόλων μὲν ὁ δημοτικώτατος γενόμενος ἐνομοθέτησε, Κλεισθένης δὲ ὁ τοὺς τυράννους ἐκβαλὼν καὶ τὸν δῆμον καταγαγὼν πάλιν ἐξ ἀρχῆς κατέστησεν. 22 Athen. pol., 22,1: τούτων δὲ γενομένων δημοτικωτέρα πολὺ τῆς Σόλωνος ἐγένετο ἡ πολιτεία. 23 Cf. Hdt. 6,131,1: Κλεισθένης τε ὁ τὰς φυλὰς καὶ τὴν δημοκρατίην Ἀθηναίοισι καταστήσας. 24 So kann Anderson 2007, 117–119, sehr überzeugend darlegen, dass der Begriff καταστήσας, wie er bei Herodot (6,131,1) verwendet wird, nicht im Sinne von „establish from scratch“ verstanden werden sollte, sondern eher im Sinne von „restore“ oder „reorganize“.

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3. DIE ATHENISCHE ERINNERUNGSKULTUR UND DIE DEMOKRATISCHE ORDNUNG Kleisthenes war also im kollektiven Gedächtnis der athenischen Bürger des späteren 5. und des 4. Jahrhunderts nicht der eigentliche Begründer der Demokratie. Vielmehr ist für sie das athenische Gemeinwesen nicht nur in der eignen Zeit eine Demokratie gewesen, sondern ihre Polis hatte schon immer eine demokratische Ordnung besessen. Die Phase der Tyrannenherrschaft galt ihnen dann auch nur als eine kurze Anomalie. Für den demokratisch gesinnten athenischen Bürger bestand daran kein Zweifel. Doch sind solche erinnerungspolitischen Vorstellungen der athenischen Bürgerschaft erklärungsbedürftig. Dazu sollte nun bedacht werden, dass es sich bei der athenischen Demokratie, wie bei allen politischen Ordnungen, um „keine feststehenden, überzeitlichen, den Kontingenzen der Zeitläufe enthobenen Ordnungen“25 handelt. Jede politische Ordnung hat Prozesscharakter, jede politische Ordnung ist endlich. Dennoch erheben wohl – zumindest bis zu einem gewissen Grade – alle politischen Ordnungen für sich den Anspruch, feststehend und überzeitlich sowie den Kontingenzen der Zeitläufe enthoben zu sein. Für Athen hieß dies, dass die demokratische Ordnung nicht nur ein immanentes, institutionelles Fundament benötigte, welches durch die kleisthenischen Reformen tatsächlich auch geschaffen wurde. Diese Ordnung brauchte eben auch einen transzendenten, ideologischen Überbau.26 Dies galt umso mehr, da die Entstehung der Demokratie ein kontingenter Prozess gewesen ist, gegen alle globalen Tendenzen in der Evolution soziopolitischer Ordnungen.27 Möglicherweise begründet sich dadurch auch der hohe Aufwand, den die demokratische Bürgergemeinschaft von Athen betrieb, um ihre politische Ordnung zu legitimieren und den Geltungsanspruch ihrer Ordnung zu verteidigen. Denn ein solcher transzendenter Geltungsanspruch wurde genau dadurch geschaffen, dass die Ordnung in anachronistischer Weise an Gründungsheroen gebunden wurde bzw. gar an einen ‚Schöpfungsvorgang‘ selbst. Diese Entwicklung sollte dann auch als ein „symbolische[s] Überschreiten“ verstanden werden und damit als ein „sinn- und bedeutungsstiftender Prozess.“28 Die politische Ordnung des demokratischen Athens wurde damit sehr erfolgreich unverfügbar gestellt.29 Bis zu einem gewissen Grad kamen selbst die Gegner der Demokratie später nicht mehr an der Unverfügbarkeit der demokratischen Ordnung vorbei. So fühlten 25 Cf. Vorländer 2013, 13. 26 Cf. dazu Vorländer 2013; Dreischer 2013, besonders 3–9. 27 Tendenziell führt politische Institutionalisierung zur Hierarchisierung von Gesellschaften, zur Monopolisierung von Machtpositionen und zur Zentralisierung von Herrschaft. Damit geht in der Regel die Entstehung einer monarchischen Spitze oder eines exklusiven, oligarchischen Gremiums einher (cf. dazu etwa Claessen 2002, besonders 107–111; Van der Vliet 2011, der den evolutionären Sonderweg in Griechenland aufzeigt). 28 Cf. Dreischer 2013, 5. 29 Natürlich gab es noch andere Maßnahmen, mit welchen eine Transzendenz der Ordnung erreicht werden sollte. Die Personifizierung der Demokratie als weibliche Figur und schließlich sogar die Verehrung als Göttin mit eigenen Opfern und Priestern (cf. Parker 1996, 228 f.) ist hierfür ein sehr eindeutiger Beleg.

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diese sich ab dem 4. Jahrhundert ideologisch gezwungen, stets auf eine ‚ursprüngliche‘ bzw. auf eine ‚gute‘ demokratische Ordnung zu verweisen. Dies galt selbst dann, wenn sie in der politischen Praxis wenig demokratische Alternativen einforderten und sich faktisch für eine oligarchische Herrschaftsform aussprachen.30 Doch die Notwendigkeit, die neuartige demokratische Ordnung zu legitimieren, erklärt nur zum Teil die athenische Erinnerungskultur und die geringe Bedeutsamkeit, welcher Kleisthenes darin eingeräumt wurde. Daher soll an dieser Stelle noch einmal auf die Ereignisse des Jahres 508/07 v. Chr. zurückgekommen werden, um besser verständlich zu machen, warum Kleisthenes sich nicht als ‚Founding Father‘ der demokratischen Ordnung eignete und stattdessen auf Solon und Theseus zurückgegriffen werden musste. Wie bereits erwähnt, haben weder der erfolgreiche Widerstand gegen Isagoras und Kleomenes noch damit verbunden die Durchsetzung der kleisthenischen Reformen im kollektiven Gedächtnis der Athener den Stellenwert erhalten, welcher diese Ereignisse eigentlich verdienen müsste.31 Denn die kollektive politische Aktion des athenischen Demos wurde primär bekanntlich durch die militärische Intervention des spartanischen Königs Kleomenes I. in die inneren Angelegenheiten Athens ausgelöst.32 Immerhin war Sparta zu diesem Zeitpunkt die bedeutendste Macht und Kleomenes der wahrscheinlich mächtigste Mann in der gesamten griechischen Welt. Und auch wenn er nur mit einer unbedeutenden Streitmacht in Athen eingerückt war,33 so war doch seine Belagerung auf der Akropolis durch den athenischen Demos und seine schmähliche Kapitulation nach nur drei Tagen eine Machtdemonstration des Volkes. Dieses Ereignis war im kollektiven Gedächtnis der Athener dann auch verständlicherweise noch ein Jahrhundert später präsent, wie durch eine Komödie des Aristophanes bezeugt ist: „Kam doch Kleomenes, der einst / Diese Burg erobert, / Nicht ungerupft von hinnen; so / Lakonisch wild er auch geschnaubt, / Die Waffen streckt’ er doch vor mir / Und zog davon im schäb’gen Wams, / Verhungert, schmutzig, unrasiert.“34 (Übersetzung durch Ludwig Säger)

Aus dieser Machtdemonstration – und hier ist Ober in jedem Fall zuzustimmen – musste ein Herrschaftsanspruch des Demos erwachsen. Der Sieg des athenischen Demos hätte dann aber auch als Gründungsmythos der athenischen Demokratie – und sei es auch nur im Sinne einer Wiederherstellung der Ordnung des Solon und des Theseus – eigentlich ein Eigenleben entfalten müssen. Dies müsste gerade deswegen gelten, da die Beendigung der Tyrannenherrschaft als demokratischer Grün-

30 Cf. etwa Aristot. pol., 1293b–1294b; Isokr. 7,15–17; Thomas 1994 ist dann auch zuzustimmen, wenn sie darauf hinweist, dass auch weniger demokratisch gesinnte Kräfte im Athen des 4. Jahrhunderts sich auf Solon beriefen und die Idee des idealen Gesetzgebers – entgegen der Gesetzgebung durch demokratische Institutionen – herausstellen konnten. 31 Cf. Flaig 2004a, besonders 56–61; Anderson 2003, 206–211. 32 Cf. Hdt. 5,70–72; Athen. pol., 20,2 f. 33 Cf. Athen. pol., 20,3: μετ᾽ ὀλίγων. 34 Aristoph. Lys., 274–279: ἐπεὶ οὐδὲ Κλεομένης, ὃς αὐτὴν κατέσχε πρῶτος, / ἀπῆθεν ἀψάλακτος, ἀλλ᾽ / ὅμως Λακωνικὸν πνέων / ᾤχετο θὤπλα παραδοὺς ἐμοί, /σμικρὸν ἔχων πάνυ τριβώνιον / πινῶν ῥυπῶν ἀπαράτιλτος.

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dungsmythos eigentlich nicht taugte. Denn diese war ja nicht vom Demos herbeigeführt worden und auch nur indirekt von Vertretern der athenischen Elite. Primär lag das Verdienst dafür unzweifelhaft bei Sparta und genau genommen wieder bei Kleomenes. Ein Umstand, der auch in Athen nie wirklich vergessen werden konnte.35 Besonders deutlich wird dies wiederum bei Aristophanes: „Wißt ihr’s nicht mehr, wie die Spartaner kamen, / Zur Zeit, wo ihr den Sklavenkittel trugt, / Und der thessal’schen Männer viel erschlugen / Und viel von Hippias’ Helfern und Verschwornen: / Die einzigen, die an jenem Tag euch halfen, / Die euch befreit und statt des Sklavenkittels / Sein Bürgerkleid dem Volk zurückgegeben?“36 (Übers.: Ludwig Säger)

Dessen ungeachtet entwickelten sich zwei Vertreter der athenischen Elite, Harmodios und Aristogeiton, sehr schnell im kollektiven Gedächtnis der Athener zu den eigentlichen Befreiern von der Tyrannis. Dies geschah, obwohl diese durch ihr erfolgreiches Attentat auf Hipparchos höchstens den Anfang vom Ende der Herrschaft der Peisistratiden eingeleitet hatten.37 Nichtsdestoweniger wurde ihnen mitunter sogar die Einrichtung der Isonomie zugeschrieben.38 Ebenso wurden – zumindest in einer Überlieferungstradition – die Ereignisse des Jahres 514 v. Chr. mit dem tatsächlichen Ende der Tyrannenherrschaft 511/10 v. Chr. zusammengezogen. Dies geschah, indem in einem anachronistischen Akt das Handeln von Harmodios und Aristogeiton in dieses Jahr verlegt wurde.39 Dass beide Männer zu diesem Zeitpunkt schon tot waren, scheint für das Entstehen dieser Tradition kein Problem gewesen zu sein. Es sind von Egon Flaig zwei Faktoren aufgezeigt worden, welche diese erinnerungskulturelle Entwicklung erklären könnten. Zum einen war es wohl für die athenische Bürgergemeinde nicht besonders schmeichelhaft, von den Spartanern befreit worden zu sein. Zum anderen war es aber auch eine herbe Blamage für die athenische Elite, dass sie es eben nicht selber geschafft hatte, die Tyrannis zu beenden. Daher haben Akteure aus der athenischen Elite versucht, den öffentlichen Diskurs zu beeinflussen und zwei der Ihren zu den Begründern der neuen Ordnung zu machen. Dies konnte ungeachtet davon geschehen, dass die demokratische Ordnung 35 Cf. etwa Hdt. 5,63–65; Thuk. 6,53,3, 6,59,4. 36 Aristoph. Lys., 1150–1156: οὐκ ἴσθ᾽ ὅθ᾽ ὑμᾶς οἱ Λάκωνες αὖθις αὖ / κατωνάκας φοροῦντας ἐλθόντες δορὶ / πολλοὺς μὲν ἄνδρας Θετταλῶν ἀπώλεσαν, / πολλοὺς δ᾽ ἑταίρους Ἱππίου καὶ ξυμμάχους, / ξυνεκμαχοῦντες τῇ τόθ᾽ ἡμέρᾳ μόνοι, / κἠλευθέρωσαν κἀντὶ τῆς κατωνάκης / τὸν δῆμον ὑμῶν χλαῖναν ἠμπέσχον πάλιν. Cf. dazu auch Flaig 2004b, 111 f. 37 Cf. etwa Flaig 2004b, 104–108. 38 So jedenfalls in einem Skolion, welches bei Athenaios (deipn., 15,695) überliefert ist. Hier ist dann aber wohl eher die Isonomie innerhalb der Elite gemeint. 39 Cf. Marm. Par. ep. 45 = FGrHist II B 239 F A45; deutsche Übersetzung bei Flaig 2004b, 114. Dass diese epigrafisch überlieferte Chronik aus dem 3. Jh. v. Chr. (cf. dazu Jacoby 1904, V– XVIII), welche auf Paros gefunden wurde, auf ‚offiziellen‘ athenischen Quellen basiert, ist wahrscheinlich, aber nicht gesichert (cf. Young/Steinmann 2012, 230–232; Jacoby 1904, 173, ging davon aus, dass hier eine „volkstümliche Chronologie“ wiedergegeben wurde). Jedenfalls wird dieses Zeugnis einen genuinen Einblick in das kollektive Gedächtnis der Athener bieten, da es kaum eine außerathenische Sondertradition über das Ende der Tyrannis gegeben haben wird.

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erst durch die Reformen des Kleisthenes entstanden war.40 Der Alkmaionide selbst eignete sich zur Heldenfigur aber nicht, denn sein wahrscheinliches Engagement zum Sturz des Hippias 511/10 v. Chr. führte ja erst zur spartanischen Intervention in die inneren Angelegenheiten des athenischen Gemeinwesens. Auch war die Durchsetzung seiner neuen Ordnung nicht nur mit dem Widerstand gegen Kleomenes verbunden, sondern auch mit einem regelrechten Bürgerkrieg gegen Isagoras und seine Anhänger. Ein solcher Sieg in einer Stasis konnte nicht zum mythisch aufgeladenen und unverfügbar gestellten Gründungsmoment der athenischen Demokratie werden.41 Dies galt gerade auch, weil die „politische Integration des unterlegenen Teils des athenischen Adels […] eine Tabuierung der Ursprünge der Demokratie“42 erforderte. Daher verschoben „die maßgeblichen Gruppen der athenischen Führungsschicht […] das Gedenken an den Ursprung der herrschenden Ordnung – also an eine brisante Veränderung – in eine gefahrlose Zone der Vergangenheit.“43 Dies bedeutete zunächst einmal eine Verbindung des Endes der Tyrannis mit dem Attentat auf Hipparchos.44 Die Geschwindigkeit, mit der diese anachronistische Vorstellung durch einzelne politische Akteure etabliert wurde, deuten zumindest die späteren Zeugnisse an.45 Denn bereits unmittelbar nach dem Sturz des Hippias wurde Harmodios und Aristogeiton in Athen ein offizielles Denkmal gesetzt.46 Im Jahr 477/76 v. Chr. wurde das in den Perserkriegen zerstörte Denkmal durch eine bronzene Statuen-Gruppe ersetzt, welche auf der Agora aufgestellt wurde. Harmodios und Aristogeiton waren im 5. Jahrhundert die einzigen, denen die Athener an dieser prominenten Stelle ein Denkmal setzen sollten.47

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Cf. Flaig 2004a, 57 f. Cf. ib., 59 f. Ib., 60. Ib., 60. Allerdings ist die Vergangenheit eben nie eine ‚gefahrlose Zone‘, da man sie immer wieder verfügbar machen kann, um Ordnungen zu legitimieren oder zu delegitimieren. Auch war wohl gerade die athenische Vergangenheit fast ein ähnlich ‚vermintes Gelände‘, wie es etwa die deutsche Vergangenheit ist. Zu den offiziellen und inoffiziellen Maßnahmen, um dies zu erreichen, cf. Rausch 1999, 40– 62; Anderson 2003, 199–206. Dass dies alles nur einen begrenzten Erfolg hatte und in Athen auch andere Traditionen am Leben blieben, beweist der Umstand, dass Herodot (6,123) klar den Alkmaioniden und explizit nicht Harmodios und Aristogeiton das Verdienst für die Beendigung der Tyrannenherrschaft zuschreibt. Auch Thukydides kennt eine andere Tradition, obwohl er ein großes Maß an Ignoranz unter seinen athenischen Mitbürgern zum vermeintlichen Verdienst der Hipparchos-Mörder ausmacht (cf. 1,20,2 f.). Für ihn war die Tat des Harmodios und des Aristogeiton bekanntlich kein politischer Akt, sondern ein rein persönlicher (6,55–59). Die Athenaion politeia (18) folgt dieser Tradition über den Mord an Hipparchos. So etwa Plinius (nat., 34,17), der das Jahr 509 v. Chr. nennt. Zum Problem mit dieser Datierung cf. Rausch 1999, 42–44. Dabei handelte es sich um ein Werk des spätarchaischen Bildhauers Antenor (cf. Rausch 1999, 40–47), welches nicht mit der klassischen Statuen-Gruppe der Bildhauer Kritios und Nesiotes verwechselt werden sollte. Zu diesem Ehrenmal der Bildhauer Kritios und Nesiotes und seiner ideologischen Verortung in der athenischen Demokratie cf. Fehr 1984, besonders 6–16, 25–27.

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Warum die Mehrheit der athenischen Elite bereit war, diese erinnerungskulturelle Alternation gutzuheißen, ist nun durchaus nachvollziehbar. Die Frage ist vielmehr, wieso dieser Prozess vom athenischen Demos akzeptiert wurde,48 der sich seiner politischen Macht gerade erst nachdrücklich bewusst geworden war. Es werden mehrere Faktoren zusammengekommen sein, welche die Akzeptanz der erinnerungskulturellen Alternation erklären kann. So wird bei allen politischen Akteuren, welche die neue Ordnung unterstützten, die Furcht bestanden haben, eine Stasis an deren Beginn zu stellen. Zwar hätte sicherlich auch ein erinnerungskulturelles Konzept funktionieren können, welches sich nicht nur gegen die Anhänger des Isagoras richtete, sondern gegen alle Vertreter der athenischen Elite, oder doch zumindest gegen solche, die sich nicht aufseiten des Kleisthenes und der neuen Ordnung engagiert hatten.49 Ebenso hätte die Befreiung vom auswärtigen Feind in der kollektiven bzw. offiziellen Erinnerung in den Mittelpunkt gerückt werden können, um dann zum Gründungsmythos der demokratischen Ordnung transzendiert zu werden. Das Problem wäre dabei aber gewesen, dass dies nur gegen den Widerstand eines beachtlichen Teils der athenischen Elite hätte durchgesetzt werden können. Zur Stabilisierung der neuen Ordnung war es aber notwendig gewesen, einen Kompromiss einzugehen. Um das Gemeinwohl der Polis zu wahren, musste die Bedeutung des athenischen Demos in der Erinnerungspolitik nicht nur abgeschwächt, sondern fast schon negiert werden. Außerdem hört man in den Quellen auch nichts über ökonomische Forderungen seitens des Demos,50 wie dies noch zur Zeit der solonischen Reformen der Fall gewesen zu sein scheint.51 Für den Verzicht von beidem war ein hohes Maß an Gemeinsinn seitens der unterelitären athenischen Bürgerschaft notwendig.52 Aber auch die athenische Elite zeigte ihre Fähigkeit, gemeinsinnig zu handeln. Sie tat dies, indem sie – zumindest bis zum Jahr 411 v. Chr. – davon Abstand nahm, die demokratische Ordnung unter Anwendung von Gewalt, also in einer neuen Stasis, wieder zu beseitigen. Selbst Kleisthenes, unabhängig davon wie man seine tatsächliche Bedeutung und seine ursprünglichen Motive ein-

48 Diese erinnerungskulturelle Veränderungsleistung konnte nicht nur aufgrund des Willens der Elite und schon gar nicht gegen den Willen der unterelitären Bürgerschichten erreicht werden. Anders aber Flaig 2004a, 56–61, welcher hier nur die Elite am Werk sieht. 49 Dass Kleisthenes nicht allein stand und auch bei der athenischen Elite einen beachtlichen Anhang hatte, deutet zumindest die Aussage bei Herodot (5,72,1) an, dass Kleomenes nicht nur Kleisthenes, sondern 700 athenische Familien ins Exil verbannte (ἀγηλατέει ἑπτακόσια ἐπίστια Ἀθηναίων), welche ihm zuvor von Isagoras benannt worden sind (τά οἱ ὑπέθετο ὁ Ἰσαγόρης). 50 Cf. Welwei 1992, 201 f. 51 Cf. Solon fr. 2 Latacz = fr. 4 West = fr. 3 Diehl = fr. 3 Gentili/Prato, überliefert bei Dem. or., 19,255. Zumindest kann man so die Belehrung des Solon an die Athener verstehen, wie sie nicht handeln dürfen, wenn sie eine gemeinsinnige Ordnung, eben die ‚Eunomia‘, haben möchten. 52 Wobei natürlich eingeräumt werden muss, dass das politische System des demokratischen Athens darauf ausgerichtet wurde, dass die ökonomische Ungleichheit der Bürger möglichst keinen größeren Einfluss auf die politischen Partizipationsmöglichkeiten hatte. Ungeachtet dessen gab es aber weiterhin eine politische Elite, welche sich selbstverständlich aus der ökonomischen Elite rekrutierte (cf. dazu Mann 2008, besonders 18–29).

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schätzt, kann man eine Orientierung am Gemeinsinn nicht absprechen ebenso wenig wie seinen elitären Anhängern. Denn nach der üblichen Logik der archaischen Parteikämpfe wären sie ja nach der Vertreibung des Kleomenes sowie des Isagoras und seiner Anhänger die siegreiche Stasis-Gruppierung gewesen. Es wäre nun eigentlich ihr Recht als Sieger gewesen, entsprechend dem so oft betonten agonalen Wesen der griechischen Kultur und seiner Elite,53 die Macht in Athen zu übernehmen. Zumindest solange, bis die nächste Stasis-Gruppierung sie wieder hinweggefegt hätte. Stattdessen traten Kleisthenes und seine Anhänger anscheinend freiwillig hinter das Reformwerk zurück. Sie verzichteten auf die errungene Macht und akzeptierten selbst, dass der gesamte Ruhm für die Beendigung der Tyrannis Harmodios und Aristogeiton zufiel.54 Den Ruhm für die Etablierung der neuen Ordnung überließen Kleisthenes und seine Stasis-Gruppierung hingegen den etablierten ‚Founding Fathers‘ des athenischen Gemeinwesens, also Theseus und Solon. Auch dadurch konnte es überhaupt gelingen, eine anachronistische Erinnerung zu etablieren, welche half, die neue athenische Ordnung zu konstituieren und zu stabilisieren. Dieses erinnerungspolitische Konzept hat sich dann anscheinend bis zum Ende des 4. Jahrhunderts durchgesetzt. 4. ZUSAMMENFASSUNG Theseus und Solon waren als Ordnungsstifter für alle sozialen Gruppen der Bürgerschaft des klassischen Athens akzeptabel. Beide waren im kollektiven Gedächtnis der Athener als Begründer des Gemeinwesens und Überwinder von Stasis wohl bereits am Ende des 6. Jahrhunderts fest verankert. Anders als es bei Kleisthenes der Fall gewesen ist, waren sie darüber hinaus keine politischen Akteure der ‚Zeitgeschichte‘, sondern Teil einer eigentlich unverfügbaren Vergangenheit, in welcher der Ursprung der demokratischen Ordnung verortet werden konnte. Durch diese anachronistische Verbindung der demokratischen Ordnung des 5. und 4. Jahrhunderts mit dem Ursprung des athenischen Gemeinwesens selbst wurde diese Ordnung

53 Cf. etwa Stahl 1987, 86–93; Barker 2009, besonders 1–5. Des Weiteren sieht etwa Hölkeskamp 2000 das agonale Prinzip auch in der politischen Auseinandersetzung in Analogie zu dem im Kampf bereits seit der homerischen Zeit bestehen; Sandywell 2000, 109 f., vermutet gerade auch durch die kleisthenischen Reformen eine Verstärkung des agonalen Prinzips im politischen Prozess; Stein-Hölkeskamp 2013 argumentiert dafür, dass das agonale Prinzip der griechischen Elite auch im Rahmen der politischen Auseinandersetzung in einer demokratischen Ordnung bestehen blieb und dass das Entscheidungsverfahren in der Volksversammlung dieses Prinzip geradezu bestärkt habe. Das Konzept der „agonalen Griechen“ geht bekanntlich auf Jacob Burckhardt zurück und hat nur selten Widerspruch erfahren. Cf. dazu die wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung von Ulf 2006, der die zeitgebundenen Umstände herausstellt, welche zur Konstruktion der „Agonalität“ durch Burckhardt führte. 54 Zumindest Anderson 2007, 123, vermutet dann auch gemeinsinnige Gründe für das Handeln des Kleisthenes: „[…] to deflect attention from the novelty of his innovations and forestall an damaging accusations of ‚revolution‘.“

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unverfügbar gestellt.55 Diese Unverfügbarstellung funktionierte mittels gezielter erinnerungspolitischer Anachronismen, auf welche sich die athenische Gesellschaft verständigt hatte. Es war ein hohes Maß an Gemeinsinn notwendig, um eine Erinnerungskultur zu etablieren, die anachronistische Vorstellungen beinhaltete. Doch dies gelang und durch den erinnerungskulturellen Anachronismus wurde nicht nur die politische Ordnung transzendiert, sondern auch erst eine gesamtgesellschaftliche Erinnerungskultur geschaffen. LITERATURVERZEICHNIS Anderson, Greg (2003): The Athenian Experiment. Building an Imagined Political Community in Ancient Attica, 508–480 BC, Ann Arbor. Anderson, Greg (2007): Why the Athenians Forgot Cleisthenes: Literacy and the Politics of Remembrance in Ancient Athens. In: Cooper, Craig (Hg.): Politics of Orality, Leiden/Boston, 103– 127. Barker, Elton T. E. (2009): Entering the Agon. Dissent and Authority in Homer, Historiography and Tragedy, Oxford. Berek, Mathias (2009): Kollektives Gedächtnis und die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Erinnerungskulturen, Wiesbaden. Claessen, Henri J. M. (2002): Was the State Inevitable. Social Evolution & History 1/1, 101–117. Connor, Walter R. (1994): The Problem of Athenian Civic Identity. In: Boegehold, A. L. u. a. (Hgg.): Athenian Identity and Civic Ideology, Baltimore, 34–44. Dreischer, Stefan u. a. (2013): Transzendenz und Konkurrenz: eine Einführung. In: Dreischer, Stefan u. a. (Hgg.): Jenseits der Geltung. Konkurrierende Transzendenzbehauptungen von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin/Boston, 1–26. Fehr, Burkhard (1984): Die Tyrannentöter oder: kann man der Demokratie ein Denkmal setzen? Frankfurt/M. Flaig, Egon (2004a): Der verlorene Gründungsmythos der athenischen Demokratie. Wie der Volksaufstand von 507 v. Chr. vergessen wurde. HZ 279, 35–61. Flaig, Egon (2004b): Politisches Vergessen. Die Tyrannentöter – eine Deckerinnerung der athenischen Demokratie. In: Butzer, Günter u. a. (Hgg.): Kulturelles Vergessen: Medien – Rituale – Orte, Göttingen, 101–114. Hansen, Mogens H. (1994): The 2500th Anniversary of Cleisthenes’ Reforms and the Tradition of Athenian Democracy. In: Osborne, Robin u. a. (Hgg.): Ritual, Finance, Politics. Athenian Democratic Accounts, Oxford, 25–37. Hölkeskamp, Karl-J. (2000): Zwischen Agon und Argumentation. Rede und Redner in der archaischen Polis. In: Neumeister, Christoff u. a. (Hgg.): Rede und Redner. Bewertung und Darstellung in den antiken Kulturen, Frankfurt/M., 17–43. Jacoby, Felix (1904): Das Marmor Parium, Berlin. Loraux, Nicole (1993): The Children of Athena: Athenian Ideas about Citizenship and the Division between the Sexes, trans. by. Caroline Levine, Princeton. Mann, Christian (2008): Politische Gleichheit und gesellschaftliche Stratifikation. Die athenische Demokratie aus der Perspektive der Systemtheorie. HZ 286, 1–35. 55 Cf. zu diesem Prinzip Vorländer 2013, 1–5, hier 3: „Es ist die Aufgabe von Mythen und Legenden sowie die Funktion von rituellen und kultischen Formen der Erinnerung, Narrative und Praktiken zu entwickeln, welche die Vorgeschichte in einen Schleier des Ungefähren, des Magischen oder Charismatischen rücken, um aktuelle Ordnungen mit einer fortdauernden, stabilisierenden Geltung zu versehen.“

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ARCHAISM AND ANACHRONISM ON PANATHENAIC PRIZE AMPHORAE1 Ross Brendle (Baltimore) A Panathenaic prize amphora produced in 340/39 BCE and now in the collection of the Harvard Art Museums is decorated with the same iconographic scheme that had adorned prize amphorae from the festival in Athens for the previous two hundred years: a striding Athena Promachos on the front of the vase (fig. 1a) and an athletic scene on the reverse (fig. 1b).2 Also like other prize amphorae before it, the vase is painted in the black-figure technique. By the time this vase was produced,

Figure 1a–b. Panathenaic Prize Amphora (storage jar) attributed to the Marsyas Painter. Harvard Art Museums / Arthur M. Sackler Museum, Bequest of Joseph C. Hoppin, 1925.30.124. Imaging Department © President and Fellows of Harvard College.

1 2

I wish to extend my thanks to Dennis Pausch and Antje Junghanß for inviting me to take part in an engaging conference and contribute to this volume. I also owe a debt of gratitude to Alan Shapiro and Jessica Lamont for reading and commenting on drafts of this paper. Cambridge, MA, Harvard Art Museums 1925.30.124; ABV 414.2; Valavanis 1991, 153, 254, 277–286.

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the technique had otherwise fallen out of use in Athenian vase-painting and was reserved only for this special class of vases. Additionally, painters of Panathenaic amphorae had come to use stylistic elements typical of earlier periods (or meant to evoke earlier periods) on the same vase alongside aspects typical of contemporary styles. By the time this vase was made, the obverses of prize amphorae are painted in an archaistic style and the reverses are painted in a contemporary style. This scheme came to be used throughout most of the history of production of Panathenaic prize amphorae. The Harvard vase exemplifies the intentional anachronisms that are characteristic of Panathenaic prize amphorae beginning in the Classical period. These vases are clearly intended to be marked as part of an ancient series of prizes, but rather than slavishly imitating older forms, they employ a mix of archaistic elements together with conspicuously contemporary styles. Panathenaic prize amphorae feature not only elements that reference older forms, but also a technique – blackfigure – that is a continuation of an archaic form. The archaic and archaistic elements of Panathenaic prize amphorae stand in stark contrast to other Athenian vases produced at the same time, and the combination of archaic, archaistic, and contemporary elements on individual prize amphorae highlights the anachronism of their appearance. These anachronisms drew the past of the Panathenaic festival and the city of Athens into the vases’ present to assert a link between these vases (and individuals associated with them) and the mythic and historic pasts of Athens. These anachronisms are often attributed to religious conservatism,3 which surely played some role in the use of archaistic style and the preservation of the black-figure technique, especially in the early Classical period. However, the prize amphorae are not an unchanging series. They do not recreate or refer back to a specific, older form, rather they reference and reimagine older styles. Through most of the history of Panathenaic prize amphorae, anachronistic elements do not indicate a resistance to change. Older forms and the anachronisms they produce are symbols and tools actively employed by those commissioning and creating these vases to legitimize the prizes, the Panathenaia festival, and the city of Athens. The commissioners and creators of the prize amphorae used the layering of the present and the distant past on one object to make conscious statements about the history and significance of the city of Athens and the Panathenaia festival. This places the amphorae into a historical series of prizes from the games, as well as equating the mythical and historical past of the city with the city of their present, drawing the history of the festival into the present, as if the prizes from the first games held by Theseus were decorated in the same elaborate style as late Classical examples. Beginning in the 560s BCE, Panathenaic prize amphorae filled with Athenian olive oil were awarded to victors in the athletic and equestrian contests at the Greater Panathenaia festival held every four years at Athens. Athletic competitions at the Panathenaia with Panathenaic amphorae and oil as prizes were probably introduced at the time of the reorganization of the Panathenaic festival around 566/5. 3

Neils 1992, 30; Carpenter 2007, 98 f.; Hölscher 2010, 109 f.

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The earliest archaeological evidence for the games is the prize amphorae themselves.4 The oil that filled the amphorae was the real prize rather than the vases themselves, though they certainly carried some amount of prestige value. The oil could be sold off by the victor with or without the containers, but the amphorae might be kept for sentimental reasons or for personal display.5 Panathenaics are found at sites across the Mediterranean and Black Sea region. The number of amphorae awarded varied by event, age group, and for first- and second-place finishers, with up to one hundred and forty amphorae awarded to the first-place finisher in the chariot race.6 Each prize amphora was a standard shape and volume. Though the shape evolves over time, the volume of the vessels appears to be fairly consistent.7 Four elements mark vessels as official prize amphorae and distinguish them from pseudo-Panathenaic amphorae – vases that feature some of the elements of prize amphorae but are not official prizes.8 First is their distinctive shape of a large neck-amphora with an ovoid body, narrow foot, and a constricted, offset neck. This vase shape probably evolved from coarse ware transport amphorae. The shape is also related to Attic “SOS” amphorae, so-called because of the decoration on their necks.9 Over time the foot and mouth of prize amphorae become elongated and the overall height of the vessels increases, though the body remains relatively the same size.10 Second, as mentioned above, prize amphorae always feature the same decorative and iconographic scheme. On the front of the vase, Athena strides brandishing her shield and spear, and on the reverse, the contest for which the amphora was awarded is depicted.11 The most decisive marker of a prize amphora is the inscription on the obverse: τῶν Ἀθήνηθεν ἄθλων (“of the prizes from Athens”).12 In the fourth century, an inscription naming the eponymous archon presiding when the oil in the vase was produced is added to the obverse (later replaced with the names of other officials connected to the games), allowing the vases to be dated to an exact year.13 The prize inscription both marked a vase – or rather the oil it contained – as an official prize from the festival and served as a seal of the quality of the oil for commercial purposes.14 The label was especially important after the vases left Athens for the home 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13

14

Cf. Shear 2001, 507–515 for a detailed discussion of the evidence for the date of the first Panathenaic games. Vos 1981, 40–42; Bentz 1998, 89–92. Cf. Shear 2003 for discussion of testimonia for prizes from the Panathenaia. Cf. Vos 1981, 40–46; Shear 2001, 537 f. on undersized Panathenaics. Bentz 2001. Johnston/Jones 1978, 133 f. Neils 1992, 38 f.; Bentz 1998, 33–40; Tiverios 2007, 2. On interpretation of the reverse scenes, cf. also Kratzmüller 2007. Neils 1992, 40 f.; Bentz 1998, 57. Hamilton 1993; Bentz 1998, 57 f.; Hannah 2001, 167; Shear 2001, 398. The earliest attested archon name on a prize amphora is Dietrephes, archon in 384/3, found on a sherd from the Agora (P35996; BAPD 9032482; Palagia 2014, fig. 4). See Palagia 2014, 369 f.; Edwards 1957, 331 f.; Hannah 2001, 168; Shear 2001, 399 f. Eschbach 1986, 1; Immerwahr 1990, 183; Neils 1992, 29, 40 f.; Hannah 2001, 169.

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cities of prize winners, marking the status of the vase and its contents as a prize as well as emphasizing the prize’s origin.15 The final element marking a vase as an official Panathenaic prize amphora is the consistent use of the black-figure technique. Since the first Panathenaics are produced in the second quarter of the sixth century, they were unsurprisingly decorated in black-figure, which is the only real option available at the time. After the red-figure technique is introduced in the last quarter of the sixth century, vase-painters continue to decorate Panathenaics in black-figure. The latest prize vases datable by their inscriptions come from the agonothesia of Sarapion in 98/7 BCE.16 Panathenaic prize amphorae were official commissions for the civic festival, so the use of black-figure must have been stipulated in the contract for their production, along with guidelines regarding the volume, decoration, and inscription, but the technique comes to represent more than prescribed features and resistance to change. On the earliest prize amphorae, all the decoration is in the contemporary style, comparable to other vases produced in Athens around the same time.17 The painting technique – black-figure – is also contemporary. After the introduction of the redfigure technique, prize amphorae continue to be decorated in black-figure and preserve the technique even after it is abandoned for all other Attic vases by the middle of the fifth century. In fact, Panathenaic prize amphorae represent the longest surviving use of the black-figure technique in Athens, beyond the end of red-figure in the fourth century BCE and carrying on into at least the first century BCE. After 480 BCE, commissions for prize amphorae are awarded to workshops specializing in red-figure pottery, compelling artists who otherwise worked only in red-figure to take up the older technique for these special vases. Some black-figure workshops continue into the Classical period, but they specialize in smaller vases and do not produce anything akin to the prize amphorae in size or level of detail. At this time, there is a shift in style, and painters of prize amphorae begin to explore retrospective and archaistic styles. By the beginning of the fourth century, it is standard that the reverses of prize vases – the panels depicting the athletic contest for which the prize was awarded – are decorated in a contemporary style while the obverse panels depicting the Athena Promachos employ an archaistic style. A prize amphora in New York (fig. 2a–b) attributed to the Euphiletos Painter and dated to the 530s represents a canonical Panathenaic amphora of the Archaic period.18 It features all the elements of a prize vase, and the artist has decorated this vase in a contemporary, Archaic style. The sprinters on the reverse of the amphora step in unison with their left legs and arms thrown forward in the distinctive “pinwheel” pose common in Archaic art. Their torsos are shown frontally, while their hips and legs are in compete profile. Naturalistic representation of anatomy is not the painter’s aim, rather he emphasizes the runners’ speed, which is further stressed 15 Gardiner 1912, 188; Hamilton 1996, 157 n. 9; Kyle 1996, 122. 16 Athens, Kerameikos PA342 (Frel 1973, fig. 31) bears the inscription ἀγωνοθετοῦντος Σαρα[ρα]π[ίονος]. Frel 1973, 29–32; Williams 2007, 152. 17 Beazley 1986, 81 f. 18 New York, Metropolitan Museum of Art 14.130.12, ABV 322.6.

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Figure 2a–b. Panathenaic Prize Amphora attributed to the Euphiletos Painter. New York, Metropolitan Museum of Art, Rogers Fund, 14.130.12. www.metmuseum.org.

by their stretched and exaggerated rear legs. The shape of the vase is similar to “SOS” transport amphorae of the earlier sixth century.19 The shape itself was not special, per se, but it would be unusual for an amphora shape associated with shipping to be decorated with figural scenes. In the first decades of the Classical period, after red-figure becomes the predominant technique of Attic vase-painting, the Berlin Painter is the first artist who otherwise worked solely in red-figure to produce black-figure Panathenaic prize amphorae.20 One of his earliest prize amphorae, dated 480–460 (actually among his later works), also shows a group of sprinters on the reverse (fig. 3).21 The Berlin Painter’s athletes show many of the developments in the depiction of twisting bodies in three-quarter view that were introduced to Attic vase-painting by the previous generation of artists, the Pioneer Group. Rather than the combination of frontal and profile views seen on the prize amphorae of Archaic artists, the painter attempts to show bodies in more realistic poses, neither in profile nor straight on. The runners at far right and far left on the reverse of the Berlin Painter’s amphora are especially effective examples. Unlike the Euphiletos Painter, he shows the runners with a natural coordination of arm and leg movements, that is, their right arms swing forward while their right legs swing back and vice versa. This matches a realistic running motion and is an early example of it in Greek art.22 It is a minor detail, but further

19 20 21 22

Johnston/Jones 1978, 133 f.; Neils 1992, 38 f. Shapiro 2017, 134. Karlsruhe, Badisches Landesmuseum 69/65; Paralipomena 519.2 quater. Beazley 1986, 87 f.

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Figure 3. Panathenaic Prize Amphora attributed to the Berlin Painter. Karlsruhe, Badisches Landesmuseum Karlsruhe, Thomas Goldschmidt, 69/65.

demonstrates that the painter is taking inspiration from actual bodies and not solely ideas of bodies. Despite these new developments in anatomy, the Berlin Painter is the first painter of prize amphorae to integrate some archaistic elements, which can be seen on the reverse of this vase.23 The athletes’ bodies are long with rather constricted waists, and their legs are very stretched out, much like on the Euphiletos Painter’s amphora. This is especially apparent when compared to athletes on the Berlin Painter’s red-figure vases, which are typically earlier than his Panathenaic amphorae.24 His rendering of the Panathenaic athletes emphasizes their hips and buttocks in a manner reminiscent of Archaic painting and sculpture. The canonical elements of Panathenaics are well established by the Berlin Painter’s time, but the artist begins to test the use of retrospective style on his prize vases. This sort of archaistic depiction of anatomy is not typical of his teachers in the Pioneer Group or of previous painters of prize amphorae, rather it is a conscious choice on the part of the Berlin Painter for these vases. At this point of transition, when the decision is made to continue the older black-figure technique for these special vessels, the Berlin

23 Bentz 1998, 144. 24 Cf. Madrid, Museo Arqueológico Nacional 11114 (ARV² 200.46; CVA Madrid 2, pl. 22.2a); Munich, Antikensammlung 2310 (ARV² 197.6; CVA Munich 4, pl. 192); Munich, Antikensammlung 2313 (ARV² 198.12; CVA Munich 4, pl. 196); and New York, private collection (BAPD 25931).

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Painter stresses the antiquity of the tradition to which his vases belong and legitimizes them by extending their connection to older prizes beyond technique and into their style. By this time, large vases decorated in black-figure are out of the ordinary in Attic vase-painting, so the Berlin Painter fully embraces the inevitable anachronism of these large black-figure prize amphorae with this archaistic style. Panathenaics continue to evolve through the fifth century, and the canonical form comes to include the use of an archaistic style only on obverse scenes of Athena, rather than the athletic scenes on the reverse. By the mid-fourth century the vases are considerably different from those by the Euphiletos Painter and Berlin Painter discussed above, though they maintain all the defining elements of official prizes. The Harvard vase discussed at the beginning of this chapter, attributed to the Marsyas Painter, shows what has become of prize amphorae by 340/39 BCE. This vase can be dated precisely from the name of the archon inscribed on the vase, who presided in the year in which the oil originally in the vase was produced. The inscription Θειόφραστος ἦρχε is written kionedon (“like a pillar,” with individual letters written horizontally and arranged in a vertical column) to the left of the right column, balancing the prize inscription on the left. The columns on either side of Athena are probably meant to be Ionic, as they sometimes were on fourth-century examples. They have bases and large, oblong capitals, but the volutes are not indicated. The vase is taller and thinner than earlier examples, measuring 80 cm tall and 40 cm in diameter. By comparison, the Euphiletos Painter’s prize vase is approximately 62 cm tall. Most of the added height comes from the extended foot and neck. The body has the same top-heavy ovoid shape as earlier examples. The most striking difference on the obverse is that Athena now faces the opposite direction, striding to the right, and is dressed in an elaborate and conspicuously archaistic style. The himation draped over her shoulders, along with her chiton, both feature the swallow-tail drapery typical of archaistic art of the fourth century and later; though this is something not actually found in art of the Archaic period.25 The archaistic himation first appears on prize amphorae dating to 363/2, and it becomes a hallmark of the archaistic style in painting and sculpture.26 The rendering of the folds of her drapery convincingly represent her body in three-quarter view, though her face and feet are still shown in profile. Some fourth-century prize amphorae portray Athena in a form-fitting chiton, standing with her feet together rather than striding. Panos Valavanis describes this as the Palladion type and sees it as “the final touch in the archaistic style.”27 This type of Athena is limited to a particular workshop, which John Beazley named the Hobble Group after Athena’s skirt, and does not become a regular feature of prize amphorae.28 The reverse of the Marsyas Painter’s vase shows two boxers receiving instructions from a judge before their match begins. In contrast to the emphasis on action in the athletic scenes previously discussed, this scene is rather stationary. The ath25 26 27 28

Beazley 1986, 90. Valavanis 1991, 69–77. Valavanis 1991, 77–9, 341. Beazley 1943, 460 f. See also ABV 417.

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letes’ bodies are shown with a slight twist with torsos and faces turned toward the viewer as they stand in contrapposto, with their weight shifted to one leg. Their postures recall the sculpture of Polykleitos of a century earlier, so while their style is not exactly contemporary, they in any case represent an obviously dissimilar style from the Athena on the other side of the vase. The Marsyas Painter uses a much freer line to incise many more and finer details than either the Euphiletos Painter or Berlin Painter. The athletes are flanked by two draped figures, a referee at right and a personification of the Olympic games at left. In contrast to the very regularized folds of Athena’s garments on the front of the same vase, these figures’ clothing hangs off their bodies more loosely and less carefully, but in a way that convincingly depicts their bodies below the folds. In the fourth century, the amphora is largely replaced by the pelike in figured vase-painting.29 By the Marsyas Painter’s time, the amphora shape itself might have seemed as old-fashioned as the blackfigure technique with which it is decorated. Archaism has a long tradition in Greek art beyond Panathenaic prize amphorae. It is sometimes used to depict statues of the gods or to indicate a divinity in the mythic past as opposed to the physical presence or epiphany of a god.30 In the case of the Panathenaic prize amphorae of the fifth century and later, the archaistic Athena Promachos might then recall an ancient statue of the goddess – or the idea of an ancient statue – and by extension reflect the antiquity of the festival with which the vases are associated. Gloria Ferrari Pinney argues that instead of being a statue, the images on Panathenaic amphorae depict Athena performing the pyrrhic dance after the victory in the Gigantomachy.31 Though this idea has not received strong support among iconographers, the suggestion firmly situates this image of Athena in the mythic past of Athens, so her archaistic representation would emphasize the antiquity of her role as protector of the city. By contrast, the contemporary and more naturalistic style of the athletes on the reverses of prize amphorae indicates that they are meant to represent real athletes. The athletic scenes depict the present, living reality of the festival and the victors who took home its prizes and thus are usually rendered in the contemporary manner and not archaistically. The archaistic style of the Panathenaic Athena parallels the old-fashioned technique with which she is rendered, and together these elements reflect the initial religious function of the amphorae. Whether we see her as a sculpture or epiphany of the goddess, her “ancient” appearance, especially when contrasted with the more naturalistic athletic scene on the reverse of the vase, emphasizes the antiquity of her festival and of her city, as well as the Panathenaic prize amphorae as a series. As mentioned above, Panathenaic prize amphorae are commissioned and produced until at least the first century BCE. Fewer prize amphorae from the Hellenistic period are known today than from the preceding periods.32 Though their production decreases, the vases remain a potent symbol. The games at the Panathenaia 29 30 31 32

Mannack 2001, 48. Platt 2011, 83–91. Pinney 1988. Bentz 2008, 102. On Hellenistic and later prize amphorae, cf. Edwards 1957 and Streicher 2016.

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are especially popular among Alexander and his successors, who use the festival to gain political advantage and personal prestige. Judith Barringer has argued that after the late fourth century the Panathenaia loses its potency as a symbol of Athens and its glorious traditions and the festival and prize amphorae are usurped for non-Athenian purposes.33 By the third century, she argues, even Athenian officials responsible for organizing the festival are using the prize amphorae carrying their names for personal promotion. An example can be seen on a fragment of a Panathenaic prize amphora showing the capital of a column and feet of a column-statue that is dated to 248/7 based on the tamias inscription naming Eurykleides found on the column capital on the obverse.34 Eurykleides and his family are known to have dedicated several monuments in the city, and Barringer argues that the placement of the tamias inscription is meant to recall the dedicatory inscription of an actual statue dedicated by him.35 Additionally, several other cities begin celebrating their own Panathenaic festivals in the third century BCE. Ephesos even awards its own prize amphorae produced locally by expatriate Athenian vase-painters.36 I would argue, however, that these appropriations of the Panathenaia and its emblems show that the festival and Panathenaic prize amphorae are still very much potent symbols. The city may well lose exclusive control over the symbolism of the festival, but the prize amphorae and the traditions they embody are still important and powerful enough that individual Athenians, non-Athenian dynasts, and other poleis wish to associate themselves with the games, their prizes, and the connotations of the glorious past of Athens they carry. For wealthy and powerful individuals in Athens and for Hellenistic monarchs, the prestige value of prize amphorae surely far outweighs any monetary value of the prizes. That prestige is inextricably connected with their history and that of the festival and city with which they are connected. These individuals seek to legitimize their rule or their social status by asserting a connection to the political prominence Athens once held and the cultural repute the city maintained throughout the Mediterranean. Julia Shear argues that, for the Attalids and Ptolemies, “to compete at Olympia would have been to demonstrate that they were Greek, but to compete at Athens, particularly in the tribal events, was to display their special relationship with a city which was politically not an international power of the same class as the Hellenistic kingdoms but culturally was without peer.”37 The anachronisms of prize amphorae reflect their need to be firmly rooted in the present and extend far into the city’s past at the same time. From the first experimentations with the revival of Archaic elements on prize amphorae in the early Classical period to the highly-elaborate Hellenistic examples whose archaistic elements are not actually based on any earlier style, the layering

33 34 35 36 37

Barringer 2003. Athens, Agora P109; BAPD 9016519 and 9016566; Barringer 2003, fig. 2. Barringer 2003. Tiverios 2000, 53 f.; Barringer 2003, 251; Valavanis 2007. Shear 2007, 143.

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of time on Panathenaic prize amphorae asserts the cultural and historical significance of the city within the Greek world, both for the benefit of Athens and of those who took home the prizes. The city of Athens had a complicated relationship with its own past. As Deborah Boedeker points out, “It was natural for Athens to look ‘backward’ for laudable models of behavior [in a period when] the city was going through enormous changes.”38 Athens never ceased to go through enormous changes, from the fifth century when the city sought to bridge the new democracy with its heroic past and to legitimize its position as a leader of the Greek world, to its struggles through the fourth century to assert or reassert the political and military dominance it had previously held, and to the ultimate appropriation of the Panathenaia festival and its symbols by powerful individuals in the Hellenistic period. Throughout their history, Panathenaic prize amphorae remain a potent link between the mythic and historic past of Athens and their present day. The place of Panathenaic prize amphorae among Athenian vases changes significantly from the sixth century to the Hellenistic period. In the Classical period, large vases decorated in black-figure are out of the ordinary, and prize amphorae stand in stark contrast to other products from the workshops of Attic potters and painters of the period. While the continuation of black-figure may be initially a rejection of a new form in favor of the older and traditional, it soon becomes a potent symbol indicating the prizes’ status and the importance of the city issuing them. The vases’ anachronistic combination of contemporary, archaic, and archaistic elements marks them as special and even elite status objects. They are part of an ancient tradition connected to the illustrious past of the city of Athens, but also present in the contemporary reality of those who won them as prizes. The layering of disparate styles, techniques and indeed time periods into a single object creates an anachronistic contrast of aspects. On later prize amphorae especially, the contrast of the elaborate, contemporary style of their painting with the obviously out-of-place and ancient black-figure technique not only brings the mythological origins of the festival into the present but also retrojects the present into the past, supposing that sixth-century black-figure vases were painted with the same overwrought decoration as their later counterparts. The prize vases give a sense that the Panathenaic festival and the city of Athens are both timeless and heavily imbued with the past, at the same time contemporary and ancient, mythical and physically present. They assert a continuity in the festival and its host city, that Athens was still the city it had always been, and always had been the city it presently was.

38 Boedeker 1998, 194 f.

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IAMQUE DIES, NISI FALLOR, ADEST – AENEAS UND DER RÖMISCHE KALENDER Anke Walter (Newcastle) Die Aeneis, das Gründungsepos Roms, ist voller Anachronismen. Als könnte das spätere Rom, besonders in seiner augusteischen Form, sein Kommen gar nicht erwarten, durchziehen unzählige Charakteristika einer späteren Zeit einen Text, dessen Handlung noch nicht einmal bis zur Gründung Roms gelangt.1 Von den zahlreichen Anachronismen2 der Aeneis werde ich mich mit einem von ihnen befassen, der das Phänomen der Zeit selbst und der römischen Zeitordnung betrifft. Im fünften Buch erklärt Aeneas, dass „dieser Tag“ der Jahrestag des Todes seines Vaters Anchises sei. Es stellt sich jedoch die Frage, wie Aeneas zu dieser Feststellung kommt. Nach römischen Vorstellungen waren zu seiner Zeit weder der römische Kalender noch das römische Jahr erfunden worden. Die Betonung der Identität „dieses Tages“ als Jahrestag erhält erst vor dem Hintergrund des von Caesar reformierten und von Augustus korrigierten Kalenders ihre volle Bedeutung. Dieser Anachronismus ist jedoch kein ‚zeitloses‘ Phänomen, sondern er hat bereits seinerseits eine Geschichte. Servius macht in seinem Aeneis-Kommentar auf das mit der Erwähnung des Jahrestages verbundene Problem aufmerksam, ohne jedoch die volle Dimension des vergilischen Anachronismus zu beleuchten. Dagegen hat zuvor bereits Ovid in seinen Fasti nahegelegt, dass es sich bei der vergilischen Textstelle um eine wirkungsvolle, aber anachronistische Konstruktion handelt (cf. Fast., 2,543–6). Der weitere Kontext der hier betrachteten Passage der Aeneis unterstreicht, auch im Vergleich mit Apollonios Rhodios’ Argonautica, die Bedeutung dieses Anachronismus für die vergilische Erzählung. Wie ich abschließend zeigen werde, lässt sich die anachronistische Feststellung eines Jahrestages besonders vor dem Hintergrund des für die Aeneis so zen1

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Zu Anachronismen in der Aeneis, cf. Kroll 1964, 178–184; Horsfall 1991a; Horsfall 1991b, 136; Horsfall 2016, 135–145; Solodow 2014; cf. auch Sandbach 1990, der schlussfolgert (465): „the apparent mythological subject carried within itself the story of a nation right down to its living present“; Reed 2007, 129–147, zur Wirkung vergilischer Prolepsen. Die gesamte Aeneis hindurch werden immer wieder verschiedene Zeitebenen gleichzeitig aktiviert, so dass die Zeit transparent oder wie ein Palimpsest erscheint; cf. Bowie 1990; Hardie 2013; Delvigo 2013. Nelis 2005, 73, in seiner Analyse der Konstruktion von Zeit in den Versen 8,347–350, spricht von „an almost constant oscillation between past, present and future throughout the poem“. Für die Definition von „Anachronismus“ folge ich Solodow 2014, 71: „The term denotes the inclusion, within a narrative, of artifacts, usages, institutions, or names that came into being only after the narrative’s fictive time.“

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tralen Konzeptes des fatum erklären. In der Form des gesprochenen göttlichen Wortes sind das römische imperium und alles, was es ausmacht, bereits lange vorhanden und ‚in der Welt‘, ehe die historische Entwicklung sie Realität werden lassen kann. Durch die Intuition des Aeneas, die durch göttliche Zeichen bestätigt wird, wirkt das Künftige – in diesem Fall die augusteische römische Zeitordnung – in die Gegenwart des römischen Gründungshelden hinein. Hierin zeigt sich, wie sehr der göttliche Wille, der die römische Geschichte bestimmt, über die historische Kontingenz in Roms Gründung und Wachstum dominiert – obwohl beide zugleich auch eng aneinander geknüpft sind. Die römische Zeitordnung selbst wird zum Zeichen, dass die zeitlichen Sphären der Menschen und der Götter in dieser Stadt eine besonders enge Verbindung eingehen. DER JAHRESTAG Der Anachronismus, den ich hier betrachten werde, findet sich im fünften Buch der Aeneis, kurz nachdem die Trojaner zum zweiten Mal auf Sizilien gelandet sind und Acestes sie aufgenommen hat: „Als der folgende Tag im ersten Morgenlicht erstrahlte, nachdem die Sterne vertrieben“3 waren (postera cum primo stellas Oriente fugarat / clara dies, 5,42 f.), spricht Aeneas von einer Anhöhe herab feierlich zu den „starken Trojanern“, den „Söhnen aus dem erhabenen Geschlecht der Götter“. Er erklärt: „Ein Jahreskreis vollendet sich im Ablauf der Monate (annuus exactis completur mensibus orbis), seit wir die sterbliche Hülle, die Gebeine des göttlichen Vaters, in der Erde bargen und den Traueraltar weihten“ (5,45–8). „Heute ist der Tag, wenn ich nicht irre, den ich immer als schmerzlich empfinden, immer in Ehren (so wolltet’s ihr Götter) halten werde“: iamque dies, nisi fallor, adest, quem semper acerbum, / semper honoratum (sic di voluistis) habebo (5,49 f.). Auch wenn er an diesem Tag in den gätulischen Syrten, im argolischen Meer oder in Mykene festgehalten würde,4 würde Aeneas doch „die jährlichen Gelübde einlösen (annua vota), den feierlichen Umzug abhalten nach der Ordnung und für die gebührenden Gaben Altäre errichten“ (5,53 f.). Am Ende blickt Aeneas in die Zukunft voraus, wenn er wünscht, dass er diese Rituale nach der Gründung einer Stadt jährlich in einem dem Anchises geweihten Tempel ausführen könnte (5,59 f.).5 Es ist in der Forschung bereits erkannt worden, dass hinter Aeneas’ Worten eine Anspielung auf das Fest der Parentalia steht, das im Monat Februar zu Ehren der Verstorbenen gefeiert wurde.6 Die Parentalia, die am 13. Februar begannen und

3 4 5 6

Übersetzung: Binder 2012. Zu diesen Adynata cf. Fratantuono/Smith 2015, ad loc. Zur ätiologischen Bedeutung dieser Verse cf. ib. ad loc. Cf. Williams 1960 ad 59 f.; Holt 1979–80, 116 mit Anm. 22; Bailey 1935, 291–295, 301; Fratantuono/Smith 2015 ad Aen. 5,47 zu den Parallelen mit der römischen parentatio, den Parentalia, griechischem Heroenkult und Augustus’ Kult des Divus Iulius; wichtige Beobachtungen zum Jahrestag und seiner Funktion im Kontext der neugegründeten Stadt Acesta in Barchiesi 2006, 29.

Iamque dies, nisi fallor, adest – Aeneas und der römische Kalender

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am 21. Februar endeten, umfassten, inklusiv gezählt, eine Periode von neun Tagen. Dazu passt es, dass Aeneas erklärt, am neunten Tag nach dem Jahrestag Spiele zu Ehren des Anchises veranstalten zu wollen (si dona diem mortalibus almum / Aurora extulerit radiisque retexerit orbem, 5,64 f.). Wie Damien Nelis feststellt, wird hiermit auch auf die Einrichtung des novemdiale sacrum und der ludi novemdiales aus dem Bereich des römischen Kultes und der Bestattungssitten vorausgeblickt.7 Jedoch steckt dahinter mehr als die Vorwegnahme eines einzelnen römischen Festes. Wie sich besonders an den eben zitierten Worten des Aeneas erkennen lässt, deutet sich hier ein Zeitverständnis an, das für Aeneas und seine Zeitgenossen eigentlich noch undenkbar ist und das erst in der augusteischen Zeit seine volle Ausprägung erfährt. Die Erklärung, dass der Kreis des Jahres erfüllt sei (5,46), und die Betonung der Identität des Tages – iamque dies, nisi fallor, adest – hat bereits Servius mit dem römischen Kalender in Verbindung gebracht. Zu Aeneas’ Worten nisi fallor erklärt er, dass Aeneas dieses nicht als ein Unwissender sage, sondern aufgrund der „Unordnung“ des Jahres unter den römischen Vorfahren, da vor Caesars Kalenderreform zehn Tage in das Jahr eingefügt werden mussten: NISI FALLOR non quasi nescius dixit, sed propter anni confusionem, quae erat apud maiores. nam ante Caesarem qui nobis anni rationem conposuit, quam hodieque servamus, intercalabantur decem dies, ut etiam in Verrinis legimus, scilicet lunae non congruente ratione.8

Servius sieht also in nisi fallor einen Hinweis darauf, dass unter den Bedingungen des republikanischen Kalenders das Feststellen von Jahrestagen weniger eindeutig gewesen sei als in der Zeit, nachdem Caesars Kalenderreform aus dem Jahr 45 v. Chr. Mond- und Sonnenjahr in Einklang gebracht hatte (cf. lunae non congruente ratione).9 Konsequent wurde diese Reform erst von Augustus im Jahre 8 v. Chr. mit seinem Eingriff in das Funktionieren des Kalenders, wie von Caesar geplant, tatsächlich durchgesetzt.10 Wie die Wendung anni confusio bei Servius nahelegt, hatte das Jahr erst mit dieser Kalenderreform seine wahre ‚Ordnung‘ erlangt, in der sich auch Jahrestage eindeutig erkennen lassen. Der Kommentar des Servius bezeugt, wie sehr der julische Kalender, „den wir auch heute noch bewahren“, die Wahrnehmung von Zeit und die Vorstellung von einer ‚geordneten‘ Form des Jahres geprägt hat. Zugleich macht Servius auf einen wichtigen Aspekt des vergilischen Textes aufmerksam: den Jahrestag und die Frage, wie dieser berechnet wird. Anders als Servius interpretiere ich Aeneas’ Einräumung nisi fallor jedoch nicht als Hinweis auf den republikanischen Kalender 7 8

Nelis 2001, 193; cf. Williams 1960, ad loc. „WENN ICH NICHT IRRE Er sagte das nicht, als wüsste er es nicht, sondern wegen der Unordnung des Jahres, die bei den Vorfahren bestand. Denn vor Caesar, der für uns die Ordnung des Jahres festlegte, die wir heute noch bewahren, wurden zehn Schalttage eingeschoben, wie wir auch in den Reden gegen Verres lesen, da ja die Dauer des (Sonnen)Jahres nicht mit dem Mond(jahr) übereinstimmt.“ 9 Pace Fratantuono/Smith 2015, ad loc., die nisi fallor als „a generic ‚if I am not mistaken‘“ lesen. 10 Cf. Feeney 2007, 197.

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– hier begeht Servius, wie sich zeigen wird, selbst einen Anachronismus – sondern gerade auf den Jahrestag im Sinne des julischen Kalenders.11 Aeneas’ Erklärung, dass „das Jahr erfüllt sei“ nach Ablauf der Monate, wird erst vor dem Hintergrund dieses Kalenders vollkommen verständlich. Erst Caesars Kalenderreform verwandelte das römische Jahr in ein Sonnenjahr von 365 ¼ Tagen Länge. Erst jetzt stimmte das Jahr mit den Jahreszeiten überein, und erst jetzt war der Ablauf eines Jahres gleichzusetzen mit einem vollen Umlauf der Erde um die Sonne (cf. annuus exactis completur mensibus orbis).12 Wie Denis Feeney zeigt, gewann erst dadurch das Bewusstsein von Jahrestagen, das die Römer, wenn auch in weniger genauer Form, schon vorher ausgezeichnet hatte, seine volle Bedeutung.13 Mit seinen Hinweisen auf die „Erfüllung“ des Jahres in seinem Umlauf nimmt Aeneas ein charakteristisches Element der späteren, von Caesars Kalender geprägten Zeitvorstellung vorweg. Ein solcher Anachronismus ist in der Aeneis kein Einzelfall, sondern die Spiele zum Gedenken an Anchises fügen sich ein in eine Reihe weiterer Hinweise auf spätere, jährlich stattfindende römische Fest- und Gedenktage. So kann der römische Leser der Aeneis beispielsweise hinter Aeneas’ Ankunft bei Euander im achten Buch und hinter dem von den Arkadiern an diesem Tag gefeierten Herculesfest eine Vorausdeutung auf das Opfer zu Ehren des Hercules Invictus erkennen. Dieses wurde jährlich am 12. August vollzogen – an dem Tag, an dem auch Augustus im Jahr 29 v. Chr. vor seinem dreifachen Triumph über Antonius und Cleopatra sein Lager vor der Stadt aufschlug.14 Genauso scheinen der augusteische Kalender und das von diesem Kalender geprägte Nachdenken über Jahrestage auch hinter den Parentalia zu stehen, wie im fünften Buch auf sie angespielt wird. Die Interpretation des Servius übersieht einen wichtigen Anachronismus im vergilischen Text. Servius teilt die gesamte Geschichte des römischen Kalenders in zwei Phasen ein – den vorcaesarianischen Kalender der Vorfahren (ante Caesarem) und die bis in seine eigene Gegenwart bestehende caesarianische Ordnung

11 Zur Bedeutung von nisi fallor im größeren Kontext der Textstelle s. u. ab S. 107. Zur Durchbrechung der Erzähllogik nicht durch die Vorausnahme von Fakten, sondern durch Anspielungen auf andere literarische Texte, cf. den Beitrag von Markus Kersten in diesem Band. 12 Cf. Bickermann 21980, 47; Feeney 2007, 150–158, 187–201; Hannah 2007, 112–125; Rüpke 1995, 369–391. Cf. auch Michels 1978, 180 f., für die Auswirkungen der Reform auf die Datierung von Augustus’ Geburtstag. 13 Feeney 2007, 148–163. 14 Cf. ib., 161; Buchheit 1963, 157. Bei Aeneas’ Besuch von Pallanteum wird besonders deutlich, wie sehr das zukünftige Rom bereits in der römischen Erde selbst angelegt ist; cf. dazu Binder 1971, 112–149; George 1974, bes. 71–88; Williams 1983, 150–152; Novara 1988, 69– 88; Mack 1978, 50–54; Feeney 2007, 163–166; Mittal 2011, 184–187. Cf. Horsfall 2006 ad 3,301 für weitere Anspielungen auf jährliche Riten in der Aeneis. Auch in der Darstellung der Geschichte Roms auf dem Schild des Aeneas werden einige römische Festtage vorweggenommen; cf. Feeney 2007, 162.

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des Kalenders (hodieque) –15 und geht anscheinend davon aus, dass der Kalender in der Gestalt, die er vor Caesar besaß, ‚schon immer‘, also noch bevor Aeneas überhaupt in Latium angekommen war, für ihn Gültigkeit besaß. Was Servius jedoch nicht beachtet: Der römischen Vorstellung gemäß gab es zur Zeit des Aeneas noch nicht einmal ein römisches Jahr oder einen römischen Kalender. Folgt man beispielsweise Ovids Ausführungen in den Fasti, die auf Überlegungen von älteren Autoren beruhen, war Romulus der erste, der die Zeit „aufgeteilt“16 und ein Jahr von zehn Monaten eingeführt habe. Später habe Numa Romulus’ ‚Irrtum‘ korrigiert und durch Hinzufügen von zwei Monaten das zwölf Monate umfassende Jahr etabliert. Das Jahr der Römer hatte anfangs also noch nicht einmal einen Monat Februar, in dem das Fest der Parentalia liegt, auf das im vergilischen Text angespielt wird. Ovid macht in seinem Kalendergedicht auf den Anachronismus, der dem Fest der Parentalia im Besonderen innewohnt, aufmerksam. Er nimmt erkennbar auf die vergilische Version der Parentalia Bezug, wenn er erklärt, dass die Parentalia von Aeneas, „dem würdigen Urheber der pietas“, nach Latium gebracht worden seien (hunc morem Aeneas, pietatis idoneus auctor, / attulit in terras, iuste Latine, tuas, Fast., 2,543 f.).17 Aeneas habe dem Genius seines Vaters festliche Opfer dargebracht, wodurch die Völker fromme Sitten erlernt hätten: ille patris Genio sollemnia dona ferebat: / hinc populi ritus edidicere pios (Fast., 2,545 f.). Diese Worte erscheinen wie eine sehr dichtgedrängte Zusammenfassung der im fünften Buch der Aeneis dargestellten Riten.18 In dem Wort sollemnia steckt darüber hinaus ein Hinweis auf den jährlichen Charakter dieses Festes.19 Zugleich werden die Parentalia geradezu zu einem Aition für das Vollziehen frommer Opferbräuche erklärt, nicht nur unter den Römern, sondern den „Völkern“ (populi). Das Fest wird zur zentralen Verkörperung nicht nur der Frömmigkeit des vergilischen pius

15 Wobei Servius jedoch auch auf die verschiedenen Stufen der Entwicklung eingeht: Servius’ oben zitierter Kommentar endet mit den Worten annum autem primo Eudoxus, post Hipparchus, deinde Ptolomaeus, ad ultimum Caesar deprehendit. 16 Cf. Fast., 1,27 (tempora digereret cum conditor Urbis); cf. hierzu Prescendi 2000, 28–34; Pasco-Pranger 2006, 27–31; Hinds 1992 zu Romulus als conditor anni und zur Bedeutung der arma. Zur Problematik des von Romulus begründeten, zehn Monate umfassenden Jahres cf. Stok 1989. Cf. auch Fast., 4,23–60 mit Barchiesi 1997, 171–174. 17 Zum Verhältnis von großen und kleinen Gaben zu Ehren der Toten in Vergils und Ovids Hinweisen auf die Parentalia, und zu seinen generischen Implikationen, cf. Barchiesi 1997, 67– 69. 18 Cf. auch die Erwähnung eines genius des Anchises in Aen., 5,95; cf. dazu Robinson 2010 ad 545. Zu Ovids Bezugnahme auf Vergils Parentalia, cf. Barchiesi 2006, 19; Robinson 2010 ad 543–546 („Ovid interprets this Vergilian passage as a proto-Parentalia […]. He underlines the allusion with a number of verbal echoes, which also help to suggest the promises made by Aeneas in the Aeneid have been kept“), ad 545. 19 Zur etymologischen Verbindung von sollemnis und annus cf. Bartelink 1965, 101; Maltby 1991, s. v. „sollemne“, der Fest., 298 zitiert: sollemne, quod omnibus annis praestare debet; cf. O’Hara 1996, 159.

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Aeneas,20 sondern auch der zivilisatorischen und religionsstiftenden Mission der Römer und damit dem zentralen Anliegen des vergilischen Epos.21 Etwas später in seinem Kalendergedicht macht Ovid dann jedoch implizit auf den Anachronismus in der Aeneis aufmerksam. Obwohl es noch keinen Februar gegeben habe und „das Jahr noch kürzer war“ (annus erat brevior, nec adhuc pia februa norant, Fast., 5,423), hätten die Römer bereits im Monat Mai im Kontext des Festes der Lemuria der Asche der Verstorbenen Gaben dargebracht (iam tamen exstincto cineri sua dona ferebant,22 / compositique nepos busta piabat avi, 5,425 f.). Wie der Leser später erfährt, steht der Ursprung dieses Festes im Zusammenhang mit dem Tod des Remus und ist von Romulus zu Ehren seines Bruders eingerichtet worden (5,445–484). Ovid legt nahe, dass dieses Ritual in der Zeit nach Romulus – die ersten beiden Monate waren unter Numa dem römischen Jahr hinzugefügt worden23 – später kopiert und dass ein ähnliches Fest auf den neuen Monat Februar übertragen worden sei.24 Einerseits hat Ovid, wie er im zweiten Buch deutlich macht, erkannt, dass hinter dem von Aeneas zu Ehren seines verstorbenen Vaters vollzogenen Opfer das römische Fest der Parentalia steht,25 das in den Fasti den ihm zukommenden Platz im zweiten Buch erhält. Andererseits stellt Ovid später, im Zusammenhang mit den Lemuria, diese Verbindung in Frage, wenn er nahelegt, dass hier eine spätere Übertragung stattgefunden haben muss. Ovid nutzt den römischen Kalender, der verschiedene Tage und Feste sowohl trennt – durch den Verlauf der dazwischenliegenden Tage und Monate – als auch durch typologische und inhaltliche Parallelen verbindet, um die Verbindung von Aeneas und den Parentalia zunächst zu bekräftigen und später im Rückblick als Anachronismus zu enttarnen. Weitaus tief-

20 Cf. Porte 1985, 406 f.; Robinson 2010 ad 543 zur Betonung von Aeneas’ pietas in dieser Passage der Fasti; zur pietas des Aeneas in der entsprechenden Passage der Aeneis, cf. Fratantuono/Smith 2015 ad 53 mit weiterer Literatur. 21 Ironischerweise fällt dieses Fest in Ovids Darstellung sogleich dem anderen zentralen Aspekt des römischen Charakters, dem Kriegertum (verkörpert im ersten Wort der Aeneis, arma) zum Opfer: Während sie mit „kriegerischen Waffen“ lange Kriege führten, hätten die Römer dieses Fest vernachlässigt (Fast., 2,547 f.). Als die Totenschatten daraufhin die Stadt heimsuchten, seien die Parentalia jedoch sehr schnell wieder eingeführt worden (Fast., 2,549– 556). Zu dieser Vernachlässigung cf. Barchiesi 1997, 117–119; Robinson 2010, 331 f. ad 547–556. 22 Die Tatsache, dass Ovid hier dasselbe Versende verwendet wie bei der Beschreibung von Aeneas’ Totenopfer zu Ehren seines Vaters (2,545), unterstreicht die Parallele zwischen beiden Festen und damit auch die Möglichkeit, dass ein Fest auf das andere übertragen werden konnte. Für die Parallele cf. Bömer 1958 ad 5,425. 23 S. o. S. 105. 24 Zum Zehnmonatsjahr, cf. Rüpke 1995, 192–202; cf. auch Pasco-Pranger 2006, 30 Anm. 25. – Zur Verbindung von Ovids Parentalia und Lemuria cf. Fauth 1978, 120 Anm. 100, 141 f.; Miller 1991, 105–107 mit 170 Anm. 25; Phillips III 1992, 65–69; Littlewood 2001; Robinson 2010, 332–333; Barchiesi 1997, 119–123, betont dagegen die Spannungen zwischen den beiden Festen. 25 Pace Porte 1985, 406 f., die hierin Ovids eigene Interpretation sieht, die Vergils Text nicht vollständig gerecht werde.

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greifender als in Servius’ Kommentar werden bei Ovid die im Februar gefeierten Parentalia im Nachhinein als ein später entstandenes Fest, die Verbindung von bestimmten Tagen im Februar mit einer Gründungstat des Aeneas als eine spätere Konstruktion entlarvt. DER KONTEXT DES JAHRESTAGES Um das Funktionieren dieses Anachronismus genauer zu verstehen, ist es erforderlich, seinen größeren Kontext zu betrachten. Auch ein Vergleich mit den Argonautica des Apollonios Rhodios wird hilfreich sein, um Vergils Vorgehen einzuordnen. In der Aeneis wird der Anachronismus im Text dadurch unterstrichen, dass Aeneas’ Ankündigung, genau dieses sei der Jahrestag von Anchises’ Tod, für den Leser oder Hörer der Aeneis überraschend kommt. Vor diesem Hinweis auf den Jahrestag hatte der Zeitrahmen von den Irrfahrten der Trojaner in der Erzählung keine große Rolle gespielt. Nur hin und wieder wird ein Zeitraum von wenigen Tagen erwähnt,26 und es wird berichtet, dass Aeneas einen Winter bei Dido verbracht habe.27 Die karthagische Königin hatte Aeneas auch vorgeworfen, sie verlassen zu wollen, während die See noch rau sei.28 Darüber hinaus finden sich im Text jedoch keine Angaben, die es zulassen würden, die Ereignisse um Aeneas’ Irrfahrten genauer zu datieren. Der Leser kann nicht verfolgen, wieviel Zeit genau seit dem Tod des Anchises vergangen ist, sondern er muss Aeneas’ Worten Glauben schenken. Der Zusatz „wenn ich mich nicht irre“ (nisi fallor) deutet darauf hin, dass sowohl der Leser als auch die Trojaner allein auf die Erklärung des Aeneas angewiesen sind, die, so wird impliziert, eben gerade nicht auf einer Täuschung beruht.29 Das wird auch durch die Autorität der Götter bestätigt, auf die sich Aeneas bei seinen Hinweisen auf die Identität des Tages beruft. Die Tatsache, dass er den

26 Cf. z. B. 3,203–206 (tris adeo incertos caeca caligine soles / erramus pelago, totidem sine sidere noctes. / quarto terra die primum se attollere tandem / uisa). 27 Cf. 4,52 f. ([…] dum pelago desaevit hiems et aquosus Orion, / quassataeque rates, dum non tractabile caelum), 4,193 (Famas Rede: nunc hiemem inter se luxu, quam longa, fovere). 28 Cf. 4,309 f. (quin etiam hiberno moliri sidere classem / et mediis properas Aquilonibus ire per altum); cf. auch den Sturm in 5,8–34, der Aeneas zur Landung auf Sizilien zwingt; cf. Williams 1960, xxix, zum zeitlichen Ablauf dieser Ereignisse. Die Bestimmung der Zeit wird darüber hinaus durch eine weitere zeitliche Inkongruenz erschwert: Sowohl in 1,755 f. als auch 5,626 ist von einer Reise der Trojaner von sieben Jahren die Rede, obwohl mit dem Aufenthalt in Karthago etwa ein Jahr zwischen den beiden Erklärungen liegt; cf. Boyd 2014, 28. 29 Eine interessante Parallele zu dieser Verwendung von nisi fallor liegt in Ovids Tristia 5,3,1 f. vor (illa dies haec est, qua te celebrare poetae, / si modo non fallunt tempora, Bacche, solent). Wieder ist nisi fallor hier in Bezug auf die Identifizierung eines bestimmten Tages des römischen Kalenders verwendet, noch dazu von Ovid, dem Schöpfer der Fasti, der hier auf sein Kalendergedicht Bezug nimmt. Tristia 5,3 lässt kaum eine Unsicherheit über die Identifikation des Tages zu, so dass si modo non fallunt letztendlich nur die Gewissheit des Dichters über die Identität des Tages unterstreicht.

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Jahrestag von Anchises’ Tod immer ehren werde, wird göttlichem Willen zugeschrieben (Vers 50, sic di voluistis). Nur wenig später, in Vers 56, erklärt Aeneas, dass die Trojaner und er „nicht ohne den Willen der Götter, denke ich, in einen freundlichen Hafen einfahren“ (haud sine mente, reor, sine numine divum, 5,56). Wiederum unterstreicht reor, das grundsätzlich die Möglichkeit offenlässt, dass Aeneas sich täuscht, durch die Verbindung mit haud sine mente deum, dass Aeneas’ Einschätzung korrekt ist. Weiterhin erinnert die Formulierung amicos portus, die Aeneas hier verwendet, daran, dass sich die Trojaner schon einmal in dieser Gegend aufgehalten haben. Während ihres ersten Aufenthaltes auf Sizilien war auch Anchises gestorben, in Drepanum (cf. 3,707–710). Die gottgewollte Rückkehr in dieselbe Gegend (cf. quae […] tellus […] patris Anchisae gremio complectitur ossa, 5,30 f.) unterstreicht und bestätigt die Identität des Tages. Wo der überraschende Hinweis auf den Jahrestag nicht aus der chronologischen Struktur des Textes heraus nachvollziehbar ist, müssen sich Vergils Leser und Hörer – und sehr wahrscheinlich auch die Trojaner selbst – auf Aeneas’ Intuition und die von ihm proklamierte Manifestation des göttlichen Willens verlassen. Der vergilische Bericht von Aeneas’ Irrfahrten unterscheidet sich in dieser Hinsicht deutlich von der Erzählung des Apollonios Rhodios, dessen Argonautica Vergil in diesem Teil seiner Erzählung ansonsten sehr deutlich folgt.30 Im Gegensatz zu Vergil gibt Apollonios – wie, etwas weniger ausgeprägt, auch Homer in der „Odyssee“ – regelmäßig an, wie viele Tage die Argonauten zur See oder an Land verbracht haben.31 Der Leser oder Hörer bekommt eine recht genaue Vorstellung über das zeitliche Gerüst der Argonautenfahrt und davon, an welchem Punkt der Reise welche Kulte oder Bräuche entstanden sind, die bis in die Gegenwart des Dichters andauern. Für Aeneas’ Irrfahrten dagegen gibt es kein vergleichbares chronologisches Gerüst. Lediglich einer, ein Grieche, scheint eine etwas genauere Vorstellung von Zeit zu haben. Achaemenides, der auf der Insel der Kyklopen zurückgelassene Gefährte des Odysseus, erklärt, es seien drei Monate vergangen, seit er auf dieser Insel zurückgelassen worden sei: tertia iam lunae se cornua lumine complent (3,645). Hiermit definiert er nicht nur das chronologische Verhältnis zwischen den Irrfahrten des Aeneas und des Odysseus – lediglich drei Monate liegen zwischen beiden. Diese anscheinend direkt der „Odyssee“ entsprungene Figur erinnert auch daran, dass auch im Epos über Odysseus’ Irrfahrten ein Sinn für die Chronologie dieser Fahrt vorhanden ist. Zugleich fällt auf, dass Achaemenides anders über Zeit zu denken scheint als Aeneas. Sein Hinweis darauf, dass sich drei Monate erfüllt hätten, ist Aeneas’ Ankündigung nicht unähnlich, es erfülle sich der Kreis des Jahres: annuus exactis completur mensibus orbis. Und doch zeigen sich in der Art, wie hier Zeit definiert wird, grundlegende Unterschiede. Achaemenides denkt anscheinend in der Kategorie eines Mondjahres – lunae – während Aeneas von der

30 Cf. Nelis 2001, 21–66. 31 Cf. Mehmel 1940, 5 f.; Vian 1976, 17–19, 117–119; Vian 2002, 11–13; Klooster 2007, 64 f., 76 f.. Zur narrativen Gestaltung von Zeit bei Apollonios cf. Fusillo 1985; Danek 2009.

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Vollendung eines „Jahreskreises“ spricht. Die Herausbildung eines charakteristisch römischen Kalenders wird in diesem Unterschied vorweggenommen. Wie Feeney zeigt, hatten Jahrestage für die Griechen generell keine große Bedeutung. Wichtiger waren die einzelnen Tage des Monats, die mit symbolischer Bedeutung aufgeladen werden konnte. Aeneas dagegen nimmt mit seiner Äußerung, wie wir gesehen haben, die für die späteren Römer charakteristische Betonung von Jahrestagen vorweg.32 Noch ein weiterer Unterschied zwischen der Aeneis und den Argonautica des Apollonios verdeutlicht die Besonderheit des vergilischen Anachronismus. Grundsätzlich projiziert Apollonios, kaum anders als Vergil, in seinem Werk ebenfalls die Zeitordnung seiner Gegenwart auf die Vergangenheit, die er beschreibt. Wie Jackie Murray gezeigt hat, passt die Beschreibung der Gestirne, wie überhaupt der Zeitangaben in den Argonautica auf die Konstellation eines bedeutenden Jahres in Apollonios’ Gegenwart: Die Sterne, an denen sich die Argonauten orientieren, sind die Gestirne des Jahres, das wir als 238 vor Christus bezeichnen. Dieses Jahr war durch eine große Versammlung von Ptolemaios III und seinen Priestern markiert, sowie durch den Geburtstag und das Thronjubiläum des Pharaos. Darüber hinaus wurde in diesem Jahr ein neuer Kalender eingeführt.33 Apollonios stützt sich auf eine Sternkarte – und damit auf eine noch recht junge Errungenschaft der hellenistischen Astronomie, die sich im Übrigen auch für Caesars Kalenderreform als grundlegend erwies – um in seinem Argonautenepos die Bedeutung des ‚Epochenjahres‘ 238 v. Chr. zu unterstreichen. Die hinter dem Text stehende Präsenz der Sternkarte ist ein Anachronismus, der die Vergangenheit und die Gegenwart verbindet, ohne den Lauf der Zeit so tiefgreifend zu manipulieren, wie es in der Aeneis geschieht. In den Argonautica wird nahegelegt, dass sich ein Lauf der Zeit erfüllt hat und dass der Sternenhimmel im Jahr 238 v. Chr. wieder dort angelangt ist, wo er bereits im Jahr der Argonautenfahrt stand.34 Während die Vergangenheit und die Gegenwart auf diese Weise in den Lauf der kosmischen Zeit eingefügt werden, sind in der Aeneis Vergangenheit und Gegenwart im Kontext der Geschichte Roms auf eine neue Weise aufeinander bezogen. Im Werk des Apollonios wird die zeitliche Strukturierung der Argonautenfahrt aufgrund der chronologischen Angaben auch ohne genaue Kenntnis der Sternkarte von 238 v. Chr. verständlich. In der Aeneis dagegen verläuft der Prozess, der die Zeitvorstellung der Gegenwart mit der der Vergangenheit verbindet, in umgekehrter Richtung. Der augusteische Rezipient des Werkes erhält seine zeitliche Orientierung vor allem aus seinem Wissen über den gegenwärtigen römischen Kalender. Dieses Wissen, zusammen mit den Vorausdeutungen im Text, verrät ihm, dass die Gedenkfeier zu Ehren des Anchises zur Zeit der Parentalia im Februar stattfindet. Während im Text selbst hierzu keine genauen Zeitangaben gemacht

32 Feeney 2007, 148 f. 33 Murray 2014. 34 Ib.

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werden, vermittelt erst der römische Kalender der augusteischen Gegenwart zeitliche Orientierung in einer Welt, in der Aeneas und seine Zeitgenossen diese Zeitordnung lediglich unbewusst und ohne Bindung an ein bestimmtes chronologisches Gerüst vorwegnehmen. Auf diese Weise werden die umfassenden Veränderungen, die sich im Laufe der römischen Geschichte im Hinblick auf den Kalender und die Ordnung des römischen Jahres ergeben haben, in den Hintergrund gedrängt. Vergil selbst hat zu seinen Lebzeiten die Umstellung auf den caesarischen Kalender miterlebt – und Feeney legt detailliert dar, mit welchen Fragen und Problemen besonders für die neue Datierung von Geburts- und Festtagen diese Umstellung einherging.35 Diese Tatsache wird in der Aeneis jedoch grundlegend anders interpretiert. Die Zeitvorstellung der augusteischen Epoche erscheint so zwingend und ‚natürlich‘, dass Aeneas sie schon lange vor der Gründung Roms vorwegnehmen und ‚leben‘ kann. Die Entwicklung des römischen Kalenders, besonders in seiner caesarischen bzw. augusteischen Gestalt wird nicht als das Ergebnis einer langen historischen Entwicklung präsentiert, wie etwa in Ovids Fasti, mit all ihren Veränderungen im Laufe der Zeit. Stattdessen wird nahegelegt, dass die römische Zeitordnung, die bereits in der göttlich gelenkten Intuition des römischen Gründungsvaters verankert ist, notwendigerweise ihre spezifisch augusteische Gestalt annehmen musste. Erst damit ist die Zeitordnung verwirklicht, die Aeneas vorwegnimmt, und erst damit ist die Begründung Roms und der römischen Kultur vollständig abgeschlossen. Der Kalender in seiner augusteischen Gestalt ist kein Produkt historischer Kontingenz, wie bei Ovid, und Vergangenheit und Gegenwart stehen in einem engeren Wechselspiel als bei Apollonios. Die Gegenwart kann ohne die Gründungsleistungen der Vergangenheit nicht entstehen, doch verhilft umgekehrt erst die Kenntnis der Gegenwart zu einem vollen Verständnis der Vergangenheit, deren Akteure sich der wahren Bedeutung ihrer Handlungen noch nicht bewusst sein können. So wird das, was in der Vergangenheit angelegt ist, erst in der augusteischen Gegenwart vollständig verwirklicht. In dem Moment, in dem die volle Bedeutung dessen erkannt wird, was Aeneas intuitiv und unter Lenkung der Götter verkündet, findet die römische Geschichte ihre wahre Erfüllung. Die Zeit selbst, so scheint es, ist angekommen. ROMS FATUM Diese Konstruktion von Zeit in der Aeneis ist nicht als isoliertes Phänomen zu betrachten. Sie findet ihre Grundlage besonders in der Vorstellung von Roms fatum, das vom ersten Vers des Werkes an (fato profugus) die Darstellung von Aeneas und seinen Gründungstaten sowie das Verhältnis der trojanischen Vergangenheit

35 Feeney 2007, 150–158, 187–201.

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Roms und der augusteischen Gegenwart des Dichters bestimmt.36 Jupiter selbst denkt in seiner programmatischen Prophezeiung im ersten Buch der Aeneis37 in ähnlichen Kategorien wie Aeneas. Im Vorausblick auf die Zeit, wenn Rom die Städte Griechenlands unterwerfen werde, erklärt der oberste Gott, dass „mit dem Ablauf der lustra eine Zeit kommen werde“ (veniet lustris labentibus aetas, 1,283). Ein lustrum ist eine charakteristisch römische Zeiteinheit, die, nach dem republikanischen Kalender, einen Zeitraum von fünf Jahren umfasst und die ursprünglich die Zeit zwischen zwei census bezeichnet.38 John Conington und Henry Nettleship bemerken zu diesem Vers aus der Jupiter-Prophezeiung, dass der Gott hier die Sprache der großen römischen Nation spreche.39 Über den sprachlichen Aspekt hinaus zeigt diese Formulierung Jupiters jedoch auch, dass der Gott, ähnlich wie Aeneas, die Zeit der römischen Geschichte lange vor der Gründung Roms mit einem erkennbar römischen Maß misst. Das spezifische Funktionieren des fatum ist in diesem Kontext von zentraler Bedeutung. Jupiter enthüllt das fatum in seiner großen Prophezeiung des ersten Buches, noch bevor Aeneas das italische Festland erreicht. Doch der Ursprung des fatum reicht deutlich weiter zurück. Venus erklärt, Jupiter habe den Römern „aus dem wiederhergestellten Blut des Teucer“ (revocato a sanguine Teucri, 1,235) die Herrschaft über die Welt versprochen. Sie fügt hinzu, dass sie sich mit diesem Gedanken während des trojanischen Krieges zu trösten pflegte, „mit dem fatum das feindliche fatum aufwiegend“ (fatis contraria fata rependens, 1,239). Schon während des trojanischen Krieges – möglicherweise sogar schon sehr viel früher – existierte das römische Reich in Form des gesprochenen Wortes des fatum. Mehr noch, es existierte nicht nur, sondern hatte bereits damals einen Effekt: Es war wirksam in dem Trost, den Venus aus dem Gedanken an das römische imperium

36 Zum Konzept des fatum bei Vergil cf. Vogt 1943, 118–169; Williams 1960; Williams 1983, 3–16; Büchner 1966, bes. 273–300; Klingner 51965, 256–261, 293–311, 645–666; Camps 1969, 42 f.; Feeney 1991, 109–113, 138–140 (der auch auf die Wurzeln dieses Konzepts bei Naevius eingeht); Richter 1960; Buchheit 1963, 53–57; Horsfall 1976 (zu den Quellen Vergils und der Rolle des fatum in seiner Geschichtskonzeption); Horsfall 1990, 144; Gottlieb 1998, bes. 25, zur Verbindung des vergilischen fatum mit der Politik des Augustus. Zur literarischen Tradition eines solchen vaticinium ex eventu, das Vergil auf eine neue Stufe erhebt, cf. Heinze 41957, 394–396; Louden 2009 (der von „retrospective prophecy“ spricht); O’Hara 1990, 128 f. Dumézil 1970, 497–504, geht der Frage nach, wann das römische Konzept des fatum entstanden sein könnte. Zur umstrittenen Frage, in welchem Verhältnis Jupiter zum fatum steht, cf. Bailey 1935, 204–240, bes. 220–234; Heinze 41957, 293–299; Boyancé 1963, 39–57, bes. 47–57; die Bibliographie bei Wlosok 1967, 30 Anm. 22; Wilson 1979; Lyne 1987, 71–75; Feeney 1991, 139 f., 154–155. Franke 2005 untersucht das Verhältnis von Geschichte, Gegenwart und Prophezeiung aus der Perspektive von Heideggers Konzeption von Zeit, cf. auch Franke 2014. Zur Bedeutung des fatum für die aitiologische Dimension der Aeneis cf. Walter. 37 Zu dieser Prophezeiung cf. Wlosok 1967, 60–73; Stahl 1969, 353–357; Kühn 1971, 19–27; Block 1981, 112; Williams 1983, 138–142; Lyne 1987, 72–74; O’Hara 1990, 128–163; Feeney 1991, 138–141; Jenkyns 1998, 393–396; Hejduk 2009, 282–292. 38 Cf. Mora 1999. 39 Conington/Nettleship 41884, ad loc.; cf. Feeney 1991, 140.

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bezog. Zugleich waren damit, zumindest in Form des gesprochenen fatum, das römische Reich und seine Merkmale, darunter die römische Zeitordnung, bereits ‚in der Welt‘, seit sie zum ersten Mal vom obersten Gott verkündet wurden. Sie stellen nicht primär das Produkt einer kontingenten historischen Entwicklung dar, sondern sind Teil des Wechselspiels von historischem Verlauf der Zeit und dem Götter- oder Schicksalswort. In dieser Konstruktion von Zeit – und das heißt, im Kontext der Aeneis, von römischer Zeit – nimmt der Verlauf der geschichtlichen Zeit auf Erden eine besondere Position ein. Die Zeit der römischen Geschichte ist umgeben von den zwei zentralen Polen des fatum: von der ersten Äußerung dieses fatum in einer fernen Vergangenheit und von seiner Erfüllung in der augusteischen Gegenwart. Wo das fatum den grundlegenden Kurs der Ereignisse vorgibt, ist die historische Zeit in ihrem linearen Voranschreiten eine ‚Zwischenzeit‘, die vor allem die Funktion hat, von der ersten Äußerung des fatum zu seiner Erfüllung unter Augustus zu führen. Das fatum muss sich erfüllen, auch wenn beispielsweise Juno diesen Moment deutlich hinauszögern kann. Das Konzept des fatum könnte ohne die historische Zeit nicht existieren. Der lineare Verlauf dieser Zeit trennt die erste Verkündung des fatum von seiner Erfüllung, aber sie führt zugleich auch von einem zum anderen hin. Hieraus wird auch verständlich, warum Jupiter in seiner Prophezeiung auf ein ‚Ende der Zeit‘ vorausblickt: auf ein imperium sine fine, ein Reich ohne Grenzen und Ende, für das in seiner ewigen Dauer die Zeit stillzustehen scheint. Vom Gesichtspunkt des fatum her lässt sich die Bedeutung dieser Zeitkonstruktion erkennen. Damit das fatum eine bedeutungsvolle Kategorie ist, muss der Moment seiner Erfüllung aus dem ununterbrochenen Strom der Zeit herausgehoben werden. Ein starker Endpunkt im Verlauf der historischen Zeit ist notwendig. Nur so kann sich der Kreis schließen, der mit der ersten Verkündung des fatum eröffnet wurde. Hieraus ergibt sich auch ein sehr besonderes Verhältnis von göttlicher und menschlicher Zeit. Jupiter beschreibt das römische imperium, dem keine Grenze und kein Ende gesetzt und dessen Zukunft eine Zeit der Gerechtigkeit und des Friedens sei (1,278–296). In dieser Darstellung kommt das römische imperium einer göttlichen Dimension der Zeit sehr nahe. Die Verflechtung von menschlicher und göttlicher Zeit zeigt sich auch in der Rolle, die die Vergöttlichung von Sterblichen in der römischen Geschichte spielt. Zentrale Akteure der römischen Geschichte, wie etwa Aeneas, stammen von den Göttern ab und sind dazu ausersehen, nach ihrem Tod zu Göttern zu werden. Venus fasst diese Tatsache zusammen, wenn sie Jupiter gegenüber von Aeneas und sich selbst als „wir, deine Nachkommenschaft, der du die Burg des Himmels gewährst“ bezeichnet (nos, tua progenies, caeli quibus adnuis arcem, 1,250). Jupiter versichert ihr, dass sie Aeneas in den Himmel erheben werde, so wie er auch Caesar, beladen mit der Beute des Orients, in den Olymp aufnehmen werde (1,289 f.). Besonders deutlich wird diese Beziehung der Menschen zu den Göttern, wenn Apoll Aeneas’ Sohn Ascanius im neunten Buch als „von den Göttern geboren und dazu ausersehen, Götter hervorzubringen“ bezeichnet (dis genite et geniture deos, 9,642).

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Die römische Zeit bewegt sich damit nicht nur zwischen den beiden Polen der Verkündung des fatum und seiner Erfüllung, sondern auch zwischen zwei ‚Generationen‘ von Göttern: den alten olympischen Göttern und den neuen Göttern, einstigen Menschen, die zu Familien göttlicher Abstammung gehören und selbst zu Göttern werden. Der Prophezeiung Jupiters zufolge ist somit die menschliche Zeit nicht autonom in ihrem Voranströmen, sondern eng mit der Sphäre der Götter verflochten. ZUSAMMENFASSUNG Der Anachronismus, der sich in Aeneas’ Verkündung des Jahrestages widerspiegelt, hat eine wichtige Funktion in der Konstruktion von Zeit in der Aeneis. Bereits Ovid macht implizit sowohl auf den Anachronismus als auch auf seine ideologische Funktion für die Konstruktion des Bildes des römischen Gründungsheldens Aeneas aufmerksam. Wie sich im Vergleich mit Apollonios Rhodios zeigt, fügt sich dieser Anachronismus ein in eine Erzählung, in der, stärker als im Argonautenepos, das Wissen über die römische Gegenwart dem Leser Orientierung vermittelt. Dieser Prozess ist wiederum eingebettet in die überragende Macht des fatum. Anfang und Erfüllung der römischen Geschichte sind dieser Vorstellung gemäß so eng aufeinander bezogen, dass nicht nur die Gegenwart aus der Vergangenheit hervorgeht, sondern die Vergangenheit bereits unbewusst das lebt, was erst später Realität werden wird, doch was in Form des gesprochenen Wortes des fatum bereits in der Welt ist. Der im Text vorliegende Anachronismus liefert einen Beleg für den göttlichen Charakter der römischen Geschichte. Die Zeit selbst – das Element, das die Menschen am deutlichsten von den ‚zeitlosen‘, ewigen Göttern unterscheidet – wird zum Sitz der besonderen Nähe Roms zur Sphäre der Götter. BIBLIOGRAPHIE Bailey, Cyril (1935): Religion in Vergil, Oxford. Barchiesi, Alessandro (1997): The poet and the prince. Ovid and Augustan discourse, Berkeley. Barchiesi, Alessandro (2006): Mobilità e religione nell’ Eneide. Diaspora, culto, spazio, identità locali. In: Elm von der Osten, Dorothee / Rüpke, Jörg / Waldner, Katharina (Hgg.): Texte als Medium und Reflexion von Religion im römischen Reich, Stuttgart, 13–30. Bartelink, Gerhardus (1965): Etymologisering bij Vergilius, Mededelingen d. kon. Nederl. Akad. van Wetensch. Afd. Letterk. 28.3. Bickermann, Elias J. (21980): Chronology of the Ancient World, London. Binder, Gerhard (1971): Aeneas und Augustus. Interpretationen zum 8. Buch der Aeneis, Meisenheim am Glan. Binder, Edith / Binder, Gerhard (2012): Vergil. Aeneis. Lateinisch/Deutsch, Stuttgart. Block, Elizabeth (1981): The Effects of Divine Manifestations on the Reader’s Perspective in Vergil’s „Aeneid“, New York. Bömer, Franz (1958): P. Ovidius Naso. Die Fasten. Band II. Kommentar, Heidelberg.

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VERFREMDUNGSEFFEKTE

UNZEITIGE GEGENWART – DER ANACHRONISMUS IN OVIDS „METAMORPHOSEN“ Philipp Geitner (Dresden) Wenn im Zuge dieses Sammelbandes ein facettenreiches Bild über die Formen und Funktionen von Anachronismen gegeben werden soll, scheinen insbesondere Ovids „Metamorphosen“ hilfreiche Denkanstöße geben zu können. Denn nicht nur die Dichtung selbst mit all ihren zeitlichen Bruchstellen und Überlappungen bietet ausreichend Stoff für eine detaillierte Studie,1 auch der Wandel, der sich in der OvidForschung in den letzten Jahrzehnten vollzogen und zu einer weitaus wohlwollenderen Beurteilung insbesondere der stilistischen Eigenheiten in dessen Œuvre geführt hat,2 erinnert daran, dass scheinbar unumstößliche Wahrheiten dennoch auch immer aus ihrer Zeit heraus entstanden sind und zu späteren Zeiten gar selbst als anachronistisch erscheinen können. So soll in diesem Beitrag gezeigt werden, dass der Anachronismus nicht ein das harmonische Ganze störendes Element ist, dem etwas Fehlerhaftes anhaftet,3 sondern eine eigene ästhetische Qualität aufweist. Dazu wird an einer Episode exemplarisch aufgezeigt, wie in den „Metamorphosen“ Zeiten – in Anlehnung an den Tagungstitel – „übereinander montiert“ sind und wie dies in den Kontext sowohl der einzelnen Episode als auch des ganzen Epos einzuordnen ist. 1. KONTINUITÄT UND ZEITORDNUNG Im 15. und letzten Buch der „Metamorphosen“ kommt Pythagoras im Zuge seines Lehrvortrages auch auf das Wesen der Zeit zu sprechen: ipsa quoque adsiduo labuntur tempora motu, non secus ut flumen. neque enim consistere flumen nec leuis hora potest, sed ut unda impellitur unda urgeturque prior ueniente urgetque priorem,

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Wichtige Untersuchungen und Einzelbeobachtungen dazu finden sich u. a. bei von Albrecht 1981; von Albrecht 2008; Ebert 1888; Solodow 1988; Wheeler 1999. Cf. Janka 2007, 4 f., 10–13; Cole 2008, 153 f. So zuletzt Cole 2008, 56.

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Philipp Geitner tempora sic fugiunt pariter pariterque sequuntur et noua sunt semper.4 Ov. met., 15,179–84a

In dieser äußerst ambitionierten dichterischen Ausgestaltung und mittels der sowohl thematischen als auch formal-lexikalischen Anspielung an die Gedanken des Heraklit und Lukrez wird sehr eindringlich ein Bild vermittelt, nach dem die Zeit ein immerwährender Fluss ist, der selbst einem beständigen Wandel unterworfen ist:5 In der Kontinuität (adsiduo motu 179) des Flusses wird durch ein Forttreiben (impellitur 181), Drängen und Bedrängtwerden des jeweils Vorherigen (urgeturque, urgetque 182) und Fliehen der einen und Folgen der anderen Zeit (fugiunt, sequuntur 183) ununterbrochen (pariter pariterque 183) etwas Neues geschaffen. Diese Vorstellung von einer kontinuierlichen, vorwärtsstrebenden Zeitbewegung lässt sich nun nicht nur als Teil des kosmischen Rundgangs verstehen, den Ovid am Ende seines Werkes in der Maske des Pythagoras vollführt und als Parallele zur Kosmogonie im ersten Buch platziert, sondern zugleich, wie so oft bei diesem Dichter, als ein selbstreferentielles Wiederaufgreifen der poetischen Programmatik. Dieser Eindruck stellt sich gerade durch die lexikalischen Überschneidungen zum Proöm ein: In beiden Stellen ist von tempora (met., 1,4 und 15,179/183), Beständigkeit (perpetuum met., 1,4 und adsiduo, 15,179)6 und etwas Neuem noua (met., 1,1 und 15,184) die Rede. Wird eingangs ein Gedicht angekündigt, das sich zusammenhängend vom Ursprung der Welt bis zur Gegenwart des Erzählers erstrecken wird, ist der Gedanke am Ende wieder aufgegriffen und in einem größeren Zusammenhang verortet: Wie der Kosmos selbst, so scheint es, ist das Gedicht in seiner Struktur von dem steten, chronologisch in eine Richtung ablaufenden Gang der Zeit geprägt.7 Ein ganz gegenläufiges Bild zeigt sich aber, wenn im Erzählverlauf die zeitliche Orientierung fortwährend als trügerisch und unverlässlich erscheint.8 Grund dafür ist sicher nicht das singuläre Opponieren durch ein oder mehrere Elemente ge-

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„Auch die Zeiten selbst gleiten in beständiger Bewegung dahin, nicht anders als ein Fluss. Weder nämlich vermag es ein Fluss, einzuhalten, noch die flüchtige Stunde. Sondern wie eine Woge von einer anderen Woge angetrieben wird – die vorangehende wird von der nachfolgenden bedrängt und bedrängt selbst die vorangehende – so fliehen die Zeiten auf gleiche Weise, wie sie nachfolgen, und sind stets etwas Neues.“ Cf. dazu Hardie 2015, ad loc. Dass adsiduus statt perpetuus in met., 15,179 verwendet wird, ist nach Bömer 1986, ad loc., metrisch begründet oder, wie Hardie 2015, ad loc., anmerkt, zusammen mit labuntur eine Vorwegnahme des Flussgleichnisses. Wie es auch immer wieder als Strukturprinzip der „Metamorphosen“ vorausgesetzt bzw. behauptet wird. So heißt es beispielsweise schon bei Haupt/Ehwald/von Albrecht 111969, 9: „Er [sc. Ovid] reiht, durch kleine Widersprüche und Anachronismen mit Recht ungestört, seine Erzählungen zu einem chronologischen Faden auf“; so auch Cole 2008. Cf. Schiesaro 2002, 67 f.

Unzeitige Gegenwart – Der Anachronismus in Ovids „Metamorphosen“

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gen diesen scheinbar harmonischen Zeitfluss, sondern ein sich bei der Rezeption darbietender Gesamteindruck.9 Daher tragen auch Verfahren, die von der chronologischen Schilderung des Stoffes abweichen, aber die handlungsimmanente Zeitordnung unberührt lassen, zu diesem Bild bei.10 Pro- und Analepsen, die hierzu zu zählen sind, gehören zweifelsohne seit Homer zum Basisinventar epischen Erzählens und leisten durch den expliziten Verweis auf ein Früher oder Später eine Konsolidierung der jeweiligen Handlungsgegenwart.11 Allerdings können diese Anachronien12 – besonders die Referenzen in die extradiegetische Gegenwart des Erzählers – in umgekehrter Weise den Schwerpunkt aus dem Geschehenszusammenhang verlegen und damit einen späteren Zustand in seiner Gültigkeit bestärken. Das gilt insbesondere für Aitiologien,13 bei denen durch Formulierungen wie etiamnum oder nunc quoque die Kontinuität von mythischem Erzählzusammenhang bis zur Rezipienten-Welt kausal verknüpft wird. Diese bis jetzt genannten Bezüge von der einen Diegese in die andere sind von den jeweiligen Erzählern markiert und formal nicht weiter problematisch. Ganz anders stellt es sich dar bei dem Überlappen zweier Zeiten und ihrer kulturellen Prägung, häufig als Anachronismen bezeichnet und als Verstoß gegen bestehende Zeitnormen aufgefasst.14 Weit passender scheint aber der Begriff „Zeitmontagen“ zur Beschreibung des Anachronismus in Ovids „Metamorphosen“ zu sein, insofern als daran die zwei zentralen, im Folgenden zu betrachtenden Problemfelder illustriert werden können. Zum einen ist damit die Vorstellung verbunden, dass es möglich ist, die zeitliche Ordnung – sei es die in der erzählten Welt selbst, sei es zwischen verschiedenen Erzählebenen – freier auszugestalten, indem man Montagen vornimmt. Freilich ist auch dies trotz der Fiktionalität des Textes, wonach das Erzählte – nach Aristoteles – nicht das, was ist oder war, sondern dessen Möglichkeit zum Gegenstand hat,15 an bestimmte Prämissen gebunden.16 Zum anderen impliziert der Begriff, dass das zeitliche Arrangement als ein Produkt absichtsvollen Handelns nicht irrtümlich oder zufällig zustande gekommen 9

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Ganz treffend ist dies zusammengefasst bei Otis 21970, 373: „In one sense the poem is chronological, a progression from aboriginal chaos to the poet’s own times (mea tempora) […]. But in reality all this is a shifting illusion: change is the only constant and the change is down as well as up, pejorative as well ameliorative, a thoroughly and everlasting cyclical phenomenon.“ Zur Terminologie cf. de Jong 2009, 88. Indem Berichte über Vergangenes der Handlungsgegenwart größere Bedeutung verleihen oder vice versa deren Nachwirken in der Zukunft durch Prophezeiungen, Attribuierungen etc. betont wird. Verstanden als das Hyperonym für die von einem konstitutiven Erzählstrang ausgehenden und kenntlich gemachten Vor- und Rückverweise. Nicht zu verwechseln mit „Anachronismus“. Cf. Genette 32010, 18 f. Cf. dazu den Beitrag von Anke Walter in diesem Band. Eine umfangreiche historische und typologische Übersicht bietet Petit 2002, 31–47. Cf. Aristot. poet., 1451a36–38. So nennt Aristoteles in der obigen Stelle die Möglichkeit (τὰ δυνατά), gemessen an ihrer Plausibilität (κατὰ τὸ εἰκὸς ἢ τὸ ἀναγκαῖον). Zur weiteren Diskussion cf. Kloss 2003.

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ist – was freilich nicht ausschließt, dass es auch Beispiele solcher unabsichtlichen Anachronismen gibt.17 Insbesondere die jüngere Forschung zu Ovid konnte herausstellen, dass scheinbare Mängel und Widersprüche in den „Metamorphosen“, die ja in nahezu jeder größeren Episode auftauchen und wozu ich auch den Anachronismus zählen möchte, keineswegs vereinzelte Störungen sind und durchaus aus dem Werk heraus erklärt werden können. Notwendigerweise ist dann, wenn der Anachronismus auf eine Absicht blicken lässt, dessen genaue Ausprägung und Bedeutung näher in Augenschein zu nehmen, was im Folgenden – angesichts der Vielfalt und starken Kontextgebundenheit der Phänomene – exemplarisch geschehen soll. 2. ZEIT UND ZEITGEBUNDENHEIT Kehren wir zunächst kurz zum Proöm zurück und betrachten noch einmal jenen Zeitrahmen bzw. dessen Ende ad mea tempora. Ungeachtet der hier nicht zu leistenden Deutung aller Implikationen18 ist das Possessivpronomen mea bemerkenswert, da darin über die bloße zeitliche Verortung hinaus ein Anspruch auf Eigenständigkeit und in gewissem Sinne auch Freiheit angedeutet wird.19 So ist es nicht die Zeit des Augustus – im Gegensatz zu den „Tristien“, wo Ovid kontrastiv von tua tempora gegenüber Augustus spricht –; ebenso wenig ist es die durch kanonische Messpunkte – historische Daten wie etwa die Gründung Roms oder die Eroberung von Sardeis – festgelegte Zeit, die durch ihren normierenden Charakter ebenso Ausdruck eines Machtverhältnisses sind.20 So können mea tempora mehr als eine bloße Zeitbestimmung zum Ausdruck bringen,21 nämlich eine programmatischen Aussage, dass diese Zeit nicht einfach mit der augusteischen Zeit gleichgesetzt werden kann, wodurch sie reines „Datum“ wäre.22 Diese Zeit ist damit in erster Linie dadurch gekennzeichnet, dass sie der Sicht des Erzählers bzw., vereinfachend gesprochen, der Sicht Ovids entspricht und damit einem dichterischen Gestaltungswillen unterworfen ist.23 Das heißt freilich nicht, dass Zeitverhältnisse beliebig sind und wahllos, d. h. ohne chronologischen Zusammenhang, zusammengefügt werden können, sondern dass gerade in der da17 Was, wenngleich dies auch für die „Metamorphosen“ geäußert wird (u. a. Cole 2004, 410), m. E. angesichts der Fülle an „Verstößen“ mehr als zweifelhaft scheint. 18 Cf. dazu mit weiteren Verweisen Barchiesi 42013, ad loc. 19 Cf. Feeney 1999, 14. 20 Ein vergleichender Blick zu Vergil oder Horaz in diesem Lichte ist aufschlussreich, führt an dieser Stelle aber zu weit. Cf. dazu Feeney 1999, 25 f. Zu Ovids ganz eigenem Rombild cf. von Albrecht 2008, 228 f. 21 Neben dem intertextuellen Konnex zu den Fasti, auf den Barchiesi 1989 hinweist. 22 Für Barchiesi 42013, ad loc., besteht gerade in der fehlenden Caesar-Referenz die Besonderheit des Proöms gegenüber anderen Epen der Kaiserzeit. 23 Zur Repräsentation faktischer Objekte in fiktionalen Kontexten, insbesondere auch der „Metamorphosen“ cf. Kirstein 2015.

Unzeitige Gegenwart – Der Anachronismus in Ovids „Metamorphosen“

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von abweichenden Darstellung ein semantisches Potential liegt.24 Vielmehr ist es gerade die Chronologie, die extern vorausgesetzte Zeit, die erst einmal gegeben sein muss, um überhaupt die Möglichkeit für das Profilieren eines individuellen Zeitverständnisses zu haben.25 Aber trotz einer solch individuellen Zeitauffassung kann es weiterhin keinen Zweifel daran geben, dass die „Metamorphosen“ als Gedicht selbst in einem Geflecht an Traditionslinien stehen, die sich gewissermaßen außerhalb des Erzählzusammenhangs, also in der extradiegetischen Welt befinden: angefangen bei der spezifischen sprachlichen und metrischen Gebundenheit, über die gattungs- und literaturgeschichtliche Bedingtheit bis hin zu der engen zeitgeschichtlichen Verwobenheit26 – das Individuelle, d. h. das von äußeren Einflüssen Unabhängige bzw. sich davon Absetzende tritt als solches auf Grundlage dieser Determination hervor, nicht losgelöst von dieser. Die intradiegetische Welt, also die Welt der Erzählung, ist allein schon dadurch in ein Spannungsverhältnis zum Standpunkt des Erzählers gesetzt, dass dieser, der selbst gewissermaßen Repräsentant seiner Zeit ist, ausgehend von seinem MehrWissen einen mythischen und – im antiken Verständnis – historischen Zustand der Welt beschreibt. Gleichermaßen ist zu berücksichtigen, dass auch die in der Erzählung dargestellte Welt auf eine Wirklichkeit verweist, die einen gewissen kulturellen Entwicklungsstand in ihrer inneren Logik voraussetzt oder auch ausschließt – das Athen eines Theseus ist beispielsweise ein anderes als das eines Solon. Dies erweitert also die Überschneidungsmöglichkeiten zwischen extra- und intradiegetischer Realität hin zu verschiedenen Entwicklungsstadien innerhalb dieser, sofern diese durch eindeutige Merkmale festlegbar sind. 3. DIE BESCHREIBUNG ATHENS Betrachten wir dies genauer und bleiben dazu gleich bei Athen. Die Stadt ist die erste in den „Metamorphosen“, die ausführlicher beschrieben wird:27

24 Cf. u. a. Wheeler 2002, 183 f.; Feeney 1999, 29; dem entgegengesetzt Cole 2008, 9 f. 25 Cf. dazu Feeney 1999, 29 f. Ebenso Schiesaro 2002, 68. Ganz treffend: Habinek 2002, 54 (Anm. 18): „Ovidian individuality depends upon a political scenario in which the cultural Other is always conveniently Past.“ 26 Neben den vielen anderen Einflüssen sei hier nur auf die wichtige Stellung des Politischen im römischen Epos verwiesen; cf. Boyle 1993, 2 f.; ganz allgemein zur Tradition cf. von Albrecht 3 2012, 11 f. 27 Abgesehen davon, dass bereits im ersten Buch der Olymp als der Palatin des Himmels dargestellt wird (met., 1,168–176).

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3.1 Merkurs Blick auf die Stadt Hinc se sustulerat paribus Caducifer alis Munychiosque uolans agros gratamque Mineruae despectabat humum cultique arbusta Lycei. illa forte die castae de more puellae uertice supposito festas in Pallados arces pura coronatis portabant sacra canistris.28

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Ov. met., 2,708–13

Nachdem Merkur den Hirten Battus zu Stein hatte werden lassen und sich von dort – gemeint ist der Westen der Peloponnes29– aufgeschwungen hatte (sustulerat) blickt er während des Fluges auf eine Landschaft hinab (despectabat),30 die mit eindeutigen Charakteristika versehen ist: Die Munychii agri verweisen auf den am Piräus gelegenen Hügel Munychia, gratamque Minervae humum auf das unter der Patronage Minervas stehende Land31 und zuletzt die culti arbusta Lycei auf jenen Hain des Apollon Lykeios im Nordosten der Akropolis. Wie es der Zufall will (illa forte die), findet dort gerade ein Fest statt, das durch seinen Zug auf die Akropolis und durch Nennung der Kanephoren als Panathenäenfest gekennzeichnet ist.32 Das Lyceum, sowohl Hain als auch Gymnasion, das seine Berühmtheit erst durch den Aufenthalt und das Walten von Philosophen ab dem fünften vorchristlichen Jahrhundert erlangt, wird hier bereits in der mythischen Frühzeit Athens wortwörtlich „gesehen“. Mag man die Existenz dieses Ortes auch für frühere Zeiten vorauszusetzen haben33 – so wie dies bei nahezu jeder Topographie in einem Epos mit mythologischer Szenerie der Fall ist –, sowohl das Attribut culti, das gerade das Menschengemachte, ja Kultivierte betont,34 als auch der Umstand, dass das Lyceum

28 „Von dort hatte sich der Stabträger mit gepaarten Flügeln aufgeschwungen und blickte im Flug auf das Gebiet um Munychia, auf das von Minerva geschätzte Land und auf den Hain des kultivierten Lykeions. Es traf sich, dass an jenem Tag züchtige Mädchen, wie es der Sitte entsprach, zur festlich gestimmten Burg der Pallas reine Opfergaben trugen, in umkränzten Körben gestützt auf ihren Köpfen.“ 29 Cf. met., 2,684: Pylios […] in agros. 30 Despectare wird laut Bömer in den „Metamorphosen“ nur proprie verwendet; hier als eine intern fokalisierte Ekphrasis loci, verdeutlicht durch den Tempuswechsel bei despectabat und dem nachfolgenden aspicit (714). 31 Die Geschichte dazu „erzählt“ Athene selbst im Wettstreit mit Arachne (met., 6,70–82). 32 Cf. Bömer 1969, ad loc. 33 Dennoch gilt laut Theopomp Peisistratos, laut Philochoros Perikles als Gründer des Gymnasiums, die beide zeitlich weit entfernt sind von dem Geschehen in der vorliegenden Episode; cf. Kroll 1927, Sp. 2267 f. Gleiches gilt für den Hain, als dessen Stifter der Pandionide Lykos überliefert ist; cf. Kruse 1927, Sp. 2268–70. 34 Wie auch Bömer/Schmitzer 2006, ad loc., betont. Aus diesem Grunde scheint das überaus schwer zu übersetzende culti wohl am besten mit ‚kultiviert‘ wiedergegeben, wenngleich darin der schillernde Bezug auf Lycei sowie in Enallage auf arbusta nicht ausgedrückt werden kann, ebenso wenig wie die Polysemie bei culti überhaupt.

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einzig hier in der gesamten augusteischen Dichtung namentlich genannt ist,35 bewirken eine Imagination genau jenes Ortes, der wie wenig andere für die kulturelle Blüte Athens steht.36 Damit ist zwar nicht gesagt, dass Merkur die Philosophen im Peripatos umherwandeln sieht,37 die alleinige Nennung aber ist aufgrund ihrer eben erwähnten Merkmale explizit genug, um die Assoziation mit dem Peripatos herzustellen und die große Zukunft des Ortes vorwegzunehmen.38 Gestützt wird dies dadurch, dass Ovid hier auf eine Stelle aus der Hekale des Kallimachos zurückgreift.39 Bereits dort nämlich gibt es den anachronistischen Verweis – die Geschichte handelt zur Zeit des Theseus – zum Gymnasion Λυκείου … κατὰ δρόμον Ἀπόλλωνος,40 der dann bei Ovid durch den Zusatz von culti und das Weglassen des Gottes in seinem Sinn verstärkt wird.41 Festzuhalten ist zunächst, dass es gemäß der diegetischen Handlungslogik – wir befinden uns noch immer in der Zeit des Erichthonius – an diesem Ort keine Philosophenschule geben dürfte und der Verweis darauf mit dem Wissen aus der extradiegetischen Welt stattfinden muss. Die nach Genette zwar bewegliche, aber heilige Grenze zwischen den zwei Welten und ihrem Wissen ist überschritten.42 Das Gleiche, wenn auch weniger deutlich, ist der Fall bei den Munychiosque agros (708): Der Hügel Munychia – agros ist mit Bömer rein topisch aufzufassen –43 als scheinbar bloßes Detail in der Umgebung von Athen steht wie das Lyceum im Zusammenhang mit einer Eigenschaft, die er erst in weit entfernter Zukunft erhält – durch die Nutzung als strategisch wichtigen Hafen mitsamt Kastell zur Kontrolle der Hafenanlagen des Piräus und der attischen Ebene.44 Wiederum singulär in der augusteischen Dichtung verleiht es gemeinsam mit dem Lyceum dem Bild der attischen Landschaft – als Rahmung um gratamque Mineruae … humum (709 f.) – einen unzeitgemäßen Anstrich, der schwer zu ignorieren ist.45 Damit aber nicht genug: Von dieser anfangs überblickshaften Perspektive, die vom Hafen bis zum nordöstlichen Stadtrand reicht, verengt sich der Blick auf die Gegend um die Akropolis, wo der detailliert beschriebene Festzug stattfindet (711– 35 Cf. Bömer 1969, ad loc. 36 Verstärkt wird dieser Effekt noch dadurch, dass in früheren Episoden im zweiten Buch der „Metamorphosen“, die in Bezug zur Gründungsgeschichte Athens standen, jegliche topographischen Merkmale abwesend waren, ja vermieden wurden. 37 Zur Explizitheit des Anachronismus s. u. Kapitel 4. 38 Oder wie es Wilkinson 1955, 167, formuliert: „a pun on its future as the seat of Aristotle’s school“. Cf. auch Solodow 1988, 79. 39 Zu weiteren Verflechtung des zweiten „Metamorphosen“-Buches und Kallimachos cf. Bömer 1969, 371, ebenso Gildenhardt/Zissos 2004. 40 Hec. Fr. 71,2–3; cf. dazu auch den Kommentar bei Hollis 1990, 239. 41 Cf. Barchiesi 42013, ad loc. 42 Genette 32010, 155. 43 Cf. Bömer 1969, ad loc. 44 Cf. Kruse 1933, Sp. 566 f. 45 Es greift m. E. daher zu kurz, diese Details als Zeichen der Evolution Athens von seinen schlangenhaft-autochthonen Ursprüngen zur Zivilisation zu deuten (cf. Cole 2008, 33 f.). Dies käme eher einem Quantensprung gleich.

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13). Wie auch bei den eben vorgestellten Anachronismen erzwingt es diese scheinbar gewöhnliche Szenerie geradezu, an ein Zeremoniell zu denken, das in dieser Gestalt weniger der mythischen Gründungszeit Athens, als vielmehr eben jener späteren Blütezeit entstammt. Der zunächst naheliegende Einwand, dass die beschriebenen Elemente der Pompe durchaus formelhaft sind – Jungfrauen, die in Körben Weihegaben auf eine der Athene geweihten Akropolis tragen46 – und damit in ihrer Allgemeinheit nicht festlegbar wären, ist durch die eindeutige Verortung des Geschehens entkräftet, da der Zug auf die Akropolis von Athen (festas in Pallados arces 712) führt und Charakteristikum der Panathenäen ist.47 Indem der Bezug zu den Panathenäen lediglich durch die Summe der einzelnen Eigenschaften zu Tage tritt, gelingt es einerseits, die Imagination deutlich genug hervortreten zu lassen, anderseits aber auch, die letztgültige, d. i. namentliche Festlegung zu vermeiden. So kann sich der bereits an Lyceum und Munychia aufgekommene Eindruck einer zeitlichen Überblendung fortsetzen und in der im Glanze des Festes stehenden Stadt gesteigert werden. 3.2 Das Fest und sein Gründer Neben diesen Überschneidungen, die vornehmlich zwischen der extradiegetischen und intradiegetischen Ebene bestehen,48 enthält die Beschreibung dieser Festlichkeiten einen Widerspruch zu der zugrundeliegenden Geschehensabfolge in dieser Passage. Denn vom mythischen Stifter des Festes, Erichthonius,49 und von den Teilnehmerinnen des Festzugs, den Töchtern des Königs Kekrops, Pandrosos, Herse und Aglauros, wird bereits in einer früheren Episode erzählt: nam tempore quodam Pallas Ericthonium, prolem sine matre creatam, clauserat Actaeo texta de uimine cista 46 Parallelstellen bei Bömer 1969, ad loc., und Barchiesi 42013, ad loc. 47 Cf. dazu Bömer 1969, ad loc.; für den Festzug cf. Bömer 1952, Sp. 1928; Ziehen 1949, Sp. 469 f. Unerheblich ist für die „Metamorphosen“-Stelle, ob nun die großen, alle vier Jahre stattfindenden Panathenäen gemeint sind oder die kleinen, jährlichen Feierlichkeiten, weil die Opferhandlungen und die dafür notwendige Pompe jedes Jahr stattfanden (cf. Ziehen 1949, Sp. 486). Dass es sich aber dennoch um das große, erstgenannte Fest handeln dürfte, wird an einer späteren Stelle noch deutlicher ersichtlich (s. u. 3.3). 48 Unter streng chronologischen Gesichtspunkten ist dieses Überlappen freilich wie jeglicher andere Anachronismus in einem Werk, das vom Ursprung der Welt bis zur Gegenwart des Erzählers reicht, auch intradiegetisch interpretierbar (s. o. Kap. 2). Das hat aber u. a. den Nachteil, dass es im positivistischen Sinne der Notwendigkeit bedarf, dieses Früher und Später in der Erzählung vorzufinden, ohne auf Implikationen und eine im Text nicht gegebene historische Rekonstruktion angewiesen zu sein. 49 Laut Barchiesi 42013, ad loc., ist Erichthonius in der maßgeblichen Mythentradition der Kultstifter. Daneben werden auch Theseus oder beide genannt, cf. Ziehen 1949, 459. Mit Erichthonius als frühesten terminus post quem bleibt der Widerspruch auch für die andere Überlieferung des Mythos nach wie vor bestehen.

Unzeitige Gegenwart – Der Anachronismus in Ovids „Metamorphosen“ uirginibusque tribus gemino de Cecrope natis et legem dederat, sua ne secreta uiderent.50

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[555] Ov. met., 2,552a–56

Erichthonius wird hier als Kind (infans heißt es in Vers 561) der Obhut der Kekropiden anvertraut, deren Alter zwar nicht genannt ist, aber zumindest über das der frühen Kindheit hinausgehen dürfte, damit die Handlung selbst ausreichend motiviert ist. Weil aber die Teilnehmerinnen des Festzugs als castae de more puellae (711) bezeichnet werden und Herse später noch als uirginibus praestantior omnibus (724), kann zwischen der Episode von der Übergabe des Kindes an die Königstöchter und dem Blick von Merkur auf Athen nicht allzu Zeit verstrichen sein. Der mehrmalige explizite Hinweis auf die Jugend macht dies unmissverständlich deutlich.51 Erichthonius dagegen wird nur als das von Minerva übergebene Kind erwähnt, nicht als König und ebenso wenig als Kultstifter. Wie um dies zu verdeutlichen, greift Ovid nach jener Akropolis-Szene mehrfach die Begebenheiten um seine Kindheit auf: aspicit hunc oculis isdem quibus abdita nuper uiderat Aglauros flauae secreta Mineruae.52 Ov. met., 2,748 f.

Die über die Augen erfolgende Verknüpfung von Aglauros’ Vergehen in früherer Zeit mit dem frevelhaften Verhalten gegenüber Merkur im Hier und Jetzt – mit hunc (748) ist jener Gott gemeint – stellt zum einen die Schlechtigkeit der Königstochter heraus und motiviert deren später beschriebene Bestrafung; zum anderen rückt so aber auch die Geschichte um Erichthonius wieder ins Bewusstsein, unterstützt von identischen (secreta 749) bzw. ähnlichen Formulierungen (abdita 748 gegenüber texta 554). Dieser ist selbst vorerst zwar nur zu erahnen, das ändert sich aber kurz darauf, weil Athene die Szene beobachtet und so an den Wortbruch erinnert wird: subit hanc arcana profana [755] detexisse manu, tum cum sine matre creatam Lemnicolae stirpem contra data foedera uidit.53 Ov. met., 2,755a–57

50 „Denn einstmals hatte Pallas den Erichthonius, den ohne Mutter erzeugten Spross, in einen Korb, geflochten aus attischer Weide, eingeschlossen und den drei von Kekrops abstammenden Jungfrauen mit dem Gebot übergeben, das Verborgene nicht anzusehen.“ 51 Ein Voranschreiten der Handlung um etwa eine Generation, wie Cole 2008, 33, annimmt, widerspricht eindeutig der textimmanenten Logik. 52 „Diesen blickt Aglauros mit denselben Augen an, mit denen sie neulich das verhüllte Geheimnis der blonden Minerva angeblickt hatte.“ 53 „Da kam ihr wieder in den Sinn, dass diese damals doch mit entweihender Hand das Geheimnis entlüftet hatte, als sie gegen die getroffene Abmachung den ohne Mutter erzeugten Spross des auf Lemnos beheimateten Gottes betrachtet hatte.“

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Es scheint, als würde das frühere Geschehen in dieser internen Fokalisierung leicht abgewandelt zitiert werden – besonders die Wiederholung von sine matre creatam (756) legt das nahe. In dieser Ausführlichkeit wirkt es gar redundant, da der Zusammenhang zwischen Aglauros’ Handlungen eigentlich schon hergestellt ist. Eine Folge davon ist aber, dass Erichthonius nun wieder als das kleine Kind im Korbe wahrgenommen wird, wobei die zeitliche Verortung des Geschehens zudem wenig zur Orientierung beiträgt: Dem tempore quodam (552) aus dem ersten Bericht der Krähe steht ein nuper (748) und ein tum cum (756) des Primärerzählers gegenüber. So kann Erichthonius, der uns in den „Metamorphosen“ einzig als Baby begegnet,54 erst vor dem Mehr-Wissen des Rezipienten zu einem Feststifter werden, wie auch die Panathenäen selbst, wie gezeigt, erst in der Zusammenschau der Attribute für den Leser sich als die Panathenäen darbieten. Die Aussage Bömers, dass „über solche chronologischen Fragen der Dichter sich den Kopf nicht zerbrochen“ habe,55 wird der Problematik keineswegs gerecht, zumal damit der Anachronismus der Stelle insgesamt ungeklärt bleibt.56 Gerade der Umstand, dass die Stellung des Erichthonius auf ein Minimum reduziert ist – er steht in beiden Fällen nur in einem Ursacheverhältnis zur eigentlichen Handlung – lässt sich nicht einfach übersehen oder kann mit einem anders gelagerten Interesse Ovids abgetan werden. Ebenso liefert eine Deutung keine Lösung, in der das Alter der Kekropiden – trotz zweifachen Textbelegs, der Rezitation der ErichthoniusEpisode (s. o.) und trotz grundlegend anderer Mythenvarianten, nach der die Kekropiden weit vor den ersten Panathenäen zu Tode gekommen sind57 – der normativen Gebundenheit an die Atthidographie geopfert wird.58 Es darf weiterhin nicht übersehen werden, dass selbst für den Fall, dass Erichthonius problemlos als der Kultstifter angesehen wird, noch nicht gesagt ist, dass die Panathenäen sich zu genau dieser zeremoniellen Handlung schon ausdifferenziert haben, wie sie zur Glanzzeit Athens sich wohl dargeboten haben und wie sie ein Römer vermutlich als Panathenäen identifiziert hat.59 Was sich daher in nuce bei den Kekropiden und Erichthonius manifestiert, wiederholt sich, könnte man sagen, im größeren Zusammenhang an der Grenze der Erzählebenen, wo im mythischen Athen sehr unzeitgemäße Vorgänge stattfinden.

54 Mit Ausnahme einer späteren Stelle, in der der hier als Lemnicola bezeichnete Vulcanus um ein zweites Leben seines Sohnes bittet (met. 9,424). 55 Bömer 1969, ad loc. 56 Abgesehen davon ist eine Vernachlässigung der Chronologie nicht plausibel, unabhängig davon, wie man den Einfluss von Chroniken (Castor/Varro) auf Ovid wertet; dazu Cameron 2004, 276; ebenso Cole 2004. 57 Z. B. in Euripides’ Ion; cf. dazu Gildenhard/Zissos 2004, 65 (Anm. 66). 58 So u. a. Otis 1970, 47; Cole 2008, 33 f. (Anm. 51). Zu Ovids Traditionsbewusstsein im Allgemeinen ganz treffend Effe 2004, 52: „An einer Vielzahl von Stellen läßt der Erzähler seine aufgeklärte Reserve gegenüber der Tradition erkennen.“ 59 Daran, dass hier die Panathenäen dargestellt sind, besteht auch für Cole kein Zweifel; cf. Cole 2008, 33.

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Denn wie auch immer versucht wird, den Widerspruch zu harmonisieren, der Effekt ist nichtsdestoweniger der, dass die zeitliche Überschneidung eben ohne aufwändige Geistesanstrengung, beinahe intuitiv präsent ist und zu einer Deutung herausfordert. Hinzu kommt, dass der Anachronismus exakt in der Leerstelle steht, die beide Konstituenten durch ihre lediglich allusive, nicht definitive Beschreibung zulassen: Wie bereits erwähnt, sieht Merkur ein Ritual mit den Attributen der Panathenäen, das aber nicht als solches bezeichnet wird; parallel dazu wird Erichthonius namentlich erwähnt, seine Beziehung zu dem Geschehen in Athen aber völlig verschwiegen. In diesem Graubereich, den der Rezipient mühelos mit seinem Wissen auffüllt, stoßen die beiden Zeitebenen aneinander, jedoch gleichsam mit unscharfen Konturen.60 Damit ist dieses den Gang der Handlung ohnehin nicht vorantreibende Detail gerade so sichtbar, dass es auffällt, aber die Illusion nicht vollends stört. Mehr noch, es fügt sich auf diese Weise sehr gut in diesen unzeitgemäßen Anblick Athens, der sich weder auf eine klar frühmythische noch eine klar historische Zeitebene festlegen lassen will. 3.3 Merkur, der Milan Greift man den Faden der Erzählung wieder auf und kehrt auf die Akropolis zurück, besteht eigentlich gar keine Gelegenheit, sich die genaue zeitliche Zuordnung der einzelnen Details zu vergegenwärtigen: Denn nun setzt, signalisiert durch den Tempuswechsel (aspicit, agit, curvat 714 f., s. u.), die eigentliche Geschichte ein, die mit Merkurs Verlangen nach Herse beginnt. Interessant ist gleich, was im Anschluss an die Panathenäen erzählt wird: inde reuertentes deus aspicit ales iterque non agit in rectum, sed in orbem curuat eundem. [715] ut volucris uisis rapidissima miluus extis, dum timet et densi circumstant sacra ministry flectitur in gyrum nec longius audit abire spemque suam motis auidus circumuolat alis, sic super Actaeas agilis Cyllenius arces [720] inclinat cursus et easdem circinat auras.61 Ov. met., 2,714–21

60 Für dieses vorsichtige Verfahren, einen Synchronismus zu kaschieren bzw. abzumildern, gibt es in den „Metamorphosen“ eine illustre Parallelstelle, nämlich die bereits unter Ciceros Zeitgenossen bekannte Problematik, die die Begegnung Numas mit Pythagoras betrifft. Auch wenn die Attribute und der Kontext eindeutig auf Pythagoras weisen, spricht Ovid nur von einem vir Samius (met., 15,60) und relativiert die Aussagekraft mehrfach. Für weitere Details cf. Bömer 1986, ad loc. (i. e. 15,60). 61 „Der geflügelte Gott erblickt die von dort Zurückkehrenden und führt seine Bahn nicht geradewegs fort, sondern lenkt sie ein in einen Kreis; gleichwie ein überaus raubgieriger Milan, sobald er die Innereien gesehen hat, aber unterdessen noch furchtsam ist, weil Preiser die Opfer dicht umdrängen, in eine Kreisbewegung einlenkt, aber nicht allzu weit sich zu entfernen wagt und

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Flog Merkur bis dahin in gerader Richtung (in rectum 715), beginnt er beim Anblick der Kanephoren nun Kreise zu ziehen. Dies, das adjektische ales (714) und die einzig hier belegte Junktur in orbem curvare (715)62 bereiten das nachfolgende Gleichnis vor, das Ovid als eines von dreien verwendet, um die Situation ganz in epischer Manier, so scheint es, anschaulich vor Augen zu stellen.63 Ungeachtet der an sich ungewöhnlichen Bildsprache und der diskussionswürdigen Interaktion zwischen Gleichnis und Haupthandlung fällt auch das zeitliche Neben- bzw. Miteinander verschiedener Ebenen in der Erzählung auf. So stellen die Actaeae arces (720) nicht nur einen weiteren Bezug zu den Kekropstöchtern und Erichthonius her, wo von Actaeo uimine (2,554) die Rede war, sondern verweisen zugleich auf den alten Stadtnamen Athens Acte, von dem das Adjektiv abgeleitet ist; versbedingt wird es synonym zu Atticus gebraucht, wie in der letztgenannten Stelle.64 Mit dem Bezug zur Akropolis könnte aber Actaeus über die Anforderung der Metrik hinaus ein archaisches Moment aufblitzen lassen, das Athen in eine zeitliche Distanz zum Standpunkt des Erzählers setzt. Gesteigert würde dieser Eindruck dann durch circinare (721), womit das Kreisen Merkurs aus einer durch Wissenschaft und Technik geprägten Sichtweise geschildert wird und in einem einzigen Begriff wie in einem Brennpunkt das vorangegangene Gleichnis und die Ebenen des fernen Damals und des nahen Jetzt des Erzählers spiegelt:65 Das Objekt der Beschreibung – Merkurs Flug und damit Teil der Diegese – und das Mittel der Beschreibung – die technische Sprache als das extradiegetische Wissen Ovids – veranschaulichen in nur einem Begriff die Dualität der beiden Realitäten.66 Denn eben dies ist das Kennzeichen des epischen Gleichnisses, dass es auf der Bildebene aus der Erfahrungsebene des Erzählers/Dichters eine Handlung auf der Sachebene ausmalen und so für den zeitgenössischen Rezipienten aktualisieren

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gierig seine erhoffte Beute hektisch umfliegt, so bringt der Kyllenier über der Athenischen Feste behende seinen Flug zum Einlenken und zieht wie ein Zirkel immer die gleiche Bahn durch die Lüfte.“ Cf. Bömer 1969, ad loc. Auch die anderen Begriffe, die mit dem Kreisen zu tun haben, sind kreative Innovationen Ovids: flecti in gyrum (718) ist hier zum ersten Mal mediopassivisch belegt; inclinat cursus (721) ist als Junktur ein Hapaxlegomenon, ebenso circinat (721) in der Bedeutung ‚wie ein Zirkel um etw. herumfliegen‘. Cf. Horstmann 2014, 104–06. Anstatt diese aber als „unpassend und kontraproduktiv“ (ib., 106) zu bezeichnen, müssen sie bei Ovid nicht immer schweres Pathos heraufbeschwören, sondern, wie auch in der Ars Amatoria, ein Liebesabenteuer vorbereiten und mit leichter Ironie begleiten (nach von Albrecht 1976, 286); für eine detaillierte Untersuchung der drei Gleichnisse cf. von Glinski 2012, 47–54. Cf. Bömer 1969, ad loc., mit Verweis auf Gell. 14,6,4: Attice antiquitus Acte vocata. Was von Albrecht 1981, 2341, zu den Adjektiven sagt, ist auf die Sprache der „Metamorphosen“ im Ganzen übertragbar: „Die Einfachheit, Alltäglichkeit der Adjektive ist eine Grundvoraussetzung der Metamorphosierbarkeit der ovidischen Mythengestalten. Die ‚konkrete‘ Sprache ermöglicht eine szenisch-optische Aktualisierung“; Cf. auch Holzberg 22016, 22. Mit der zusätzlichen – man möchte sagen, typisch ovidischen – Pointe, dass der Zirkel ja erst in einer späteren Zeit von Perdix, dem Neffen des Daedalus, erfunden wird (met., 8,247–49). Interessanterweise beschreibt Ovid dort den Zirkel ziemlich aufwendig mit einer beinahe wissenschaftlichen Neugier (in immerhin drei Versen), als gäbe es keinen prägnanteren Begriff.

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kann. Das ist gewissermaßen die Erweiterung der Erzählung um eine Erfahrungsdimension.67 Bevor aber auf der Sachebene, wie eben beschrieben, die Sicht des Erzählers der Frühzeit Athens gegenübergestellt wird, sind auf der Bildebene mit der Eingeweideschau und dem Vogelflug zwei der bedeutendsten Bestandteile des römischen Ritus miteinander kombiniert.68 Auf einen unmissverständlich römischen Kontext weist zudem die sakrale Terminologie bei densi ministri (717). So kann sich in dem Fenster, das das Gleichnis in die Zukunft bzw. Gegenwart des römischen Publikums eröffnet, der eigene, römische Kult kontrastiv gegenüber dem griechisch-athenischen profilieren. Die Panathenäen werden dann sogar bei Herse im anschließenden Gleichnis auf der Sachebene mit pompae comitumque suarum (725) wieder aufgegriffen, sodass die zwei verschiedenen Riten bewusst als voneinander verschieden erkannt werden können.69 Zweifellos bleibt festzuhalten, dass durch die strukturelle Aufteilung in die Bild- und Sachebene keine formale Überschneidung besteht und es durchaus üblich ist, dass die Erfahrungswelt des Erzählers der Veranschaulichung eines für das Publikum befremdlichen oder schwerer nachvollziehbaren Vorgangs dient.70 Dennoch ist es erstaunlich, wie sehr sich diese Imagination von Merkur als gierigem Vogel bei der Eingeweideschau in den Kontext fügt und dazu auffordert, diese rituelle Handlung mit der anderen, ausführlich geschilderten und mehrfach wiederholten Festlichkeit in Beziehung zu setzen. Die intradiegetische Dominanz der Panathenäen wird damit nicht nur durch die extradiegetisch beschriebene Opferschau samt Auspizien vermindert, auch die lebensweltliche Nähe des eigenen Ritus und vice versa die Distanz zum fremden erzeugt im Moment der Rezeption von selbst eine größere Präsenz des Römischen in der griechischen Umgebung. Denn auch wenn im letzten Gleichnis Merkurs Erglühen vor Liebe (exarsit 727) mit dem Schmelzen eines geschleuderten Bleigeschosses verglichen wird, das dem Versuch des Lukrez entnommen ist, den Blitz auf natürliche, rational nachvollziehbare Weise zu erklären,71 und wiederum eine äußerst technische, unzeitgemäße Weltsicht erkennen lässt,72 ist der Handlungsort selbst immer wieder mit typisch griechischen Eigenschaften ausgestattet: Merkur macht die Chlamys zurecht (733) und Herse wohnt wie ihre Schwester im abgetrennten Frauenbereich des griechischen Hauses der Heroenzeit (pars secreta domus 737).73 So bleibt der Gegensatz 67 68 69 70

Cf. von Glinski 2012, 115. Cf. ib., 48. Zu den ministri cf. Bömer 1969, ad met., 2,717, 3,28. Dieser Unterschied wird bereits in den Homer-Scholien gesehen, cf. Schmidt 1976, 230 f. Auch Ovids römische Vorgänger nutzen genuin römische Gegenstände oder Vorgänge, cf. von Albrecht 1981, 2333. 71 Cf. Barchiesi 42013, ad loc. 72 Dazu von Albrecht 1976, 287: „Die Absicht, die phantastische Mythenwelt den Römern zugänglich zu machen, spricht auch aus mancher Beschreibung eines Verwandlungsprozesses: Naturwissenschaftlich anmutende Exaktheit bei einem Gegenstand, der nicht nur der Naturwissenschaft spottet, sondern auch der Natur selbst.“ 73 Cf. Bömer 1969, ad loc.

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zum griechischen Ort mitsamt seiner Kultur und dessen Betrachtung aus einem römisch-augusteischen Erfahrungshorizont stets gewahrt. In der Gesamtheit aber erscheint die dargestellte Stadt weder als ahistorisch und sich jeglicher Kategorisierung entziehend noch als einem festen Zeitpunkt eindeutig zuordenbar, eher sind beide Zeitebenen gleichermaßen präsent. 3.4 Athen, neidisch beäugt Im weiteren Verlauf der Episode bittet Merkur, der die Liaison zu Herse nicht mit Gewalt einfordern will,74 um die Hilfe und Fürsprache von deren Schwester Aglauros, die wiederum ihre Schwester um ihren Liebhaber beneidet und dafür einen nicht unbeträchtlichen Lohn verlangt.75 Minerva, die diesem Treiben zusieht, ist erbost darüber, wie Aglauros mit einem Gott umgeht, und erinnert sich zugleich an den bereits erwähnten Wortbruch ihr gegenüber bezüglich Erichthonius. Deswegen hetzt sie ihr den personifizierten Neid Invidia an den Hals. Auch diese Gottheit nähert sich der Stadt – wohl aus nördlicher Richtung – und sieht Folgendes: et tandem Tritonida conspicit arcem ingeniis opibusque et festa pace uirentem, [795] uixque tenet lacrimas, quia nil lacrimabile uidit.76 Ov. met., 2,794b–96

Invidia bleibt sich und ihrem Wesen auf geradezu komische Weise treu, indem sie mit Neid eine Stadt in der Blüte (uirentem 795) ihres Daseins erblicken muss.77 Ganz typisch für Ovid und dessen anthropomorphe Zeichnung der Götter ist dann die emotionale Abrundung, dass es dem Neid beinahe die Tränen in die Augen treibt, weil er eine prosperierende Stadt erblicken muss. Sicherlich sind durch diesen verzerrten Blick die positiven, zu beneidenden Eindrücke übersteigert, wodurch sie größer als „in Wirklichkeit“ sind.78 Dass allerdings nur zufällig die Hochstimmung mit einer festa pax sowie ingeniis opibusque in Verbindung stehen, ist mehr als unwahrscheinlich: Zu augenfällig ist die Parallele zum ersten Blick auf Athen, speziell auf die Akropolis, die hier durch den fest-

74 Womit Merkur nun ganz und gar die Rolle des Gottes in die eines amator der Liebeselegie eingetauscht hat. 75 Zur Rolle des Neids für die Verwandlung cf. Lieberg 1999, 356 f. 76 „Und schließlich erblickt sie die tritonische Feste, wie sie in geistigen Talenten, in Reichtum und festlichem Frieden erblüht, und kann nur mit Mühe ihre Tränen zurückhalten, weil sie nichts Beweinenswertes sieht.“ 77 Diese negative Reaktion bei Glück und Schönheit zeigt Invidia bereits im Kleinen gegenüber Athene, die sie als forma armisque decoram (met., 2,773) erblicken muss und deswegen darüber klagt, ihr Gesicht verzieht und seufzt (met., 2,774). Ebenso trägt die daran anschließende Beschreibung Invidias zu diesem Eindruck bei (met., 2,775–782). 78 Barchiesi 42013, ad loc., bezeichnet es treffend als ein in den Augen der Invidia sich darbietendes „mecca della cultura e del succeso“.

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lichen, am Ende der Panathenäen herrschenden Frieden beschrieben wird (Tritonida … arcem / … festa pace uirentem 794 f.) und dort als noch bei den Festlichkeiten befindlich (festas in Pallados arces 712).79 Viel eher scheint dieser zeitlich schwer greifbare Zustand Athens, den der Rezipient durch die Augen Merkurs wahrgenommen hat, nun im Falle Invidias aus einer zweiten, ganz anders motivierten Perspektive bestätigt zu werden. Trotz des Wiederaufgreifens der Erichthonius-Geschichte wenige Verse vorher kommt an der Existenz der Panathenäen kein Zweifel auf – ganz zu schweigen von der Inkongruenz zu dessen Rolle als Festgründer wie auch zum Entwicklungsstand der Handlung überhaupt. Überdies reichen die Überschneidungen der beiden Passagen noch weiter. Dass nämlich Athen ausgerechnet an dieser Stelle vor Macht (opibus 795) und geistiger Schaffenskraft (ingeniis ib.) strotzt, ist auch bei Berücksichtigung einer befangenen Wahrnehmung ziemlich schwach motiviert. Unumgänglich wirken diese Attribute deplatziert oder nicht angemessen für die gerade gegebenen Verhältnisse. In den größeren Zusammenhang fügt sich das aber sehr wohl ein, wenn man bedenkt, dass Merkurs anachronistischer Blick auf die Stadt nicht allein die Panathenäen umfasst hat, sondern ebenso das Lyceum und Munychia. Denn wie diese Namen weit mehr sind als Orientierungspunkte in einer Landschaft, so liefert auch jenes Begriffspaar ein Mehr an Bedeutung, indem es in gleicher Manier auf einen künftigen Zustand Athens verweist, in dem es als Kulturund Machtzentrum die Geschicke des Mittelmeerraums entscheidend beeinflusste und als das es in den Augen nachfolgender Generationen, d. h. auch von den Zeitgenossen Ovids, wiedererkannt wurde. Die jeweilige Perspektive ist dabei nur der Ausgangspunkt, um diese Imagination zu erzeugen: bei Merkur der Flug und die sukzessive Wahrnehmung von Südwest nach Nordost – man möchte beinahe sagen: entlang der Langen Mauern –, bei Invidia der Neid und die Vergrößerung.80 Analog dazu sieht Merkur die einzelnen Eigenschaften nur „flugs“, dafür aber konkret: zuerst Munychia, dann das Land, das von Minerva geschätzt wird, dann das Lyceum und zuletzt die Akropolis und die Panathenäen als den Grund, der ihn zum Umkehren veranlasst; Invidias Blick hingegen ist maximal abstrakt und damit der anderen Sichtweise diametral entgegengesetzt: die Akropolis in voller Pracht, untermalt durch das Hyperbaton bei uirentem (795), das die Begriffe „geistiges Talent“, „Macht“ und „festlicher Friede“ zu einem Ganzen einrahmt. Die einzelnen Objekte scheinen sich dann sogar jeweils paarweise aufeinander beziehen zu lassen: die Munychii agri (709), die pars pro toto für den Piräus stehen und die Flottenmacht und den Reichtum Athens symbolisieren, entsprechen den 79 Cf. Bömer 1969, ad loc.: „die Handlung kehrt an ihren alten Schauplatz zurück.“ 80 Hierin sieht Bömer die alleinige Funktion des Anachronismus – gedeutet als nicht kenntlich gemachte Einfügung ex persona poetae –, nämlich den Kontrast zwischen dem Glück der Stadt und dem Wesen Invidias zu verdeutlichen (cf. ib., ad loc.). Dadurch bleibt jedoch ungeklärt, warum bereits vorher Merkur Athen mit solch unzeitgemäßen Charakteristika erblickt und zudem, dass diese beiden Ansichten von Athen über die topographische Identität hinaus sehr deutliche Parallelen aufweisen (s. u.).

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opes (795). Gleichermaßen sind die culti arbusta Lycei (710) als Ort einer der einflussreichsten Philosophenschulen als pars pro toto für die großen geistigen Errungenschaften Athens zu verstehen, die in den ingenia (795) als Abstraktum aufgegriffen werden. Schließlich wird durch Wortwiederholung und -abwandlung der festliche Frieden (festa pace 795) metonymisch als die Folge des detailliert beschriebenen Festes (711–13) erkennbar. In beiden Passagen bietet sich dem Leser also derselbe unzeitgemäße Anblick Athens, der sich zum einen daraus ergibt, dass die Stadt in ihrer mythischen Frühzeit über charakteristische Eigenschaften aus einer späteren Zeit verfügt, und zum anderen, dass die Bedingungen für die Existenz dieser Eigenschaften, zumindest was die Erichthonius-Geschichte betrifft, im Kontext der Erzählung selbst als widersprüchlich erscheinen. Weiterhin wird dieser Eindruck verstärkt, indem mithilfe von Gleichnissen mehrfach eine zutiefst römische Gedankenwelt und eine technisch-rationale Anschauungsweise Einzug in die Welt des Mythos finden und parallel zu den griechischen Realia stehen. So werden unvermeidlich diese schwerlich festlegbaren Umstände noch weiter einer unbeeinträchtigten, gleichsam objektiven Betrachtung entzogen.81 4. ANACHRONISMUS ALS POETISCHE TECHNIK Der epische Erzähler selbst scheint eine solche Perspektive gar nicht zulassen zu wollen und schildert das Handeln von Merkur wie auch Invidia intern fokalisiert, d. h. mit den Augen des Akteurs sehend: despectabat (710) und aspicit (714) bei Merkur sowie conspicit (794) bei Invidia.82 Weil aber die Figuren tatsächlich diese Objekte sehen, wird dem Leser signalisiert, dass diese Dinge – wohlgemerkt in der dargestellten fiktionalen Welt – existieren müssen.83 Dies unterstreicht geradezu den Widerspruch, der sich zum extradiegetischen Wissen des Lesers ergibt, und erzwingt gewissermaßen die Wahrnehmung dieser Auffälligkeit.84 Auf die Frage aber, wie dieses Problem zu verstehen sei bzw. welche Aussageintention dahintersteckt – von Intentionalität ist bei solch einem Gestaltungswillen 81 Dass demgegenüber eine historistische Auslegung der Mythendarstellung Ovids fehlgehen muss, zeigt etwa Mittelhaus 1919, 18–20, der aus der „Metamorphosen“-Stelle den Schluss zieht, dass die Anwesenheit des Hermes bei den Panathenäen „reale Kulttatsache“ (Bömer 1969, ad met., 2,713) ist. 82 Zu dieser Visualisierungsstrategie allgemein cf. Fondermann 2008, 82–89. 83 In linguistischen Termini handelt es sich hier um eine Präsupposition, eine Sinnvoraussetzung, die nicht explizit verbalisiert, aber für das Verständnis notwendig ist. Das Verb „sehen“ bewirkt durch seine definite Referenz auf ein Objekt die Präsupposition, fungiert also als Präsuppositionsauslöser (cf. Ernst 2002, 30–43, v. a. 31, 38). 84 Für das wohl sicher vorhandene Bewusstsein für derartige Zeitverstöße sprechen die bereits vor Aristoteles bezeugte Suche nach Widersinnigem in den homerischen Epen (sog. Ἀπορήματα Ὁμηρικά), die Bemerkungen zu den Tragikern (sowohl bei Aristoteles selbst [z. B. Aristot. poet., 1460a] als auch in den Scholien [insbesondere zu Euripides]) sowie die vielen Hinweise bei Vertretern der Gelehrtenkultur im 2. Jh. n. Chr. (z. B. Gell. 10,16). Cf. dazu auch Solodow 1988, 75 f.

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auch mit Blick auf die gesamten „Metamorphosen“ auszugehen – gibt der Text selbst keine Hinweise. Erschwerend kommt hinzu, dass die einzelnen Episoden selbst eng verflochten sind mit anderen Motiven, Anspielungen und inhaltlichen Gewichtungen, sodass die Gefahr groß ist, diesen einen Aspekt gegenüber dem Gesamteindruck der Passage überzubewerten. Dass die Episode beispielweise eng eingeflochten ist in den unmittelbaren Kontext einerseits und anderseits manchmal beinahe wortwörtlich mit anderen Autoren korrespondiert, wird nicht nur an den mehrmaligen Selbstzitaten und der Anspielung an Kallimachos deutlich, die in den culti arbusta Lycei liegt.85 Von Glinski macht darauf aufmerksam, dass Ovid mit seinem Milan-Gleichnis auf ein Pendant in der Aeneis anspielt und es übersteigert, um die manchmal wenig plausiblen Kausalzusammenhänge bei Vergil – so heißt es ja auch bei den Panathenäen illa forte die (711) – zu parodieren.86 In dieselbe Richtung geht auch der Hinweis Barchiesis, dass das, was Invidia in Athen sieht, eine ironische Anspielung auf das übertrieben positive Athenbild in der Literatur der griechischen Klassik sei.87 Betrachtet man diese Episode im größeren Kontext des zweiten Buches, besonders dessen zweiter Hälfte, lassen sich nach Gildenhard und Zissos weitere Analogien in der Darstellung der athenischen Gründungsgeschichte als Konstrastierung mit der römischen Zukunft erkennen:88 Auffällig ist daran, wie wenig die Mythen um Athen auserzählt werden – bestes Beispiel die nur schlaglichtartige Erwähnung von Erichthonius in den Versen 552–61, die ohnehin nur exemplarische Funktion hat – und wie sehr diese bereits teleologisch auf Rom ausgerichtet sind.89 Geradezu ostentativ tritt Athen dann bei Merkurs Flug und später Invidias Ankunft in Erscheinung, wird aber, nachdem Aglauros bestraft ist, kommentarlos so „stehen gelassen“, weil Merkur von Jupiter zu Hilfe gerufen wird, um die Königstochter Europa zu erobern. Wenn die Erzählung dann in der zweiten Hälfte des 85 Eine eingehende Studie zur zweiten Hälfte des zweiten „Metamorphosen“-Buches liefert Keith 1992, die auch nachweist, wie sehr die Aglauros-Episode in dem Motivgeflecht dieses Buches verwoben ist (117–34). Zur Stellung zu möglichen Quellen cf. Wimmel 1962. 86 Cf. von Glinski 2012, 48. Auf diese Beobachtung konnte mich auch der wertvolle Hinweis Anke Walters aufmerksam machen, wofür ich sehr dankbar bin. 87 Cf. Barchiesi 42013, ad loc., mit weiteren Belegstellen. Cf. auch Gildenhard/Zissos 2004, 62. Dieser Ansatz ließe sich auch noch weiterverfolgen und auf das in jener Literatur gerne kolportierte Autochthonentum der Athener ausweiten (cf. u. a. Thuc. 2, 36, 1; Isoc. 4, 25), wenn man in dem Ausdruck gratamque Mineruae humum (709) den seltenen Gebrauch von humus in der Bedeutung ‚Land, Region‘ noch genauer betrachtet. Denn wenn man den ‚Boden‘ (humus bzw. gr. χθών, beide etymologisch miteinander verwandt) nicht ganz verblassen lässt, wäre das ein süffisanter Hinweis auf jenen, der ‚besonders mit dem Land verbunden‘ ist: Ἐρι-χθόνιος (zumal schon in den vorangegangenen Episoden ein „consistent interest in etymological exploration“ erkennbar ist; Keith 1992, 32). So könnte man Merkurs Blick auf Munychia, Mineruae humus und Lyceum so deuten, dass humus auf Erichthonius anspielt, aber zunächst nur ein Platzhalter für das Folgende ist, der dann von der arx und den dort stattfindenden Panathenäen ausgefüllt wird. So wären beiden Mythen sehr subtil miteinander verbunden. 88 Cf. Gildenhard/Zissos 2004, 52–67. 89 Cf. ib., 64. So stehen gleich am Beginn des Sagenkomplexes um Coronis und Ocyrhoe die kapitolinischen Gänse, die ja noch das Kapitol retten werden (seruaturis … Capitolia … anseribus II, 538 f.), ehe dann mit der Krähe der attische Mythos einsetzt.

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sechsten Buches90 wieder nach Athen zurückkehrt, ist von dem Glanz und der Größe wenig übrig, da die Scharen des Minos die Stadt in Schrecken versetzen, die antonymisch mit Mopsopios muros (6,423) umschrieben wird, einem eher seltenen Beinamen, der wohl abseits der traditionellen Gründungssage steht.91 Es ist daher wohl zu kurz gegriffen, jenen Anachronismus am Ende des zweiten Buches und auch in vielen anderen Passagen der „Metamorphosen“ als ein Verfahren zu deuten, das die Handlung nur in einen color Romanus kleidet, damit sie dem Publikum vertrauter ist und so besser verstanden werden kann. Denn dafür werden durch diese römische bzw. aus einer späteren Zeit stammenden Sichtweise mehr Fragen aufgeworfen, als dass damit der Mythos vereinfacht oder anschaulicher würde.92 Vielmehr erbringt dieses Mehr an Bedeutung ein Weniger an absoluter Festlegbarkeit und Sicherheit, gleichsam einen Hinweis, dass die Welt, wie sie uns dargeboten wird, nicht wie ein starres Gebilde aufzufassen ist, das notwendigerweise einem streng determinierten Ablauf folgt. Die Gegenstände selbst sind, auch wenn sie sich in dieser fiktionalen Umgebung befinden, keineswegs losgelöst von den ihnen gewissermaßen anhaftenden Attributen, die sie zeitlich, geographisch, kulturell etc. fixierbar machen.93 Durch diese Doppelnatur lassen sich über den in der Geschichte notwendigen Erfahrungszusammenhang hinaus Möglichkeiten erschaffen, die reale Welt des Rezipienten in

90 Bemerkenswert ist schon, dass im fünften Buch in der Geschichte vom Raub der Proserpina die Verbindungen von Ceres nach Eleusis nicht zur Sprache kommen, aber dann impliziert sind, wenn Triptolemus am Ende zur Verleihung der Feldfrüchte ausgesandt wird. Hierzu begibt sich Ceres nach Athen (Tritonida … in urbem 5,645), mehr wird dazu aber nicht gesagt. Angesichts der sich darauf berufenden „athenisch-attischen Kulturpropaganda“ im 5. Jahrhundert wird dies „bei Ovid ohne viel mythologisches Beiwerk […] auf einen prägnanten und kurzen Nenner gebracht“ (Bömer 22011, ad met., 5,646). Für eine narratologische Begründung cf. Barchiesi 2002, 192 f. 91 Zurückgehend auf Μοψοπία, einem alten Namen Attikas, der auf einen obskuren König/Helden oder eine Okeanide zurückgeht und seit dem Hellenismus bezeugt ist. Cf. Bömer 22011, ad met., 5,661; Wrede 1933, Sp. 240. 92 Zu diskutieren wäre ohnehin, wie wichtig ein solches Zugeständnis an einen Leser ist, dessen literarisches Wissen und dessen literarische Bildung aus der Auseinandersetzung mit der griechischen Kultur in griechischer wie römischer Sprache stammt, und wie stark eine solche, gewissermaßen didaktische Erklärung von der modernen, nur auf einer Rekonstruktion der römischen Lebens- und Literaturwelt basierenden Sicht geprägt ist (Dass diese Form der Aktualisierung in unserer Zeit ein hohes didaktisches Potential für die Annäherung an die Antike hat, muss kaum eigens betont werden [dazu am Beispiel der „Metamorphosen“: Janka/Stierstorfer 2015]). 93 Zum Gedanken cf. Kirstein 2015, 260: „Es ist im Gegenteil ein Mindestmaß an identitären Eigenschaften vonnöten, um zu gewährleisten, dass das Objekt im fiktionalen Text zum Rezipienten auf das zugehörige reale Objekt der eigenen Lebenswelt rückbezogen werden kann. […] Der Prozess der Fiktivisierung erzeugt somit Objekte, die in einer doppelten Ausrichtung sowohl auf die reale Lebenswelt als auch auf die fiktionale Textwelt bezogen sind.“

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der fiktionalen Welt wiederzuerkennen und in dieser mythischen Verkleidung distanziert und reflektiert zu betrachten.94 So ist das ohnehin im Epos – gerade im römischen – immer gegebene In-Beziehung-Setzen des mythischen Stoffes zur Gegenwart der Rezipienten bei Ovid in einer ungewohnt deutlichen Weise realisiert.95 Außerdem ist das nicht allein auf das Überschreiten der intra- und extradiegetischen Realitäten beschränkt, weil überdies auch der Wahrheitsgehalt von Eigenschaften, die in der Erzählung erst formuliert werden, nur allzu häufig zur Disposition steht – siehe Erichthonius.96 In den „Metamorphosen“ wird daher vielfach darauf hingewiesen, dass der Mythos in Beziehung zu Entwicklungen der realen Welt steht – seien diese politisch, kulturell, theologisch – und deshalb zu einer anderen Sicht auf die Dinge verhelfen kann; darüber hinaus weist die Dichtung von sich aus auf ihre Poetizität und dass der dargebotene Mythos nur eine von vielen Aneignungen des Stoffes ist und somit unmöglich einen privilegierten, ehrwürdigen Anspruch auf Wahrheit besitzt.97 Nun gibt es fraglos Episoden in den „Metamorphosen“, bei denen sich jene erste Form des Anachronismus, jene Überschneidung mit römischen Elementen, ohne Schwierigkeiten in die Gesamtinterpretation einfügen lässt.98 Warum aber Merkur über eine Stadt fliegt, die es so noch nicht geben dürfte und darin ein Fest sieht, das noch nicht gegründet sein kann, um dort eine Affäre mit einer Königstochter einzugehen, scheint nicht aus den Motiven der Episode erschließbar zu sein, diese nämlich funktioniert auch ohne die Anspielungen an das Lyceum, Munychia, die Panathenäen und womöglich das Autochthonentum. Aus dieser Beobachtung lässt sich der allgemeine Schluss ziehen, (1) dass in den „Metamorphosen“, die weder Chronik noch deren Parodie sind, anachronistische Elemente nicht konstitutiv für das Funktionieren der Handlung sind, sondern wie eine fakultative Erweiterung eine zusätzliche Lesart ermöglichen. Weiterhin ist festzuhalten, (2) dass diese erweiterte Bedeutungsebene nicht schlechthin eine gleichbleibende Position zum primären Gang der Geschichte darstellt, also etwa immer affirmativ oder ironisch oder poetologisch zu verstehen sind.99 Die genaue Ausgestaltung dieses semantischen 94 Dazu auch prägnant Janka/Stierstorfer 2015, 6, wenngleich der Begriff „Familiarisierung des Mythischen“ m. E. nicht präzise genug ist, weil dies zunächst an jenes Vertraut-Machen, jener interpretatio Romana denken lässt, das eben nicht zu einem Brechen der Illusion, sondern zu dessen Gegenteil führt. 95 Die deutlichsten Analogien sind zur attischen Tragödie erkennbar, vor allem zu Euripides, wo diese anachronistischen Elemente – die ganz ähnlich denen Ovids sind – zu einer Auseinandersetzung zwischen der Zeit der Geschichte und der Zeit der Zuschauer herausfordern und zu einer kritischen Distanz mahnen; cf. Easterling 1985, 9. 96 Eines der bekanntesten Beispiele ist wohl die Dienerin der Circe, die das Alter des Picus in Olympiaden angibt (met., 14,324 f.). Für weitere zeitliche Widersprüche im zweiten Buch cf. Zissos/Gildenhard 1999. 97 Zum Gedanken cf. Solodow 1988, 108 f. 98 Wie z. B. bei der Olymp-Szene im ersten Buch, bei der die Analogie Jupiter-Augustus ohnehin diese Ebene eröffnet; cf. dazu Janka 1999. Zu einer weiteren, strukturellen Funktion in den „Metamorphosen“ cf. u. a. Tsitsiou-Chelidoni 2003, 338. 99 Das scheint angesichts der facettenreichen Erzählhaltungen des Primärerzählers kaum verwunderlich, wie Horstmann ausführlich darlegen konnte, cf. Horstmann 2014.

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Potentials wird vom Kontext sowohl im engeren als auch im weiteren Sinn beeinflusst, wobei letztere auch die Bedingtheit durch bzw. die Bezugnahme auf Vorgänger meint. Wenngleich der fragmentarische Status der Hekale nur vorsichtige Rückschlüsse zulässt, scheint dennoch die Anlage der zweiten Hälfte des zweiten „Metamorphosen“-Buches, beginnend mit der Erzählung der Krähe bis hin zu Aglauros, die Nähe zu Kallimachos und dessen gattungs- und mythenbezogener Innovationsfreude zu belegen. Auf wohl ähnliche Weise verwehren sich diese Texte, sich einer strengen zeit- und faktenbasierten Ordnung zu unterwerfen, wie sie für Athen die Atthidographie penibel etablierte.100 Ovid vermeidet es geradezu, eine eigene Atthis zu verfassen, indem diese Tradition verhindert und substituiert wird.101 Dass nun ausgerechnet Merkur dieses zeitlich deplatzierte Athen sieht – eine Figur, die in der vorangegangenen Battus-Episode ihren Listenreichtum (arte sua 2,686)102 unter Beweis gestellt hat, dann sich in der Begegnung mit Herse als Parodie des amator erweist, um zuletzt Zeus bei seiner neuesten Eroberung (Europa) zu helfen – verleiht der Darstellung von vorneherein etwas Leichtes, wenig Starres. Gleichfalls wirkt es komisch, wenn Invidia dann als zweite Gottheit auf die Stadt zutritt und erst einmal Merkurs Blickwinkel aufgreift, aber, da sie nun einmal der personifizierte Neid ist, gehörig übertreibt. So ähnlich sich diese Perspektiven durch ihre unzeitgemäßen Attribute sind, erscheinen sie dann doch als so individuell, dass fraglich bleiben muss, was dann der tatsächliche Stand der Dinge ist. Und dies ist wohl der wesentliche Effekt dieser beiden Szenen, die Ansichten als relativ zu erweisen, indem sie so deutlich beschrieben werden, dass sie fassbar sind, aber so wenig absolut, dass die Widersprüchlichkeit zu dominant wird.103 Es geht meines Erachtens aber zu weit, im zweiten Buch allgemein eine „strategic marginalization of the polis“ und einen „deconstructive pressure“ gegenüber dem attischen Legendenstoff zu erkennen.104 Denn dazu stehen einerseits diese Stoffe viel zu wenig im Vordergrund – Athen ist vor allem Kulisse und kaum der ideologisch aufgeladene Ort, der die Konfrontation sucht; abgesehen davon, dass es in den „Metamorphosen“ auch positive Passagen über Athen gibt. Andererseits erklärt dies nicht, wieso der Glanz Athens dann dennoch zweimal geradezu ausgemalt wird, während sie doch beim gegenwärtigen Stand der Geschichte kaum mehr als ein unbedeutender Fleck Erde gewesen sein dürfte. 100 101 102 103

Cf. Jacoby 1949, 120 f. Cf. Gildenhard/Zissos 2004, 57–64. Cf. Bömer 1969, ad loc. Aus ästhetischer Sicht haben diese Dinge diesen Bedeutungsspielraum, weil sie in ihrem Bezug unvollständig sind: „deren Sosein [ist] nur durch jene Charakteristika, Eigenschaften und Relationen festgelegt […], die uns seine Beschreibungen präsentieren“ (Haller 1986, 44). Beispielsweise lassen die culti arbusta Lycei (met., 2,710) zwar offen, ob damit der Peripatos gemeint ist; weil es aber keine andere Relation gibt – etwa durch Verneinung oder Präzisierung –, kann dies auch nicht ausgeschlossen werden und wird somit mitgedacht. Gleiches gilt für die anderen Anachronismen. 104 Beide Zitate Gildenhard/Zissos 2004, 71.

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Was dagegen dekonstruiert wird, ist nicht Athen, sondern die in der griechischen Literatur seit dem 5. Jahrhundert proklamierte Führungsrolle der Stadt, indem diese als ideologisches Konstrukt dargestellt wird, das so unspezifisch ist, dass es sogar in einer Zeit stehen kann, in der nicht einmal die physikalischen Grundlagen dafür gegeben waren. In wenigen Worten zusammengefasst, ist der Anachronismus in Ovids „Metamorphosen“ eine Möglichkeit, zu versinnbildlichen, dass die konkret realisierte Darbietung des Mythos keiner feststehenden Wahrheit unterstehen kann, weil diese immer auf einer Art der Aneignung und, daraus folgend, auf einer relativierbaren Perspektive beruht.105 Aus dieser Position heraus kann die über den Geschehenszusammenhang hinausweisende Zeitebene – gewissermaßen darüber montiert – auf einen der eigentlichen Handlung fremden Diskurs hinweisen, der kontextuell geprägt ist. Geradezu emblematisch scheint dies der ovidische Pythagoras zu repräsentieren, um wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren: ein gewisser vir ortu Samius (15,60), der unter anderem in der Diktion eines Lukrez mit den Gedanken eines Heraklit einem Numa, der eigentlich schon seit mehr als hundert Jahren tot sein müsste, Einsichten in das Wesen der Welt gewährt, aber – in den Worten Galinskys – mit dem entscheidenden Extra: „He lays claim only to fictions which, in their own way, tell us even more about the human condition.“106

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105 Zum Gedanken cf. Galinsky 1999, 313. 106 Ib., 314.

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LITERATURGESCHICHTE IM HISTORISCHEN EPOS Anachronismen, Realismus und Metapoetik Markus Kersten (Rostock) 1. EINLEITUNG: ANACHRONISTISCHE UND REALISTISCHE ANSPIELUNGEN1 Was der homerische Achill gerade singt, als ihn die Gesandtschaft der Griechen aufsucht, erfahren wir nicht. Der Erzähler der Ilias sagt lediglich: ἄειδε δ’ ἄρα κλέα ἀνδρῶν (Il., 9,189). Ob Achill selbst dichtet oder ob er etwas Bekanntes vorträgt, womöglich gar Hexameter, wie das Lied auf die Ankommenden wirkt – all das bleibt offen.2 Die Welt des mythologischen Epos ist gewissermaßen vorliterarisch. Zwar gibt es hier weit bekannte ‚Sagen‘ wie die von der Argo (Od., 12,67), aber es gibt keine kanonische Literatur, die einen bestimmten moralischen oder politischen Gehalt hat, keine klassischen Texte, die zitiert werden können. Wenn Vergils Aeneas vom Untergang Trojas erzählt und dabei sagt: uenit summa dies (Aen., 2,324), wenn hier also anklingt, was in der Ilias zweimal prophezeit wurde: ἔσσεται ἦμαρ ὅτ᾽ ἄν ποτ᾽ ὀλώλῃ Ἴλιος ἱρὴ (Il., 4,164; 6,448), dann kann es den Lesern, die die Ilias kennen, so scheinen, als hätte Aeneas – ebenso wie sie – aufmerksam seinen Homer studiert. Aber eine literarische Anspielung ist für Aeneas erzähllogisch unmöglich. Die Stimme der Figur wird hier durch die ihres gelehrten Autors überlagert; verschiedene erzählerische Ebenen, nämlich die der Handlung einerseits und die des Dichters und seines Publikums andererseits, durchdringen einander. Es kommt zu dem Effekt, den Gérard Genette Metalepse genannt hat:3 zum Bruch (oder, gerade anders betrachtet, zur besonderen Betonung) der literarischen Fiktion.4 Im eben angedeuteten Beispiel wird die Metalepse im Wesentlichen durch einen gezielten literarhistorischen Anachronismus bewirkt:5 Aeneas hat, chronolo1

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Der vorliegende Beitrag greift einen Ansatz auf, den ich in meiner Rostocker Dissertation in Bezug auf Lucan entwickelt habe. Ich danke den Organisator*innen der kleinen Mommsentagung 2016 für die Möglichkeit, diese Gedanken in einen etwas weiteren Kontext stellen zu dürfen und den Diskussionsteilnehmer*innen für zahlreiche Anregungen. Auch die Darstellung einer Rezitation auf dem Schild des Achill (Hom. Il., 18,541) ist in dieser Hinsicht undeutlich. Cf. Genette 21998, 167–169; Genette 2004, 20–25. Zur Betonung der poetischen Fiktion gerade durch verschiedenste logische Inkonzinnitäten siehe den Beitrag von Philipp Geitner in diesem Band. Zu (nicht nur literarhistorischen) Anachronismen in der Aeneis und ihrer Funktion historischer Selbstvergewisserung siehe den Beitrag von Anke Walter in diesem Band.

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gisch unmöglich, die Ilias gelesen.6 Ovids Ariadne, um ein anderes bekanntes Beispiel zu nennen, scheint zu wissen, dass sie in Catulls Peleus-Epos dem abwesenden Theseus perfide hinterhergerufen hat; bei Ovid sagt sie also: dicebam, memini, „periure et perfide Theseu“ (Ov. fast., 3,471 ff.; Catull. 64,132 f.). Beide Fälle haben, insofern es hierbei um Intertextualität geht, eine metapoetische Dimension.7 Sowohl für die Selbstdarstellung des Dichters als auch für die Aussage des Gedichts ist es bedeutend, wenn Ovids Ariadne derjenigen Catulls verpflichtet ist und wenn Vergils Leser an Homer erinnert werden. Sofern aber diese Erinnerung metaleptisch auf der Ebene der Eposhandlung selbst geschieht, ist sie ‚unrealistisch‘. Die Grenze zwischen der Welt, in der die Leser lesen (man hat hierzu ‚discourse world‘ gesagt), und der Welt, von der die Leser lesen (‚story world‘),8 wird auf spektakuläre Weise von Aeneas und Ariadne überschritten, wenn diese vermittels ihres anachronistischen Wissens mehr zu sagen scheinen, als sie eigentlich verstehen können. Für das historische Epos ist nun prinzipiell auch das Gegenteil denkbar, nämlich dass diese Grenze an manchen Stellen weniger scharf gezogen ist bzw. weniger gewaltsam durchbrochen wird. Bei einer Handlung in historischer Zeit kann es durchaus realistisch (oder ‚wahrscheinlich‘) scheinen, wenn eine epische Figur einen bestimmten Text gelesen hat.9 Literarische Anspielungen auf der Ebene der Handlung brauchen, so gesehen, nicht in jedem Fall anachronistisch zu sein. Wenigstens theoretisch müssten sie genau dann tatsächlich nicht anachronistisch erscheinen, wenn die Eposhandlung zeitlich später angelegt ist als die Abfassung der Referenztexte, auf die angespielt wird. So könnten etwa Lucans Caesar und Silius’ Scipio selbstverständlich die homerischen Epen oder die attischen Tragödien gelesen haben, nicht jedoch die Aeneis. Der vorliegende Beitrag ist der Frage gewidmet, was es bedeutet, wenn wir ein intertextuelles Phänomen im historischen Epos nicht ausschließlich als eine Erscheinung der ‚discourse world‘ betrachten, wenn also Anspielungen aus dem Mund einer Figur nicht von vornherein als anachronistisch bzw. metaleptisch aufgefasst werden. Mir geht es dabei nicht um einfaches ‚Nachrechnen‘, um, sozusagen, manche ‚alexandrinische Fußnoten‘ in den Haupttext der Erzählung zu verschieben. Es kommt mir vielmehr auf die Stellung an, die dem Literarischen und Literarhistorischen innerhalb der Fiktion eines Werkes zugewiesen wird, und was diese Stellung für die Aussage des Werkes bedeutet. Ich stelle damit zur Diskussion, ob es sinnvoll sein kann, die Figuren im historischen Epos systematisch vor dem Hintergrund ihrer eigenen literarischen Kultur zu betrachten.

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Mythenchronologisch, z. B. nach Dionysios von Halikarnassos (1,45,3; 1,73,3), liegen die Taten des Aeneas im 12. Jhd. v. Chr.; die Ilias ist aber bereits in der Antike wesentlich später datiert worden, cf. Hdt. 2,53. Cf. Hinds 1998, 1–16. Cf. Nauta 2013, 230. Cf. Aristot. poet., 1451a36–1451b11. Als Eigenschaft einer literarisch gestalteten Handlung ist metapoetischer Realismus durchaus anschlussfähig an die aristotelische μίμησις πράξεως. Dazu z. B. Schmitt 2008, 195–215, 377–397; dazu, dass metapoetischer Realismus auch im Drama erscheinen kann, cf. Gutzwiller 2000.

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Die Voraussetzung für eine derartige Analyse möchte ich als ‚metapoetischen Realismus‘ bezeichnen; damit meine ich die direkte oder indirekte Präsenz gewisser Texte, Narrative, literarischer Praktiken und literarischer Akteure, wobei diese Präsenz gleichzeitig für die Leser metapoetisch wirkungsvoll als auch auf der Ebene der Eposhandlung realistisch ist, ‚realistisch‘ jedoch in einem einfachen chronologischen, nicht unbedingt faktischen Sinn.10 Freilich lassen sich hier einige generelle Einwände vortragen. Können intertextuelle Erscheinungen im historischen Epos vor dem Hintergrund einer Literaturgeschichte ausgewertet werden, die einerseits bis zur Zeit des Autors reicht, und andererseits nur bis zu der Zeit, von der erzählt wird? Kann man den Lesern diese Doppelperspektive auf reale und binnenfiktionale Gegenwart abverlangen, ist es dafür nötig, von der eigenen Gegenwart zu abstrahieren und die Rezeptionsbedingungen der Zeit, von der erzählt wird, möglichst genau zu rekonstruieren? Wird hier die Selbstständigkeit der literarischen Figuren nicht überbewertet? Hierauf kann ich im Allgemeinen nicht eingehen. Meine Absicht ist es allerdings auch nicht, eine allgemeine Theorie aufzustellen, sondern einen Interpretationsansatz zu erproben, der im Konkreten gar nicht so kompliziert zu sein braucht. Hierzu möchte ich zunächst an ein paar Beispielen der Figurencharakterisierung plausibel machen, dass metapoetischer Realismus im Einzelnen sinnvolle hermeneutische Perspektiven zu eröffnen vermag und von den Autoren historischer Epik daher bewusst nahelegt sein könnte (2). In einem zweiten Schritt werde ich fragen, ob metapoetischer Realismus auch eine Funktion für die Deutung eines historischen Narrativs insgesamt haben kann (3) und wie er sich dann schließlich zu gezielten literarischen Anachronismen verhält (4). 2. METAPOETISCHER REALISMUS UND FIGURENCHARAKTERISIERUNG In Silius’ Punica gibt es einige besonders klare Beispiele für metapoetischen Realismus, in denen der auf der Handlungsebene evozierte Referenztext – Homers Ilias – deutlich benannt wird. Über Hieronymus, den sechzehnjährigen König von Syrakus, der sich einer edlen Abstammung rühmt, sagt der Erzähler (Sil. 14,93b– 96):

10 Ein Beispiel für die Bedeutung von Chronologie als Kriterium für Realismus ist Aeneas’ Staunen. Anders als die Leser kann er die Darstellung auf dem Schild nicht verstehen: miratur rerumque ignarus imagine gaudet / attollens umero famamque et fata nepotum (8,730 f.). Servius sieht sich veranlasst, ignarus mit Blick auf die Konsistenz der fiktionalen Zeit zu kommentieren: rerum futurarum, quae nondum fuerunt. imagine gaudet ignarus erat ueritatis, sed triumphorum imagine delectabatur.

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Markus Kersten tam praecipiti materna furori Pyrrhus origo dabat stimulos proauique superbum Aeacidae genus atque aeternus carmine Achilles. ergo ardor subitus Poenorum incepta fouendi.11

Hier geht es nicht nur um altverbürgten Adel und überlieferte Heldentaten, sondern auch um die Bedeutung eines carmen heroicum.12 Der König, so lässt sich annehmen, dürfte zwar die Handlung der Ilias kennen, aber darauf kommt es ihm nicht an, ihn interessiert vielmehr eine eher allgemein unterstellte Bedeutung der Gattung ‚Heldenlied‘. Für Hieronymus scheint die Abstammung vom ‚im Lied verewigten Achill‘ nur zu bedeuten, auf der Seite Hannibals gegen das ‚trojanische‘ Rom kämpfen zu sollen. Den Lesern drängt sich demgegenüber die Frage auf, woran Hieronymus wohl denken mag, wenn er sich auf seinen Vorfahren beruft: an den Bezwinger Trojas, der Priamos in seinem Zelt empfängt, oder an den verderblich zürnenden Jüngling, mit dem die Ilias beginnt. Das Adjektiv superbus, das der Erzähler zur Beschreibung des Königsgeschlechts gebraucht, bekräftigt die Ambivalenz, die in dem Vergleich liegt und die Hieronymus völlig zu entgehen scheint – eifert er erhabenen oder überheblichen Vorfahren nach?13 Hieronymus ist, so erfahren wir im weiteren Kontext, ungerecht und eitel; seiner Aufgabe ist er nicht gewachsen. Dem Umgang mit dem Ruhm seines Geschlechtes auch nicht. Silius lässt ihn so aussehen, als sei er nur so oberflächlich an der Ilias interessiert, dass er gar nicht merkt, ob ein Bezug darauf für seine Außenwirkung günstig ist oder nicht. Wenn hingegen der silianische Scipio nach dem Sieg in Spanien einem der unterworfenen iberischen Fürsten seine Verlobte unberührt wiedergibt, dann kann ihn Laelius dafür loben, dass sein Ruhm den aller im Lied besungenen Helden überstrahlt (15,274b–282): ‚macte, o uenerande, pudici, ductor, macte animi. cedat tibi gloria lausque magnorum heroum celebrataque carmine uirtus. mille Mycenaeus qui traxit in aequora proras rector, et Inachiis qui Thessala miscuit arma, femineo socium uiolarunt foedus amore, nullaque tum Phrygio steterunt tentoria campo,

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11 „So sehr ward seine Raserei befeuert durch die mütterliche Abstammung von Pyrrhus, durch das erhabene Geschlecht seines Urgroßvaters, eines Aiakiden, und den im Lied verewigten Achill. Daher brannte er darauf, den Puniern beizustehen.“ 12 Liv. 24,6,8 erwähnt auch die angemaßte Abstammung; dort fehlt aber die ausdrückliche Referenz auf den durch Dichtung begründeten Ruhm. Zur Bedeutung Achills als Referenzfigur innerhalb der Punica cf. Risi 2010. 13 Enn. ann., 197 f. Sk ist ein Beispiel für die poetische Ausnutzung einer ambivalenten Bewertung der Aiakiden: stolidum genus Aeacidarum: / bellipotentes sunt magis quam sapientipotentes. Hierbei könnte es sich ebenfalls um metapoetischen Realismus handeln. Während Skutsch, ad loc., noch ausgeschlossen hat, dass die Worte zu einer Rede von Appius Claudius gehören könnten („the Roman statesman can hardly be credited with allusions to Greek mythology“), hat Elliott 2007 ihn als Sprecher durchaus in Betracht gezogen. Bei Silius besteht das Problem offensichtlich nicht darin, dass der Fokalisator eine Anspielung macht, sondern darin, dass die Anspielung zu einseitig ist.

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captiuis non plena toris; tibi barbara soli sanctius Iliaca seruata est Phoebade uirgo.‘14

Gemeint ist Kassandra. Hierbei ist nun nicht nur davon auszugehen, dass Scipio Laelius’ literarisch anspielungsreichen Vergleich verstehen kann. Er könnte ihn womöglich sogar erwartet oder erhofft haben. Es lässt sich leicht vermuten, dass Scipio die homerischen Helden, denen er ja in der Nekyia begegnet ist, tatsächlich auf seine Weise übertreffen will.15 Beim Anblick Homers hat er immerhin erklärt (Sil. 13,793–797):16 ‚Si nunc fata darent, ut Romula facta per orbem hic caneret uates, quanto maiora futuros facta eadem intrarent hoc‘ inquit ‚teste nepotes! felix Aeacide, cui tali contigit ore gentibus ostendi, creuit tua carmine uirtus.‘17

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Scipio würde selbst gern wie Achill besungen werden. Er bekundet damit einen ähnlichen Anspruch wie Alexander (dessen Schatten er zuvor gesehen hat).18 Für die Charakterisierung des silianischen Scipio ist es entscheidend, dass er Homer kennt und verehrt. Er scheint den in der Ilias verankerten Begriff von Heldentugend zu akzeptieren und kann dabei doch gleichzeitig den Anspruch bekunden, sich selbst als Vertreter einer anderen Zeit mit den homerischen Heroen messen zu dürfen. Dass Scipio literarisch interessiert ist und eine metapoetische Aussage über die Wirkung epischer Dichtung macht, ist auf der Handlungsebene realistisch; umso mehr als der Erzähler ausdrücklich auf die zeitgenössische literarische Kultur verweist, indem er die Teilnahme des Dichters Ennius verzeichnet (Sil. 12,387–419).19

14 „Sei gepriesen, ehrwürdiger Heerführer, gepriesen für dein Schamgefühl. Vor dir sollen Ruhm und Ehre der großen Helden weichen und die Tapferkeit, die im Lied besungen ward. Der mykenische Heerführer, der tausend Schiffe übers Meer führte und er, der Thessalische Waffen mit denen des Inachos mischte – beide brachen Sie wegen der Liebe zu einem Weib ihren Treuebund. Kein Zelt stand da auf Phrygischem Feld, das nicht voll war von erbeuteten Ehebetten. Von dir allein ward ein Barbarenmädchen ehrfürchtiger behandelt als die Phoebuspriesterin in Ilion.“ 15 Cf. Marks 2005, 139, zum neuen Heldenideal und dessen politischer Dimension. 16 Zu den Homer- und Vergilanspielungen in dieser Passage sowie zu Silius’ poetischer Selbstreferentialität cf. Reitz 1984, 115–117. Zur Stellung dieser Aussage in der Entwicklung Scipios cf. Marks 2005, 142–147. 17 „Wenn nun das Schicksal gestattete, dass dieser Dichter die Taten der Römer über den Erdkreis verbreiten würde, um wieviel größer müssten – bei solch einem Zeugen – diese Taten dann den späteren Enkeln erscheinen. Glücklicher Aiakide! Dir war es vergönnt, aus solchem Munde den Völkern gesungen zu werden. Im Lied wuchs deine Tugend.“ 18 Zu Alexanders Ausspruch cf. Cic. Arch., 24; Plut. Alex., 15,8 f. Zu Scipio sowohl bezüglich seiner Rolle innerhalb der Fiktion als auch zu seiner extradiegetischen Wirkung als Konsequenz der Alexandermotive bei Vergil und Lucan cf. Tipping 2009. 19 Ein weiteres Beispiel für metapoetischen Realismus ist ‚Scipio am Scheideweg‘ (Sil. 15,18– 137); hier ist allerdings der auf der Handlungsebene als präsent anzunehmende Referenztext, nämlich Xen. Mem., 2,1,21–34, nicht direkt benannt. Zu der Passage cf. Marks 2005, 148–161; Tipping 2009.

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Für die Leser der Punica, die sowohl die Diskursebene wie die Handlungsebene überblicken, ist freilich eine weitergehende metapoetische Deutung der Stelle möglich. Sie können erkennen, dass der Gegenstand des Gedichts, Scipio Africanus, ohne dies zu ahnen, mit seinem Ehrgeiz den Ehrgeiz des Dichters Silius artikuliert, der seinerseits offensichtlich Vergil und Lucan nacheifert. Indem der Dichter, sozusagen, dem Wunsch der Figur nachkommt, entsteht einerseits ein affirmatives (wenngleich vielfältig interpretierbares) Bild Scipios, andererseits macht Silius’ impliziter Selbstvergleich mit Homer, Ennius und Vergil diese Stelle zu einer Art Sphragis. Diskurs- und Handlungsebene werden hierbei allerdings nicht vermischt. Der Dichter dringt nicht in die Handlung ein, und Scipios Hoffnung auf späteren poetischen Ruhm ist durchaus nicht unrealistisch. 3. METAPOETISCHER REALISMUS UND LITERARISCHE KULTUR Wenn man die Figuren im historischen Epos auch als Leser (oder, gegebenenfalls, als Autoren) betrachtet, so erinnert ein Vergleich von Hieronymus und Scipio allerdings daran, dass realistischerweise nicht alle Figuren gleichermaßen literarisch beschlagen sein oder in gleicher Weise mit Literatur umgehen dürften. Dies führt auf eine weitere und interpretativ sehr folgenreiche Dimension des Phänomens: Es geht bei metapoetischem Realismus nicht nur um die effektive Präsenz literarischer Kultur, sondern bisweilen auch um ihr offenkundiges und durchaus problematisches Fehlen. Vor allem Lucans Bürgerkriegsgedicht, in dem es keinen Helden (mehr) zu geben scheint, sondern nur Verbrecher, ist in dieser Hinsicht interessant. Die Bedeutung literarischer Kultur bzw. literarisch kodifizierter Werte und die Gefahr ihrer Folgenlosigkeit werden aber wohl bereits bei Ennius mit metapoetischem Realismus thematisiert. Daher müssen hier auch die Annalen in den Blick genommen werden. Dass Referenzen auf Homer in den Annalen grundsätzlich auch auf der Handlungsebene wirksam sind und dort zur Charakterisierung der Figuren dienen können, wurde bereits von Jackie Elliott u. a. mit Bezug auf ann., 197 f. Sk nahegelegt: „The use of Homeric models in the Annals comes to appear … as a manipulable means of characterization available not only to the narrator but also to the speakers of the poem as manifestations of their different perspectives.“20 Hieran schließen die folgenden Überlegungen an, allerdings mit etwas anderem Fokus. Man kann nämlich nicht nur beobachten, dass ennianische Figuren lesen, sondern auch, dass sie nicht lesen oder dass sie vergessen. In dem Fragment, das von den Schrecken des Krieges handelt, wird die Verrohung der Bürger eindrucksvoll dargestellt (Enn. ann., 225b f., 248–253 Sk):

20 Cf. Elliott 2007.

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postquam discordia taetra belli ferratos postes portasque refregit pellitur e medio sapientia, ui geritur res, spernitur orator bonus, horridus miles amatur. haud doctis dictis certantes, nec maledictis miscent inter sese inimicitias agitantes, non ex iure manu consertum, sed magis ferro rem repetunt regnumque petunt, uadunt solida ui.21

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sapientia zählt nicht und auf einen orator mag niemand hören. Auch wenn sich der Kontext nicht sicher rekonstruieren lässt, wird eines doch deutlich: Was hier beschrieben wird, bezeichnet geradezu den vollständigen Verlust ziviler Kultur; auch die Konventionen eines ehrenhaften Krieges werden verletzt. Hier fechten keine besonnenen Bürger. Recht und Gesetz gelten nicht mehr.22 Der Dichter affirmiert damit eben die kulturellen Standards, deren Verlust er darstellt.23 Hierbei geht es zwar um allgemeine ethische Philosopheme, repräsentiert werden diese aber durch intertextuelle Bezüge, die insbesondere die sittliche Autorität des (didaktischen) Epos betreffen. Bei der discordia des ersten, schwer lokalisierbaren Verspaares hat man unter anderem an das empedokleische νεῖκος und die homerische bzw. hesiodeische Ἔρις gedacht.24 Die Verse 248 ff. Sk erinnern an Hesiods Beschreibung des fünften Menschengeschlechts (Hes. op., 190– 194):25 οὐδέ τις εὐόρκου χάρις ἔσσεται οὔτε δικαίου οὔτ᾽ ἀγαθοῦ, μᾶλλον δὲ κακῶν ῥεκτῆρα καὶ ὕβριν ἀνέρες αἰνήσουσι: δίκη δ᾽ ἐν χερσί, καὶ αἰδὼς οὐκ ἔσται: βλάψει δ᾽ ὁ κακὸς τὸν ἀρείονα φῶτα μύθοισιν σκολιοῖς ἐνέπων, ἐπὶ δ᾽ ὅρκον ὀμεῖται.26

21 „Nachdem die garstige Zwietracht die eisernen Türpfosten und die Tore des Krieges erbrochen hat … Die Weisheit wird aus der Gesellschaft verstoßen, mit Gewalt betreibt man seine Angelegenheiten. Der gute Redner wird verachtet, man liebt den grässlichen Soldaten. Nicht mit gelehrten Argumenten wird gekämpft, auch nicht mit Schmähreden treten die Gegner gegeneinander an, um zu streiten. Nicht auf der Grundlage des Rechts erhebt man Ansprüche, sondern mit dem Schwert verlangt man seinen Anteil, verlangt man gar die Königsherrschaft. Mit roher Gewalt gehen sie vor.“ 22 Cf. Cic. Mur., 30; Gell. 20,10, zu der Stelle in Beziehung zu anderen Annalen-Fragmenten cf. Fuchs 1955. 23 Ähnliche Beobachtungen sind auch bei Thukydides’ ‚Pathologie des Krieges‘ gemacht worden (Thuk. 3,82–83), cf. Edmunds 1975, insbesondere mit Blick auf Hesiod. 24 Cf. Oostenbroek 1977. 25 Cf. Häußler 1976, 151–162; Fabrizi 2012, 155–163. 26 „Keine Ehre wird der haben, der den Eid wahrt, noch der Gerechte, noch der Gute, vielmehr ehrt man den, der schlechte Taten vollbringt und Gewalt übt; Recht liegt in der Faust, und Schamgefühl wird es nicht geben. Der Schlechte wird dem Besseren schaden, er wird verlogene Worte sagen, wenn er schwört.“

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Bei der Geringachtung des guten Redners (249 f. Sk) ist überdies wohl an Nestor zu denken, der beim Streit von Agamemnon und Achill diplomatisch zu intervenieren versucht und verhängnisvollerweise kein Gehör findet (Hom. Il., 1,247 ff.).27 In diesen Auseinandersetzungen fehlt gerade eine moralische Integrität,28 wie sie aus der homerischen Dichtung abgeleitet werden kann. Es wäre nun zwar interessant zu wissen, ob das Kriegsbild vom ennianischen Erzähler selbst ausgebreitet wird oder ob hier, wie auch vermutet worden ist,29 eine Figur spricht, um eine Warnung oder eine Anklage vorzubringen. Aber auch wenn sich dies nicht entscheiden lässt, ist zu sehen, dass diejenigen Personen, die hier unter Aufgabe von Vernunft und Gerechtigkeit miteinander streiten, einen Fehler epischen Ausmaßes machen, den sie selbst als einen solchen erkennen könnten und daher eigentlich vermeiden sollten. Denn entweder warnt hier ein Beteiligter, der anspielungsreich die sapientia hochhält und sich von der Entartung der politischen Kultur distanziert. Oder der Dichter, der ja selbst ein Zeitgenosse der Ereignisse war und der von Homer und von sapientia träumt, 30 stellt im Rückgriff auf die griechische Epik die Bedeutung kultureller Standards ex negativo dar. Wenn Ennius später in den Punica auftritt, legt Silius gerade diesen Aspekt dem Gott Apoll als Prolepse in den Mund: resonare docebit hic Latiis Helicona modis nec cedet honore / Ascraeo famaue seni (Sil. 12,411–413). Ein auffälliger Gegensatz zu dem von Ennius beschriebenen Kulturverlust ist darin zu sehen, wie (später im selben Buch?31) der Freund des Cn. Servilius Geminus für seine Gelehrtheit und seine Mäßigung gerühmt wird. Er ist in der latinistischen Forschung als ‚good companion‘ berühmt geworden (Enn. ann., 279–285 Sk): ingenium quoi nulla malum sententia suadet ut faceret facinus, leuis, aut mala: doctus, fidelis, suauis homo, facundus, suo contentus, beatus, scitus, secunda loquens in tempore, commodus uerbum paucum, multa tenens antiqua sepulta uestutas quae facit; et mores ueteresque nouosque tenentem, multorum ueterum leges diuumque hominumque, prudenter qui dicta loquiue tacereue possit, hunc inter pugnas Seruilius sic conpellat.32

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27 Zu Nestors Exemplarität: Cic. Brut., 40; Tusc., 5,7. 28 Der Kontext ist vielleicht die Uneinigkeit der römischen Bürgerschaft nach Beginn des zweiten punischen Krieges, cf. Fabrizi 2012, 162. 29 Cf. Häußler 1976, 178–184. 30 Cf. 211 Sk, dazu Skutsch 1985, ad loc.; Fabrizi 2012, 137. 31 So Skutsch 1985, 447–451; Elliott 2013, 231, lokalisiert die Passage in Buch 7. 32 „Seinem Wesen vermochte keine Rede, einfach oder böse, zu raten, dass er ein übles Verbrechen begehe. Gelehrt, treu und freundlich war dieser Mensch; beredt, mit dem Seinen zufrieden, glücklich, verständig. Er sagte das Rechte zur rechten Zeit, taktvoll, brauchte wenige Worte. Diesen Mann, der vieles Alte wusste, was die Zeit verbirgt, der alte und neue Sitten kannte und althergebrachte Gesetze von Menschen wie Göttern, der klug verstand, Worte zu sagen und zu verschweigen, ihn sprach Servilius im Kampf solchermaßen an.“

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Die moralischen Grundsätze dieses Mannes sind tief in der Tradition verankert.33 Der Anklang der Wendung παλαιά τε πολλά τε εἰδὼς, womit in der Odyssee u. a. Nestor charakterisiert wird, gestattet es, diese Tradition insbesondere mit dem homerischen Epos zu identifizieren.34 Und indem der companion als doctus (280 Sk) dargestellt wird, erscheint er als dezidiert literarisch gebildet. Hieraus ist zwar nun nicht abzuleiten, dass sich die Person, die der ennianische Erzähler beschreibt, ihrer Ähnlichkeit mit einer homerischen Autorität auch selbst bewusst ist. Aber es ist wohl realistisch anzunehmen, dass der gelehrte Freund des Servilius die Beschreibung multa tenens antiqua sepulta uestuas / quae facit, wenn er sie hören könnte, als Anspielung und als Lob verstehen würde. Eine wichtige metapoetische Wirkung der Stelle liegt auf der Diskursebene. Bereits in der Antike hat man den Freund des Servilius für ein Selbstporträt des Dichters gehalten.35 Das Porträt zeichnet sich allerdings dadurch aus, dass der Dichter sich hinter seiner Figur gewissermaßen verstecken kann. Er braucht hier nicht metaleptisch in die Ebene der Handlung einzudringen, die Fiktion zu brechen und die Eigenschaften der literarischen Figuren zu überstrahlen. Der Freund des Servilius behält die Autorität seiner Bildung (wenigstens zum Teil), denn die Kenntnis der homerischen Dichtung und daraus abgeleitete Moralität können realistischerweise für einen Römer am Ende des dritten Jahrhunderts angenommen werden. Womöglich hat die Figur dadurch auch innerhalb der Fiktion der Annalen eine besondere Funktion erfüllen können; und zwar insofern der ‚good companion‘ gerade die sapientia repräsentieren und affirmieren kann, die beim Kriegsausbruch ‚aus der Mitte gestoßen‘ wird. Die kulturelle Tradition als Träger ethischer Standards erscheint damit nicht nur als eine spätere Zutat des Dichters, als selbstreferentieller poetischer Schmuck, sondern auch, innerhalb der Fiktion, als historisches Moment.36 4. METAPOETISCHER REALISMUS ALS ANKLAGE: LUCANS BÜRGERKRIEGSGEDICHT Man mag einwenden, die metapoetische Dimension der Annalen sei hierdurch überschätzt. Aber mit Blick darauf, wie Lucan in seinem hochgradig anspielungsreichen Gedicht den römischen Bürgerkrieg darstellt, kann diese Perspektive nützlich sein. Im Fall des Bellum Ciuile hat die Annahme, dass die handelnden Figuren eine bestimmte literarische Bildung haben oder haben sollten, sehr weitreichende Folgen –

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Cf. Fabrizi 2012, 11 f. Hom. Od., 24,51 sowie 2,188, 7,157, cf. Leeman 1958; Skutsch 1985, ad 282. Gell. 12,4; Hor. serm., 1,3,63/93; cf. Skutsch 1985, 450 f. Ein weiteres Beispiel für metapoetischen Realismus in den Annalen ist die Rede des Appius Claudius, 199 f. Sk, die auf Hom. Il., 24,201 f. anspielt, dazu Skutsch 1985, ad loc.; Elliott 2013, 220–222.

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insbesondere, wenn man dem Bürgerkrieg das Postulat einer allgemeinen moralischen Wirkung von Literatur gegenüberstellt, wie es sowohl in philosophischen als auch literaturkritischen Diskursen erhoben worden ist.37 Metapoetischer Realismus lässt sich bei Lucan in verschiedener Hinsicht beobachten. Manche Figuren scheinen bestimmte poetische oder philosophische Texte zu kennen und von dieser Kenntnis zu profitieren; andere kennen die Literatur nicht bzw. ignorieren sie, andere missdeuten sie mit oder ohne Absicht zugunsten ihrer eigenen Zwecke.38 Das bekannteste Beispiel ist Caesar, der nach seinem Sieg über die Republik die Ruinen Trojas besichtigt. Er ist bereits am Grab des Achill in Sigeion vorbeigekommen, in Troja sucht und findet er den Ort des Parisurteils und das Liebeslager des Anchises. Anderes jedoch, das ihm ebenfalls bekannt sein sollte, weil es in der Ilias weit prominenter ist, entgeht ihm (Lucan. 9,974–986):39 inscius in sicco serpentem puluere riuum transierat, qui Xanthus erat. securus in alto gramine ponebat gressus: Phryx incola manes Hectoreos calcare uetat. discussa iacebant saxa nec ullius faciem seruantia sacri: ‚Herceas‘ monstrator ait ‚non respicis aras?‘ o sacer et magnus uatum labor! omnia fato eripis et populis donas mortalibus aeuum. inuidia sacrae, Caesar, ne tangere famae; nam, siquid Latiis fas est promittere Musis, quantum Zmyrnaei durabunt uatis honores, uenturi me teque legent; Pharsalia nostra uiuet; et a nullo tenebris damnabimur aeuo.40

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37 Cf. etwa Aristot. poet., 1448b13–17; Hor. ars, 99 f.; Sen. epist., 88,5/8; allgemein hierzu Häußler 1978, 21–33. 38 Amyclas scheint Arat zu kennen (Lucan. 5,540–559), Cicero, die Verkörperung römischer Beredsamkeit, tritt auf (7,62–85), Lentulus bezieht sich auf den sittlichen Gehalt der Ödipus-Tragödie, um die Parther als unkultiviert darzustellen (8,704–711). Hierzu ausführlich Kersten 2018, 10–34, 138–144. 39 Zu Caesars Besuch in Troja cf. etwa Ormand 1994; Rossi 2001; Tesoriero 2005; Eigler 2005; Bureau 2010; Ambühl 2015, passim. 40 „Unwissend übertrat er einen Bach, der sich durch den trockenen Sand schlängelte, das war der Xanthus. Sicher tat er im hohen Gras seine Schritte, da hindert ihn der phrygische Anwohner, auf Hektors Manen zu treten. Verstreut lagen Steine, ohne irgendeine Spur Heiligkeit: ‚Achtest du nicht‘, fragte sein Führer, ‚den Altar des Herceus?‘ Heiliges, großes Bemühen der Dichter! Alles entreißest du seinem Schicksal; sterblichen Völkern verleihst du Dauer. Sei nicht neidisch auf den heiligen Ruhm, Caesar, denn wenn es Lateinischen Musen erlaubt ist, etwas zu versprechen, werden, solange der Ruhm des Sängers aus Smyrna dauert, kommende Generationen dich und mich lesen: Unsere Pharsalia wird leben und keine Epoche wird uns ins Dunkel verbannen.“

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Caesar, der Nachkomme, verspricht zwar mit großer Feierlichkeit den Wiederaufbau Trojas (9,990–999), aber für den Zeusaltar und das Grab Hektors, zwei Symbole aus dem 24. Buch der Ilias,41 denen hierbei eigentlich eine wichtige Memorialfunktion zukommen müsste, scheint er sich nicht zu interessieren. Man kann fragen, ob er sie ignoriert, weil sie nicht unmittelbar mit dem Julischen Geschlecht verbunden sind, oder weil sie die Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit des Krieges symbolisieren. Lucans Caesar fragt nicht und staunt nicht. Er tritt hier selbstverständlich als ein Herrscher auf, als trojanischer Dynast (Aeneaeque mei … lares 991 f., nepos 996). Weiß er nicht, dass vor ihm schon andere Tyrannen sich der Ruinen bedient haben, um ihre eigene Ilias zu schreiben?42 Auf den tadelnden Ausruf des Führers, der die Ilias offensichtlich genauer oder teilnahmsvoller gelesen hat, folgt eine Apostrophe an Caesar. Formal gesehen, als Ansprache des Erzählers an eine Figur, handelt es sich hierbei um eine Metalepse.43 Allerdings ist dies keine Ansprache, die von der Figur selbst gar nicht verstanden werden könnte und die daher in Wahrheit ausschließlich das Publikum beträfe.44 Von Lucans Caesar, der mit literarischer Erinnerung an Troja beschäftigt ist und der auf seine selektive Ilias-Lektüre realistischerweise ansprechbar sein sollte, ist leicht anzunehmen, dass er es verstehen könne, wenn der Erzähler zu ihm sagt, er solle nicht neidisch sein auf den heiligen Ruhm, den Homer den Helden der Ilias verliehen hat. Es folgt eine doppeldeutige metapoetische Ankündigung: Solange man Homer ehren werde, werde die Nachwelt sie beide lesen, Lucan und Caesar: inuidia sacrae, Caesar, ne tangere famae … uenturi me teque legent; Pharsalia nostra / uiuet, et a nullo tenebris damnabimur aeuo (982/985 f.). In der Apostrophe wird das traditionelle metapoetische Φθόνος-Motiv abgewandelt:45 Lucan verkündigt nicht, wie üblich, dass sein Werk der Missgunst anderer widerstehen werde, sondern er tadelt den Leser Caesar für den Neid, den der empfindet. Nicht das Bellum Ciuile, das Dokument römischen Versagens, wird damit verteidigt, sondern das Heldenlied, das wahren Heroismus definiert. Realistisch gesehen geht es um die homerische Epik. Metaleptisch, für die Leser, geht es natürlich auch um die Aeneis und um die verschiedenen Möglichkeiten ihrer politischen Deutung. Caesars Neid hat nicht nur eine literarische Relevanz; inuidia ist gerade auch ein Antrieb für den Bürgerkrieg.46 Aber die metapoetische Reflexion steht hier synekdochisch: Was Caesars Fortleben in der Erinnerung garantieren soll, ist nicht seine moralische Exemplarität, sondern sein kulturelles Versagen. Caesar übertrifft 41 Cf. Hom. Il., 24,302–313, 782–804. 42 Xerxes hat sich, wie Herodot berichtet, über die Ruinen Trojas belehren lassen und damit wirkungsvoll als sorgfältiger (wenngleich eigene Interessen verfolgender) Leser inszeniert, cf. Hdt. 7,43, 2: πυθόμενος ἐκείνων ἕκαστα; dazu Haubold 2007. 43 Zu Lucans Apostrophen cf. D’Alessandro Behr 2007; Asso 2009; Bartsch 2011. 44 Ein Beispiel hierfür ist die berühmte auktoriale Apostrophe Verg. Aen., 9,446 f.: fortunati ambo! si quid mea carmina possunt, / nulla dies umquam memori uos eximet aeuo. 45 Cf. Pind. O., 8,55; Call. hymn., 2,105–113; Verg. georg., 3,37; Hor. carm., 3,20,4; Prop. 3,1,21; Lucan. 9,359 f.; Sil. 4,400; Tac. dial., 23,6. 46 Cf. Lucr. 5,1120–1135; Verg. georg., 3,37; Lucan. 1,125; 7,269.

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nicht die alten Helden, sondern er, der Exponent des Bürgerkrieges, der seine eigene Lesart der Dinge durchsetzen will,47 bleibt hinter ihnen zurück. Caesar wird von Lucan besungen wie Achill von Homer: Damit nichts vergessen wird, keine Leistung, aber auch kein Verbrechen. Der lucanische Erzähler verhält sich in derselben Situation also grundsätzlich anders als der silianische.48 Ich werde nachher noch einmal auf die schwierige Stelle zurückkommen, möchte aber zuvor kurz auf Pompeius schauen. Während Caesar als ein sehr eigensinniger, gewissermaßen gewalttätiger Leser erscheint, ist Pompeius eher ungeschickt. Pompeius wird als Erbauer seines Theaters in die Handlung eingeführt. Um den Dienst an den Musen ist es ihm freilich nicht in erster Linie zu tun. Er will vor allem, dass die Zuschauer ihm in dem Bau zujubeln. Dennoch erscheint er bei Lucan auch als zitierender Leser. Auch für ihn ist vor allem sein Umgang mit homerischer Dichtung aussagekräftig. Hierfür ist offenbar der für Lucans Leser als bekannt vorauszusetzende Umstand bedeutend, dass über den historischen Pompeius erzählt worden ist, er habe vor einer Schlacht stets die Aristie des Agamemnon gelesen und sich auch von seinen Soldaten gern Agamemnon nennen lassen.49 So spielt Lucans Pompeius, um sich und anderen Mut zu machen, hin und wieder auf Homer an. Da ist zum einen die Prüfung der Truppen am Ende des zweiten Buches, die zwar vollständig missglückt, aber Pompeius nicht davon abhält, sich wie ein homerischer Oberbefehlshaber in Szene zu setzen. Der komplexe Stiervergleich (2,596–609) spiegelt dieses Problem in vielschichtiger Weise wider.50 Ein anderes Beispiel ist das, was Pompeius vor Pharsalos zu seinen Truppen sagt (7,344b–373): totas effundite uires: extremum ferri superest opus, unaque gentis hora trahit. quisquis patriam carosque penates, qui subolem ac thalamos desertaque pignora quaerit, ense petat: medio posuit deus omnia campo. […] credite pendentes e summis moenibus urbis crinibus effusis hortari in proelia matres; credite grandaeuum uetitumque aetate senatum arma sequi sacros pedibus prosternere canos atque ipsam domini metuentem occurrere Romam51

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47 Zu Caesars verschiedenen Selbstinszenierungen cf. Kimmerle 2015, 218–263. 48 Im Gegensatz zu der Tendenz, Caesar als faszinierenden Normbrecher zu sehen, cf. z. B. Groß 2013; Kimmerle 2015 führt eine solche Interpretation wieder auf ein kritischeres Caesarbild. Hieraus allein ist allerdings kein Schluss hinsichtlich der politischen Ausrichtung des Bellum Ciuile möglich. 49 Cf. Lausberg 1985, 1577 f. No. 51/52, mit App. civ., 2,67; Plut. Pomp., 67,5; Leigh 2009, 242, mit Cic. Att., 7,1,2; Dio 42,5,3–5. Dazu auch Ambühl 2015, 125–128. 50 Cf. Kersten 2013. 51 „Gebt alles! Nur eine letzte Anstrengung ist noch übrig. Eine Stunde entscheidet über alle Völker. Wen es nach dem Vaterland und den geliebten Penaten verlangt, wen nach seinen Kindern, seiner Ehe und den zurückgelassenen Verwandten, soll sie hier mit dem Schwert suchen. Ein Gott hat alles mitten aufs Schlachtfeld gestellt. Denkt euch, dass eure Mütter mit gelöstem Haar auf den obersten Zinnen der Stadt stehen und euch zum Kampf aufrufen. Denkt euch, dass die

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Mit der Wendung medio posuit deus omnia campo (7,348) scheint Pompeius darauf zu verweisen, dass bei den Spielen epischer Helden die Siegespreise stets sichtbar aufgestellt waren.52 Am nächsten kommen seine Worte bezeichnenderweise einem Vers aus dem 23. Buch der Ilias: ἀνδρὶ δὲ νικηθέντι γυναῖκ᾽ ἐς μέσσον ἔθηκε (23, 704). Im zweiten Teil seiner Rede bemüht Pompeius überdies ein TeichoskopieMotiv. Beide Anspielungen scheinen jedoch im konkreten Zusammenhang wenig treffend. Bei epischen Spielen geht es gerade nicht um einen Bürgerkrieg, sondern zumeist um die gemeinschaftliche Ehrung eines Toten. Vielleicht muss man sogar fragen, ob der Umstand, dass Achill nicht dem Sieger, sondern dem Unterlegenen eine Frau als Preis ausgesetzt hat, hier nicht eine ungünstige Konnotation haben müsste. Vollends unglücklich ist aber Pompeius’ Ausdruck ense petat (7,348) angesichts der Tatsache, dass es ja gerade das Verhängnis des Bürgerkriegs ist, nicht nur Familienbande auf dem Schlachtfeld zu wiederherzustellen, sondern auch dort zu zerreißen. Das Unpassende an der Beschwörung der Mütter auf den Mauern ist die Vorstellung, dass die Frauen ihre Kinder zum Bürgerkrieg aufhetzen. Das Bild kollidiert offensichtlich mit einem anderen mythischen Paradigma, und gerade vor Pharsalos, das jedenfalls in Lucans Geographie unweit von Theben liegt,53 hätte man hieran denken sollen: Im Bruderkrieg tritt Iokaste zwischen die Armeen ihrer Söhne.54 Unter den römischen Exempla nimmt Veturia, die Mutter Coriolans, eine ähnliche Rolle an.55 Es ist kaum anzunehmen, dass Pompeius das nicht wisse. Wegen des erhofften Platzes in der Geschichte bzw. der Geschichtsschreibung, scheint es, will Pompeius Magnus hier größer, erhabener, ‚epischer‘ erscheinen. Aber die Motive, die er hierfür bemüht, sind klüger als er. Vielleicht sind die Widersprüche, die damit in der als Motivierung gedachten Rede wirksam sind, Pompeius und seinen Zuhörern im Augenblick gar nicht unmittelbar bewusst. Vielleicht ignoriert man sie auch, um vor sich selbst die Fiktion heroischer Größe anstelle eines ciuile nefas aufrecht zu erhalten. Darüber nachzudenken, bleibt Lucans Lesern überlassen. Aber festzuhalten ist: Weder Pompeius noch seine Truppen rechnen nach dieser Rede ernstlich mit dem Sieg. Wie Caesar erhält auch Pompeius eine metapoetisch bedeutende Apostrophe, die der Angesprochene prinzipiell verstehen könnte: In seinem Fall scheint der Autor auf das Tragische in der Lage des Feldherrn hinzudeuten (Lucan. 7,207–213): haec et apud seras gentes populosque nepotum, siue sua tantum uenient in saecula fama siue aliquid magnis nostri quoque cura laboris nominibus prodesse potest, cum bella legentur, spesque metusque simul perituraque uota mouebunt,

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Senatoren, die das Alter am Kämpfen hindert, ihre heiligen weißen Häupter euch zu Füßen legen und dass Rom selbst sich davor fürchtet, einem Tyrannen zu begegnen.“ Cf. Haskins 1887, ad loc.; Postgate/Dilke 1960, ad loc.; Erbig 1932, 11 f. Zu dieser Besonderheit und zur Bedeutung der tragischen Referenztexte cf. Ambühl 2015, 179– 288. Cf. Eur. Phoen., 585 f.; Sen. Phoen., 450–459. Cf. Liv. 2,40; Val. Max. 5,4,1; Flor. epit., 1,22,3.

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Markus Kersten attonitique omnes ueluti uenientia fata, non transmissa, legent et adhuc tibi, Magne, fauebunt.56

Das spesque metusque ist zuletzt von Annemarie Ambühl, die die tragischen Referenztexte Lucans systematisch untersucht hat, als Anspielung auf das aristotelische φόβος καὶ ἔλεος gedeutet worden.57 In metapoetischer Hinsicht schließt sich damit ein Kreis zum Theater, das Pompeius errichtet hat, und das ihn nicht davor bewahren konnte, im wahren Leben seine eigene Tragödie zu erfahren. 5. FAZIT: METAPOETISCHER REALISMUS UND DIE DIMENSIONEN HISTORISCHER EPIK Dem historischen Epos steht prinzipiell eine Anspielungstechnik offen, die für das mythologische unmöglich ist, in anderen literarischen Gattungen jedoch so selbstverständlich verwendet wird, dass es hierzu eines besonderen Begriffes kaum bedarf. In philosophischen Dialogen wird regelmäßig aus dem literarischen Kanon zitiert, um einen bestimmten didaktischen Gehalt zu untermauern. Aber auch in der Geschichtsschreibung; Polybios, zum Beispiel, lässt seinen Scipio besonnen den Vers ἔσσεται ἦμαρ … vortragen (Polyb. 38,22).58 Die hier vorgestellten Passagen sollten zeigen, dass metapoetischer Realismus als Perspektive für die Lektüre historischer Epik interpretativ fruchtbar gemacht werden kann. Der Reiz dieser Perspektive besteht gerade darin, bei entsprechenden intertextuellen Konstellationen jeweils zu fragen, ob bzw. wie sehr diejenigen Anspielungen, die realistisch sein können, die Handlungsebene betreffen und dadurch die Interpretation bereichern. Insofern es hierbei vor allem um ein hermeneutisches Potential geht, kann metapoetischer Realismus wohl kein konstitutives Gattungsmerkmal historischer Epik sein.59 Allerdings lohnt die Überlegung, ob nicht gerade der metapoetische Realismus in der Ausprägung, wie er bei Lucan zu beobachten ist, Anteil an der notorischen Schwierigkeit hat, das Bellum Ciuile zwischen Historiographie, Rhetorik und Poesie einzuordnen, also die generischen Möglichkeiten historischen Erzählens zu erfassen.60 Die hohe Intertextualität und Selbstreferentialität des Gedichts sowie die

56 „Dies wird […] auch noch bei späteren Geschlechtern Hoffnung und Furcht und vergebliches Bitten erregen. Und betroffen werden alle wie von kommendem Verhängnis, nicht von vergangenem, lesen und immer noch werden sie dann, Magnus, zu dir halten.“ 57 Cf. D’Alessandro Behr 2007, 80–87; Ambühl 2015, 245 f. 58 Cf. Ambühl 2010, 20. Für verschieden geartete andere Beispiele cf. etwa Hdt. 7,6, 7,43 (zu beiden Stellen Haubold 2007); Liv. 30,26,9; 37,19,7; Tac. dial., 12 f.; hist., 5,2,3; 3,37,1 (dazu Mayer 2003); Suet. Tib., 70,3; Cal., 34,2. Zur Bedeutung intradiegetischer Erzähler und deren kultureller Wahrnehmungen als Darstellungsmittel bei Tacitus siehe den Beitrag von Alfred Lindl in diesem Band. 59 Auch das Verhältnis anachronistischer zu realistischen Anspielungen und deren Bedeutung für einen übergeordneten Kontext lässt sich nur im Einzelnen beschreiben. 60 Cf. Petron. 118; Quint. inst., 10,1,90; Serv. Aen., 1,382.

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Bedeutung des Literarischen als Gegenstand der epischen Handlung lassen sich unter dem Gesichtspunkt des metapoetischen Realismus sinnvoll beschreiben und zusammenführen. Dadurch wird besonders die Problematik des Kulturverlusts akzentuiert: Die Art, wie Caesar und Pompeius mit Texten und Motiven umgehen, ist bedenklich und fügt ihrer Charakterisierung als Anführer des Bürgerkrieges eine wesentliche Dimension hinzu.61 Für die Wirkung des Epos ist aber nicht nur diese rückblickende Darstellung entscheidend, sondern auch die Agitation des Publikums, das vom lucanischen Erzähler angesprochen62 oder, was weit häufiger geschieht, ‚vertreten‘ wird.63 Hier kommt den gezielten Anachronismen Bedeutung zu: Wenn Caesar durch Troja tappt, geht es, wie gesagt, nicht nur um Homer, sondern auch um Vergil. Selbstverständlich scheint dieser Caesar die Aeneis gelesen und in einem sehr pro-caesarianischen Sinne verstanden zu haben. Er, der Zerstörer der Tradition, verspricht als frommer Nachfahre den Wiederaufbau der Stadt zu seinem eigenen Ruhm. Während aber Caesars Umgang mit Homer realistisch sein kann, ist hinsichtlich Vergils eine Art metaleptischer Wendepunkt überschritten. Innerhalb der Eposhandlung kann und sollte Caesar auf Homer und die Tragödie kulturell ansprechbar sein (das ist er, wie wir gesehen haben, nur unzureichend und hierauf ist womöglich gerade ein Teil seiner Verbrechen zurückzuführen64). Wenn Caesar hingegen die Aeneis kennt und gezielt in seinem Sinne zu deuten scheint, hat das eine andere, eben metaleptische Dimension. Die Grenze zwischen der Welt der Erzählung und der der Rezipienten wird betont. Und es kommt darauf an, dass diese Grenze gerade durch die Literatur der Nachkriegszeit bezeichnet wird, nämlich durch die augusteische Klassik, die ihrerseits entschieden mit der Vergangenheit, mit der literarischen Tradition und ihrer Erneuerung befasst ist. Im Bellum Ciuile, wo niemand ohne Schuld bleibt, ist gerade der historische Moment dargestellt, der die Erneuerung römischer Sittlichkeit durch die augusteische Literatur erfordern wird: Rom geht zugrunde. Andreas Thierfelders populärer Begriff vom Antivergil geht genau von diesem Gegensatz aus: Roma perit vs. Romanam condere gentem.65 Lucans Blick ist, intertextuell ausgehend von der Dichtung Vergils und ihren Ansprüchen, sowohl auf die Zeit davor, den Bürgerkrieg, gerichtet, als auch (wenngleich seltener) auf die Zeit danach, den Prinzipat. Hier sind durchaus noch nicht alle Wunden des Krieges geheilt (cf. 7,847–872). Aber hat man deswegen das Recht zu unterstellen, Lucan führe eine vergilischzuversichtliche Geschichtsdeutung klar ad absurdum? Metapoetischer Realismus erlaubt hier eine folgenreiche Ordnung und Hierarchisierung der Referenztexte. 61 Auch für andere Personen ließen sich ähnliche Beobachtungen machen. Cato möchte man angesichts seines desaströsen Wüstenmarsches darüber befragen, ob er schon einmal etwas von Nikander gehört hat. 62 Cf. 8,835–840, auch die Apostrophe Neros (1,33–66) ist als Anrede an ein allgemeines Publikum interpretierbar. 63 Cf. 1,37: iam nihil, o superi, querimur; 7,639–646: plus est quam uita salusque / quod perit: in totum mundi prosternimur aeuum … 64 Man denke an das Begräbnisverbot: 7,794–803. 65 Cf. Thierfelder 1935; dazu Kersten 2015.

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Wenn in der Handlung des Bellum Ciuile die historischen Voraussetzungen sichtbar werden, die für Vergils Literatur der Erneuerung bestehen, wie würden dann, sozusagen, diejenigen lucanischen Soldaten, die den Bürgerkrieg überleben und nach Hause zu ihren Familien zurückkehren, die Eklogen, die Georgica oder die Aeneis lesen? Könnten sie an ein bevorstehendes Goldenes Zeitalter unter Augustus glauben? Wahrscheinlich bliebe ihnen nichts anderes übrig. Ob Lucans neronische Leser daran glauben können, dass der offensichtlich noch nicht eingetretene ewige Friede nun – wie im Proöm verheißen – unter Nero eintreten wird, ist eine andere Frage. Aber zu ihrer Beantwortung können Lucans Figuren exemplarisch dienlich sein. Caesar und Pompeius scheitern am ethischen Gehalt einer Kultur, auf die sie eigentlich verpflichtet sind. Lucans Kriegsheimkehrer, die nun wieder ihre Felder bestellen sollen (cf. 4,382–401), werden auf eine neue, gar nicht so neue Moralität verpflichtet werden.66 Hier, gewissermaßen kurz vor Beginn der neunten Ekloge, endet die Handlung des Bellum Ciuile, wie es Lucan hinterlassen hat. Als populi nepotum, die, anders als die lucanischen Figuren, Vergils Dichtung wirklich kennen (oder kennen sollten), haben sich Lucans Leser an dieser Stelle zu ihrer eigenen kulturellen Verantwortung befragen zu lassen. Und zu dem ‚Ertrag‘, der bei der Überwindung der Bürgerkriege bisher erzielt worden ist. Auf den intertextuellen Wissensvorsprung, der sie erkennen lässt, dass Caesar, Pompeius und Cato keinen Ausweg aus dem Bürgerkrieg weisen können, werden die Leser verpflichtet. Einen Rückfall in den Bürgerkrieg will das Bellum Ciuile ebenso verhindern wie die naiv ‚pro-augusteische‘ Verbrämung des Prinzipats als Goldenes Zeitalter. Metapoetischer Realismus dient hier dem didaktischen Anspruch eines Dichters, der gleich zu Anfang fragt: quis furor, o ciues? (1,8). Die gesellschaftliche Rolle literarischer Kultur wird herausgestellt und eine wesentliche Funktion historischen Erzählens wird bekräftigt, nämlich die Relevanz aufzuzeigen, die ein bestimmter Blick auf die Vergangenheit für die Gegenwart haben kann. Lucan bietet eine dezidiert literarische Perspektive an; und die Referenztexte, die diese Perspektive ermöglichen, werden – wenigstens insofern sie in je spezifischer Weise auf der Handlungsebene wie auf der Diskursebene interpretativ wirksam sind – affirmiert. Oder pathetisch gesagt: Das Bellum Ciuile ist nur dann düster und skeptisch, und sein verheißungsvolles Proöm ist nur dann ganz unglaubwürdig, wenn das Vertrauen darauf, dass klassische Literatur einen moralischen Fortschritt bewirken kann, generell ungerechtfertigt wäre.

66 Angedeutet ist dies durch eine interne Analepse: o quantum donata pace potitos / excussis umquam ferrum uibrasse lacertis / paenituit (4,385 f.).

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AN ANACHRONASM OR BLUNDER? Dibdin’s Melodrama Mad! and the Siege of Troy as British history on the nineteenth-century London stage Rachel Bryant Davies (Durham) “The Iliad is closely adhered to…yet the classical story is so blinded by the anachronism of modern manners, that humour and interest rapidly succeed each other.”1

The most prolific dramatist of the time had turned, in some desperation, to Homer’s Iliad. Exactly four weeks after the birth of Queen Victoria on 24 May 1819, “an entirely new Comic, Pathetic, Historic, Anachronasmatic, Ethic, Epic Melange” premiered at a theatre in the London borough of Lambeth.2 Melodrama Mad!, Or, The Siege Of Troy was written by Thomas John Dibdin, the “resourceful and alert” owner-manager of the Surrey Theatre.3 His “comic spectacle”, which transposed modern London onto mythical Troy at a minor theatre in the less fashionable end of London, became the unexpected triumph of the season: described by The Literary Chronicle as “the best burlesque we ever witnessed”, repeatedly requested by royalty, and mimicked by schoolboys, it would be recalled as a yardstick by which to measure Victorian burlesque adaptations of classical literature and mythology.4 Crucially, the audience’s “incessant laughter” was triggered by the plentiful anachronisms which featured so strongly in the show’s advertisements as well as throughout the dialogue and staging.5 The Morning Post’s favourable reviews saw no tension between deliberately anachronistic presentation of “the classical story” and the close adherence to the events of Homer’s epic which were detailed for readers. Rather, this major London newspaper suggests that the “anachronism of modern

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Morning Post (22 June) 1819, 3. Dibdin’s Siege of Troy premiered on 21 June 1819. The full, annotated script (and more details on this premiere and the cultural context surrounding epic buresques) is available in Bryant Davies 2018c, and all line numbers are to my edition (the 1819 John Miller edition is unnumbered). My title quotes Dibdin’s Melodrama Mad, 1.1.104 (originally spelled ‘Melodrame Mad’). I would like to thank the editors and conference participants for interesting discussion and, as ever, Simon Goldhill for his insightful reading. White 1927, 75. Literary Chronicle (3 April) 1820, 238–239. Prince Leopold of Saxe-Coburg requested a special performance on 12 July 1819; the Duke and Duchess of Kent on 6 August 1819; the Duke of Montrose on 5 April 1820. For the schoolboy imitation, see Bryant Davies 2018b, 227–231. Dibdin’s Siege of Troy was compared with Robert Brough’s: Blanchard 1858, 11. Morning Post (6 July) 1819, 3.

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manners” which “so blinded” the epic narrative was, in fact, the root of the show’s “humour and interest”.6 Intentional anachronisms underpinned the success of this pioneering comedy. As we shall see, chronological and geographical incongruities were ostentatiously introduced from the prelude: this both primed the audience to identify further deliberate anachronisms and signals their importance to the epic’s transformation into melodrama. Conspicuously non-classical staging, and the panache with which ensuing plot reversals engineered a happy ending, ensured that these anachronisms continued through the show as an integral part of the theatrical experience: impossible to miss, even for the least classically-educated spectator or late arrival.7 Since such comic entertainments appealed to a wide sector of British society they are important evidence for popular, playful ways in which classical antiquity reached a diverse range of spectators and newspaper readers.8 Understanding their anachronisms is crucial to understand the sorts of Classics enjoyed, mocked, and sometimes defended, on the nineteenth-century London stage. Here, I will unpack the unusual number and variety of temporary and textual instabilities deployed in Dibdin’s Siege of Troy, to suggest the appeal of anachronisms to both dramatist and audience, and to set them in the wider context of other contemporary responses to classical epic and the siege of Troy. Dibdin’s deliberate, rapacious, anachronisms fit both categories of intentional anachronism discussed in this volume. Descriptions of “the electrical effect of its comic dialogue and situations” in newspaper reviews clearly suggest the aesthetic pleasure afforded spectators in identifying anachronistic allusions, spectacles, and quotations.9 Thickly layered in burlesque dramas, these function as an accessible game of recognising and unpicking the multiple strata. The theatrical experience becomes a multi-sensory centonic challenge as music, movements, dialogue, props and scenery all rework different sources. “Parody is a marked form of intertextuality”, as Philip Hardie explains, which “relies for its effects on the reader’s knowledge of the text being parodied”: in the case of deliberate anachronisms on stage, more spectators, even those unfamiliar with the specifics of the parodied text, can congratulate themselves for “recognising the parodist’s skill”.10 Anachronisms, especially easily recognisable examples such as contemporary costumes, widen participation in this recognition game. They also enrich it with their dangerous conflation of ancient and modern, which could result in over-identification with the ancient

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Morning Post (22 June) 1819, 3. Playbills advertise that any remaining seats were sold at half price two hours into the evening’s programme (8.30 pm). 8 For analysis of classical burlesque audiences, cf. Hall 1999, 336–366; Richardson 2015, 79– 98; Bryant Davies 2018b, 126–140, 192–193, 211–223. 9 Morning Post (28 June) 1819, 3. 10 Hardie 2014, 174. For further discussion of how different sources were exploited by nineteenthcentury classical burlesque playwrights including Dibdin, cf. Bryant Davies 2018b, 224–245; for parodies of contemporary performance culture, cf. Bryant Davies 2018a. For comparison with Shakespearean burlesques, cf. Schoch 2002.

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world.11 Blurred boundaries, or ‘cross-fade’, between classical and contemporary – wherein much of the comedy of burlesque drama was perceived – often express social and political anxieties.12 Analysis of Dibdin’s Siege of Troy showcases how intentional anachronisms helped burlesque audiences negotiate the risks of adopting the ruined cities of classical epic as models for contemporary culture and imperial politics. First, I will sketch the London performance context which generated so many melodramas, and examine the immediate circumstances which, as Dibdin later explained, provoked the composition of his Siege of Troy and, I argue, inspired his anachronistic approach to the Iliad. I will then turn to the published script to analyse a sample of the most important anachronisms, before setting these against the backdrop of contemporary receptions of classical epic and ancient ruins. “A COURSE OF UNCOMMON AND EXCELLENT VARIETY”: THE COMMERCIAL ADVANTAGE OF COMIC ANACHRONISTIC ADAPTATIONS13 In the summer of 1819, Dibdin was frustrated. His forty-year old establishment was suffering from fresh competition since the new Royal Coburg Theatre (now known as the Old Vic Theatre) had opened a year earlier, just around the block: “a lamentable circumstance” that Dibdin (1771–1841) would later blame as “the ruin of my incipient good prospects”.14 In his Reminiscences (a rather tiresome blend of boasts and whinges), Dibdin paints himself as the victim of his own success: not only did the Coburg “immediately adopt” his “system of dramatising popular classic novels”, but, he complained, its proprietors “always waited for the announcement of my selections to follow them instantly by choice of the same subjects”.15 The final straw came in June 1819. Dibdin had “dramatised Lady Morgan’s romance of ‘Florence Macarthy’”: the Coburg not only advertised the same subject “the very day after” Dibdin, but even premiered “a piece with a similar title on the same evening”.16 Britain was in the grip of a craze for romantic historical novels, especially the Scottish and Irish tales of Sir Walter Scott and Lady Morgan, and melodramatic staged versions were highly popular entertainments. Dibdin and the Surrey Theatre had got into the habit of ‘outstripping every competitor’ to dramatise Scott’s novels,

11 Cf. Bell (2007) on 145, 221–222 for debates about the utility of Greece and Rome as models for nineteenth-century imperial powers; 209 later Victorian ideas of ‘Greater Britain’ intended to “escape the dangers heralded by the past”. 12 For the incorporation of modernity, cf. Hall 1999, 358, 366; Richardson 2003, 57–63, 74–79; Richards 2014, 112–125; Richardson 2015, 81–82, 87–88; McConnell 2015, 257–269; Bryant Davies 2018b, 246–260. 13 Literary Gazette (July) 1819, 415. 14 Dibdin 1837, 211. 15 Dibdin 1837, 210–211. 16 Dibdin 1837, 176, 210.

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and in fact managed to do so four times between January 1819 and 1820.17 It was as a direct reaction to the Coburg’s not-so-coincidental simultaneous enactment that, “during the run” of Lady Morgan’s Irish “national tale”, Dibdin “wrote a comic spectacle, and brought it out at great expense, with the imposing name of ‘Melodrame Mad, or the Siege of Troy’”.18 This adaptation of the Iliad, which in its uninhibited anachronisms united ancient epic and contemporary entertainment culture as joint parodic targets, was appreciated as an innovative choice of subject for melodrama: not only was it “unrivalled by its most successful predecessors”,19 but “very far exceeded all its rivals, both in point of wit and splendour”.20 Dibdin’s selection might have been primarily motivated by a desire to present an unexpected subject. However, this financial stimulus also necessitated his choice of a recognisable plot and characters. The Iliad was an educational staple; it had also been, along with other canonical poems, the target of Thomas Bridges’ “burlesque translation” which was originally published in 1762. The tale of the Siege of Troy was also familiar to non-readers: characters from the Iliad, Odyssey and Aeneid all featured in the broadside ballads which circulated in cheap woodcut format from the seventeenth century.21 This popularity in street-culture is underlined by the central position that William Hogarth allocated the Wooden Horse advertising a fairground performance of the Siege of Troy in his painting of Southwark Fair in 1732. Additionally, in 1795, Astley’s Amphitheatre had responded to ongoing competition from the Surrey Theatre (which had opened in 1782 as The Royal Circus, under the management of Dibdin’s father Charles Dibdin) with a circus performance of “The Siege of Troy; or, famous Trojan horse, a grand heroic […] spectacle”. Dibdin’s subject of The Siege of Troy therefore combined novelty value as a theatrical performance with wide-ranging crowd appeal. The Surrey Theatre in 1819 could seat 2,500 spectators, who were drawn from a social mix that reflected the range of ticket prices: while box seats cost 4 shillings, the gallery was priced at one shilling (twelvepence) with half-price entry at 8.30 pm, two hours in to the evening’s entertainment. This meant that a full-price gallery ticket was the equivalent of roughly half to a quarter of the average unskilled labourer’s daily wage: a spectator who was most unlikely to have read even a summary of the Iliad (since this was some years before the establishment of adult education initiatives by Mechanics’ Institutes or the Society for the Diffusion of Useful

17 White 1927, 103. The plays were: The Heart of Midlothian; or, the Lily of St. Leonard’s: 13 January 1819, ran 170 times; The Bride of Lammermoor; or, the Spectre at the Fountain: 7 June 1819; The Legend of Montrose: 3 July 1819; Ivanhoe; or, the Jew’s Daughter: 20 January 1820. 18 Dibdin 1837, 176. 19 Morning Post (22 June) 1819, 3. 20 Theatrical Journal (June 1819), 544. 21 E. g. ‘The Wand’ring Prince of Troy’: the text and an example of its original format is viewable on the English Broadside Ballad Archive (ID 31770): https://ebba.english.ucsb.edu/ballad/ 31770/image.

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Knowledge).22 As we shall see, however, many of the anachronisms would have been readily understood by the full range of Dibdin’s audience. Like Astley’s Amphitheatre (which it had been built to rival) the Surrey Theatre was attended by an enormously wide social range of spectators: men, women and children, from aristocrats, through tradespeople, to mechanics.23 The Surrey Theatre was across the River Thames from the West End, but was one of the most important London venues.24 Royal “command performances” of Siege of Troy, along with Dibdin’s Scott adaptations, attracted aristocratic audiences and “respectable holiday folks”, which led to the Surrey becoming known as a “fashionable Temple of the Muses”.25 The issue of who knew the Iliad well enough to appreciate Dibdin’s parodies was only raised by one reviewer, who worried that Siege of Troy “is almost too classical for the Surry side of the water” since, “as almost every incident related by the historian of the Siege of Troy is preserved in this burlesque, those who are best acquainted with Homer will most admire it”.26 Certainly, this melodrama would become especially popular among the aristocracy: newspapers delighted in naming the long list of “[f]ashionables who have graced the boxes of this popular place of amusement”.27 The melodrama’s classical credentials were upheld by The Morning Post, which explained that “The Iliad is closely adhered to – the Gods intervene – the combats described by Homer are fought – the town burnt, and all in burlesque”.28 The following week, it even praised this epic dramatisation as “the whole Iliad travestied in the completest manner”.29 This exaggerated description is not completely inaccurate: after the metatheatrical prologue, Act 1, Scene 2 (the supposed opening of the play-within-the-play) shows the gods in council, featuring “Caelestial Conviviality and Party Politics as described in the Iliad”. Thetis supplicates Zeus and the gods are told not to interfere (as at Iliad 1.488–611). Act 1, Scene 3 finally takes us to the Greek camp, where Hector challenges Menelaus to a duel, which becomes a boxing match (a duel avoided at Iliad 7.66–120). Act 2 opens with Chryseis and Briseis gossiping; they tell Ulysses that Achilles won’t receive the embassy due to holding a grudge for Ulysses’ trick on Scyros (a pre-war episode not mentioned in the Iliad). Act 2, Scene 2 returns us to the Iliad, into Helen’s boudoir in Troy, where in an amalgam of Iliad 3, 6 and 22, we see Paris and Helen, and Andromache and Hector. Hector receives a challenge from Achilles, who wants to avenge Patroclus’ defeat (but not, since this is a comedy, his death). Act 2, Scene 3 takes us to the battlefield, where Thersites narrates the action: we see Mars and Venus fighting as in Iliad 5, just 22 Bowley 1900, 82, 60, 72: lists an unskilled labourer/assistant in London earning 2 to 4 shillings daily; artisans in London earned an average of 36 shillings a week in 1820; while London printing compositers (typsetters) earned a daily wage over 40 shillings in 1816. 23 Brady 1838, 116; Davis/Emeljanow 2004, 97. 24 Nicoll 1930, 228. 25 Morning Post (3 April) 1820, 3. 26 Literary Chronicle (3 April) 1820, 238–239. 27 Morning Post (6 August) 1819, 3. 28 Morning Post (22 June) 1819, 3. 29 Morning Post (28 June) 1819, 3.

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before Achilles and Hector’s duel, as in Iliad 22, but this ends with Paris shooting Achilles in the heel. The last short scenes continue the move beyond the Iliad, into the Wooden Horse’s entrance and the sack of the city, before Dibdin’s anachronistic comic reversal. The existence and location of Homer’s Troy and authorship of the Iliad and Odyssey had become an increasingly heated topic of learned debate. It is quite possible that Dibdin, who had attended a “humble, though classical school”30 where he studied “the then usual routine” of Latin authors and “just enough of Greek to confuse me”,31 saw comic potential in antiquarian and philological parallels between ongoing controversies surrounding the Homeric epics and his current staples, which were published anonymously as “Tales from the author of Waverley” and “Irish Tales”. Theories about “The Great Unknown”, as Walter Scott was referred to, echoed those about the historicity of “Mr. Homer, a blind old Ballad-singer”, as Dibdin’s advertisements credited the poet of the Iliad. Furthermore, the supposed rediscovery in 1760 of a Gaelic epic poem by ‘Ossian’ would have underscored such comparisons. Revered in the nineteenth-century by the controversial title of “Homer of the North”, Ossian was a “multiplex publishing event, a national controversy, an international craze” familiar to Dibdin and his audience.32 At the same time, the tale of “Britain’s ancient settlement by Trojan refugees under Brutus”, a story which Alexander Pope had attempted to versify as the Brutiad, reached new audiences in 1801 with the publication of John Ogilvie’s Britannia: a National Epic Poem in Twenty Books.33 As the most prolific playwright and songwriter of the time, and a “versatile compiler”, Dibdin’s choice of the Trojan War, as well as his anachronistic (“Anachronasmatic”) treatment of the Homeric narrative, underscores both the commercial success of antiquarian nationalism and the anachronistic presentation of antiquity.34 Dibdin’s lengthy description of what reviewers labelled a “Burlesque Drama”35 as “a Comic, Pathetic, Historic, Anachronasmatic, Ethic, Epic Melange” also provides an insight into the “monstrous hybridity” of melodrama’s “generic confusion” in the early nineteenth-century theatre. Such “disruptive and transgressive” confusion, although seen by many contemporary critics as a “sign of theatrical decline”, is now recognised as a positive manifestation of theatrical liveliness, as well as platform for social justice (as suggested in expansion of Thersites’ role).36 Melodramas, burlettas and extravaganzas, like the recognisable genre of classical burlesques which would flourish in the mid-1800s, combined dramatic dia30 Dibdin 1837, 225. 31 Dibdin 1837, 20. 32 Tucker 2008, 39. For “the Homer of the North” cf. Kristmannsson 2013, 361. In 1792, when with a travelling company for the summer, Dibdin opened a theatre with “Oscar and Malvina”, probably based on the ballet performed at Covent Garden the previous winter: Dibdin 1837, 153; Boaden 1825, 286–287. 33 Tucker 2008, 93, 95 n. 3, and, on John Ogilvie: 94–95. 34 White 1927, 57. 35 Morning Chronicle (5 July) 1819, 3. 36 Cox 2012, 854–855.

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logue with song, dance, mime, and slapstick comedy to avoid the monopoly on spoken, ‘legitimate’ drama which was claimed by the two licensed theatres, Covent Garden and Drury Lane. All these elements were exploited as further occasion for parody, as is evident in Dibdin’s playbills. This emphasised the anachronistic attractions of his scenery, costumes, machines, decorations, and dances as well as the “ancient Music from some of the greatest Lyres of the earliest ages”, which indicates the adaptation of famous ballads and operatic arias. Most reviews judged Siege of Troy by these criteria: ‘splendour’ and ‘grandeur’ are recurring plaudits. Dibdin would later lament that, if Troy had “been acted on a similar scale at either of the large theatres, I have no doubt but my laurels would have been greener and my purse heavier”. The show’s extraordinary success is indicated by its longevity. Most theatrical entertainments did not, in 1819, run for very long. In fact, following this shock production, Dibdin’s next strategy was to produce “in less than a fortnight from their publication, the tales of Montrose and The Bride of Lammermore, both in one night”.37 As the Morning Post exclaimed on Tuesday 6 July, “[t]hese tales have scarcely been published a fortnight, and yet we last night saw every incident in them most effectually dramatised”. Yet he did not discontinue Siege of Troy which, as the same critic noted, still attracted “its usual share of incessant laughter and approbation”.38 Moreover, a notice the following Sunday announced that the “new and most successful pieces of Montrose and The Bride of Lammermoor, will be repeated the whole of next week, with the Siege of Troy, and every alternate week till further notice”.39 The long-lasting appeal of Melodrama Mad; or, the Siege of Troy (alongside these hot-off-the-press novel adaptations), and its revival for Easter Monday in 1820, must have owed something to the “electric effect of its comic dialogue and situations”: Dibdin’s comic anachronisms were the key to this theatrical Iliad’s success.40 “A SAD AMALGAMATION OF ABSURDITIES”: THE VARIETY OF DIBDIN’S ANACHRONISMS41 The only negative review I have found of Dibdin’s Siege of Troy claims that “it should be the chief aim of the dramatist to adhere closely to the character drawn by the author”. It is not surprising that this critic complained that Dibdin’s melodrama was composed “to suit the present rage for ridicule”, and even described it as “an abortion, which meets with little favour from the public”.42 This judgment was inaccurate, as we have seen, and ostensibly driven by objections over the dramatization of brand-new novels, but clearly also reveals concern over the adaptation of 37 38 39 40 41 42

Dibdin 1837, 176. Morning Post (6 July) 1819, 3. Anon. (11 July) 1819. E. g. Morning Post (28 June) 1819, 3. Theatrical Inquisitor (June) 1819, 467–468. Ib.

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the Iliad into popular entertainment, and the use of anachronistic transformations of classical antiquity. As part of Dibdin’s descriptive advertisement, he emphasised temporal disjunctions in his composite sources: “The Situations and Sentiments from Mr. HOMER, a blind old Ballad singer – one SHAKSPEARE [sic], a Warwickshire Deerstealer – the Language of the Gods from A POPE – and many of the Songs are GAY.”

Here, “A Pope” is the poet Alexander Pope, whose poetic translation of the Iliad had first been published between 1715–1720, was still the standard, while the description of the songs suggests that many were reworked, as was usual, and plays on the John Gay’s name (librettist of the eighteenth-century Beggar’s Opera). This playfulness continues into the list of scenes, which filled posters and functioned as a programme as well as advertisement. Since productions were put together so speedily, some scenery was necessarily re-used, even though audiences also expected splendid backdrops. Dibdin’s synopsis plays on this practice: the contemporary “Parlour in London” which hosts the first scene, is described as “Almost as good as new – a Window repaired and the Floor well scoured”, while the “Tent of Achilles” in the second Act, is acknowledged as being re-used “(From the Bombardment of Algiers)”. This production, Slaves in Barbary; or, British Vengeance, which had received about twenty performances in 1816, dramatised the ongoing naval campaign against piracy and enslavement of Christians.43 Dibdin’s description of the tent’s “conver[sion] from Mahomet to Paganism” suggests the anachronistic incongruity of its re-use (while casting Achilles as a pirate, and therefore confirming sympathy with the Trojans). This List of Scenes also gives away the anachronistic punch-line of the drama: the final scene features a “Flaming Conflagration, and Ruins of the City: With a salutary and moral dramatic Warning to all Owners of Cities, Mansions, &c. to insure their Property in the BRILLIANT TEMPLE OF SECURITY”. Such scenes reinforce the Morning Post’s perception that the anachronisms “blind” the “classical story”. The metatheatrical prologue, set backstage in a contemporary theatre, immediately establishes Siege of Troy as deliberately anachronistic, and even as a parody of the historical melodramas currently on show. As the newspaper explained, the comedy “principally aris[es] from the supposed absence of three actors, in consequence of which Achilles is acted by a Welshman, Agamemnon by a Hibernian [Irishman], and Ulysses by a Scotchman, all with their strong national accent”. The incongruity of enacting the epic in these accents, in a supposedly classical setting, is highlighted in the prologue, so it is highly likely that the Surrey’s current expertise in Irish and Scottish accents from playing Walter Scott’s and Lady Morgan’s characters influenced Dibdin’s decision to represent the diversity of Homer’s Achaeans with the different parts of the new United Kingdom of Great Britain and Ireland, which had only been established on 1 January 1801 – and

43 Cf. further Worrall 2007, 130.

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that this anachronism was intended to be appreciated as a burlesque on the Surrey’s other performances as much as of classical epic. The “Hibernian Author” is forced to justify his anachronistic melodrama against the more conservative opinions of the “Caledonian Critic”: “Critic: Hoot mon – ye put me oot [Hey – you upset me]; the subject being the Siege of Troy, you begin with an anachronasm or blunder in limine, at the vary [very] outset. Why, man, here’s a Grecian chief in a sentry box smoking a pipe of tobacco. Author: (gravely) The stage, sir, should reflect men and manners, not only as they are, but as they ought to be; and if the Greeks had been warmed with a whiff [of tobacco] and a whiskeybottle, the siege would have been settled in a single campaign.”44

This exchange, which also previews the newspapers, artillery, and insurance which crop up later, is intended to ensure that spectators are on the lookout for these anachronisms. The author’s Aristotelian reference in defence of his modernisations as idealised, in the same was as Sophocles claimed to portray characters, also establishes that the other anachronisms are based on canonical literature:45 incongruous classical allusions as well as parodies of modern Shakespearean performances which also reenact historical British battles as the Trojan war. Many of the contemporary everyday anachronisms would have been easily apparent. These include everything from job roles, through technology, to places and pastimes, and costumes.46 At the outset, the Wardrobe Mistress, supposedly backstage, decides that the female characters should wear their own clothes as being more modest than Greek princesses’ outfits. This suggests a high level of deliberate visual anachronism in the costumes, as was often noted in reviews of later classical burlesques. This play shows that the trend was apparent onstage even earlier, and to an even greater extent, since they all build towards the grand finale when the firemen save Troy. In addition to the insurance-company firemen, other new job titles prepare for this reversal: the recently-established policemen are supposed to prevent Hector from his duel with Achilles, while the soldiers enjoy modern army ranks (so, for example, Agamemnon is known as Generalissimo and Achilles as Lieutenant General), and the postmen deliver the news and challenges. Thersites’ disguise when he persuades the Trojans to take the Horse inside the city, is to accuse Achilles of electoral corruption. There are also repeated references to boxing, which was a fashionable sport among many gentlemen at the time. When Thersites narrates the battle, for example, he uses boxing terminology and alludes to famous stars. Modern technological inventions are represented with newspapers, which supply the gods on Olympus with information: Juno enters saying, “I’ve brought the Greek Gazette / Fresh from the office” and describes it as “ringing wet” with fresh

44 Melodrama Mad, 1.1.103–109: Bryant Davies, 2018c, 45. 45 Dibdin references both the subtitle of literary periodical The Monthly Mirror: Reflecting Men and Manners, 1795–1811, and Aristotle’s account that Sophocles claimed to portray “men as they ought to be”, while Euripides showed characters “as they are” (Poetics, 25, 1460b33–4). 46 Edith Hall catalogues a representative selection in her pioneering study: Hall 1999.

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ink.47 A newer craze that Dibdin exploits is an early form of bicycle, which takes the place of cavalry. Velocipedes, also known as Dandy-horses, were invented in Germany and patented in 1818 as the “Laufmaschine”. In June 1819, these had just gone on sale in London, and were the height of fashion. They feature prominently in Dibdin’s advertising: in the list of dramatis personae (which was included on playbills as well as the published script), a group labelled “Velocides” lists components as the characters’ names: “Messrs. Smith, Wheelwright, Carpenter, Axle, Nave [hub of a wheel], Felly [rim of a wheel], Spokes, &c.” Hector, at his first appearance is “preceded by an escort of new-invented cavalry”. Further stage directions describe how: “a corps of velocipedes bearing lances and little flags, gallop smartly round the stage, form in line, salute the assembly, and then lower their lances to Hector, who enters, superbly armed, and bows to Agamemnon, &c. who all rise and salute him in the modern military style.” Dibdin makes the most of this conspicuous anachronism. Not only does Paris want one to escape Hector’s anger, but, in the major battle scene, Diomede responds to Hector’s need for a horse by offering “a true dandy, swifter than the wind”, while Paris enters with “half a dozen” Velocipedes on which Hector can lead the charge.48 This last exchange is part of a wider anachronism brought about by Siege of Troy’s intertextual composition. While these everyday anachronisms would have been easy for all the varied audience members to spot, allusions to canonical literature and drama would have, as at other venues, divided the audience into those unfamiliar or “best acquainted with Homer”.49 In particular, Dibdin makes extensive use of Shakespeare’s versions of British history, again pioneering a tradition of burlesquing Shakespeare which would persist through the century. In particular, he recycled characters recently played at Drury Lane Theatre, one of only two venues in London allowed to perform proper Shakespeare. It is highly likely that his exploitation parodied the actor Edmund Kean, who was at the pinnacle of his career. Kean had recently played the title roles of the plays Dibdin borrows most: Macbeth and Richard III.50 Burlesque was highly intertheatrical as well as intertextual: audiences were expected to be familiar with what other theatres were showing.51 So many images of Kean in character circulated (including miniature and toy-theatre souvenirs) that many more people would have been familiar with his roles than had seen the plays at Drury Lane.52 47 48 49 50

Melodrama Mad, 1.2.16–17: Bryant Davies 2018c, 49. Melodrama Mad, 1.3.106, 1.3.111 Stage Directions, 2.3.10–15: Bryant Davies, 2018c, 59, 81. Literary Chronicle (8 April) 1820, 238. The most recent performances at Drury Lane were 15 October 1818: Macbeth; 5 June 1819: Richard III. Cf. further Norwood 2012, 373. 51 For Bratton’s definition and discussion of ‘intertheatricality’, cf. Bratton 2003, 37. Schoch 2003, xxxi applies this in the context of burlesques of other performances. For examination of intertheatricality in classical burlesques, cf. Bryant Davies 2018a and Bryant Davies 2018b, 224–260. 52 The Victoria and Albert Museum Online Collection includes many examples, including this theatrical portrait from of ‘Mr. Kean, as Richard III’ from 1818: http://collections.vam.ac.uk/ item/O1158449/mr-kean-as-richard-iii-print-hegan-j/.

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The allusions start with Helen criticising her Nurse as “worse than the Nurse in Romeo and Juliet” and exploiting Juliet’s famous line, “Oh Paris, Paris! wherefore art thou Paris?”.53 But the most exciting re-use, where parodies of Kean must have been explicit, is the duel between Achilles and Hector, which is almost centonic. Aside from a short introduction by Thersites in his new role as sports-commentator, and a vignette in which Paris shoots Achilles in the heel, Act 2, Scene 3 reworks lines from Shakespeare’s Macbeth (eighteen lines) and Richard III (twenty-two lines). Only eight lines within this compilation are not direct quotes, and two of those make a velocipede joke.54 Hector’s challenge to Achilles borrows the words of King Richard III of England challenging Richmond at the Battle of Bosworth (which in 1485 was the last major battle in the English Wars of the Roses). Hector continues in Richard’s voice for a while, before switching to Macbeth in eleventh-century Scotland as the tide of battle begins to turn.55 The character mapping is not entirely consistent, as Achilles also speaks Richard’s words. When Achilles uses lines from Macbeth, however, he mostly speaks as the victorious Macduff.56 Further comedy, which also reveals Dibdin’s attention to detail, is provided by Thersites’ one-line response to Achilles-asRichard in the voice of one of Richards’ advisors, Sir Richard Ratcliffe. Another comic detail which highlights the inappropriateness of this borrowing, occurs further into the battle, when Hector-as-Richard asks for medical attention, but then realises he does not yet have any wounds. Hector’s pleasant discovery introduces the climax of this Shakespearean borrowing, as Hector and Achilles rework Macbeth and Maduff’s duel.57 Here, Achilles-as-Macduff’s revelation of his Stygian immunity (based on Macduff’s birth via Caesarean) is comically topped by Hector’s revelation that Achilles was not fully dipped in the Styx.58 These multilayered Shakespearean allusions elide British and Greek history, as well as mocking contemporary performance culture: since Kean was celebrated for his passion onstage, vivdly depicted in contemporary souvenirs, his acting would have been fun to mimic. Classical anachronisms would have required some more specific knowledge to recognise, but also blur perspectives. For instance, as Thersites releases the warriors

53 Melodrama Mad, 2.2.46. Cf. Bryant Davies 2018c, 72. 54 Melodrama Mad, 2.3.1–6 (Thersites), 2.3.59–62 (Paris), 2.3.10–15 (Velocipede replaces Richard III’s horse): cf., respectively, Bryant Davies 2018c, 80, 84, 81. 55 Ib. 2.3.6–7 (Hector begins as Richard III, quoting the recent Drury Lane Theatre, London, adaptation which quoted Shakespeare, Henry VI (2), 5.2.7: Warwick challenges Clifford of Cumberland), 2.3.18–20 (Hector switches to Macbeth’s lines: Shakespeare, Macbeth, 5.5.1, 5.5.51– 2). 56 E. g. 2.3.24–5 (Achilles speaks of Patroclus using Macduff’s words of his wife and children: Macbeth, 5.8.2–3). 57 Ib. 2.3.26 (Thersites has Ratcliffe’s line: Shakespeare, Richard III, 5.4.186–7), 2.3.39–40 (Hector borrows Richard’s words, Shakespeare, Richard III, 5.4.157, then highlights their inappropriateness). 58 Ib. 2.3.55–6: “Despise thy charm / Thy foolish mother held thee by the heel” (Hector uses Macduff’s reply: Shakespeare, Macbeth, 5.10.9–17).

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from the Horse, he sings of Ulysses blinding Polyphemus, an event from the Odyssey’s post-war narrative which could not yet have occurred.59 Even stranger, when Hector’s family try to persuade him not to fight Achilles, Hecuba tells him to ‘Remember Caesar, when his empress dream’d, / And warn’d him e’er the Ides of March were o’er.’60 Shakespeare’s Julius Caesar would also have been familiar from the theatre, but Hector replies: “Mother, thou’rt mad. Of Caesar talk no more; He did not live till after Troy was burnt, therefore Caesar’s not born yet.”61

Cassandra, however, insists that she is familiar with Roman history from a (nineteenth-century) school. Not only is her anachronistic foresight described as “dreaming”, but she is well aware of her Shakespearean borrowing. A little later, she borrows Hamlet’s words to Ophelia but precedes her quotation, spoken in madness, with the knowing reference, “as a future bard will truly say”.62 Perhaps this is also an example of Dibdin making his allusions easier for his assorted spectators to follow. All these anachronisms – both of contemporary nineteenth-century life and literary allusions to other historical periods – build up towards the last scene, where Jupiter declares he will “restore” the city. Against “a magnificent and spacious view in the city…seen on fire”, the final battle scene showcases the Velocipedes and the reworking of Aeneas’ iconic family group: here, Creusa is not lost in battle, but leads Ascanius offstage. As all the gods enter, Jupiter declares that he will restore Troy. This comic reversal, of the sort that would become expected in Victorian classical burlesques, is effectively an advert for Home insurance. Jupiter commands competing companies, each with their own firemen, to join together: “Quick Phoenix! Norwich! Sun! and Hand-in-Hand, Bring forth your engines – Patrons understand, That if our follies are not past endurance, We hope you’ll kindly pardon our Assurance.”63

This is starring moment for the Trojan firemen, named in the dramatis personae as “Messrs. Bucket, Hose, Badge, Pipes, Pump, Engine, &c.” As they enter for a “Ballet Hornpipe of Firemen”, the stage directions describe their engines changing into “pedestals with Genii of each Fire-office on them – the whole burning city to a beautiful allegorical palace of safety and the Arts by Insurance”.64 As David Worrall has explained, Dibdin’s “product placement” demonstrates “surprising perspicuity in reflecting the subtle economic changes already slowly transforming

59 Melodrama Mad, 2.5.1–4: Bryant Davies 2018c, 86. 60 Ib., 2.2.124–5: At Shakespeare, Julius Caesar, 2.2.75–90, Caesar reports Calpurnia’s dream that his statue runs with blood, which Brutus thinks predicts the revival of the Roman Republic. 61 Ib., 2.2.131–3: Bryant Davies 2018c, 75. 62 Ib., 2.2.205: Bryant Davies 2018c, 79. 63 Ib., 2.8.6–9: Bryant Davies 2018c, 90. 64 Ib., 2.8.10 Stage Directions: Bryant Davies 2018c, 90.

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London from its traditional role as manufacturing centre”. Troy’s anachronistic firemen underline how “virtual assets such as insurance risk would become an important aspect of the capital’s role in the consolidation of empire”. They are also necessary, however, to surmount the problems caused by all the previous anachronisms which had conflated mythical Troy with London as “new international financial centre”.65 “THE WHOLE ILIAD TRAVESTIED IN THE COMPLETEST MANNER”: THE CULTURAL RESONANCE OF EPIC ANACHRONISMS66 By conflating the past and present, London and Troy, too closely (as indicated further in Hector’s jokes about excessive classicism), Dibdin’s Siege of Troy mimicked and mocked the nineteenth-century British trend to claim the classical heritage as an imperial model.67 The sheer number and extent of Dibdin’s anachronisms matter because they not only suggest the amusing appeal of classical burlesques which would persist through the century, but set up a pattern which would trouble critics, even as they praised the “illustration of Greek ideas by English instances”.68 The wider group of burlesques which rework the Iliad and Aeneid follow Dibdin’s anachronistic approach as well as his comic plot reversals which endanger the mythical transfer of imperial power from Troy to Rome, on to modern empires. This translatio imperii was commonly perceived at ancient sites. One travel writer, the Reverend John Chetwode Eustace, was moved in 1813 to warn that “the days of England’s glory have their number, and the period of her decline will at length arrive”.69 Dibdin’s rescue of Troy from the conflagration was enacted some 30 years after the first publication of the French Count Volney’s bestselling The ruins: or, a survey of the revolutions of empires (1791; London 1792) portrayed “some traveller like myself…upon the banks of the Seine, the Thames, or the Zuyder sea…solitary, amid silent ruins”.70 It would be, also, nearly twenty years before Thomas Macaulay, the British historian and politician would imagine the New Zealander “observing the ruins of the city in some future fallen London”.71 Troy was a famously ruined city, without even such picturesque remains. Its controversial location at Bunarbashi, a theory propounded in Edinburgh in 1791, had sparked a ferocious pamphlet battle and challenged a series of armchair topog65 Worrall 2006, 256, 272. 66 Morning Post (28 June) 1819, 3. 67 It is a shame that contemporary notices are largely restricted, as was usual, to repeating advertising materials, noting aristocratic spectators, and evaluating stage effects. Later in the century, when cheaper publishing enabled much longer reviews, and a wider range of opinions, to appear in the wider range of titles, reviews engaged in much more depth with the content of burlesques. 68 Brooks 1858, 5. 69 Eustace 1813, 23–4. 70 Volney 2000, 12. 71 Doré/Jerrold 1872, xix.

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raphers and travellers to publish successive theories throughout the nineteenth-century. In fact, only the year after Dibdin’s premiere of Siege of Troy, William Turner wrote the “first clear and unequivocal description of the site of Homeric Troy… at Hisarlik”, and a Dissertation first published in 1822 by Charles Maclaren would eventually attract the attention of Frank Calvert.72 By 1882, in the light of Calvert and Schliemann’s excavations at Hissarlik, a major periodical would describe Troy as a “beacon and a warning”.73 Connections between Troy and London, the ‘New Troy’, were well established in early-modern genealogies.74 Yet, as the newly United Kingdom fostered the “convergence of patriotic with antiquarian interests” as evident in Walter Scott’s novels, Britain’s classical epic past gained new importance. This was the era of Romantic Philhellenism, on the cusp of the Greek War of Independence (1821– 1828), in which British philhellenes promoted the cultural hegemony of ancient Greece as much as political notions of the classical heritage of modern nation-building: later in the century, Victorian proponents of Greater Britain needed to eschew, deliberately, “the models presented by both Rome and Greece” in a “conscious break from previous modes of imperial argument”.75 Onstage, ostentatious anachronisms – as pioneered in Dibdin’s Siege of Troy – re-enacted Homeric epic as an integral part of British history, as well as geography. His chronological incongruities and intertextual instabilities not only provided comedy and satisfaction for the audience, but also negotiated the anxiety generated by legitimacy of anachronistic classical crossfading in wider culture. Deliberate, intentional anachronisms enabled epic’s transformation into melodrama which enacted the dangerous conflation, or safe distancing, of the past and present, ruined and modern. BIBLIOGRAPHY Anon. Newspaper cutting from ‘Surrey Theatre 1819 box’ in the Victoria and Albert Theatre Museum Archives: [11 July 1819]. Bell, Duncan (2007): The idea of Greater Britain: Empire and the future of world order, 1860–1900, Princeton/Oxford. Boaden, James (1825): Memoirs of the life of John Philip Kemble, Esq. Philadelphia. Bowley, Arthur L. (1900): Wages in the United Kingdom in the nineteenth century, Cambridge. Brady, John Henry (1838): A New Pocket Guide to London and its Environs, London. Bratton, Jacky S. (2003): New Readings in Theatre History, Cambridge. [Brooks, Charles William Shirley] (1858): Holiday amusements. Morning Chronicle (28 December), 5. Bryant Davies, Rachel (2018a): Fish, firemen and prize fighters: the transformation of the Iliad and Aeneid on the London burlesque stage. In: Macintosh, Fiona / McConnell, Justine / Harrison, Stephen / Kenward, Claire (Eds.): Epic Performances from the Middle Ages into the TwentyFirst Century, Oxford. 540–557.

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Lascarides 1977, 2, 54. Eagles 1836, 239. Cf. Ziolkowski 2016, 167, 281; Desmond 2016. Bell 2007, 208. On philhellenism, cf. St. Clair 2008; Grammatikos 2018.

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ANACHRONIEN ALS LITERARISCHE TECHNIK

NUNC AD TEMPORUM ORDINEM REDEO – NARRATIVE ZEITMONTAGEN IN TACITUS’ NEROBÜCHERN1 Alfred Lindl (Regensburg) 1. GATTUNGSSPEZIFISCHER UND METHODISCHER HINTERGRUND 1.1 Auktoriale Bemerkungen zur annalistischen Grundordnung der Erzählung Unabhängig von der in der Forschung nicht unumstrittenen Frage, ob die an mehreren Textpassagen wiederkehrende Bezeichnung der libri ab excessu diui Augusti als annales2 jeweils als selbstreferenzielle Titelnennung oder doch eher als pauschale Bezugnahme auf die annalistische Geschichtsschreibung aufzufassen ist,3 ordnet sich Tacitus’ Werk mit dieser rhematischen Etikettierung4 eindeutig der Gattung der römisch-senatorischen Historiographie in annalistischem Format zu.5 Gemäß diesem traditionellen Strukturierungsschema fallen regelmäßig Jahres- und Buchanfänge sowie -schlüsse zusammen, wobei diese markanten Einschnitte durch prominente Ereignisse wie Handlungseintritte oder Todesfälle berühmter Persönlichkeiten akzentuiert sind.6 Die einzelnen Jahresberichte beginnen zudem mit der 1

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Der vorliegende Beitrag basiert auf zwei Vorträgen, die unter jeweils thematisch variierender Schwerpunktsetzung auf den 4. Volturnia an der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie auf der 7. Kleinen Mommsen-Tagung an der Technischen Universität Dresden gehalten wurden. Zudem orientiert er sich an den korrespondierenden Abschnitten der zugrunde liegenden Dissertationsschrift (Lindl in Vorb.). Tac. ann., 3,65,1, 4,32,1, 13,31,1; diese sowie alle folgenden Stellenangaben und Zitate aus dem lateinischen Originaltext der taciteischen Annalen folgen den textkritischen Ausgaben von Borzsák 1992 bzw. Wellesley 1986. Die jeweiligen Übersetzungen sind unter Kenntnisnahme der Übertragungen Hoffmanns 1978 und Hellers 2010 eigenständig verfasst. Cf. Suerbaum 2015, 43 f. mit Anm. 26 f.; Syme 1967, 253 Anm. 1; Pfordt 1998, 18; Koestermann 1963, 55, 546; Koestermann 1967, 294; Shotter 1989, 161 f.; Schmal 2011, 62; Sage 1990, 953 f. Cf. dazu Genette 1992 (1987), 87. Cf. Graf 1931, 4; Walker 1952, 13; Griffin 2009, 182; Adams 1974, 323 f.; Suerbaum 2015, 341; Sage 1990, 975; zur Genese des annalistischen Schemas in der römischen Geschichtstradition Petzold 1993, 151–181; Pausch 2011, 46–53 und insbesondere zur innerjährlichen Anordnung der Geschehensabfolgen 82 f.; Pfordt 1998, 18. Tac. ann., 2,72 (Germanicus’ Tod); 2,88 (Arminius’ Verscheiden); 3,76 (Iunias Begräbnis); 4,1 (erste Erwähnung Sejans); 4,8 (Drusus’ Hinscheiden); 5,1–3 (Livias Lebensende); vermutlich Ende/Anfang Buch 5/6 (Sejans Beseitigung); 6,50 (Tiberius’ Ableben); 11,38 (Ermordung Messalinas); 12,66 f. (Claudius’ Vergiftung); 14,8 (Agrippinas Totschlag) und 14,64 (Octavias Lebensende). Cf. dazu z. B. auch Moore 1923, 9; Griffin 2009, 182; Gingras 1992, 241.

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konkreten Angabe der eponymen consules ordinarii, an deren realzeitlicher Abfolge dienstlicher Aufenthaltsorte orientiert das annuelle Geschehen überwiegend in res internae – res externae – res internae unterteilt wird.7 Ferner suggerieren innerjährlich logisch gesetzte temporale Konnektoren sowie teilweise exakt nachgestaltete Verläufe von natürlichen Jahres- oder Tageszeiten eine kontinuierlich fortschreitende, oftmals bis ins Detail linear geordnete Chronologie. Zwar wird in späteren Werkabschnitten von einigen Forschern zu Recht eine zunehmende Vernachlässigung und kreative Variation herkömmlicher und schematischer Strukturelemente zugunsten thematischer sowie kompositioneller Gliederungsansätze konstatiert. Dieser implizite Ausdruck eines sukzessiven Bedeutungsverlusts republikanischer Traditionen und Institutionen unter dem Prinzipat führt jedoch an keiner Stelle zu einer grundlegenden Ablehnung des gattungsinhärenten Aufbauprinzips.8 Vielmehr bekennt sich die narrative Instanz abgesehen von den formalen Indizien im Anschluss an den „Abhörskandal unter Kaiser Tiberius“9 um den römischen Ritter Titius Sabinus im vierten Buch explizit zur annalistischen Darstellungsform, suum quaeque in annum referre,10 auch wenn diese selbstgewählte Erzählordnung offenbar gewissen Einschränkungen unterliegt. Durch deren strikte Einhaltung werden nämlich inhaltliche und kausale Sequenzen zerrissen, falls innerjährliche Umstellungen, die das lose Kategorienschema der annalistischen Gliederung gewährt, nicht zu einer zusammenhängenden Präsentation eines Geschehens genügen.11 Indem der Narrator aber entgegen seinem vordergründig artikulierten Unmut über diese Limitationen mittels eines geschickt vorausweisenden in tempore dennoch einen jahresübergreifenden Bezug zum Handlungsweitergang herstellt, lässt er hier wie auch an vier vergleichbaren Passagen12 ein unausgesprochenes Bewusstsein für die Vorzüge des annalistischen Systems in deren augenscheinlicher

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Cf. Graf 1931, 5; Ginsburg 1981, 53; Wille 1983, 354 f.; Pausch 2011, 84. Cf. Koestermann 1963, 45, der betont, dass in den Tiberiusbüchern noch jedes Buch mit der Namhaftmachung der eponymen Konsuln beginne, während die Nerobücher „stärker miteinander verzahnt“ seien, sowie Koestermann 1968, 10, wo er bestärkt, „daß die Annalen ihren eigentlichen annalistischen Charakter in weit höherem Maß als früher eingebüßt haben.“ Cf. Moore 1923, 6, 8 f.; Graf 1931, 16 f.; Syme 1967, 266, 269 f.; Suerbaum 2015, 323; Sage 1990, 980 f. und 997, 984; Ginsburg 1981, 2, 11, 17; Pigón 1999, 208; Walker 1952, 37; Wille 1983, 348, 353, 357; Schmal 2011, 61; Bartera 2012, 162 f.; McCulloch 1984, 138 f., 157: „Tacitus saw no need to continue the fiction that Republican practices still counted for something, and, accordingly, began to depart from the annalistic format – the symbol of Rome’s early glory.“ Cf. zudem Classen 1988, 115: „[…] but facing the reality that persons like Livia or Agrippina and their whims were of greater relevance to the course of events than a decision of the senate or a victory in the East.“ 9 Suerbaum 2012, 235, mit Tac. ann., 4,68,1–70,4. 10 Tac. ann., 4,71,1: ni mihi destinatum foret suum quaeque in annum referre, auebat animus antire statimque memorare exitus, quos Latinius atque Opsius ceterique flagitii eius repertores habuere, … uerum has atque alias sontium poenas in tempore trademus. 11 Cf. Syme 1967, 305; Suerbaum 2012, 236 f., 247; Suerbaum 2015, 339, 344; Flach 1973, 228; ausführlich Pigón 2004, 11–18, 168. 12 Tac. ann., 1,58,6: in tempore memorabo; 2,4,3: in loco reddemus; 6,22,3: in tempore memorabitur; 11,5,3: in tempore memorabo; cf. dazu Ginsburg 1981, 2 f.

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Anwendung erkennen.13 Diese sind vor allem in einer absichtlichen Zergliederung zusammengehöriger Erzähleinheiten zugunsten einer langfristigen, konsekutiven Spannungsgenerierung und nachhaltigen Leserbindung zu sehen. Denn an derartigen Stellen wird jeweils dessen Interesse an bevorstehenden Ereignissen geweckt, dessen Neugier durch klare Ankündigungen gesteigert und dessen Erwartungshaltung über zwischenzeitliche Einschübe hinweg bis zur Fortsetzung der entsprechenden Episoden aufrechterhalten.14 Während ein offener Bruch des jahrweisen Schemas in diesen Fällen also abgesehen von den knappen effektvollen Vorausdeutungen weitestgehend vermieden wird, finden sich in den Annalen ferner drei ausdrücklich markierte Abweichungen von der Chronologie, bei denen je dem gegenwärtigen Geschehensstand vorgegriffen und mehrjährige außenpolitische Berichterstattungen unter dem Ziel einer erhöhten Leserwirksamkeit zusammengefasst werden. Durch eine Kumulation historischer Begebenheiten sollen nämlich zum einen eigenwertige, thematisch abgerundete, ansprechende Handlungsstränge entstehen,15 die dem Rezipienten zum anderen eine entspannende, abwechslungsreiche Ablenkung von den innenpolitischen Wirren bieten können.16 Da aus den expliziten auktorialen Kommentaren zur Gestaltung der temporalen Erzählordnung folglich deren intentionales, reflektiertes und rezeptionsorientiertes Arrangement evident wird, soll diese nach einigen methodischen Anmerkungen unter dem Aspekt narrativer Zeitmontagen detailliert untersucht werden.

13 Cf. Suerbaum 2012, 249; Suerbaum 2015, 387; Ginsburg 1981, 30: „There is little reason to believe, moreover, that Tacitus found his chosen medium restrictive.“ Cf. ib., 97; Shotter 1989, 199: „This is less a real objection on Tacitus’ part to the restrictions imposed by the annalistic formula […] than a way of emphasising his personal disgust at the conduct he had just had to recount.“ Goodyear 1970, 24: „That does not mean he accepted the annalistic framework as a strait-jacket. He could usually work within it, but, if stylistic or historiographical reasons make that difficult, then he breaks away from it.“ Pigón 2004, 168: „However, it would be wrong to speak about an irreconciliable conflict between the obligations of the annalistic historian and the freedom of the author to shape the time framework of his story in his own individual way. […] Tacitus is by no means constrained by the annalistic format which he manages to use for the benefit of his presentation of Roman imperial history.“ 14 Cf. Graf 1931, 19; Pigón 2004, 13 f.; Suerbaum 2012, 248, 253 f.; Suerbaum 2015, 347; Koestermann 1965, 208; Wille 1983, 346, 444. 15 Tac. ann., 12,40,5: haec, quamquam a duobus Ostorio Didioque pro praetoribus plures per annos gesta, coniunxi, ne diuisa haud perinde ad memoriam sui ualerent: nunc ad temporum ordinem redeo; 13,9,3: quae in alios consules egressa coniunxi. Cf. auch den parenthetischen Einschub in Tac. hist., 2,27,2: neque enim rerum a Caecina gestarum ordinem interrumpi oportuerat (nach Wellesley 1989). Cf. ferner Graf 1931, 95; Pigón 2004, 16 Anm. 16 und Anm. 17; Suerbaum 2012, 250; Suerbaum 2015, 349 f. 16 Tac. ann., 6,38,1: quae duabus aestatibus gesta coniunxi, quo requiesceret animus a domesticis malis; cf. auch Pigón 2004, 16 Anm. 17; Suerbaum 2015, 350 f.

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1.2 Anachronien als Zeitmontagen – Terminologische und methodische Erläuterungen Anachronismen haftet nach allgemeinem Begriffsverständnis die negative Konnotation des Fehlerhaften und Anstößigen an, da die jeweiligen Elemente vom retrospektiven Standpunkt des Analytikers betrachtet dem Erfahrungshorizont der historischen Lebenswelt weder zuzuordnen noch aus deren zeitgenössischer Perspektive vorstellbar oder möglich sind.17 Zwar besteht damit hinsichtlich der grundlegenden Eigenschaft einer chronologisch irregulären Einordnung von Ereignissen zwischen den Konzepten Anachronismus und Anachronie scheinbar ein basales phänomenologisches Verwandtschaftsverhältnis, das schon bei Genette mehrfach anklingt,18 Anachronien sind jedoch weniger dem generellen Vorwurf eines Normverstoßes ausgesetzt.19 Vielmehr werden derartige Zeitmontagen unter narratologischem Blickwinkel, welcher im vorliegenden Beitrag eingenommen werden soll, als absichtlich herbeigeführte „Dissonanz zwischen der Ordnung der Geschichte und der der Erzählung“20 aufgefasst, die einen eigenen ästhetischen Reiz und ein vielfältiges Anwendungspotenzial besitzt. Um entsprechende Darstellungsweisen systematisch identifizieren, deren Erscheinungsformen präzise beschreiben und Funktionsfacetten angemessen bewerten zu können, bietet sich Genettes in der Narratologie anerkanntes terminologisches Instrumentarium21 inklusive der theoretischen Differenzierung der Diskursebenen in Geschichte, Erzählung und Narration22 sowie der produzierenden Instanzen in Autor und Erzähler an.23 Denn trotz der Entwicklung dieses narratologischen Ansatzes vorwiegend anhand der fiktionalen Ro17 Cf. Barnes/Barnes 1989, 257: „Whether a given representational work contains an anachronism depends upon the kind of representation it is and this in turn depends upon how we interpret the work.“ Borsche 2003, 51: „Zumeist als schlichter Fehler oder Irrtum bei der historischen Situierung eines Ereignisses verstanden, verbindet sich der Anachronismus doch bald auch mit der Vorstellung von der Unmöglichkeit einer behaupteten historischen Situierung.“ Rancière 2015 (1996), 39: „Denn genau dort, wo der Bereich des Verifizierbaren aufhört, nimmt der Vorwurf des Anachronismus seinen Anfang. Der Vorwurf des Anachronismus ist nicht die Behauptung, dass etwas zu einem gegebenen Datum nicht existiert habe, sondern die Behauptung, dass es zu diesem Datum nicht habe existieren können.“ [Hervorheb. d. Orig.] Ib., 45: „Der Beweis des ‚Anachronismus‘ wird dann nach einer gut konstruierten poetischen Logik erbracht, nach der Logik der Wahrscheinlichkeit und der Unwahrscheinlichkeit.“ 18 Cf. z. B. Genette 1998 (1972), 23, 25 f., 53, 58, 80, 111 f., 209. 19 Cf. Kernbauer 2015, 22: „Der Begriff des ‚Anachronischen‘ ist in Absetzung vom ‚Anachronistischen‘ entwickelt, das die falsche Verortung eines Ereignisses auf dem zeitlichen Ablauf bezeichnet.“ 20 Genette 1998 (1972), 23. 21 Cf. Genette 1998 (1972); zur Qualität von dessen System Schmitz 2002, 68: „Genettes narratologisches System darf man heute als das wichtigste bezeichnen, weil selbst diejenigen Narratologen, die es nicht akzeptieren, häufig von seinen Klassifizierungen ausgehen.“ Dazu ebenso z. B. Fludernik 2006, 117; Weixler/Werner 2015, 4 f. 22 Cf. Genette 1998 (1972), 16, 199; cf. zudem Fludernik 2006, 10 f.; Lämmert 1975, 25 f.; White 1986 (1978), 70, 75. 23 Cf. Genette 1998 (1972), 152, 286: „Eine Fiktionserzählung wird fiktiv von ihrem Erzähler produziert und faktisch von ihrem (realen) Autor.“ Cf. zudem Weinrich 1971, 8 f., 23 f.;

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manliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts ist dieser auch auf faktuale Texte sowie insbesondere auf die antike Historiographie übertragbar,24 die gattungsgemäß als ontologische Hybridform mit sowohl faktualen als auch fiktiven Bestandteilen anzusehen ist.25 Als textueller Untersuchungsgegenstand liegen der nachstehenden Analyse von Anachronien die Nerobücher von Tacitus’ Annalen zugrunde, zumal einerseits autorbezogene Monographien der letzten Jahre vorwiegend auf die Tiberiusbücher abheben,26 andererseits die thematische Abgeschlossenheit sowie der überschaubare Umfang der Bücher 13 bis 16 eine strukturierte, ganzheitliche Erfassung relevanter Elemente begünstigen. Je nach Inversionsrichtung der zeitlichen Ordnung werden diese zum einen in Analepsen und Prolepsen geschieden27 und deren spezifische Erscheinungsarten mittels Genettes technischer Attribute charakterisiert.28

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Schmitz 2002, 32; Fludernik 2006, 69–72; Pausch 2011, 9 f.; Sailor 2008, 7 f., 34: „(There is) a close relationship between the historical Tacitus and the narrator of his texts.“ Kritisch Marincola 1997, 132; Suerbaum 2015, 384 Anm. 243. Cf. Genette 1992 (1991), 65–68, 92; Petersmann 1993, 9: „Geht man vom Standpunkt einer umfassenden Narratologie aus, […] mögen die Unterschiede zwischen fiktionalem und faktischem Diskurs nur marginal sein.“ Cf. zudem Fuhrmann 1983, 19–21; Ihrig 2007, 435. Cf. dazu neben Quint. inst., 10,1,31: est enim proxima poetis, et quodam modo carmen solutum est, et scribitur ad narrandum, non ad probandum (nach Winterbottom 1970) z. B. Pausch 2011, 9; Heldmann 2011, v. a. 33 f.; Fuhrmann 1983, 19 f.; Petersmann 1993, 18; Marincola 1997, 124 f.; Gehrke 2015, 226; White 1986 (1978), 64: „Eine historische Erzählung ist von daher notwendigerweise eine Mischung von ausreichend und unzureichend erklärten Ereignissen, eine Anhäufung von erwiesenen und erschlossenen Fakten, zugleich eine Darstellung, die Interpretation ist, und eine Interpretation, die als Erklärung des gesamten in der Erzählung widergespiegelten Prozesses gilt.“ Ib., 146: „In dieser Hinsicht ist die Geschichtsschreibung nicht weniger eine Form der Fiktion, als der Roman eine Form historischer Darstellung ist.“ Suerbaum 2015, 89: „Auch das Werk des Tacitus ist eine Art historischer Roman.“ Cf. z. B. Ihrig 2007; Sailor 2008; Hausmann 2009; Heldmann 2011; Suerbaum 2015. Cf. Genette 1998 (1972), 23, 25 f.: „Mit Prolepse bezeichnen wir jedes narrative Manöver, das darin besteht, ein späteres Ereignis im voraus [sic!] zu erzählen oder zu evozieren, und mit Analepse jede nachträgliche Erwähnung eines Ereignisses, das innerhalb der Geschichte zu einem früheren Zeitpunkt stattgefunden hat als dem, den die Erzählung bereits erreicht hat“ [Hervorheb. d. Orig.]. Cf. zu den korrespondierenden Begriffen intern – extern, kompletiv – repetitiv bzw. iterativ und partiell – komplett bei Ana- und Prolepsen Genette 1998 (1972), 32 bzw. 46, 34 und 36 bzw. 48 und 42 bzw. 53; cf. zum Vorwurf der scheinbaren Willkürlichkeit dieser Bestimmungskategorien Genette 1998 (1983), 206. Da die Nerobücher in diesem Beitrag als eigener Erzählkomplex angesehen werden, wird eine Anachronie als intern bezeichnet, deren zeitlicher Bezugspunkt innerhalb der Bücher 13 bis 16 liegt respektive anzunehmen ist, und als extern, wenn dies nicht zutrifft. Kompletive Anachronien ergänzen Ereignisse, die von der Basiserzählung übergangen werden, wohingegen repetitive Analepsen in dieser bereits erwähnte Vorfälle wiederaufgreifen bzw. iterative Prolepsen an späterer Stelle explizierte Segmente verdoppeln. Bei partiellen Anachronien werden die zwischen deren vergangener oder zukünftiger konkreter Referenz und dem gegenwärtigen Erzählstand liegenden Ereignisse nicht nur fragmentarisch oder unvollständig dargestellt, sondern oftmals ganz ausgelassen. Falls die betreffenden Geschehnisse demgegenüber annähernd lückenlos sowie ohne Kontinuitätsbruch präsentiert werden, sind die Anachronien als komplett zu erachten.

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Zum anderen sollen in Anlehnung an Lämmert auch spezielle kontextuelle Positionierungen vermerkt werden,29 dessen heuristisches Schema mit demjenigen Genettes kompatibel ist und dieses vorteilhaft ergänzt.30 Die fokussierte phänomenologische Vielfalt an so identifizierten Anachronien wird mithilfe einer unmittelbar auf dieser reichhaltigen Befundlage entwickelten Klassifizierung nach funktionalen Formen gegliedert, die a priori nicht disjunkt konzipiert ist, um darin auch einzelfallspezifische, komplexe Gestaltungs- und Verwendungsweisen berücksichtigen zu können. Die gemäß dieser Kategorisierung gebildeten Rubriken werden im Folgenden jeweils anhand prototypischer Textpassagen veranschaulicht, differente Darbietungs-, Nutzungs- sowie Wirkungsaspekte gezielter Zeitmontagen in der Erzählung aufgezeigt und die mannigfaltigen Resultate abschließend zusammengefasst.31 2. ARRANGEMENT- UND EINSATZREICHTUM ANALEPTISCHER DARSTELLUNGEN 2.1 Inhaltlich informierende Analepsen Als ein kontrastives sowie zumindest ansatzweise narratives Pendant zu den dekadenten innenpolitischen Zuständen unter dem geltungssüchtigen, skrupellosen Kaiser Nero ist im gleichnamigen Werkabschnitt die unregelmäßige Berichterstattung aus Armenien mit der charismatischen Hauptfigur des sittenstrengen, erfolgreichen römischen Feldherrn Corbulo zu erachten.32 Dieser außenpolitische Handlungsstrang wird zu Beginn des Jahres 58 n. Chr. anlässlich erneuter militärischer Auseinandersetzungen zwischen Parthern und Römern mittels eines inhaltlich informierenden Rückverweises wieder aufgenommen, der diese Funktionsform beispielhaft illustriert.

29 Cf. Lämmert 1975, v. a. 104–112, 143–175; Pigón 2004, 96, 101, 170. 30 Cf. Genette 1998 (1983), 211. 31 Für ergänzende Beispiele, einen ganzheitlichen Überblick über alle anachronischen Elemente, zusätzliche Analysen und weiterführende Erläuterungen sei auf die entsprechenden Abschnitte der zugrunde liegenden Dissertationsschrift (Lindl in Vorb.) verwiesen. 32 Armenien ist in Tac. ann., 13,6–9; 13,34–41; 14,23–26; 15,1–17 und 15,26–31 Schauplatz des Geschehens; cf. Woodman 2009, 41; Classen 1988, 109; Koestermann 1967, 302; Pfordt 1998, v. a. 137 f.: „[…], während dagegen Nero – und das ist wichtig, herausgehoben zu werden –, ohne daß Tacitus ihn expressis verbis kritisiert, allein durch seine Komposition in Kontrast zu dem positiven Helden Corbulo gestellt wird und damit negativ erscheint.“ Cf. zudem Geiser 2007, zusammenfassend 133–139 und v. a. 146: „Letztendlich erzielt Tacitus also wiederum einen Kontrast – allerdings nicht direkt zwischen Personen und Charakteren, sondern er läßt den Leser vielmehr den Gegensatz zwischen den beiden Welten und der jeweiligen Atmosphäre spüren.“

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Eius anni principio mollibus adhuc initiis prolatatum inter Parthos Romanosque de obtinenda Armenia bellum acriter sumitur, … (Tac. ann., 13,34,2)33

Indem sogleich im Einleitungssatz dieser Episode mit mollibus adhuc initiis prolatatum … bellum eindeutig und mit wörtlichen Anklängen auf die Vorgeschichte rekurriert wird, die mit tamquam bellum different34 ausgeblendet worden war, werden die beiden getrennten Passagen aus Armenien trotz einer textuellen Distanz von vier Jahresberichten scheinbar ohne Auslassung zu einem fortlaufenden Handlungsstrang verknüpft.35 Zugleich aktualisiert diese interne, repetitive und partielle Analepse zentrale verständnissichernde Informationen, die den Rezipienten summarisch an den letzten Stand der bilateralen Beziehungen zwischen Römern und Parthern erinnern und ihm die Ausgangslage vergegenwärtigen sollen. Gerade mit Blick auf die textuelle Position liegt hier demzufolge nach Lämmert eine aufbauende Rückwendung vor,36 bei der wie beispielsweise beim behutsam anhebenden Auftakt der Pisonischen Verschwörung auch in der Erzählung bisher unerwähnte Inhalte in einer Art episodenbezogener Exposition kompletiv ergänzt werden können.37 Mit insgesamt 141 Elementen sind inhaltlich informierende Analepsen somit eine regelmäßig benutzte Darstellungsform, die sich dazu eignet, Verbindungslinien zwischen einzelnen unterbrochenen Geschehenssegmenten herzustellen, für die weitere Berichterstattung relevante Hintergründe nachzutragen und den Leser dadurch bei seiner mentalen Rekonstruktion des Geschichtsverlaufes zu unterstützen. 2.2 Personenbezogene Analepsen Am häufigsten kommen retrospektive Zeitmontagen im Zusammenhang mit Protagonisten vor, wobei die diesbezügliche Kategorie in drei graduell verschiedene funktionale Ausprägungen zu differenzieren ist. Erstens können 102 Rückblicke bei erstmaligen wie auch weiteren Auftritten von Akteuren rasch über deren bisheriges Leben und Wirken aufklären, zu einer zukunftsweisenden, handlungsbestimmenden Charakterisierung und einer zügigen Einordnung dieser Personen in die bestehende Figurenkonstellation dienen. Dies wird exemplarisch an der externen, kompletiven und partiellen Analepse deutlich, die den Rezipienten nicht nur über Neros Beschluss unterrichtet, den unvermittelt auf der Handlungsbühne erscheinenden 33 „Zu Beginn dieses Jahres wurde der Krieg zwischen Parthern und Römern über den Besitz Armeniens, der nach bisher glimpflichen Anfängen aufgeschoben worden war, heftig aufgenommen, […].“ 34 Tac. ann., 13,7,2. 35 Cf. Koestermann 1967, 252 f.; Graf 1931, 24; Wille 1983, 530, 536 f.; Furneaux/Pelham/Fisher 1907, 112; Pfordt 1998, 138, der angibt, dass der Exkurs 13,34–41 die Ereignisse aus den Jahren 55 bis 58 oder 59 n. Chr. zusammenfasst. 36 Cf. Lämmert 1975, 104. 37 Tac. ann., 15,48,1: ineunt deinde consulatum Silius Nerua et Atticus Vestinus, coepta simul et aucta coniuratione, in quam certatim nomina dederant senatores eques miles, feminae etiam, cum odio Neronis, tum fauore in C. Pisonem. Cf. dazu auch Marx 1925, 77; Furneaux/Pelham/ Fisher 1907, 380.

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Tigranes als Herrscher Armeniens einzusetzen. Vielmehr wird die vermeintliche Eignung des Thronprätendenten als armenischer König und starker Vertreter römischer Interessen aufgrund seines ausschweifenden und niederträchtigen Gebarens während seines früheren Aufenthalts in Rom vorab grundsätzlich in Frage gestellt.38 Dem Leser erscheint er damit sogleich als Günstling des Prinzeps, nicht aber als ebenbürtiger Rivale Corbulos, eine Einschätzung, die sich in dessen mangelnder Akzeptanz seitens der armenischen Bevölkerung und anschließend in dessen ungestümem Verhalten widerspiegelt.39 Demgegenüber werden zweitens anlässlich von Todesfällen prominenter Persönlichkeiten, und zwar teilweise auch ohne deren vorherige Handlungsbeteiligung, 22 analeptische Einschübe für würdigende Nachrufe verwendet, wie am Beispiel des L. Volusius’ Lebensleistung anerkennenden Nekrologs ersichtlich wird. At L. Volusius egregia fama concessit, cui tres et nonaginta anni spatium uiuendi praecipuaeque opes bonis artibus, inoffensa tot imperatorum amicitia fuit. (Tac. ann., 13,30,2)40

Eine solche laudatio funebris en miniature ist indes in zweifacher Hinsicht als Anachronie anzusehen. Einerseits kann der durch die textuelle Positionierung suggerierte Ereignis- von dem reellen Todeszeitpunkt abweichen, indem Sterbefälle innerhalb der annalistischen Geschichtsschreibung gemeinhin am Jahresende gelistet werden und dies als gattungsbedingte temporale Unschärfe akzeptiert wird, ohne dass eine explizite Präzisierung durch eine konkrete Datumsangabe oder zumindest einen eigentlich nötigen Tempuswechsel erfolgt.41 Andererseits wird in dieser kompletiven Rückschau Volusius’ erfahrungsreiches Leben äußerst prägnant und auf wenige charakteristische Merkmale reduziert zusammengefasst, wobei sogar seine langjährige Stadtpräfektur, die er immerhin von 39 n. Chr. bis zu seinem Tod bekleidete, unerwähnt bleibt.42 Die spannungsvolle Diskrepanz zwischen der außerordentlichen Reichweite von 93 Jahren und dem geringen Umfang dieser Analepse sowie deren Kontextualisierung unterstreichen also,43 dass eine unbeschwerte, bejahrte und wohlhabende Existenz in tugendfeindlichen Zeiten mit politischen Ver-

38 Tac. ann., 14,26,1: … cum aduenit Tigranes a Nerone ad capessendum imperium delectus, Cappadocum e nobilitate, regis Archelai nepos, sed quod diu obses apud Vrbem fuerat, usque ad seruilem patientiam demissus. Cf. auch Koestermann 1968, 75. 39 Tac. ann., 14,26,2; 15,1,1 f.; 15,4,1–3. 40 „Jedoch verschied L. Volusius, der eine Lebensspanne von 93 Jahren, durch rechtschaffene Tätigkeiten einen außerordentlichen Reichtum und ungetrübte Freundschaften mit so vielen Kaisern gehabt hatte, mit einem vortrefflichen Ruf.“ 41 Cf. Graf 1931, 74; Pausch 2011, 97; Suerbaum 2015, 328; allgemein zu annalistischen Nachrufen Syme 1967, 312 f.; Gingras 1992, 251. 42 Cf. Furneaux/Pelham/Fisher 1907, 192; Koestermann 1967, 293; Wille 1983, 535, der gewissermaßen eine tragische Rahmung bemerkt, da das Konsulat des Sohnes Volusius’ Todesjahr eröffnet. 43 Cf. zu den Termini Reichweite und Umfang von Anachronien Genette 1998 (1972), 31 f.

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folgungen unter mehreren Kaisern zum direkt am Jahresende berichtenswerten Mirabilium und somit zu einer obsoleten Lebensform geworden ist.44 Drittens werden mittels 83 personenbezogener Rückblicke auch subjektive Motive angegeben, die gegenwärtige Handlungen unmittelbar beeinflussen oder nachträglich erläutern. Ohne dass faktisch eine zeitliche Kontiguität zwischen den beiden Vorfällen anzunehmen ist, begründet so Agrippinas Kenntnisnahme von der sich bereits über einen gewissen Zeitraum entwickelnden und niemandem außer ihr verborgen gebliebenen Liebesbeziehung zwischen Nero und der Freigelassenen Acte, von der der Leser gleichsam aus ihrem Blickwinkel lediglich retrospektiv erfährt, ihren plötzlichen vehementen Wutausbrauch gegenüber ihrem Sohn.45 Ebenfalls in einer internen und kompletiven Analepse, einer auflösenden Rückwendung,46 wird dabei die Ursache ihrer lang währenden Ahnungslosigkeit, die zuvor nicht angesprochene Komplizenschaft des praefectus uigilum Annaeus Serenus, eines jüngeren Verwandten und Freundes Senecas,47 nachgeholt, welche zugleich Neros darauffolgende Hinwendung zu seinem Erzieher und Lehrer verständlich macht.48 Indem vergangene Erlebnisse und Geschehnisse zum Teil sogar als kausale Beweggründe, wie ferner auch beispielhaft bei der rückblickenden Erklärung zu Lukans Teilnahme an der Pisonischen Verschwörung,49 ergänzt und artikuliert werden, zielt diese Gebrauchsfacette analeptischer Elemente neben einer Charakterisierung hauptsächlich auf eine unmittelbar biographisch-psychologische Handlungsmotivierung und Begründung gegenwärtiger Verhaltensweisen einzelner Protagonisten ab. Dies steigert nicht nur das textuelle Kohärenzempfinden, sondern trägt wesentlich zu einem leserseitigen Verständnis der persönlichkeitshistorischen Bedingtheit von individuellen Entscheidungen und Taten bei. 44 Tac. Agr., 1,4: tam saeua et infesta uirtutibus tempora (nach Winterbottom/Ogilvie 1975); cf. Sage 1990, 995; Wille 1983, 556; Morford 1990, 1591 f.; Morris 1969, 155 f., 158: „Such obituaries are unnecessary when an entire year – such as the year of the Pisonian conspiracy – has been no more than a chronicle of obituaries.“ Martin 1981, 175: „The formal obituary implies an ordered state, in which men of note die in their beds.“ Ginsburg 1981, 100: „Traditional material (the vota pro salute principis, consular elections, obituaries, and so forth) finds its way into the Tiberian books only when it can be exploited for its thematic relevance.“ 45 Tac. ann., 13,12,1 f.: delapso Nerone in amorem libertae, cui uocabulum Acte fuit, simul adsumptis in conscientiam M. Othone et Claudio Senecione … ignara matre dein frustra obnitente. penitus inrepserat per luxum et ambigua secreta, ne senioribus quidem principis amicis auersantibus; 13,13,1: sed Agrippina libertam aemulam, nurum ancillam aliaque eundem in modum muliebriter fremere, neque paenitentiam filii aut satietatem opperiri, quantoque foediora exprobrabat, acrius accendere, … 46 Cf. Lämmert 1975, 108. 47 Cf. Koestermann 1967, 257, mit Verweis auf die diesem gewidmeten Schriften dial., 2, 8 und 9. 48 Tac. ann., 13,13,1: … donec ui amoris subactus exueret obsequium in matrem seque Senecae permitteret, ex cuius familiaribus Annaeus Serenus simulatione amoris aduersus eandem libertam primas adulescentis cupidines uelauerat praebueratque nomen, ut quae princeps furtim mulierculae tribuebat, ille palam largiretur. 49 Tac. ann., 15,49,3: Lucanum propriae causae accendebant, quod famam carminum eius premebat Nero prohibueratque ostentare, uanus adsimulatione. Cf. Walker 1952, 134; Morris 1969, 222 f.; Hauser 1967, 17.

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2.3 Digressive Analepsen Gemäß republikanisch-annalistischer Manier sind Exkurse feste Bestandteile der lateinischen Historiographie von kompositioneller Bedeutung, die einerseits als diuerticula amoena zur variationsreichen Unterhaltung des Lesers, andererseits zur didaktischen Erörterung des aktuellen Geschehens vor einem breiteren sachbezogenen Hintergrund dienen können, der zudem spezifische inhaltliche Kenntnisse oder Interessen des Narrators widerspiegeln kann.50 Insofern dabei auf geschichtliche Gegenstände eingegangen wird, bilden diese Digressionen eine eigene Kategorie von aufgrund ihres meist ausladenden Textumfangs verhältnismäßig seltenen Analepsen. Von acht exkursartig gestalteten Passagen in den Nerobüchern, die als externe und kompletive Rückblicke den temporalen und thematischen Horizont des Diskurses weiten, wird nachstehend exemplarisch die verwaltungsrechtliche Einlage über die seit Augustus stetig wechselnden Zuständigkeiten für die öffentlichen Rechnungsbücher ausgewählt, die in den Bericht des Jahres 56 n. Chr. eingebunden ist. Varie habita ac saepe mutata eius rei forma. nam Augustus senatui permisit deligere praefectos; deinde ambitu suffragiorum suspecto, sorte ducebantur ex numero praetorum qui praeessent. neque id diu mansit, quia sors deerrabat ad parum idoneos. tum Claudius quaestores rursum imposuit, iisque, ne metu offensionum segnius consulerent, extra ordinem honores promisit: sed deerat robur aetatis eum primum magistratum capessentibus. igitur Nero praetura perfunctos et experientia probatos delegit. (Tac. ann., 13,29,1 f.)51

Diese komplette analeptische Digression, in der ausgehend von der augusteischen Epoche in chronologischer Reihenfolge die unterschiedliche Besetzungspraxis und Verantwortlichkeit für diese staatliche Finanzinstitution erläutert wird, bis mit der Erwähnung von Neros Maßnahmen wieder die Zeitstufe der Basiserzählung erreicht ist, fungiert nicht nur als pragmatische stoffliche Ergänzung einer relativ ereignisarmen Jahresdarstellung.52 Ebenfalls dient sie nicht ausschließlich als aufbereitete Materialsammlung sowie Informationsquelle53 oder kommt aufgrund ihrer 50 Cf. Liv. 9,17,1: et legentibus uelut deuerticula amoena et requiem animo meo quaererem (nach Walters/Conway 1919), Anm. 15 f.; Graf 1931, 74; Walker 1952, 46, 67; Hahn 1933, 75; Syme 1967, 309 f.; Heldmann 2011, 39, 42; Pausch 2011, 91, 103; Suerbaum 2015, 286 f., 314–316, 399–401, 429, 436. 51 „Die formale Zuständigkeit für diese Angelegenheit wurde unterschiedlich gehandhabt und oft geändert. Denn Augustus überließ es dem Senat, Präfekten auszuwählen. Als daraufhin die Stimmenbuhlerei verdächtig geworden war, wurden durch Losentscheid aus der Zahl der Prätoren Vorsteher bestimmt. Doch auch dies hatte nicht lange Bestand, weil das Los auf zu wenig Geeignete fiel. Dann setzte Claudius wiederum Quästoren ein und versprach ihnen außerordentliche Ehren, damit sie nicht aus Furcht vor Misskredit allzu träge vorgingen. Aber ihnen fehlte die Gefestigtheit des Alters, da sie dieses Amt als erstes ergriffen. Also erwählte Nero ehemalige und in der Erfahrung bewährte Prätoren.“ 52 Da sich diese nur über sechs Kapitel erstreckt (Tac. ann., 13,25,1–30,2), ist die auktoriale Feststellung, pauca memoria digna euenere (13,31,1), die zur Einleitung des nächsten Jahresberichts gewählt ist, gewiss auf 56 wie auch 57 n. Chr. zu beziehen; cf. Koestermann 1967, 280 f., 294; Petersmann 1993, 14. 53 Cf. Walker 1952, 67.

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speziellen Thematik lediglich besonderen Neigungen des Rezipienten sowie des Narrators entgegen.54 Vielmehr unterstreicht dieser Exkurs als gattungstraditionelles Element wie auch inhaltlich den in Neros früher Herrschaftsphase simulierten republikanischen Anschein55 und greift durch die direkte Bezugnahme auf Augustus, die während des quinquennium Neronis auffällig oft erfolgt, möglicherweise Aspekte der zeitgenössischen Propaganda einer Wiederkehr von dessen goldenem Zeitalter auf.56 Vordergründig bildet dies die damals suggerierte politische Stimmung ab, zugleich wird diese aber dadurch konterkariert, dass bei einem exakten Vergleich mit der entsprechenden Regelung unter Augustus realiter eine Schmälerung von Senatsbefugnissen und ein sukzessiver Niedergang altrömischer Organisationsformen erkennbar wird.57 Eine solche Entwicklung erscheint angesichts der mit ironischem Unterton referierten staatslähmenden Rivalitäten und Klüngeleien innerhalb der Senatorenschaft überdies sogar notwendig und vernünftig.58 Mittels eines themenspezifischen transhistorischen Überblicks gelingt es somit, eine immanente Diskrepanz zwischen zeitgenössischer politischer Darstellung und historischer Wirklichkeit zum Ausdruck zu bringen und dem Rezipienten einen alternativen Blickwinkel auf die Basiserzählung zu eröffnen sowie ihn zu deren kritischer Evaluation anzuhalten.59 2.4 Analytisch komparative Analepsen Durch knappe retrospektive Anspielungen wie beispielsweise auf die beachtenswerten Eroberungsleistungen der römischen Feldherrn Lucullus und Pompeius in Armenien zur Zeit der Republik wird ein angesichts der veränderten politischen Umstände überholter Referenzmaßstab an das Geschehen angelegt. Vor diesem werden die aktuell missliche Lage und das überhebliche Auftreten Paetus’ zur Farce,60 wohingegen der ehrgeizig und souverän agierende Corbulo zu deren würdigem Nachfolger stilisiert wird.61 Damit evozieren die 26 Analepsen dieser Klasse einerseits 54 Cf. Hahn 1933, 49 f., 89 zur Einmaligkeit eines derartigen Exkursgegenstandes in der überlieferten römischen Historiographie, und demgegenüber Suerbaum 2015, 286 f., 401 f., 432 f. 55 Tac. ann., 13,28,1: manebat nihilo minus quaedam imago rei publicae; cf. dazu Morford 1990, 1603; Sage 1990, 991 f.; Bartera 2012, 165 f. 56 Tac. ann., 13,1,1; 13,3,2; 13,6,3; 13,19,3; 13,29,1; 13,34,1; cf. zum quinquennium Neronis Morris 1969, 71; Koestermann 1967, 7, 236, 349; Syme 1967, 262; Tresch 1965, 74; Flach 1973, 176; Wille 1983, 542; McCulloch 1984, 130, 161; Pfordt 1998, 148. 57 Cf. Syme 1967, 311. 58 Cf. zur Bewertung z. B. Walker 1952, 173; Schmal 2011, 161 f.; Flach 1973, 199, 210; Tresch 1965, 95; Koestermann 1967, 287; Jens 1956, 41: „Die Zeit der libertas, die res publica als konkrete historische Epoche war keine Idealzeit. Mit den Vorzügen der Republik sind auch die Nachteile untrennbar verbunden.“ 59 Cf. Petersmann 1993, 14; Suerbaum 2015, 430, 433. 60 Tac. ann., 15,14,2: tum Paetus Lucullos, Pompeios et si qua Caesares obtinendae donandaeue Armeniae egerant, … memorat. Cf. Pfordt 1998, 175; Geiser 2007, 104. 61 Tac. ann., 13,34,2: et Corbulo dignum magnitudine populi Romani rebatur parta olim a Lucullo Pompeioque recipere; 15,25,3: in eum ferme modum aucta potestate, quem populus Romanus

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implizite Kontrastierungen einzelner Persönlichkeiten und konkreter Ereignisse der römischen Gegenwart und Vergangenheit. In fünf weiteren Fällen leiten anonyme intradiegetische Sprechergruppen62 die Rezipienten andererseits geradezu explizit und anhand bestimmter Inhalte zu einer solchen methodischen Verfahrensweise bei ihrer Beschäftigung mit der Historie an, wie die nachstehende Textpassage verdeutlicht. Adnotabant seniores, quibus otiosum est uetera et praesentia contendere, primum ex iis, qui rerum potiti essent, Neronem alienae facundiae eguisse. nam dictator Caesar summis oratoribus aemulus; et Augusto prompta ac profluens quaeque deceret principem eloquentia fuit. Tiberius artem quoque callebat, qua uerba expenderet, ualidus sensibus aut consulto ambiguus. etiam C. Caesaris turbata mens uim dicendi non corrupit. nec in Claudio, quoties meditata dissereret, elegantiam requireres. Nero puerilibus statim annis uiuidum animum in alia detorsit. (Tac. ann., 13,3,2 f.)63

Mit der griffigen Formulierung uetera et praesentia contendere wird das Prinzip der diachronen Geschichtsbetrachtung als fruchtbare Rezeptionsform ausdrücklich benannt und in der anschließenden kompletiven und kompletten Analepse über den Verfall der Redegabe im julisch-claudischen Kaiserhaus von Augustus bis Nero exemplarisch angewandt. Bemerkenswerterweise verbindet die hier zitierten intradiegetischen Sprecher, die seniores, nicht nur ihre anzunehmende gesellschaftliche Stellung, ihr Lebensalter und ihre methodische Herangehensweise mit dem Narrator als ehemaligem verdienten Konsular, sondern auch die von jenen tangierten Themen weisen überzufällige Berührungspunkte mit den von diesem präferierten Stoffen auf:64 der Niedergang der Beredsamkeit sowie der patrizischen Nobilität, der in gedanklicher Nähe zum Dialogus de oratoribus steht,65 die enorme Anteilnahme am Mord an der unschuldigen Octavia, der den Erzähler selbst zu einer er-

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Cn. Pompeio bellum piraticum gesturo dederat; 15,27,1: mox iter L. Lucullo quondam penetratum, …, pergit. Cf. Pfordt 1998, 179 f.; Tresch 1965, 185; Geiser 2007, 124. Tac. ann., 13,3,2; 13,34,1; (14,63,2); 15,41,1; (15,43,5); an den Textstellen in Klammern werden die Äußerungen zwar nicht explizit den seniores zugeschrieben, diese sind jedoch als Subjekte plausibel. „Die älteren Männer, denen es müßig ist, Vergangenes und Gegenwärtiges zu vergleichen, merkten an, dass Nero als Erster von denen, die sich der Herrschaft bemächtigt hätten, einer fremden Beredsamkeit bedurft hätte. Denn der Diktator Caesar wetteiferte mit den größten Rednern und Augustus besaß eine schlagfertige, flüssige Redefähigkeit, wie sie sich für einen Kaiser schickte. Tiberius verstand sich auch auf die Kunst, Worte genau abzuwägen, gehaltvoll oder bewusst doppelbödig. Ebenso wenig verdarb die geistige Verwirrtheit eines C. Caesar seine Redekraft und auch bei Claudius konnte man, sooft er Vorbereitetes erörterte, sprachliche Gewandtheit entdecken. Nero richtete seinen regen Geist allerdings in Kinderjahren sofort auf anderes.“ Cf. Hahn 1933, 76, wobei sie jedoch unpräzise uulgus und seniores gleichsetzt und somit der besonderen Bedeutung der seniores nicht gerecht wird, Suerbaum 2015, 400 f. Anm. 255; Syme 1967, 228; Pelling 2009, 158 f.: „Paradoxically, a personal voice can sometimes be sensed when it is someone else speaking.“ Tac. ann., 13,3,2; 13,34,1; 14,14,3; cf. Syme 1967, 323, 334; Koestermann 1967, 300; Suerbaum 2015, 198.

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regten Apostrophe bewegt,66 sowie der detaillierte Vergleich zwischen dem früheren und dem zeitgenössischen Stadtbild nach dem Brand Roms, der durchaus der Erfahrung des seniorenhaften Narrators entsprechen kann.67 Aufgrund ihrer geistigen Verwandtschaft mit diesem fungieren die seniores neronischer Zeit folglich als adäquates literarisches Mittel und als gezielt integrierte, didaktische Vorbilder einer angemessenen, erkenntnisreichen Beschäftigung mit der Geschichte, an denen der Erzähler die von ihm erwartete, ideale Rezeptionshaltung gegenüber seinem Werk veranschaulicht. Anhand des nachahmenswerten methodischen Vorgehens dieser soll der Leser also bei ähnlichen Zeitmontagen zu einer reflektierten, analytisch komparativen Auseinandersetzung angeregt werden, die somit nicht nur indirekt provoziert, wie Ginsburg meint,68 sondern sogar beispielhaft demonstriert wird. 2.5 Deiktische Analepsen Unter der Bezeichnung deiktisch werden zuletzt die 17 expliziten Zeitmontagen zu einer Kategorie zusammengefasst, bei denen aufgrund eines unmittelbaren, repetitiven und metadiegetischen Rückgriffs die strukturierende Aktivität des Narrators ersichtlich wird.69 Diesen ist eine temporale Ambivalenz zu eigen, da sie, obwohl sie betont auf die Vergangenheit der Erzählung rekurrieren, zugleich den Zeitpunkt der Diegese vergegenwärtigen und somit die Koexistenz mehrerer im Diskurs enthaltener Zeitebenen andeuten.70 Ist der Fokus der nachfolgenden retrospektiven Zusammenschau, eines „Sündenregisters Thraseas“,71 also vor allem auf das einleitend gesetzte, Aufmerksamkeit erregende ut memoraui als Exempel einer solch deiktischen Form gerichtet, gewährt dieser Textabschnitt abschließend zudem einen vortrefflichen Gesamteindruck von Tacitus’ analeptischer Erzähltechnik. … et accedentibus causis in Thraseam, quod senatu egressus est, cum de Agrippina referretur, ut memoraui, quodque Iuuenalium ludicro parum spectabilem operam praebuerat; eaque offensio altius penetrabat, quia idem Thrasea Pataui, unde ortus erat, ludis †cetastis† a Troiano Antenore institutis habitu tragico cecinerat. die quoque, quo praetor Antistius ob probra in Neronem composita ad mortem damnabatur, mitiora censuit obtinuitque; et cum deum honores 66 Tac. ann., 14,64,3 und cf. Abschnitt 3.5. 67 Tac. ann., 15,41,1; 15,43,5. Eine Erinnerung daran wäre dem beim Rombrand sieben- bis zehnjährigen Tacitus sicherlich geblieben, sofern er sich bereits in diesem Alter dort aufgehalten hat. Zudem implizieren sowohl das Tempus von meminerint (15,41,2) als auch das fokalisiert gesetzte nunc (15,43,5) ein Fortwirken bis in die Erzählergegenwart; cf. ferner Furneaux/Pelham/Fisher 1907, 369, die anmerken, „that the seniores are those still living when Tacitus wrote, when so much more had been done to beautify and adorn Rome“; Koestermann 1968, 242 f. 68 Cf. Ginsburg 1993, 87: „Allusions to the maiores and their institutions also make possible direct comparisons between past and present.“ Zudem Suerbaum 2015, 400 f. Anm. 255. 69 Cf. Genette 1998 (1972), 175; Pelling 2009, 153: „These, then, seem to be ‚buttonholing‘ ‚I‘s, drawing attention to the communicative process at times when it is important that a voiceprint should be heard.“ 70 Cf. Genette 1998 (1972), 36; Lämmert 1975, 122 f. 71 Koestermann 1963, 31.

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Alfred Lindl Poppaeae decernerentur, sponte absens, funeri non interfuit. quae obliterari non sinebat Capito Cossutianus, praeter animum ad flagitia praecipitem iniquus Thraseae, quod auctoritate eius concidisset, iuuantis Cilicum legatos, dum Capitonem repetundarum interrogant. (Tac. ann., 16,21,1–3)72

Obwohl zu Beginn dieser Passage primär Thraseas Verhalten im Senat nach Agrippinas Ermordung, aus dem dessen spätere Gefährdung bereits zu antizipieren ist,73 repetitiv durch den nachdrücklichen auktorialen Hinweis adressiert wird, lenkt diese akzentuierte Bezugnahme auf die zurückliegende eigene Narration den Blick des Rezipienten mit fortschreitendem Lesefluss dennoch auch auf die nachstehenden Analepsen. Denn diese werden in der Reihenfolge der vorausgehenden Berichterstattung als interne, partielle Rückblicke angeführt und abgesehen von Thraseas Beteiligung an Antistius’ Verurteilung, die ebenfalls repetitiv aufgegriffen wird,74 jeweils einzelne Details, nämlich Thraseas mangelndes Engagement bei den Iuuenalia,75 dessen Geburt in Padua, dessen Auftritt bei den ludi cetasti, deren Gründung sowie dessen Abwesenheit bei Poppaeas Beisetzung76 kompletiv hinzugefügt. Am Ende dieser Aufzählung besonders hervorgehoben, obgleich sie in der realzeitlichen Abfolge sogar vor Thraseas erstem Handlungsauftritt zu positionieren ist, wird die analeptische Ergänzung über dessen maßgebliche Rolle beim Repetundenprozess gegen Cossutianus Capito, dem offenbar zur Abfassungszeit der Annalen noch ein gesteigertes öffentliches Interesse zukam.77 Dabei lassen der verrufene Ankläger ebenso wie der Narrator, wenn auch aus grundsätzlich verschiedenen Motiven, die von den beiden uerba memorandi eingerahmten früheren Ereignisse nicht in Vergessenheit geraten. Während Koestermann und Pigón dafür, dass Thrasea beim zugehörigen Bericht über die Bestrafung Capitos zuvor unerwähnt bleibt, kompositorische Gründe

72 „[…] und gegen Thrasea traten als weitere Gründe hinzu, dass er, wie ich erwähnte, den Senat verlassen hatte, als über den Tod Agrippinas Bericht erstattet wurde und dass er für die juvenalischen Spiele zu wenig sichtbares Engagement gezeigt hatte. Gerade diese Beleidigung wirkte nachhaltiger, weil derselbe Thrasea in seiner Heimatstadt Padua in tragischem Kostüm an den vom Trojaner Antenor eingerichteten Spielen gesungen hatte. Auch am Tag, an dem der Prätor Antistius wegen Schmähgedichten auf Nero zum Tod verurteilt werden sollte, hatte er für Milderes gestimmt und daran festgehalten. Als man göttliche Ehren für Poppaea beschloss, war er zudem absichtlich abwesend gewesen, hatte nicht am Begräbnis teilgenommen. Dies ließ Cossutianus Capito nicht in Vergessenheit geraten, der abgesehen von seinem Gemüt, das Schandtaten zugeneigt war, Thrasea nicht gewogen war, weil er aufgrund von dessen Einfluss und dessen Unterstützung für die kilikischen Gesandten verurteilt worden war, während diese Capito wegen Veruntreuung angeklagt hatten.“ 73 Tac. ann., 14,12,1: Thrasea Paetus … exiit tum senatu, ac sibi causam periculi fecit, …; cf. Koestermann 1968, 378. 74 Tac. ann., 14,48,3–49,3; cf. Koestermann 1968, 379. 75 Tac. ann., 14,15,1–5 und damit aufgrund der tendenziell chronologisch geordneten Aufzählung gegen den von Koestermann 1968, 378, vorgeschlagenen Bezug auf 15,33,1. 76 Tac. ann., 16,6,1 f.; cf. Koestermann 1968, 379. 77 Cf. Quint. inst., 6,1,14 sowie Iuv. 8,93 mit Pigón 2003, 151; Hauser 1967, 110; Martin 1981, 169; Furneaux/Pelham/Fisher 1907, 455; Morford 1990, 1620 f.

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angeben,78 erscheint eine Nennung Thraseas bei den Leichenfeierlichkeiten zu Ehren Poppaeas gezielt vermieden, um Capitos anschließenden Vorwurf, dass jener sich seiner staatsmännischen Pflichten bereits seit drei Jahren entziehe, textuell nachzugestalten.79 Dies entspricht nämlich genau dem Zeitraum seit dem Eklat zwischen dem oppositionellen Politiker und Nero bei der Beerdigung von Poppaeas Tochter im Jahre 63 n. Chr., der im Übrigen mit dem eindeutigen und letzten Indiz für die Lebensgefahr, in welcher Thrasea trotz des vermeintlich erfolgreichen Aussöhnungsversuchs Senecas ab diesem Vorfall schwebt,80 in der obigen summarischen Rückschau fehlt. Die andauernde Ungewissheit bezüglich des Verbleibs des stoischen Oppositionellen dient einerseits der Spannungsgenerierung, andererseits kommt der Übernahme der Hauptanklage durch Capito aufgrund des vorherigen bewussten Verschweigens von dessen persönlicher Feindschaft mit Thrasea ein gewisser Überraschungseffekt zu,81 sofern der Rezipient nicht über ein fundiertes historisches Vorwissen verfügt. Deiktische Rückverweise können somit als höchst aufmerksamkeitswirksame textuelle Marker verwendet werden,82 um bestimmte Personen sowie spezielle Einzelheiten zu betonen und durch das annalistische Schema getrennte Handlungsstränge retrospektiv zu verknüpfen,83 was am Anfang einer weiterführenden Episode zu einer informationsreichen aufbauenden Rückwendung anwachsen kann. Dadurch entsteht ein feinmaschiges Netz kohäsiver Bezüge, die die werkinterne Orientierung des Lesers erleichtern84 und trotz der impraktikablen Handhabung eines antiken Schriftstücks sowie der gewöhnlich linearen Rezeptionshaltung Ansatzpunkte für eine protagonisten-, themen- oder situationsorientierte, selektive Lektüreform zumindest innerhalb gewisser Werkabschnitte erkennen lassen.85

78 Tac. ann., 13,33,2; cf. Koestermann 1967, 299; Koestermann 1968, 379; Pigón 2003, 144, 151 f. 79 Tac. ann., 16,22,1: … triennio non introisse curiam, …; cf. Koestermann 1968, 207, 377; Wille 1983, 592; Syme 1967, 556 f.; Pigón 1999, 210; Pigón 2003, 146, 150. 80 Tac. ann., 15,23,4: adnotatum est, … Thraseam prohibitum immoto animo praenuntiam imminentis caedis contumeliam excepisse. secutam dehinc uocem Caesaris ferunt, qua reconciliatum se Thraseae apud Senecam iactauerit, …; cf. Koestermann 1968, 206; Morris 1969, 208; Pigón 2003, 150; Martin 1981, 177. 81 Cf. Koestermann 1967, 299; Koestermann 1968, 379. 82 Cf. Pelling 2009, 152: „Still, Tacitus’ ‚I‘-language is interesting, often lending emphasis to passages where a strong response is expressed.“ 83 Cf. Graf 1931, 18, 21; Wille 1983, 4. 84 Cf. dazu Bretschneider 1905, 4; Fludernik 2006, 75; Pausch 2011, 118–122. 85 Cf. Bartera 2012, 174, der schlussfolgert, „that imperial historiography can be read not only as annalistic history but also as ‚lives of individuals‘.“ Cf. außerdem zur Anlage separierter Lektüreeinheiten im livianischen Werk Pausch 2011, 119, 121.

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3. KOMPOSITIONS- UND NUTZUNGSVIELFALT PROLEPTISCHER FORMEN 3.1 Inhaltlich informierende Prolepsen Zur Untersuchung prospektiver Einschübe empfiehlt sich eine separate Gruppierung der mit 81 Elementen recht zahlreich vertretenen inhaltlich informierenden Prolepsen. Diese greifen dem aktuellen Erzählstand vor, gewähren temporäre Ausblicke auf zukünftige Vorkommnisse, nehmen geschichtliche Geschehensausgänge vorweg und können sich bisweilen bis zum Narrationszeitpunkt erstrecken.86 Hierzu gehören schlichte, regelmäßig gesetzte sowie thematisch orientierte Ankündigungen zu Beginn geschlossener Einzelepisoden, deren unmittelbar nachstehende Ereignisse sie überschriftartig und prägnant vorstrukturieren, so dass diese Schlagzeilen typischerweise interne, iterative und partielle Prolepsen sind.87 Sinnfällige Beispiele für demgegenüber kompletive inhaltliche Vorverweise birgt der Darstellungskomplex des Rombrandes mit der sogar auf die extradiegetische Gegenwart bezogenen Erwähnung von Neros gescheitertem Kanalbauprojekt vom Averner See zur Tibermündung88 ebenso wie mit den Erläuterungen zur kaiserlichen domus aurea. Denn diese erhebt sich bereits in jenem zeitlichen Kontext mit ihrem Glanz von Edelsteinen und Gold, ihren Parkanlagen etc. ohne Rücksicht auf die nach Koestermann mindestens neunmonatige Bauphase89 imponierend und vollendet vor dem geistigen Auge des Rezipienten. Ceterum Nero usus est patriae ruinis extruxitque domum, in qua haud proinde gemmae et aurum miraculo essent, solita pridem et luxu uulgata, quam arua et stagna et in modum solitudinum hinc siluae, inde aperta spatia et prospectus, … (Tac. ann., 15,42,1)90

Auch wenn der Leser angesichts der werkspezifischen Überlieferungssituation lediglich hier von der Existenz dieses Bauwerks erfährt, erfüllt diese ergänzende interne Prolepse nicht nur eine dokumentarische Informationsfunktion, sondern richtet die Aufmerksamkeit von den durchaus anerkennenswerten sowie probaten Interventions- und Wiederaufbaumaßnahmen des Kaisers gezielt auf dessen aufwendige und groteske Bauprojekte.91 Diese erscheinen somit in schärfstem Kontrast zur vorherrschenden Armut und Not der Stadtbevölkerung, die beim Brand Roms selbst 86 Cf. hierzu auch Pigón 2004, 83–88, 92–95, 170. 87 Z. B. Tac. ann., 13,42,1: uariis deinde casibus iactatus et multorum odia meritus reus, haud tamen sine inuidia Senecae damnatur; 16,13,1: tot facinoribus foedum annum etiam dii tempestatibus et morbis insigniuere; cf. Pigón 2004, 88 f., 170; Koestermann 1963, 31; Seitz 1958, 89 f.; Wille 1983, 591; Morris 1969, 261. 88 Tac. ann., 15,42,2: … manent uestigia irritae spei; cf. Pigón 2004, 73 mit Anm. 24; Suerbaum 2015, 74–76, 288, 424 Anm. 269, 556–558. 89 Cf. Koestermann 1968, 278. 90 „Im Übrigen benutzte Nero die Trümmer seiner Heimatstadt und errichtete ein Haus, in dem nicht ebenso sehr Edelsteine und Gold bewundernswert waren, woran man längst gewöhnt und was durch die Verschwendungssucht gemein geworden war, wie Wiesen, Teiche und nach Art von Einöden hier Wälder, dort Freiflächen und Aussichtspunkte, […].“ 91 Tac. ann., 15,39,2, 15,43,1–4; cf. Koestermann 1968, 239, 242 f., 250.

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den essenziellen Lebensbedarf verloren hat,92 so dass an der obigen wie auch an zwei späteren Stellen eher von einer fugenlosen Montage verschiedener Zeitstufen unter einer dramatischen beziehungsweise manipulativen Darstellungsabsicht als einem unwillkürlichen chronologischen Irrtum auszugehen ist.93 Darüber hinaus werden thematisch vorausdeutende Formen von meist großer Reichweite eingesetzt, um stets iterativ Anfang respektive Ende einer Sequenz inhaltlich oder situativ vergleichbarer Vorkommnisse zu kennzeichnen.94 Zwar können sich die Angaben dabei auf äußerst knappe textuelle Hinweise wie ein attributives primus anlässlich des ersten Mordes unter Neros Regime oder in praesens bei dessen Aufgabe der kurzfristig intendierten Griechenlandtournee95 beziehungsweise ein einleitendes ad postremum vor den Anklagen Thrasea Paetus’ und Barea Soranus’ beschränken.96 Dadurch wird dem Rezipienten jedoch unmissverständlich angezeigt, dass der jeweilige Handlungsstrang entweder mit etwaigen zwischenzeitlichen Unterbrechungen wiederholt aufgegriffen und fortgesetzt wird oder eine Serie ähnlicher Ereignisse bald endet. Mittels dieser punktuellen Informationen werden folglich nicht nur buchübergreifende Verbindungen zwischen themen- oder personenspezifischen Vorfällen hergestellt, sondern diese Prolepsen verweisen auch auf latente Entwicklungen, die sich kontinuierlich parallel zur und vornehmlich unter der Oberfläche der explizierten Haupterzählung abspielen sowie zu dieser konforme oder konträre Hintergrundstimmungen erzeugen. Zudem können sie in Einzelfällen zumindest zu einer vorsichtigen stofflichen Rekonstruktion nicht erhaltener Abschnitte der Annalen beitragen.97 3.2 Personenbezogene Prolepsen Als funktionales Komplement zu figurenspezifischen Analepsen an Episodenanfängen finden sich an deren Enden bei temporären oder endgültigen Handlungsaustritten von 15 Personen summarische Antizipationen ihrer biographischen Zukunft. Neben beiläufigen Charakterisierungen und eingeschobenen Würdigungen von Persönlichkeiten bedienen die oftmals weitreichenden Ausblicke auf deren späteres Leben teils bis zum Tod abseits des Plots insbesondere ein ausgeprägtes leserseitiges Interesse an Individualschicksalen, und zwar gerade dann, wenn diese skurrile Eigenschaften besitzen, zuvor einen bemerkenswerten Auftritt hatten oder wesent92 Tac. ann., 15,38,4–7. 93 Tac. ann., 15,52,1 bzw. 15,53,3; cf. Anm. 89 sowie Furneaux/Pelham/Fisher 1907, 386: „Tacitus appears to forget that the building of the new palace could only just have been commenced.“ Cf. ib., 388. 94 Cf. Genette 1998 (1972), 49 f. 95 Tac. ann., 13,1,1: prima nouo principatu mors … bzw. 15,36,1: nec multo post omissa in praesens Achaia … 96 Tac. ann., 16,21,1: trucidatis tot insignibus uiris ad postremum Nero uirtutem ipsam exscindere concupiuit … 97 Z. B. Tac. ann., 15,36,1 bzw. 16,21,1 mit Seitz 1958, 89; Hauser 1967, 124; Koestermann 1968, 158, 229, 377.

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lich am Geschehen beteiligt waren.98 Häufig wird hierbei ein ironischer Kontrast, der jegliche höhere Gerechtigkeit und göttliche Lenkung in Frage stellt,99 zwischen unbeschadet überlebenden Tätern und deren bedauernswert in den Tod getriebenen Opfern, zwischen prinzipientreuen Vertretern des römischen Imperialismus und um Rom verdienten Angehörigen dadurch ausgelöschter Völkerschaften oder wie beim nachstehenden Prozess um Pompeius Silvanus zwischen habgierigen Klägern, betagten Beklagten und schmeichelhaften Unterstützern evoziert.100 In dieser externen, partiellen und kompletiven Prolepse werden gewissermaßen die drei damals gültigen Kriterien sozialer Anerkennung, nämlich Reichtum, Kinderlosigkeit und hohes Alter, dargelegt und die Verdorbenheit der römischen Gesellschaft resigniert bis zynisch vorgeführt.101 Siluanum magna uis accusatorum circumsteterat poscebatque tempus euocandorum testium; reus ilico defendi postulabat. ualuitque pecuniosa orbitate et senecta, quam ultra uitam eorum produxit, quorum ambitu euaserat. (Tac. ann., 13,52,2)102

Unter einer gesonderten Facette personenbezogener Vorausdeutungen, allusiver Vorgriffe, lassen sich nach Genette informationsarme, eher schlaglichtartige Erwähnungen von Figuren kategorisieren, denen im derzeitigen Geschehen überwiegend keine handlungsrelevante Rolle zukommt, aber deren Namen sowie Taten dem Rezipienten aufgrund seines historischen Vorwissens und angesichts deren künftiger geschichtlicher Bedeutung im Rückblick vertraut sind.103 Auf diese Weise werden inklusive der späteren Kaiser Otho, Vitellius, Vespasian und Nerva104 ebenfalls schon in den Nerobüchern 22 namhafte politische sowie militärische Akteure des darauffolgenden Bürgerkriegs nahezu unkommentiert und nebenbei angeführt. Diese narrative Technik wirkt wie ein gezieltes proleptisches Namedropping, das den Leser auf die unausgesprochenen, aber geschichtsträchtigen Leistungen und Verfehlungen der jeweiligen Charaktere aufmerksam machen, ihn diesbezüglich in eine vorgezogene Erwartungshaltung versetzen und seine Gedanken möglicherweise schon über die Handlung der Annalen hinaus auf diejenige der zeitlich anschließenden Historien lenken soll.105

98 Cf. Pigón 2004, 71–73, 169 f.; Walker 1952, 35 f. 99 Tac. ann., 16,33,1: aequitate deum erga bona malaque documenta; cf. Kroymann 1969 (1952), 160; Koestermann 1963, 31; Koestermann 1965, 207; Koestermann 1968, 335; Furneaux/Pelham/Fisher 1907, 469 f. 100 Z. B. Tac. ann., 14,62,4; 13,56,3; 13,52,2. 101 Cf. Syme 1967, 450. 102 „Silvanus hatte eine große Anzahl an Anklägern umlagert und diese verlangte Zeit, um Zeugen vorzuladen; der Angeklagte drängte aber darauf, sich sofort verteidigen zu dürfen. Und er behielt die Oberhand, weil er über Reichtum, keine Kinder sowie ein hohes Alter verfügte; dieses Leben setzte er noch über das derjenigen hinaus fort, durch deren Fürsprache er entkommen war.“ 103 Cf. Genette 1998 (1972), 51; Pigón 2004, 82 f., 170. 104 Tac. ann., 13,12,1 sowie 13,45,4–46,3; 14,49,1; 16,5,3; 15,72,1. 105 Cf. Syme 1967, 301: „Tacitus introduces certain characters not so much for any word or deed as for their prominence in subsequent history.“ Dazu Koestermann 1968, 344; Pigón 1999, 209.

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3.3 Prodigiale und pseudoprodigiale Prolepsen Auch wenn der unregelmäßige werkinterne Gebrauch und die vornehmlich auf die Nerobücher beschränkte Präsenz von Omina in der Forschung verschiedentlich ausgelegt werden,106 bieten die enthaltenen Prodigienberichte als turnusmäßig an Jahresenden und Buchanfängen sowie -schlüssen oder vor entscheidenden innen- und außenpolitischen Handlungssituationen positionierte Gattungselemente der römischen Historiographie einen geeigneten Kontext für religiös fundierte, ambigue bis zukunftsgewisse Vorausdeutungen.107 Dementsprechend wird zum Beispiel mit Hilfe einer internen, iterativen und partiellen Prolepse Caesennius Paetus’ desaströse Niederlage gegen den Partherkönig Vologaeses angekündigt, deren Eintreten aus den verklausulierten Formulierungen durchaus antizipierbar ist,108 ohne dass jedoch bis zuletzt eine glückliche Schicksalswendung durch eine geschickte militärische Intervention Corbulos ausgeschlossen wird. Diese bedingte Zukunftsgewissheit bildet nicht nur die prinzipielle Unbestimmtheit geschichtlicher Ereignisausgänge zum Geschehenszeitpunkt ab, sondern resultiert auch aus einer an anderer Stelle hervorgehobenen Ungültigkeit und Folgenlosigkeit von Prodigien.109 Neben dem proleptischen Gehalt steigert also gerade der unberechenbare Wechsel zwischen üblicher Schicksalshaftigkeit und mangelnder Zuverlässigkeit das flaue Unsicherheits- und Spannungsempfinden des Lesers. Weiterhin nehmen vermehrt Elemente ohne evident vorausweisende oder genuin prodigiale Inhalte gemäß dem annalistischen Prinzip für unheilvolle Omina reservierte intratextuelle Positionen ein. Dies trifft exemplarisch auf die gegen Ende des 13. Buchs referierten Vorkommnisse zu, die angesichts der innerhalb der Berichterstattung über Neros Prinzipat singulären Koinzidenz von Jahres- und Buchschluss besonders akzentuiert sind.110 Obwohl diese, und zwar vor allem der Brand

106 Cf. Walker 1952, 248; Kroymann 1969 (1952), 155; McCulloch 1984, 158, 162; Pöhlmann 1910, 45; Syme 1967, 312, 523; Davies 2004, 162 f. Anm. 64; Shotter 1989, 8; Dickison/ Plympton 1977, 183. 107 Cf. Davies 2004, 154, 159, 222; Schmal 2011, 122 f.; Krauss 1930, 29; Pigón 2004, 69 f.; Griffin 2009, 171; Walker 1952, 246: „In general Tacitus seems to regard portents, if genuine, as signs of an immutable will which proceeds to its destined end whether the signs are observed by men or not.“ McCulloch 1984, 208: „The issue is not whether Tacitus did or did not believe that such prodigies had an influence on the operation of the natural world. Instead, within his narrative they have a portentous significance.“ Cf. des Weiteren zu Prodigien bei Livius Pausch 2011, 91; Khariouzov 2013, passim; zur Zukunftssicherheit von Vorausdeutungen Lämmert 1975, 142 f. 108 Tac. ann., 15,7,2: Armeniam intrat tristi omine. nam in transgressu Euphratis, quem ponte tramittebant, nulla palam causa turbatus equus, qui consularia insignia gestabat, retro euasit; hostiaque, quae muniebantur hibernaculis adsistens, semifacta opera fuga perrupit seque uallo extulit; et pila militum arsere, magis insigni prodigio, quia Parthus hostis missilibus telis decertat. Cf. Geiser 2007, 92 f.; Kröger 1940, 66. 109 Tac. ann., 14,12,2 bzw. 16,13,1 f. Cf. Krauss 1930, 27–29, 70, 113 f.; Kröger 1940, 14; Walker 1952, 250; Pigón 1999, 209; Pigón 2004, 70. 110 Cf. Segal 1973, 109; McCulloch 1980, 237; McCulloch 1984, 161; Koestermann 1967, 349.

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der colonia Claudia Augusta Agrippinensium, als einzigartige innere Unruhe hervorrufende Überleitungen fungieren, wird ihre auffallende Gestaltung allerdings nicht selten als allzu vehemente Unterbrechung der Erzählung,111 als „alte annalistische Gewohnheit“112 oder gar als „sign[s] of incompleteness“113 missverstanden.114 Sed ciuitas Vbiorum socia nobis malo improuiso adflicta est. nam ignes terra editi uillas arua uicos passim corripiebant ferebanturque in ipsa conditae nuper coloniae moenia neque exstingui poterant, non si imbres caderent, … *dein residentibus* flammis propius suggressi ictu fustium aliisque uerberibus ut feras absterrebant. (Tac. ann., 13,57,3)115

Die Bedeutung dieser Passage beschränkt sich nicht auf eine eindrucksvolle Dokumentation der Zerstörung Kölns durch eine unabwendbare Naturkatastrophe. Vielmehr weist das verheerende Unglück von Agrippinas Geburtsort, dessen aktueller Name wie derjenige seiner Schirmherrin trotz vorheriger Schilderung der Erhebung zur Kolonie um einer gewissen Obskurität willen bewusst verschwiegen werden,116 anknüpfend an die bereits dreimalige Ankündigung des Muttermords117 und deren dreijährige Handlungsabsenz118 auch einen Leser mit geringen Geschichtskenntnissen auf eine baldige Bedrohung und Beseitigung der Kaisermutter hin. Hierzu tragen zudem die exponierte Stellung am Übergang vom 13. zum 14. Buch, das mit der Episode über Agrippinas Ermordung einsetzt, sowie zahlreiche inhaltliche und sprachliche Parallelen zu dieser Szene bei.119 Folglich wird dieses historische Ereignis zusammen mit dem symbolträchtigen Absterben der ficus Ruminalis, das den geographischen Fokus der Erzählung auf den anschließenden Handlungsort Rom verlagert,120 funktional zu einem internen, iterativen sowie partiellen proleptischen 111 Cf. Koestermann 1967, 349; Koestermann 1968, 19. 112 Marx 1925, 81. 113 Syme 1967, 742 sowie cf. 745: „In two instances the links from book to book are unsatisfactory. Concluding Book XIII with a series of events on the Rhine frontier, Tacitus realized that the last item (a mysterious fire in the territory of Colonia Claudia, which he wanted to have for some reason or other) was not a suitable termination. He added the report of a portent at Rome, brief, isolated, and meaningless, and left it there (XIII.58).“ 114 Cf. ferner Syme 1967, 269, 312; Morris 1969, 68; Hauser 1967, 73, 75; Waddell 2013, 472, 490 f. 115 „Aber die mit uns verbündete Bürgerschaft der Ubier wurde von einem unerwarteten Übel heimgesucht. Denn aus der Erde kamen Feuer hervor, ergriffen weit und breit Landgüter, Felder sowie Dörfer, breiteten sich sogar innerhalb der Mauern der kürzlich gegründeten Kolonie aus und konnten nicht gelöscht werden, selbst wenn Regen fiel, […]. Als die Feuer daraufhin nachließen, rückten sie (sc. die Bewohner) näher heran und versuchten, diese wie wilde Tiere mit Knüppelhieben und anderen Schlagwerkzeugen zu vertreiben.“ 116 Tac. ann., 12,27,1; cf. Koestermann 1967, 347. 117 Tac. ann., 13,16,4; 13,20,1; 13,20,3. 118 Nach Tac. ann., 13,22 tritt diese nicht mehr in Erscheinung; cf. Morris 1969, 80, 182; Morford 1990, 1602; Sage 1990, 993; Tresch 1965, 172 Anm. 55; Syme 1967, 308; Pigón 2003, 150; Bartera 2012, 168. 119 Cf. Segal 1973, 116 f.; McCulloch 1980, 238; McCulloch 1984, 163; kritisch Morris 1969, 69; Pfordt 1998, 143. 120 Tac. ann., 13,58; cf. Furneaux/Pelham/Fisher 1907, 229; Pöhlmann 1910, 24; Krauss 1930, 134 f.; Koestermann 1967, 348 f.; Morris 1969, 69 f.; Segal 1973, 112; Dickison/Plympton

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Pseudoprodigium. Indem derartige narrativ raffinierte Arrangements insbesondere an Buchenden wiederholt auftreten, können sie als gezielt platzierte Cliffhanger verstanden werden, die dem Rezipienten einen Ausblick auf Höhepunkte des jeweils nachfolgenden Werkabschnitts gewähren.121 Damit tragen die 24 in den Nerobüchern enthaltenen prodigialen sowie pseudoprodigialen Zeitmontagen wesentlich zu einer inhaltlichen Vorstrukturierung bei, projizieren unheilvolle Atmosphären und versetzen den Leser mittels sinistrer Antizipationen in eine erwartungsvolle Anspannungshaltung.122 3.4 Subjektiv nuancierte Prolepsen Nach der Tötung von Cornelius Sulla, Claudius’ Schwiegersohn, in Massilia auf Tigillinus’ böswilliges Betreiben ist ein ebenfalls von Nero beauftragtes Mordkommando nach Asien unterwegs, um Rubellius Plautus zu beseitigen. Diesem, der sich zwangsweise dorthin zurückgezogen hatte, überbringt ein Bote seines Schwiegervaters L. Antistius die Aufforderung, sich dem drohenden Schicksal durch einen mutigen Aufstand zu entziehen.123 … et mandata L. Antistii soceri attulit: effugeret segnem mortem, *in odium suffugeret et* magni nominis miserationem; reperturum bonos, consociaturum audaces; nullum interim subsidium aspernandum. si sexaginta milites (tot enim adueniebant) propulisset, dum refertur nuntius Neroni, dum manus alia permeat, multa secutura, quae adusque bellum eualescerent. denique aut salutem tali consilio quaeri, aut nihil grauius audenti quam ignauo patiendum esse. (Tac. ann., 14,58,3 f.)124

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1977, 184 f.; McCulloch 1980, 238; McCulloch 1984, 163–166; Wille 1983, 542; Davies 2004, 205, 213; Pfordt 1998, 143; Suerbaum 2015, 335 f.; Khariouzov 2013, 156, die auch in Livius’ erstem Buch konzentrische prodigiale Bewegungen auf Rom hin konstatiert. Cf. Morris 1969, 68; Segal 1973, 115 f.; Wille 1983, 542; Pfordt 1998, 143; Dickinson/Plympton 1977, 183; Waddell 2013, 491 f.; McCulloch 1980, 237 f.; McCulloch 1984, 162 f.; Pigón 1999, 208; Pigón 2004, 101, 170: „Finally, it should be remarked that the historian tends to place anticipatory statements either at the beginning or at the end of a book, a narrative year or a large section of his account.“ Cf. zur anregenden Wirkung offener Handlungsfolgen Lämmert 1975, 170; Schmitz 2002, 104; zu dieser Technik im livianischen Geschichtswerk Pausch 2011, 207: „Daneben gibt es aber zahlreiche Buchenden, an denen auf den Abschluß eines Handlungszusammenhangs offenbar bewußt verzichtet wird. Stattdessen wird die Entwicklung in der Schwebe gelassen oder der weitere – mit Vorliebe für den Leser bedrohliche – Verlauf mit gezielten Vorverweisen angedeutet, um auf diese Weise Spannungsbögen gerade über den materiellen Einschnitt des Endes der Papyrusrolle hinaus zu konstruieren.“ Tac. ann., 14,22,3; 14,57,1–58,3. „[…] und er überbrachte die Weisungen des Schwiegervaters L. Antistius: Er solle einen durch Trägheit mitverursachten Tod meiden, im Hass und im Mitleid mit einem großen Namen seine Zuflucht suchen. Er werde Gute finden, sich mit Mutigen vereinigen; keine Hilfe sei unterdessen zu verschmähen. Wenn er die 60 Soldaten – so viele kamen nämlich – fortgetrieben hätte, würde, bis die Botschaft Nero gemeldet und eine weitere Schar hingelangen würde, vieles fol-

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In diesem proleptischen Widerstandsplan stellt Antistius hypothetisch einen gewaltsamen militärischen Konflikt zwischen Nero und Plautus in Aussicht und räumt seinem Schwiegersohn, wenn es ihm gelänge, den ersten vom Kaiser entsandten Soldaten zu entgehen, durchaus Erfolgschancen ein, so dass „das Gedankenspiel zugrunde(liegt), wie leicht es doch hätte anders ausgehen können.“125 Dadurch wird statt der a priori angenommenen Ausweglosigkeit von Plautus’ Situation unter dieser figurenspezifischen Perspektive kompletiv eine mitreißende Handlungsalternative präsentiert, die ihre Attraktivität aus dem antizipierten Antagonismus eines charismatischen Opfers und eines mörderischen Tyrannen gewinnt. Zugleich evoziert diese subjektive Zukunftsvorstellung die faszinierende Überlegung, was wohl geschehen wäre, wenn Plautus Antistius’ Rat befolgt hätte.126 Wie hier exemplifiziert kann der Leser also bei der Kategorie fokalisierter Prolepsen, der innerhalb der Nerobücher 30 Elemente zuzuordnen sind, durch anregende Rollenübernahme sowie Introspektion in den limitierten Wissens- und Wahrnehmungshorizont historischer Personen bezüglich des tatsächlichen Ereignisausgangs kurzfristig verunsichert und ihm das surreale Gefühl einer polyvalenten Ergebnisoffenheit der geschichtlichen Entwicklung vermittelt werden.127 Dies veranlasst ihn zu eigenen divergenten sowie ausladenden Zukunftsannahmen und -modellen sowie einem reflektierten Abgleich „eine(r) historifizierte(n) Alternative unter unendlich vielen historischen Verlaufsmöglichkeiten.“128 Die dadurch angestoßene, intensive Auseinandersetzung und mentale Durchdringung des narrativen Diskurses fördert schließlich eine adäquate Evaluation geschichtlicher Vorkommnisse, deren Würdigung sowie die Bildung eines vertieften historischen Verständnisses.129

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gen, was bis zu einem Krieg erstarken könne. Schließlich könne mit einem solchen Plan entweder die Rettung errungen werden oder ein Wagemutiger müsse nichts Schlimmeres erleiden als ein Feiger.“ Demandt 1986, 31. Cf. zu äquivalenten Überlegungen beispielsweise auch Liv. 9,17,1–9,19,17; Sen. nat., 5,18,4 mit Suerbaum 1997, 37, 41 f.; Pausch 2011, 91, 200–202. Cf. dazu Pausch 2011, 96, 202; Grethlein 2013, 159: „The ‚sideshadowing‘ makes the narrative dramatic and restores presentness to the past.“ Cf. zudem Pigón 2004, 168; Pigón 2003, 145: „It is obvious that most of the prolepses made directly by the narrator are true, whereas those presented through the medium of his characters may prove, in due course, false (unless characters are granted some superhuman power to foretell future events.“ [Hervorheb. d. Orig.]. Suerbaum 1997, 38; cf. Demandt 1986, 49: „Alle unverwirklichten, aber irgendwie gefaßten und noch faßbaren Pläne, Projekte und Programme sind historisch interessant, doch hängt ihre Plausibilität an dem Reifegrad, den sie erreicht haben, und an den Rahmenbedingungen, die zu ihrer Realisierung hätten erfüllt sein müssen.“ Cf. Suerbaum 1997, 49: „Ungeschehene Geschichte ist ein Spiegel der wirklichen Geschichte. Dieser Spiegel lässt das Bild der echten Geschichte in einem anderen Licht erscheinen, einmal heller, einmal düsterer.“ Demandt 1986, 16: „Das Nachdenken über vergangene Möglichkeiten erweitert unsere Kenntnis der Vergangenheit um Wißbares.“ Ib., 38: „Wenn wir ungeschehene Möglichkeiten nicht konstruieren dürfen, können wir geschichtliche Wirklichkeit nicht konstruieren.“

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3.5 Deiktische Prolepsen Durch metadiegetische Bemerkungen, auf den Narrationszeitpunkt verweisende Adverbien oder äquivalent genutzte Ausdrücke nehmen deiktische Vorgriffe auf zukünftige Geschehnisse beziehungsweise den Moment des Erzählakts Bezug. Bei diesen werden dadurch, dass in der Basishandlung Ausblicke auf deren Weitergang verankert sind und zugleich stets die ordnende Gegenwart der Aussageinstanz wahrnehmbar ist, mehrere temporale Ebenen simultan und übergangslos verschränkt.130 Die 21 in den Nerobüchern identifizierten, entsprechenden Prolepsen differieren zudem bezüglich ihrer Reichweite, da sie sich wie bei der erstmaligen Erwähnung des neu berufenen Prätorianerpräfekten Nymphidius lediglich monothematisch auf die unmittelbar nachstehenden Abschnitte131 oder wie im folgenden Textbeispiel auf ganze Werkpartien beziehen können, so dass sie jeweils zur lokalen respektive globalen Gliederung des Diskurses eingesetzt werden. Dona ob haec templis decreta quem ad finem memorabimus? quicumque casus temporum illorum nobis uel aliis auctoribus noscent, praesumptum habeant, quotiens fugas et caedes iussit princeps, totiens grates deis actas, quaeque rerum secundarum olim, tum publicae cladis insignia fuisse. neque tamen silebimus, si quod senatus consultum adulatione nouum aut patientia postremum fuit. (Tac. ann., 14,64,3)132

In mitreißender Indignation über Octavias brutale Ermordung wendet sich der Narrator gegen Ende des 14. Buchs abrupt von den grauenerregenden Vorfällen ab und mit einer rhetorischen Frage direkt den extradiegetischen Adressaten zu.133 An diese erteilt er angesichts der Perversion der moralischen Zustände nicht nur einen erläuternden Rezeptionshinweis für sein eigenes sowie die Werke seiner Schriftstellerkollegen. Vielmehr erhebt er die sittliche Depravation der aristokratischen Lebenswelt in einer internen, iterativen und partiellen Prolepse geradezu programmatisch zum thematischen Selektionskriterium und bezüglich des Servilitätsgrades progressiven Leitmotiv seiner Berichterstattung, „so dass die Nero-Bücher der Annales zum Musterbeispiel dafür geworden sind, wie dank der tätigen Mitwirkung

130 Cf. Genette 1998 (1972), 48; zu dieser spezifischen Kategorie auch Pigón 2004, 63–65, 68 Anm. 11. 131 Tac. ann., 15,72,2: de Nymphidio, quia nunc primum oblatus est, pauca repetam: nam et ipse pars Romanarum cladium erit. Cf. Pigón 2004, 78 f.; Suerbaum 2015, 388, ähnlich zu den Vorgriffen in den Historien. 132 „Dass deshalb für die Tempel Weihgaben beschlossen wurden, zu welchem Zweck werden wir dies noch erwähnen? Wer auch immer die Unglücksfälle jener Zeiten durch uns oder andere Schriftsteller kennenlernen wird, soll sich im Voraus bewusst sein, dass, wie oft der Kaiser Verbannungen und Morde befahl, so oft den Göttern Dank abgestattet wurde, und dass einstige Kennzeichen glücklicher Zustände damals Ausdruck der staatlichen Misere waren. Aber dennoch werden wir nicht schweigen, wenn irgendein Senatsbeschluss hinsichtlich seiner Schmeichelei neuartig oder seiner Unterwürfigkeit das Letzte war.“ 133 Cf. Koestermann 1968, 155; Morford 1990, 1610; Goodyear 1970, 24: „Here he is so deeply involved that his indignation breaks out in a violent crescendo of emotion.“

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des Senates aus dem virtuellen ein wirklicher malus princeps wird.“134 Die leidenschaftliche Appellstruktur wie auch die bewusst verwendeten Pluralformen135 bringen einerseits ein persönliches Verhältnis des Erzählers zum Berichteten sowie dessen vermeintliche Gefühlslage beim Wachrufen der Erinnerungen zum Ausdruck, was Sympathie, Ehrlichkeit und letztlich Glaubwürdigkeit erzeugt.136 Andererseits verweisen sie auf die grundlegende narrative Kommunikationssituation und zielen auf eine affektive sowie kognitive Involvierung des Rezipienten137 und die Etablierung einer bindungsstärkenden virtuellen Leidensgemeinschaft bei der betont mühevollen und unerfreulichen Rekonstruktion der nach auktorialer Meinung erschütternden Vergangenheit ab.138 Zugleich schreckt die Ankündigung eines fortschreitenden ethischen Niedergangs, zunehmender gesellschaftlicher Dekadenz, wachsender politischer Gewalt inklusive aller zugehöriger Begleiterscheinungen nach Weinrichs Ansicht nicht von der Lektüre ab, da dies bedeuten würde, dass „das Publikum sich durch pathetische Appelle und überstarke Schockmittel um seine Heiterkeit bringen ließe“,139 sondern weckt und steigert ein paradoxes Interesse an Verfolgung, Leid sowie Übeltaten.140 Akzentuierte Positionierung und dramatische Thematik, emotionale Impulsivität und unvermittelte auktoriale Präsenz dieser proleptischen Metalepse suggerieren folglich den Eindruck eines absichtlich nach der ersten Hälfte der vier Nerobücher an den Schluss des 14. Buchs gestellten Binnenproömiums.141 134 Heldmann 2011, 118 [Hervorheb. d. Orig.]; cf. Heldmann 2013, 328 f.; Ginsburg 1981, 92; Walker 1952, 220 f.; Hauser 1967, 70 f.; Kröger 1940, 9; Vielberg 1987, 107 f.; Suerbaum 2015, 293 mit Anm. 185. 135 Cf. dazu auch Walker 1952, 188. 136 Cf. Genette 1998 (1972), 184; Fludernik 2006, 75 f.: „Dabei unterstreichen metanarrative Kommentare des Erzählers seine Glaubwürdigkeit, weil sie seine Schwierigkeiten mit der Eruierung der wahren Vorgänge oder seine Probleme, die richtigen Worte zu finden, als Authentifizierungsstrategien begreifen lassen.“ 137 Cf. zur gezielten Erzeugung einer solchen Kollektivität auch Tac. Agr., 2,3, 3,2, 45,1 f.; Furneaux/Pelham/Fisher 1907, 314; Fludernik 2006, 42; zu deren leserseitiger Wirkung Hausmann 2009, 80, 143 f.; Marincola 2003, 306–308. 138 Tac. ann., 4,33,3, 6,7,5, 16,16,1; cf. demgegenüber das konträre Movens der Geschichtsbetrachtung bei Livius (Liv. praef., 5; Liv. 10,31,15) mit Morford 1990, 1594; Marincola 1997, 150 f.; Marincola 2003, 311 f.; Pausch 2011, 73 sowie 133, wo er über Livius urteilt: „Er bedient sich damit einer auch sonst von ihm in der Kommunikation mit dem Leser angewandten Strategie, die darin besteht, daß er seine eigene Mühe bei der Abfassung des Werkes betont, um auf diese Weise die Motivation des Rezipienten zur Lektüre zu steigern.“ 139 Weinrich 1971, 22. 140 Cf. ib., 13: „Es scheint, daß Klage und Trauer den Autoren, und zwar den Autoren aller Zeiten, zuträglicher sind als die Freude und Seligkeit elysischer Gefilde.“ Ib., 16: „Was nun die erwähnte Affinität der Literatur zur Negativität betrifft, so ist sie ganz aus der Perspektive des Autors gesehen: der Autor leidet (‚melancholisch‘) unter dieser Negativität. Vom Leser (oder im weiteren Verstande vom Publikum) her gesehen, stellt sich aber alles anders dar. Der Leser bewahrt nämlich gegenüber dem literarischen Werk eine unaufhebbare Freiheit.“ 141 Cf. dazu Lämmert 1975, 174: „Auch Phasen und Abschnitte schließen häufig mit solchen Erörterungen, mahnenden Ausrufen oder Wünschen, und es lohnt, solche Stellen des Erzählerraisonnements unter dem Gesichtspunkt ihrer dynamischen Wirkung auf frühere oder spätere Phasen zu beurteilen“; cf. auch die vielschichtige Parallelität dieser Passage zu Tac. ann., 3,65 sowie Morris 1969, 72 f.; Morford 1990, 1616.

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4. FAZIT: ZENTRALE FUNKTIONEN NARRATIVER ZEITMONTAGEN Bei einer abschließenden Zusammenschau der voranstehenden Ergebnisse zu anachronischen Elementen in den Nerobüchern, die in diesem Beitrag als Zeitmontagen im narrativen Diskurs aufgefasst werden, sind verschiedene Aspekte zu konstatieren. Mit 309 Ana- beziehungsweise 168 Prolepsen ist insgesamt eine bemerkenswerte Anzahl an Anachronien zu identifizieren, die den jahrweise und scheinbar kontinuierlich fortschreitenden Zeitverlauf des grundlegenden annalistischen Darstellungsschemas regelmäßig und teils beinahe unbemerkt, teils bewusst prononciert unterbrechen. Da zudem ihr Auftreten in Abhängigkeit vom Spannungsverlauf erzähltechnisch sinnvoll alternieren und entsprechend ihre Häufigkeit abschnittweise erhöht oder reduziert sein kann, entsteht ein einzigartiger, abwechslungsreicher und kurzweiliger Erzählrhythmus. Eine solche variierende Taktung und vielschichtige Handlungsstrukturierung steigert nach Lämmert die Konzentration wie auch kognitive Aktivität des Lesers, weil er die zeitliche Erzählspanne mental mehrfach durchlaufen und verstreute Ereigniskomponenten gedanklich wieder in ein chronologisches Raster einfügen muss.142 Wird daran schon ein planvolles und akkurates Arrangement der temporalen Ordnung erkennbar, so ist ferner die ausgeprägte Gestaltungsvielfalt narrativer Zeitmontagen mit Blick auf deren unterschiedliche Erscheinungsarten, heterogene funktionale Formen wie auch variable textuelle Positionen hervorzuheben. Diese lässt sich mittels der präsentierten Klassifizierung selbst unter Rücksichtnahme auf die phänomenologische und verwendungsbezogene Komplexität einzelner Anachronien strukturieren und wird durch die den verschiedenen Kategorien zugeordneten prototypischen Textbeispiele eindrucksvoll veranschaulicht. Ohne detailliert auf sämtliche hierbei dargelegte Gebrauchsweisen und Wirkungsfacetten einzugehen, werden daraus kategorienübergreifend letztlich drei Hauptfunktionen narrativer Zeitmontagen evident. Geschickten Verschränkungen von Entwicklungsstufen und Zuständen unterschiedlicher temporaler Bezugspunkte unterliegt erstens oftmals eine Manipulationsabsicht hinsichtlich leserseitiger Einstellungen gegenüber Personen und Ereignissen.143 Vortrefflich zeigt dies einerseits die Betrachtung figurenspezifischer Anachronien durch aussagekräftige Nachrufe auf verstorbene Persönlichkeiten oder bezeichnende Ausblicke auf das unbeschadete Weiterleben meist verrufener Individuen, die zu einem negativen Gesamtbild der neronischen Gesellschaft beitragen. Indem sie eine zusätzliche Zeitebene in die Erzählung integrieren, etablieren andererseits vor allem digressive und analytisch-komparative Bestandteile kontrastive Folien, vor denen das gegenwärtige Geschehen nicht selten mit einer gewissen Tendenz gespiegelt und kritisch gebrochen wird. Zudem können inhaltlich-informierende Prolepsen dazu eingesetzt werden, per se unanstößige oder gar sinnvolle aktuelle Verhaltensweisen durch die Vorwegnahme verwerflicher späterer zu diskreditieren.

142 Cf. Lämmert 1975, 116; Genette 1998 (1972), 33. 143 Cf. Hausmann 2009, 145.

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Zweitens erzeugen proleptische Zeitmontagen beim Leser Verunsicherung sowie spannungsvolle Erwartungshaltungen bezüglich des Handlungsweitergangs, wobei diese narrative Technik besonders effektiv ist, wie Pausch zu Recht anmerkt, „wenn die Vorverweise wiederholt erfolgen und mit einer schrittweisen Präzisierung der drohenden Gefahr einhergehen.“144 Hierzu dienen neben weitreichenden allusiven Vorgriffen auf prominente Protagonisten, welche die Neugier des Lesers erregen und dessen Gedanken schon zu korrespondierenden Vorkommnissen schweifen lassen, angesichts ihres gattungsgenuin vage und unheilvoll vorausweisenden Charakters zum einen Prodigien wie auch regelmäßig äquivalent verwendete Pseudoprodigien. Zum anderen vermitteln subjektiv nuancierte Zukunftsvorstellungen dem Rezipienten den virtuellen Eindruck einer Ergebnisoffenheit des Geschehensverlaufs, irritieren ihn diesbezüglich und involvieren ihn durch eine eigenständige Hypothesenbildung emotional und kognitiv. Ferner kündigen deiktische Hinweise zum Teil geradezu leitmotivisch attraktive Thematiken und packende Entwicklungen an, die den Leser langfristig an die Lektüre binden sollen. Festzuhalten ist drittens als zentrale Funktion von Anachronien eine Erleichterung der geistigen Reorganisation und des Verständnisses des Diskurses aufseiten des Rezipienten. Denn inhaltlich informierende Formen ergänzen retrospektiv für eine hinreichende Erfassung der aktuellen Ereignisse relevante Hintergründe beziehungsweise deuten hierfür prospektiv bereits weitere sachbezogene und eventuell dadurch initiierte Vorkommnisse an. Ähnlich offerieren bei Handlungsein- respektive -austritten von Protagonisten Analepsen anschauliche Charakterisierungen und führen deren gegenwärtige Aktionen teils kausal auf frühere Erlebnisse sowie persönliche Motive zurück, während kompletive biographische Ausblicke dem leserseitigen Interesse an Individualschicksalen entgegenkommen. Außerdem gewähren Exkurse meist umfassende geschichtliche Erläuterungen zu einem bestimmten thematischen Aspekt und mittels geradezu didaktisch aufbereiteter transhistorischer Kontrastierungen sowie Parallelisierungen wird eine analytisch-komparative Auseinandersetzung mit der präsentierten Geschichte exemplifiziert und als ideale Rezeptionsform anempfohlen. Durch explizite Verknüpfungen personen-, gegenstands- oder situationsspezifischer Episoden fördern ferner deiktische Anachronien substanziell die Re- sowie Prästrukturierung des Texts145 und bieten bezüglich einzelner Handlungsstränge möglicherweise eine selektive Lektüreoption. Narrative Zeitmontagen leisten folglich einerseits zu einem gezielten Aufmerksamkeitsmanagement und einer jeweils erforderlichen Wissensaktualisierung, andererseits zur temporalen und kausalen Kohärenzbildung einen essenziellen Beitrag. Damit begünstigen sie eine vertiefte gedankliche Durchdringung der Erzählung und unterstützen die werkimmanente Orientierung des Lesers.

144 Pausch 2011, 225 und cf. 236. 145 Cf. Suerbaum 2015, 375, 384.

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THE DISTANT PRESENT AND THE NEAR PAST The Mounting of Time in Herodotean Aiginetikos Logos Irene Polinskaya (London) 1. INTRODUCTION It is not often noted that the opening of Herodotus’ “Histories” introduces more than one protagonist. Herodotus is not alone on the stage of history, he has an opponent, and that opponent is time. Time works to render human achievements fuzzy, faded (ἐξίτηλα), and finally forgotten. Herodotus’ object is to prevent that from happening: μήτε τὰ γενόμενα ἐξ ἀνθρώπων τῷ χρόνῳ ἐξίτηλα γένηται.1 In pursuit of this goal, Herodotus musters an array of narrative techniques that create an effect of overcoming the inexorable linear progression of time and enable time travel. While not always conspicuous, time references play a significant structuring role in the narrative. This paper explores a concise section of Herodotus’ work, remarkable and perhaps unique within the “Histories” for the concentration of mounting time frames, in which anachronies perform a complex job of interrelating Past and Present, and Herodotus acts as a skillful stage director, guiding the experience of his audience/readership in a deliberate and purposeful manner.2 The section I will be exploring, “Histories” 5.82–89, is what might be called the ‘Aiginetikos logos’ – a digression on the Aiginetan past that ultimately introduces Aigina onto the stage of Herodotean narrative,3 where she is destined to play a significant role in the course of the Greco-Persian wars. The Aiginetikos logos is a digression, an account that Herodotus calls “the beginning of hatred between Athens and Aegina,” a telling of the origin of a conflict, within which a number of other tales of origin are embedded. As a digression, it interrupts, or pauses, the flow of time in the main narrative, but the departure from and the return to the main narrative are clearly punctuated. The inclusion of the digression is necessitated by Herodotus’ intermediate goal to explain the situation in Athens in the run-up to

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There is no comment on τῷ χρόνῳ in Asheri/Lloyd/Corcella 2007, 72 f., or in commonly cited discussions of the first sentence of Hdt. 1.1 (e. g. Nagy 1987). The dative of τῷ χρόνῳ is normally taken to designate duration, not instrumentality, but I see room for both possibilities. On Herodotus’ “audible, accessible, ever-present authorial presence”, see Brock 2003, 15. Prior to this extended appearance, Aigina and Aiginetans are mentioned in passing in 2.178.3 (Aiginetan temenos of Zeus at Naukratis), 3.59.3 (war between Samos and Aigina in the time of Amphikrates of Samos), 3.131.1 (Demokedes of Kroton as a demosios doctor on Aigina), 4.152.3 (Sostratos, the unrivalled Aiginetan merchant).

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the Ionian revolt. That situation was in part a product of contemporary AthenianAiginetan relations. This section of the “Histories” has been addressed by many scholars in passing;4 among those who studied it in detail, two contrasting approaches have emerged: positivist and symbolist.5 Positivist readings of 5.82–89 take the sequence of political conditions and events in these chapters as factual and seek to identify a historical moment that would match them.6 Symbolist readings, by contrast, suggest such an elaborate allegorical encoding on the part of Herodotus that it puts him on the level with the Delphic oracle, but it is doubtful that Herodotus either wanted or needed to be as obscure.7 The interpretations hinge on the symbolic reading of names, e. g. turning a common noun gê (Epidaurian land that yields no fruit: Ἐπιδαυρίοισι ἡ γῆ καρπὸν οὐδένα ἀνεδίδου) into a deity’s name Gê.8 Another reading performs a reverse procedure, turning proper names into common nouns. The names of the deities Damia and Auxesia, whose images are at the centre of the ancient dispute between Athens and Aigina, are read as damie/ dêmiê and auxêsiê, the former associated with demos and democracy,9 the latter with “growth”, “increase,” symbolizing the stakes in the competition between Athens and Aigina.10

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Passim: e. g. Munson 2001, 42; Osborne 2002, 497, 503, 517; Rhodes 2003, 69. There is a related debate on the meaning and dating of polemos akeruktos (5.81.2), but I leave that out of my discussion. 5 Detailed studies: Dunbabin 1936–1937; Buck 1981; Jeffery 1976; Figueira 1993; Haubold 2007; Irwin 2011a, 2011b. Cf. Irwin 2011a, 384: “read on its symbolic level…” 6 See e. g. Jeffery 1976, 150; Buck 1981, 5–13; Figueira 1993, 57. 7 Cf. Haubold 2007, 227: “The narrative of chapters 77–81 sets up one central question: who is close to whom and for what reasons? That is what the Pythia challenges the Thebans to consider…” The reference is to 5.79.1 (ἡ δὲ Πυθίη … ἐκέλευε τῶν ἄγχιστα δέεσθαι), and the debate among the Thebans about the meaning of hoi anchista. Haubold continues: “The problem put to the Thebans in important ways prefigures that faced by the Ionians, and their attempts to cope with it are informed by similar concerns.” 8 Ib., p. 231: “Reference to Gê anchors Herodotus’ archaeology of Aeginetan-Athenian relations in a theogonic context.” This step enables Haubold to read the aition of the Epidaurian cult of Damia and Auxesia as an epic triumph of divine will, and the sequence of chapters 82–88 as a model of historical change: from the world where gods rule to the world where men dominate, and finally, to the world of women. 9 Irwin 2011a, 381, n. 17: “Damiê perhaps may further suggest another association with Athens, newly democratic at this very point in the narrative… the Doric alpha, however, rendering it Dorian.” 10 Ib., 383: “Aeginetans chose to articulate their Dorianism as a response to the attempt of a newly empowered neighbour to wrest Auxêsiê from her, while Athens, unable to deprive Aegina of her Auxêsiê, turned her efforts eastwards, forging a link with Ionia.” See also Irwin 2011b, 430 (“Auxêsiê and Damiê, cult statues with significant names”), 445 (“The speaking names of the statues, in particular Auxêsiê (‘Growth’), coupled with the ahistorical quality of the logos, suggest other methods of reading beyond the narrowly literate and historical”), continued on 446 (“…metaphorical interpretation. According to one version, the Athenians had some limited effect on (what) the statues (represent): although remaining in Aegina, Auxêsiê and Damiê are brought to their knees”). Cf. also Henderson 2007, 305, n. 54.

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In my view, Herodotus’ message in this digression is more concrete and political,11 and without being simple, nevertheless aims to be understood, not misunderstood, which is always a danger with symbolic or allegorical readings. Paradoxically, positivist readings have to be credited with rightly asserting the importance of time references in the ‘Aiginetikos logos’, even if they err in viewing them chronologically. The Aiginetan digression is anything but a linear segment of chronological plupast;12 rather, it is a collection of anachronic varieties, each imparting a special hue to the overall picture. The difficulty of anchoring this section of the “Histories” in time has been noted, but not fully explored.13 In this paper, I offer a more detailed take on time references in the ‘Aiginetikos logos’ and reflect on its place in the narrative fabric of the “Histories”. 1.1 Chronology and Anachrony from Narratological Perspective The narratological approach has effectively redefined the problem of unity/disunity in the Herodotean narrative by emphasizing the structuring role of time and the crucial distinction between fabula and story.14 In narratology, fabula is essentially a would-be chronological and logical unfolding of related events,15 whereas story is the actual, often anachronic, sequencing of events as found in a given text.16 What might have been previously seen as Herodotus’ lack of ability or lack of interest in ordering his narrative chronologically,17 narratologists prefer to identify 11 See Polinskaya 2013, 411–422 and n. 86. It may be added that Haubold’s reading misses the wider context of the compositional rings that help us understand the place and role of the Aiginetan digression in the “Histories”. E. g. his reading restricts the mythological world to chapter 82, which, he argues, is replaced by the world of men and then by that of women, but spatium mythicum (in the compositional ring 2 – see below) encloses the Aiginetan digression on both sides: that world has not been replaced, and it was not Herodotus’ intention to suggest so. Haubold 2007 acknowledges as much: after arguing that the point of Herodotus’ experiment in the Aiginetan digression was to show the shift of “historical agency programmatically from gods and/or men to women” (242), he concludes that Herodotus has a “powerful intuition that we are still in important ways in the same story… part of the unfolding history of the gods” (244). 12 On plupast in general, see Grethlein/Krebs 2012; in Herodotus: Bragawanath 2012. 13 E. g. Thomas 2012/2001, 203 f.; Osborne 2002, 503; de Jong 2002, 264 f.; Rhodes 2003, 69; Haubold 2007, 231; Irwin 2011a, 380, 388; 14 On unity/disunity: de Jong 2002. On the role of time: de Jong 2013/1999, 267–273, esp. 272 (“[u]pon reflection, it seems only logical to see ‘time’ as an important – perhaps the most important – structuralizing and unifying principle”), with reference to Carbonell 1985, 140: “It is not space that orders and organizes the Histories. It is time that makes of them a rigorously chronological work, even if this rigour requires an apparent disorder.” On fabula and story: de Jong 2007, 2 f. 15 De Jong 2007, 3: “a series of logically and chronologically related events that are caused or experienced by characters.” 16 De Jong 2013/1999, whose terminology I adopt in this essay, follows the taxonomy developed by Genette 1980. 17 E. g. Fränkel 1955; Lateiner 1989, as cited by de Jong 2013/1999, 273.

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as a sophisticated and deliberate technique, which uses anachronies to a set purpose. Herodotus pauses his main narrative to insert digressions not because his mind strays or because he struggles with over-abundance of source material,18 but because these digressions are needed to arm his audience/readership with the details that would allow them to follow and appreciate his storyline.19 Predictably, typologies of time in fabulas and stories would be different. Fabula presupposes linearity of time, from the past to the present and future. Story employs both chronologically ordered time and anachronies: analepses (flashbacks), prolepses (flash-forwards) and narratorial metalepses (author’s intrusions into the narrated events). Herodotean analepses come in a variety of forms, which I discuss below. A story’s anachronic structure can be fully appreciated only if mapped onto the would-be chronological (see Appendix). In Herodotus’ “Histories”, the present is the narrator’s time, when his text, the narrative we are studying, came into being and was fixed. It is the time, in Thucydides’ terms (1.118.2), of the pentekontaetia, the years between 479 and 431, the period of rising tensions between Athens, Sparta and their respective allies that would eventually bring them to a clash in the Peloponnesian war. Herodotus’ view of the political developments of the pentekontaetia inevitably finds its way into his narrative (on this, more below). The past has many depths in Herodotus, reflected in various levels of the narrative time. Persian wars constitute the time of the main narrative, the main past, in the fabula’s chronologically sequenced time from the reign of Croesus to the Persian withdrawal from Greece in 479 BC. The main past is extended back into multiple plupasts and forward into the author’s present. The future appears in the form of foreshadowing,20 predictions, warnings, and repetitive patterns of historical development that Herodotus indicates for his readers at various points in the narrative. 1.2 Herodotean Analepses as Origin-Discourses In terms of the unfolding main story of the “Histories”, chapters 82–89 are a departure from the main narrative, designed to provide, through a series of analepses, the background to the strained relations between Athens and Aigina in the run-up to the Ionian revolt. Analepses introduce a variety of plupasts, temporal flashbacks, that represent what, in my opinion, amounts to a particular Herodotean typology of origin-discourses. Within this typology, we should distinguish a variety of explanatory modes such as: aitiai (human causes), aitia, beginnings, prece-

18 An overview of these opinions: de Jong 2013/1999, 267–269. 19 On anachrony as effective “instruments of historical narration” (de Jong 2002, 266) in Herodotus, see e. g. de Jong 2002; Rood 2007. 20 On foreshadowing devices: de Jong 2013/1999, 282–291.

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dents, and cycles.21 In this section, I introduce the three explanatory modes that are particularly prominent in the ‘Aiginetikos logos’: beginnings, aitia, and cycles. Beginnings: In Herodotus, the use of the key term archê (a beginning) marks the start of a linear count of time and of a linear unfolding of events. This is a continuous segment of chronological time that stretches to the narrator’s present, that is, in our case, to Herodotus’ time. The theme of beginnings is highlighted as one of the “Histories” main interests, at the very opening, in chapter 2: according to the Greeks, the abduction of Io was the first of injustices to begin the cycle of revenge between the Greeks and their Eastern neighbours (τῶν ἀδικημάτων πρώτον τοῦτο ἄρξαι 1.2). According to the Persians, it was the Trojan war: τὴν ἀρχὴν τῆς ἔχθρης τῆς ἐς τοὺς Ἕλληνας (1.5). Significantly, this exact formulation, “the beginning of hatred”, also brackets the opening and closing of the ‘Aiginetikos logos’ (5.81.2, 5.82.1, 5.89.1). The Athenian decision to send ships in aid of Ionians generates another archê, specifically of the Ionian revolt and of the Persian wars (5.97.3: αὗται δὲ αἱ νέες ἀρχὴ κακῶν ἐγένοντο Ἕλλησί τε καὶ βαρβάροισι). The term archê punctuates and presages what is to follow and appears to carry negative connotations. It marks key turning points in the Histories, suggesting that the placement of Athens-Aigina conflict on the same plane as the epic conflict between Greeks and ‘barbarians’ calls for special consideration. Aitia: This type of origin-discourse serves to explain something that the narrator knows to be in existence or in practice in his own time. This is the genre of aition in its narrow sense, a tale of origin. An Aition presents not something that takes a beginning in the past and then unfolds to the present following a unique and idiosyncratic path, but something that had taken place in the past and set up a pattern or model that would be repeated in the same way ever since. This type of origin-discourse is typically presented in the imperfect and is often marked by headers and summary formulae, using prepositional phrases kata + Acc. (e. g. κατ᾽ ἔριν τὴν Ἀθηναίων 5.88.2), dia + Acc. (e. g. διὰ τὴν Ἰλίου ἅλωσιν ἐοῦσαν τὴν ἀρχὴν τῆς ἔχθρης 1.5.1); pros + Acc. (e. g. πρὸς ταῦτα 5.88.2). Something arises in the past and continues till today (kai es eme, kai nun 5.88.2). Aitia explain the shape of the present, which is the exact replica of countless earlier repetitions, and in this way they are different from the discourse of beginnings, which only marks the point, from which a sequence of events continues to unfold in a unique way, whether that beginning helps to understand the course of the unfolding or not. Cycles: Τhis origin-discourse is also introduced at the outset of the “Histories” (1.5) and gives the first explicit formulation of the author’s philosophy of history: τὰ γὰρ τὸ πάλαι μεγάλα ἦν, τὰ πολλὰ σμικρὰ αὐτῶν γέγονε. τὰ δὲ ἐπ’

21 Aition understood as a tale of origin is not to be confused with the word and concept of aitiê, which “has a very special meaning in Herodotus: it indicates the fact that a historical event is due to human action, or has a human purpose or motive… Aitiê implies guilt” (Immerwahr 2013/1956, 161). A fuller discussion of the Herodotean typology of origin-discourses will appear in a forthcoming publication, currently in preparation.

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ἐμεῦ ἦν μεγάλα, πρότερον ἦν σμικρά.22 Unlike the discourses of beginnings or of aitia, the discourse of cycles puts emphasis on the sequence of specific progressive steps, rather than on who and under what circumstances may have invented a pattern or begun a process.23 One such cycle is the rise of individuals or communities from subject to leadership status, followed by arrogance and over-reach, leading to a fall.24 The discourse of cyclicity is an epistemological tool that allows Herodotus to reconstruct the past, interpret the present, and predict the future. 1.3 The Place of ‘Aiginetikos Logos’ in the “Histories” The Aiginetan digression (5.82–89), focused on the ancient enmity between Athens and Aigina, occurs within a longer digression (5.55–97) on tyrannies in Athens and Corinth. It occupies, whether by design or not, a central position in the Herodotean composition (Book 5 being exactly in the middle of the total of nine books), and also in the Herodotean project more broadly, as Elizabeth Irwin convincingly shows.25 Within the “Histories”, Herodotus sets out to prevent the deeds of men from becoming exitêla, and especially great deeds performed in the context of Greco-Persian wars from losing their kleos (Hdt. 1.1). In accordance with this objective, he evaluates the position and contribution of various Greek states to the war effort, and among them, the role played by Athens and Aigina. Both are central to this exercise, in particular with reference to the pivotal battle of Salamis. In that battle, Athenians and Aiginetans would compete for aristeia, for the glory of being the first to attack the Persian (Hdt. 8.83–84, 8.122), and in that battle, taking place in the Saronic Gulf, the heroes who would be summoned to the battle as symmachoi of the Greek forces would be the Aiakids, arriving from Salamis and Aigina, and understood by Herodotus (8.64) to be the local Aiginetan heroes.26 According to Herodotus’ presentation, it was also the impending war between Athens and Aigina (…ἐς τὸν πόλεμον, τὸν πρὸς Αἰγινήτας) that was used as an argument by Themistocles to convince his Athenian fellow citizens to spend the newly discovered silver at Laurion on the construction of a fleet (Hdt. 7.144.1); as chance would have it, the latter was built just in the nick of time to prepare Athens for the second Persian invasion.27 The conflict with Aigina, therefore, stands at the root of the naval revolution at Athens,28 and Aigina emerges as Athens’ main 22 “Those cities that had been great in the old days, many of them became small, while those that were great in my time, had been small before.” 23 Cf. Immerwahr 2013/1956, 164. 24 Cf. Rood 2007, 119. Harrison 2003 argues that the pattern of rise and fall is intimately linked to Herodotus’ theology, his view of the role of the divine in history and human affairs. 25 Irwin 2011a, 277–278, 2011b (noteworthy is her observation on page 427: “Aegina is in fact the third most-mentioned Greek polis in the ‘Histories’ after Athens and Sparta.”). 26 Irwin 2011a, 405–410; Polinskaya 2013, 136–140, 422–436, 479–481. 27 Forsdyke 2002, 547. 28 Irwin 2011b, 449 f., argues persuasively that Herodotus is explicit in attributing to the Aiginetans the kleos of being ‘the salvation of the Greeks’ (7.144–145), not only tangentially, by be-

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rival for glory in the key naval encounter of the Persian wars, the battle of Salamis. Aigina continues to be a thorn in Athens’ side or, as Pericles allegedly put it, “an eyesore of Piraeus,” in Herodotus’ time, throughout the pentekontaetia,29 and Aigina happens to be the first state to be attacked by Athens at the outset of the Peloponnesian war in 431 BC, resulting in the expulsion of the local population to the Peloponnese and the takeover of the island by Athenian settlers (Thuc. 2.27). Herein lies the importance and relevance of the short Aiginetan digression for the Herodotean bigger project, yet it is noted by many that the temporal location of the events narrated in this analeptic digression is hard to pin down.30 The digression contains multiple anachronies, which have not been comprehensively studied or fully understood. In what follows, I first look at several compositional rings (section 2) that surround the Aiginetan logos and integrate it into the Herodotean greater project on multiple levels. Here, the question of the ‘floating gap’ comes into consideration, as it concerns the spatium mythicum and spatium historicum of the Aiginetan past.31 In section 3, I focus on chapters 82–89 of Book 5, the account of the ancient enmity between Athens and Aigina, where the use of anachrony enables Herodotus to speak about the common Greek past, his own time, and the eternal cycles of social development that provoke inter-state rivalry and threaten the preservation of fair accounts of τὰ γενόμενα ἐξ ἀνθρώπων (Hdt 1.1). Section 4 sums up my observations on the varieties and ordering of time in the ‘Aiginetikos logos.’ 2. RINGS OF COMPOSITION The ‘Aiginetikos logos’ purports to present the history of relations between Athens and Aigina, the two neighbours and rivals in the Saronic Gulf, prior and up to the outbreak of the Ionian revolt. Although Athens is involved in this digression and is the hook that allows it to be connected to the main narrative, it is Aigina that is the main protagonist. This excursus into Aiginetan history, or rather prehistory, must be read and understood within a set of preceding and following sections (55 to 97) that form several compositional rings around it, both temporal and thematic. Rings of composition have been identified as an important structur-

ing the cause of the Athenian decision to acquire a navy, but directly, through their naval and military contribution. 29 Plut. Per. 8.7; alternative attribution to Demades (Ath. 3.99d). See further Polinskaya 2009, 234, n. 7. 30 Rood 2007, 129: “a general sense of the past is produced only by the allusion to a change in clothing customs among Athenian women, but that sense of distance is in relation to the narrator’s present.” I shall argue that the sense of the past is produced by more than one type of device in this section of the “Histories”. 31 Floating gap: Henige 1974; Vansina 1985, 23, 168; in application to Herodotus: Thomas 2012/2001; Cobet 1988, 229; Cobet 2002, 409–411; Bichler 2000, 35–42.

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ing device in the “Histories”.32 The ‘Aiginetikos logos’ is enclosed within at least four nested rings of composition, with ring 1 marking the point of departure from and return to the main narrative, ring 2 delineating the spatium mythicum, the horizon of the Aiginetan heroic pedigree, ring 3 announcing the agency of memory, and ring 4 introducing the motif of beginnings. 2.1 Ring 1. The Coming of Aristagorês to Athens The first ring of composition is formed by chapters 55 and 97 and is chronologically anchored in the main narrative time of the “Histories”. This is the section that provides an account of the Milesian leader Aristagorês’ mission to mainland Greece to obtain support for a revolt against Persia. Aristagorês’ earlier mission to Sparta had proved unsuccessful. His mission to Athens is announced in chapter 55 – Aristagorês arrives in Athens that “has become free of tyrants” (ὁ Αρισταγόρης… ἤιε ἐς τὰς Ἀθήνας γενομένας τυράννων ὧδε ἐλευθέρας). It is both a qualitative and chronological framing. Aristagorês arrives in Athens ‘after’ it had become free of tyrants and he arrives in a city that is ‘free from tyranny’. We do not learn what happens upon his arrival for the next forty chapters (56 to 96), because there follows instead a series of imbedded digressions on tyranny and Athens-Aigina conflict, until, in chapter 97, we are brought back to the same point of chronology – Aristagorês’ arrival in Athens (ἐν τούτῳ δὴ τῷ καιρῷ ὁ Μιλήσιος Ἀρισταγόρης… ἀπίκετο ἐς Ἀθήνας). In Athens, he obtains help and then returns to Miletos, where, unaware of all that we as readers have learned about tyranny in the intervening chapters, he still bids his messenger to represent him as tyrant (5.98.1 Ἀρισταγόρης ὁ Μιλήτου τύραννος; the irony is underlined by the juxtaposition of tyranny and sôtêria: ἔπεμψέ με Ἀρισταγόρης ὁ Μιλήτου τύραννος σωτηρίην ὑποθησόμενον ὑμῖν). The main narrative time is thus suspended for the duration of forty chapters, with extended analepses that take us into plupasts of various depth. 2.2 Ring 2. Spatium Mythicum: The Heroic Past of Aigina In Chapter 80, we find the opening of the second compositional ring that is subsequently closed in Chapter 89. In these framing chapters, we find references to a war between Athenians and Boeotians and the involvement in it of the Aiginetan heroes, the Aiakids. The war represents a historical plupast in relation to the time of Aristagorês’ visit to Greece. In that sense, the story of Athens-Boeotia conflict is an internal analepsis, but in another sense, it activates a switch from the spatium

32 Brock 2003, 6 f., with reference to Immerwahr 1966, 12, 54–58, and Beck 1971. Boedeker 2002, 104, points out that ring composition is a device that the “Histories” share with the Homeric epics.

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historicum to the spatium mythicum by invoking the Age of Homeric heroes.33 In Homer, Aiakos was the father of Peleus and grandfather of Achilles, all of them associated with Phthia, the area of south Thessaly. By the time of Herodotus, and in fact quite a bit earlier, by ca. 600 BC, the Aiakid stemma had been appropriated by Aiginetans and conjoined with the Telamonid stemma, so that Peleus and Telamon have become brothers, sons of Aiakos who is a native hero of Aigina, and Achilles and Ajax have become cousins. All these heroes come to be worshipped on Aigina, while Telamon and Ajax are also worshipped on Salamis. In sum, the Aiakid past of Aigina is a product of post-Homeric epichoric myth-making, reinforced by institutionalization in cult.34 The shift from the main past to the mythical plupast in Herodotus 5.80 is made via Theban attempts at interpreting a Delphic oracle, that is, the attempts to understand the meaning of οἱ ἄγχιστα, “the nearest”, whereby they subordinate the significance of space (geographic proximity) to the significance of time (kinship that goes back to the mythical past). When Thebans solicit help from Aigina in obedience to the Delphic oracle, they do so on the basis of their mythical kinship with Aiginetans, as the two peoples stemming from sisters Theba and Aigina, daughters of Asopos. In the Theban interpretation, Aiginetans are the children of Aigina, and hence, their cousins (Ἀσωποῦ λέγονται γενέσθαι θυγατέρες Θήβη τε καὶ Αἴγινα·). By contrast, the Aiginetan response is based on the substitution of maternal lineage with paternal: Aiginetans are the children of Aiakos, who was the son of Aigina by Zeus (οἳ δέ σφι αἰτέουσι ἐπικουρίην τοὺς Αἰακίδας συμπέμπειν ἔφασαν), and the help (ἐπικουρία) they send is in the form of the images of their local heroes.35 Herodotus then tells us that the symmachia with the Aiakids had done nothing to help the Thebans, so that they returned the Aiakids (heroes represented by images) and asked for Aiginetan men instead (5.81.1 αὖτις οἱ Θηβαῖοι πέμψαντες τοὺς μὲν Αἰακίδας σφι ἀπεδίδοσαν, τῶν δὲ ἀνδρῶν ἐδέοντο). Herodotus’ anecdote revolves around the clash of semantic equivalencies promoted by the two parties. The Thebans simply view contemporary Aiginetans as kinsmen, sharing common maternal ancestry. The Aiginetans prefer to emphasize their difference, their special status as descendants of the greatest Homeric heroes, the part of the genealogy that they do not share with the Thebans. They promote a two-step equation: first, of themselves with Homeric heroes, the Aiakids, and second, of epic heroes with their images housed on Aigina. In the Herodotean presentation of this episode, the Aiginetan interpretation of the Delphic oracle fails, and the Thebans revert to their own version. The way Herodotus handles this story gives us an insight into his view of the relationship between the Greek Heroic past and his contemporary world. It had been argued that Herodotus either did not perceive or in any case closed a ‘floating gap’ between the Heroic time, or spatium 33 There is a debate among scholars about the relative importance of the concepts of spatium mythicum and spatium historicum: e. g. Cobet 2002, 405–412; Boedeker 2002, 110; Harrison 2003, 239. 34 On the history of the Aiginetan appropriation of Aiakids: Polinskaya 2013, 422–436. 35 On the Aiakid genealogy, see ib., 347–350.

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mythicum, and his own time.36 We should, however, note the difference between Herodotus and his stated sources here:37 in the Theban interpretation, there is no gap between the mythical past and their present; that is, together with the Aiginetans, they are direct descendants of Theba and Aigina. Their mythical past, however, is that vague ‘time of origins,’ which is not clearly connected to the Homeric past.38 In the Aiginetan response to the Thebans, however, we perceive a different alleged continuity, specifically between the Homeric Aiakids and contemporary Aiginetans, and it is this continuity that Herodotus makes us question: he tells of the failure of the Aiginetan equation between Aiginetan men and the Aiakids (heroes/images). This suggests that Herodotus, whatever his view of historicity of the Homeric past, is keenly aware of the use and manipulation of that past by contemporary Greek communities. Thus, in the internal logic of the anecdote, that is, in the narrated time of the Theban and Aiginetan discourse, there is indeed no gap, but in the Herodotean presentation we are given to see that the collapsing of distance and the erasure of a gap between the Homeric/Heroic past and the narrated past, when Thebes calls on Aigina for help against Athens, is the work of the Aiginetans. In other words, there is no floating gap in the epichoric traditions, but there is one in Herodotus. He himself opens it up for the discerning listeners/readers to see. The entry of Aigina into the history of Herodotus thus begins with a subtle and ironic reference, questioning the Aiginetan claim to the Heroic past. 2.3 Ring 3: The Agency of Memory The compositional ring, introduced in Chapter 81 and closed in Chapter 89, is formed by invocations of Memory, and these in turn introduce a different type of the past. Memory (ἀναμνησθέντες 5.81.2) is named as the explicit agent in ring 3 that works as a membrane connecting ring 4 (Beginnings) with ring 1 (Aristagorês’ visit to Athens). The ring opens in 81.2 with Αἰγινῆται… καὶ ἔχθρης παλαιῆς ἀναμνησθέντες ἐχούσης ἐς Ἀθηναίους (“Aiginetans… having recalled their ancient enmity against the Athenians”), and closes in 89.1 with προθύμως τῶν περὶ τὰ ἀγάλματα γενομένων ἀναμιμνησκόμενοι οἱ Αἰγινῆται (“Aiginetans, readily recalling the events surrounding the images…”). 36 Cobet 2002, 411, defines the ‘floating gap’ as “the distance separating the time of Homer’s narrative from his [Herodotus’] own and his audience’s lifetime” and argues that Herodotus filled it, however “meagrely.” On ‘floating gap’ as a concept in cultural anthropology: Henige 1974; Vansina 1985. 37 Thomas 2012/2001, 198, 202, rightly distinguishes between the issue of a ‘floating gap’ in Herodotus’ narrative per se and in his source material, the stories he would have been using, which would have presented multiple ‘floating gaps’; in addition, she argues that “Herodotus himself was aware, not of the floating gap itself, but that the results of manifestations of it needed explanation…” 38 Cf. ib., 202: “Typically of traditions of origin, they seem to exist on a separate chronological scale from the rest of Greek legends and history, separate even from the Trojan war.”

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Memory signals a different relationship to the past than that represented by Spatium Mythicum. In that case (in ring 2), it is not memory, but reasoning that helps Thebans to understand the oracle about their “nearest” (οἱ ἄγχιστα). Their kinship with the Aiginetans is not something that Thebans remember, but what they come to figure out or understand (μαθών… δοκέω συνιέναι). The verbs are μανθάνω and συνίημι, to learn and understand. Memory suggests a much closer, more immediate relationship with the substance of the narrated past. As a type of signposting, in Brock’s terminology,39 the invocation of memory highlights the importance of the enclosed narrative to the main narrative past. Memory produces a zooming-in effect that brings the Aiginetan plupast up-close, and it diverts our attention from the extreme vagueness of time references that follow. Despite this vagueness, our now focused attention would continue to follow closely, and in large format, the minutiae of the Aiginetan conflicts, first with Epidauros, then with Athens. 2.4 Ring 4: The Beginning of Athens-Aigina conflict The ring of beginnings (“the beginning of a long-standing enmity between Athens and Aigina”) opens in section 82.1 (ἡ δὲ ἔχθρη ἡ προοφειλομένη ἐς Ἀθηναίους ἐκ τῶν Αἰγινητέων ἐγένετο ἐξ ἀρχῆς τοιῆσδε) and closes in section 89.1 (τῆς δὲ ἔχθρης τῆς πρὸς Αἰγινήτας ἐξ Ἀθηναίων γενομένης ἀρχὴ κατὰ τὰ εἴρηται ἐγένετο).40 The word used consistently to identify the subject of the story is “hatred, enmity” (5.81.2, 82.1, 89.1). This fourth compositional ring introduces a different slice of the past than rings 2 and 3. The theme/motif of beginnings links the ‘Aiginetikos logos’ to the main subject of Herodotus: just as the war between Greece and Persia has a “beginning” (archê) in the Ionian revolt, bringing Athens into conflict with Persia, the Athenian eventual ability to repel Persians on sea and build its own Athenian “empire” (archê) has a “beginning” (archê) in the Athenian conflict with Aigina. The deliberate and artful use of compositional rings in Herodotus is indicated not only by repetitions of nearly identical formulae as opening and closing brackets of each ring, but also by such phrases as κατὰ τὰ εἴρηται (5.89.1), which cast the spotlight upon the epideictic narrator as the hand behind the narrative design.41

39 Brock 2003, 6–9. 40 82.1 “the long-standing hatred of Aiginetans towards the Athenians came about from the following beginning (archê)”; 89.1 “the beginning (archê) of the hatred of Athenians towards the Aiginetans occurred according to what has been told.” 41 De Jong 2013/1999, 265–267, on Herodotus as epideictic narrator “between epos and logos.”

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3. THE MOUNTING OF TIME IN HERODOTUS 5.82–89 3.1 Aitiological and Cyclical Time in the ‘Aiginetikos logos’ This section offers a detailed analysis of time references in chapters 82–84 of Herodotus’ Book 5. The heading of 82.1, announcing the subject as archê, might pass unnoticed if it were not for the nearly verbatim repetition forming the closing bracket of this compositional ring in 89.1. The double mention of archê signals that the term bears more than casual significance in this section of the “Histories”. Brock, discussing signposts in the Herodotean narrative, notes that Herodotus “is not simply concerned with firsts, or stages in a single linear process” but that often signposts “highlight major, thematic changes in the grand narrative.”42 The significance of the repeated archê here should be seen in the way it echoes the other places in the “Histories” where archê marks the beginning of troubles, namely in 1.5 where it refers to the start of Greco-Persian enmity, and in 5.97.3 where it marks the start of the Athenian involvement in the Ionian revolt. Moreover, in 1.5, it is also the whole phrase, the “beginning of enmity” – τὴν ἀρχὴν τῆς ἔχθρης that is used, just as in 5.82 and 5.89. The enmity between Athens and Aigina stands out as a sort of mise-en-abîme of the enmity between Persia and Greece.43 Archê appears as a symbolically charged term: the lexicon to Herodotus shows that when archê is used in the sense of “beginning” (66 times altogether) and substantively (only seven times out of 66, while the rest are adverbial usages), four times it signals the start of troubles, twice seems to be used neutrally, and once is used again contentiously,44 where Athenians and Aiginetans (again!) are disputing whose ship was the first to charge at the battle of Salamis (8.84.2) and therefore who deserves the honour of aristeia. Chapter 82 tells of a symphora, a misfortune that befalls the land of Epidauros: Ἐπιδαυρίοισι ἡ γῆ καρπὸν οὐδένα ἀνεδίδου. The imperfect tense prevails and expresses the simple indefinite past. One temporal reference, κατὰ χρόνον ἐκεῖνον (5.82.2), emphasizes the disconnectedness of this past from other past events. What is “that time” we are not given to find out, apart from a sense that it is distant. This imprecision or vagueness of temporal reference marks the misfortune of Epidaurian land’s infertility and the setting up of the statues (τὰ ἀγάλματα) of Damia and Auxesia to cure it as timeless: the occurrence is a topos, its time is ‘any time whenever such misfortune occurs.’ The following chapter makes it clear that the purpose of chapter 81 is nothing more than to serve as a prequel to chapter 82: the images of the goddesses first need to appear at Epidauros before they can be stolen from there. The past in this chapter constitutes a timeless paradigm:45 when 42 Brock 2003, 7. 43 On mise en abîme: de Jong 2013/1999, 283. Immerwahr 2013/1956, 166, 184, strangely enough transposes (without a comment) the label of echthrê palaie attached by Herodotus specifically to Athens-Aigina conflict to the echthrê between Greece and Asia (Hdt. 1.5). 44 Powell 1938, s. v. ἀρχή. There is also a single substantive use is in the sense “end of a rope.” 45 Cf. Rood 2007, 130.

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there is a misfortune, one should consult the Delphic oracle, follow its instructions, and all would be well (οἱ Ἐπιδαύριοι… ἀγάλματα ἐκ τῶν ἐλαιέων τουτέων ποιησάμενοι ἱδρύσαντο· καὶ ἥ τε γῆ σφι ἔφερε καρπὸν). This timeless chapter is therefore unconnected to the spatium mythicum of the preceding chapters 80–81: from the heroic time genealogically linked to the present we are taken to a timeless world where the Delphic oracle always knows best. There is, however, a small kink in the timeless equilibrium of this chapter: the reasoning of the Epidaurians that explains their choice of Athens as the source of olive wood for the images of Damia and Auxesia (ἱρωτάτας δὴ κείνας νομίζοντες εἶναι) is suddenly undermined by a narratorial metalepsis, which provides an alternative explanation linked to the narrator’s present: λέγεται δὲ καὶ ὡς ἐλαῖαι ἦσαν ἄλλοθι γῆς οὐδαμοῦ κατὰ χρόνον ἐκεῖνον ἢ ἐν Ἀθήνῃσι. What the citation in the present tense points out is that the story recited in 82.1–2 is an aition, which is current in the day of Herodotus, and which he may have heard in two versions, with a different explanation in each. Alternative explanatory connectors of this kind (“because those olive trees were the holiest” or “because there were no olive trees in any other land at that time but in Athens”), each a topos in its own right, would be quite common for the circulation of folk stories. After the Epidaurians had obtained their object (the cessation of land’s infertility through the agency of cult images of Damia and Auxesia), the story should have continued with something like this: “and then one day, the Aiginetans came and stole these images and took them to Aigina.” Instead, the next chapter (5.83) begins with an internal analepsis, taking us to the time that apparently precedes the Epidaurian symphora and the introduction of the cult of Damia and Auxesia to Epidauros: “at that time and before then” (τοῦτον δ᾽ ἔτι τὸν χρόνον καὶ πρὸ τοῦ 5.83.1). Tantalizingly, this reference pretends as if the previous chapter was somehow helpful in anchoring us in the flow of time, but since the past of chapter 82 is aitiological and hence timeless, the historical reality of chapter 83 is equally freefloating (τὸ δὲ ἀπὸ τοῦδε 5.83.1). Although equally temporally unanchored, this chapter introduces a different type of time, which is paradigmatic in its own way – it is the cyclical time of the rise and fall of cities. At an indistinct point in the past (τοῦτον δ᾽ ἔτι τὸν χρόνον καὶ πρὸ τοῦ 5.83.1), Aigina finds itself subject to Epidauros (Αἰγινῆται Ἐπιδαυρίων ἤκουον), then begins building ships (τὸ δὲ ἀπὸ τοῦδε νέας τε πηξάμενοι), becomes arrogant (ἀγνωμοσύνῃ χρησάμενοι), revolts from Epidauros (ἀπέστησαν ἀπὸ τῶν Ἐπιδαυρίων) and becomes the aggressor (ἅτε δὲ ἐόντες διάφοροι ἐδηλέοντο αὐτούς), stealing the images of Damia and Auxesia because, as rulers of the sea, they can (ὥστε θαλασσοκράτορες ἐόντες). We see a cycle of social development in its phase of growth – from subject to aggressor – the rising turn of the Aiginetan wheel of fortune. If we, as modern readers of Herodotus, are attentive to what the narrator tells us, we might have a premonition that a downward turn of the wheel of fortune would follow eventually, but Herodotus’ contemporaries would have indeed known it for a fact, as the reality of their own present or the recent past: by 457 Aigina was subject to Athens and forced to pay tribute; by 431 Aiginetans would be expelled from Aigina and replaced with Athenian settlers. That Herodotean contemporaries were meant to project the cyc-

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lical time into their present is clear from a stark zooming-in effect of cultic arrangements for Damia and Auxesia on Aigina: we are dropped from an outer-space vista point of history to a precise spot in the Aiginetan landscape where Aiginetans set up the images of the two goddesses – at the place called Oie, in the hinterland of the island, 16 stades from their coastal city. And we are made to linger there to receive an account of cultic regulations, whose importance to the narrative development at this particular point is, to say the least, marginal. Adding further to the prolepsis into the present time, Herodotus provides a footnote on the Epidaurian cult that is apparently the reality of his own time: εἰσὶ δέ σφι καὶ ἄρρητοι ἱρουργίαι (“but there are for them (that is, Epidaurians have) also secret rites”). So, in the space of one chapter, Herodotus activates the cyclical time, then returns us to the time of beginnings (when Aiginetans steal the images), and finally, bypassing the main narrative past (Persian wars), propels us forward to the narrator’s present. In chapter 84, time references continue to be relative. The genitive absolute (κλεφθέντων δὲ τῶνδε τῶν ἀγαλμάτων 84.1) establishes only the relative sequencing of events, not a specific temporal location, that is, what follows happens “after these images had been stolen.” The past is narrated in the imperfect throughout the rest of the chapter, its duration emphasised by a progressive temporal expression: ὅσον μὲν γὰρ χρόνον… ἐπεὶ δὲ.46 It is related in a single voice, that of the narrator, presenting the shared plupast of the Athenians, Epidaurians, and Aiginetans. This chapter resumes the time flow of chapter 82, which was interrupted by the analepses and prolepses of chapter 83. Only the last sentence of this chapter, the Aiginetan answer to the Athenian demand for the return of the images of Damia and Auxesia (οἱ δὲ Αἰγινῆται ἔφασαν σφίσι τε καὶ Ἀθηναίοισι εἶναι οὐδὲν πρῆγμα 84.2) gives a hint that the time is probably both past and present (present implicit, see below): while the indirect speech is introduced by a verb in the past tense (ἔφασαν), the answer itself is suggestive of Herodotus’ time: Aiginetans would have nothing to do with the Athenians,47 more specifically, with their alliance (archê) and tribute (phoros).

46 Cf. Basset 2009 on the imperfect tense as a marker of narrative cohesion. On “[p]rogressive use of temporal expression” as a type of anticipatory constructions cf. Brock 2003, 5. 47 I cannot agree with Haubold’s 2007, 236, reading: “By denying that they [Aeginetans] have any business with the Athenians they themselves effectively deny the rationale behind the making of the statues and hence their original religious function… The Aeginetans might say that men, not gods, are what counts now.” This reading overlooks the religious rationale behind the stealing of the Epidaurian statues and the Aiginetan efforts to placate the deities and institute a proper cult for them on Aigina. It is precisely the struggle for divine support that is at stake here, and the Aiginetans take divine support as seriously as all other parties in the conflict: see Polinskaya 2013, 419–422, 466–473.

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3.2 Present Explicit (5.85–88): Athenian, Aiginetan, Argive The interweaving of time frames continues, as we switch back into the present in chapter 85, where Herodotus introduces additional narrators, his contemporaries (we set aside for the moment whether they are real or fictional), who will in turn present their versions of an allegedly common past. Here we nominally confront the akoê, the oral history of the region, or in narratological terms, we enter the metanarrative of the “Histories”.48 Chapter 5.85 begins with an emphatic reference to the present (Ἀθηναῖοι μέν νυν λέγουσι), and the Athenian version recalls, in the accusative and infinitive constructions, their expedition to Aigina to retrieve the statues of Damia and Auxesia. In this version, the Athenians are afflicted with madness (ἀλλοφρονῆσαι) at the moment when they are dragging the statues from their bases. In this altered state of mind, they slay each other until only one survivor is left who returns to Phaleron. The Athenian story uses the folk motif of ‘divine image’s revenge against its violator.’ The first sentence of chapter 5.86.1 uses a summary phrase,49 restating that the preceding story was the Athenian version (Ἀθηναῖοι μὲν οὕτω γενέσθαι λέγουσι), and introduces the dissenting Aiginetan version (Αἰγινῆται δὲ…), which rejects the Athenian claim that they had come in one trireme only, claiming that there was a whole fleet of them instead (πολλῇσι νηυσὶ ἐπιπλέειν σφίσι ἐπὶ τὴν χώρην). Herodotus presents each epichoric version as if the disputants were in the same room and each were responding to the other, but the narratorial metalepsis (οὐκ ἔχουσι δὲ τοῦτο διασημῆναι ἀτρεκέως, οὔτε εἰ ἥσσονες συγγινωσκόμενοι εἶναι τῇ ναυμαχίῃ κατὰ τοῦτο εἶξαν, οὔτε εἰ βουλόμενοι ποιῆσαι οἷόν τι καὶ ἐποίησαν 5.86.2) shows Herodotus as an investigator (histor) at work, hearing alternative stories, possibly each in their own context, comparing them and drawing his own conclusions.50 Section 5.86.3 resumes the Aiginetan story, but it is immediately interrupted by another narratorial metalepsis, distancing Herodotus from the narrated subject matter (ἐμοὶ μὲν οὐ πιστὰ λέγοντες, ἄλλῳ δὲ τεῷ· ἐς γούνατα γάρ σφι αὐτὰ πεσεῖν, καὶ τὸν ἀπὸ τούτου χρόνον διατελέειν οὕτω ἔχοντα). The narrator’s comment once again serves to tie the plupast with the present, this time not through an allusion to political realities, but via an aitiological link (τὸν ἀπὸ τούτου χρόνον… οὕτω): the images of Damia and Auxesia have remained in the kneeling position since (and because of) the narrated past and up to the narrator’s present. Herodotus signposts again at the start of 5.87 (λέγεται μέν νυν ὑπ᾽ Ἀργείων τε καὶ Αἰγινητέων τάδε) and then continues his comparison and analysis of epichoric versions: ὁμολογέεται δὲ καὶ ὑπ᾽ Ἀθηναίων… πλὴν Ἀργεῖοι μὲν λέγουσι… 48 See Luraghi 2012b/2001. 49 Brock 2003, 7, defines ‘summary phrases’ as a form of ‘signposting’ in Herodotus, which is a facet of narrative management. 50 I am sure that Luraghi 2013/2005], 97, is right that “Herodotus’ work must have consisted, by no means exclusively, yet to a significant extent, in connecting and/or reworking pre-existing narratives: in marshalling stories.”

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Ἀθηναῖοι δὲ… The resumption of the Athenian version is announced by the prospective formula – τρόπῳ τοιῷδε – and the story relates (in the accusative and infinitive) the demise of the Athenian survivor of the expedition to Aigina at the hands of Athenian women.51 In this story, we recognise the Herodotean topos of ‘sole survivor meets a bad end.’52 The account closes with another signpost: καὶ τοῦτον μὲν οὕτω διαφθαρῆναι (5.87.3) and merges with an aition of the Ionian dress in Athens. And again, as before in the account of the Aiginetan dependence on Epidauros (τοῦτον δ᾽ ἔτι τὸν χρόνον καὶ πρὸ τοῦ 5.83.1), we are presented with an indeterminate two-storey plupast: the time of the Athens-Aigina conflict that changed the Athenian dress fashion and the time before then (πρὸ τοῦ 5.87.3, τὸ παλαιὸν 5.88.1). The effect of the aition, which, by definition, brings the past into the present by explaining a current practice, is amplified by the narratorial metalepsis, as Herodotus launches an ethnographic aside on the relationship of various dress fashions (Ionian, Dorian, Carian, Corinthian). The use of νῦν and the present tense of καλέομεν continue to build the impression of the immediate relevance of the past to the present, erasing the distance between them, but Herodotus’ emphasis on his remarks as truth (ἀληθέι λόγῳ 5.88.1), in apparent contrast to the claims made in epichoric versions, works to undermine the reliability of the latter. The Aiginetan digression is brought to a close in 5.88.2 with a final aition that explains (καὶ πρὸς ταῦτα… ἐκ τόσου) votive and broader cultic regulations for Damia and Auxesia,53 as well as the continued use of long dress pins on Aigina – “now, in my own time, as before” (νυν… ἔτι καὶ ἐς ἐμὲ ἢ πρὸ τοῦ). The next sentence (5.89.1) seals the fourth compositional ring (the ring of beginnings), which was opened in 82.1. Throughout chapters 85–88, the use of verbs in the present tense, as well as of relevant temporal adverbs and prepositional phrases positions the reader in the Present Explicit, where we hear divergent epichoric voices, narrator’s comments, as well as the details of topography, cultic reality, and material culture of Herodotus’ own time. What the epichoric voices, representing corporate actors (Athenians, Aiginetans, Argives), deliver is a metanarrative of converging and diverging tales interlaced with narratorial metalepses. The effect is that of an extremely chopped up account,54 constantly interrupted in its flow. At the same time, this metanarrative sewn from heterogenous pieces carries a dual functional load. Firstly, it bridges the narrated plupasts and the narrator’s present aitiologically, offering a number of explanatory links (all rhetorically valid, if historically doubtful, not least in the eyes of Herodotus). Secondly, it partially fills in the ‘floating gap’ between the spatium mythicum and the main narrative time of the Histories: the time of the ‘beginning of the ancient enmity,’ embroiling Athens and Aigina, falls somewhere 51 On prospective sentences as anticipatory construction helping the forward flow of the narrative: Brock 2003, 4. 52 This might be a folk motif that Herodotus retained from his sources. Other similar cases: Hdt. 1.82, 7.232. 53 Cf. Irwin 2011a, 389. 54 Luraghi’s term ‘disarticulation’ (2013/2005, 99, 101, 103) aptly grasps this effect.

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between the time of the Aiakids, that is, the Age of Heroes, and the spatium historicum, the run-up to the Persian wars.55 3.3 Present Implicit: Allusions to Athenian archê In addition to the present explicit, a number of details in the ‘Aiginetikos logos’ can be identified as implicit allusions to the political reality of Herodotus’ time. Here we come up against the issue of Herodotus’ attitude towards his time and his message to contemporaries. In particular, scholars argue bitterly about his attitude to Athens and Pericles. Opinions are divided: Herodotus is seen by some as an unconditional admirer of Athens; by others, as a critic of the Athenian empire; yet others argue that Herodotus reserves the right to admire and critique selectively, so that he praises Athens of the Persian wars, but not of the Athenian archê.56 In what follows, I discuss the elements of the ‘Aiginetikos logos’ that firmly anchor it in the 5th-century present. Alluding to the practices of the Athenian archê, among others,57 they work as a warning and foreshadow the future. This has been suggested by others before me: sometimes Herodotus is explicit in doing so and uses external prolepses,58 but at other times, he is more subtle, subversive and ambiguous. Unlike in other parts of the “Histories”, there are no explicit prolepses in the section under consideration, however, allusions to the present of Herodotus are unmistakable. These allusions constitute what might be called the present implicit. The allusions to foreign policies of the Athenian archê include: the payment of tribute by allies, the sending of ritual contributions to Athenian cults and festivals, the requirement for allies to stand trial/settle disputes using the Athenian legal system.59 In 5.82.3, within the aition of the Epidaurian cult of Damia and Auxesia, the Athenians require from the Epidaurians an annual payment to Athena Polias and 55 Cf. Cobet 2002, 411: “Therefore the twofold division of mythical and historical time does not really apply to Herodotus. Instead, I recognize three distinctive periods beyond the spatium ‘adêlon,’ the time nobody can know of: 1) the complex stories about beginnings, the age of the Greek poets’ gods and heroes, traditionally the mythical period; 2) the meagrely filled in ‘floating’ gap or ‘Dark Age;’ 3) the spatium historical in the proper sense, to be divided into the horizon of the oriental kings and the ‘recent past’ of the three generations.” 56 See e. g. Moles 2002; Fowler 2003, both influenced by Strasburger 2013/1955 and Stadter 2013/1992. 57 Fowler 2003 discusses other contemporary debates and concerns that find reflection in the “Histories”; but he also notes that the present affects the construction of the past (312): “the point about oral history is that the present helps to create the record of the past in the first place.” 58 E. g. 7.137 (ἡ Θαλθυβίου μῆνις… χρόνῳ δὲ μετέπειτα πολλῷ ἐπηγέρθη κατὰ τὸν Πελοποννησίων καὶ Ἀθηναίων πόλεμον, ὡς λέγουσι Λακεδαιμόνιοι) and in 8.3.2 (οἱ Ἀθηναῖοι… ὡς γὰρ δὴ ὠσάμενοι τὸν Πέρσην περὶ τῆς ἐκείνου ἤδη τὸν ἀγῶνα ἐποιεῦντο, πρόφασιν τὴν Παυσανίεω ὕβριν προισχόμενοι ἀπείλοντο τὴν ἡγεμονίην τοὺς Λακεδαιμονίους. ἀλλὰ ταῦτα μὲν ὕστερον ἐγένετο), as noted by Rood 2007, 127. 59 Cf. Fowler 2003, 307.

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Erechtheus for the supply of olive wood: ἀπάξουσι ἔτεος ἑκάστου τῇ Ἀθηναίῃ τε τῇ Πολιάδι ἱρὰ καὶ τῷ Ἐρεχθέι. The language in which this arrangement is coached is typical of that used for the payment of tribute (phoros) in the Athenian alliance,60 e. g. in Aristophanes Wasps, 707 (εἰσίν γε πόλεις χίλιαι ἃι νῦν τὸν φόρον ἡμῖν ἀπάγουσι). In addition, in Thucydides 5.53 (Book 5 describes years 422–415 BC), we find a strikingly similar situation involving the same players (Athens, Epidauros, Aigina, and Argos) if in a slightly different disposition: Epidaurians default on a payment of a religious duty to Argos, and Argives interfere to secure it out of self-interest and loyalty to Athenians.61 Both an obligation to pay another state a religious duty and the aggression aimed to exact the missing payment echo the allegedly ancient dispute between Athens and Epidauros described in Herodotus. The date of the Argos-Epidauros episode is perhaps too late to support a claim of it being an exact source for Herodotus’ modeling of the Aiginetan prehistory, yet it attests a 5th-century cultic arrangement that could have aligned in Herodotus’ mind with another well-known Athenian practice. As we know from the epigraphic evidence, at some point in the second half of the 5th century, Athens instituted a policy requiring her allies to contribute annual gifts to several Athenian cults and festivals. The so-called ‘first-fruits decree,’ IG, I3 78a (435 BC?), lines 14–18, instructs Athenian allies to send first-fruits to the Eleusinian cult: “and the allies shall contribute the first-fruits in the same way (ἀ̣πάρχεσθαι δὲ καὶ τὸς χσυμμάχος κατὰ ταὐτά), and the cities shall choose collectors in whatever way it seems to them that the crops will be best collected; and when they have been collected they shall send them to Athens (ἐπειδὰν δὲ ἐγλεχθε͂ι̣, ἀποπεμφσά̣ντον Ἀθ̣έναζε·); and those who bring them shall hand them over to the sacred officials at Eleusis…”62 The Thoudippos’ decree, IG, I3 71 (425/4 BC), one of several that stipulated the reassessment of tribute of the Delian league, reads in lines 56–58: “those cities for which tribute was assessed under the Council for which Pleistias was first secretary, in the archonship of Stratokles (425/4), shall all bring a cow and panoply to the Great Panathenaia (βο͂[ν καὶ πανhοπ]λ[ίαν ἀπάγεν ἐς Παναθ]έναια τὰ με̣[γάλα]), and they shall take part in the procession…”63 Similarly, the so-called 60 Cf. Stadter 2013/1992, 345–347. 61 “In the same summer there broke out a war between the Epidaurians and the Argives. The occasion of the war was as follows: The Epidaurians were bound to send a victim as a tribute for the meadows to the temple of Apollo Pythaeus (προφάσει μὲν περὶ θύματος τοῦ Ἀπόλλωνος τοῦ Πυθαέως, ὁ δέον ἀπαγεῖν οὐκ ἀπέμπον ὑπὲρ βοταμίων Ἐπιδαύριοι) over which the Argives had chief authority, and they had not done so. But this charge was a mere pretext; for in any case Alcibiades and the Argives had determined, if possible, to attach Epidaurus to their league, that they might keep the Corinthians quiet, and enable the Athenians to bring forces to Argos direct from Aigina instead of sailing round the promontory of Scyllaeum. So the Argives prepared to invade Epidauria, as if they wished on their own account to exact payment of the sacrifice” (trans. B. Jowett). 62 Transl. by S. Lambert, R. Osborne, https://www.atticinscriptions.com/inscription/IEleus/28a (updated 18 Mar 2018). 63 Transl. by S. Lambert, P. J. Rhodes, https://www.atticinscriptions.com/inscription/IGI3/71 (updated 2 Jul 2018).

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“Kleinias’ decree,” IG, I3 34 (425/4 BC), ll. 41–43, stipulates: “and if anyone [of the allies] does wrong with regard to the bringing of the cow and panoply (περὶ τὲν ἀπα̣[γογὲ |ν τε͂ς βοὸς ἒ [τε͂ς πανhοπλία]ς), the accusations against him and the punishment shall be handled in the same manner.”64 In both inscriptions, the tribute is described with the cognates of the verb apagô used in Herodotus 5.82.3. Overall, the presumably ancient cultic arrangement between Athens and Epidauros, and especially its enforcement by means of invasion, parellel rather closely the conditions of the Athenian archê. Chapter 83.1 describes an ancient state of dependency of Aigina upon Epidauros, but the form this dependency takes is peculiar: Αἰγινῆται Ἐπιδαυρίων ἤκουον τά τε ἄλλα καὶ δίκας διαβαίνοντες ἐς Ἐπίδαυρον ἐδίδοσάν τε καὶ ἐλάμβανον παρ᾽ ἀλλήλων οἱ Αἰγινῆτα. Aiginetans are required to cross over to Epidauros to use the Epidaurian legal system for the settling of their suits. This provision, unattested by any other source that mentions Aigina’s relationship to Epidauros, is again paralleled in the Athenian relations with their allies. E. g., IG, I3 10 (450?), sets up regulations for the Phaselitai, and in lines 6–11, reads: “Whatever cause of action arises at Athens against any of the Phaselites, the trials are to be held at Athens before the polemarch, as for the Chians, and nowhere else.”65 These relations are not to be understood as a benefit imparted upon the allies,66 but as an imposition and curtailment of their autonomy.67 As Greenwood and Irwin poignantly observe: “Herodotus depicts an Epidaurus (implausibly) anticipating Athenian archê in exerting the same legal controls over a dependent Aegina, moreover portrays this relationship as one from which the dependency successfully revolts.”68 The point of course is not to catch Herodotus at failing to convince us of the plausibility of such an archaic arrangement between Epidauros and Aigina, but to demonstrate again that their alleged relationship as master and subject is con-

64 Transl. by S. Lambert, P. J. Rhodes, https://www.atticinscriptions.com/inscription/OR/154 (updated 30 Apr 2018). 65 Transl. by S. Lambert, P. J. Rhodes, https://www.atticinscriptions.com/inscription/IGI3/10. 66 Haubold’s view (2007, 233) of the comparable relationship between Epidauros and Aigina, in which Epidauros is allegedly the agent of justice, imparting benefit upon Aigina (“the Aeginetans abandon a system that so far guaranteed a fair dispensation of justice”), cannot be sustained. 67 The use of the verb ἤκουον (“they gave ear, obeyed”) is evocative of the term ὑπήκοοι, οἱ, used in reference to Athenian tribute-paying allies, e. g. Thuc. 7.57.3–4. 68 Irwin/Greenwood 2007, 27, n. 68: “One may note the unprecedented nature of this aspect of Athens’ relationship to her allies from [Xen.] Ath. Pol., 1.16 and from the Athenian defence of this practice in Thuc. 1.71. On (lack of) autonomy as particularly vexing to Aegina of the late 430s see Thuc. 1.67.2.” Cf. Thuc. 1.71: καὶ ἐλλασούμενοι γὰρ ἐν ταῖς ξυμβολαίας πρὸς τοὺς ξυμμάχους δίκαις καὶ παρ’ ἡμῖν αὐτοῖς ἐν τοῖς ὁμοίοις νόμοις ποιήσαντες τὰς κρίσεις φιλοδικεῖν δοκοῦμεν. Cf. Irwin 2011a, 381 (“Once upon a time Aegina was subordinate to her mother city Epidauros, in a subject relationship defined in terms characteristic of Athenian archê”), however, the description of Epidauros as Aigina’s mother city is misleading here, as it is not in Herodotus, and moreover, not attested in textual sources before the Hellenistic period: see Polinskaya 2013, 395–400.

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structed entirely from the material of the 5th century.69 It is a mirror image projected into the past. Yet Herodotean mirrors are rarely flat, rather they are distorting mirrors, exaggerating or diminishing some features of the original to make a point, or complicate an analogy. Finally, chapter 88 details the measures taken by Aiginetans, after the repulsion of the Athenian attack, to obliterate all traces of Athenian interference in their local cult: they prohibit the use of Attic pottery for ritual use and of anything Attic as offerings. Such a regulation in cult is highly unusual, and yet most historians have been moved to take the Herodotean information at face value, even looking for archaeological confirmation on Aigina.70 Such material confirmation has been impossible to obtain, if only because the site of the sanctuary is still unknown, so archaeological data of that sort are unavailable, and the only piece of epigraphic data (an inventory of the sanctuary, IG, IV2 787) does not list ceramic objects, nor the provenance of metal and wooden objects in the inventory.71 I am rather inclined to view even this report of cultic regulations as a reaction to the policies of the Athenian archê, although the date of Herodotean composition makes this a little less secure than the other observations. I have in mind the so-called Standards Decree, IG, I3 1453 (ca. 430–405 BC), enforcing the use of Athenian coins, weights and measures.72 Whatever the exact date of the inscriptions,73 discussions of such measures may have been around for a while before they were formalized in a decree. An imposition of Athenian standards upon the allies, among whom Aigina found itself since 457 BC, could provoke an extreme Aiginetan response of rejecting anything Athenian from the local cultic context, and the latter could find reflection either in the Herodotean construction of the story or in the Aiginetan aition that may have been its source.74 There are two ways to understand the presence of analogies to the fifth-century Athenian policies in Herodotus. One is politically neutral: everything indicates that Herodotus had no other sources at his disposal except the competing contemporary epichoric stories, and he may have simply reflected their respective agendas. In these stories, some elements function as ‘facts,’ the given, and other

69 Cf. e. g. Luraghi 2013/2005, 109 on the story of Periander, Lycophron and the Corcyrans, which he sees as an attempt “to root in the distant past a hostility which may have been nothing more than a projection backwards of recent conflicts.” 70 E. g. Morris 1984. 71 Polinskaya 2013, 406–411, 469–473, and Appendix 4. 72 Line 10: “and the secretary of the Council [and the People?] is to add the following to the oath of the Council: if anyone strikes silver coinage in the cities and does not use the coins of the Athenians or their weights or measures, but foreign coins and weights and measures…” (Transl. by S. Lambert and R. Osborne, https://www.atticinscriptions.com/inscription/OR/ 155, updated 12 Aug 2017). 73 Used to be dated 449? BC (ATL, II, pp. 63–65); see discussion of the date of 414? BC in Attic Inscriptions Online (https://www.atticinscriptions.com/inscription/OR/155, updated 12 Aug 2017). 74 Sources can be seen as a fourth layer of narrative: “the material from which a narrator forms his fabula” (de Jong 2007, 3).

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elements serve as ‘connectors,’ as I discuss elsewhere.75 Some connectors are retained from the source material and some are forged by Herodotus in the process of disarticulating and stitching anew the epichoric tales to present his own view of history.76 Both the epichoric stories and their treatment by Herodotus could have been influenced by the contemporary knowledge of inter-state relations,77 as well as by the contemporary language used to describe such relations. So, the vocabulary of the Athenian empire that we encounter in chapters 5.82–87 might be generally representative of the contemporary idiom, but the subject matter (inter-state conflicts) and the specific positions occupied by individual states in these conflicts, point to a deliberate choice on the part of Herodotus to include multiple allusions to the present in the representation of the Athenian-Aiginetan plupast. This would be the second (politically partisan) way of reading these allusions. In 5.83, Herodotus introduces the cycles model, the rise and fall of cities, where Aigina is on the rise, still mighty and willful, while the four allusions, in chapters 82, 83, 84, 88 (see Table) would have worked as an ominous foreshadowing of the narrative future/narrator’s present, reminding Herodotus’ contemporary audience how far Aigina was going to fall: a subdued tribute-paying ally by 454 and a defeated state dispossessed of its home territory by 430.78 4. THE VARIETIES AND ORDERING OF TIME IN THE ‘AIGINETIKOS LOGOS’ 4.1 Varieties of Time A wide array of compositional devices, narrative patterns and temporal expressions contributes to the complex role of time in the ‘Aiginetikos logos’ and its framing rings of composition. In the above, we have discussed the following time varieties relevant to the ‘Aiginetikos logos’: – – –

Aitiological Time. Its main function is to explain the shape the world takes as a result of events described in the aition. As such, it is not dependent on historical timeline, and in that sense, is timeless. Spatium Mythicum is the Heroic Age, shaped by the epic tradition, which provides the source of legacy and identity, often directly linked to Spatium Historicum in epichoric traditions. Cyclical Time is self-referential. It sets up a sequential pattern that is bound to recur in the course of history: e. g. the rise and fall of cities or rulers. The use

75 Polinskaya 2013, 411–416. 76 Cf. Luraghi 2013/2005. 77 Cf. Stadter 2014, 356: “Herodotus’ Histories were not accounts of a past distant and dead, but the earlier episodes in a history which was still continuing and whose contemporary events clarified and gave meaning to the past, as the past gave meaning to the present.” 78 Aigina as a tribute-paying ally of Athens: ATL, I, 218 f., III, 38, 57, 303. See discussion in Polinskaya 2009, 249 f. and n. 82, with references to earlier bibliography.

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of cyclical time triggers the effect of pattern recognition in the audience, inviting comparisons with their own experience, that is, with the present. Such use moves the past closer to the present, making it a near past. Spatium Historicum covers a range of historical pasts. In the presentation of Herodotus, the historical past often splits into multiple epichoric pasts and plupasts represented by divergent voices. The historical time of the main narrative is the time of the Greco-Persian wars. Narrator’s present is the time of Herodotus’ composition of the Histories. This time appears in the narrative in the form of authorial metalepses, but also in the metanarrative of the Histories and is found in two varieties: Present Explicit and Present Implicit. Present Explicit. Contemporary epichoric accounts are signified by the present tense of legousi. As they often disagree, their effect is to create uncertainty in our (audience’s/readers’) knowledge, perhaps to suggest that knowledge, and hence truth about the past, is plural: around each detail of a disputed past, a sort of double vision occurs, which blurs the outlines of past events. Alternative versions of past events not only raise doubts about the recoverability of the past and the quality of memory, but disturb the quality of the present. As the present appears unable to obtain a unity of vision, hinting that historical truth remains in the past, unable to reach us through the barrier of disputes and distortions, the present itself recedes into the distance, becomes hard to grasp; the present becomes distant. Present Implicit. Allusions to narrator’s own time are distinct from overt, explicit prolepses and metalepses, as well as from the metanarrative level of presentation.

In the preceding discussion, I have made only a cursory mention of the Time of Origins and have not touched upon the role of the divine in human history.79 Both subjects are relevant to the ‘Aiginetikos logos’ but require a much wider analysis, going far beyond the scope of this paper. Their treatment forms part of a separate study currently in preparation. 4.2 The Ordering of Time in the ‘Aiginetikos Logos’ [55] Ring 1 opens: Aristagorês comes to Athens [77–79] Spatium Historicum – Main Narrative Past (war between Athens and Thebes, where Aigina joins on the side of Thebes; run-up to the Persian wars)

79 See section 2.2 above. On divine will, functioning as an external factor that humans should not presume to control, see Strasburger 2013/1955, 299 f., 312: “For Herodotus, most historical phenomena are indications of divine intention, demonstrations that strike him as secret and ominous, at least as long as the end of a definite chain of fate remains invisible.” Harrison 2003 is a key contribution to the subject.

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[80] Ring 2 opens: Spatium Mythicum (mythical past and heroic genealogies of Thebes and Aigina) [81] Spatium Historicum – Main Narrative Past (Thebans require men, not heroes/images) [81] Ring 3 opens: Memory [82] Ring 4 opens: Beginnings (archê echthrês) [82] Aitiological Time (Epidaurian cult aition), Present Explicit (metanarrative) and Present Implicit (allusion to Athenian archê) [83] Cyclical Time (subjection → thalassocracy → rebellion → arrogance → aggression) and Present Implicit (allusion to Athenian archê) [83] Present Explicit (topography and cult of the Aiginetan Damia and Auxesia) [84] Floating gap filled-Shared Plupast (Epidaurians, Athenians, Aiginetans) and Present Implicit (allusion to Athenian archê) [85] Present Explicit and Floating gap filled-Epichoric Plupast (Athenian version) [86] Present Explicit and Floating gap filled-Epichoric Plupast (Aiginetan and Argive version); Authorial metalepsis; Aitiological Time (the kneeling posture of Aiginetan cult images) [87] Present Explicit and Floating gap filled-Epichoric Plupast (Athenian version); Aitiological Time (Dorian → Ionian dress change in Athens) [88] Authorial Metalepsis (origins of dress fashions in Greece); Aitiological Time (iron pins as votives in the Aiginetan cult); Present Implicit (allusion to Athenian archê). [89] Ring 4 closes: Beginnings (archê echthrês) [89] Ring 3 closes: Memory (return to the Main Past – the narrative of the war between Athens and Thebes, with Aigina as ally) [89] Ring 2 closes: Spatium Mythicum (return to the Heroic Past, which is now contested (Aiakos for Athens), but also hints at the thread that stretches from the beginning (archê) of enmity between Athens and Aigina all the way to the present (the temenos of Aiakos is now, in Herodotus’ time, in the agora of Athens)). [97] Ring 1 closes: Aristagorês comes to Athens 4.3 The Distant Present and the Near Past The mounting of Time in the ‘Aiginetikos logos’ and its framing rings of composition is significant, but not chaotic, as de Jong also argues for Herodotus in general.80 Herodotus employs several parallel strategies for ordering the narrative. Ring compositions are particularly effective devices punctuated with almost iden80 De Jong 2013/1999, 271: “the narrator [Herodotus] places his analepses in a very subtle and effective way […]. We now see that […] not only the ethnographical and geographical digressions, but also the historical digressions, are well placed. Here, then, is a first indication that the ‘chaotic’ structure of Herodotus in fact has its own logic and its own effectiveness.”

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tical formulations (opening and closing formulae). Tightly nested one inside the other (the ring of beginnings within the ring of memory within the ring of mythical time within the ring of Aristagorês’ visit to Athens), they hold together large sections of the narrative and integrate them into the wider Herodotean project. Inside the brackets of ring compositions, Herodotus skillfully manipulates time registers: now allowing the cacophony of arguing epichoric voices to be heard in the present, now reining in the multiplicity of pasts with a bird-eye perspective of cyclical, aitiological time, or authorial comments, then surprising his audience with a stern reminder of divine will. A paradoxical consequence of the Herodotean approach to time is that the past, in its aitiological and cyclical varieties, can emerge sharp, clear, and peculiarly near, becoming near past, while the present diffused into multiple epichoric accounts (‘Athenians say… but Epidaurians say…’), subjected to authorial metalepses, and shot through with the Present Implicit allusions can split into a double/triple vision, becoming blurred, uncertain, receding into the distance, becoming distant present. Formally, the ‘Aiginetikos logos’ is a digression that aims to explain the position of Athens and Aigina towards each other at the time of the Persian wars, that is, in the main narrative time of the “Histories”. In effect, through the presentation of competing epichoric versions of the past and allusions to the present, Herodotus shows that the antagonism is ongoing: the echthrê is alive and operating, continuing to shape history. The digression presents the account of its archê, its beginning, but the rest of the “Histories” continue the tale of this unfolding conflict through the Persian wars and beyond. The variability and constant shifting of time perspectives in Herodotus, including his use of the present implicit, demand active audience participation: by contrasting pasts of varying nature and depth with the permanently unfolding present (in all its multiplicity of political, local, cultural, ethnic, and personal perspectives), Herodotus presents historie as a joint narratoraudience pursuit, as a responsibility of contemporaries to ponder the past in order to define their roles in the present. BIBLIOGRAPHY ATL = Athenian Tribute Lists I = Meritt, Benjamin Dean / Wade-Gery, Henry Theodore / McGregor, Malcolm Francis (1939): The Athenian Tribute Lists I, Cambridge. III = Meritt, Benjamin Dean / Wade-Gery, Henry Theodore / McGregor, Malcolm Francis (1950): The Athenian Tribute Lists III, Princeton. Asheri, David / Lloyd, Alan / Corcella, Aldo (2007): A Commentary on Herodotus Books I–IV, ed. by O. Murray, A. Moreno, with a contribution by M. Brosius, translated by B. Graziosi, M. Rossetti, C. Dus, V. Cazzato, Oxford. Basset, Louis (2009): The Use of the Imperfect to Express Completed States of Affairs: The Imperfect as a Marker of Narrative Cohesion. In Bakker, Stéphanie J. / Wakker, Gerry C. (Eds.): Discourse Cohesion in Ancient Greek, Leiden, 205–220. Beck, Ingrid (1971): Die Ringkomposition bei Herodot und ihre Bedeutung für die Beweistechnik, (= Spudasmata 25). Hildesheim.

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The Distant Present and the Near Past

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Stadter, Philip A. (2014/1992): Herodotus and the Athenian archê. In: Munson, Rosaria Vignolo: Oxford Readings in Classical Studies. Herodotus: Volume 1. Herodotus and the Narrative of the Past, Oxford, 334–356 [reprinted from ASNP 22 (1992) 781–809]. Strasburger, Hermann (1956): Herodots Zeitrechnung. Historia 5, 129–161. Strasburger, Hermann (2013/1955): Herodotus and Periclean Athens, transl. by J. Kardan and J. Foster. In: Munson, Rosaria Vignolo: Oxford Readings in Classical Studies. Herodotus: Volume 1. Herodotus and the Narrative of the Past, Oxford, 295–320 [Originally published in German in Historia 4 (1955):1–25]. Thomas, Rosalind (2012/2001): Herodotus’ Histories and the Floating Gap. In: Luraghi, Nino: The Historian’s Craft in the Age of Herodotus, Oxford, 198–210. Vansina, Jan (1985): Oral Tradition as History, London.

Anachronismen werden üblicherweise als Fehler in der zeitlichen Zuordnung ver­ standen und können tatsächlich aus Un­ kenntnis oder Unachtsamkeit zustande kommen. Zugleich ist es aber auch denk­ bar, dass Elemente, die verschiedenen Zeitepochen anzugehören scheinen, ab­ sichtsvoll in einer bestimmten Weise ver­ bunden oder, wie der titelgebende Begriff der „Zeitmontage“ versinnbildlicht, inein­ ander montiert werden.

Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes untersuchen die Formen und Funktionen solcher Zeitmontagen anhand von Beispielen aus der Alten Geschichte, der Archäologie und der Klassischen Phi­ lologie. Die Beiträge zeigen: Es lohnt sich, Anachronismen entgegen dem ersten Re­ flex als gezielt verwendete Gestaltungs­ mittel in den Blick zu nehmen und danach zu fragen, welche zusätzlichen Bedeu­ tungsnuancen in der Verschränkung un­ terschiedlicher Zeitbezüge angelegt sind.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-12366-2

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