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German Pages 269 [270] Year 2016
Formen und Funktionen
Lingua Historica Germanica
Studien und Quellen zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur Herausgegeben von Stephan Müller, Jörg Riecke, Claudia Wich-Reif und Arne Ziegler
Band 12
Gesellschaft für germanistische Sprachgeschichte e.V.
Formen und Funktionen Morphosemantik und grammatische Konstruktion Herausgegeben von Andreas Bittner und Constanze Spieß
ISBN 978-3-11-047849-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-047897-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-047854-9 ISSN 2363-7951 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
| Für KMK und zum Andenken an Thomas Becker
Vorwort Der vorliegende Sammelband wurde von einem Workshop inspiriert, der im März 2012 unter dem Titel „Zwischen Genus(s) und Kontrolle – Funktionale Aspekte morpho-semantischer Prozesse im Deutschen“ am Germanistischen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster stattfand. Im Fokus dieses Workshops stand die Frage nach der Funktionalität der morpho-semantischen Struktur des Deutschen, wobei vor allem Kategorien wie Genus, Kasus und Numerus, ihre das nominale Flexionssystem strukturierende Wirkung, die von ihnen ausgehenden Kongruenzprozesse und der generelle funktionale und kommunikative Charakter sowie die Repräsentationsstruktur von grammatischem Wissen beleuchtet werden sollten. Die Aufmerksamkeit, die dieser Workshop fand, die Produktivität seiner Diskussionen, in denen linguistische Konzepte wie z.B. Gebrauchsbasierung, Schema, Markiertheit, Optimalität, Frequenz, Prototyp miteinander konfrontiert und empirisch hinterfragt wurden, führten zu der Überlegung, diese Auseinandersetzung im Rahmen eines Sammelbandes weiter zu vertiefen und zuzuspitzen. Besonders die Rolle der morpho-semantischen Kategorien Genus und Numerus bei der Entwicklung und Veränderung von Deklinations- und Distinktionsklassen und grammatischer und sowie pragmatischer Kongruenzsysteme des Deutschen soll dabei Untersuchungsgegenstand sein und empirisch fundiert und auf der Basis von Fakten aus Sprachwandel und Spracherwerb die Relevanz dieser Fragestellung für die morphologische Theoriebildung verdeutlichen. Überlegungen zur Entwicklung und Veränderung der morphosyntaktischen Struktur des Deutschen erfreuen sich seit einigen Jahren einer spürbaren Renaissance. Das wiedererwachte Interesse an diesen Forschungs- und Diskursaktivitäten resultiert zum einen aus einer spürbaren Öffnung und Intensivierung der Diskussion grammatiktheoretischer Konzepte und – nicht unabhängig davon – zum anderen aus den gewachsenen Möglichkeiten der Datengewinnung und -analyse. Prozesse dynamischer sprachlicher Strukturierung sind nicht nur aufschlussreich für Untersuchungen zum Sprachwandel, sondern gleichermaßen für Fragen zur kognitiven Repräsentation und Verarbeitung von Sprache, für Analysen zum Erst- und Zweitspracherwerb, für den Sprachvergleich bzw. für kontrastive Forschungen und nicht zuletzt für die Vermittlung von Deutsch als Zweit- bzw. Fremdsprache. Die intensivierte linguistische Auseinandersetzung zur Repräsentation sprachlichen (grammatischen) Wissens ist mittlerweile deutlich differenzierter und geht über das hinaus, was lange als einfache Dichotomie kontroverser Konzepte konnektionistischer und generativer Forschungsansätze verstanden wurde. Dabei richtet sich der Blick auf sprachliche Muster der morphosyntaktischen Kennzeichnung, zu denen z.B. die vieldiskutierten Schemata der Genuszuweisung bzw. Genusverwendung zählen, als Ausdruck kognitiver Leistungen, mit denen
VIII | Vorwort
Sprecher sprachliches Handeln kategorisieren und ordnen. Grammatische Strukturen fungieren als Instrumente der Relationierung und Perspektivierung, grammatisches Wissen liefert somit Orientierungsmuster für kommunikative und pragmatische Prozesse. Die motivierte Interaktion grammatischer (hier vor allem morphologischer) und semantischer Aspekte und Merkmale sprachlicher Entitäten wird als grundlegend für sprachliche Kategorisierungsprozesse und für die Art der Repräsentation sprachlichen Wissens erkannt. Sie kennzeichnet zudem die Strategien seines Erwerbs und seiner funktionalen Interpretation. Hierzu ist in den letzten Jahren am Beispiel des Deutschen eine Vielzahl von durchaus kontroversen theoriegeleiteten und empirisch umfangreichen Arbeiten entstanden. So wie der Workshop möchte auch der vorliegende Sammelband den Stand der darauf aufbauenden Diskussionen von Theorien und Konzepten sowie die empirischen Analysen und Korpora beispielhaft einer gemeinsamen kritischen Überprüfung unterziehen. Hinsichtlich der Spezifizierung der Funktion grammatischer Kategorien, ihrer Verwendung und ihrer Repräsentation, hier am Beispiel des morphosyntaktischen Systems des Deutschen und seiner semantischen Basierungsaspekte demonstriert, und der Reflexion darüber, wollen die hier versammelten Beiträge sowohl sprachveränderungs-, sprachvergleichs-, und spracherwerbstheoretische sowie entwicklungspsychologische und didaktische Aspekte aufeinander beziehen und mit methodischen und empirischen Analyseaspekten verknüpfen. Dabei werden implizit und explizit folgende Leitfragen verfolgt: – Was leisten unterschiedliche grammatiktheoretische Beschreibungs- und Erklärungsmodelle hinsichtlich der Erfassung sprachlicher Kategorisierungs- und Repräsentationsprozesse? – Welche Verfahren und Strategien steuern den Erwerb grammatischen Wissens und damit die konkrete Zuordnung formaler und semantischer Einheiten? – Wie entwickeln sich flexionsmorphologische (Teil)Systeme und welchen Einfluss hat diese Entwicklung auf den syntagmatischen Bereich? – Wie lässt sich der formale, semantische und funktionale Wandel von grammatischen Kategorien und Repräsentationen beschreiben? Welche Faktoren begünstigen oder verhindern ihren Wandel? – Können diese Erwerbs- und Veränderungsprozesse mit korpuslinguistischen (und statistischen) Verfahren adäquat beschrieben werden? Wie können valide Korpora erstellt werden? – Lassen sich sprachliche Muster grammatischen Wissens oberflächenstrukturell typologisieren? Welche Rolle spielen dabei Produktivität, Funktion, Eindeutigkeit sowie Bedeutung? – Wie kann grammatisches Wissen unter didaktischer Perspektive behandelt werden – wie kann eine Vermittlung im Rahmen der Schulgrammatik und unter DaZ- bzw. DaF-Perspektive erfolgen?
Vorwort | IX
Ein solcher Sammelband kann selbstverständlich keine vollständige Zusammenschau aktueller Fragestellungen und Phänomene morpho-semantischer und morpho-pragmatischer Prozesse liefern, er gibt aber dennoch einen Einblick in gegenwärtige theoretische Diskussionen und zeichnet einen Ausschnitt methodischer und empirischer Analysezugänge nach. Nicht zuletzt möchte er die zum Teil noch wenig aufeinander bezogenen kontroversen Diskussionsstränge fruchtbar ergänzen, zu weiterer Auseinandersetzung anregen und zur Schaffung einer fundierten Ausgangsbasis für einen problemorientierten Diskurs beitragen. Der Band vereinigt Texte, die sich der morpho-semantischen Struktur des Deutschen überwiegend aus funktionaler Sicht, d.h. der Motiviertheit der Interaktion von semantischen und formalen Aspekten bei der grammatischen Strukturierung widmen. Im Zentrum steht dabei vor allem die Rolle der morpho-semantischen Kategorien Genus und Numerus bei der Entwicklung und Veränderung des Deklinationssystems mit seinen Deklinations- und Distinktionsklassen. Überprüft wird ihr Potential als Motivierungsinstanzen grammatischer und pragmatischer Kongruenzsysteme. Die Untersuchungen verweisen auf die Relevanz morpho-semantischer Kategorien für eine dynamische, von Variation gekennzeichnete grammatische Strukturbildung des Deutschen, verbinden ihre empirische Fundierung mit Fakten und Erkenntnissen aus Sprachwandel und Spracherwerb, tragen mit ihren Fragestellungen zur morphologischen und Sprachveränderung berücksichtigenden Theoriebildung bei und richten den Fokus neben den linguistischen auch auf didaktische Aspekte des Gegenstands. Eröffnet wird der Band mit dem Beitrag „Deklinationsklassen und Distinktionsklassen“ von Rolf Thieroff, der die Termini Distinktionsklasse und Distinktionstyp als Ordnungskategorien zur Beschreibung spezifischer Leistungen morphologischer Markierungen bzw. Merkmale bei Substantiven des Deutschen einführt und einer funktionalen Wertung unterzieht. Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen stellt die Kritik an der bisherigen klassifizierenden Einteilung der Substantive in verschiedene Deklinationstypen dar, die dann bestimmten Deklinationsklassen zugeordnet werden. Elke Ronneberger-Sibold veranschaulicht in ihrem Aufsatz „Die Entwicklung der gemischten Maskulina im Frühneuhochdeutschen“ an Beispielen wie Schmerz und Vetter den Prozess der historischen Genese und Veränderung des für die Gesamtentwicklung des deutschen Nominalsystems charakteristischen Flexionstyps der gemischten Maskulina bis hin zu seiner heutigen Struktur. Ausgehend von einer Definition der Klassifikationsinstrumente Deklinationsklasse und Genus geht Sebastian Kürschner in seiner Untersuchung „Die Interaktion von Deklinationsklasse und Genus in oberdeutschen Dialekten“ der Frage nach, welche Rolle das Zusammenspiel von Deklinationsklasse und Genus, aus dem Blickwinkel verschiedener theoretischer Ansätze wie Natürlichkeitstheorie, Schematheorie und funktionalistische Ansätze betrachtet, in vier oberdeutschen Dialekten
X | Vorwort
spielt. Bei der Interaktion von Deklinationsklasse und Genus lassen sich neben verschiedenen Entwicklungslinien, z.B. dass Feminina dazu tendieren (e)n-Plural zu bilden, Maskulina dagegen zur Stammalternation neigen und Neutra zum erPlural, in den untersuchten Dialektsystemen auch die Konservierung weiterer Beziehungsgefüge zwischen Genera und Deklinationsklassen erkennen. Worin Ähnlichkeiten und Unterschiede des Deutschen und des Griechischen im Hinblick auf die Kategorien Genus und die Deklination liegen und vor allem welche Konsequenzen diese Ähnlichkeiten auf Mikrodiachronie und Fremdwortadaption im Erstspracherwerb haben, thematisiert der Text „Genus und Deklination im Deutschen und Griechischen im System und im Erstspracherwerb: eine kontrastive Untersuchung“ des AutorInnenkollektivs Wolfgang U. Dressler, Katharina KoreckyKröll, Anastasia Christofidou und Karlheinz Mörth. Die Grundlage ihrer vergleichenden Untersuchungen stellen Sprachdaten aus Longitudinalstudien eines die griechische und eines die deutsche Sprache erwerbenden Kindes dar. Wie Sprachgebrauch und mentale Repräsentation sprachlicher Strukturen miteinander in Verbindung stehen und sich gegenseitig beeinflussen, zeigt der Beitrag „Analytische und gestalthafte Nomina auf -er im Deutschen vor dem Hintergrund konstruktionsgrammatischer Überlegungen“ von Klaus-Michael Köpcke und Klaus Uwe Panther, der eine sprachgebrauchsbasierte mit einer kognitionslinguistischen Perspektive verknüpft. Ihre Befunde erklärt das Autorenpaar damit, dass Sprecher nicht abstrakte Regeln auf Inputdaten anwenden, sondern vielmehr im Sprachgebrauch konkrete Lexeme und Lexemgruppen mental vernetzen und ihnen grammatische Funktionen und Bedeutungen zuweisen. Die sprachlichen Einheiten werden in ihren Form-Bedeutungszusammenhängen als aus dem Sprachgebrauch abstrahierte Gestalten wahrgenommen, die als Schemata auf selbigen zurückwirken. Mit dem Verhältnis von Genus und Eigennamen befassen sich Fabian Fahlbusch und Damaris Nübling in ihrer Untersuchung „Genus unter Kontrolle. Referentielles Genus bei Eigennamen – am Beispiel der Autonamen.“ Ausgehend von Prinzipien der Genuszuweisung wird aus diachroner Perspektive zunächst auf den stufen- bzw. etappenweise verlaufenden Prozess der Entstehung und Entwicklung onymischer Genera in unterschiedlichen Bereichen (Namen für Berge, für Flüsse, Städtenamen etc.) eingegangen, der auf ein festes Genus zusteuert, wobei in der Regel das Genus des Sockels oder des appellativen Oberbegriffs genusfixierend ist. Bei der Genuszuweisung von Autonamen sieht das jedoch anders aus, weder enthalten Autonamen einen genuszuweisenden Sockel noch lässt sich das Genus des Oberbegriffs (Auto) auf die Autonamen applizieren. Anhand eines begriffsgeschichtlichen Überblicks zu den Bezeichnungen Automobil vs. Motorwagen wird der heute weniger verwendete Ausdruck Wagen als Sockel identifiziert, der allerdings durch den entlehnten und gekürzten Begriff Auto(mobil) ersetzt wurde. Die davor erfolgte Festlegung des gesamten Feldes auf das maskuline Genus kann somit nur aus diachroner Perspektive angemessen erklärt werden.
Vorwort | XI
Für die Implementierung aktueller linguistischer Forschungsergebnisse in den muttersprachlichen Deutsch- und in den Zweitsprachunterricht plädiert Christina Noack in ihrem Statement mit dem Titel „Führt das Genus in der deutschen Schulgrammatik ein Schattendasein?“, das nach dem Nutzen der Thematisierung der Kategorie Genus im Deutschunterricht fragt. Ausgangspunkte der Kritik am derzeitigen Deutschunterricht sind die deklarative Thematisierung der Kategorie Genus, die fehlende Differenzierung zwischen Genus und Sexus und das Faktum, dass Genuszuweisungsprinzipien nicht oder nur unzureichend Gegenstand des Deutschunterrichts sind bzw. die unterschiedlichen funktional-kommunikativen Leistungen der Genera nicht zum Gegenstand erhoben werden. Die präsentierten Vorschläge für eine systematische und kognitiv gesteuerte Vermittlung der Kategorie Genus sowohl im muttersprachlichen als auch im Zweitsprachunterricht haben den Abbau dieser Defizite zum Ziel. Ausgehend von der Tatsache, dass der Genuserwerb im Kontext von Deutsch als Fremdsprache bis in höhere Niveaustufen eine große Herausforderung für Lernerinnen und Lerner darstellt, präsentiert Sabina Schroeter-Brauss in ihrem Beitrag „Genuszuweisung im Unterricht Deutsch als Fremdsprache“ eine empirische Studie zur Genuszuweisung durch tschechische Deutschlernerinnen und Deutschlerner. Im Anschluss daran geht sie in einer Analyse von Lehrwerken für Deutsch als Fremdsprache kritisch auf die Thematisierung der Kategorie Genus ein und stellt durchweg einen unsystematischen Zugang zur Kategorie Genus und mangelnde Vollständigkeit im Hinblick auf vermittelbare Genusregeln fest. Rüdiger Harnischs Diskussion „Das generische Maskulinum schleicht zurück. Zur pragmatischen Remotivierung eines grammatischen Markers“ befasst sich mit dem Phänomen nominalisierter Partizip-Präsenskonstruktionen, die auf -end enden und in pluralischem Gebrauch als Möglichkeit geschlechtergerechten Sprachgebrauchs in der kommunikativen Praxis Verwendung finden, so dass auf Beidnennungen, Splittingformen oder generische Maskulina verzichtet werden kann. Werden diese Formen jedoch im Singular eingesetzt, so findet wieder eine Genusspezifizierung statt. Die in Textsorten unterschiedlicher Formalitätsgrade gemachten Beobachtungen werden als konfligierende (sexusmarkierende vs. pragmatische) Verstärkungsprozesse charakterisiert, bei denen das Partizipialsuffix -end eine pragmatische Umdeutung erfahren hat und nun von den Sprachverwendern als politisch korrekte Ausdrucksweise für Sexusneutralität interpretiert wird, auch wenn es in singularischer Verwendung genusspezifizierend verwendet werden kann. Angelika Redder nimmt in ihrem Beitrag „Das Neutrum und das operative Geschäft der Morphologie“ die Kategorie Genus aus funktional-pragmatischer Perspektive in den Blick, ordnet sie dem operativen Feld zu und macht an authentischem Sprachmaterial deutlich, dass die Leistung der allgemeinen Kategorie Genus wie auch die ihrer besonderen Ausprägung „Neutrum“ im Rahmen sprachinterner Zwe-
XII | Vorwort
cke darin besteht, als operatives Mittel der Genuskongruenz, aber auch als Mittel der Verallgemeinerung und der Abstraktion eingesetzt zu werden. Heide Wegener leitet in ihrer Untersuchung „Regeln versus Muster – Der Erwerb flektierter Formen im DaZ: der Plural deutscher Substantive“, die sich mit der Beschreibung des Pluralerwerbs bei DaZ-Lernern im Alter von 6–10 befasst, von den Lernern verwendete Erwerbsstrategien ab und diskutiert diese vergleichend und auf die jeweilige explanative Kapazität zielend im Rahmen zweier unterschiedlicher sprachtheoretischer Konzepte des Erwerbs mentaler Repräsentationen, dem DualRouten-Modell und dem gebrauchsbasierten Netzwerkmodell. Aus sprachhistorischer Perspektive geht Arne Ziegler in seinen Überlegungen zur „Opakheit. Ein Blick auf das Unsichtbare in Grammatik und Sprache“ auf Strukturen aus den Bereichen der Verb- und Nominalflexion ein, die, bedingt durch schon länger existente morphologische Umbauprozesse, durch morphologisch intransparente Phänomene gekennzeichnet sind. Sie werden als pragmatisierte Grammatik im Varietätenraum des Deutschen verortet. Fälle von Opakheit lassen sich als nicht overt markierte grammatische Strukturen beschreiben, die nur mit Hilfe von Ko- und Kontext erschlossen werden können, wobei einerseits die syntaktische Umgebung und andererseits der Bezug zu Welt- und Sprachwissen eine zentrale Rolle spielen. Den Band beschließt der Beitrag „Gibt es im Deutschen eine ‚Satzklammer‘?“ von Thomas Becker† , der im Rahmen der Diskussion des Phänomens der Aufspaltung von Perfektformen oder Partikelverben innerhalb des deutschen Satzes zu dem Schluss kommt, dass die Beschreibung des Phänomens mit den Kategorien linke und rechte Satzklammer die Strukturen und Verhältnisse im Satz nicht erhellt und zu kurz greift. Er plädiert dafür, die Argumentation zu erweitern und von strukturellen und lexikalischen Köpfen auszugehen. Strukturelle Köpfe stehen dabei links, lexikalische rechts. Wenn eine rechtsköpfige Struktur in eine linksköpfige eingebettet ist, dann kommt es dazu, dass diese Struktur als Klammerung wahrgenommen wird. Wir möchten uns an dieser Stelle bei all jenen bedanken, die zur Entstehung und zum Gelingen des Workshops sowie zur Fertigstellung des Sammelbandes beigetragen haben. Zuerst sind natürlich die Referentinnen und Referenten, die gleichzeitig auch die Autorinnen und Autoren dieses Bandes sind, zu nennen, bei denen wir uns für die konstruktive Zusammenarbeit und nicht zuletzt für ihre Geduld bedanken. Für die Tatkraft bei der Organisation des Workshops danken wir Bärbel Karte, Anke Michel, Sarah Irak und Jonas Furchert. Letzterem und Florian Meyer gilt unser Dank für die zuverlässige und mitunter mühsame Erstellung der Druckversion, beiden und Marleen Bruning, Julia Hübner und Katja Politt danken wir für die redaktionelle Unterstützung. Ohne deren verdienstvollen Einsatz wäre der Band nicht möglich gewesen.
Vorwort | XIII
Darüber hinaus gilt unser Dank Maria Zucker und Jacob Klingner vom Verlag De Gruyter für die wohlwollende Zusammenarbeit und die Aufnahme des Bandes in das Verlagsprogramm. Den HerausgeberInnen der Reihe Lingua Historica Germanica danken wir für die Durchsicht der Beiträge, kritische Hinweise und die Aufnahme des Bandes in diese Reihe. Gewidmet ist dieser Band Klaus-Michael Köpcke, er gilt aber gleichzeitig auch dem Andenken an unseren viel zu früh verstorbenen Freund und Kollegen Thomas Becker. Münster und Graz im Frühjahr 2016 Andreas Bittner & Constanze Spieß
Inhalt Vorwort | VII Rolf Thieroff Deklinationsklassen und Distinktionsklassen | 1 Elke Ronneberger-Sibold Die Entwicklung der gemischten Maskulina im Frühneuhochdeutschen | 21 Sebastian Kürschner Die Interaktion von Deklinationsklasse und Genus in oberdeutschen Dialekten | 35 Wolfgang U. Dressler, Katharina Korecky-Kröll, Anastasia Christofidou und Karlheinz Mörth Genus und Deklination im Deutschen und Griechischen im System und im Erstspracherwerb: eine kontrastive Untersuchung | 61 Klaus-Michael Köpcke und Klaus Uwe Panther Analytische und gestalthafte Nomina auf -er im Deutschen vor dem Hintergrund konstruktionsgrammatischer Überlegungen | 85 Fabian Fahlbusch und Damaris Nübling Genus unter Kontrolle | 103 Christina Noack Führt das Genus in der deutschen Schulgrammatik ein Schattendasein? | 127 Sabina Schroeter-Brauss Genuszuweisung im Unterricht Deutsch als Fremdsprache | 141 Rüdiger Harnisch Das generische Maskulinum schleicht zurück | 159 Angelika Redder Das Neutrum und das operative Geschäft der Morphologie | 175 Heide Wegener Regeln versus Muster | 193
XVI | Inhalt
Arne Ziegler Opakheit | 215 Thomas Becker † Gibt es im Deutschen eine ‚Satzklammer‘? | 233 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren | 251
Rolf Thieroff
Deklinationsklassen und Distinktionsklassen 1 Einleitung Nach einem Blick auf die vorkommenden Deklinationstypen des neuhochdeutschen Substantivs in Abschnitt 2 werden diese Deklinationstypen in Abschnitt 3 den traditionellen Deklinationsklassen stark, schwach und gemischt zugeordnet. Anschließend rekonstruiere ich die Ausgrenzung der Deklinationsklassen fem (Feminina) und der s-Deklinationsklasse und deren Bezug zur femininen Klasse. In Abschnitt 4 führe ich die Begriffe Distinktionsklasse und Distinktionstyp ein und stelle fünf zu unterscheidende Distinktionsklassen mit ihren Distinktionstypen vor. Im fünften Abschnitt wird dargelegt, was die Distinktionsklassen leisten, insbesondere im Kontext von Deklinationstypenübergängen wie dem Verlust des Akkusativ- und des Dativ-Suffixes bei den schwachen Maskulina. Abschnitt 6 bietet ein kurzes Fazit.
2 Deklinationstypen Es ist allgemein bekannt, dass es im Neuhochdeutschen bei der Flexion des Substantivs eine Vielzahl von Deklinationsmustern gibt, die in den Arbeiten zur Substantivflexion auf die unterschiedlichste Weise dargestellt werden. Eine gelungene Darstellung aller vorkommenden regulären Deklinationsmuster bietet Mugdan (1977). Mugdan unterscheidet 21 „Deklinationsmuster“, die sich nach Beseitigung von Allomorphien auf die 15 Deklinationstypen in Tab. 1 reduzieren lassen.1 In Tab. 1 sind alle Formunterschiede, die bei einzelnen Substantiv-Paradigmen auftreten können, erfasst. Die Tabelle zeigt also die feinste bzw. detaillierteste Unterscheidung der vorkommenden Formen. Diese 15 Deklinationstypen dienen als Grundlage für die folgende Darstellung.
|| 1 Mugdan unterscheidet beispielsweise einen Plural-Marker -n von einem Plural-Marker -en, oder -er mit und -er ohne Umlaut.
2 | Rolf Thieroff
Tab. 1: Deklinationstypen nach Mugdan NomPl – DatPl – GenSg – -(e)s -(e)n -(e)ns
̈ ̈ r -(e)n -s – –̈ –̈ -e -e -e ̈ -en -e ̈ n -e ̈ rn -(e)n -s -n –̈ -n
4 13 12 11 10
3 9
8
7
2 6 14 15
1 5
In den Grammatiken des Deutschen und in Arbeiten speziell zur Substantivflexion werden die vorkommenden Muster auf die unterschiedlichste Weise gruppiert. Inzwischen werden gar nicht mehr in allen Grammatiken Paradigmentafeln präsentiert, die die vier angenommenen Kasus in Singular und Plural zeigen, sondern es werden teilweise Pluralbildung und Kasusflexion getrennt voneinander abgehandelt. So unterscheiden beispielsweise Helbig/Buscha (2001: 211) eine „Deklination im Singular“ mit 3 Typen (unterschieden nach den Genitiv-Singular-Markern s, n und Null) und die als „Deklination im Plural“ bezeichnete Pluralbildung mit den fünf Typen e-, n-, er-, s- und Nullplural (2001: 214). In einem längeren anschließenden Text werden dann recht unsystematisch die drei Singulartypen auf die fünf Pluraltypen bezogen, Gesamtparadigmen fehlen. Ähnlich verfährt die Dudengrammatik von 2009, die unter der Überschrift „Die Bildung der Pluralformen“ nicht weniger als drei „Grundregeln“, vier Zusatzregeln, fünf „Sonderfälle“ und vier Umlautregeln angibt (Duden 2009: 180‒185) und im Anschluss daran fünf „Grundmuster der Kasusflexion“ (zusätzlich zu den drei bei Helbig/Buscha noch die Eigennamendeklination und die „Kasusformen im Plural“) (2009: 194). Ein Gesamtparadigma eines Substantivs mit allen Kasus- und Numerusformen sucht der Leser auch in dieser Grammatik vergebens. Anders verfährt noch die Dudengrammatik von 1998, wo zwar auch drei „Singulartypen“ (Duden 1998: 224) und fünf „Pluraltypen“ (1998: 229) unterschieden werden, zuvor aber Gesamtparadigmen präsentiert werden, welche zehn „Deklinationstypen“ zugeordnet sind, die sich aus je unterschiedlichen Kombinationen der „Singulartypen“ und der „Pluraltypen“ ergeben (1998: 223‒224). Die angesetzten Deklinationstypen erscheinen schließlich noch einmal zusammengefasst wie in Tab. 2.
Deklinationsklassen und Distinktionsklassen | 3
Tab. 2: Deklinationstypen in Duden (1998: 236‒237) Deklinationstyp
Charakteristik Beispiel (Gen. Sing./Nom.Plur.)
I
-[e]s/-e
des Jahres – die Jahre
II
-[e]s/-Ø
des Musters – die Muster
III
-[e]s/-[e]n
des Staates – die Staaten
IV
-[e]s/-er
des Bildes – die Bilder
V
-s/-s
des Uhus – die Uhus
VI
-[e]n/-[e]n
des Menschen – die Menschen
VII
Ø/-e
der Kraft – die Kräfte
VIII
Ø/-Ø
der Mutter – die Mütter
IX
Ø/-[e]n
der Frau – die Frauen
X
Ø/-s
der Oma – die Omas
Sonderfälle
-ns/-n
des Namens – die Namen
Auch Zifonun et al. (1997: 29) unterscheiden drei Singular- und fünf Pluraltypen, deren mögliche Kombinationen wie in Tab. 3 dargestellt sind. Auch hier ergeben sich insgesamt zehn Deklinationstypen, die jenen in Duden (1998) entsprechen. Tab. 3: Zuordnung von Plural- und Kasus-Typen in Zifonun et al. (1997: 30) Typ
1
2
3
4
5
Genus
A
Mutter
Frau
Mama
Hand
Femininum
B
Rabe
Maskulinum
C
Koffer
Muskel
Opa
Arzt
Mund
Maskulinum/
Kissen*
Bett
Hotel
Bein
Amt
Neutrum
*Bei Zifonun et al. fälschlich Land
Mit Mugdans Schema aus Tab. 1 kann jede beliebige Klassifikation, die in der Literatur vorkommt, abgebildet werden, wobei zugleich sichtbar wird, welche formalen Unterschiede jeweils unberücksichtigt bleiben. So sind in Duden (1998) und bei Zifonun et al. (1997) unterschiedliche Dativ-Plural-Formen, die sich teilweise aus der phonologischen Struktur des Substantivs, teilweise aus den Pluralsuffixen ergeben, nicht berücksichtigt, m.a.W. es ist hier nicht ersichtlich, dass es Dativ-Plural-Formen mit und ohne Dativ-Plural-Suffix -n gibt. Ferner fehlt der Typ Name–Namens, der in Duden (1998) immerhin als „Sonderfall“ vorkommt, in Zifonun et al. (1997) dagegen gar nicht erwähnt wird. Zur Veranschaulichung sind in Tab. 4 die Klassen
4 | Rolf Thieroff
aus Duden (1998) und in Tab. 5 die Klassen aus Zifonun et al. (1997) in das Schema eingetragen. Tab. 4: „Deklinationstypen“ I – X aus Duden (1998: 236‒237) NomPl – – –̈ –̈ DatPl – -n –̈ -̈n GenSg – -(e)s -(e)n -(e)ns
VIII II
-e -̈e -̈er -(e)n -s -en -̈en -̈ern -(e)n -s VII I
IV
IX III VI
X V
Tab. 5: „Deklinationstypen“ in Zifonun et al. (1997: 30) NomPl – – –̈ –̈ -e -̈e -̈er -(e)n -s DatPl – -n –̈ -̈n -en -̈en -̈ern -(e)n -s GenSg – -(e)s -(e)n -(e)ns
A1 C1
A4 C4
C5
A2 C2 B2
A3 C3
3 Deklinationsklassen Seit Jacob Grimm ist es üblich, dass mehrere der in Abschnitt 1 besprochenen Deklinationstypen zu Deklinationsklassen zusammengefasst werden. Dabei werden die Substantive ursprünglich in genau drei Klassen eingeteilt, nämlich die starke, die schwache und die gemischte Deklinationsklasse. Als einzige Einteilung findet sich diese Klassifizierung noch immer im Zweifelsfälle-Duden (Duden 2011: 847). Für das Neuhochdeutsche ist für die Feminina vom Typ Zunge seit jeher umstritten, ob sie zur schwachen oder zur gemischten Deklinationsklasse zu rechnen sind. Häufig werden sie, wie im Zweifelsfälle-Duden, oder etwa von Wegener (2007), zu den schwachen Substantiven gerechnet. Der Zweifelsfälle-Duden schreibt dazu: „Diese Deklinationsart, der Maskulina und Feminina angehören, wird ‚schwach‘ genannt, weil sie zur Kasusbildung [!] der konsonantischen Stütze -n bedarf: Mit Ausnahme des Nominativs Singular der Maskulina und des endungslosen Singulars der Feminina enden alle Formen auf -en oder -n“ (Duden 2011: 875). Diese Erklärung ist an Widersprüchlichkeit kaum zu überbieten: Einerseits ist die Kasusbildung auf -n der Grund für die Zuordnung zur schwachen Deklination, andererseits werden aber die
Deklinationsklassen und Distinktionsklassen | 5
Feminina vom Typ Zunge zu den schwachen Substantiven gerechnet, obwohl sie ja gerade keine Kasusbildung auf -n haben. Entweder kann also die Definition der schwachen Klasse nicht stimmen, oder die Feminina gehören dieser Klasse nicht an. Unter Mitberücksichtigung der diachronen Entwicklung des Typs Zunge ergibt sich natürlich, dass dieser Typ nicht zu den schwachen Substantiven gerechnet werden sollte. Entsprechend stellt schon Paul (1917: 74) fest: „In der Flexion der Feminina sind gegenwärtig zwei Hauptarten zu unterscheiden. Die eine (Kraft, Pl. Kräfte) können wir als stark bezeichnen; sie ist Fortsetzung der alten i-Deklination. Die andre (Zunge, Pl. Zungen) ist als gemischt zu betrachten, in ihr sind zwei noch im Mhd. geschiedene Klassen zusammengefallen, die starke â-Deklination und die schwache, die n-Deklination“. Sütterlin (1918: 216) führt Frau und Schachtel zwar in einer Tabelle unter der „schwachen Abwandlung“ auf, relativiert dies aber wie folgt: Die weiblichen Wörter stehen nur mit zweifelhafter Berechtigung hier unter den schwachen Bildungen. Da nur die Mehrzahl schwach ist, die Einzahl aber endungslos, so darf man sie ebensogut zu der gemischten Abwandlung rechnen, zumal da geschichtlich die endungslosen Formen früheren starken Bildungen entsprechen. Nur mit Rücksicht auf die sonst übliche Einteilung sind sie hier belassen worden. (Sütterlin 1918: 217)
Auch in der aktuellen Duden-Grammatik wird, unter Verweis auf Relikte der schwachen Deklination bei Feminina (auf Seiten, auf Erden), betont, dass „das heutige Deutsch nur noch gemischte und starke Feminina“ kennt (Duden 2009: 220).2 Eine ausführliche diachron motivierte Begründung für die Zugehörigkeit des Zunge-Typs zur gemischten Klasse bietet Nübling (vgl. 2008: 302‒303). Nübling stellt auch fest, dass die drei Klassen allein über die Form des Genitiv Singular und des Plural zu bestimmen sind. Sie sind damit wie folgt definiert (vgl. Nübling 2008: 283): Definition der drei Deklinationsklassen stark, schwach und gemischt: stark: weder Genitiv Singular noch Plural mit -(e)n (also alles andere inklusive Null) schwach: Genitiv Singular und Plural mit -(e)n gemischt: Plural mit -(e)n, Genitiv Singular nicht mit -(e)n (also alles andere inklusive Null) Übertragen wir die so definierten Deklinationsklassen in das Mugdan-Schema, so ergibt sich Tab. 6.
|| 2 Bezüglich der Einordnung der Feminina vom Typ Zunge behauptet also der aktuelle ZweifelsfälleDuden (Duden 2011) das Gegenteil des aktuellen Grammatik-Dudens (Duden 2009). Ein eingehender Vergleich der beiden Werke dürfte eine ganze Reihe derartiger Widersprüche zu Tage fördern.
6 | Rolf Thieroff
Tab. 6: Zuordnung der drei Deklinationsklassen stark (st), schwach (sw), gemischt (gem) NomPl – – –̈ –̈ -e -̈e -̈er -(e)n DatPl – -n –̈ -̈n -en -̈en -̈ern -(e)n GenSg — -(e)s -(e)n -(e)ns
st
-s -s
gem st sw
Wie erwähnt, ist die Zuordnung der Feminina vom Typ Zunge zur gemischten Deklinationsklasse zuallererst diachron begründet. Betrachtet man die Deklinationstypen jedoch nur unter synchronen Gesichtspunkten, gibt es gute Gründe, die Gesamtheit der Feminina von den übrigen Deklinationsklassen zu unterscheiden und einer eigenen, vierten Deklinationsklasse zuzuordnen. Der Hauptgrund für die Ausgliederung der Feminina dürfte dabei sein, dass alle Feminina gemeinsam haben, dass es im Singular keinerlei Kasusmarkierung gibt. Diese Gemeinsamkeit ist im MugdanSchema schon grafisch erkennbar (die Deklinationstypen der Feminina sind alle in der ersten Reihe angeordnet), bei Zifonun et al. (1997) haben die Feminina das gemeinsame Merkmal A, und in Duden (1998) gehören die Feminina benachbarten Deklinationstypen an (Typen VII bis X). Die Ausgliederung der Feminina und ihre Zuordnung zu einer vierten Deklinationsklasse finden wir bereits im GrammatikDuden von 1973, wo es neben der starken, der schwachen und der gemischten Deklinationsklasse (hier „Deklinationstyp“ genannt) als vierte die Klasse der Feminina gibt, zu der es heißt: „Zu diesem Typ gehören alle Feminina. Sie sind im Nominativ Plural endungslos (die Mütter) oder erhalten die Pluralendung -n/-en (die Gabe-n, die Frau-en), -s (die Mutti-s) oder -e (die Trübsale)“ (Duden 1973: 185). Auch der in diesem Zitat fehlende Typ Hand—Hände wird genannt. Die Definition der Deklinationsklassen kann damit natürlich nicht mehr wie oben erfolgen. Vielmehr haben die nunmehr vier Deklinationsklassen die folgenden Kennzeichen: Definition der vier Deklinationsklassen stark, schwach, gemischt, feminin (fem) fem: GenSg: Null stark: GenSg: -(e)s Plural: nicht -(e)n schwach: GenSg: -(e)n Plural: -(e)n gemischt: GenSg: -(e)s Plural: -(e)n
Deklinationsklassen und Distinktionsklassen | 7
Für die feminine Deklinationsklasse genügt es, die Form des Genitiv Singular anzugeben; die Form des Plural spielt keine Rolle.3 Für das Mugdan-Schema ergibt sich die Zuordnung in Tab. 7. Tab. 7: Zuordnung der vier Deklinationsklassen stark (st), schwach (sw), gemischt (gem), feminin (fem) NomPl – – –̈ –̈ -e -̈e -̈er -(e)n -s DatPl – -n –̈ -̈n -en -̈en -̈ern -(e)n -s GenSg — -(e)s -(e)n -(e)ns
fem st
fem gem st
sw
Nicht ganz unproblematisch sind die Substantive mit s-Plural. Sie bleiben, wohl weil als fremd angesehen, lange Zeit unberücksichtigt, d.h. sie werden keiner der ursprünglichen drei Deklinationsklassen zugeordnet. Bei Grimm fehlen sie ganz, ebenso bei Paul (1917) oder Sütterlin (1918). Sofern sie in Arbeiten, die an den Deklinationsklassen stark, schwach und gemischt festhalten, überhaupt berücksichtigt werden, werden sie zunächst der starken Klasse zugerechnet, gemäß der Definition, dass schwach immer ein n-Suffix impliziert. So wird in Duden (1973: 185) Uhu bei der starken Klasse aufgeführt, Mutti allerdings in der neu errichteten Klasse der Feminina. Eisenberg (1986: 149), der der Einteilung von Duden (1973) zunächst folgt, grenzt den Typ Echo, Papa, Mutti aus den vier Deklinationsklassen aus, allerdings ohne dass deutlich wird, ob er mit einer fünften Deklinationsklasse rechnet. In Eisenberg (2013: 162) wird dann ein „Flexionstyp“ s-Flexion angenommen, der alle Substantive mit s-Plural beinhaltet. Dass es eine eigene, von der starken unterschiedene s-Klasse gibt, wird inzwischen häufiger vertreten (so etwa von Wegener 2007). Dass in eine s-Deklinationsklasse auch die Feminina mit s-Plural gehörten, ist allerdings zurückzuweisen, jedenfalls dann, wenn eine feminine Deklinationsklasse angenommen wird.4 Als Begründung für die Zusammenfassung der Substantive mit s-Plural aller Genera in einer Klasse wird in der Regel angeführt, dass diese Klasse die einzige echt genusübergreifende sei. Das ist sie aber natürlich nur bezüglich der Pluralbildung, nicht || 3 Natürlich könnte man innerhalb der femininen Deklinationsklasse nach der Pluralbildung eine starke (Hand–Hände, Oma–Omas) und eine schwache (Frau–Frauen, Gabe–Gaben) Subklasse unterscheiden (Elke Ronneberger-Sibold, persönliche Mitteilung). 4 Eine genusübergreifende s-Plural-Klasse ist natürlich dann unproblematisch bzw. sogar geboten, wenn man allein die Pluralbildung zur Grundlage von „Deklinationsklassen“ macht, wie etwa Engel (2004: 275‒276), dessen fünf „Deklinationsklassen“ den fünf Pluralbildungen entsprechen. Zu einer Kritik dieser Klassen in Engel et al. (1999) vgl. Thieroff (2009: 172).
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bezüglich des Genitiv Singular. Und lässt man den außer Acht und berücksichtigt nur die Pluralbildung, dann gehörten natürlich auch die Typen Hand–Hände und Band–Bände wieder in eine Klasse, und ebenso die Typen Bote–Boten und Jacke– Jacken. Daraus folgt, dass die Etablierung der Deklinationsklasse feminin zwingend impliziert, dass auch der Typ Oma zu den Feminina gehören muss. Die s-Klasse ist damit beschränkt auf die Nicht-Feminina, Typ Opa, Auto. Die nunmehr fünf Deklinationsklassen sind wie folgt differenziert. Definition der fünf Deklinationsklassen stark, schwach, gemischt, feminin, s fem: GenSg: – stark: GenSg: -(e)s Plural: nicht -(e)n, nicht -s schwach: GenSg: -(e)n Plural: -(e)n gemischt: GenSg: -(e)s Plural: -(e)n s-Klasse: GenSg: -s Plural: -s Für das Mugdan-Schema ergibt sich die Zuordnung in Tab. 8. Tab. 8: Zuordnung der fünf Deklinationsklassen fem, stark, schwach, gemischt, s NomPl – – –̈ –̈ -e -̈e -̈er -(e)n -s DatPl – -n –̈ -̈n -en -̈en -̈ern -(e)n -s GenSg – -(e)s -(e)n -(e)ns
fem st
fem gem s
sw
Für die feminine Deklinationsklasse ist also allein die Form des Genitiv Singular konstitutiv, für die übrigen vier Klassen die Formen von Genitiv Singular und Plural. Nebenbei können wir noch festhalten, dass nicht in allen Deklinationsklassen alle Genera vorkommen. Vielmehr ergibt sich die Zuordnung in Tab. 9. Darauf werde ich aber im Folgenden nicht weiter eingehen. Tab. 9: Deklinationsklassen und Genera stark, gemischt, s-Klasse: schwach: fem:
N-FEM MASK FEM
Deklinationsklassen und Distinktionsklassen | 9
4 Distinktionsklassen und Distinktionstypen Die bisherige Diskussion der Deklinationsklassen bezog sich ausschließlich auf die materielle Seite der Flexive und damit auf Formunterschiede zwischen verschiedenen Pluralsuffixen und verschiedenen Genitiv-Singular-Suffixen. Allein solche formalen Unterschiede spielen in der Regel eine Rolle bei der Einteilung der Substantive in Deklinationsklassen. Von dieser Betrachtung zu trennen ist eine Unterscheidung danach, welche Kasus- und Numerusdistinktionen innerhalb eines Substantiv-Paradigmas vorkommen, unabhängig davon, wie diese Distinktionen formal zum Ausdruck kommen. Bei der ursprünglichen Einteilung in stark, schwach und gemischt gibt es eine Deklinationsklasse, die nicht nur durch bestimmte Flexionssuffixe bestimmt ist, sondern zusätzlich dadurch unterschieden ist, welche Positionen des Paradigmas überhaupt durch ein Flexiv markiert sind, unabhängig von der Form dieser Flexive. Es handelt sich dabei um die schwachen Maskulina. Nur in dieser Klasse werden Akkusativ und Dativ Singular mittels eines Kasussuffixes markiert, in allen anderen Klassen sind Akkusativ und Dativ suffixlos. D.h. also, innerhalb der Paradigmen von Substantiven der schwachen Deklinationsklasse werden dieselben Positionen unterschieden – unabhängig von der materiellen Beschaffenheit des Flexivs. Paradigmen, die sich durch eine solche Gemeinsamkeit auszeichnen, fasse ich zu Distinktionsklassen zusammen. Die schwache Deklinationsklasse konstituiert also zugleich auch eine Distinktionsklasse. Für die beiden anderen Deklinationsklassen der ursprünglichen Einteilung in drei Klassen gilt dies nicht: Bei den starken Feminina vom Typ Hand unterscheidet sich der Genitiv Singular nicht formal von den übrigen Kasus, anders als beim Typ (der) Band. Interessanterweise stellt nun die Ausgliederung der femininen Deklinationsklasse, die primär aufgrund eines Form-Charakteristikums (fehlende Markierung des Genitiv Singular) erfolgt ist, zugleich eine eigene Distinktionsklasse dar. Und auch die Ausgliederung der Nicht-Feminina mit s-Plural ist nicht nur einfach die Ausgliederung von Substantiven mit einem bestimmten Suffix, sondern auch diese Deklinationsklasse ist zugleich eine Distinktionsklasse. Eine Distinktionsklasse kann wiederum Subklassen aufweisen, die ich (parallel zu den Deklinationstypen) als Distinktionstypen bezeichne. Für das Nhd. lassen sich insgesamt fünf Distinktionsklassen bestimmen, mit in der Regel je zwei Distinktionstypen.
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4.1 Distinktionsklasse I: Sg ≠ Pl Deklinationsklasse fem Typ Ia: Sg ≠ Pl Deklinationstyp 1 Sg Pl Nom Oma – Akk – Dat – Gen –
-s -s -s -s
Deklinationstyp 2 Sg Pl Frau – – – –
-en -en -en -en
Sg Pl
Fliege – – – –
-n -n -n -n
Typ Ib: Sg ≠ Pl & NAGPl ≠ DPl Deklinationstyp 3 Sg Pl Nom Hand – Akk –
-̈e -̈e
Dat
–
Gen
–
Deklinationstyp 4 Sg Pl Mutter
– –
–̈ –̈
-̈en
–
-̈n
-̈e
–
–̈
Die Distinktionsklasse I enthält alle Feminina, d.h. alle Substantive der Wortkategorie FEM und damit alle Substantive der Deklinationsklasse fem. Gemeinsames Kennzeichen der Distinktionsklasse I ist, dass alle Formen des Sg von allen Formen des Pl unterschieden sind. Außerdem kommen im Sg grundsätzlich keine Kasusmarker vor, d.h. es gibt keine verschiedenen Kasusformen. Distinktionstyp Ia umfasst die Deklinationstypen 1 und 2 aus Tab. 1, d.h. die Feminina mit den Pluralformen auf -(e)n und auf -s. Für beide Deklinationstypen gilt, dass das Paradigma genau zwei Wortformen enthält, eine für den Singular und eine für den Plural. Distinktionstyp Ib (enthaltend die Deklinationstypen 3 und 4) unterscheidet sich von Ia in genau einer Position: Der Dativ Plural ist verschieden von den anderen Kasus im Plural; d.h. auch, dass in Ib insgesamt eine Form mehr vorhanden ist als in Ia.
Deklinationsklassen und Distinktionsklassen | 11
4.2 Distinktionsklasse II: NADSg ≠ Pl + GenSg Deklinationsklasse s Deklinationstyp 5 Sg Pl Nom Auto Akk Dat
– – –
-s -s -s
Gen
-s
-s
Von der Distinktionsklasse I unterscheidet sich die Distinktionsklasse II dadurch, dass zusätzlich der Genitiv Singular markiert ist, und zwar durch denselben Marker wie der Plural; d. h. auch hier liegen nur zwei formal unterschiedene Formen vor. Die Distinktionsklasse II hat nur einen Distinktionstyp, und dieser ist zugleich die sDeklinationsklasse und der Deklinationstyp 5, hier fallen also alle vier Unterscheidungen zusammen.
4.3 Distinktionsklasse III: NADSg ≠ GenSg ≠ Pl Deklinationsklassen: gemischt, stark (teilweise) Typ IIIa: Sg ≠ Pl ≠ GenSg
Nom Akk Dat
Deklinationstyp 6 Sg Pl
Deklinationstyp 7 Sg Pl
Staat
Laden
Gen
– – –
-en -en -en
-es
-en
– – –
–̈ –̈ –̈
-s
–̈
Typ IIIb: Sg ≠ Pl ≠ GenSg & NAGPl ≠ DPl
Nom Akk
Deklinationstyp 7 Sg Pl
Deklinationstyp 8 Sg Pl
Deklinationstyp 9 Sg Pl
Deklinationstyp 10 Sg Pl
Kind
Bach
Berg
Vater
– –
-er -er
– –
-̈e -̈e
Dat
–
Gen
-es
– –
-e -e
-ern
–
-er
-es
– –
–̈ –̈
-̈en
–
-̈e
-es
-en
–
-̈n
-e
-s
–̈
Distinktionsklasse III unterscheidet sich von Distinktionsklasse II dadurch, dass der Genitiv Singular anders markiert ist als der Plural. Distinktionsklasse III enthält die meisten (aber nicht alle!) Deklinationstypen der starken Deklinationsklasse und die gemischte Deklinationsklasse. Gemeinsames Charakteristikum der Substantive der
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Distinktionsklasse III ist, dass Nominativ, Akkusativ und Dativ Singular a) dieselbe Form haben, b) diese Form vom Genitiv Singular unterschieden ist und c) alle Singularformen vom Plural verschieden sind. Distinktionstyp IIIa unterscheidet sich von Ia hinsichtlich genau eines Merkmals, nämlich dadurch, dass bei Typ IIIa zusätzlich zum Plural der Genitiv Singular markiert ist. Damit umfasst IIIa die gemischte Deklinationsklasse (die ihrerseits mit dem Deklinationstyp 6 identisch ist), aber auch den Deklinationstyp 11, d.h. diejenigen Substantive, die den Plural nur mit Umlaut, ohne Suffix markieren und auf -n enden (und somit im Dativ Plural keine von den anderen Kasus im Plural verschiedene Form haben). Distinktionstyp IIIb unterscheidet sich von IIIa durch dasselbe Merkmal, durch das Ib sich von Ia unterscheidet, nämlich dadurch, dass zusätzlich noch der Dativ Plural eine eigene Form hat. Dem Distinktionstyp IIIb gehören die Deklinationstypen 7, 8, 9 und 10 an.
4.4 Distinktionsklasse IV: NADSg = Pl Deklinationsklasse: stark Typ IVa: Sg = Pl ≠ GenSg Deklinationstyp 13 Sg Pl Nom Wagen – – Akk – – Dat – – Gen
-s
–
Typ IVb: Sg = Pl ≠ GenSg ≠ DatPl Deklinationstyp 12 Sg Pl Nom Eimer – – Akk
–
–
Dat
–
-n
Gen
-es
–
Distinktionsklasse IV unterscheidet sich von Distinktionsklasse III dadurch, dass der Plural nicht markiert ist, was zu einem Minimum an morphologisch unterschiedenen Formen (bzw. zu einem Maximum an Homonymien) führt. Bei Distinktionsklasse IV ist der Singular prinzipiell gleich dem Plural; lediglich der Genitiv Singular ist immer verschieden von den anderen Formen. Bei Typ IVa haben sieben der acht Einheiten dieselbe Form; nur der Genitiv Singular ist von diesen verschieden. Bei Typ IVb weist der Dativ Plural eine weitere, dritte Form auf.
Deklinationsklassen und Distinktionsklassen | 13
Zur Distinktionsklasse IV gehören die Substantive mit suffixlosem Plural ohne Umlaut (Deklinationstypen 12 und 13).
4.5 Distinktionsklasse V: ADGSg = Pl Deklinationsklasse: schwach Typ Va: Sg = Pl ≠ NomSg Deklinationstyp 14 Sg Pl Nom Affe
–
Akk Dat Gen
-n -n -n -n -n -n
-n
Sg Pl Mensch
–
-en
-en -en -en -en -en -en
Typ Vb: Sg = Pl ≠ NomSg ≠ GenSg Deklinationstyp 15 Sg Pl Nom
Name –
-n
Akk Dat
-n -n
-n -n
Gen
-ns
-n
Die Distinktionsklasse V schließlich umfasst die Deklinationsklasse der schwachen Maskulina einschließlich Deklinationstyp 15, der in den Grammatiken meist nicht als eigene Gruppe aufgeführt wird. Ein Charakteristikum auch dieser Distinktionsklasse ist, dass der Singular prinzipiell gleich dem Plural ist. Im Unterschied zu Distinktionsklasse IV werden die Homonymien aber nicht durch das Fehlen eines Suffix verursacht, sondern dadurch, dass in fast allen Positionen ein gleichlautender Marker suffigiert wird. Ähnlich wie bei Typ IVa haben bei Typ Va sieben der acht Positionen dieselbe Form, doch ist es hier der Nominativ Singular, der von diesen verschieden ist. Bei Typ Vb ist zusätzlich noch der Genitiv Singular verschieden, und zwar sowohl vom Nominativ Singular als auch von den anderen Formen. Die Distinktionstypen können ebenfalls auf das Schema in Tab. 1 bezogen werden, es ergibt sich Tab. 10.
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Tab. 10: Die Distinktionstypen NomPl –
–
–̈
–̈ -e
DatPl
-n
–̈
̈ -en -e ̈ n -e ̈ rn -(e)n -s -n
–
̈ -e
̈ r -e
-(e)n -s
GenSg – -(e)s
Ib IVa IVb IIIa
Ia IIIb
IIIa
-(e)n
Va
-(e)ns
Vb
II
Insgesamt haben wir damit die Entsprechungen von Deklinationsklassen und -typen sowie Distinktionsklassen und -typen entsprechend Tab. 11. Sie zeigt noch einmal, dass ein Teil der etablierten Deklinationsklassen zugleich auch eigene Distinktionsklassen sind, nämlich die feminine Klasse, die s-Klasse und die schwache. Es ist auffällig, dass die zwei neueren Deklinationsklassen (die feminine und die s-Klasse) zugleich Distinktionsklassen sind. Das ist sicher kein Zufall. Gäbe es nur die drei Deklinationsklassen schwach, feminin und s, dann wären die Distinktionsklassen überflüssig, die Deklinationsklassen wären Distinktionsklassen. Tab. 11: Übersicht über die Deklinations- und Distinktionsklassen Distinktionsklasse Distinktionstyp Deklinationsklasse Deklinationstyp Ia 1 I fem 2 Ib 3 4 II s 5 IIIa gem 6 11 7 III IIIb 8 st 9 10 IV IVa 13 IVb 12 V Va sw 14 Vb 15
Beispiel Oma Frau Hand Mutter Uhu Staat Garten Kind Bach Tag Apfel Wagen Segel Mensch Name
Aber es gibt eben auch Fälle, wo eine etablierte Deklinationsklasse, wie etwa die gemischte, keine anderen Positionen im Paradigma unterscheidet als die starke Deklinationsklasse, und es gibt den Fall, dass innerhalb der starken Deklinationsklasse teilweise unterschiedliche Positionen im Paradigma formal unterschieden werden, wie bei der Distinktionsklasse IV, die ebenso starke Substantive enthält wie
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die Distinktionsklasse III. Man sieht hier sehr deutlich, was sonst, wenn überhaupt, allenfalls implizit in den Darstellungen enthalten ist: Bei den Feminina und bei den starken Substantiven gibt es eine ganze Reihe von unterschiedlichen Markern, die dieselbe Distribution haben bzw. dieselben Distinktionen ermöglichen, wie beispielsweise -(e)n und -s bei den Feminina: Deklinationstyp 1 und 2 unterscheiden sich ausschließlich durch die materielle Form der Suffixe, nicht bezüglich der Positionen, in denen diese vorkommen. Ähnlich verhält es sich bei den starken Substantiven mit den Suffixen -e, -e + Umlaut und -er. Die Unterscheidung von Deklinationsklassen und -typen einerseits und Distinktionsklassen und -typen andererseits ermöglicht es also zunächst einmal, sich Klarheit darüber zu verschaffen, was der Status der einzelnen Plural- und Kasussuffixe bezüglich der Gesamtorganisation der verschiedenen substantivischen Paradigmen genau ist. So ist es z.B. nicht uninteressant zu sehen, dass durch den s-Plural nicht einfach nur eine neue Deklinationsklasse entstanden ist, sondern dass wir es hier aufgrund der Homonymie mit dem Genitiv Singular (und nur mit dem Genitiv Singular) sogar mit einem neuen Distinktionstyp zu tun haben.
5 Warum Distinktionsklassen? Es ist bekannt (und sehr schön dargelegt in Köpcke 1995), dass eine Reihe von schwachen Maskulina die Tendenz haben, in andere Deklinationsklassen, besonders in die gemischte, im Extremfall aber auch in die starke überzugehen. Der Weg dahin ist mühsam und steinig, und vollzieht sich, wenn er sich überhaupt ganz vollzieht, in mindestens drei Schritten: In einem ersten Schritt werden Akkusativund Dativ-Singular-Suffix abgebaut – statt den Menschen und dem Menschen hört man zunehmend den Mensch und dem Mensch. Erst danach kann es in einem zweiten Schritt dazu kommen, dass das Genitiv-en durch -s ersetzt wird – ein häufig zitiertes Beispiel ist des Bärs für des Bären. Und schließlich ist in einem dritten Schritt dann auch noch das Ersetzen des Plural-n durch -e möglich, wie bei die Greife, die Magnete, die Pfaue und einigen wenigen anderen. Doch dieser letzte Schritt wird sehr selten vollzogen, in der Regel endet die Entwicklung mit Erreichen der gemischten Deklinationsklasse, also der Bär, den Bär, dem Bär, des Bärs, die Bären (und vermutlich noch lange nicht *die Bäre). In der Übergangsphase kommen, zusätzlich zum ‚normalen‘ Paradigma des schwachen Substantivs, drei Paradigmen in Frage. Bei jedem der drei Paradigmen wird der Genitiv Singular von Akkusativ und Dativ Singular unterschieden. Dies erkläre ich damit, dass bei den Nicht-Feminina der Genitiv sonst immer eine andere Form hat als Akkusativ und Dativ, und es scheint eine sehr starke Tendenz zu geben, dieses allgemeine Strukturmerkmal auch auf die schwachen Maskulina zu übertragen (Thieroff 2003). Um nun den Genitiv von Akkusativ und Dativ formal zu
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unterscheiden, gibt es insgesamt drei Möglichkeiten bzw. kommen drei Möglichkeiten vor. Die erste Möglichkeit ist, an die Genitivform einfach noch ein Genitiv-s anzuhängen, es ergibt sich das Paradigma in (1). (1) Mögliches Paradigma von Mensch a. Sg
Pl
Nom Mensch –
-en
Akk Dat
-en -en
-en -en
Gen
-ens -en
Auch dieses Paradigma ist aber noch gewissermaßen strukturwidrig, nämlich insofern als Akkusativ und Dativ hier eine andere Form haben als der Nominativ, und auch das kommt sonst nicht vor, bei keiner der anderen Deklinations- und Distinktionsklassen. Noch ‚besser‘ im Sinne einer Angleichung an die Distinktionen in den anderen Klassen ist daher die Tilgung von Akkusativ und Dativ-en, wie sie aktuell zu beobachten ist. Ein mögliches Paradigma wäre dann das in (2). (2) Mögliches Paradigma von Mensch b. Sg Nom Mensch – Akk – Dat – Gen
Pl -en -en -en
-ens -en
Allerdings ist in (2) die doppelte Markierung des Genitivs (durch -en plus -s) nicht erforderlich, weshalb sie sich wahrscheinlich auch nicht durchsetzen wird. Das wahrscheinlich zukunftsträchtigste Paradigma dürfte vielmehr das in (3) sein. (3) Mögliches Paradigma von Mensch c. Sg Pl Nom Mensch – Akk – Dat – Gen
-en -en -en
-en -en
Was aber bedeutet das für die Deklinationsklassen und -typen? Wenn man das nhaltige Genitivsuffix als definierend für die schwache Deklinationsklasse beibehalten will, würde es wohl bedeuten, dass innerhalb der schwachen Deklinationsklasse drei neue Deklinationstypen entstanden wären – denn keines dieser Deklinationsmuster kommt bis jetzt so vor.
Deklinationsklassen und Distinktionsklassen | 17
Ganz anders ist es aber bei den Distinktionsklassen. Es zeigt sich nämlich, dass jedes der drei Muster einem bereits existierenden Distinktionstyp entspricht. Beim Paradigma in (1) werden dieselben Positionen formal unterschieden wie beim Typ Name, vgl. (4). In (1) haben wir also den Distinktionstyp Vb. (4) Distinktionstyp Vb – vgl. (1) Sg Pl Nom Name –
-n
Akk Dat
-n -n
-n -n
Gen
-ns -n
Beim Paradigma in (2) liegt das gleiche Muster vor wie beim Typ Staat, vgl. (5). In (2) haben wir also den Distinktionstyp IIIa vorliegen. (5) Distinktionstyp IIIa– vgl. (2) Sg Pl Nom Staat – Akk – Dat – Gen
-en -en -en
-es -en
Und schließlich haben wir es beim Paradigma in (3) mit denselben paradigmatischen Unterschieden wie beim Typ Auto zu tun, vgl. (6). In (3) liegt also der Distinktionstyp II vor. (6) Distinktionstyp II – vgl. (3) Sg Pl Nom Auto – Akk – Dat –
-s -s -s
Gen
-s
-s
Die Distinktionsklassen geben uns also Auskunft darüber, welche Positionen im Paradigma jeweils unterschieden werden, und zwar, anders als die Deklinationsklassen, unabhängig von der Formseite der unterschiedenen Positionen. Man kann darüber streiten, ob Paradigmen wie die in (1)–(3) noch zur schwachen Deklinationsklasse zu zählen sind oder nicht. Nicht streiten kann man aber darüber, welche Unterscheidungen im Paradigma sie jeweils machen. Dass alle drei Distinktionen nicht neu sind, sondern in anderen Deklinationsklassen oder -typen bereits vorkommen, kann mithilfe der Distinktionsklassen adäquat erfasst werden. Schließlich
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könnte die Tatsache, dass keines der Paradigmen in (1)–(3) zu neuen Distinktionen führt, mit ein Grund dafür sein, dass alle drei Paradigmen überhaupt möglich sind. Tab. 12 zeigt den Platz, an dem die jeweiligen Deklinationstypen einzuordnen wären. Tab. 12: Deklinations- und Distinktionsklassen einschließlich alternativer Flexionsmuster von Mensch Distinktions- Distinktions- Deklinations- Deklinationsklasse typ klasse typ 1 Ia 2 I fem 3 Ib 4 s 5 II II (c) sw (b) IIIa gem 6 11 III 7 8 IIIb 9 st 10 IVa 13 IV IVb 12 Va 14 V sw 15 Vb (a)
Beispiel Oma Frau Hand Mutter Uhu Mensch (3) Mensch (2) Staat Garten Kind Bach Tag Apfel Wagen Segel Mensch Name Mensch (1)
Abschließend will ich nur noch kurz erwähnen, dass alle Paradigmen, die wir gesehen haben, sehr viele homonyme Formen aufweisen. Bekanntlich geht der Trend deshalb heute zu so genannten unterspezifizierten Paradigmen. Vernünftig erstellen lassen sich diese aber wohl nur auf der Grundlage der Distinktionstypen. In (7)–(10) sind nur beispielhaft einige solcher Paradigmen aufgelistet (ausführlich dazu Thieroff 2004). (7) Paradigmen von Substantiven des Distinktionstyps Ia Sg Pl Frau – -en
Sg Pl Oma – -s
(8) Paradigmen von Substantiven des Distinktionstyps Ib Sg Pl Hand – -̈e usp -̈en Dat
Sg Pl Mutter – –̈ usp -̈n Dat
Deklinationsklassen und Distinktionsklassen | 19
(9) Paradigmen von Substantiven des Distinktionstyps IIIa Sg Pl usp Staat – -en Gen -es
Sg Pl Laden – –̈ -s
(10) Paradigmen von Substantiven des Distinktionstyps IIIb Sg Pl usp Hund – -e usp Gen -es -en Dat
Sg Pl usp Wolf – -̈e usp Gen -es -̈en Dat
Sg Pl usp Kind – -er usp Gen -es -ern Dat
Sg Pl usp Vater – –̈ usp Gen -s -̈n Dat
6 Fazit Es hat sich gezeigt, dass die Ausgrenzung der Feminina und der Nicht-Feminina mit s-Plural aus den drei traditionellen Deklinationsklassen stark, schwach und gemischt nicht nur durch die unterschiedliche Materialität der Suffixe dieser zusätzlichen Klassen begründet ist, sondern dass die Deklinationsklassen feminin und sKlasse zugleich auch, neben den schwachen Maskulina, Klassen mit je spezifischen Kasus-Numerus-Markierungs-Mustern etablieren, die als Distinktionsklassen bezeichnet wurden. Es wurden insgesamt fünf Distinktionsklassen vorgestellt, die in der Regel jeweils zwei Distinktionstypen aufweisen. Distinktionsklassen und Distinktionstypen wurden auf die zuvor besprochenen Deklinationsklassen und Deklinationstypen bezogen, doch ist die Einteilung in Distinktionsklassen und Distinktionstypen unabhängig von Deklinationsklassen und Deklinationstypen. Jede beliebige Klassifizierung von Substantivparadigmen kann auf die Distinktionsklassen und ihre Subtypen abgebildet werden. Für eine Analyse der flexionsmorphologischen Gegebenheiten des Substantivs im Neuhochdeutschen sind die Distinktionsklassen von größerem Interesse als die (immer letztendlich mehr oder minder arbiträr zugeschnittenen) Deklinationsklassen, da nur sie zeigen, welche Positionen im Paradigma jeweils flexivisch markiert sind. So konnte auch gezeigt werden, dass alle vorkommenden Veränderungen bei der Flexion der schwachen Maskulina immer im Rahmen der vorhandenen Distinktionsklassen bleiben – eine Einsicht, die anhand bestehender DeklinationsklassenSysteme nicht gewonnen werden kann.
20 | Rolf Thieroff
Literatur Duden (1973): Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. Bearbeitet von Paul Grebe. 3. Aufl. Mannheim: Dudenverlag. Duden (1998): Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. 6., neu bearb. Aufl. Hrsg. v. der Dudenredaktion. Mannheim et al.: Dudenverlag. Duden (2009): Die Grammatik. Unentbehrlich für richtiges Deutsch. Herausgegeben von der Dudenredaktion. 8., überarb. Aufl. Mannheim et al.: Dudenverlag. Duden (2011): Richtiges und gutes Deutsch. Das Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle. 7., vollst. überarb. Aufl. Hrsg. u. überarb. v. der Dudenredaktion unter Mitw. v. Eisenberg, Peter und Jan Georg Schneider. Mannheim et al.: Dudenverlag. Eisenberg, Peter (1986): Grundriß der deutschen Grammatik. Stuttgart: Metzler. Eisenberg, Peter (2013): Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 1. Das Wort. 4., aktualis. u. überarb. Aufl. Stuttgart/Weimar: Metzler. Engel, Ulrich (2004): Deutsche Grammatik. Neubearbeitung. München: Iudicium. Engel, Ulrich et al. (1999): Deutsch-polnische kontrastive Grammatik. 2 Bände. Warszawa: Wydawnictwo Energeia. Helbig, Gerhard und Joachim Buscha (2001): Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. Berlin et al.: Langenscheidt. Köpcke, Klaus-Michael (1995): Die Klassifikation der schwachen Maskulina in der deutschen Gegenwartssprache. Ein Beispiel für die Leistungsfähigkeit der Prototypentheorie. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 14, 159–330. Mugdan, Joachim (1977): Flexionsmorphologie und Psycholinguistik. Untersuchungen zu sprachlichen Regeln und ihrer Beherrschung durch Aphatiker, Kinder und Ausländer, am Beispiel der deutschen Substantivdeklination. Tübingen: Narr. Nübling, Damaris (2008): Was tun mit Flexionsklassen? Deklinationsklassen und ihr Wandel im Deutschen und seinen Dialekten. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik LXXV, 282– 330. Paul, Hermann (1917): Deutsche Grammatik. Bd. II. Flexionslehre. Tübingen: Niemeyer. Sütterlin, Ludwig (1918): Die Deutsche Sprache der Gegenwart (Ihre Laute, Wörter, Wortformen und Sätze) Ein Handbuch für Lehrer und Studierende. Auf sprachwissenschaftlicher Grundlage zusammengestellt. 4., verb. Aufl. Leipzig: R. Voigtländer. [Nachdruck: Hildesheim/New York (1972): Olms.] Thieroff, Rolf (2003): Die Bedienung des Automatens durch den Mensch. Deklination der schwachen Maskulina als Zweifelsfall. In: Klein, Wolf Peter (Hrsg.): Sprachliche Zweifelsfälle. Theorie und Empirie. Online: http://www.linguistik-online.de/16_03/ (27.07.2014). Thieroff, Rolf (2004): Feminine vs. Non-Feminine Noun Phrases in German. In: Müller, Gereon, Lutz Gunkel und Gisela Zifonun (Hrsg.): Explorations in Nominal Inflection. Berlin/New York: De Gruyter. 301–321. Thieroff, Rolf (2009): Zur Flexionsmorphologie nominaler Einheiten und ihrer Darstellung in der DPG. In: Cirko, Lesław, Martin Grimberg und Artur Tworek (Hrsg.): DPG im Kreuzfeuer. Akten der internationalen Linguistenkonferenz Karpacz 10.–12.09.2007. Dresden: Neisse Verlag/Wrocław: Oficyna Wydawnicza ATUT, 167–186. Wegener, Heide (2007): Entwicklungen im heutigen Deutsch – wird Deutsch einfacher? In: Deutsche Sprache 35. 35–62. Zifonun, Gisela et al. (1997): Grammatik der deutschen Sprache. Berlin/New York: De Gruyter.
Elke Ronneberger-Sibold
Die Entwicklung der gemischten Maskulina im Frühneuhochdeutschen Aufstieg und Fall eines Flexionstyps
1 Gegenstand und Ziele Gegenstand des vorliegenden Aufsatzes ist die Geschichte der so genannten gemischten Maskulina wie z.B. nhd. Schmerz und Vetter. Tab. 1: Flexion der nhd. gemischten Maskulina Singular
Plural
Nominativ
Schmerz/Vetter
Schmerz-en/Vetter-n
Genitiv
Schmerz-es/Vetter-s
Schmerz-en/Vetter-n
Dativ
Schmerz-(e)/Vetter-0
Schmerz-en/Vetter-n
Akkusativ
Schmerz-0/Vetter-0
Schmerz-en/Vetter-n
Wie aus Tabelle 1 hervorgeht, ist dieser Flexionstyp gekennzeichnet durch einen vollständig stark flektierten Singular (Genitiv auf -(e)s und folglich Dativ auf -0 oder archaisierend -e und Akkusativ auf -0) und einen vollständig schwach flektierten Plural mit der Endung -(e)n in allen Kasus. Diese Definition schließt den in der Gegenwartssprache stark bedrohten, kleinen Typ Name, Friede, Funke usw. in Tabelle 2 aus, bei dem starke und schwache Formen innerhalb des Singulars gemischt sind. Tab. 2: Flexion des nhd. Typs Name Singular
Plural
Nominativ
Name
Name-n
Genitiv
Name-ns
Name-n
Dativ
Name-n
Name-n
Akkusativ
Name-n
Name-n
Dieser Typ ergab sich häufig beim Übertritt eines Substantivs von der schwachen in die starke Flexion vom Typ Wagen: Der Genitiv Singular ist ‚schon‘ stark wie des Wagens, der Nominativ Singular ‚noch‘ schwach wie der Bote. Der Dativ und Akku-
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sativ Singular lassen sich auf beide Klassen beziehen. Dass dieser Übergang sich auch in der Gegenwartssprache noch vollzieht, zeigen die zahlreichen Nebenformen der Namen, Frieden, Funken usw. nach dem Muster von der Wagen mit -n auch im Nominativ Singular (Duden 2009: 216‒219). Bei diesem Typ ist also nicht wirklich eine Kombination von starkem Singular mit schwachem Plural intendiert, sondern eigentlich ein insgesamt starkes Paradigma. In unserem historischen Material haben wir daher solche Wörter nur berücksichtigt, wenn sie zumindest in Nebenformen wie z.B. den galg (statt den galgen), eindeutig auf einen insgesamt stark flektierten Singular weisen. Die gemischte Flexionsklasse entstand im Frühneuhochdeutschen im Zuge der Numerusprofilierung und entwickelte zunächst für alle drei Genera eine beträchtliche Produktivität. Bei den Feminina führte dies bekanntlich dazu, dass der Typ Uhr/Rose mit endungslosem Singular und durchgehendem Plural auf -(e)n heute der einzig produktive und quantitativ bei weitem dominierende ist (Duden 2009: 221). Bei den Maskulina und Neutra des nativen Wortschatzes riss diese Entwicklung dagegen in nachklassischer Zeit zugunsten der starken Typen mit dem Genitiv auf -(e)s und dem Plural auf -e/-0 (Tag-e/Lehrer-0) sowie Umlaut + -(e)/0 (Gäst-e/ Väter-0) ab. In diesem Aufsatz werde ich sowohl die Zu- als auch die anschließende Abnahme dieses Flexionstyps in einen funktionellen Zusammenhang mit dem Gesamtsystem stellen. Außerdem werde ich am Beispiel der Maskulina zeigen, dass die Zunahme sehr strukturiert im Sinne einer fortschreitenden Generalisierung von einem bestimmten Prototyp aus verlief.
2 Zum funktionellen Zusammenhang zwischen Aufund Abbau der gemischten Flexion bei den Maskulina. Beziehung zur schwachen Flexion und zu den Fremdwörtern Der weitgehende Abbau der gemischten Flexion bei den Maskulina und Neutra führte zusammen mit der bekannten Reduktion der schwachen Flexion auf einen Restbestand von belebten Maskulina (Mensch/Bote) (und auf den verschwindenden Übergangstyp Name) zu einer nahezu komplementären Verteilung zwischen den Pluralsuffixen -e/-0 bei den Maskulina und Neutra und -(e)n bei den Feminina im produktiven Kernsystem der nhd. nativen Substantivflexion. Die Sprachbenutzer können also aus dem Pluralsuffix auf das feminine oder nicht feminine Genus eines Substantivs schließen und umgekehrt aus dem Genus auf das Pluralsuffix. In der diachronen Entwicklung auf diesen Zustand hin erscheint die vorherige Zunahme des Pluralsuffixes -(e)n bei den gemischten Maskulina und Neutra als ein merkwürdiger Umweg. Dies ist vermutlich der Grund, warum dieses Phänomen in
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der Forschung zur historischen Flexionsmorphologie der Substantive eher am Rande steht. In traditionellen Darstellungen wie Molz (1902), Paul (1956) und Wegera (1987) ist zwar das Material zusammengetragen und die gegenläufigen Entwicklungen sind erwähnt (z.B. Wegera 1987: 263‒264), bei der Darstellung der großen Linien werden sie jedoch nicht substantiell berücksichtigt. Die frühneuhochdeutschen gemischten Paradigmen werden eher als Teil einer allgemeinen, ungerichteten Variation betrachtet, aus der das nhd. System nach und nach herausgefiltert wurde. (So auch Hotzenköcherle 1962 in seinen grundlegenden Gedanken zur Numerusprofilierung.) Unter den neueren, eher theoretisch orientierten Arbeiten konzentriert sich Köpcke (1993) in seinem schemabasierten Ansatz auf das Erstarken des Pluralsuffixes -en bei (teilweise sogar unbelebten) maskulinen Fremdwörtern. Diese flektieren entweder schwach (der Praktikant – des Praktikanten – die Praktikanten; der Sextant – des Sextanten – die Sextanten) oder gemischt (der Professor – des Professors – die Professoren). Dadurch nimmt die Verwendung von -(e)n als Pluralsuffix stark zu. Kürschner/Nübling (2011) betrachten in einer vergleichenden Untersuchung verschiedener germanischer Sprachen und Dialekte die gegenseitige Stütze von Genus und Flexionsklasse als eine Vorausbedingung für den Erhalt von beiden Kategorien gegen eine allgemeine Tendenz zu ihrem Abbau in den germanischen Sprachen. Köpcke (1993) deutet (mit aller gebotenen Vorsicht) für das Standarddeutsche eine typologische Entwicklung in Richtung auf einen analytischeren Sprachbau mit -(e)n als einzigem Pluralsuffix wie im Englischen an. Die angenommene Tendenz zur Verallgemeinerung von -(e)n als einzigem Pluralsuffix und zum Genusverlust ist schwer mit dem Abbau der gemischten Flexion bei den Maskulina und Neutra seit dem späten 18. Jahrhundert vereinbar, denn dieser Abbau war ja gerade Teil der Entwicklung zu der geschilderten Stützung des Genus durch die komplementäre Verteilung von zwei genussensitiven Suffixen. Meines Erachtens hat die Aufrechterhaltung des Genus auch gegen die zweifellos vorhandene Tendenz zu einem stärker analytischen Sprachbau jedoch gute funktionelle Gründe und daher eine lange Tradition innerhalb des deutschen Sprachsystems. Tatsächlich ist die geschilderte Verteilung der Pluralsuffixe nach Genus nur ein Glied in einer langen Kette von Veränderungen zur Stabilisierung des Genus in der Geschichte der deutschen Sprache in Fällen, in denen dieses durch andere Veränderungen bedroht war (Ronneberger-Sibold 2010). Im vorliegenden Fall bestand die ‚Bedrohung‘ in der Neutralisierung der Genera im Plural aller Begleiter und Vertreter des Substantivs im Frühneuhochdeutschen, denn seither kann ein Kind aus Formen wie nhd. die, sie usw. im Plural das Genus eines Substantivs nicht mehr lernen – ein typisches ‚Einfallstor‘ für Genusunsicherheit (Paul 1956: 4). Durch die genussensitiven Pluralallomorphe wurde es zumindest für die Unterscheidung zwischen Feminina und Nicht-Feminina geschlossen. Das Genus ist für die deutsche Grammatik von so großer Bedeutung, weil es im Zusammenwirken mit Numerus und Kasus des Kernsubstantivs einer komplexen
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Nominalphrase den rechten Rand der Nominalklammer bildet. Diese Klammer wird an ihrem linken Rand eröffnet durch die mit dem Kernsubstantiv kongruierende starke Flexion eines Determinans oder (falls keines vorhanden ist) eines attributiven Adjektivs. Im Neuhochdeutschen müssen alle kongruenzfähigen Attribute samt ihren Erweiterungen in diese Klammer eingeschlossen werden. Dadurch kann sie bekanntlich (zumindest in der geschriebenen Sprache) relativ lang und unübersichtlich werden. (Beispiele und Details s. in Ronneberger-Sibold 2010.) Unter den kongruierenden nominalen Kategorien, auf denen die Klammer beruht, ist das Genus des Kernsubstantivs die zuverlässigste, weil es als inhärentes Merkmal des Kernsubstantivs nicht von phonetischer Erosion bedroht ist. Bedingung ist allerdings, dass jedes Substantiv eben genau ein Genus besitzt und dass dieses Genus von jeder neuen Generation von Sprachbenutzern zuverlässig erworben wird. Genau dazu dient die genussensitive Distribution von -(e)n und -e/0 im Plural. Die Nominalklammer ist ihrerseits Teil des klammernden Verfahrens, das als Merkmal der inneren Typologie den ganzen Sprachbau des Deutschen durchzieht. Bekannt sind vor allem die Verbklammern, aber in diesen Bereich gehören auch z.B. Erscheinungen wie die Trennung der Pronominaladverbien (da kann ich nichts für) (Fleischer 2002), die doppelte Markierung des Partizips Perfekt (ge-lieb-t), die phonetischen Grenzsignale des Wortes und Anderes (Ronneberger-Sibold 1997). Spätestens seit dem Althochdeutschen konkurriert die Tendenz zum klammernden Verfahren in der Geschichte des Deutschen mit derjenigen zum analytischen Sprachbau. Im Konfliktfall hat sich bisher normalerweise das klammernde Verfahren durchgesetzt, aber nur so weit wie es für sein Funktionieren unbedingt nötig war. Die daraus resultierende Gesamtentwicklung des Systems erscheint durchaus folgerichtig, sofern man beide Tendenzen zusammen betrachtet. Nimmt man jedoch nur eine von den beiden in den Blick, entsteht der Eindruck eines merkwürdig unmotivierten „Zickzackkurses“ (Ronneberger-Sibold 1997). Ein solcher Fall liegt bei der Entwicklung der gemischten Flexion bei den Maskulina und Neutra vor. Der Aufbau dieses Flexionstyps trug zur Verallgemeinerung von -(e)n als Pluralsuffix und damit zu einem stärker analytischen System bei. Dass diese Entwicklung keine zufällige Fluktuation darstellte, zeigt sich an ihrer klaren inneren Struktur im Sinne einer schrittweisen Generalisierung (s.u. Abschnitt 3). Hätte diese Entwicklung sich fortgesetzt, so wäre heute der Plural auf -(e)n kein Merkmal der Feminina mehr – mit der angedeuteten Gefahr für das klammernde Verfahren. Um dieser Gefahr zu begegnen, wurde -(e)n jedoch nicht völlig aus der Pluralflexion der Maskulina verbannt, sondern nur gewissermaßen in solche lexikalische Domänen „umgeleitet“, in denen es für das klammernde Verfahren unschädlich ist, weil in ihnen das Genus leicht auf anderem Wege als aus der Pluralflexion gelernt werden kann. Solche Bereiche sind die so genannten belebten Substantive, d.h. Bezeichnungen für Personen und (vor allem größere) Tiere und Substantive mit
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Derivationssuffixen oder Wortausgängen, die fest an maskulines Genus geknüpft sind. Bezeichnungen für Personen und größere Tiere sind semantisch stark agentiv und haben infolgedessen die größte Chance, häufig individuell als singularisches Subjekt eines Satzes genannt zu werden. Aus dessen Begleitern und Vertretern können Kinder das maskuline Genus erlernen. Dieser Umstand wurde schon seit dem Ende des Mittelhochdeutschen beim Abbau der schwachen Flexion bei den Maskulina ausgenutzt: Es ist sicherlich kein Zufall, dass dieser Flexionstyp sich ausgerechnet bei den belebten halten und sogar einige neue Mitglieder wie Held, Hirte, Heide, Christ, Rabe gewinnen konnte (Paul 1956: 42–49). Maskuline Derivationssuffixe oder Wortausgänge sind besonders verbreitet unter fremdsprachlichen Personenbezeichnungen auf -and (der Doktorand), -ant (der Demonstrant), -ent (der Student), -or (der Professor), -at (der Kandidat) usw. (Duden 2009: 213). Das maskuline Genus ist bei diesen Substantiven also doppelt abgesichert: durch die Derivative bzw. Wortausgänge und durch die Tatsache, dass es sich um Personenbezeichnungen handelt. Daher konnte -(e)n sich hier als produktives Pluralsuffix durchsetzen (Bittner 1991: 120–135, Köpcke 1993: 134–136), ohne dadurch eine Unsicherheit in Bezug auf das Genus zu riskieren. Der Singular flektiert entweder ebenfalls schwach (der Doktorand – des Doktoranden) oder stark (der Professor – des Professors). Die wenigen Sachbezeichnungen schließen sich entweder den Personenbezeichnungen an (der Quotient – die Quotienten, der Sextant – die Sextanten, der Automat – die Automaten) oder flektieren als starke Maskulina oder (manchmal) Neutra (der Apparat – die Apparate, das Diktat – die Diktate); in diesem Fall schließt das Pluralsuffix feminines Genus aus. Wie schon mehrmals in der deutschen Sprachgeschichte ist auf diese Weise ein tragfähiger Kompromiss zwischen den Tendenzen zum analytischen Sprachbau und zum klammernden Verfahren geschlossen: Die Pluralendung -(e)n wird zwar über die Feminina hinaus verallgemeinert, aber nur in einem Bereich, in dem dies nicht zu einer Interpretation des betreffenden Substantivs als Femininum führen kann. Im Folgenden wird nun die innere Systematik der frühneuhochdeutschen Entwicklung der gemischten Flexion bei den Nicht-Feminina am Beispiel der Maskulina dargestellt.
3 Material und Methode Der Grundstock des Untersuchungskorpus besteht aus allen nativen oder weitgehend assimilierten einschlägigen Einträgen in Molz (1902), einer sehr ausführlichen Studie auf der Basis der frühneuhochdeutschen Wörterbücher sowie Molz‘ eigener Auswertungen historischer Texte und der damals vorhandenen Sekundärliteratur. Sofern im Folgenden nichts anderes angegeben ist, sind alle Beispiele und die An-
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gaben zu ihrer Verwendung diesem Werk entnommen. Die Sammlung von Molz wurde für diesen Aufsatz ergänzt durch einige Einträge von Paul (1956) und Wegera (1987), soweit diese nicht selbst auf Molz beruhen. Einen Eintrag (der Quell – die Quellen) habe ich nach Grimm (1984) selbst hinzugefügt. Insgesamt ergibt sich so ein Korpus von zufällig genau 100 gemischten Maskulina. Von diesen 100 Wörtern sind nur zehn heute noch standardsprachlich regulär gemischt: Dorn, Muskel, Pantoffel, Psalm, Schmerz, See, Spatz, Stachel, Strahl, Vetter. Fünfzehn weitere enthalten formale und/oder semantische Unregelmäßigkeiten oder haben standardsprachliche Doppelformen. Beispiele für formale Unregelmäßigkeiten sind etwa Bau – Bauten, Masern (Pluraletantum), für semantische etwa solche Dissoziationen zwischen Singular und Plural wie in Zins – Zinsen, Lorbeer – Lorbeeren, für formale und semantische Unregelmäßigkeit Sporn – Sporen, für Doppelformen die Plurale Maste neben Masten zum Singular Mast, für Doppelformen mit semantischer Differenzierung die Singulare Fels ‚Gestein‘ neben Felsen ‚Felsblock‘ zum Plural Felsen. 75 der 100 Wörter sind standardsprachlich gar nicht erhalten (was keineswegs in allen Fällen bedeutet, dass sie nie in die Standardsprache aufgenommen wurden, dazu s.u.). Allein schon dieses Zahlenverhältnis legt nahe, dass der heutige Bestand an gemischten Maskulina nur noch der Restbestand eines Trends zur gemischten Flexion ist, der offenbar ursprünglich keineswegs auf die Feminina beschränkt war, sondern auch die Maskulina erfasste. Dieser Eindruck wird bestätigt durch die Beobachtung, dass bei weitem die meisten im Frühneuhochdeutschen neu entstandenen Maskulina im Mittelhochdeutschen noch stark flektierten, z.B. mhd. dorn – dornes – dorne. Eine unmittelbare Notwendigkeit zur Numerusprofilierung bestand also nicht. Und selbst in Mundarten mit Schwa-Apokope wie dem Bairischen, wo viele der gemischten Neubildungen ihren Ursprung hatten, wäre ein größerer Numerusprofilierungseffekt durch die (existierenden) Varianten mit Umlaut, z.B. dörn(e) und dörner, zu erreichen gewesen. Es muss also ein starkes Motiv zur Ausbildung und späteren standardsprachlichen Bevorzugung der Form dorn-en gegeben haben. Unserer oben dargelegten Hypothese nach war dieses Motiv die Tendenz zur Verallgemeinerung von -(e)n als Pluralsuffix und damit zur Verringerung der Allomorphik, d.h. zu einem analytischeren Sprachbau. Diese Tendenz erklärt jedoch nicht, warum gerade diese 100 Substantive von ihr erfasst wurden und keine anderen. War dies reiner Zufall, oder haben die 100 Wörter ein gemeinsames Merkmal, das womöglich zudem eine innere Ordnung des ganzen Prozesses im Sinne einer fortschreitenden Generalisierung erlaubt, wie etwa Köpcke (1993: 133‒139) sie im Rahmen der Prototypentheorie am Beispiel der schwachen Maskulina darstellt? Ohne dieses ziemlich komplizierte Beispiel im Detail zu diskutieren, sei hier nur die grundsätzliche Idee erklärt: Von einem relativ eng umrissenen prototypischen Kern aus werden durch fortschreitende Lockerung der Ähnlichkeitsbedingungen mit diesem Kern immer mehr Einheiten erfasst, die immer weniger prototypisch sind. Zum Schluss sind in derselben Kategorie Einheiten ent-
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halten, die zwar auf den ersten Blick sehr unähnlich wirken, in unserem Korpus etwa Stachel und Pfau, bei näherer Betrachtung jedoch ein relativ abstraktes Merkmal gemeinsam haben und durch die erwähnte Generalisierungskette in nachvollziehbarer Weise miteinander verbunden sind.
4 Die Generalisierungskette der gemischten Maskulina im Frühneuhochdeutschen 4.1 Der Ausgangstyp: Trochäus auf [-ə] (balke, brunne) Das gesuchte abstrakte gemeinsame Merkmal in unserem Korpus ist eine Affinität der Grundform (also des Nominativs Singular) zum trochäischen Rhythmus Υ- -. Dieses Merkmal war aus dem Mittelhochdeutschen ererbt, wo -n als Pluralsuffix nur bei schwachen Substantiven möglich war, welche alle auf Schwa endeten, z.B. bote ‚Bote‘, garte ‚Garten‘, hane ‚Hahn‘, smerze ‚Schmerz‘ usw.1 Köpcke (2000) hat experimentell gezeigt, dass sogar in der neuhochdeutschen Standardsprache auslautendes Schwa der Singularform immer noch die wichtigste Bedingung für die Pluralbildung auf -n ist. Die gemischten Maskulina wie Schmerz, Dorn, Vetter gehen im Nominativ Singular jedoch nicht auf Schwa aus. Das war bei der Mehrzahl auch im Frühneuhochdeutschen schon so. Wie oben erwähnt, liegt das daran, dass einerseits die meisten nie ein Schwa im Auslaut besessen hatten, weil sie auf starke aund i-Stämme zurückgingen, andererseits eine Minderheit zwar auf Schwa ausgelautet hatte, dieses Schwa jedoch auf verschiedenen Wegen nach und nach einbüßte. Dieser Prozess, bei dem die Apokope von Schwa in den oberdeutschen Mundarten eine große Rolle spielte, ist in unserem Untersuchungszeitraum in vollem Gange, so dass Molz (1902) nur relativ wenige (nämlich 10) gemischte Maskulina auf Schwa wie balke, brunne, galge mit eindeutig starkem Singularparadigma zumindest als Nebenformen verzeichnet (z.B. Genitiv brunnes, Dativ, Akkusativ brunn, Molz 1902: 294).2
|| 1 In der klassischen höfischen Literatur wurde dieses Schwa nach synchroner Lautregel unmittelbar nach kurzem Tonvokal + l oder r getilgt, z.B. in ber ‚Bär‘ statt *bere. Man kann wohl davon ausgehen, dass dieses Schwa für die Sprachbenutzer zugrunde liegend noch vorhanden war, zumal unsere normalisierten Textausgaben eine Einheitlichkeit in der Befolgung dieser Regel suggerieren, die in Wirklichkeit nicht gegeben war, vgl. Paul (2007: 110). 2 In der neuhochdeutschen Standardsprache haben alle diese Wörter das auslautende -n des Dativs und Akkusativs Singular auch im Nominativ Singular angenommen. Dadurch flektieren sie zweisilbig stark mit 0-Plural: der Balken – des Balken-s – die Balken-0. Die ehemaligen einsilbigen Nebenformen existieren nur noch bei Felsen/Fels und Flecken/Fleck.
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4.2 Der frühnhd. Prototyp: Trochäus auf silbischen Liquid (Muskel, Stachel, Vetter) In dieser Lage hatten vor allem die Sprachbenutzer der oberdeutschen Mundarten mit lautgesetzlicher Apokope von Schwa zwei Möglichkeiten: Sie konnten entweder auf -(e)n als Pluralsuffix zugunsten anderer, vorzugsweise umlauthaltiger Allomorphe verzichten (Umlaut + er wäre am günstigsten, weil auch ohne Umlaut distinktiv gewesen), oder sie konnten die Bindung der Pluralendung -(e)n an ein auslautendes Schwa im Nominativ Singular aufgeben. Letzteres geschah. Dies bedeutet jedoch nicht, dass -(e)n nun völlig wahllos an irgendwelche maskulinen Substantive antreten konnte. Bevorzugt waren diejenigen, die den alten schwachen Formen auf Schwa am meisten ähnelten, insofern als sie ebenfalls trochäisch ausgesprochen wurden. Dies waren zweisilbige Formen auf silbischen oder ganz vokalisierten Liquid, geschrieben -el, -er, z.B. Muskel, Stachel, Pantoffel, Engel, Himmel, Stiefel; Vetter, Flitter, Teller, Splitter und andere mehr. Dies wurde der neue Prototyp für die gemischte Flexion der Maskulina.3 Mit 32 Substantiven war er auch quantitativ am stärksten von allen.
4.3 Ergänzung zum frühneuhochdeutschen Prototyp: Trochäus mit Vollvokal in der 2. Silbe (Nachbar, Herold, Monat) Dem Typ Muskel schlossen sich auch neun zweisilbige Formen mit Vollvokal in der zweiten Silbe wie Nachbar – Nachbar-n, Herold – Herold-en an. Zusammen mit den 10 Wörtern auf Schwa des ersten Typs (Balke usw.) sind also 51 von unseren 100 gemischten Maskulina zweisilbig.
4.4 Einsilbler mit Liquid(verbindung) im Abglitt (Dorn, Forst, Schmerz) Die Zahl 100 wäre nie erreicht worden, hätten die Sprachbenutzer es bei den zweisilbigen gemischten Maskulina bewenden lassen. Stattdessen übertrugen sie die gemischte Flexion in einem weiteren Schritt der Verallgemeinerung auch auf Einsilbler, allerdings wiederum nicht auf irgendwelche, sondern auf solche, die den trochäischen Zweisilblern möglichst ähnlich waren. Das waren in erster Linie Substantive, die einen Liquid zwar nicht in einer zweiten Silbe, dafür aber im Abglitt der
|| 3 Noch heute sind Plurale wie Stummel-n, Stiefel-n, Ziegel-n, Mädel-n usw. typisch für die oberdeutschen Dialekte (Duden 1984: 242).
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Stammsilbe hatten, z.B. Dorn, Forst, Psalm, Schmerz, Spalt, Sporn, Strahl, Arm, Darm, Halm usw. Dieser Typ hat zwar mit 15 Substantiven keine so hohe Type-Frequenz wie die zweisilbigen vom Typ Muskel, dafür ist er jedoch der stabilste in der Entwicklung zur neuhochdeutschen Standardsprache: Von den 15 Substantiven sind 10 noch neuhochdeutsch als gemischte Maskulina erhalten.
4.5 Einsilbler mit einfachem Nasal im Abglitt (Sinn, Mann) Wie die Beispiele zeigen, enthielten viele dieser Substantive wie Dorn, Halm usw. nach dem Liquid noch einen Nasal im Silbenabglitt, was dessen Sonorität erhöhte. In einem nächsten Schritt der Verallgemeinerung wurde -en auch nach einem einfachen Nasal möglich, z.B. in Sinn – Sinnen und entsprechend Kamm, Schwamm, Strom, Reim u.a. Insgesamt gibt es 13 Beispiele; erhalten ist außer Sinn – Sinnen nur Mann – Mannen (beides archaisierend).
4.6 Einsilbler mit Diphthong im Kern ohne sonantischen Abglitt (Bau, Pfau) Die letzte Erinnerung an den zweisilbigen Prototyp liegt vor, wenn das sonore Element des Einsilblers nicht mehr in seinem Silbenabglitt realisiert ist, sondern in seinem Kern, d.h. in einem Diphthong entweder im Auslaut (Pfau) oder vor einem Obstruenten (Dieb, Schuoch mit oberdeutschen Diphthongen). Dieser Typ ist mit 6 Beispielen der kleinste. Mit standardsprachlichen Diphthongen erhalten sind Bau und Pfau.
4.7 Neuer semantisch determinierter Typ: Einfacher Einsilbler ohne resonantische Elemente (Dachs, Lachs, Luchs) Das letzte Glied der Kette bilden schließlich Einsilbler ganz ohne resonantische Elemente, die sich auf den ehemaligen trochäischen Prototyp beziehen ließen. Beispiele sind etwa Spatz, Lachs, Luchs u.a. In diesen Wörtern ist das Pluralsuffix -en nicht mehr in erster Linie lautlich, sondern vor allem semantisch motiviert: Von den 15 Beispielen Lachs, Dachs, Hecht, Specht, Luchs, Fuchs, Krebs, Frosch, Spatz, Topf, Napf, Schacht, Mast, Ritz, See sind neun Tierbezeichnungen; eine weitere, kleinere Gruppe bilden die beiden Gefäßbezeichnungen Topf und Napf. Erst in zweiter Linie sind sehr viel kleinteiligere lautliche Bevorzugungen wirksam: eine Präferenz für [x/ç t] im Wortausgang und Reimpaare.
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4.8 Zusammenfassung der Generalisierungskette In Abbildung 1 ist die Generalisierungskette zusammengefasst. Unter jedem Typ stehen einige nach Möglichkeit in der Gegenwartssprache erhaltene Beispiele und die Zahl der einschlägigen Substantive. Mhd. Ausgangstyp Trochäus auf [-ə]
Fnhd. Prototyp Trochäus auf silbischen Liquid
Ergänzung zum fnhd. Prototyp Trochäus mit Vollvokal in 2. Silbe
Einsilbler mit Liquid(verbindung) im Abglitt
Einsilbler mit einfachem Nasal im Abglitt
Einsilbler mit Diphthong im Kern ohne sonantischen Abglitt
Neuer morphol.semantisch determ. Typ Einfacher Einsilbler ohne resonantische Elemente
balke, brunne 10
Muskel, Stachel, Vetter 32
Nachbar, Herold, Monat 9
Dorn, Forst, Schmerz 15
Sinn, Mann 13
Bau, Pfau, (oberdt.) Dieb 6
Dachs, Lachs, Luchs 15
Abb. 1: Generalisierungskette der frühneuhochdeutschen gemischten Maskulina
Es muss hervorgehoben werden, dass diese Kette vorläufig abstrakt zu verstehen ist: Die Anordnung der Glieder folgt ihrer Entfernung vom Prototyp. Die Antwort auf die Frage, ob dieser Anordnung auch eine chronologisch-räumlich Entwicklung entspricht, verlangt weitere Forschung.
5 Die Rolle der Standardsprache im 18. Jahrhundert Angesichts der wichtigen Rolle der oberdeutschen Mundarten bei der Tendenz zur Verallgemeinerung von -(e)n als Pluralsuffix durch die Ausbreitung der gemischten Flexion bei den Maskulina könnte man vermuten, dass das Ende dieser Tendenz mit der Fixierung der Standardsprache im 18. Jahrhundert kam. Das war aber nicht der Fall, im Gegenteil: Gerade die vorklassischen und klassischen Autoren wie Klopstock, Lessing, Goethe, Schiller, Herder und Lexikographen wie Steinbach schätzten diesen Typ, weil er für sie (vielleicht gerade wegen seines oberdeutschen Anklangs) besonders altertümlich im positiven Sinne und ursprünglich wirkte. Daher belebten sie sogar alte, eigentlich schon nicht mehr gebräuchliche schwache Plurale zu starken Singularen oder umgekehrt starke, einsilbige Singulare zu schwachen Pluralen neu, z.B. die Mannen zu der Mann – des Mannes oder der Fels zu die Felsen. Ein archaisierender Genuswechsel zum Maskulinum scheint vorzulie-
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gen in das Quell > der Quell4. (Etymologisch ist das Wort ein Femininum.) Der stilistische Wert dieser Neuerungen ist kommentiert im Grimm’schen Wörterbuch etwa zu Mannen: „hier hat sich der plur. mannen festgesetzt, der dem 18. jahrh. von alterthümlichem klange war“ (Grimm 1984, Bd. 12, Sp. 1566) oder zu Fels: „Manche schriftsteller bleiben auch der edleren [meine Hervorhebung, E.R.-S.] starken flexion im gen. und dat. sg. treu.“ (Grimm 1984, Bd. Bd. 3, Sp. 1501) Es scheint also, dass der Abbruch der Tendenz zur Verallgemeinerung von -(e)n als einzigem Pluralsuffix zugunsten der genussensitiven Verteilung der beiden Suffixe -e/-0 und -(e)n und damit zugunsten des klammernden Verfahrens erst im späten 18. Jahrhundert stattfand (so auch Wegera 1987: 264). Was der Auslöser dafür war, müsste erst erforscht werden.
6 Ausblick: Der ‚Restbestand‘ der gemischten Maskulina Im Gegensatz zum in sich geregelten Aufbau des Typs der gemischten Maskulina gibt es für seine Reste keinen gemeinsamen Nenner. Wie es für solche Restbestände früherer regelmäßiger Klassen typisch ist (z.B. bei den starken und auch den rückumlautenden schwachen Verben), zerfallen sie in kleine Gruppen, die sich semantisch oder lautlich gegenseitig stützen, untereinander aber kein System mehr bilden. Ein solches Paar sind sicherlich die berühmten Reimwörter Herz und Schmerz (Herz gehört als einziges Neutrum zum ‚Übergangstyp‘ Name). Molz (1902: 324) nimmt einen semantischen Zusammenhang zwischen Stachel, Dorn und Sporn an, wobei Dorn und Sporn zusätzlich reimen. Die Seen als Plural zu der See könnte durch das parallele Femininum die See gestützt sein (Molz 1902: 318), für das der schwache Plural regulär (wenn auch ungebräuchlich!) ist. Auch Strahl hatte eine feminine Nebenform. Der Psalm – des Psalms – die Psalmen ist ein typisches Kirchenwort. Nach Molz (1902: 313) wurde der für dieses ursprünglich schwache Substantiv eigentlich nahe liegende Übertritt zum zweisilbigen starken Typ *der Psalmen – die Psalmen (wie Balken) durch den Gebrauch mit Zahlwörtern (z.B. Psalm 23 oder der 23. Psalm) verhindert, für den gleich lautende Formen im Singular und Plural ungünstig wären. Zur Flexion von Spatz und Schmerz sind mir keine Erklärungen bekannt. Allerdings möchte ich abschließend auf eine mögliche Entwicklung hinweisen, die (auch wenn ich sie vorerst nicht quantitativ belegen kann) auf eine „Verwertung“ der Restbestände im Sinne des archaisierenden Musters hinauslaufen würde,
|| 4 Paul (1956) Bd. II, 108: „Quell M. als Nebenfom zu Quelle wird im DWb. erst seit dem 18. Jahrh. belegt; bei den schlesischen Dichtern des 16. Jahrh. und bei Haller erscheint es als Ntr.“
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das von den Autoren des 18. Jahrhundert geschaffen wurde. Dieses Muster impliziert eine semantisch-stilistische Dissoziierung zwischen abstrakten, stilistisch sehr gehobenen starken Singularformen einerseits (der Fels in der Brandung, der Quell der Freude) und konkreten schwachen Pluralformen andererseits (die Felsen im Gebirge, die Quellen der Donau). Demselben Muster scheint mir der Schmerz über den Verlust des Gatten (nicht die Schmerzen!) gegenüber ich habe Kopfschmerzen (nicht einen Kopfschmerz !) zu folgen und eventuell auch der Strahl der Hoffnung gegenüber die Röntgenstrahlen, die radioaktiven Strahlen, die UV-Strahlen. Das Endergebnis könnten Pluraliatantum die Schmerzen, die Strahlen sein, ähnlich wie die Masern, ein Wort, zu dem auch einmal ein mittelhochdeutscher Singular der maser ‚knorriger Auswuchs an Bäumen‘ existierte (wobei hier offenbar eine Volksetymologie vorliegt, Kluge 2011: 604). Da alle Begleiter und Vertreter eines Pluraletantum ebenfalls immer im Plural stehen, ist es für das klammernde Verfahren unschädlich, dass die Sprachbenutzer das Genus dieser Wörter nicht kennen. Solange diese Lösung nicht überhandnimmt, wäre sie also eine elegante Möglichkeit, die Überreste eines Flexionstyps, der sich nicht bewährt hat, aus dem System zu entfernen, ohne gleich im Lexikon gut verankerte Wörter wie Schmerz und Strahl entweder ganz aufzugeben oder ihre ebenfalls gut verankerte Flexion allzu sehr zu verändern. Dieser Aufsatz lässt viele Fragen offen. Sie gelten vor allem der tatsächlichen Implementierung der Generalisierungsskala in Zeit und Raum und der plötzlichen Umkehrung der Entwicklung im 18. Jahrhundert. Eine Frage allerdings scheint mir beantwortet: Die deutschen Sprachbenutzer werden in näherer Zukunft weder das Genus noch das Pluralsuffix -e/-0 zugunsten von -(e)n aufgeben. Die Auseinandersetzung darüber steht nicht bevor, sondern hat schon stattgefunden. Gewonnen aber hat sie – wie so oft in der deutschen Sprachgeschichte – das klammernde Verfahren.
Literatur Bittner, Dagmar (1991): Von starken Feminina und schwachen Maskulina ‒ Die neuhochdeutsche Substantivflexion. Eine Systemanalyse im Rahmen der Natürlichen Morphologie. Dissertationsschrift. Friedrich-Schiller-Universität Jena. Duden (1984): Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. 4. Aufl. Hrsg. und bearb. von Günter Drosdowski. Mannheim/Wien/Zürich: Bibliographisches Institut. Duden (2009): Die Grammatik. 8. Aufl. Hrsg. von der Dudenredaktion. Mannheim/Zürich: Dudenverlag. Fleischer, Jürg (2002): Die Syntax von Pronominaladverbien in den Dialekten des Deutschen: eine Untersuchung zu Preposition Stranding und verwandten Phänomenen. Stuttgart/Wiesbaden: Steiner. Grimm, Jacob und Wilhelm Grimm (1984): Deutsches Wörterbuch. Leipzig: Hirzel 1854 – 1954. [Unveränderter Nachdruck der Erstausgabe. München: Deutscher Taschenbuch Verlag]
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Sebastian Kürschner
Die Interaktion von Deklinationsklasse und Genus in oberdeutschen Dialekten 1 Einleitung: Deklinationsklasse und Genus im Deutschen Der vorliegende Beitrag widmet sich den Klassen des Substantivs, Deklinationsklasse und Genus, in einigen oberdeutschen Dialekten. Dabei soll der Frage nachgegangen werden, ob die enge Verzahnung beider Klassentypen (vgl. Bittner 1994, 2000) auch in den dialektalen Systemen vorgefunden werden kann. Gleichzeitig sollen wichtige Stränge der Theoriebildung, wie sie im Rahmen der Natürlichkeitstheorie, der Schematheorie und weiteren theoretischen Ansätzen herausgearbeitet wurden, auf die Daten angewendet werden. Bevor das Ziel des Beitrags spezifiziert werden kann, sollen zunächst die Klassensysteme definiert und zentrale Gedanken der funktionalistischen Theoriebildung knapp eingeführt werden.
1.1 Deklinationsklasse und Genus als Klassen des Substantivs Substantive des Deutschen lassen sich auf unterschiedlichen Ebenen morphologischen bzw. morphosyntaktischen Klassen zuordnen. Eine Ebene ergibt sich aus den Flexiven für Kasus und Numerus, wie sie am Substantiv genutzt werden. So lassen sich z. B. Substantive, die den Genitiv Singular auf -s und den Plural auf -e bilden, einer gemeinsamen Klasse zuordnen (vgl. Hund, Pferd, Schiff). Dieser Klasse lassen sich andere Klassen gegenüberstellen, etwa eine Klasse von Substantiven, die den Genitiv Singular unmarkiert lassen und den Plural auf -(e)n bilden (Tasche, Rinne, Frau), oder eine Klasse von Substantiven, die den Genitiv Singular und den Plural auf -(e)n bilden (Bär, Junge, Russe). Diese Form der Klassenbildung ergibt sich aus dem Deklinationsverhalten der Substantive und lässt sich entsprechend als Deklinationsklasse bezeichnen. Substantive, die im gesamten Paradigma die gleichen Flexive nutzen, gehören nach der hier zugrunde gelegten Definition der gleichen Deklinationsklasse an.1 || 1 Ungleiche Flexive innerhalb der gleichen Deklinationsklasse können auftreten, wenn ein Flexiv phonologisch dem Stamm angepasst werden kann. So gilt für das (e)n-Flexiv bei die Bär-en vs. die Junge-n, dass es lediglich bedingt durch die Form des Stammauslauts silbisch (bei Konsonant) oder unsilbisch (bei Schwa) auftritt. Dieser Formunterschied des Flexivs bedingt keine Deklinationsklassenunterscheidung (vgl. die entsprechende Unterscheidung suppletiver und phonologischer Allomorphe bei Haspelmath 2002: 26‒30).
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Die zweite Art der morphosyntaktischen Kennzeichnung von Substantivklassen lässt sich nicht am Substantiv selbst ablesen, sondern am Flexionsverhalten kongruierender Einheiten – das Genus.2 Am Beispiel des Nom. Sg. des bestimmten Artikels lässt sich die Klasse der Neutra mit das (Pferd, Schiff, Haus) von der Klasse der Feminina mit die (Tasche, Rinne, Frau) und der Klasse der Maskulina mit der unterscheiden (Hund, Bär, Junge, Russe). Wie die Deklinationsklasse ist das Genus eine inhärente Klasse des Substantivs. Jedem Substantiv ist ein Genus zugewiesen. Zweifelsfälle (der/das Joghurt, der/die/das Nutella, der/die Butter, die/das Schorle) sind rar und häufig regional distribuiert, Neuwörter werden zumeist schnell in eine Genusklasse integriert. Im Gegensatz zur Deklinationsklasse gibt das Substantiv mit seinem Flexionsparadigma selbst keine Auskunft über das Genus, hierzu muss auf die Artikelflexion, die attributive Adjektivflexion oder Pronomen zugegriffen werden. Deklinationsklasse tritt somit paradigmatisch im Flexionsverhalten des Substantivs zutage, Genus syntagmatisch im Flexionsverhalten von Begleitwörtern des Substantivs.
1.2 Besitzen die Klassen der Substantive Funktionen? Die Funktion von Deklinationsklassen ist unklar. Sie bündeln ohne klar erkennbaren Nutzen Allomorphie, was aus Sicht von funktionalen Theorien mit semiotischer Motivation einer unnatürlichen bzw. markierten Struktur entspricht (vgl. das Uniformitätsprinzip der Natürlichkeitsmorphologie,3 das das Ideal entwirft, dass jede Funktion durch eine einzige, unveränderliche Form ausgedrückt wird, also gerade nicht durch – Flexionsklassen kultivierende – Allomorphie). Aus historischer Perspektive gehen Deklinationsklassen auf die Verschmelzung von Wortbildungssuffixen – den stammbildenden Suffixen – und Kasus-NumerusFlexiven zurück, die im Indogermanischen noch getrennt in der Struktur Wurzel + stammbildendes Suffix + Flexionssuffix (Kasus/Numerus) vorlagen, wobei Wurzel und stammbildendes Suffix gemeinsam den Stamm bildeten. Diese dreigliedrige Struktur wird im Germanischen durch Fusion des stammbildenden Suffixes mit dem Flexiv zu einer zweigliedrigen, Wurzel + Flexionssuffix (Kasus/Numerus) (vgl. Werner 1969: 107). Die Wurzel wird dabei als Stamm interpretiert und das Flexionssuffix um Phoneme des stammbildenden Suffixes erweitert, das seine Tauglichkeit als Wortbildungssuffix verliert. Die Anzahl an Deklinationsklassen im Germanischen erhöht sich durch die Verschmelzung gegenüber dem Indogermanischen. Zudem
|| 2 „Genders are classes of nouns reflected in the behaviour of associated words“ (Hockett 1958: 231). 3 Zu universellen Prinzipien der Natürlichkeitsmorphologie vgl. Mayerthaler (1981), zur einzelsprachlichen Systemangemessenheit Wurzel (2001), s. auch unten. Einen kompakten Überblick zur Natürlichkeitstheorie bietet Wurzel (1994b).
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schwindet in den folgenden Stufen der germanischen Sprachen mehr und mehr der Bezug zu den Wortbildungsbedeutungen, die durch stammbildende Suffixe zum Ausdruck kamen, so dass die Zuordnung zu Deklinationsklassen an Transparenz verliert (vgl. hierzu ausführlich Dammel/Kürschner im Druck). Die hohe Zahl an derart intransparenten Klassen bedingt einen hohen Speicheraufwand ohne nennenswerten Ertrag – aus diesem Grund bezeichnet Wurzel (1986: 76) Flexionsklassen als „‚Ballast‘ im Sprachsystem“. Aus funktionaler Sicht lassen sich zwei denkbare Szenarien für die weitere Entwicklung unterscheiden: 1.) Deklinationsklassen werden beibehalten und mit neuen Funktionen versehen. 2.) Deklinationsklassen werden abgebaut. Analysen zur Entwicklung der neuhochdeutschen Standardsprache haben gezeigt, dass die Zahl an Deklinationsklassen zwar reduziert wird, jedoch immer noch eine hohe Zahl an Klassen bewahrt wird und sogar (mit dem s-Plural) neue Klassen hinzutreten (vgl. z. B. Kürschner 2008a, Nübling 2008). Die Entwicklung neuer Funktionalität ist hingegen nicht durchgängig wahrzunehmen – keines der funktional motivierten Szenarien wird also in mehr als 1000 Jahren Sprachgeschichte umgesetzt, und Deklinationsklassen stellen auch in der deutschen Gegenwartssprache noch eine Herausforderung für die morphologische Theoriebildung dar. Genus besitzt, gerade weil es nicht am Substantiv selbst kodiert wird, höhere erkennbare Funktionalität. So dient es etwa zum Reference tracking, also zur klaren Identifikation von Bezugsnomen bei der pronominalen Wiederaufnahme. Weiterhin ist Genus in einer Sprache wie dem Deutschen, dessen Syntax durch Klammerbildungen gekennzeichnet ist, relevant, um klammeröffnende und klammerschließende Elemente in der Nominalklammer klar aufeinander beziehen zu können, weil Genus die einzige invariable Kategorie in der Nominalphrase darstellt (vgl. Ronneberger-Sibold 1994). Die overte Genusmarkierung am einleitenden Artikel [das, dem] öffnet die Klammer, die erst bei Auftreten eines Substantivs mit entsprechendem Genus [Haus, Grafen] geschlossen werden kann: dasNeutr demNeutr/Mask anderen GrafenMask gehörende SchlossNeutr. Beide Funktionen werden dadurch eingeschränkt, dass Genus nur drei Ausprägungen kennt und somit die Wahrscheinlichkeit nicht gering ist, dass in ein und derselben Nominalphrase Substantive des gleichen Genus vertreten sind. Diese Einschränkung der Funktionalität lässt die Frage zu, ob der hohe Speicheraufwand für Genusklassen dem unsicheren Ertrag gerecht wird – der Verlust des lexikalischen Genus im Englischen und im Afrikaans zeigt zudem, dass germanische Sprachen
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durchaus ohne lexikalische Genusdistinktionen4 funktionsfähig sind. Dennoch bleibt im Deutschen das ererbte Dreigenussystem vollständig erhalten.
1.3 Außerflexivische Kopplung der Klassen Die Schwierigkeit, Genus und insbesondere Deklinationsklassen funktional zu erklären, führte dazu, dass die Theoriebildung sich u. a. damit beschäftigte, wieso sich beide Klassen trotz geringer Funktionalität so lange halten konnten. Wurzel (2001) entwickelt den Gedanken, dass trotz geringer Funktionalität sprachlicher Klassen ein Abbau dadurch verhindert oder zumindest verlangsamt werden könnte, dass die völlige Arbitrarität der Klassenzuweisung durch eine Anbindung der Klassen an außerflexivische Merkmale ersetzt wird, die die Memorierbarkeit der Klassen erhöht.5 Dies lässt sich bei Deklinationsklassen vielfältig beobachten: Die Klasse der schwachen Maskulina etwa folgt einem Muster, das semantisch (Belebtheit) und phonologisch begründet ist (auslautendes Schwa, vgl. Matrose, Tscheche, vgl. hierzu ausführlich Bittner 1987, Köpcke 1995, 2000). Derivate auf -ung (wortbildungsmorphologisches Merkmal) nehmen den en-Plural. Auch Genus ist auf verschiedenen Ebenen an außerflexivische Merkmale gekoppelt (vgl. Köpcke 1982, Köpcke/Zubin 1984, 1996): Früchte tragen z.B. häufig feminines Genus (semantische Kopplung), ung-Derivate sogar durchgehend (morphologische Kopplung), und auslautendes Schwa (phonologische Kopplung) korreliert bei einer hohen Zahl von Substantiven ebenfalls mit femininem Genus, während ein Großteil der Einsilber und der Mehrsilber auf Sonorant (Messer, Löffel, Garten) Nicht-Feminina darstellt. Eine weitere Möglichkeit, die Memorabilität zu erhöhen, ist eine Verzahnung der beiden Typen von Substantivklassen selbst. Bereits die eingangs angeführten Beispiele zeigen, dass Genus und Deklinationsklasse interagierend distribuiert sind. So ist die starke Deklination mit Gen. Sg. -s und Pl. -e auf Nicht-Feminina beschränkt (der Hund, das Pferd, das Schiff), fehlende Markierung des Gen. Sg. findet sich nur bei Feminina (die Tasche, die Rinne, die Frau), und die schwache Deklination (Bär, Junge, Russe) wurde zum Neuhochdeutschen hin auf Maskulina beschränkt.
|| 4 Natürlich besitzen diese Sprachen semantisches bzw. referentielles Genus, das sich bei geschlechtsspezifizierten Menschen oder Tieren in der pronominalen Referenz äußert (vgl. the dentist, das mit she oder he wiederaufgenommen werden kann). Lexikalisches Genus, also dem Substantiv inhärentes Genus ist jedoch im Englischen und im Afrikaans weitgehend geschwunden. Zu lexikalischem vs. referentiellem Genus vgl. Dahl (1999: 106). 5 Infolge dieser ‚Motivation‘ von Flexionsklassen wurde auch der Terminus Flexionsklasse selbst in der Form diskutiert, dass er nur auf außerflexivisch gebundene Klassen angewendet wird, während daneben nicht außerflexivisch gebundene ‚Paradigmentypen‘ bestehen (vgl. Bittner/Bittner 1990).
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Gehen wir davon aus, dass zwei Klassensysteme des Substantivs, die nur eingeschränkte Funktionalität aufweisen, durch die Verzahnung leichter zu memorieren sind, so ließe sich als Konsequenz eine Entwicklung denken, die zu einer weitgehenden Parallelisierung beider Klassentypen führt. Wenn sich auf Grundlage der Deklinationsklassen eindeutig das Genus vorhersagen ließe, wäre die Memorabilität gleich beider Klassen erhöht. Diese Entwicklung findet tatsächlich in germanischen Varietäten tendenziell statt,6 etwa im Schwedischen oder im Dialekt von Fribourg (vgl. Henzen 1927 und Nübling 2008: 313‒315). Selbst die völlige Parallelisierung, die letztlich eine Distinktion beider Klassentypen unnötig macht, lässt sich beobachten, indem im norwegischen Nynorsk und in elsässischen Dialekten die Anzahl der Deklinationsklassen auf drei beschränkt und die Distribution am Genus festgemacht wird (vgl. Beyer 1963 und Nübling 2008: 320‒321). Die Entwicklung, die sich in der Herausbildung der deutschen Standardsprache verfolgen lässt, sieht freilich ganz anders aus: Genus und Deklinationsklasse verzahnen sich zwar, jedoch bleiben sie deutlich getrennt voneinander bestehen (vgl. Kap. 2). Eine weitere Entwicklung findet in einigen nordniedersächsischen Dialekten wie dem von Ostfriesland statt (Reershemius 2004 und Nübling 2008: 321‒322), in denen Maskulinum und Femininum zusammengefallen sind, dafür aber Genus und Deklinationsklasse vollständig entkoppelt wurden (vgl. Nübling 2008 und zum Vergleich mit weiteren germanischen Sprachen Kürschner/Nübling 2011). Die Kopplung von flexivischen und außerflexivischen Informationen wird auch in der kognitiv orientierten Schematheorie verfolgt, die für das Deutsche am konsequentesten von Köpcke (1993) auf die Pluralbildung angewendet wurde. Gegenüber der außerflexivischen Motivation von Deklinationsklassen, wie sie von der Natürlichkeitstheorie angenommen wird, geht die Schematheorie davon aus, dass das Lexikon durch Form-Bedeutungs-Assoziationen geprägt ist, die sich um schematische Prototypen gruppieren. So etabliert sich eine lexikalische Beziehung zwischen Wörtern, die die gleiche ausdrucksseitige Gestalt zeigen und jeweils eine Bedeutungsübereinstimmung (etwa in der Pluralbedeutung) aufweisen. Für die Bedeutung Plural können sich dann viele Schemata entwickeln, die durch saliente Muster identifizierbar sind (und ausdrucksseitig durch die Nutzung von jeweils gleichen Pluralallomorphen gekennzeichnet sind).7 Nicht alle Substantive entsprechen diesen Mustern. Vielmehr gruppieren sich die Substantive des Deutschen um Prototypen, und im Sprachwandel können durch Klassenwechsel formale Anpassungen an diese Prototypen eintreten. Prototypen entsprechen auch nicht unbedingt ganzen
|| 6 Vgl. zu den Systemen der im Folgenden genannten germanischen Varietäten Kürschner/Nübling (2011). 7 Ein Schema für die Pluralbildung ist „eine ausdrucksseitige Gestalt, der eine spezifische Regelhaftigkeit in dem Sinne anhaftet, daß sie ein bestimmtes Konzept, hier die Mehrzahligkeit, wiederholt ausdrucksseitig repräsentiert“ (Köpcke 1993: 72).
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Deklinationsklassen, vielmehr können sie Teilgruppen von Deklinationsklassen erfassen. Bei e-UL-Pluralen in der Standardsprache etwa lässt sich eine Teilgruppe identifizieren, die einem Schema mit Endung auf Schwa, palatalem Stammvokal, maskulinem Genus und dem semantischen Merkmal [+menschlich] entspricht (Arzt, Koch, Papst, etc., vgl. Köpcke 1994). Dies schließt nicht aus, dass derselben formal definierten Klasse auch Substantive angehören, die dem Schema nicht entsprechen. Schemata konditionieren sozusagen ‚im Hintergrund‘ der Deklinationsklassen. Ganz anders als die bisher diskutierten Ansätze interpretiert Nübling (2008) die Bewahrung von Deklinationsklassen vor dem Hintergrund, dass Deklinationsklassen im Deutschen nicht overt markiert werden, sondern sich kovert in der KasusNumerus-Allomorphie verbergen. Nur über die Allomorphie dieser flexivischen Wirtskategorien können wir Deklinationsklassen identifizieren. Nübling interpretiert die Persistenz von Deklinationsklassen vor dem Hintergrund des Relevanzprinzips von Bybee (1985, 1994). Dieses besagt, dass morphologische Einheiten zueinander in einem semantisch motivierten Relevanzverhältnis stehen, das sich formal in der Anordnung der Einheiten spiegelt. Angewandt auf die Substantivmorphologie ist Numerus relevanter als Kasus, da Numerus die lexikalische Bedeutung des Stammes affiziert, indem das Konzept entweder als einzelne Einheit oder quasi ‚kopiert‘ mehrfach dargestellt wird. Kasus ist weniger relevant, da durch Kasus der Bezug zwischen der Nominalphrase und der umgebenden Syntax signalisiert, nicht jedoch die lexikalische Bedeutung des Substantivs affiziert wird. Die Relevanz spiegelt sich laut Bybees typologischen Untersuchungen diagrammatisch ikonisch in der Abfolge der Informationen (Numerus steht näher am Stamm als Kasus, vgl. den Pferd-e-n, und kann sogar in den Stamm greifen und Stammallomorphie bewirken, vgl. den Hämmer-Ø-n). Die Entwicklung der Deklinationsklassen interpretiert Nübling nun vor dem Hintergrund des Relevanzkonzepts: Eine deutliche Numerussignalisierung ist bei Substantiven von hoher Relevanz. Unter Berücksichtigung der Gefahr von Apokopen (insbesondere in dialektalen Systemen), die die Numerussignalisierung gefährden könnten, ist es daher sinnvoll, jede Möglichkeit der Numerusmarkierung im Plural zu nutzen, um die Markierung dieser relevanten Kategorie abzusichern (vgl. Nübling 2008: 322‒323). Der Aufwand von Allomorphie und Deklinationsklassen wird nach dieser Interpretation in Kauf genommen, um den Ausdruck der relevanten Wirtskategorie abzusichern. Auch Genus sieht Nübling in dieses Geflecht integriert: Während die Deklinationsklasse die Numerusinformation durch Nutzung von Pluralallomorphen profiliert, Singularmarker jedoch am Substantiv mehr und mehr abgebaut werden, wird im Singular die Numerusinformation durch Genusmarker abgesichert (vgl. der, die, das), während im Plural Neutralisierung stattfindet (die, die, die). Deklinationsklasse und Genus arbeiten nach der Interpretation von Nübling also komplementär an der Profilierung der relevanten Numeruskategorie (vgl. hierzu auch Kürschner/Nübling 2011).
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1.4 Ziel des Beitrags Der vorliegende Beitrag nimmt sich der Entwicklung von Genus und Deklinationsklasse anhand einer Analyse der Flexionsmorphologie des Substantivs in einer Reihe von oberdeutschen Dialekten an und ergänzt damit u. a. Nüblings (2005, 2008) Streifzüge durch die Nominalmorphologie deutscher Dialekte um weitere dialektale Systeme. Die unterschiedlichen vorzufindenden Deklinationsklasse-Genus-Konstellationen sollen mit Bezug auf die Theoriebildung diskutiert werden, wobei insbesondere auf den Prüfstand gestellt werden soll, ob die häufig ohne Validierung an Dialekten geleistete Theoriebildung auch dialektalen Daten gerecht werden kann (vgl. de Vogelaer/Seiler 2012). In Abschnitt 2 wird knapp das Verhältnis von Deklinationsklasse und Genus in der Standardsprache dargestellt. Anhand dieser Darstellung und auf Grundlage genereller Erkenntnisse zur Dialektmorphologie werden in Abschnitt 3 Leitfragen für die Analyse der dialektalen Systeme hergeleitet und vier gut erforschte oberdeutsche Dialektsysteme mit Bezug auf die Interaktion von Genus und Deklinationsklasse vorgestellt. Eine vergleichende Diskussion der Daten in Abschnitt 4 nimmt die in Abschnitt 2 gestellten Fragen wieder auf und schließt den Beitrag ab.
2 Die Interaktion von Deklinationsklasse und Genus in der Standardsprache F
Genitiv Singular M
N
F
N -e Null UL -er
starke Deklination
UL -s UL -e
-(e)s ø
gemischte Deklination schwache Deklination
Plural M
-(e)n -(e)n
-(e)n
Abb. 1: Die Interaktion von Genus und Deklinationsklasse in der deutschen Standardsprache (dunkelgrau gefärbte Flächen: keine bzw. nur vereinzelte Vorkommen; hellgrau gefärbte Flächen: stark eingeschränktes Vorkommen; Fläche ohne Färbung: häufiges Vorkommen)8
|| 8 Sowohl für das Standarddeutsche als auch für die im Folgenden dargestellten dialektalen Systeme können nur die größten und prägendsten Klassen dargestellt werden – Vollständigkeit wird in
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Abbildung 1 enthält einen kompakten Überblick zur Interaktion von Deklinationsklasse und Genus in der deutschen Standardsprache. Deklinationsklasse wird anhand der hinreichenden Marker für Genitiv Singular sowie Plural (vgl. Wurzel 1994a) dargestellt. Die Abbildung folgt zudem der gängigen Terminologie mit historischem Bezug auf die Stark-Schwach-Distinktion der Deklinationsklassen, ohne dabei die feinere oben gegebene Definition von Deklinationsklasse zu vernachlässigen, die jedweden Unterschied im Flexionsverhalten als Klassenunterschied begreift. Zum Neuhochdeutschen hin ist auch eine gemischte Deklination entstanden, bei der im Sg. die Züge der starken, im Pl. die der schwachen Flexion vorzufinden sind. Abbildung 1 zeigt im Singular eine enge Verbindung zwischen Deklinationsklasse und Genus. Der Marker -(e)s für Genitiv Singular ist auf Nicht-Feminina beschränkt, während Feminina als Alleinstellungsmerkmal grundsätzlich keinen Marker im gesamten Singularparadigma aufweisen. Der (e)n-Marker im Gen. Sg. (sowie in allen anderen obliquen Kasus) ist im Nhd. nur noch bei Maskulina vorzufinden. Die Singularflexion ist also durch eine starke Distinktion Femininum vs. Nicht-Femininum bei zusätzlicher Profilierung der Maskulina gekennzeichnet. In der Pluralflexion ist das Bild weniger stringent. Mit dem (neuesten) s-Flexiv findet sich sogar ein von Genus völlig unabhängig distribuierter Marker. Maskulina und Neutra teilen sich einige Verfahren (-e, Null, -er). Auch Feminina und Maskulina teilen sich aber die (e)n-Suffigierung. Eine deutlichere Strukturierung in Feminina vs. Nicht-Feminina ergibt sich erst unter Hinzunahme der Singularflexion, da Maskulina hauptsächlich in der schwachen Deklination mit -(e)n in den obliquen Singularkasus den (e)n-Plural nehmen, während Feminina mit diesem Pluralmarker grundsätzlich gemischt flektieren. Die Maskulina lassen auch im Pluralparadigma eine Sonderstellung erkennen, die sich im introflexivischen Verfahren der Nutzung des Umlauts zur Markierung des Plurals manifestiert: Umlautplural wie in Hammer – Hämmer ist fast vollständig auf Maskulina beschränkt.9 Auch die Verbindung von Schwaplural und Umlaut ist nur bei einer kleinen Reihe tokenfrequenter Feminina festzustellen (Kraft – Kräfte, Luft – Lüfte), bei Maskulina aber häufiger und produktiv (Strumpf – Strümpfe, Wolf – Wölfe; vgl. Köpcke 1994; zur Produktivität Laaha et al. 2006). Genus und Deklinationsklasse sind also in der deutschen Standardsprache miteinander verwoben. Diese Feststellung wirft die Frage auf, ob einer der Klassentypen den anderen bedingt, ob einer primär gegenüber dem anderen sekundären ist. Das Deutsche wurde hier unterschiedlich eingeordnet: Corbett (1991: 49) etwa schlägt für das Deutsche die Anwendung des Prinzips Declension First vor, das be-
|| der Darstellung somit zugunsten einer höheren Übersichtlichkeit nicht angestrebt. So werden etwa die Klassen der Fremdwortplurale wie Schemata oder Genera hier außer Acht gelassen. 9 An Feminina finden sich lediglich Mutter – Mütter und Tochter – Töchter, als Neutrum Kloster – Klöster.
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sagt, dass sich das Genus auf Grundlage des Deklinationsverhaltens des Substantivs bestimmen lässt. So ist etwa bei Vorliegen schwacher Deklination im Neuhochdeutschen eine eindeutige Diagnose „Maskulinum“ möglich, und bei Substantiven, die im Gen. Sg. keinen Marker verwenden, muss es sich um Feminina handeln. Andere Analysen kommen zu einem gegenteiligen Ergebnis. Vor allem unter Einbezug historischer Daten lässt sich ableiten, dass Substantive relativ leicht ihr Deklinationsverhalten ändern, während Genus weit höhere Konstanz aufweist. Die Deklinationsklasse von Substantiven wird dabei häufig dem Genus angepasst – Deklinationsklasse lässt sich also auf Grundlage des Genus bestimmen und es gilt Gender First (vgl. Bittner 1994, 2000, Enger 2004, Wurzel 2001). So lässt sich bei Vorliegen femininen Genus beinahe von einer Default-Flexion mit (e)n-Plural ausgehen (von der besprochenen Gruppe starker Feminina mit e-UL-Plural und Ausnahmen abgesehen), bei Nicht-Feminina hingegen von einer hohen Wahrscheinlichkeit für den ebzw. Null-Plural.10
3 Die Interaktion von Deklinationsklasse und Genus in oberdeutschen Dialekten Bevor im Folgenden ein Blick auf einige ausgewählte oberdeutsche Dialektsysteme geworfen wird, sollen einige allgemeine Entwicklungslinien in hochdeutschen Dialekten beschrieben werden. Generell lässt sich konstatieren, dass die Kasusnivellierung in vielen Dialekten schneller voranschreitet als in der Standardsprache. Insbesondere wird der Genitiv häufig durch syntaktische Verbindungen, etwa Präpositionalgefüge mit von (der Wagen von Bernd) oder possessive Dativkonstruktionen ersetzt (dem Bernd sein Wagen, vgl. Schirmunski 2010: 496). Die Kasusmarkierung wird auch in den anderen Kasus in noch stärkerem Maße als in der Standardsprache in die Artikelflexion verschoben oder abgebaut. Damit verlagert sich die Markierung der Deklinationsklasse stark auf die Pluralallomorphe, in einigen Fällen verbleiben Kasusmarker als sekundäre Deklinationsklassenmarker. Schirmunski (2010: 477‒509) schematisiert die Entwicklung der Deklinationsklassen in deutschen Dialekten anhand der Pluralmarkierung ausgehend vom Genus, was bereits eine starke Interaktion von Deklinationsklasse und Genus in deutschen Dialekten andeutet. Folgende Entwicklungen sind – die wesentlichen Punkte
|| 10 Die Nutzung von silbischen vs. unsilbischen Markern kann komplementär beschrieben werden, indem silbische Marker nur dann auftreten, wenn der Stamm nicht auf Reduktionssilbe schließt, vgl. Neef (1998). So ergibt sich Komplementarität für Hund-e vs. Haufen-Ø, Gründ-e vs. Gärten-Ø, Bär-en vs. Junge-n.
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nach Schirmunski knapp zusammenfassend – typisch für hochdeutsche dialektale Systeme (vgl. auch Dingeldein 1983): Feminina: Eine große Klasse gemischt flektierender Feminina nimmt das Pluralsuffix -en, das bei n-Apokope als e-Plural ([ə]) auftritt. Daneben verbleibt eine kleine Gruppe an starken Feminina mit Umlaut. Die Feminina entwickeln sich somit vergleichbar zum standardsprachlichen System, jedoch tritt bei den starken Feminina (Kunst – Künste) häufig Schwa-Apokope ein. Maskulina: Die größte Zahl der Maskulina flektiert stark mit e-Plural, der in Kombination mit Umlaut auftreten kann. Die häufig eintretende Schwa-Apokope bewirkt eine verstärkte alleinige Nutzung des Umlauts bei Umlautfähigkeit (Hund – Hünd) sowie teils Nullplurale. Daneben findet sich bei den Maskulina schwache Deklination mit (e)n-Plural (und evtl. n-Markern in den obliquen SingularKasus). Hier können n-Apokope und Schwa-Apokope greifen. Neutra: Viele Neutra nutzen den von den iz/az-Stämmen stammenden er-Marker, der in den Dialekten weniger stark auf Maskulina übergreift als in der Standardsprache. Daneben bewahren Neutra teilweise den Nullplural der starken Flexion. Typisch für deutsche Dialekte ist dieser Darstellung nach also eine strikte Trennung Neutrum vs. Nicht-Neutrum, die durch den Verlust der Genitiv-Markierung auch im Singular nicht mehr konterkariert wird. Maskulina und Feminina hingegen weisen beim (e)n-Plural teilweise paralleles Verhalten auf. Wie oben gezeigt wurde, lässt sich bei Einzelanalysen von Dialektsystemen (z. B. Fribourg, Elsass, Ostfriesland) feststellen, dass sich die Beziehung zwischen Genus und Deklinationsklasse jeweils unterschiedlich und teilweise weniger einfach schematisierbar darstellt, als dies die allgemeinen Entwicklungslinien, wie Schirmunski sie formuliert, zunächst vermuten lassen. In den folgenden Abschnitten 3.1–3.4 werden daher vier oberdeutsche Dialektsysteme einer genaueren Untersuchung in Hinblick auf die Interaktion von Genus und Deklinationsklasse unterzogen. Leitende Fragen sollen dabei sein: – In welchem Umfang ‚leisten sich‘ die Dialekte Deklinationsklasse und Genus? Findet eine Interaktion zwischen den beiden Klassensystemen statt? – Können Genus-‚Koalitionen‘ bzw. ‚-Oppositionen‘ identifiziert werden? Entsprechen diese der Entwicklung in der Standardsprache (Femininum vs. NichtFemininum)? Spielt das Maskulinum eine ähnlich ‚vermittelnde‘ Rolle zwischen Femininum und Neutrum wie in der Standardsprache? – Lässt sich die Interaktion zwischen Genus und Deklinationsklasse als Maßnahme zur Erhöhung der Memorabilität eines der (oder beider) Klassensysteme interpretieren? Oder lässt sich die Interaktion auf eine gute Absicherung der Wirtskategorie Numerus zurückführen?
Die Interaktion von Deklinationsklasse und Genus in oberdeutschen Dialekten | 45
Im Folgenden werden einige ausführlich beschriebene Dialektsysteme auf die Interaktion von Genus und Deklinationsklasse hin untersucht. Wir beginnen mit ostoberdeutschen Dialekten (3.1 Nordostbayern, 3.2 Mittelbairisch) und beschäftigen uns im Anschluss mit zwei (westoberdeutschen) alemannischen Dialekten (3.3 Niederalemannisch, 3.4 Hochalemannisch).
3.1 Dialekte von Nordostbayern (Nordbairisch, Ostfränkisch und Südthüringisch) Rowley (1997) dokumentiert ausführlich die Deklination in nordostbayerischen Dialekten im dynamischen Übergangsgebiet nordbairischer, ostfränkischer und südthüringischer Varietäten. Die Daten basieren neben verfügbaren publizierten Materialien (Orts- und Landschaftsmonographien, Sprachatlanten, Aufnahmen des Deutschen Spracharchivs) auf Fragebucherhebungen für den Sprachatlas von Nordostbayern sowie Zusatzerhebungen. Selbstverständlich verhalten sich die Dialekte des großen Erhebungsgebiets nicht konform. Rowley (1997: 131‒174) arbeitet aber trotz hoher Variation der Deklination von Einzellexemen generelle Züge der Deklination heraus.11 Abbildung 2 stellt eine gebietsübergreifende Schematisierung dieses Deklinationssystems dar. Sie zeigt, dass die Singularmorphologie zwar herangezogen, jedoch wegen Abbau des Genitivs nur noch zur Abgrenzung der schwachen Maskulina von den gemischt und stark flektierenden weiteren Klassen genutzt werden muss. In Hinblick auf die Pluralbildung ergeben sich einige genusspezifische Verfahren: Verfahren, bei denen alleinig Stammmodulation zur Markierung des Plurals genutzt wird, sind häufig bei Maskulina vorzufinden, bei Feminina hingegen auf wenige Substantive beschränkt und bei Neutra kaum vorhanden. Stammmodulation findet sich qualitativ beim Umlaut (nordbair. nōgl – nīagl12 ‚Nagel‘) bzw. quantitativ bei Singularstammbildung durch Dehnung (ostfränk. dīš – diš ‚Tisch‘). Daneben treten beide Verfahren in Kombinationen auf (nordbair. sōg – sek ‚Sack‘). Für die Neutra lässt sich zwar kein spezifischer Marker feststellen, jedoch hat der er-Marker (bei Umlautfähigkeit meistens in Verbindung mit Umlaut) kaum auf Maskulina übergegriffen, so dass er beinahe auf Neutra beschränkt auftritt (nordbair. bet – beta ‚Bett‘).
|| 11 Eine breitere Darstellung der Variation innerhalb des Dialektgebiets muss an dieser Stelle unterbleiben (vgl. knapp zusammenfassend Rowley 1997: 171‒174). 12 Dialektale Belegwörter werden entsprechend den Konventionen der zugrunde liegenden Publikationen transkribiert. Es werden jeweils Singular-Plural-Paare aufgeführt.
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Singular (Objektkasus) F
M
N
Plural F
M
N
Null starke Deklination
(UL) -er VokalDehnung
ø
UL gemischte Deklination schwache Deklination
-n -n
-n
Abb. 2: Schematisierte Darstellung der Interaktion von Genus und Deklinationsklasse in den Dialekten Nordostbayerns (nach Rowley 1997) – Zur Bedeutung der Schattierungen s. Abb. 1
Der n-Plural tritt genusübergreifend bei Maskulina und Feminina auf, bei Maskulina jedoch größtenteils beschränkt auf die Gruppe der schwachen Maskulina (die wie in der Standardsprache auf Substantive mit Belebtheitsmerkmal eingeschränkt werden,13 vgl. nordbair./ostfränk. hōs – hōsn ‚Hase‘), während bei den Feminina eine hohe Zahl früher schwach und stark flektierender Substantive im n-Plural zusammenfällt. Als Deklinationsklasse sind die gemischt flektierenden Feminina von den schwachen Maskulina wie in der Standardsprache trotz gleichen Pluralmarkers unterschieden. Eine sehr geringe Zahl früher schwacher Neutra ist ebenfalls noch in gemischter Deklination mit n-Marker vorzufinden (Auge, Ohr, mit anderen Markern variierend auch Bett, Herz, etc.), daneben gemischt flektierende Maskulina (Schmerz, Schneck, Vetter). Überraschend ist in Abb. 2 eine genusübergreifende Klasse im Nullplural. Hier fällt auf, dass neben den in der Standardsprache bekannten maskulinen und neutralen Zweisilbern auf Pseudosuffix (-er, -el, -en, vgl. Maurer, Löffel, Haufen) auch Einsilber betroffen sind (Berg, Haar, Jahr). Außerdem divergiert das Dialektsystem von der Standardsprache, indem auch eine große Zahl an Feminina ohne Pluralmarkierung vorzufinden ist. Dies überrascht, da wie in der Standardsprache der bestimmte Artikel nicht als Numerusträger tauglich ist (Sg. die – Pl. die) und somit eine Absicherung der Numerusinformation durch die Artikelflexion, wie sie bei den || 13 In den Dialekten von Nordostbayern ist zwischen feingliedrigen Distinktionen bei (früher) schwachen Maskulina in Hinblick auf das Belebtheitsmerkmal zu unterscheiden, die auch innerhalb des Belebtheitsbereichs zwischen [±menschlich] unterscheiden. So findet sich schwache Deklination etwa im Dialekt von Marktgraitz nur bei Maskulina mit dem Merkmal [+menschlich], andere Substantive mit Belebtheitsmerkmal deklinieren gemischt, und Maskulina ohne Belebtheitsmerkmal erweitern das Nasalsuffix der obliquen Kasus auf den Nom. Sg. und deklinieren stark. Eine Übersicht findet sich bei Rowley (1997: 190‒191).
Die Interaktion von Deklinationsklasse und Genus in oberdeutschen Dialekten | 47
standardsprachlichen Nichtfeminina mit Nullplural gegeben ist, ebenfalls entfällt. Bei den Feminina geht dies hauptsächlich auf die Verallgemeinerung von obliquen Formen in den Nom. Sg. zurück. So sind bei Bänk ‚Bank‘, Händ ‚Hand‘ jeweils Umlautformen auf den Nom. Sg. übertragen worden. Von hoher Frequenz ist die Stammerweiterung durch -n bei ehemals schwach oder gemischt flektierenden Feminina, vgl. nordbair. glokŋ – glokŋ ‚Glocke‘, so auch Blume, Flasche, Scheibe, etc. Dieser Prozess lässt sich als analogische Übertragung der Obliquus-Markierung in der schwachen Deklination interpretieren und ist bei Maskulina ohne Belebtheitsmerkmal bekannt, die die schwache Deklinationsklasse zugunsten der starken verlassen, vgl. haufe > Haufen etc. (vgl. hierzu Köpcke 2000). Obwohl derselbe Prozess in der Sprachgeschichte auch bei Feminina zahlreich vorkommt (vgl. zum Frnhd. Wegera/ Solms 2000: 1543), hat sich die Stammerweiterung in der Standardsprache bei Feminina nicht durchgesetzt, was häufig auf die mangelnde Möglichkeit zurückgeführt wird, die Numerusunterscheidung in der Artikelflexion aufzufangen (vgl. etwa Eisenberg 2004: 171, Köpcke 1988: 308, Werner 1969: 121, Wurzel 2001: 95). Aus theoretischer Sicht ist es interessant, dass der Nullplural bei Feminina nicht nur akzeptiert, sondern systematisch analogisch hergestellt wird, und dies im großen Stil. Hier entwickelt sich die dialektale Morphologie entgegen der Vorhersagen des Relevanzprinzips, das bei Substantiven eine hohe Relevanz der Numeruskategorie prognostiziert und somit eine Profilierung des Numerus vorhersagt – Numerus wird hier ganz im Gegenteil nivelliert. Auch die Prinzipien der Natürlichkeitsmorphologie zur optimalen semiotischen Markierung werden verletzt. Auf universaler Ebene verstößt der Nullplural gegen das Prinzip des konstruktionellen Ikonismus (ein semantisches „Mehr“ wird durch mehr phonische Masse repräsentiert, eine Pluralform sollte also länger sein als eine Singularform) und der Transparenz (Marker sollten separierbar sein und eine eindeutige Bedeutung tragen; hier ist aber kein Marker separierbar). Auch auf der von Wurzel (2001) der universellen Ebene hinzugestellten einzelsprachlichen Ebene morphologischer Natürlichkeit ist der Nullplural problematisch. Wurzel geht davon aus, dass einzelsprachliche Systeme durch systemdefinierende Eigenschaften geprägt sind, die selbst dann als normal empfunden werden, wenn sie den universellen semiotischen Prinzipien entgegenstehen. Da laut systemdefinierenden Struktureigenschaften die formale Beziehung „Sg. ≠ Pl.“ sowie die Suffigierung des Plurals im Deutschen den Normalfall darstellt (vgl. Wurzel 2001: 95), wird durch den Nullplural ohne Not ein Verfahren gewählt, das geringe Systemangemessenheit aufweist.14
|| 14 Es bleibt jedoch zu diskutieren, ob im Dialekt der Nullplural („Sg. = Pl.“) inzwischen als Normalfall angesehen werden könnte und somit die systemdefinierenden Eigenschaften anders ausfallen als für die Standardsprache.
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Zusammenfassend lässt sich in dem von Rowley untersuchten Dialektgebiet eine Tendenz zum Aufbau spezifischer Pluralmarker (und damit Deklinationsklassen) pro Genus feststellen, die beim n-Marker und bei fehlender Pluralmarkierung (also Nullmarkierung) durchbrochen wird: Neutra tendieren zum er-Marker, Maskulina zur Stammmodulation. Der n-Plural ist ein typischer Marker für Feminina, die Sonderentwicklung der schwachen Maskulina zu einer durch Belebtheit gekennzeichneten Klasse mit n-Marker lässt hier jedoch Konkurrenz durch Maskulina entstehen. Das Maskulinum steht auch aus einer weiteren Perspektive „vermittelnd“ zwischen Femininum und Neutrum: Zusammen mit den Feminina bilden die Maskulina einen Großteil der Substantive mit Nullplural bei Substantiven, die den n-Marker aus den obliquen Kasus in den Nominativ Singular übernehmen – dies ist bei Neutra nur in Ausnahmen festzustellen. Wirft man somit einen holistischen Blick auf die Singularund Pluralformen, so lässt sich innerhalb des Nullplurals ein Schema „Zweisilber auf -n mit Nullplural“ für Nicht-Neutra konstatieren.
3.2 Mittelbairisch Plural
Singular F
M
N
F
M
N
Null starke Deklination gemischte Deklination schwache Deklination
(UL) -a (< er)
-a (< en) ø
UL -n
-n
-n
Abb. 3: Schematisierte Darstellung der Interaktion von Genus und Deklinationsklasse im mittelbairischen Dialekt von Mauterndorf (Salzburger Lungau, nach Mauser 1998b) – Zur Bedeutung der Schattierungen s. Abb. 1
Die Deklination des Substantivs im Mittelbairischen wurde von Peter Mauser im Dialekt von Mauterndorf im Salzburger Lungau erhoben (vgl. Mauser 1998a/b). Die Daten beruhen auf einer Befragung von Informantinnen und Informanten verschiedener Altersgruppen. Der Interaktion von Genus und Deklinationsklasse nähern wir uns zunächst wieder mit Hilfe einer tabellarischen Übersicht (Abb. 3). Wie bei den nordostbayerischen Dialekten ist die Morphologie der obliquen Kasus im Singular nur noch bei den Maskulina relevant, bei denen die schwache Klasse bestehen bleibt – auch hier wird die Klasse auf Substantive mit Belebtheitsmerkmal eingeschränkt ([hɔˑs] – [hɔˑsn̩ ] ‚Hase‘). Bei der Pluralbildung zeigt sich ein ähnliches, in Hinblick auf einige Marker aber auch divergentes Bild im Vergleich
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mit den Dialekten Nordostbayerns. So findet sich ein lautlicher Zusammenfall des er-Markers der Neutra ([hɔŋ] – [hɛŋɐ] ‚Horn‘, in einigen wenigen Fällen auch bei Maskulina vorzufinden vgl. [vʊɐm] – [vɪɐmɐ] ‚Wurm‘) mit einem Allomorph des nMarkers in [ɐ], das bei Feminina auftritt. Bei diesem Allomorph handelt es sich um eine vokalisierte Form des Nasalmarkers, die bei nasalem Auslaut genutzt wird, vgl. [ʃlɔ̝ ŋ] – [ʃlɔ̝ ŋɐ] ‚Schlange‘. Bei den durch Nullplural gekennzeichneten Feminina, die den Stamm durch -n erweitern, dient dieser Marker zur Restitution des Pluralsuffixes (vgl. Mauser 1998b), vgl. [hoˑsn̩ ] – [hoˑsn̩ ɐ] ‚Hose‘.15 Es ist natürlich fraglich, ob es sich – trotz lautlicher Gleichheit – um ein und denselben Marker handelt, denn es ist eine grundsätzlich nach Genus verschiedene und bei den Feminina stark eingeschränkte Distribution zu erkennen (Stammauslaut auf Nasal, in den meisten Fällen Mehrsilbigkeit) und es herrscht bei den mehrsilbigen Feminina eine sehr geringe Obligatorik für diesen Marker. Schließlich spricht für eine getrennte Behandlung, dass es sich trotz heutiger Lautgleichheit aus historischer Sicht um Varianten unterschiedlicher Pluralallomorphe handelt (-er vs. -en). Mauser geht entsprechend davon aus, dass zwei unterschiedliche Pluralallomorphe vorliegen, die lautgleich sind. Die lautliche Gleichheit schließt dagegen aus synchroner Sicht eine Interpretation nicht aus, die lediglich ein Allomorph vorsieht (vgl. Kühn 1980 ebenfalls zum Mittelbairischen, vgl. auch Rowley 1997: 166–168, der für bairische Dialekte im südlichen Teil seines Untersuchungsgebiets eine ähnliche alternative Interpretation diskutiert). Bei dieser Interpretation findet eine Koalition zwischen Feminina und Neutra in Opposition zu den Maskulina statt, die in der Standardsprache fast vollständig ausgeschlossen scheint. Der n-Marker ist im Vergleich zu den Dialekten Nordostbayerns etwas stärker von der Genusbindung an Nicht-Neutra befreit. Neben den üblichen Resten der schwachen Deklination bei Neutra (Auge, Ohr, Herz, etc.) findet sich der n-Marker zumindest auch bei Diminutiven (in Variation mit dem Nullmarker oder er-Marker, vgl. [ʀaˑd̥l] – [ʀaˑd̥ln] vs. [ʀaːd̥l] vs. [ʀaˑd̥lɐ] ‚Rädchen‘). Der n-Plural tritt zudem neben schwachen Maskulina an einer großen Zahl gemischt flektierender Maskulina ([b̥ rʊn] – [b̥ rʊnən] ‚Brunnen‘) sowie natürlich als typischer Plural der Feminina auf. Genusspezifisch eindeutig tritt nur der UmlautPlural auf, der auf Maskulina beschränkt ist ([hʊnt̬] – [hɪnt̬] ‚Hund‘). Der Nullplural ist wie im Nordostbayerischen bei Substantiven aller Genera vorzufinden. Somit lässt sich folgendes Bild vom mittelbairischen Dialekt im Salzburger Lungau zusammenfassen: Einerseits lässt sich eine Tendenz zu genusspezifischer Markierung erkennen (Fem. -n, Mask. Umlaut, Neutr. -er), andererseits aber auch die Auflösung der Genussteuerung beim n-Marker und beim Nullplural. Weiterhin
|| 15 Mauser stellt bei Feminina dieses Typus schwankende Nutzung von Null und Pluralmarkierung fest, wobei die älteren Sprecherinnen und Sprecher zur Restitution neigen, während die jüngeren Sprecherinnen und Sprecher stärker schwanken und den Nullplural häufiger nutzen.
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ergibt sich durch den lautlichen Zusammenfall der vokalisierten Formen von -er und -n eine Überwindung von Genusschranken, die in diesem Fall Neutra und Feminina verbindet. Interessanterweise wird dabei nicht – wie bei Null und -n – ein Abbau der genusbedingten Verteilung von Pluralallomorphen herbeigeführt, sondern dezidiert eine Koalition von Feminina und Neutra. So finden sich neben wenigen Maskulina, die den er-Plural übernommen haben, keine Maskulina mit n-Erweiterung im Nominativ Singular (Typ Haufen) mit diesem Pluralmarker (vgl. Mauser 1998b: 212).
3.3 Niederalemannisch Als Beispiel für einen Dialekt des Niederalemannischen wird der Dialekt im Schuttertal (Schwarzwald) herangezogen, wie er von Kopf (2010) in einer Arbeit zur Morphologie des Substantivs auf Grundlage von Befragungsdaten beschrieben wurde. Zunächst wieder der Blick auf eine tabellarische Zusammenfassung (Abb. 4). Die Darstellung beschränkt sich auf die Pluralallomorphie, da die Kasusmarkierung im Singular vollständig abgebaut wurde – entsprechend wird auch nicht mehr zwischen starker, gemischter und schwacher Deklination unterschieden. Plural F
M
N Null UL -er
UL -ne -e
Abb. 4: Schematisierte Darstellung der Interaktion von Genus und Deklinationsklasse im niederalemannischen Dialekt im Schuttertal (nach Kopf 2010) – Zur Bedeutung der Schattierungen s. Abb. 1
Die Pluralallomorphe sind in diesem Dialekt teilweise deutlich genusspezifisch verteilt. So tritt der er-Marker – von wenigen Maskulina abgesehen – nur an Neutra auf, der Umlautmarker fast nur an Maskulina (und wenigen Feminina), und auch für die Feminina lässt sich ein eigener Marker -ne feststellen. Es handelt sich hier um eine alemannische Innovation, die historisch auf die Pluralsuffigierung ahd. īAbstrakta zurückzuführen ist (vgl. læŋı – lεŋinə ‚Länge‘, dıə̯fı – dıə̯finə ‚Tiefe‘). Auslautendes -i wurde in der Folge als Distributionskriterium für den ne-Marker interpretiert, so dass auch andere Feminina auf -i diesen Marker erhielten, vgl. buːdi – buːdənə ‚Bude’, kʊxı – kʏçənə ‚Küche‘, ʁʊtʃi – ʁʊtʃinə ‚Rutsche‘. Neben wenigen Feminina auf Schwa (dɔndə – dɔndənə ‚Tante‘) bleibt der Marker heute auf Stämme, die dieses Kriterium im Auslaut aufweisen, beschränkt (vgl. zur weiteren Distribu-
Die Interaktion von Deklinationsklasse und Genus in oberdeutschen Dialekten | 51
tion in alemannischen Dialekten Kap. 3.4 unten zum Zürichdeutschen sowie Nübling 2008: 318 zum Berndeutschen). Der Großteil der Feminina ist jedoch mit dem typischen n-Plural vorzufinden, der im Alemannischen aufgrund von n-Apokope heute als Schwa-Marker auftritt (gʁiə̯ s – gʁiə̯ sə ‚Kirsche‘). Diesen teilen die Feminina mit den alten schwachen Maskulina mit Belebtheitsmerkmal (buːʁ – buːʁə ‚Bauer‘). Das Maskulinum steht somit als mit dem Femininum koalierendes Genus dem Neutrum gegenüber. Andererseits ist der Nullplural im Schuttertäler Dialekt auf Maskulina und Neutra beschränkt, so dass das Maskulinum auch mit dem Neutrum koaliert. Der niederalemannische Dialekt weist im Gegensatz zu den zuvor betrachteten Dialekten keine Tendenz zu vollständig genusunabhängigen Deklinationsklassen auf.16 Vielmehr lässt sich bei einigen Markern sogar eine Genusspezialisierung erkennen (Maskulinum Umlaut, Femininum -ne und Neutrum -er). Daneben finden sich Genuskoalitionen, an denen jeweils die Maskulina beteiligt sind (Fem. vs. Nicht-Fem. beim Nullplural, Neutr. vs. Nicht-Neutr. beim e-Plural), die also auch hier eine vermittelnde Rolle einnehmen.
3.4 Hochalemannisch Als letztes Beispiel soll ein weiteres alemannisches Dialektgebiet herangezogen werden, die hochalemannischen Dialekte von Zürich und dem Zürcher Oberland, wie sie von Weber (1923, 1948) beschrieben wurden. Abbildung 5 umfasst, wie beim niederalemannischen Beispiel, nur die Pluralallomorphie, da oblique Kasus im Singular nicht mehr am Substantiv markiert werden. Plural F
M
N
Null UL -er -eri UL -ene -e
Abb. 5: Schematisierte Darstellung der Interaktion von Genus und Deklinationsklasse in den hochalemannischen Dialekten von Zürich und dem Zürcher Oberland (nach Weber 1923, 1948) – Zur Bedeutung der Schattierungen s. Abb. 1
|| 16 Hier kann lediglich der wie in der Standardsprache genusunabhängig verbreitete s-Plural erwähnt werden, der jedoch von Kopf (2010: 67) als relativ peripheres Kontaktphänomen zur Standardsprache eingeordnet wird.
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Die Interaktion von Genus und Deklinationsklasse stellt sich im Zürcher Dialekt anders dar als im Niederalemannischen im Schuttertal. Stärker als im vorigen Beispiel lässt sich eine Verbindung von Maskulina und Feminina erkennen, ebenso eine separate Entwicklung bei den Neutra. Bei den Maskulina und Feminina lässt sich wieder der genusübergreifende Schwa-Marker vorfinden, der auf die schwache Deklination zurückgeht und femininer Hauptmarker, auch aber bei den Maskulina frequent vorzufinden ist. Der Umlautmarker ist typisch für Maskulina, greift aber auch bei Feminina. Anders als im niederalemannischen Beispiel ist auch der eneMarker im Dialekt von Zürich nicht auf Feminina beschränkt vorzufinden. Er greift hier auch bei Maskulina auf -i, insbesondere zur Vermeidung des Nullplurals. Zu dieser Gruppe gehören auch frühere Diminutive auf -i, die das Genus vom Neutrum „unter dem Einfluß des natürlichen Geschlechts“ (Weber 1923: 159) zum Maskulinum gewechselt haben, vgl. hösı – hösənə ‚Knirps‘, šlufı – šlufənə ‚Schuft‘, munı – munənə ‚Stier‘. Daneben finden sich zahlreiche Maskulina auf -i, die mit Nullplural vorzufinden sind. Der Genuswechsel deutet darauf hin, dass in der Entwicklung zum heutigen System hin eine vollständig genusübergreifende Deklinationsklasse zugunsten einer weiteren Trennung zwischen Neutra und Nicht-Neutra umgangen wurde.17 Ebenfalls anders als im niederalemannischen Dialekt weist der Dialekt von Zürich allerdings auch eine Deklinationsklasse auf, die genusunabhängig distribuiert ist. Es handelt sich um die Nullklasse, die interessanterweise auch in diesem Dialekt vor Feminina nicht haltmacht. Sie sind auch in diesem Dialekt zweisilbig, enden jedoch auf Schwa (pfanə – pfanə ‚Pfanne‘, hosə – hosə ‚Hose‘; bei wenigen Feminina dieses Typus wird Umlaut zur Differenzierung genutzt). Transparente Pluralformen weisen dagegen einsilbige Feminina mit Schwaplural (sünd – sündə ‚Sünde‘, pflixt – pflixtə ‚Pflicht‘) und die überschaubare Anzahl an alten i-Stämmen mit umlautfähigem Vokal bei Nutzung des Umlautmarkers (šnuər – šnüər ‚Schnur‘) auf. Bei den Maskulina lässt sich wieder eine Einteilung nach Belebtheit erkennen: Die alten schwachen Maskulina mit Belebtheitsmerkmal bilden den Plural auf Schwa, im Singular weisen sie Schwa-Apokope auf (pfaff – pfaffe ‚Pfaffe‘, xnāb – xnābe ‚Knabe‘, buəb – buəbe ‚Bube‘). Daneben finden sich alte starke Maskulina mit Belebtheitsmerkmal im gleichen Format (diəb – diəbə ‚Dieb‘, gīr – gīrə ‚Geier‘). Bei fehlendem Belebtheitsmerkmal weisen die Maskulina fast immer Umlaut auf, wenn Umlautfähigkeit vorliegt (pfoštə – pföštə ‚Pfosten‘). Nur bei fehlender Umlautfähigkeit findet sich bei Maskulina ohne Belebtheitsmerkmal der Nullplural (fætsə – fætsə ‚Fetzen‘, šlüssel – šlüssel ‚Schlüssel‘, tıšš – tıšš ‚Tisch‘).18 Bei Neutra tritt der Nullplural bei Einsilbern (jōr – jōr ‚Jahr‘, rınd – rınd ‚Rind‘) sowie Mehrsilbern
|| 17 Nübling (2008: 318) beschreibt für das Berndeutsche hingegen eine Spezialisierung des Markers auf das Femininum, dafür aber starke Produktivität innerhalb dieses Genus. 18 Vgl. zur Deklination der Maskulina in schweizerdeutschen Dialekten auch Kürschner (2008b).
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auf -er, -el und -e (< -en) auf (sǣgəl – sǣgəl ‚Segel‘, tsæiə – tsæiə ‚Zeichen‘). Der Nullplural tritt somit bei Feminina nur bei Mehrsilbern und nur bei Nicht-Feminina auch bei Einsilbern auf – bei einer Perspektive, die die Prosodie einbezieht, bestehen damit Schemata mit feineren Genusdifferenzierungen. Bei den Neutra lässt sich zusätzlich zum stark auf Neutra eingeschränkten erMarker (bet – betər ‚Bett‘) die Entwicklung eines zweiten neutrumspezifischen Allomorphs -ε̄ri erkennen, der nur bei Neutra auf -i vorzufinden ist. Es handelt sich vornehmlich um ursprüngliche Diminutivformen, vgl. tüpfı – tüpfε̄ri ‚kleine eiserne Pfanne auf drei Beinen‘. Der Auslaut -i ist somit genusübergreifend mit besonderem Flexionsverhalten verbunden, wobei sprachhistorisch bei Feminina Verbalabstrakta auf ahd. -ī, bei Nicht-Feminina zumeist Diminutive auf ahd. -ī(n) zugrunde liegen. Interessanterweise wird die Genusschranke Neutrum vs. Nicht-Neutrum selbst bei den Substantiven auf -i deutlich: Während sich Maskulina und Feminina einen nhaltigen Marker -ene teilen (vgl. den n-Marker der schwachen Deklination, bei dem allerdings n-Apokope eintrat), nutzen Neutra einen r-haltigen Marker -eri (vgl. den typisch neutralen er-Marker). Das System des Dialekts von Zürich zeigt den Aufbau genusspezifischer Marker und zeugt von einer klaren Genusschranke Neutrum vs. Nicht-Neutrum. Nur der Nullplural tritt genusübergreifend auf, bei Einsilbern jedoch nur bei Nicht-Feminina, bei Zweisilbern auf Schwa nur bei Nicht-Neutra.
4 Fazit Ein Blick auf die Interaktion von Genus und Deklinationsklasse in vier oberdeutschen Dialektsystemen konnte zeigen, dass in allen Dialekten drei Genera und mindestens fünf Deklinationsklassen vorzufinden sind. Deklinationsklasse und Genus interagieren in allen vier Dialektsystemen deutlich. Als genusunabhängig distribuiert stellte sich häufig die Deklinationsklasse mit Nullplural heraus. Betrachtet man jedoch die Deklination unter Berücksichtigung von Singular- und Pluralschemata, so wird deutlich, dass Feminina mit Nullplural typischerweise mehrsilbig sind, während sich Neutra und Maskulina sowohl als Einsilber als auch als Mehrsilber häufig vorfinden. Die Maskulina neigen, ähnlich wie in der Standardsprache, dazu, eine ‚vermittelnde‘, koalitionsfreudige Position mit den anderen Genera einzunehmen. Gleichzeitig finden sich aber auch Spezialisierungen im Bereich der Maskulina, die sie von den anderen Genera abgrenzen. Die Nutzung der Stammalternation zur Pluralmarkierung ist häufig weitgehend auf Maskulina eingeschränkt. In Dialekten mit Bewahrung der Markierung von Objektkasus am Substantiv bilden die schwachen Maskulina die einzige Klasse, bei der eine solche Markierung noch vorzufinden ist.
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Feminina und Neutra teilen sich selten Allomorphe unter Ausschluss der Maskulina – im mittelbairischen Dialekt konnte aber ein lautlicher Zusammenfall von typisch neutralen und femininen Suffixen festgestellt werden. In der Standardsprache wurde in der Pluralbildung eine Schranke zwischen Feminina und Nicht-Feminina festgestellt – Maskulina teilen sich einen Großteil der Allomorphie mit den Neutra, mit den Feminina hingegen gehen sie nur im (e)nPlural und dem e-UL-Plural zusammen, bei denen jeweils bei einem der Genera nur eine geringe Besetzung der Klasse festzustellen ist. Neutra weisen fast keine Übereinstimmungen mit Feminina auf. In den hier betrachteten Dialekten scheint diese Genusschranke nicht wirksam zu sein. Vielmehr zeigt sich häufiger eine Tendenz zur Separierung der Neutra, während Maskulinum und Femininum sich Marker teilen. Dies ist in germanischen Varietäten nicht unbekannt – vielmehr geht das (Standard-)Deutsche im Kreis der germanischen Sprachen einen Sonderweg, da in den anderen Sprachen mit Genuserhalt häufig Maskulinum und Femininum zusammengehen und sogar zu einem Genus commune verschmelzen (vgl. Niederländisch und die festlandsskandinavischen Sprachen, zum Vergleich allgemein Kürschner 2008a). Generell lassen sich in den hier betrachteten Dialekten die Entwicklungslinien für Genus und Deklinationsklasse wiedererkennen, die Schirmunski (2010) beschrieben hat: Feminina tendieren zum (e)n-Plural, Maskulina zur Stammalternation und Neutra zum er-Plural. Der differenziertere Blick auf die Einzelsysteme hat allerdings ebenfalls deutlich gemacht, dass die Dialekte weitere Deklinationsklassen aufweisen, die komplexe Interaktion mit Genus zulassen. Genus kann somit grundsätzlich als Memorabilitätsstütze für Deklinationsklasse interpretiert werden (oder auch umgekehrt Deklinationsklasse als Memorabilitätsstütze für Genus). Es gilt jedoch zu bedenken, dass Genus kaum alleine wirkt. Da grundsätzlich mehr Deklinationsklassen als Genera vorzufinden sind, werden die Deklinationsklassen unterhalb der Genusebene durch weitere Faktoren distribuiert (ohne, dass vollständige Vorhersagbarkeit erreicht würde), die im semantischen Bereich, im morphologischen Bereich (Derivationssuffixe) und auf formaler Ebene (Auslaut) zu verorten sind. Eine Schemaperspektive, die innerhalb von Deklinationsklassen auch Subklassen in Betracht zieht, etwa lautlich basiert auf Grundlage der Silbenzahl, zeigt weitere Genusstrukturierung im Bereich der Substantive „im Hintergrund“ auf. So sind beim Nullplural zumeist kaum zweisilbige Neutra und kaum einsilbige Feminina vorzufinden. Mit Hinblick auf die Organisation der Substantive ist somit von kleineren, spezifischer charakterisierten Gruppen auszugehen, als sie durch die formale Klassenbildung in Deklinationsklassen oder Genera bestimmt werden können – Memorabilitätsstützen beziehen sich also auf Untergruppen der formal definierbaren Klassen, die durch Schemata beschrieben werden können. Der Dialektvergleich hat gezeigt, dass Deklinationsklassen und Genera in den Dialekten bewahrt bleiben. Eine Reduzierung geht, wie dies auch Nübling (2008)
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feststellt, hauptsächlich auf den Abbau bzw. vollständigen Verlust der Kasusmarkierung und damit einer Wirtskategorie zurück. Da Kasus weniger relevant für Substantive ist als Numerus, liegt es zunächst nahe, sich der Interpretation von Nübling (2008) anzuschließen: Letztlich dient der Erhalt von Deklinationsklasse durch Nutzung von Pluralmarkern jeglicher Art der Absicherung der Markierung der relevanten Numerusinformation, die durch die starken Apokopetendenzen in oberdeutschen Dialekten gefährdet ist. Genus dient ebenfalls dieser Absicherung, indem eindeutige Singularmarker in der umgebenden Syntax des Substantivs zur Verfügung stehen. Bei einem zweiten Blick auf die Daten lässt sich diese Interpretation aber nicht uneingeschränkt aufrecht erhalten: Sowohl in den ostoberdeutschen Dialekten als auch im Dialekt von Zürich konnte nämlich eine starke Frequenzerhöhung der Nicht-Markierung der Pluralinformation festgestellt werden (also Nullplural), und dies nicht nur bei den Substantiven, die aufgrund nicht-femininen Genus ihre Numerusmarkierung in der Artikelflexion absichern, sondern auch bei Feminina mit ihrem Artikelsynkretismus beim Numerus. Die Nullplurale entstehen nicht einmal aufgrund phonologischer Prozesse, sondern werden analogisch erzeugt. Auch die auf dem Relevanzprinzip basierende Theorie kann also einen Teil der Entwicklung von Genus und Deklinationsklasse nicht erklären.19 Allerdings wird die Numerusinformation mit hoher Redundanz markiert, die über die Artikelflexion hinausgeht. In der Nominalphrase selbst kann neben der Artikel- auch die Adjektivflexion (mit der erwähnten Einschränkung beim Femininum) Numerus signalisieren, daneben sind positions- und konstruktionsabhängig auch die Verbalflexion und die Pronominalflexion (etwa bei Demonstrativpronomen) als redundante Numerusmarker geeignet. So kann auch bei fehlender Numerusmarkierung innerhalb der Nominalphrase die Numerusinformation noch durch zusätzliche redundante Markierung zum Ausdruck kommen. Für die Verbalflexion gilt dies immer, wenn die das Substantiv mit Nullplural enthaltende Nominalphrase in Subjektposition steht, vgl. Die Flaschen ist/sind leer. Nur wenn die Nominalphrase in Objektposition steht, besteht also echte Ambiguität bezüglich Singular und Plural, und das „morphologische Minimum“ (Rabanus 2008) wird unterschritten: Sie leerte die Flaschen.20 Die Kontexte, in denen wirklich Gefahr einer fehlenden Numerusmarkierung droht, sind also tatsächlich stark beschränkt. Möglicherweise wurden in der Theoriebildung zum morphologischen Wandel bislang die Bedingungen genuiner Mündlichkeit (wie sie bei Dialekten vorliegen) zu
|| 19 Erklärbar ist durch dieses Prinzip nur die Restitution des Pluralmorphs durch einen zusätzlichen Marker, wie ihn Mauser (2008a/b) beschreibt und auch vor dem Hintergrund der Natürlichkeitsmorphologie als transparenten und systemangemessenen Ausweg interpretiert. Jedoch erklärt keine dieser Theorien, wieso zunächst morphologisch ein Nullplural herbeigeführt wird. 20 Lexikalisch kann auch hier noch – etwa durch Zahlwörter – disambiguiert werden.
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wenig beachtet, etwa hohe Kontextgebundenheit, hohe sprachliche Flexibilität bei Face-to-Face-Konversationen und die Möglichkeit der Rezipientenrückmeldung. Eine morphologische Reaktion auf den fehlenden Pluralmarker (wie sie ja im mittelbairischen Dialekt und um südlichen Nordbairischen21 teilweise durch Restitution eines Pluralsuffixes vorgefunden wird, nicht aber im größten Teil von Rowleys Untersuchungsgebiet) ist in der gesprochenen Sprache vielleicht nicht unbedingt nötig, da sich das Problem auf wenige Kontexte (Objektstellung) beschränkt, in denen die Numerusinformation immer noch unabhängig von morphologischen Mitteln signalisiert werden kann, wenn sie unbedingt notwendig ist. Vor dem Hintergrund dieser Gedanken erscheint es als fragwürdig, ob optimale semiotische Kodierung (vgl. die Natürlichkeitsmorphologie) oder obligatorisch nah am Kernwort stehende Kategorienmarker (vgl. das Relevanzprinzip) wirklich in jedem Kontext vonnöten sind. Sprachnutzer gehen – insbesondere in der gesprochenen Sprache und in wenig von Normierungsprozessen betroffenen Varietäten – möglicherweise pragmatisch vor und entscheiden je nach Kontext, ob und wie eine Information wie Numerus kodiert werden muss, wenn diese nicht obligatorisch in der Morphosyntax ausgedrückt wird. An dieser Stelle fordern die dialektalen Daten zur weiteren Überprüfung und Fortentwicklung der Theorien auf, wozu jedoch auch weitere Datenanalysen zur Dialektpragmatik nötig sind. Daten zur Dialektmorphologie werden häufig in Form von Befragungen erhoben, da so eine breite systematische Einsicht in das morphologische System des Dialekts gewährleistet werden kann. Um den oben entwickelten Gedankengang weiterzuverfolgen und festzustellen, ob und ggf. wie in der sprachlichen Performanz die relevante Numerusinformation auf anderen Wegen abgesichert wird als durch morphosyntaktische Markierung, sind Beobachtungen bei Performanzdaten notwendig, die an dieser Stelle lediglich angeregt werden können. Die Überlegungen zeigen jedoch, dass die Anwendung von Theorien auf dialektale Daten zur Formulierung neuer Fragen für die morphologische Sprachwandeltheorie führen kann.
Literatur Beyer, Ernest (1963): La flexion du groupe nominal en Alsacien. Etude descriptive et historique avec 60 cartes. Paris: Les belles lettres. Bittner, Dagmar (1987): Die sogenannten schwachen Maskulina des Deutschen – ihre besondere Stellung im nhd. Deklinationsklassensystem. In: Wurzel, Wolfgang U. (Hrsg.): Studien zur Morphologie und Phonologie II. Berlin: Akademie der Wissenschaften, 33‒53. || 21 Rowley (1997: 158‒160) weist darauf hin, dass in den bairischen Varietäten im südlichen Teil des Untersuchungsgebiets die Nutzung des zusätzlichen Nasalmarkers insbesondere in Objektposition bei Feminina mit n-Erweiterung im Nom. Sg. zur Absicherung der Pluralinformation eintritt, vgl. hierzu auch Steiniger (1994: 124).
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Wolfgang U. Dressler, Katharina Korecky-Kröll, Anastasia Christofidou und Karlheinz Mörth
Genus und Deklination im Deutschen und Griechischen im System und im Erstspracherwerb: eine kontrastive Untersuchung 1 Einleitung Ausgehend von den bahnbrechenden Untersuchungen von Köpcke (1982), Köpcke/ Zubin (1984, 1996, 2005), Zubin/Köpcke (1996, 2009) zum Genus im Deutschen und zu seinem Einfluss auf die Flexion wollen wir die Rolle des neugriechischen Genus kontrastiv vergleichen. Worin Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen beiden Sprachen in Einzelprinzipien liegen und welche Auswirkungen sie auf Mikrodiachronie, Fremdwortadaptation und besonders auf den frühen Erstspracherwerb haben, sind Hauptthemen dieses Beitrags. Damit hoffen wir einen Beitrag zur Frage zu leisten, welche Genuszuweisungsprinzipien im gegenwärtigen Deutsch produktiv sind. Denn einfach die Distributionen im heutigen Wortschatz zu untersuchen, greift angesichts der starken, oft idiosynkratischen Konventionalität und langlebigen Konservativität des jeweiligen Genus eines Wortes zu kurz: Produktivität grammatischer Prinzipien zeigt sich u.E. auch hier am klarsten in rezenten Veränderungen lexikalischer Genuszuweisung, bei der Adaptation des Genus von Fremdwörtern, besonders wenn das deutsche Genus vom Genus der Gebersprache abweicht, und beim Erstspracherwerb.
2 Deutsch vs. Griechisch Das heutige Deutsche und Griechische zeigen in der Deklination viele Gemeinsamkeiten: Beide sind Genussprachen, die die drei ererbten indogermanischen Genera bewahrt haben, wobei die Deklinationen von maskulinen und neutralen Substantiva einander ähnlicher sind als die Deklination von Feminina. In beiden Sprachen spielt die Genuskongruenz eine wichtige Rolle in der Nominalphrase, d.h. Ronneberger-Sibolds (2010) Charakterisierung des deutschen Klammerungsverfahrens gilt im Wesentlichen auch für das Griechische. Beides sind Artikelsprachen mit schwach flektierend-fusionaler Deklination, wobei in beiden Sprachen die Markierung des Kasussystems im Rückgang begriffen ist, sowohl bei den Artikeln, noch stärker aber bei der Markierung am Substantiv und im Deutschen am Adjektiv (vgl. Jobin 2011).
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Nichtsdestoweniger bewahren beide Sprachen aber ein komplexes hierarchisches System der Deklinationsklassenbildung, bei dem die Phonologie des rechten Wortrandes und das Genus die Hauptrollen spielen. Im Gegensatz zu Corbett (1991, 2000) und Corbett/Fraser (2000) gehen wir, ebenso wie für andere indogermanische Sprachen (vgl. Wurzel 1984, Dressler/Thornton 1996, Bittner 1991/2003, 2000, Doleschal 2000, 2004, Kürschner/Nübling 2011, Ravid et al. 2008, Werner 2012: 207, Luraghi/ Olita 2006), davon aus, dass das Genus die Deklinationsklassenbildung kodeterminiert (für Griechisch, Christofidou 2003) und nicht umgekehrt prinzipiell das Genus aus der Deklinationsklassenzugehörigkeit ableitbar ist (für Griechisch, Ralli 2003, 2005, Varlokosta 2011). Neuhochdeutsch (in allen seinen nationalen Standards) und Neugriechisch unterscheiden sich aber stark im Grad der Determination der Deklinationsklasse durch das Genus. Während im deutschen Plural die Genusmarkierung neutralisiert ist, obwohl das Genus für die Selektion der Pluralmarker wichtig ist, sind im Griechischen Genusunterschiede im Plural wie im Singular erhalten. Sogar bei den Formen der definiten und indefiniten Artikel gibt es im Griechischen zum Unterschied vom Deutschen in beiden Numeri fast keine Genusneutralisation. Weiters kongruiert das deutsche prädikative Adjektiv nicht mit dem Subjekt, das griechische nach wie vor in Genus und Numerus. Schon im Altgriechischen bestimmt das Genus stärker die Deklinationsklasse von Substantiva als im nah verwandten Lateinischen. So deklinieren im Lateinischen mask. nauta ‚Schiffer‘ und poeta ‚Dichter‘ exakt wie fem. femina ‚Frau‘, und erst im Italienischen tritt eine genusbedingte Differenzierung der Deklination ein, wie im Beispiel mask., fem. l’autista ‚der/die Autofahrer(in)‘, Pl. mask. gli autist-i vs. fem. le autist-e, während die altgriechischen Ursprungswörter von Lat. nauta, poeta, nämlich mask. ho naúte:-s, ho poie:té:-s, Gen. -ou einer anderen Mikroklasse angehören als fem. he: tékhne:, Gen. -e:-s ‚die Kunst‘. Dieser Unterschied zwischen Latein und Griechisch hängt sicherlich damit zusammen, dass bereits Altgriechisch eine Artikelsprache war, während diese typologische Entfernung vom Idealtyp einer flektierend-fusionalen Sprache noch nicht im Lateinischen, sondern erst in den romanischen Sprachen eingetreten ist. Der altgriechische schematische Unterschied zwischen den beiden Kennformen Nominativ und Genitiv Singular des Typs fem. Nom.Sg. -V, Gen. -V-s vs. mask. Nom.Sg. -V-s, Gen. -V hat sich, wie zuerst Seiler (1958) gezeigt hat, zum Neugriechischen so weit ausgebreitet, dass er das wichtigste Merkmal der femininen gegenüber der maskulinen Makroklasse geworden ist. So deklinieren im Altgriechischen ‚Mutter‘ und ‚Vater‘, he: mê:te:r, ho paté:r bis auf die Akzentuierung gleich (Gen.Sg. tê:s me:tr-ós, toû patr-ós), während die neugriechischen Entsprechungen den zwei unterschiedlichen Makroklassen angehören: fem. i mitéra, tis mitéra-s vs. mask. o patéra-s, tu patéra. Dabei bleibt der Stammvokal a/i/u prototypisch im Singular gleich, nicht so in der mäßig produktiven mask. Mikroklasse von o nómos, tu nómu
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‚das Gesetz‘. In dieser Mikroklasse gibt es im Standard nach wie vor exzeptionelle Feminina (vgl. Christofidou 2003). Schließlich geht in beiden Sprachen die Markierung des Genitivs am Substantiv zurück und wird teilweise durch Präpositionalausdrücke ersetzt (mit NGr. apó = D. von), aber bezüglich des Genus in unterschiedlicher Form. Während das deutsche Genitivsuffix -s begonnen hat sich (wie weiter fortgeschritten im Dänischen und besonders Englischen) zu einem genusneutralen Possessivmarker zu entwickeln, etwa in Maria-s/Mutter-s Haus, ergibt sich im Neugriechischen durch den Rückgang des Genitivs keine Genusneutralisation.
3 Fremdwortadaption im Deutschen Als externe Evidenz zur Stellung des Genus in den heutigen Sprachsystemen wenden wir uns zunächst der Genus- und Flexionsintegration von Fremdwörtern zu und gehen dabei für das Deutsche von Köpckes (1982) und Köpcke/Zubins (1984, 1996) Thesen aus. Als erste These behandeln wir die Präferenz für eine eindeutige Korrespondenz zwischen Genus und Sexus (welche aus der universellen Präferenz für Eineindeutigkeit folgt), zumindest für maskulines und feminines Genus, sowie als sekundäre und daher weniger starke Folge die Präferenz für eine Korrespondenz zwischen Unbelebtheit und neutralem Genus. Ersteres gilt z.B. für die Stewardess, Nurse (Gregor 1983: 61) mit dem Subdefault-en-Plural, der Accountant (generisches Maskulinum, Gregor 1983: 100), Referee m. (generisches Maskulinum, Gregor 1983: 105) und Clerk (Gregor 1983: 154) mit -s-Plural. Unbelebte Neutra sind hingegen das Fax, Hand-out, Make-up, Pamphlet, Ticket, … Interessant ist der Gegensatz (Gregor 1983: 132‒133) zwischen der Gangster, der Youngster und das Monster, bei dem der Sexus ausgeblendet wird und eine pejorative Bedeutung vorliegt. Hier ist zu vermerken, dass Krifka (2009: 156) darauf hingewiesen hat, dass im Korpus von Ruoff (1981) von belebten Substantiven 69 % maskulin, 16 % feminin und nur 9 % neutral sind. Das Prinzip der Genuszuweisung nach dem Sexus, das sich für MASC und FEM viel stärker auswirken muss als für NEUT, ist ein oft hervorgehobenes Prinzip, welches sich mit der Animiertheitsskala verbindet (rezent in Corbett/Fraser 2000, Dahl 2000). Nesset (2006: 1384) möchte semantische Prioritätsprinzipien auf den biologischen Sexus beschränken, was u.E. aber Probleme für den Erstspracherwerb aufwirft (s.u.). Ein phonologisches Prinzip der Genuszuweisung ist die Tendenz von Einsilblern, maskulin zu sein (Köpcke 1982: 45). Dieses zeigt sich bei der Burst, Job, Kick, Sketch, Song, Spot, usw. (Gregor 1983: 61, 141). Allerdings rivalisiert dieses Prinzip mit dem Prinzip, Unbelebtem neutrales Genus zuzuweisen. Diese Rivalität kann aber auch zur Unterscheidung von Homonymen und Homographen dienen, so das
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Raid (< redundant array of independent disks) vs. der Raid, der noch dazu von aggressiven Männern veranstaltet wird. Da es im Neugriechischen kaum einsilbige Substantiva gibt und Substantiva immer einen Stammvokal und im default genusdeterminierte Flexionsendungen haben, kann es keine korrespondierende Tendenz im Neugriechischen geben. Ein anderes phonologisches Prinzip der Genus- und Deklinationszuweisungen im Deutschen betrifft den e-Schwa-Auslaut als default-Prädiktor des femininen Genus (Wegener 1995: 89) und der entsprechenden Mikroklasse, was allerdings, wie Dressler (2003) gezeigt hat, nur für unbelebte Begriffe gilt. So wurden und werden unbelebte französische Fremdwörter, die auf -e muet enden, im Deutschen zu Feminina, z.B. le groupe, l’équipe, le bel étage > die Gruppe, Equipe, Belletage (sogar mit Änderung der Adjektivkongruenz!). Analog aus dem Englischen die Jute, Folklore (Gregor 1983: 102). Menschen und Tiere behalten hingegen ihr maskulines Genus, z.B. der Hottentotte, der Coyote (mit schwacher Deklination), zu hierher passenden innerdeutschen diachronen Entwicklungen vgl. Köpcke (2000), Kürschner/Nübling (2011). Das von Köpcke/Zubin (1984) aufgestellte Subkategorisierungsprinzip und das analog von Heide Wegener (1995) aufgestellte Leitwortprinzip, d.h. die Präferenz, dass Unterbegriffe ihr Genus von dem dominierenden Basisbegriff erhalten, bewährt sich z.B. bei das Ding(h)i (< Boot/Schiff), bei den Tänzen der Charleston, Rock, Boogie-Woogie (trotz des Diminutivsuffixes -ie), Jive, Samba, Tango, usw. (Gregor 1983: 153), bei den Kartenspielen das Bridge, Canasta, Rummy. Dieses Leitwort- oder Subkategorisierungsprinzip ist jedenfalls erklärungsadäquater als Motschs (1981) Konzept der Oberflächenanalogie, welches davon ausgeht, dass ein neues Wort nach dem genauen Vorbild eines einzigen Wortes neu gebildet wird, in unserem Fall sein Genus erhält. Das Leitwortprinzip wirkt aber nur als Oberflächenanalogie höchstens bei den ersten Unterbegriffen, welche genau nach dem Leitwort ihr Genus erhalten. Sowie es aber bereits eine Gruppe von genusidentischen Unterbegriffen gibt, formen sie zusammen mit dem Leitwort ein kompaktes Wortfeld oder genauer eine semantische Familie, die analog zu dem family size Effekt (Baayen et al. 2002, Krott et al. 2004) Neubildungen beeinflusst. D.h. dann kann man nicht mehr von einer Oberflächenanalogie sprechen. Dieses semantische Familienprinzip ähnelt dem von Zubin/Köpcke (2009) postulierten pragmatischen Projektionsprinzip, das gesamte Wortfelder als Modell heranzieht, auch wenn das übergeordnete Hyperonym ein anderes Genus hat, so bei das Schiff/Boot gegenüber den durchwegs femininen deutschen Schiffsnamen. Wir finden aber in den von uns diskutierten Fällen kein einheitliches Genus für ein gesamtes Wortfeld, sondern eine Rivalität von genuscharakterisierten Familien, und bei Schiffsnamen ist zusätzlich zu beachten, dass onomastische Morphologie von der Morphologie von Wörtern zu trennen ist, denn bei diesen finden wir ein heterogenes Bild: der Nachen, Kahn, Einbaum, Dampfer, Frachter, Schlepper, Kajak, Pott, Kreuzer, Zerstörer, Flugzeugträger; die Fähre, Yacht, Zille, Barke, Barkasse, Schalup-
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pe, Gondel, Fregatte, Korvette; das Kanu, Traundl. Bei vielen, aber weit entfernt von allen Bestandteilen dieses Wortfelds bestimmt das Suffix oder die Endung das Genus. Dass die Oberbegriffe Schiff/Boot neutral sind, passt zu dem Prinzip, dass deutsche Oberbegriffe generell dazu tendieren, neutral zu sein (Steinmetz 1986, 2006, Nesset 2006: 1375). Diese Prinzipien haben aber bedeutende Überlappungsbereiche, die zu einer Rivalisierung zwischen ihnen führen, wie wir an ausgewählten Beispielen mit korpuslinguistischen Mitteln zeigen wollen. Dabei haben wir nicht den Ehrgeiz, eine generelle Hierarchie der deutschen Genuszuweisung aufzustellen (vgl. die Diskussion in Nesset 2006), verweisen aber 1) auf die in der Einleitung hervorgehobene Konventionalität und Konservativität des Wortschatzes, 2) darauf, dass uns eine an die Optimalitätstheorie gemahnende Abzählung, wie viele Prinzipien für und gegen eine bestimmte Genuszuweisung sprechen (vgl. das Konzept von gender tally bzw. Regelzählung in Steinmetz 1986, 2006, Doleschal 2000, Nesset 2006), zu mechanistisch scheint1, denn es kommt auf die Gewichtung der Prinzipien an, 3) darauf, dass es uns zu simplifikatorisch erscheint, für Deutsch eine generelle Präzedenzhierarchie MASC > FEM > NEUT aufzustellen (so Steinmetz 1986, 2006, Nesset 2006), denn solche Präzedenzhierarchien mögen für je ein Wortfeld gelten, während die globale Typenfrequenz (besser: Lemmafrequenz) im Gesamtwortschatz wenig bedeutsam erscheint (noch dazu mit den Zusatzfrage, wie und was denn genau zu zählen ist), außer im Fall einer extremen Frequenz oder Infrequenz eines Genus, was im Deutschen nicht der Fall ist.
4 Rivalität von Prinzipien der Genuszuweisung: Variation im Deutschen Beispiele für Rivalität von Prinzipien der Genuszuweisung lassen sich an GoogleTokens zeigen. Bei der Abkürzung das/die SMS finden sich 351.000 : 1.190.000. Das Subkategorisierungsprinzip ist hier klarerweise wichtiger (nach die Nachricht) als die Zuweisung von neutralem Genus an Unbelebtes. Ganz anders bei der/das Blog (< web log): 2.040.00 : 1.030.00. Hier überwiegt die Zuweisung von maskulinem Genus an Einsilbler über das Unbelebtheitsprinzip. Bei der Integration von Fremdwörtern ist aber auch die Zeitperspektive zu beachten. So ist nach dem Ausweis von Googlebooks das Wort Event zunächst fast nur
|| 1 Dabei müssen aber Fehler vermieden werden, wie etwa in Nessets (2006: 1375) Fehler, auf das deutsche Wort Gemüse das Prinzip anzuwenden, dass im Deutschen Wörter mit ge-Präfix neutral sind. Wir können auch der Klassifizierung vieler Sprachen als ‚neuter-default languages‘ durch Steinmetz (2006) nicht folgen.
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maskulin, in den 90er Jahren aber auch Neutrum, wobei ab 1992 ein paralleler steiler Anstieg der Tokens, allerdings mit nur einem starken Übergewicht des Maskulinums festzustellen ist. Diese Entwicklung erweckt den Anschein, als ob Event erst bei einer stärkeren Verwendung das Leitwort das Ereignis gefunden hätte. Alt ist die Konkurrenz zwischen der/das Pyjama: während in den 80er Jahren das Maskulinum überwiegt, nimmt in den Googlebooks ab 1994 das Neutrum zu. Hat erst dann das Leitwort das Nachtgewand an Bedeutung gewonnen? Vielleicht liegt hier auch ein Einfluss von das Nachthemd vor. Unerklärt bleibt für uns bisher die Entwicklung der Genus-Tokens der folgenden zwei Fremdwörter in Googlebooks: Das/der Radar war bis zu Beginn der 90er Jahre gleich stark, dann überwiegt das Neutrum. Ketchup war zunächst nur Neutrum (weil ein Einsilbler plus Partikel?), ab 1988 auch Maskulinum, welches ab 1996 überwiegt. Der Oregano hat 16.300 Google-Tokens, den Oregano 90.900 (nach It. oregano?), das Oregano nur 20.100 (weil das griechische neutrale Etymon oregano(n) weiter zurückliegt?). Dornseiff (1959: 137) gibt als Leitwort das Gewürz an, wobei man auch einen semantischen Familieneffekt von das Salz, Basilikum, Sacharin und von fünf weiteren Gewürzen annehmen kann, aber 24 Gewürze sind maskulin: der Senf, Pfeffer, Dill, Schnitt/Knoblauch, usw. Dieser Familieneffekt scheint ab den Neunzigerjahren auch das Maskulinum bei Ketchup zu stimulieren. Die Schwierigkeit korpuslinguistischer Untersuchungen erhellt am Beispiel die/das Email. Da es in der elektronischen Korpussuche vom alten Stoffnamen das Email (vgl. die Emaille) nicht zu unterscheiden ist, kann man nur eindeutige Kollokationen absuchen, z.B. in Google das Email geschickt (18.300) vs. die Email geschickt (492.000), was ein Verhältnis 1 : 28 für das feminine Genus ergibt, offenbar nach dem Leitwort Nachricht (E. message). Für eine diachrone Analyse ist das bearbeitbare Material in unseren Quellen aber zu dürftig. Nichtsdestoweniger ist der Vergleich mit der häufigeren Kollokation das/die Mail ist (306.000 vs. 1.600.000), was nur ein Verhältnis 1:6 für das Femininum ergibt, unerwartet: Ist also das Prinzip Unbelebtem das neutrale Genus zuzuweisen bei Einsilblern stärker. Hier gibt es auch regionale Unterschiede: Bei Mail ist das Femininum häufiger in Deutschland (1.030.000 vs. 186.000) als in Österreich (49.200: 19.400).
5 Fremdwortadaption im Griechischen Für die belebten Substantiva spielt der Sexus bei der Genuszuweisung im Griechischen die wichtigste Rolle, z.B. jápis m. (1F die Kinzig, die Mosel; produktiv
1 N Freiburg, Mainz, New York, Paris…; produktiv
2 M der Schauinsland > +F die Rigi, die Annapurna
1 M? der K2, der Mount Everest, der Rigi, der Annapurna…; produktiv!
BergN
3
das Matterhorn der Feldberg die Zugspitze
>
Erklärung: app./APP: appellativ/Appellativ; * Klinge geht auf ahd. klinco, mhd. klinge ‚Gebirgsbach‘ zurück. Abb. 2: Entwicklungen onymischer Genera: Referentielle Zuweisung, Reduktion auf einheitliches Genus (nach Fahlbusch/Nübling 2014)
Die rechte Spalte in Tab. 1 macht außerdem deutlich, dass die Mehrzahl der Namenklassen einen festen Definitartikel mit sich führt. Vor allem die neutralen (!) Länder-, Kontinent- und Städtenamen sind artikellos. Die wenigen Ländernamen, die nicht neutral sind, benötigen dagegen den Artikel: der Jemen, die Schweiz, die Türkei, die Ukraine. Im Zuge des Artikelabbaus mutieren sie zu Neutra (der/das Kosovo > Kosovo (n.), der Iran > Iran (n.)).3 Das Neutrum ist nur dann erkennbar, wenn ein Attribut oder ein Relativsatz hinzutreten:
|| 3 Anders bei Thieroff (2000), der vermutet, dass sie Maskulina bleiben und – gegen die bisherige Regel – dabei ihren Artikel ablegen. Die Fakten sprechen jedoch dagegen: Sie werden zu Neutra umklassifiziert.
112 | Fabian Fahlbusch und Damaris Nübling
(3) Er wollte ein mächtiges Iran, aber das wollten die anderen nicht.4 (4) Lasst uns mit den Iranern vereinen und sie bei ihrer Protestbewegung unterstützen, für ein friedliches Iran, Demokratie und Menschenrechte!5 (5) Ein Iran, das diesen Kurs steuert, ist brandgefährlich […].6 (6) Ein Iran, das in den Besitz nuklearer Waffen gelangt sei, stelle die größte Gefahr für den Weltfrieden dar.7 Köpcke/Zubin (2005) gehen so weit, solche Ländernamen als genuslose Nomina anzusehen, denen nur im Fall syntaktischer Erweiterung durch ein Attribut ein Genus als Kongruenzmerkmal zugewiesen werden müsse (Ich besuche Polen vs. Ich besuche das schöne Polen). Dieses Argument wird jedoch nur anhand der wenigen artikellosen Eigennamenklassen wie den Städte- und Ländernamen diskutiert: „Im Prinzip sind Namen für Städte und Länder genuslos, da sie kein lemmaspezifisches Genus aufweisen“ (Köpcke/Zubin 2005: 119). Doch befinden sich, wie Tab. 1 zeigt, die Namenklassen, in denen „Genus syntaktisch notwendig wird“ (Köpcke/Zubin 2005: 119), in der Minderheit, die meisten machen Genus auf dem Artikel overt (oder, wie im Fall der Rufnamen, sogar auf ihrem Namenkörper). Ihnen kein eigenes Genus zuzuschreiben, halten wir für verfehlt. Mengenbezeichnungen wie Milch, Wasser oder Abstrakta wie Trauer treten ebenfalls meist ohne Artikel auf und sind dennoch genushaltig. Es gibt keinen Grund, Namen ihr Genus abzuerkennen – auch wenn es ihnen „nur“ referentiell zugewiesen wird. Mit Blick auf Tab. 1 ist als Tendenz festzuhalten: Nichtneutrale Eigennamen führen einen festen Artikel (die Landshut, der Opel Zafira, der Rhein, die Titanic, die Yamaha) (s. eingehend zum Komplex Genus und Artikelführung Nübling 2015b). Die Autonamen, um die es im Folgenden gehen wird, haben die Genusfixierung auf das Maskulinum bereits durchgeführt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, wie die Corvette, die Isetta oder das Goggomobil. Köpcke/Zubin (2005) analysieren Autonamen als kopflose NPs, ausgehend von der Beobachtung, dass solche Namen zwar bis zu fünf Glieder umfassen können, doch kein einziges davon (auch nicht das letzte) die Genuszuweisung leistet: der VW Golf Variant 1,8 Family; der Mercedes A 160 CDI Classic. Weder Family noch Classic sind Maskulina. Bei diesen Namenbestandteilen handelt es sich um Informationen zu Motorleistung und Ausstattung. Manchmal sind es nur Zahlen, Adjektive oder Phantasiewörter und oft sogar fremde, feldexterne Lexeme wie (feminines) Ambition, Avantgarde, Fiesta oder (neutrales) Omega, Polo, Turnier. Diese bringen ihr Ausgangsgenus nicht ein, sondern dieses
|| 4 http://iran-now.net/forum/viewtopic.php?p=2154966, Hervorhebung von uns (20.01.2013). 5 http://iran-now.net/forum/viewtopic.php?p=2315686, Hervorhebung von uns (20.01.2013). 6 www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1252785, Hervorhebung von uns (20.01.2013). 7 http://m.faz.net/aktuell/politik/un-vollversammlung-netanjahu-warnt-vor-atomar-bewaff netemiran-11906479.html, Hervorhebung von uns (20.01.2013).
Genus unter Kontrolle | 113
wird, sobald die Lexeme Eingang in den Autonamenkomplex finden, gelöscht und via ‚pragmatischer Projektion‘ durch das feldinterne maskuline Autonamen-Genus ersetzt. Es handelt sich also um ein produktives Genus, das auch dann zugewiesen wird, wenn die komplexe Autobezeichnung auf ein beliebiges Fragment reduziert ist: der Family, der A 160, der Ambition. Die NP enthält somit niemals einen syntaktischen Kopf. Unklar bleibt folglich, woher das maskuline Default-Genus stammt.
3 Der Corsa, der Mercedes – Woher stammt das Maskulinum bei Autonamen? Synchron fällt eine Antwort auf diese Frage relativ schwer, da das neutrale Genus des Oberbegriffs Auto nicht zum Maskulinum der entsprechenden WagenN (der Astra, der Polo, der TT etc.) passt. Gegen die Annahme einer Ellipse mit dem (getilgten) Kopf Wagen argumentieren Köpcke/Zubin (2005: 107): Wer glaubt, so die maskuline Klassifikation der Autobenennungen erklären zu können, muss sich aber die Frage gefallen lassen, warum der Sprecher Wagen als getilgten Kopf gewählt haben soll und nicht Auto. Schließlich verweisen beide Lexeme auf den gleichen außersprachlichen Gegenstand. Genaugenommen ist sogar im taxonomischen Sinne Auto der Oberbegriff des Feldes der Autobezeichnungen und nicht Wagen.
Aus diesem Dilemma hilft einzig die diachrone Perspektive heraus. Durch sie aber ist das Rätsel schnell gelöst.
3.1 Begriffs- und Technikgeschichte: (Motor)wagen vs. Auto(mobil) 1886 gilt als das Geburtsjahr des Automobils.8 Fast zeitgleich präsentieren Carl Benz und Gottlieb Daimler unabhängig voneinander ihre bahnbrechende Erfindung. Benz lässt sie sich am 29. Januar als Fahrzeug mit Gasmotorenbetrieb patentieren.9 Zwei Jahre später wird der Patent-Motorwagen, wie er nun offiziell heißt, auf der ‚Kraftund Arbeitsmaschinen-Ausstellung‘ in München gezeigt. Der erste Verkaufsprospekt preist den „Patent-Motorwagen mit abnehmbarem Halbverdeck und Spritzleder“ an, der ein „vollständiger Ersatz für Wagen mit Pferden“ sei, wodurch sich der Besitzer „den Kutscher, die theure Ausstattung, Wartung und Unterhaltung der
|| 8 Zur Geschichte des Automobils vgl. Möser (2002) sowie Matteucci/von Frankenberg/Neubauer (1995). 9 Abdruck in Fridericiana (38/1986: 3‒6).
114 | Fabian Fahlbusch und Damaris Nübling
Pferde“ spare.10 Auf der Pariser Weltausstellung 1889 stellt dann auch Daimler seinen neu entwickelten Stahlradwagen vor. Nach einem knappen Jahrzehnt ist das Produktionsprogramm der Daimler-Motoren-Gesellschaft 1897 mit dem DaimlerVictoria-Wagen, dem Daimler-Geschäftswagen, dem Daimler-Lastwagen etc. schon deutlich angewachsen (vgl. Feldenkirchen 2003: 51). Noch vor der Jahrhundertwende erscheint 1898 in Deutschland mit ‚Der Motorwagen‘ die erste Fachzeitschrift, und im September des Folgejahres veranstaltet der ‚Mitteleuropäische Motorwagen-Verein‘ die ‚Internationale Motorwagen-Ausstellung‘ in Berlin (heute: ‚Internationale Automobil-Ausstellung‘). Dennoch bleibt der neuen Erfindung der durchschlagende Erfolg in Deutschland zunächst versagt. Ganz anders in Frankreich, wo Unternehmer das wirtschaftliche Potential sowie die Bedeutung des Motorwagens schnell erkennen und ihn professionell bewerben – mit Schauräumen, Autosalons, Wettrennen, Schönheitswahlen etc. Das neue Fortbewegungsmittel wird gezielt als „‚Lifestyle-Symbol‘, als Attribut der Reichen, Schönen, Trendsetter und vor allem auch der Frauen inszeniert“ (Möser 2002: 29) sowie zum luxuriösen, modernen Konsumartikel stilisiert, was zu hohen Absatzzahlen und in der Folge auch zu einer technischen Vorherrschaft der Franzosen führt (vgl. Möser 2002: 28‒32). Demgegenüber beklagt Benz in seiner Autobiographie das mangelnde Interesse sowie die ablehnende Haltung seiner deutschen Mitbürger/innen: Wie die Kleidermode, so beherrschte Paris lange Zeit auch die Automobilmode und den Automobilmarkt. […] Woher kommt diese rasche mengenmäßige Überlegenheit Frankreichs gegenüber dem Heimat- und Vaterlande des Automobils? Es war einzig und allein die grundverschiedene Art, wie die neue Idee in Frankreich aufgenommen und ausgewertet wurde. Da gab's keine abwägende Geringschätzung, keine kühle Verneinung! Beherrscht und hingerissen von der Zukunftsmacht des neuen Ideals, griffen französische Konstrukteure und Techniker mit dem auflodernden Feuer romanischer Begeisterung den deutschen Wagen auf. Dabei war es nicht nur die ideelle Begeisterung, die das Feuer schürte, sondern es war das machtvoll und bedingungslos mobilisierte Großkapital Frankreichs, das die Flammen in die Höhe und in die Breite schießen ließ. (Benz 1925: 112‒113)
Tatsächlich verhelfen erst die technische Weiterentwicklung, geschickte Vermarktung und kulturelle Aufladung des Motorwagens in Frankreich dem jungen Fahrzeug zu dessen weltweitem Siegeszug (vgl. Möser 2002: 33). Von unserem Nachbarland gehen aber nicht nur die maßgeblichen Impulse der frühen Motorisierung aus. Auch das Wort Automobil stammt dorther. Als neoklassische Zusammensetzung aus griech. autós ‚selbst‘ und lat. mōbilis ‚beweglich‘ bezieht sich das französische Adjektiv automobile zunächst allgemein auf Fahrzeuge, die nicht von Pferden gezogen werden. Seit 1875 meint voiture automobile eine auf Schienen fahrende, mit Pressluft betriebene Straßenbahn. Erst Mitte der 1890er Jahre setzt sich der Ausdruck als || 10 Abdruck in Fridericiana (38/1986: 43‒44).
Genus unter Kontrolle | 115
Bezeichnung für das ‚von einem Motor angetriebene, vierrädrige Straßenfahrzeug zur individuellen Beförderung einer geringen Anzahl von Personen‘ durch. In der Folge erscheint zunehmend die einfache Form automobile als Substantiv. Heute ist sie feminin, bis 1920 verwenden manche SprecherInnen auch noch das Maskulinum. Die Ende des 19. Jahrhunderts aufgekommene Kurzform Auto weist anfangs sogar überwiegend maskulines Genus auf. Um die Jahrhundertwende wird das Kompositum als Adjektiv wie auch als Substantiv ins Deutsche entlehnt, zu Beginn des 20. Jahrhunderts kommt bei uns das Kopfwort Auto auf (vgl. Deutsches Fremdwörterbuch 2: 543‒544, 588‒589, Grand Robert 2001: 1025, 1040‒1041, Kluge/Seebold 2011: 78, Lerch 1939/40, Pfeifer 2005: 81).11 Mit Hilfe der Einträge in den beiden großen deutschen Enzyklopädien Meyers und Brockhaus lässt sich das Aufkommen von Automobil bzw. die Konkurrenzsituation zu Motorwagen und Kraftwagen relativ präzise rekonstruieren und datieren. Abb. 3 illustriert eindrucksvoll, dass die Durchsetzung des heute standardmäßig gebrauchten Ausdrucks Auto(mobil) keineswegs so rasch und einsträngig verlief, wie es die konsultierten etymologischen Wörterbücher (vgl. Kap. 4.1) glauben machen. Ganze 25 Jahre nach Erteilung des Patents erwähnt Brockhaus’ KonversationsLexikon in seiner 14. Auflage zum ersten Mal die wegweisende Erfindung von Carl Benz. Allerdings verweist das Stichwort Motorwagen noch auf den umfangreicheren Eintrag Wagen, der allerdings nur einen Satz auf die neue Antriebsart verwendet: „In neuester Zeit hat man Motorwagen […] konstruiert, um die Zugtiere entbehrlich zu machen.“ Im Supplement-Band aus dem Jahre 1897 wird das junge Fahrzeug ausführlicher gewürdigt. Jetzt taucht auch Automobil auf, allerdings zunächst adjektivisch gebraucht in der Wendung automobiler Wagen, ein Jahr später in Meyers Konversations-Lexikon im Plural Automobilen (vgl. Kap. 4.2). Während die immer ausführlicher werdenden Erläuterungen ab jetzt stets unter dem Haupteintrag Motorwagen zu finden sind, wechseln sich in der Folgezeit die Stichworte automobile Fahrzeuge, automobile Wagen und Automobil(e) ab. 1911 bildet das französische Lehnwort in Brockhaus‘ Kleinem Konversations-Lexikon zum ersten Mal den Haupteintrag, und auch die Kurzform Auto wird aufgelistet. In den 1920er- und frühen 1930er-Jahren macht dann Kraftwagen für kurze Zeit das Rennen, Der Große Brockhaus schreibt zu Automobil sogar „früher allgemeinübliche Bezeichnung für […] Kraftwagen“ [Hervorhebung von uns]. 1936 hat sich aber endgültig die Kurzform Auto durchgesetzt, Motorwagen erscheint gar nicht mehr als Stichwort.
|| 11 Zur Übernahme von automobile ins amerikanische Englisch vgl. Lipski (1964).
116 | Fabian Fahlbusch und Damaris Nübling
Jahr
Brockhaus
Haupteintrag
1894– 1896
−
−
Motorwagen, Wagen
Wagen
1897
automobiler − Wagen
Motorwagen
Motorwagen
1898
automobile Fahrzeuge
−
Motorwagen, Wagen
Wagen/ Motorwagen
1901– 1903
automobile Wagen, Automobile
Kraftwagen
Motorwagen
Motorwagen
1903– 1906
1908
Motorwagen Automobil, Automobile
Kraftwagen
Motorwagen
1909 1911
Kraftwagen
Motorwagen
1924– 1928 1929– 1932 1936– 1939
Kraftwagen
Motorwagen
Motorwagen
Automobil
Kraftwagen
Motorwagen
Automobil
−
Motorwagen
Auto, Automobil
Kraftwagen
Motorwagen
Auto, Automobil
Kraftwagen
−
Automobil Kraftwagen
Auto, Automobil
Automobilen −
Motorwagen Motorwagen
Auto, Automobil
Meyers
Kraftwagen Auto
Abb. 3: Einträge Auto(mobil), Kraftwagen und Motorwagen in unterschiedlichen Ausgaben von Brockhaus’ Konversations-Lexikon sowie Meyers Konversations-Lexikon zwischen 1894 und 1939 (ohne Jahres-Supplemente). Der Haupteintrag, auf den die anderen Stichwörter jeweils verweisen, ist fett gedruckt.
In der Anzeigenwerbung hält sich (Motor)wagen inklusive Komposita allerdings noch deutlich länger. Der Katalog zur Ausstellung „Faszination Auto: Autowerbung von der Kaiserzeit bis heute“ vom Deutschen Werbemuseum (von Pelser/Scholze 1994) bildet ein hervorragendes Korpus für eine Untersuchung der Frequenzen von Wagen und Auto(mobil) sowie ihrer Zusammensetzungen in der Printwerbung der letzten Jahrzehnte. Tab. 2 dokumentiert, wann welcher Ausdruck überwiegt.
Genus unter Kontrolle | 117
Tab. 2: Tokenfrequenzen von Wagen und Auto (inklusive Komposita) jeweils in einer Anzeige (Daten nach: von Pelser/Scholze 1994) Jahrzehnt12
nur Wagen
Wagen und Auto(mobil)
nur Auto(mobil)
1880–89
1
−
−
1890–99
1
−
−
1900–09
5
−
3
1910–19
1
−
7
1920–29
10
3
2
1930–39
2
5
2
1950–59
6
4
2
1960–69
1
1
7
1970–79
2
3
5
1980–89
1
2
19
1990–94
2
5
20
Wagen
Wagen/ Auto(mobil)
Auto(mobil)
Sicher liegen gerade aus den Anfängen der Auto-Werbung mit nur einer geringen Anzahl überlieferter Anzeigen zu wenige Belege vor, um belastbare Aussagen treffen zu können. Dennoch stimmen die Ergebnisse genau mit der Auswertung der Lexikon-Einträge in Abb. 3 überein. Bis 1909 überwiegt nämlich auch hier Wagen. Zwischen 1910 und 1959 stehen beide Konkurrenten nahezu gleichberechtigt nebeneinander. Dazu passt auch, dass in den 1920er- sowie frühen 1930er-Jahren Kraftwagen plötzlich Haupteintrag in den Enzyklopädien wird. Erst 1960 beginnt in der Werbung schließlich die Dominanz von Auto(mobil), die bis heute anhält. Daraus kann man folgern, dass der Ausdruck Wagen in der Alltagssprache noch relativ lange etabliert war. Auch die Untersuchung der Werbesprache alter Mercedes BenzAnzeigen von Fährmann (2006: 67‒141) bestätigt diese Tendenzen. Eine weitere für die Wortgeschichte aufschlussreiche Textsorte bilden Presseberichte. Nail (1983: 31‒32) analysiert die Ausgaben der „Oberhessischen Zeitung“ aus Marburg/Lahn von 1866 bis 1966. Dabei stellt er fest, dass Wagen und Automobil ab 1900 als stilistische Varianten verwendet werden. 1913 erscheint dann erstmals die Kurzform Auto – als Einzelwort und als Bestandteil von Komposita (Autounfall, Autounglück, Autoverkehr). Nach dem Ersten Weltkrieg setzt sich Auto schließlich
|| 12 Aus den Jahren 1940 bis 1949 präsentiert der Katalog keine Anzeigen; vermutlich weil (fast) keine in dieser Zeit erschienen sind. Das letzte Jahrzehnt geht nur bis 1994, da die Ausstellung in diesem Jahr stattfand.
118 | Fabian Fahlbusch und Damaris Nübling
gegenüber seinen Konkurrenten durch. Insgesamt sind die Ergebnisse der drei Untersuchungen (Lexika, Anzeigen, Presse) vollkommen deckungsgleich. Somit ergibt sich aus den verschiedenen Perspektiven ein stimmiges Bild zur Etablierung des Begriffs Auto(mobil) im Deutschen.
3.2 Das Genus von Auto(mobil) Bei seiner Entlehnung ins Deutsche ist das Kompositum Automobil nach französischem Vorbild zunächst noch feminin. Vgl. dazu z.B. das Stichwort Automobilen im Plural in Meyers Konversationslexikon von 1898 (Tab. 1) sowie folgendes Zitat aus der Zeitschrift „Automobile“ vom 16.09.1899: Schritt für Schritt erobert sich das Motorfahrzeug in allen Staaten der civilisierten Welt mehr und mehr Terrain, und die Zeit dürfte nicht allzu fern sein, wo alle Vorurteile besiegt sind und die Automobile sich zur unumschränkten Herrschaft aufgeschwungen hat. (nach Möser 2002: 81, Hervorhebung von uns).
Unter dem Einfluss der Kurzform Auto geht aber auch das Kompositum bald in Analogie zu anderen Kurzwörtern fremden Ursprungs auf -o wie Piano (< Pianoforte) oder Kilo (< Kilogramm) zum Neutrum über (vgl. Pfeifer 2005: 81, Lerch 1939/40: 228‒229). Die Genus-Schwankung lässt sich gut anhand der Einträge in den verschiedenen Duden-Auflagen aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nachzeichnen:13 Tab. 3: Einträge für ‚Automobil‘ in verschiedenen Duden-Auflagen von 1900 bis 1934 Jahr
Neutrum
Femininum
1900, 1902
Automobil
Automobile
1905
Automobil
seltener: Automobile
1915, 1929
Automobil
−
Auto, Automobil
−
1934
Sind anfangs Neutrum und Femininum gleichberechtigt nebeneinander aufgeführt, wird Letzteres bereits 1905 als ‚seltener‘ eingestuft. Allerdings erlaubt der Rechtschreib-Duden noch eine Zeitlang beide Genera. In der 9. Auflage von 1915 entfällt der feminine Eintrag gänzlich. 1934 taucht dann das Kopfwort Auto zum ersten Mal auf.
|| 13 In der 5. Auflage von 1897 findet sich noch kein Eintrag für Auto(mobil), Kraftwagen oder Motorwagen.
Genus unter Kontrolle | 119
3.3 Auto(mobil) und Wagen heute Heutzutage ist Auto im Deutschen gut doppelt so häufig wie Wagen. Dennoch liest man den erbwörtlichen Ausdruck noch immer häufig im Alltag: So steht im Bus „Wagen hält“, für den Flughafen-Transfer weisen Reiseveranstalter den Preis pro Wagen aus und in der Presse liest man Überschriften wie „Mercedes neue M-Klasse: Großer Wagen, kleiner Verbrauch“.14 Die Langform Automobil spielt heute fast keine Rolle mehr. Sie hat sich „vom Bezug auf den konkreten Gegenstand eher entfernt“, dient oft als Bezeichnung für „offizielle, übergeordnete, historische Aspekte oder solche der Technik und Typik“ und wird „bevorzugt in eher pathetisch-archaisierender Redeweise verwendet“ (Deutsches Fremdwörterbuch 2:589). In Komposita sind die ehemaligen Konkurrenten heute nahezu komplementär distribuiert: Als Bestimmungswort hat sich Auto- durchgesetzt (Autobahn, Autokennzeichen, Autoreifen u.v.m.), als Grundwort hingegen dominiert -wagen (Dienstwagen, Gebrauchtwagen, Möbelwagen u.v.m.; vgl. Deutsches Fremdwörterbuch 2: 543‒544, 89). Die amtlich genutzten Begriffe (z.B. in der Straßenverkehrsordnung)15 Personenkraftwagen (Pkw), Kraftwagen und Kraftfahrzeug sind im Alltag nur von untergeordneter Bedeutung.16
3.4 Zusammenfassung: Herleitung des maskulinen Genus von Autonamen Nach dieser diachronen Recherche zur Begriffsgeschichte von Auto(mobil) vs. (Motor)wagen ist der eingangs zitierten rein synchronen Argumentation von Köpcke/Zubin (2005: 106) zu widersprechen: Es ist doch der Wagen, der für das maskuline Defaultgenus heutiger Autonamen sorgt, auch wenn er längst nicht mehr den relevanten Oberbegriff darstellt. Als 1886 aber das Automobil in Deutschland erfunden wird, existiert dieses Wort in unserer Sprache noch gar nicht. Stattdessen bezeichnet man Fahrzeuge aller Art als Wagen, und da liegt es auch für Carl Benz nahe, sein neues Gefährt nach der Antriebsart Motorwagen zu nennen. Dem PatentMotorwagen folgen viele weitere Modelle, stets mit dem appellativen Sockel -wagen im Namen. Daher rührt auch das maskuline Sockelgenus dieser ersten Autonamen. Bald steigt Frankreich zur führenden Automobilnation der Welt mit entsprechender Vorbildfunktion auf. Von dort wird dann nicht nur die weiterentwickelte Erfindung gewissermaßen nach Deutschland ‚reimportiert‘, sondern auch der Ausdruck, unter
|| 14 www.hna.de/magazin/auto-motorrad/grosser-wagen-kleiner-verbrauch-zr-1284262.html (20.01.2013). 15 Verfügbar unter www.gesetze-im-internet.de/stvo/index.html (20.01.2013). 16 Zu den Häufigkeiten der Wörter im Deutschen vgl. http://wortschatz.uni-leipzig.de (20.01.2013).
120 | Fabian Fahlbusch und Damaris Nübling
dem sie bei unseren Nachbarn ihren Durchbruch gefeiert hat: Automobil. Doch ist das Genus der entsprechenden Waren schon zu dieser Zeit bei uns eindeutig auf das Maskulinum festgelegt. Auch der bereits getilgte Sockel -wagen wird nicht durch den neuen Oberbegriff ersetzt, was im Einklang mit dem Befund steht, dass Auto eher als Bestimmungs- denn als Grundwort in Komposita fungiert. Die Autonamen beziehen also nach wie vor ihr maskulines Genus aus dem ursprünglichen appellativen Sockel -wagen. Seit dessen Wegfall liegt heute referentielles Genus vor. In Frankreich selbst ist das Wort auto(mobile) nicht mehr gebräuchlich. Heute gilt stattdessen gleichbedeutendes voiture. Dieser wie in Deutschland getilgte Sockel sorgt bei unseren Nachbarn also auch in seiner Eigenschaft als relevanter Oberbegriff für das entsprechende feminine Genus (frz. „La Renault Kangoo est une voiture solide, et c'est la raison pour laquelle nombre de personnes l'utilisent.“ vs. dt. „Der Renault Kangoo ist ein Auto, das zu jeder Situation des Lebens passt.“).17 Das Luxemburgische liegt genau im Spannungsfeld zwischen maskulinen Autonamen im Deutschen aufgrund von Wagen und femininen Autonamen im Französischen aufgrund von voiture: „Zwar dominiert klar das Maskulinum, doch je nach Automarke finden sich Anteile zwischen 80 % (eng Citroën) und 2 % (eng VW) für das Femininum“ (Gilles 2012). Nun scheint es so, dass sämtliche Autonamen im Luxemburgischen früher, bedingt durch das französische Vorbild, generell feminin klassifiziert wurden und seither zum anderen Pol, nämlich dem deutschen Modell wandern, von wo sie das maskuline Genus entlehnen. Heutzutage sind fast alle deutschen Automarken im Luxemburgischen Maskulina (en Audi), wohingegen die großen, teuren Fabrikate (noch) besonders hohe Anteile femininer Verwendung aufweisen (eng Rolls-Royce). Dies könnte sich auf frz. une limousine zurückführen lassen. Insgesamt stützen auch diese beiden Sprachen die These eines früheren Sockelgenus, das von der referentiellen Genuszuweisung abgelöst worden ist.
3.5 Stabilisierung der Autonamen-Klasse Im Deutschen können Autonamen allerdings auch feminin oder neutral sein, wenn sie nämlich die Lexeme Cabrio(let), Coupé oder Limousine enthalten (vgl. Köpcke/Zubin 2005: 101‒105). Sofern diese am rechten Rand erscheinen, handelt es sich bei den Namen um NPs mit lexikalischem Kopf (das Beetle Cabrio, das 911 Coupé, die A8 Limousine). Jedoch finden sich im Internet zahlreiche maskuline Gegenbeispiele: „Das ist er: der neue Mini Cabrio. (…) Der Cabrio ist deswegen etwas weniger aggressiv und begierig, aber immer noch bedeutend schneller als die meis-
|| 17 www.carnet-entretien-auto.fr/carnet-entretien-renault/renault-kangoo.html, www.persoenlich.com/news/show_news.cfm?newsid=43696 (20.01.2013).
Genus unter Kontrolle | 121
ten Konkurrenten“18 oder „Bei den Konkurrenten geht es im Fond ein klein wenig luftiger zu, wobei der BMW 3er Coupé mit der meisten Bewegungsfreiheit punktet.“19 Selbst in der Fachliteratur begegnen Verwendungen wie: „Darunter der Benz ‚Viktoria‘ Coupé von 1895“ (Matteucci/von Frankenberg/Neubauer 1995: 76). Dass es sich dabei nicht um Einzelfälle handelt, wie schon Köpcke/Zubin (2005: 105) bemerken, belegt eine kleine Google-Recherche zum Audi A5 Coupé bzw. Cabrio(let). Tab. 4 stellt die Ergebnisse zusammen: Tab. 4: Google-Recherche zu den Phrasen „der/das Audi A5 Coupé/Cabrio“ vom 20.01.2013 …Cabrio
…Coupé
Der Audi A5…
70
15,6 %
106
26,4 %
Das Audi A5…
378
84,4 %
296
73,6 %
Das Neutrum überwiegt in beiden Fällen klar, doch der maskuline Gebrauch kommt (schon) auf knapp 16 % bzw. gut 26 %. Deutlich weniger Treffer mit maskulinem Genus liefert Google für Limousine.20 Das Femininum ist also deutlich stärker, doch ab und an tauchen bereits Belege auf wie „In Kombination mit serienmäßigen Stoßdämpfern lässt sich der Audi A4 Limousine dank ABT Fahrwerksfedern um bis zu 30 mm (…) tieferlegen“21 oder „Der Audi A8 Limousine (…) schafft mit seinen enormen 350 PS maximal beeindruckende 250 km/h.“22 Bei der pronominalen Wiederaufnahme kann es dann abermals zu Schwankungen kommen: „Das Audi A5 Coupé 3.0 TDI quattro vermittelt dem Fahrer echtes Oberklasse-Feeling. Mit seinem Einstiegspreis von 49.850 Euro ist er aber auch kein Schnäppchen.“23 “Glamour testet das Audi A5 Cabriolet. 3 Gründe, warum wir ihn lieben […] Es wirkt elegant und kraftvoll wie ein sprungbereiter Löwe.“24
|| 18 www.autozine.de/text/712.html, Hervorhebungen von uns (20.01.2013). 19 www.auto-motor-und-sport.de/vergleichstest/audi-a5-bmw-3er-renault-laguna-im-test-ele gante-coupes-im-vergleich-1016694.html, Hervorhebungen von uns (20.01.2013). 20 Abfragen u.a. der Audi A4 Limousine, der Audi A6 Limousine, der Audi A8 Limousine. 21 www.abt-sportsline.de/audi-tuning/a4/a4-limousine-ab-1207/ausstattung/fahrwerke (20.01.2013). 22 www.autolino.de/Audi/A8-Limousine-208 (20.01.2013). 23 www.handelsblatt.com/auto/test-technik/fahrtest-audi-a5-coupe-3-0-tdi-quattro-antrittsstarkerschoenling-mit-teuren-extras/6000992.html (20.01.2013). 24 www.glamour.de/features/auto/audi-baby,-you-can-drive (20.01.2013).
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Die genannten Beispiele können keineswegs als Einzelfälle abgetan werden. Sie liefern ein starkes Indiz dafür, dass die femininen Ausnahmen langfristig beseitigt, d.h. durch das Default-Genus ersetzt, ihre Köpfe folglich getilgt werden. Die Namen entkoppeln ihre Genuszuweisung vom Letztglied und überschreiben dieses. Damit wird die Klasse der Autonamen noch homogener und nach außen hin fester abgegrenzt.
4 Fazit Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass nur die diachrone Perspektive das bisherige Rätsel um das Genus von Eigennamen zu klären vermag. Zunächst haben wir gezeigt, dass Eigennamenklassen dann, wenn sie sich als solche etabliert haben, auf ein festes Genus zusteuern und dass diese Entwicklung über mehrere Etappen läuft. Ausgehend von (meist) drei möglichen Sockelgenera zu Beginn findet nach und nach eine Verengung auf nur ein onymisches Genus statt, das referentiell zugewiesen wird. Bei der Frage, welches Genus dabei gewinnt, gibt es mehrere Szenarien. Am naheliegendsten (und wahrscheinlich auch am häufigsten) ist es, dass entweder das Genus eines ausgefallenen Sockels oder das des appellativen Oberbegriffs des betreffenden Feldes generalisiert wird. Im Fall der Autonamen lässt sich jedoch synchron keines der beiden Prinzipien erkennen: Weder enthalten Autonamen einen genuszuweisenden Sockel (wie dies bei XY-Auto, XY-Wagen zuträfe) noch stimmt der Oberbegriff Auto (n.) mit dem maskulinen Namengenus überein. Die diachrone Perspektive führt zur Lösung: Das maskuline Genus entstammt dem früheren Sockel -wagen (m.), wobei Wagen sich nicht als Oberbegriff durchzusetzen vermochte, sondern durch später entlehntes und gekürztes Auto(mobil) (n.) ersetzt wurde. Das Maskulinum der Autonamen geht also auf einen historischen maskulinen Sockel zurück, der weder als Sockel noch als Oberbegriff überdauert hat. Namengenera – dies zeigen die Flussnamen – gehen teilweise auch auf Entlehnungen aus anderen Sprachen zurück, man könnte hier von onymischen Lehngenera sprechen. Dennoch bleiben viele offene Fragen, etwa zum Genus von Namen anderer Verkehrsmittel wie dem Flugzeug, Motorrad oder Schiff. Bei den stets femininen Schiffsnamen kann weder ein Sockel noch ein appellativer Oberbegriff mit femininem Genus ausfindig gemacht werden. Auch harren die stets neutralen Städtenamen noch ihrer Erklärung (zumal sie vorher Feminina waren). Dies bleibt weiteren, sprachgeschichtlich fundierten Aufsätzen vorbehalten.
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Christina Noack
Führt das Genus in der deutschen Schulgrammatik ein Schattendasein? 1 Einleitung Als Lerngegenstand des Deutschunterrichts, so die Position des vorliegenden Beitrags, ist das Genus weitgehend unsichtbar. Wenn es in Sprachbüchern thematisiert wird, dann in deklarativer Weise, zumeist unter der semantisch motivierten Bezeichnung ‚Geschlecht‘ ohne Abgrenzung vom Sexus, und als Eigenschaft nicht von Substantiven, sondern der Artikel. Dass es die Substantive sind, die ein festes Genus besitzen und die Form des Artikels regieren, wird ebenso wenig explizit gemacht, wie die Prinzipien, die die Genuszuweisung im Deutschen steuern, oder die funktional-kommunikativen Leistungen der Genera, obgleich es zu all diesen Aspekten nicht nur elaborierte sprachwissenschaftliche Darstellungen (z.B. Köpcke 1982, Köpcke/Zubin 1984 und 2009, Wegener 1995a), sondern längst auch adaptierte Unterrichtsmodelle gibt. Nicht viel anders sieht es in der Zweitsprachdidaktik aus: Übungen zum deutschen Genus erfolgen in den einschlägigen Lehrmaterialien in der Regel in einer Mischung aus semantischer und morphologischer Teilsystematik, wobei sich der Vermittlungsanspruch darauf reduziert, dass das jeweilige Genus mit jedem Substantiv auswendig zu lernen sei. Die Lerner werden durch die falsche Merkregel, man erkenne das Genus eines Nomens am Artikel, in die Irre geführt, wenn sie im Satzkontext mit Formen wie der Frau oder die Fenster konfrontiert werden. All diese Feststellungen sind nicht neu, erstaunlich ist jedoch die tiefe Diskrepanz zwischen der von sprachwissenschaftlicher Seite ausgearbeiteten Systematik und der unbeirrbar auf Arbitrarität fußenden Unterrichtstradition. Im Folgenden soll im Anschluss an eine Darstellung der Systematik nach Köpcke/Zubin sowie einer kritischen Bestandsaufnahme der didaktischen Situation einerseits über den Nutzen der Thematisierung des Genus im muttersprachlichen Deutschunterricht nachgedacht, andererseits Möglichkeiten einer systematischen und zugleich kognitiv gesteuerten Genusvermittlung bzw. -reflexion im muttersprachlichen sowie im Zweitsprachunterricht aufgezeigt werden.
2 Prinzipien der deutschen Genuszuweisung nach Köpcke/Zubin Köpcke/Zubin (1984) unterscheiden in ihrer frühen Arbeit für den Bereich der monomorphematischen nativen Nomina insgesamt sechs Prinzipien, und zwar ein
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phonetisches und fünf semantische. Das phonetische Prinzip steuert den Autoren zufolge die Genuszuweisung insofern, als bei Einsilbern in Abhängigkeit von der Komplexität bzw. Konsonantenfolge des Anfangsrandes einerseits und des Endrands andererseits tendenziell ein bestimmtes Genus präferiert wird1. So sind beispielsweise auf [kn] oder [šK] anlautende Einsilber mit hoher Wahrscheinlichkeit Maskulina, auf [(K)+f/x/ç+t] auslautende Einsilber tendenziell Feminina. Insgesamt konnten Köpcke/Zubin (1984: 29‒30) acht solcher Zuordnungsregeln formulieren und darüber hinaus deren kognitive Relevanz in einem Experiment, in dem deutsche Muttersprachler Kunstwörtern ein bestimmtes Genus zuweisen sollten, nachweisen.
Abb. 1: Kriterien der Genuszuweisung (aus: Köpcke/Zubin 2009: 147)
Mit den nativen Einsilbern widmen sich die Autoren in ihrer Arbeit genau dem Bereich des Lexikons, in dem die Genuszuweisung gemeinhin als arbiträr gilt. Als regelhaft und produktiv sind demgegenüber die unterschiedlichen Gruppen morphologisch komplexer Wörter anzusehen, für die Köpcke/Zubin drei Prinzipien
|| 1 Grundlage der Auszählung ist das Vergleichende Synonymwörterbuch des Duden-Verlags von 1981.
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auflisten: das „Letzt-Glied-Prinzip“, das sowohl Komposita als auch Derivate betrifft, das „Nullableitungsprinzip“ bei Konversionen, sowie das „Prinzip für fremde Suffixe“, das sich auf genuszuweisende Fremdsuffixe bezieht (Köpcke/Zubin 1984: 28). Weiter werden drei semantische Prinzipien aufgeführt, nämlich das „natürliche Geschlechtsprinzip“, das „Unterklassifizierungsprinzip“ sowie das „Entlehnungsprinzip“ (Köpcke/Zubin 1984: 28‒29). In neueren Arbeiten sind die Zuweisungsmechanismen in Anlehnung an die Forschungsentwicklung als „Netzwerk unterschiedlicher Prinzipien und Kontrollinstanzen“ (Köpcke/Zubin 2009: 147) weiter ausgearbeitet worden (vgl. Abb. 1). Diese Systematik wird in Unterrichtslehrwerken teilweise genutzt, allerdings nur im Bereich der semantisch motivierten Genera und der morphologisch komplexen Wörter. Einsilber, die Köpcke/Zubin gerade aus der arbiträren Ecke herausholen wollten, werden, was das Genus betrifft, in den einschlägigen Lehrwerken nicht als systematischer Bereich gehandelt – weder im muttersprachlichen, noch im zweitbzw. mehrsprachigen Unterricht.
3 Das Genus im muttersprachlichen Grammatikunterricht In den Bildungsstandards für die Primarstufe kommt der Terminus ‚Genus‘ nicht vor; dafür wird der deutsche Hilfsausdruck „Geschlecht“ explizit als dem Nomen zugehörige Kategorie aufgeführt (BS PS: 14). Dementsprechend thematisieren auch grundschulische Sprachbücher das Genus i.d.R. nicht, insbesondere nicht als feste Eigenschaft von Substantiven/Nomen. Dort, wo das Genus an der Form sichtbar ist – bei Artikeln, Pronomen und attributiv verwendeten Adjektiven –, gibt es meist nur den vagen Hinweis, dass „sich auch der Begleiter verändern kann“ (Bausteine 4, Diesterweg: 120). Das Kerncurriculum Deutsch für Niedersachsen, das hier exemplarisch herangezogen wird, gibt für die Primarstufe vor, dass „den Schülern grundlegende Einsichten in Sprachstrukturen [ermöglicht werden]“ (KC Nds. PS: 8), allerdings geht es dabei lediglich mittelbar um das Untersuchen von Sprache. Eines der Lernziele des Deutschunterrichts ist es nämlich, „dass die Schülerinnen und Schüler ihre Sprache bewusster einsetzen“ (KC Nds. PS: 12); primär geht es also um Sprachhandeln. Lernen sollen die Schüler hierfür „grundlegende sprachliche Strukturen und Begriffe“, z.B. „Nomen: Singular, Plural, Geschlecht“ (KC Nds. PS: 29). Weshalb unter den grammatischen Kategorien ausgerechnet das Genus mit dem mehrdeutigen eingedeutschten Terminus benannt wird, bleibt dabei fraglich und muss angesichts des
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teilweise verwirrenden Umgangs2 mit dieser Kategorie in den Sprachbüchern als problematisch bezeichnet werden. Hinzu kommt der Umstand der fehlenden Anschlussfähigkeit an die Terminologie der weiterführenden Schulen (vgl. dazu den nächsten Abschnitt), obgleich die Grundschule auf diese gerade vorzubereiten hat. Schließlich ist zu kritisieren, dass den Bildungsstandards ein Konzept von Sprachunterricht zugrunde liegt, das einseitig auf den Aufbau deklarativen Wissens ausgerichtet ist. Dabei kann eine Reflexion über Strukturen ohne eine gründliche theoretische Fundierung nicht funktionieren. Schon Grundschüler sollten deshalb im Sinne eines Spiralcurriculums neben Lesen, Schreiben, Sprechen und Zuhören auch Strukturmerkmale der deutschen Grammatik erkennen können und lernen, in grammatischen Kategorien zu denken (vgl. Köpcke/Noack 2011: 8), um den Anforderungen der weiterführenden Schule gewachsen zu sein.
3.1 Wie geht es nach der Grundschule weiter? In den Bildungsstandards für die Hauptschule (BS HS) und für den Mittleren Schulabschluss (BS MS) wird der Terminus „Genus“ (implizit als nominale Kategorie) genannt (BS MS: 16), während der deutsche Begriff nun nicht mehr verwendet wird. Hier wird ein zentrales Problem des Übergangs von der Primarstufe zur weiterführenden Schule sichtbar: Aus einer möglicherweise pädagogisch motivierten Schonhaltung heraus werden vermeintlich schwierige Begriffe in der Primarstufe vermieden, die den Kindern ab dem fünften Schuljahr dann nicht zur Verfügung stehen. Nicht nur verlieren die weiterführenden Schulen dadurch Zeit, indem sie propädeutisch das nachholen müssen, was die Grundschule sich nicht zu thematisieren getraut hat, gravierender dürfte der Umstand wirken, dass das einmal Gelernte in den Köpfen der Kinder nur schwer zu revidieren ist (Gerstenmaier/Mandl 1994). In den niedersächsischen Kerncurricula zeigt sich bei der Kategorie Genus der grundsätzlich unterschiedliche Anspruch an die akademisch ausgerichtete Gymnasialbildung und die auf die Berufsausbildung vorbereitende Hauptschule. Wird es für Hauptschüler als ausreichend erachtet, am Ende der 10. Jahrgangsstufe Wortarten und grammatische Kategorien wie Genus, Numerus, Kasus „zu kennen, zu beschreiben und funktional zu nutzen“ (vgl. KC Nds. HS: 46), sollen Gymnasiasten bereits nach der 6. Klasse „die grundlegenden Flexionsformen und deren Leistung“ wie Deklination nach Genus, Numerus und Kasus nicht nur kennen, sondern auch „richtig an[wenden]“ (KC Nds. Gym: 31). Für keine Schulform wird explizit vorgegeben, über grammatische Kategorien und ihre Funktion zu reflektieren; die Kompe-
|| 2 Fehlende Trennung von Genus/Sexus, ausschließliche Nennung der Rectus-Formen, Vermittlung des Genus als Merkmal der Artikel sind nur einige der aufzuführenden Monita.
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tenzbezeichnung „Reflexion über Sprache“ verspricht hier etwas, was die dann eher traditionelle Ausgestaltung dieses Lernbereichs nicht einlöst. Wenn das Genus als sprachlicher Lerngegenstand in den Sprachbüchern überhaupt erst in den Lehrwerken der Sekundarstufe eingeführt wird, sollte analog zu den anderen grammatischen Kategorien davon auszugehen sein, dass dann auch der lateinische Terminus verwendet wird. Tatsächlich geschieht die Einführung jedoch in aller Regel unter der deutschen Bezeichnung ‚Geschlecht‘. Das Lehrwerk Praxis Sprache (Westermann) unternimmt hier zumindest den Kompromiss, von „grammatischem Geschlecht“ zu schreiben, das explizit vom natürlichen Geschlecht unterschieden wird (Praxis Sprache 5/2010: 301). Die drei Genera selbst werden dann interessanterweise mit den lat. Bezeichnungen ‚Maskulinum‘, ‚Femininum‘ und ‚Neutrum‘ eingeführt. In dem für die Hauptschule zugelassenen Sprachmagazin (Cornelsen) etwa taucht der Begriff ‚Genus‘ in der gesamten Reihe nicht auf. Die Reihe Wortstark (Schroedel), ebenfalls für die Hauptschule, arbeitet bis zur 10. Jahrgangsstufe ausschließlich mit dem deutschen Terminus und auch dies nur versteckt unter dem Stichwort ‚Artikel‘. Im Allgemeinen kommt das Genus thematisch ab dem 7. Schuljahr in den Sprachlehrwerken kaum noch vor, höchstens – sofern vorhanden – im anhängenden Glossar grammatischer Fachausdrücke.
3.2 Das Genus ins rechte Licht rücken – Vermittlungsmöglichkeiten in der Sekundarstufe Generell lässt sich konstatieren, dass die Sprachbücher über einen deduktiven Benenn-Unterricht nicht hinausgehen, wie es ja in den curricularen Vorgaben auch angelegt ist. Die Schüler lernen das Genus als nominale Eigenschaft lediglich ‚kennen‘. Nimmt man die Kompetenzbezeichnung ‚über Sprache reflektieren‘ ernst, bieten sich jedoch vielfältigere Möglichkeiten, mit Schülern über die Kategorie Genus und ihren Nutzen für die Sprecher/Hörer nachzudenken. Das Modell von Köpcke/Zubin (2009) bietet eine ausreichende Grundlage für die unterrichtliche Beschäftigung mit dieser Kategorie in unterschiedlichen Jahrgangsstufen. Was man zunächst für den Unterricht – den muttersprachlichen wie den zweitsprachlichen – daraus nutzen kann, ist die grundsätzliche Differenzierung in semantische und formale Genusmotivation, sowie die Unterscheidung der sprachlichen Steuerungsebenen. Als problematisch für Lerner, insbesondere L2, ist dabei allerdings die Tatsache anzusehen, dass die Auslöser unterschiedlich zuverlässig sind. So ist im Bereich der pragmatischen Projektion die Zahl der Ausnahmen wesentlich kleiner, als z.B. bei den lexemisch kodierten Simplizia, und sie sind auch stärker motiviert: Vgl. das Mädchen, das Weib (Abwertung weiblicher Personen durch Genusentzug); die Memme, die Schwuchtel (Abwertung männlicher Personen durch Feminisierung).
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Efing/Wengel (2010: 28) schlagen ein Unterrichtsmodell vor, mit dem Schüler der Sekundarstufe I (9.–10. Schuljahr) lernen sollen, nach welchen Prinzipien die Genuszuweisung im Deutschen funktioniert. Sie fokussieren dabei auf folgende Prinzipien aus dem Systembereich: a. Semantik: natürliches Geschlecht; Ober-/Klassenbegriff b. Morphologie: genuszuweisendes Suffix (-chen, - lein, -le; -keit, -ling); Substantivierungen Ziel der Unterrichtseinheit ist es, zu erkennen, dass die Genuszuweisung durchaus nicht willkürlich ist, sondern bei einem großen Teil des Wortschatzes erkennbaren Prinzipien folgt, also vorhersagbar ist. Anders, so Köpcke/Zubin (1984), wäre das Lernen der Genera im Erstspracherwerb bei mehreren Tausend Wörtern auch nicht leistbar. Es ist daher davon auszugehen, dass „zwischen Nomen und ihrer jeweiligen Genuszuweisung Korrelationen [existieren], die stark genug sind, um für den Sprecher des Deutschen als Basis für seine Hypothesenbildung bezüglich der korrekten Genuszuweisung dienen zu können“ (Köpcke/Zubin 1984: 28).3 Der Mehrwert eines Unterrichtsmodells, in dem die Schüler sich mit den Prinzipien der Genuszuweisung befassen, besteht in der gleichzeitigen Beschäftigung mit formalen Sprachstrukturen: Nebenbei lernen sie die phonologischen und morphologischen Wortmuster kennen und diese zu analysieren. In einem Unterrichtsmodell für die Sekundarstufe II lässt Klein (2011: 24‒29) die Schüler über die Genuszuweisung im Deutschen reflektieren, indem er sie zwischen echten und unechten Zweifelsfällen unterscheiden lässt (vgl. die/das E-Mail ohne vs. der/das Bauer mit Bedeutungsunterschied). Unterrichtsziel ist es hier, dass die Schüler sich von der Alltagsauffassung lösen, grammatische Varianz lasse sich stets den Kategorien RICHTIG/FALSCH bzw. GRAMMATISCH/UNGRAMMATISCH zuordnen. Durch die Reflexion der Schüler über grammatische Zweifelsfälle, so die Intention des Autors, verstehen sie, „wie Sprachen funktionieren und mit welchen spannungsvollen Situationen ihre Sprecher bisweilen konfrontiert sind“ (Klein 2011: 26). Was bisher noch fehlt, sind Unterrichtsmodelle, in denen die kommunikativpragmatische Funktion des deutschen Genusgebrauchs mit den Schülern erörtert wird.
|| 3 Allgemeiner formuliert Pinker (2007: 277) das Phänomen: „[…] little children learning German (and other languages with gender) […] acquire gender marking quickly, make few errors, and never use the association with maleness and femaleness as a false criterion“.
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4 Genus im DaZ-Unterricht4 Während der Genuserwerb der Spracherwerbsforschung zufolge für deutsche Muttersprachler in der Regel nach vier Jahren abgeschlossen ist (Szagun 2000: 35 unter Bezugnahme auf Stern/Stern 1928 und Mills 1985, 1986) und ein falscher Genusgebrauch danach nur noch sehr vereinzelt auftritt, gehört die Nominalflexion insgesamt zu den für Zweitsprachlerner schwierigsten Bereichen der deutschen Grammatik und ist auch nach vielen Lernjahren immer noch fehleranfällig (vgl. Ahrenholz ²2010: 180). Fehler in der Nominalflexion lassen sich bei Deutschlernern selten isolieren, sondern tauchen quasi im Verbund auf. Die Schüler gebrauchen nicht einfach den falschen Artikel (vgl. *mit die schönen Bücher) oder verwechseln n und m (*an den großem Fenster). Sie kombinieren vielmehr Formen, die im Deutschen durchaus vorkommen, die allerdings nicht in die vorliegenden Kontexte passen. Wegener drückt es so aus, dass „erst wenn die Flexionsparadigmen für die drei im mündlichen Deutsch gebrauchten Kasus ausgebildet sind, das Kind die Inputsequenzen genusgerecht verarbeiten (kann)“ (1995b: 6). Die Lerner müssen also verstehen, dass so unterschiedliche Kategorien wie Kasus, Numerus und Genus im Deutschen im Wesentlichen von einem gemeinsamen Träger, nämlich dem Artikel, angezeigt werden. Formen wie der oder die können nicht kontextfrei einem Genus zugeordnet werden (vgl. „der Frau“ oder „die Männer“). Es gibt unter den Artikelformen auch nur wenige, die einen Kasus eindeutig anzeigen, im Falle der definiten Artikel lediglich zwei (des und dem) von insgesamt sechs Formen. Das Genus wird nur in einem einzigen Fall, nämlich Nominativ und Akkusativ Neutrum, eindeutig markiert, und auch der Numerus ist bis auf wenige Fälle nicht eindeutig. Die Zuordnung von Formen und Funktionen ist beim definiten Artikel also besonders schwierig, und trotzdem ist es diese Kategorie, über die im DaZ-Unterricht das Genus vermittelt wird. Dementsprechend zeigen sich Unsicherheiten seitens der Lerner beim Gebrauch der Artikelformen, aber ebenso beispielsweise auch bei der Adjektivflexion (Wegener 1995b). Aufgrund der mehrdeutigen Flexionsformen ist daher nicht immer klar, ob grammatische Fehler bei DaZ-Lernern aus einer falschen Genuszuweisung oder Schwierigkeiten mit dem Kasus resultieren. In der Zweitspracherwerbsforschung wird häufig eine formelhafte Verwendung bestimmter Flexionsformen beobachtet, die darauf hindeutet, dass die Nominalflexion von den Lernern nicht in allen Fällen grammatisch analysiert wird, vgl. (1) „also in die mitte is ein zaun“ (Lütke 2011: 163).
|| 4 Teile dieses Abschnitts sind aus Dimroth/Noack (2012) übernommen.
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(2) „N: Die Hühner gehören die Frau Bolte. I: Der Frau Bolte. N: Und dann kommt der Frau Bolte…“ (Wegener 1995b) Im DaZ-Unterricht ist es anders als im muttersprachlichen Grammatikunterricht insbesondere die Performanz, die durch die Arbeit an grammatischen Themen verbessert werden soll. Man sollte daher annehmen, dass solche Lehrwerke, die Mehrsprachigkeit konzeptionell inkludieren, wie es z.B. bei Doppelklick (Cornelsen) oder Treffpunkte (Schroedel) der Fall ist, sich der notorisch schwierigen Kategorie Genus in besonderer Weise zuwenden. Das Sprachbuch Doppelklick (Ausgabe Nordrhein-Westfalen) ist ein interessantes und zugleich für die in diesem Beitrag angesprochene Situation repräsentatives Beispiel: Das Genus wird in der die Jahrgänge 5–10 umfassenden Reihe ausschließlich im Band für das fünfte Schuljahr thematisiert, jedoch nur implizit durch farbige Unterscheidung der Artikel (der = blau, die = rot, das = grün). Das auf einen differenzierten Unterricht auch in mehrsprachigen Klassen hin ausgerichtete Lehrwerk setzt in der gesamten Reihe einzig auf die Methode des Auswendiglernens, indem zu jedem Nomen der bestimmte Artikel mit aufgeführt wird. Kasusbedingte Formenvarianz wird nicht thematisiert. Verschenkt wird das Thema Genus insofern, als in einzelnen Bänden Übungen vorkommen, die geradezu prädestiniert sind, bestimmte Zuweisungsregeln aufzuzeigen, dies aber nicht tun, etwa in Band 7, S. 249: „Wörter mit den Endungen -ung, -keit, -heit und -nis sind Nomen. Sie werden großgeschrieben“. Im selben Band an anderer Stelle (S. 274) wird in einer kontrastiv angelegten Übung dargestellt, dass es im Türkischen keinen definiten Artikel gibt, was aufgrund von negativem Transfer häufig zu Fehlern im Deutschen führe. In einem Regelkästchen wird dann lediglich angegeben, wie die bestimmten und unbestimmten Artikel heißen, als wäre damit die Frage der Zuordnung für DaZ-Lerner bereits klar. Selbst in dem speziellen Förderband (Doppelklick – das Sprach- und Lesebuch Förderausgabe 5, 2013) findet sich keinerlei Systematik zum Genus. Dieser methodische Ansatz, Inhalte und Methoden des muttersprachlichen Grammatikunterrichts auf Zweitsprachlerner zu übertragen, ist gängige Praxis in nahezu allen entsprechenden Lehrwerken, wie Belke (2003: 840) bereits vor über 10 Jahren hervorhob: Kinder mit anderen Muttersprachen als Deutsch werden fast ohne Ausnahme in Regelklassen unterrichtet, unabhängig davon, ob und in welchem Grade sie ihre Zweitsprache Deutsch beherrschen. Damit sind sie meist einem Unterricht ausgesetzt, der nicht für sie konzipiert worden ist: Sie werden nach Richtlinien für einsprachige deutsche Kinder unterrichtet, mit Lehrmaterialien, die das Deutsche als Muttersprache voraussetzen, von Lehrkräften, die für den muttersprachlichen Deutschunterricht ausgebildet sind.
Die Folge eines solchen Unterrichts ist eine anhaltende Unsicherheit der L2-Lerner in grammatischen Bereichen, denen keinerlei Systematik innezuwohnen scheint.
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Auswendiglernen bleibt dann die einzige Lernstrategie, ohne dass die Unsicherheiten dadurch nachhaltig ausgeräumt werden könnten.
4.1 Vermittlungsmöglichkeiten im Zweitsprachunterricht Ist die Genuszuweisung für L2-Lerner ein schwer zu lernendes Feld, sollte es der Deutschunterricht gerade diesen Schülern ermöglichen, sich ihr systematisch zu nähern. Dabei gilt es in erster Linie zu entdecken, dass das Genus im Kernbereich des Wortschatzes nicht zufällig und ungeordnet, sondern tendenziell nach bestimmten Regeln zugewiesen wird. Um keine falsche Sicherheit zu suggerieren, sollten Unregelmäßigkeiten ebenso thematisiert werden wie die Unterscheidung von Wortgruppen mit hoher von solchen mit geringer Systematik. Wegener (1995b) schlägt für L2-Lerner folgenden Strategienkatalog vor: − natürliches Geschlecht bei Belebten; − Auswendiglernen im Nahbereich bzw. bei hochfrequenten Wörtern; − kognitiv-analytische Strategien (z.B. Wortendungen, Semantik). Alle drei Prinzipien finden sich mehr oder weniger prominent in den einschlägigen DaZ-Lehrmaterialien: Lebewesen haben ein natürliches, nicht belebte Objekte ein grammatisches Geschlecht. Das Auswendiglernen im Nahbereich des Wortschatzes bzw. bei hochfrequenten Wörtern ist ein Mittel, trotz der angeblich fehlenden Systematik zumindest für einen überschaubaren Teil Sicherheit zu erlangen. Gemeinsam mit dem dritten Prinzip, nach dem das Genus bei bestimmten morphologischen (v.a. Derivationssuffixen wie -ung, -heit oder -keit als Genusträger) oder semantischen Merkmalen (z.B. Gewässer, Baumarten) zu nahezu 100 % vorhersagbar ist, wird der Lerner also zumindest teilweise entlastet. Problematisch ist jedoch die Weise, auf die die Prinzipien in den Lehrwerken didaktisiert werden: So werden etwa die Verletzung des ersten Prinzips durch genus-sexus-divergente Ausdrücke wie das Mädchen, das Weib, der Vamp, die Schwuchtel oder sexusindifferente Gattungsbezeichnungen wie die Eule, die Katze, der Hund, die als Konzept verstanden werden müssen, allenfalls als Ausnahmen genannt, jedoch nicht weiter systematisiert. Auch findet sich i.d.R. keine Differenzierung zwischen formgleichen aber bedeutungsverschiedenen Endungen, z.B. der Leser (produktives Wortbildungssuffix) vs. der Eimer, das Messer (sog. „Pseudosuffix“ bei trochäischen Simplizia, vgl. Eisenberg ³2006). Jeuk/Schäfer (2008; vgl. auch Jeuk 2010) gehen in einem Unterrichtsmodell für die Grundschule von fünf Prinzipien aus, nach denen DaZ-Schüler die Genuszuweisung systematisch lernen sollen, weisen aber gleichzeitig auf eine Reihe von Ausnahmen hin. Die von ihnen verwendeten Prinzipien sind:
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− − − − −
das natürliche Geschlechtsprinzip; das semantische Prinzip (Monatsnamen, Jahres- und Tageszeiten sind maskulin, Obst- und Gemüsesorten sind meist feminin); das silbische Prinzip (Zwei- und Mehrsilber auf -e sind zu 90 % feminin, Einsilber zu 60 % maskulin); das lautliche Prinzip (Wörter auf -el, -en, -er sind zu 60 % maskulin); das morphologische Prinzip (genuszuweisende Derivationssuffixe).
Im Kern präferieren Jeuk/Schäfer wie bereits Wegener eine kognitiv-analytische Lernstrategie, verzichten jedoch auf das Auswendiglernen.
4.2 Produktive Zuweisungsregeln – und ihre Ausnahmen Im Folgenden werden diejenigen Zuweisungsregeln und -prinzipien aufgeführt, die auf dem aktuellen Stand der Genusforschung aufgrund ihrer hohen Produktivität in Lehrwerke aufgenommen werden sollten, die für Schüler mit Deutsch als Zweitsprache bzw. für mehrsprachige Lerngruppen konzipiert sind. a) a1.
Semantische Steuerung Sexus (Natürliches Geschlecht-Prinzip)
Bei Belebten [+menschlich], teilw. auch [–menschlich] (v.a. Haustiere) besteht normalerweise Genus-Sexus-Konvergenz, vgl. der Onkel, der Freund, der Rüde; die Tante, die Schwester, die Ricke; das Kind, das Baby, das Junge. Ausnahmen sind Fälle des Sexusentzugs (das Weib, das Mensch, der Vamp, die Schwuchtel) und der Durchkreuzung durch das morphologische Prinzip (das Mädchen, das Männchen). Das Muster bei Nutztieren gestaltet sich folgendermaßen: Gattungsname = neut.: das Schwein das Pferd männliches Tier = mask.: der Eber der Hengst weibliches Tier = fem.: die Sau die Stute junges Tier = neut.: das Ferkel das Fohlen (ebenso: das Rind, das Huhn) a2.
Produktives Genus bei bestimmten Gattungen (beispielhaft)
Pflanzen: Blumen = fem.: die Rose, Tulpe, Nelke, Orchidee Büsche, Sträucher = mask.: der Flieder, Hibiskus, Buchs Bäume = fem.: die Erle, Pappel, Kiefer; Ausnahme: der Ahorn (beim Wortbildungsmuster ‚x-baum‘ [Apfel-, Birn-, Tannenbaum] erfolgt die Genuszuweisung nach dem Letzt-Glied-Prinzip).
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Gewässer: Alle = mask.: der See, Fluss, Strom, Ozean, Bach, Tümpel (das Meer, die See als regelwidrige Lernwörter) Getränke: Alkoholische Getränke sind Köpcke/Zubin (1984) zufolge tendentiell maskulin: der Wein, der Likör, der Schnaps, der Brandy (Ausnahme: Biersorten) b) b1.
Lexikalisches Genus Phonologisch motiviert
Zweisilber, die auf [ə] auslauten, sind zu 90 % (Wegener 1995a) feminin: die Ente, Jacke, Katze, Blume, Wolle; d.h. andersherum beträgt die Zahl der nicht-femininen Wörter auf -e lediglich ca. 10 %; diese haben aber hohe Gebrauchsfrequenz: das Auge, der Affe, das Ende. Komplexität des Anlautes: Köpcke/Zubin (1984, 2009) zufolge steigt die Wahrscheinlichkeit einer maskulinen Genuszuweisung bei Einsilbern, je komplexer der Anfangsrand ist. Umgekehrt besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit des femininen Genus bei auslautender Folge /x-t/ oder /f-t/: die Macht, die Kraft. b2.
Morphologisch motiviertes Genus
Die aufgrund von Wortbildungsprozessen festgelegten Genera stellen innerhalb der Gruppe des lexikalisch zugewiesenen Genus den regelhaftesten Bereich dar. Für den Lerner kommt es darauf an, den jeweiligen Wortbildungstyp zu erkennen. So gehört Bäcker zu den regelhaften Maskulina auf -er mit der Wortbildungsbedeutung Agentiv (jemand, der berufsmäßig backt), die (Schraub-)mutter dagegen zu den Lernwörtern, da es sich um ein Simplizium handelt. Als Regel für den Unterricht können wir formulieren: Agentive auf -er (ein x-er ist jemand, der x-t) sind immer maskulin. Bsp.: Fahrer, Verkäufer, Lehrer, Bastler, Richter, Trainer, Spieler etc. Weibliche Formen dazu werden durch zusätzliche Suffigierung mit -in gebildet: Fahrerin, Verkäuferin, Bastlerin etc. Instrumente auf -er (eine Sache, mit der man x-en kann) sind immer maskulin: Mixer, Schalter, Sauger, Öffner etc. Das gleiche gilt für entsprechend gebildete Fremdwörter aus dem Englischen: Browser, Computer, Speaker etc.
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Weitere Wortbildungsaffixe, die nicht mehrdeutig sind und ein bestimmtes Genus an sich binden, sind: − -ung, -heit, -keit, -schaft = feminin − -tum = neutrum (Ausnahmen als Lernwörter: Irrtum, Reichtum) − Diminutivsuffixe -chen und -lein = neutrum − Präfix Ge- sowie Zirkumfix Ge-…-e = neutrum − Fremdsuffixe wie -eur (Friseur) = maskulin, -ant (Mandant) = maskulin, -ur (Mensur) = feminin Konvertate sind immer neutrum (das Leben; das Essen; das Grün; das Ich; das Für und Wider)
5 Zusammenfassung: Führt das Genus im Sprachunterricht ein Schattendasein? Wenn man den Grundsatz vertritt, dass Sprachunterricht in erster Linie ein muttersprachlicher Unterricht ist und er das Ziel verfolgt, einen sprachlich korrekten Ausdruck zu fördern, ist das sparsame Vorkommen dieses Gegenstands in den Lehrwerken wohl als ausreichend zu bezeichnen. Bei L1-Schülern ist das Genus ohnehin kein fehlerträchtiger Bereich und für L2-Lerner kommt es (angeblich) primär auf kommunikative Fähigkeiten an, die durch fehlerhaften Genusgebrauch nicht wesentlich eingeschränkt werden. Geht man ferner davon aus, dass die Genuszuweisung im Deutschen zu weiten Teilen arbiträr ist, übersteigt der Lernaufwand deshalb möglicherweise sogar den Nutzen. Mit kompetenzorientiertem und reflektierendem Sprachunterricht, wie er zumindest nominell in den Bildungsstandards vorgegeben ist, hat dies freilich nichts zu tun. Wenn es nämlich um Reflexionskompetenz und um die Analysefähigkeit sprachlicher Strukturen und Zusammenhänge geht, die durchaus funktional begründet sein können, etwa für den Fremdsprachunterricht, ist das Thema Genus deutlich unterbelichtet, sowohl für einsprachige, als auch für mehrsprachige Lerngruppen. Nachdem die Sprachwissenschaft ebenso wie die Spracherwerbs- und Lernforschung in den vergangenen 30 Jahren zur Systematik, zu den Erwerbsfolgen oder zur kommunikativen Nutzung des Genus zahlreiche wichtige Aspekte erarbeitet haben, ist nicht nachvollziehbar, wieso die Lehrwerke dieses Thema so konsequent ausklammern. Dabei lassen sich im Rahmen eines sprachreflexiven Unterrichts spannende Bezüge zu unterschiedlichen formal-sprachlichen Ebenen herstellen (Phonologie, Morphologie, Morphosyntax) und über semantische Zuweisungsprinzipien sowie die kommunikative Nutzung durch die Sprechergemeinschaft nachdenken.
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Im DaZ-Unterricht besitzt die Vermittlung grammatischen Wissens noch eine gänzlich andere Dimension. Ein so schwieriger und dementsprechend fehlerträchtiger Bereich wie die Genuszuweisung kann nicht nebenbei gelernt werden, sondern nur systematisch (vgl. Hoffmann 2013). Möglichkeiten der Vermittlung wurden in diesem Beitrag vorgestellt; dabei wurde die Position vertreten, dass es beim Genus nicht darum gehen kann, für das gesamte Feld zweifelsfreie Regeln zu formulieren – dafür gibt es in allen Bereichen und für sämtliche Prinzipien zu viele Ausnahmen –, ebenso wenig, wie es ausschließlich kasuistisch oder auswendig gelernt werden sollte – dafür ist die deutsche Genuszuweisung zu regelhaft. Der Königsweg liegt nach dem hier vertretenen Ansatz in dem Aufzeigen von Tendenzen und Gesetzmäßigkeiten, um beim Lerner die Einsicht zu erzeugen, dass die Genuszuweisung grundsätzlich lernbar ist, und um das Wissen um das richtige Genus nachhaltig verfügbar zu halten. Das Fehlen systematischer Regeln behindert dagegen einen kognitiv-analytischen Zugang der Lerner und reduziert den Genuserwerb auf das bloße Memorieren mit eher mäßigen Erfolgsaussichten.
Literatur Lehrwerke Bausteine Sprachbuch 2–4. Braunschweig: Diesterweg 2007. Doppelklick 5–10. Differenzierte Ausgabe. Berlin: Cornelsen 2009–2013. Praxis Sprache 5–9, Allgemeine Ausgabe. Braunschweig: Westermann 2010–2012. Sprachmagazin 5–10. Berlin: Cornelsen 2001–2005. Treffpunkte Sprachbuch 5–10. Allgemeine Ausgabe. Braunschweig: Schroedel 2001–2005. Wortstark 5–10, Differenzierte Ausgabe. Braunschweig: Schroedel 2009–2012.
Sekundärliteratur Ahrenholz, Bernt (²2010): Mündliche Produktion. In: Ahrenholz, Bernt und Ingelore Oomen-Welke (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 173‒188. Belke, Gerlind (2003): Methoden des Sprachunterrichts in multilingualen Lerngruppen. In: Bredel, Ursula u.a. (Hrsg.): Didaktik der deutschen Sprache. 2. Teilbd. Paderborn: Schöningh, 840‒ 853. [BS PS]: Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Primarstufe, hrsg. vom Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland. München: Wolters Kluwer 2004. [BS HS]: Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Hauptschule, hrsg. vom Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland. München: Wolters Kluwer 2004. [BS MS]: Bildungsstandards im Fach Deutsch für den mittleren Schulabschluss, hrsg. vom Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland. München: Wolters Kluwer 2004.
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Dimroth, Christine und Christina Noack (2012): Nominalflexion: Defizite erkennen und beheben. Deutschunterricht 4, Westermann, 14‒18. Efing, Christian und Peter Wengel (2010): Viel System, wenig Willkür? Genuszuweisung und Genusfunktionen im Deutschen. In: Deutsch 5 – 10 23, 28‒31. Eisenberg, Peter (³2006): Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. Stuttgart: Metzler. Gerstenmaier, Jochen und Heinz Mandl (1995): Wissenserwerb unter konstruktivistischer Perspektive. In: Zeitschrift für Pädagogik 41, 867‒888. Hoffmann, Ludger (2013): Deutsche Grammatik. Grundlagen für Lehrerausbildung, Schule, Deutsch als Zweitsprache und Deutsch als Fremdsprache. Berlin: Schmidt. Jeuk, Stefan (2010): Deutsch als Zweitsprache in der Schule. Grundlagen – Diagnose – Förderung. Stuttgart: Kohlhammer. Jeuk, Stefan und Joachim Schäfer (2008): „Der, die, das – ist mir doch egal“. In: Grundschule Deutsch 18, 11‒15. [KC Nds. PS] Nieders. Kultusministerium (2004) (Hrsg.): Kerncurriculum für die Grundschule – Schuljahrgänge 1 ‒ 4. [KC Nds. HS] Nieders. Kultusministerium (2004) (Hrsg.): Kerncurriculum für die Hauptschule – Schuljahrgänge 5 ‒ 10. [KC Nds. Gym] Nieders. Kultusministerium (2004) (Hrsg.): Kerncurriculum für das Gymnasium – Schuljahrgänge 5 ‒ 10. Klein, Wolf Peter (2011): Orientierung bei sprachlichen Zweifelsfällen. In: Deutschunterricht 2, Westermann, 24‒29. Köpcke, Klaus-Michael (1982): Untersuchungen zum Genussystem der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen: Niemeyer. Köpcke, Klaus-Michael und Christina Noack (2011): Zweifelsfälle erwünscht – Perspektiven für den Deutschunterricht. In: Köpcke, Klaus-Michael und Christina Noack (Hrsg.): Sprachliche Strukturen thematisieren. Sprachunterricht in Zeiten der Bildungsstandards. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 3‒12. Köpcke, Klaus-Michael und David Zubin (1984): Sechs Prinzipien für die Genuszuweisung im Deutschen: Ein Beitrag zur natürlichen Klassifikation. In: Linguistische Berichte 93, 26–50. Köpcke, Klaus-Michael und David Zubin (2009): Genus. In: Hentschel, Elke und Petra M. Vogel (Hrsg.): Deutsche Morphologie. Berlin: De Gruyter, 132‒154. Lütke, Beate (2011): Deutsch als Zweitsprache in der Grundschule. Eine Untersuchung zum erlernen lokaler Präpositionen. Berlin: De Gruyter. Pinker, Steven (2007): The Language Instinct. How the Mind creates Language. New York: Harper. Szagun, Gisela (2000): Sprachentwicklung beim Kind. Weinheim: Beltz. Wegener, Heide (1995a): Die Nominalflexion des Deutschen – verstanden als Lerngegenstand. Tübingen: Niemeyer. Wegener, Heide (1995b): Das Genus im DaZ-Erwerb. Beobachtungen an Kindern aus Polen, Rußland und der Türkei. In: Handwerker, Brigitte (Hrsg.): Fremde Sprache Deutsch. Tübingen: Narr, 1– 24.
Sabina Schroeter-Brauss
Genuszuweisung im Unterricht Deutsch als Fremdsprache 1 Einleitung: Genus und Genuszuordnung im Deutschen 1700 Jahre alter Split ist die größte Stadt an der kroatischen Küste der Adria.1
Im Deutschen wird jedem Substantiv aufgrund morphologischer, phonologischer und/oder semantischer Regularitäten ein Genus zugewiesen. Allerdings erschließen sich die im System angelegten Regeln nicht auf den ersten Blick – im Gegenteil, die Zuordnungsprinzipien sind komplex und lassen sich nicht mit einfachen Regeln beschreiben. Das deutsche Genussystem gilt deshalb als kompliziert und schwer zu erlernen. Eine willkürliche Auswahl von Wörtern, z.B. einsilbige Substantive wie der Mond, die Zahl, das Jahr oder Zweisilber auf -e wie der Junge, die Liebe, das Neue, bestätigt diesen Eindruck. Für Deutschlernende ohne sprachanalytische Kenntnisse erscheint die jeweilige Genuszuordnung als arbiträr. Fortgeschrittenen Lernenden hingegen, deren Genuserwerb unterstützt wird, erschließen sich die Prinzipien der Genuszuordnung im Deutschen allmählich durch die Analyse der Nominalphrasen.2 Sie entdecken, „dass das Genus […] nicht zufällig und ungeordnet [ist], sondern zumindest teilweise nach bestimmten Regeln vergeben wird“ (Noack/Dimroth 2012: 15). Im Verlauf ihres gesteuerten Spracherwerbs sind sie zunehmend in der Lage, formale Genusindikatoren zu erfassen (Thomoglou 2007: 20). Die Lernenden erkennen formalsprachliche Elemente, die das Genus eines Substantivs anzeigen, z.B. Laut- und Silbenstrukturen, Suffixe, die Zugehörigkeit des Nomens zu einer Deklinationsklasse oder auch Formen kongruenter Einheiten im Satz. Manche Nomen können darüber hinaus als Mitglied einer semantischen Gruppe identifiziert werden. Trotz zunehmender Kenntnisse und Fertigkeiten bleibt jedoch der Genuserwerb in Deutsch als Fremdsprache bis in höhere Niveaustufen eine Herausforderung.
|| 1 In einem kroatischen Online-Reiseführer 2012. 2 Köpcke/Zubin (2009: 133) verweisen auf die veränderte Einschätzung in der Linguistik in Bezug auf die Arbitrarität des Genus: „Die Verortung des Genus wird […] vom Lexikon weg in die referierende Nominalphrase hinein verlagert“.
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1.1 Die Funktionen des Genus In den letzten 20 Jahren hat sich in der Forschung die Blickrichtung verändert. In Bezug auf das Genus interessiert nun weniger das einzelne Substantiv als vielmehr die gesamte Nominalphrase. Gleichzeitig betrachtet man die Funktion des Genus bei der Bildung von Wörtern und im Satz. Allgemein wird gegenwärtig angenommen, dass die Hauptfunktion des Genus in der Herstellung von Kongruenz und Kohäsion liegt. Die hauptsächlichen Funktionen des Genus liegen in dem Beitrag zur Herstellung von Referenz in Text und Diskurs, in der Unterstützung der Organisation des Lexikons und in der syntaktischen Klammerfunktion in der Nominalphrase. Ein Diskurs mit Sprechern des Deutschen […] enthält kontinuierliche Markierungsfolgen, die im Zusammenwirken eine (meist eindeutige) Bestimmung des Genus ermöglichen. (Montanari 2012: 18)
Diese Position verändert auch den Sprachunterricht. Dabei muss vorausgesetzt werden, dass die Lernenden genügend sprachlichen Input erhalten, um das Genus in der Nominalphrase zu erkennen. Im Unterricht gilt es, sie auf die kongruenten Formen aufmerksam zu machen. – Das Genus erzeugt in der Nominalphrase bzw. auf Satz- und Textebene Kongruenz der einzelnen Formen und bewirkt dadurch die Ermittlung der Bedeutung. Ich erbte die kleine, rot gestrichene Hütte, die mein Großvater gebaut hatte. Sie steht ca. 2 km außerhalb des Dorfes am Waldrand. Wie die Beispielsätze zeigen, stimmen im Deutschen Artikel, attributives Adjektiv und Substantiv innerhalb der Nominalphrase (NP) mithilfe der Kategorie Genus überein; außerhalb der NP sorgen verschiedene Pronomen für Kongruenz und gleichzeitig für Kohäsion im Text. – Das Genus verdeutlicht die Elemente von Komposita und Derivaten bzw. die Links-/Rechts-Anordnung im Deutschen als so genannte klammernde Sprache. (Köpcke/Zubin 2009: 151) Der kleine Wochenendhausschlüssel; eine große Aufregung. Allerdings ist damit noch nicht geklärt, warum Hütte ein feminines Genus hat und Schlüssel ein Maskulinum ist – und wie dies möglicherweise zu erkennen ist. In Bezug auf den Fremdspracherwerb des Deutschen sind die kongruenten Formen eine Hilfe, um das Genus eines Substantivs erschließen zu können.
1.2 Genuserwerb Für Di Meola (2007: 139) ist das Genus als Kategorie des Substantivs „eine zentrale Eigenschaft, die dazu dient, das mentale Lexikon zu strukturieren […]“. Das Genus zeigt dabei sowohl die Grobstruktur als auch die Feinstruktur des mentalen Lexi-
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kons an. Dementsprechend haben die Faktoren der Genuszuweisung eher Tendenzcharakter (z.B. die Einsilbertendenz: Einsilbige Wörter tendieren zum maskulinen Genus) oder aber es handelt sich um Regularitäten mit geringer Reichweite, aber hoher Validität. Beispielsweise haben Substantive mit den Endungen -heit und -ung immer feminines Genus (Di Meola 2007: 140–153). Beim Erwerb des Genussystems gibt es bei Muttersprachlern auf der einen Seite und bei Fremd- bzw. Zweitsprachigen auf der anderen Seite große Unterschiede. Monolinguale Kinder eignen sich das Genus bis zum Alter von etwa 3 bis 3,5 Jahren an. Das Genus wird im Erstspracherwerb also unproblematisch erworben. Dies gilt auch für Kinder, die bilingual (mit zwei Erstsprachen) aufwachsen (Montanari 2012: 17). Beim kindlichen Zweitspracherwerb sowie bei der Aneignung als Fremdsprache zeigt sich der Erwerb des deutschen Genus dagegen als schwieriger und lang andauernder Prozess, da das offenbar vorhandene Regelsystem sehr komplex und schwer zu beschreiben ist (Menzel/Tamaoka 1995: 12, Menzel 2003: 233, Thomoglou 2007: 20, Montanari 2012: 17). Heringer (1995: 203) bezeichnet das Genus deutscher Substantive als ein „Lernproblem […] und auch ein Lehrproblem“. Alle genannten Autoren sprechen sich dafür aus, Prinzipien der Genuszuweisung im Unterricht explizit zu vermitteln und die Lernenden für so genannte formale Genusindikatoren (Thomoglou 2007: 20) zu sensibilisieren. Eine Analyse der Kriterien, die Deutschlernende bei der Genuszuweisung deutscher Substantive anlegen, kann Einblicke in den Genuserwerb von Lernern des Deutschen als Fremdsprache geben. Ebenso bedeutsam ist die Frage, wie der Unterricht den Genuserwerb unterstützen kann und ob bzw. auf welche Weise aktuelle Lehrwerke das Genus thematisieren.
2 Untersuchung zur Genuszuweisung tschechischer Deutschlernender Menzel (2003: 235) weist in ihrer Untersuchung mit 91 Deutsch-Studierenden in Japan auf die Ausbildung eines mentalen Genuszuweisungssystems ihrer Probanden hin. Diese bedienten sich offenbar verschiedener morphologischer und phonologischer Genusindikatoren, die sie auch bei ihnen unbekannten deutschen Nomen einsetzen konnten. Grundlage für diesen Beitrag ist eine Erhebung zur Genuszuweisung tschechischer Deutschlerner, die zu ähnlichen Ergebnissen kommt. 3
|| 3 Die Untersuchung wurde von Zdeňka Mičová im Rahmen ihrer Masterarbeit durchgeführt, die dafür auch die Tests entwickelte. Sie hat die Ergebnisse freundlicherweise für diesen Beitrag zur Verfügung gestellt.
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2.1 Darstellung der Erhebung Im Schuljahr 2010/2011 wurden 68 Schülerinnen und Schüler der höheren Klassen eines Gymnasiums in Tschechien auf ihre je individuellen Genuszuweisungskriterien getestet. Dies geschah mit Hilfe einer Wortliste und eines Lückentextes sowie eines anschließenden Interviews. Die DaF-Lernenden sollten auf der Wortliste bei 30 isolierten Substantiven den definiten Artikel im Nominativ Singular ergänzen (Aufgabe 1). Anschließend galt es, in einem Text aus den vorgegebenen Varianten die korrekte Form kongruenter Satzelemente auszuwählen (Aufgabe 2). In diesem Lückentext kamen die meisten Substantive aus der Wortliste vor, allerdings in deklinierter Form. Im Anschluss an den Lückentext hatten die Lernenden die Gelegenheit, die zugewiesenen Artikel in der Wortliste in einzelnen Fällen zu verändern – da das Vorkommen des Wortes im Text möglicherweise ein anderes Genus nahelegte. Die Veränderung sollte allerdings mit einem farbigen Stift kenntlich gemacht werden. Ebenso sollten unbekannte Nomen eingekreist werden. Mit Hilfe dieser Tests werden Informationen über die individuellen Strategien der Probanden beim Umgang mit dem Genus und beim Erlernen von Genusindikatoren ermittelt.4 Die 30 Items in Aufgabe 1 wurden aufgrund von Genuszuordnungsprinzipien zusammengestellt. Bei sechs Nomen kann das Genus verlässlich nach dem Ableitungssuffix bestimmt werden (z.B. die Send-ung, das Publik-um). Bei zwei weiteren Nomen sind die Suffixe weniger verlässlich: -tum und -nis. Drei Nomen folgen der ER-Regel (z.B. der Teilnehmer). Bei drei weiteren Nomen kommt -er allerdings als Pseudosuffix vor (z.B. das Wasser). Hinzu kommen noch acht Einsilber (z.T. abweichend von der „Maskulin-Tendenz“), sechs Nomen mit einem Auslaut auf Schwa (ETendenz, aber mit Abweichung bei das Ende, der Junge) sowie je ein auf -en und -el auslautendes Substantiv. Die Schülerinnen und Schüler stammen aus fünf Lerngruppen im Rahmen des Deutschunterrichts der Jahrgänge 11–13 eines Gymnasiums in Zlín (Mähren). Sie lernen Deutsch als 1. oder 2. Fremdsprache, haben zum Zeitpunkt der Untersuchung seit mindestens drei Jahren Deutschunterricht und benutzen u.a. die Lehrwerke studio d und AusBlick. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass das Gymnasium eine so genannte DSD II-Schule ist, die es ermöglicht, mit dem Abitur auch das Sprachdiplom Stufe II der deutschen Kultusministerkonferenz zu erwerben. Von dieser Möglichkeit machen allerdings nicht alle Lernenden der Deutschklassen Gebrauch. Eine Befragung der drei beteiligten Lehrkräfte ergab, dass im Unterricht bisher (in unterschiedlicher Intensität und Vollständigkeit) folgende Prinzipien und Tendenzen der Genuszuordnung im Deutschen behandelt worden waren: || 4 Die beiden Aufgaben (Tests) im Rahmen der Datenerhebung sind im Anhang abgedruckt.
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– – – –
Derivationssuffixe, die Femininum (z.B. -heit, -keit, -ung) oder Neutrum (z.B. um, -nis(?), -chen) anzeigen Das Letztgliedprinzip bei Komposita Die ER-Tendenz (Maskulinum) Die E-Tendenz (Femininum).
2.2 Untersuchungsergebnisse Alle fünf Lerngruppen lösten Aufgabe 1 und 2; die Tests wurden eingesammelt und ausgewertet. Anschließend wurden jeweils einige Schülerinnen und Schüler pro Gruppe zu ihren Zuweisungsentscheidungen befragt.5 Die Interviews zeigen durchweg ein hohes Reflexionsniveau der Lernenden in Bezug auf ihre Überlegungen. Interferenzen aus dem Tschechischen oder ‚Raten‘ haben in den seltensten Fällen zu einer falschen Genuszuweisung geführt. Eher beeinflussten eine unvollständige Kenntnis der Zuordnungsregularitäten sowie Übergeneralisierung erlernter Regeln die Genuswahl negativ. Abbildung 1 zeigt die Genusfehler der Probanden. Auffällig ist, dass bei den Nomen die Zahl, die Nummer, der Reichtum, der Kommunismus und der Name sehr häufig ein falsches Genus zugewiesen wurde. Interessanterweise wurden diese Wörter stattdessen mit einem Genus versehen, das durch das Suffix oder die Anzahl der Silben nahe liegend war: Name erhielt dementsprechend ein feminines Genus, Zahl wurde als Maskulinum (Einsilbertendenz) oder Neutrum (ebenfalls viele Einsilber) identifiziert, Nummer wurde ein maskulines oder neutrales Genus zugewiesen; ebenso war Reichtum häufig ein Neutrum. Dass Kommunismus überproportional ein neutrales Genus erhielt, ist möglicherweise Resultat eines Vermittlungsfehlers. Einige Schülerinnen begründeten im Interview ihre Auswahl damit, dass sie gelernt hätten, dass internationale Fachbegriffe im Deutschen stets das neutrale Genus erhielten (Mičová 2011: 56). Weder das Suffix noch eine Interferenz aus dem Tschechischen (komunismus, m.) legen das neutrale Genus nahe. Es soll an dieser Stelle nicht auf alle Fehler und ihre möglichen Ursachen eingegangen werden. Interessant ist zu erwähnen, dass der Sprung von mehreren Probanden ein feminines Genus erhielt, weil -ung von ihnen als Endung identifiziert worden war. Wenn man den Blick auf diejenigen Nomen richtet, bei denen keine oder nur vereinzelt Fehler auftreten, so sind dies Wörter, deren Genuszuweisungsregel eine hohe Validität aufweist (z.B. der Teilnehmer, der Drucker, die Sendung, die Fähigkeit, das Leben). Regularitäten mit hoher Validität führten in der Untersuchung entweder
|| 5 Interviews (geführt auf Tschechisch) als Tonaufnahme auf der CD der Masterarbeit.
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zu einer korrekten Genuszuweisung oder es entstanden Fehler aufgrund von Übergeneralisierung des jeweiligen Prinzips.6
die Sendung
1
die Zahl
50
das Jahr
7
der Traum
12
das Leben
3
der Reichtum der Teilnehmer
48 0
die Fähigkeit
5
die Leistung
7
die Runde
7
das Haus
3
die Stadt
19
die Punkt
18
das Publikum
7
die Nummer
49
die Stimme
8
der Sprung
32
das Ende
27
der Sieger
5
die Staffel
39
das Finale
25
das Ereignis
33
das Mädchen
10
der Name
44
das Lied
13
der Kommunismus der Drucker
48 0
der Junge die Mutter das Wasser
9 0 9
Abb. 1: Genuszuweisungsfehler aller Probanden in Aufgabe 1 (Mičová 2011: 53)
|| 6 Bei Wörtern wie Mutter und Haus handelt es sich darüber hinaus um hochfrequente Nomen.
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Tabelle 1 führt die Genuszuweisung bei unbekannten Nomen gesondert auf. Die Tabelle zeigt erneut, dass die Probanden bei ihrer Wahl relativ sicher auf genushinweisende Wortendungen zurückgreifen können. Nomen mit den Ableitungssuffixen -er, -e und -keit erreichen eine hohe Zuweisungskorrektheit, während die Suffixe -nis und -tum, deren Validität schwächer ist, entsprechend weniger korrekte Zuordnungen erhalten. Tab. 1: Genuszuweisungen bei unbekannten Substantiven Mičová (2011: 57) Gesamtzahl der Kennzeichnungen7
Korrekt zugewiesene Genera
Genuszuweisungseffizienz in %
das Ereignis
45
24
53,33
der Reichtum
34
12
35,29
die Staffel
32
19
59,38
der Sieger
26
20
76,92
der Drucker
21
21
100
die Stimme
14
11
78,57
die Fähigkeit
13
9
69,23
Eine schriftliche Befragung der Teilnehmer ergab, dass ein Großteil von ihnen davon überzeugt ist, „dass die Genuszuordnung im Deutschen nicht arbiträr ist, sondern bestimmten Regeln folgt“ (Mičová 2011: 64). Ebenso sind die meisten Untersuchungsteilnehmer der Ansicht, dass das Genus für die Kommunikation in deutscher Sprache wichtig sei. Das ist ein wichtiges Ergebnis für die Sprachdidaktik: Die Schülerinnen und Schüler halten – aufgrund des Deutschunterrichts und ihrer eigenen Beobachtungen – das Genus für kommunikativ relevant und erlernbar. Da bei den regelhaften Fällen unter den Testwörtern auch bei unbekannten Nomen eine hohe Genuszuweisungseffizienz verzeichnet werden konnte, widmet sich der letzte Abschnitt des Beitrags dem DaF-Unterricht bzw. der Genusvermittlung durch DaF-Lehrwerke. Eine wichtige Ursache für die Probleme der Probanden scheint die unvollständige Kenntnis der Regularitäten deutscher Genuszuordnung sowie ihrer Ausnahmen zu sein. Prinzipien der Genuszuweisung – aber ebenso auch Memorierhilfen – sollten im DaF-Unterricht explizit vermittelt werden. Eine Analyse aktueller Lehrwerke soll zeigen, ob diese dabei Unterstützung leisten.
|| 7 Kennzeichnung bedeutet eine Markierung als unbekanntes Wort.
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3 Das Genus in Lehrwerken für Deutsch als Fremdsprache Menzel (2003: 237) fordert im Ergebnis ihrer Untersuchung die Beachtung folgender Themen im DaF-Unterricht, um den Lernenden den Erwerb der Genuszuordnungen zu erleichtern: a. Stärkere Betonung adäquaten Genuswissens bereits im Anfangsunterricht, b. Sensibilisierung für potenzielle Genusindikatoren, c. Inputstrukturierung, d. Explizite Vermittlung von Genusregeln. Auch andere Autoren betonen die Wichtigkeit einer systematischen und kognitiv gesteuerten Genusvermittlung und -reflexion (Heringer 1995, Di Meola 2007), bei der einfache Regeln mit breitem Gültigkeitsbereich (Diehl 1999) erarbeitet werden. Thomoglou (2007: 20) betont die Notwendigkeit eines hinreichenden Inputs, aus dem Lernende Genusindikatoren deduzieren und auf neue Nomen übertragen können. Allerdings wird auch darauf verwiesen, dass die Reichweite und die Validität der Regeln oft gering sei (Di Meola 2007: 139) und „die Verwertbarkeit morphophonologischer Anhaltspunkte […] für Anfänger zwangsläufig sehr limitiert“ (Menzel/Tamaoka 1995: 20) ist, da der Input für eine Regelbildung noch nicht ausreicht. Lernende brauchen demnach einen gewissen Input an Substantiven mit Artikel sowie Aufmerksamkeit für das Genus. Die Frage ist, inwieweit sie dabei von Lehrwerken unterstützt werden. Analysiert wurden acht aktuelle Lehrwerke für Jugendliche und Erwachsene der Niveaustufen A1 bis C1.8 Auf den Niveaustufen A1 und A2 wird das Genus jeweils farbig markiert (Aussichten, Ideen und wir). Das Lehrbuch wir führt dies in seinem ersten Band (für 10–12jährige Kinder) am deutlichsten aus: Die Schrift des Substantivs und des dazugehörigen bestimmten/unbestimmten/Possessiv-Artikels ist bei Maskulina blau, bei Feminina rot, bei Neutra grün und im Plural orange. Ebenso wird mit kongruenten Personalpronomina verfahren (die Schule – sie). In Band 2 und 3 nimmt die Häufigkeit der Markierungen ab; weitere Hinweise gibt es aber nicht, das Genus wird nicht explizit thematisiert. Das Lehrwerk Ideen (für Jugendliche) geht ähnlich vor, allerdings sind die Substantive nicht farbig gedruckt, sondern erhalten einen entsprechend farbigen Punkt. Das Lehrwerk Berliner Platz (für Erwachsene) thematisiert das Genus, jedoch werden im 1. Band noch gar keine Regeln vermittelt und im 2. Band wird lediglich auf das Genus bei Komposita hingewiesen. Es werden eher Lerntipps gegeben („No|| 8 Vgl. die kommentierte Zusammenstellung der Lehrwerke im Anhang.
Genuszuweisung im Unterricht Deutsch als Fremdsprache | 149
men immer mit Artikel lernen“ – 1. Band: 30, 37, 61) und es wird mit Memoriertechniken gearbeitet (Wortschatzkarten für Nomen mit Artikel und Pluralform; „Artikelbilder machen“ – 1. Band: 166). Letzteres ist ein etwas zweifelhaftes mnemotechnisches Verfahren. Wenn man davon ausgeht, dass farbige Markierungen und Wortschatzkarten dazu dienen, die Substantive zu strukturieren und Input aufzubauen, ist diese Vorgehensweise gutzuheißen. Lernende auf den beiden unteren Niveaustufen müssen erst einmal sehr viel Wortschatz aufbauen und haben außer den Substantiven u.a. auch noch Verbformen und Satzstrukturen zu lernen. Da der Wortschatz noch überschaubar ist, kann das Genus zusammen mit dem Substantiv memoriert werden. Allerdings wird dies bei zunehmendem Wortschatzumfang schwieriger und es ist sehr bedauerlich, dass auch der jeweilige 3. Band der genannten Lehrwerke keine Hinweise zur Genuszuordnung gibt. Eine deutliche Veränderung erfolgt bei einigen Lehrwerken ab der Niveaustufe B1. Berliner Platz 3 vermittelt explizit Endungen, die ein feminines Genus „fordern“ (37), sowie das Genus bei der Substantivierung von Verben (z.B. das Gehen, 73). Allerdings wird die Vermittlung nicht fortgeführt, der 4. Band kommt wiederum ohne Genushinweise aus. Anders verhält es sich mit Lehrwerken, die sich ausdrücklich an sehr fortgeschrittene (und ambitionierte) Lerner wenden. Aspekte 3 (C1), em neu H (B2), Mittelpunkt neu B2 und Mittelpunkt C1 vermitteln explizit Genusprinzipien bei Komposita, Ableitungen und Substantivierungen sowohl bei deutschen als auch bei internationalen Wörtern und dies je mehr, desto neuer die Auflage der jeweiligen Reihe ist. Jedoch vermittelt kein Lehrwerk komplett die Genus-Regeln, die mit den Schülerinnen und Schülern in Zlín erarbeitet wurden (vgl. in dieser Arbeit Kap. 2.1). Das Genus (in den Lehrbüchern: der Artikel) wird unter der Rubrik Wortbildung vermittelt. Wenn man die Zusammenstellungen in Aspekte 3 oder Mittelpunkt neu B2 betrachtet, fällt auf, dass sich beide Lehrwerke um eine systematische Darstellung der auf das Genus hinweisenden Suffixe bemühen. Mittelpunkt neu B2: „Das Suffix bestimmt den Artikel des Nomens.“ (189). Aspekte 3 gibt darüber hinaus die „häufige Bedeutung“ (15) der Wörter mit entsprechenden Endungen an, z.B. bei -er: „Gebrauchsgegenstände und Personen“. Die Zusammenstellung in Mittelpunkt ist dabei valider und sicherer als bei Aspekte, das beispielsweise bei der e-Endung ein Maskulinum nahelegt (glauben – der Glaube) und beim Suffix -nis ein Neutrum (erleben – das Erlebnis). Anders ausgedrückt: die Gültigkeit und Reichweite mancher Genusregeln ist nicht zufrieden stellend und damit schwer zu vermitteln. Und manchmal ist das Genus nicht zu erklären: fliegen – der Flug, wählen – die Wahl, warum nicht umgekehrt oder dasselbe Genus? Entgegen der optimistischen Auffassung der Lernenden aus Zlín ist das Genus manchmal wohl doch arbiträr.
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4 Fazit und Ausblick auf Deutsch als Zweitsprache Montanari (2012) hat in ihrer Studie mit 17 Kindern, die Deutsch als Zweitsprache erwerben, festgestellt, dass 14 der 17 Kinder kurz vor der Einschulung kein Genus zuweisen. Dies zeige „die erhebliche Aneignungsschwierigkeit“ (Montanari 2012: 25). Sie sieht eine Lösung „im schrittweisen Aufbau von Kongruenz im Diskurs“ (26) und in einer angemessenen Inputqualität (27). Dabei ist denkbar, dass zunächst nur ein Genus bearbeitet wird, dessen Markierungen von den Lernern allmählich erfasst werden (der – sein – er – ihm – dem). Möglicherweise kann auf diese Weise die Sprachaufmerksamkeit der Lernenden auf das Genus gelenkt werden, sodass das bislang nicht registrierte Genus erfragt wird (der, die oder das Messer?). Diese Überlegungen zeigen Ähnlichkeiten mit dem Unterricht in Deutsch als Fremdsprache, bei dem die Vermittlung expliziter Genusregeln noch hinzutritt. Aber auch das könnte für Zweitsprachenlernende nützlich sein, zumindest ab dem Grundschulalter. Viele Schülertexte zeigen, dass der Genuserwerb bei Zweitsprachenlernenden auch in der Sekundarstufe I noch nicht abgeschlossen ist und dass es sehr zielführend wäre, sie auf Genusindikatoren aufmerksam zu machen.
Literatur Sekundärliteratur Diehl, Erika (1999): Schulischer Grammatikerwerb unter der Lupe. Das Genfer DiGS-Projekt. In: Bulletin suisse de linguistique appliquée 70, 7‒26. Di Meola, Claudio (2007): Genuszuweisung im Deutschen als globaler und lokaler Strukturierungsfaktor des nominalen Lexikons. In: Deutsche Sprache 35, 138‒158. Heringer, Hans Jürgen (1995): Prinzipien der Genuszuweisung. In: Popp, Heidrun (Hrsg.): Deutsch als Fremdsprache. München: Iudicium, 203‒216. Jeuk, Stefan (2008): „Der Katze jagt den Vogel“. Aspekte des Genuserwerbs im Grundschulalter. In: Ahrenholz, Bernt (Hrsg.): Zweitspracherwerb. Diagnosen, Verläufe, Voraussetzungen. Freiburg: Fillibach, 135‒150. Köpcke, Klaus-Michael und David A. Zubin (2009): Genus. In: Hentschel, Elke und Petra M. Vogel: Deutsche Morphologie. Berlin: De Gruyter, 132‒154. Köpcke, Klaus-Michael und David A. Zubin (1984): Sechs Prinzipien für die Genuszuweisung im Deutschen: Ein Beitrag zur natürlichen Klassifikation. In: Linguistische Berichte 93, 26‒50. Maijala, Minna (2010): Grammatische Unterrichtsinhalte in Lehrwerken Deutsch als Fremdsprache. In: Zielsprache Deutsch 37, 17‒44. Menzel, Barbara (2003): Genuserwerb im DaF-Unterricht. In: Deutsch als Fremdsprache 40, 233‒ 237. Menzel, Barbara und Katsuo Tamaoka (1995): Der? Die?? Das??? Genuszuweisung bei Anfängern: Zufall, Pauken oder Strategie? In: Deutsch als Fremdsprache 32, 12‒22.
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Mičová, Zdeňka (2011): Das Genussystem im Deutschen und im Tschechischen. Eine kontrastive Analyse im Hinblick auf die Probleme tschechischer Deutschlerner bei der Genuszuweisung. Master-Arbeit Univ. Münster. Unveröff. Manuskript. Montanari, Elke (2012): Genuserwerb im Diskurs in der zweiten Sprache Deutsch. Ahrenholz, Bernt und Werner Knapp (Hrsg.): Sprachstand erheben – Spracherwerb erforschen. Beitrag aus dem 6. Workshop „Kinder mit Migrationshintergrund“. Stuttgart: Klett, 17‒33. Noack, Christina und Christine Dimroth (2012): Nominalflexion: Defizite erkennen und beheben. In: Deutschunterricht 4, 14‒18. Opdenhoff, Jan-Hendrik (2009): Mnemotechnische Methoden im DaF-Erwerb. Eine experimentelle Studie zur Genuszuweisung. In: Deutsch als Fremdsprache 46, 31‒37. Richter, Thomas (2009): Erwerb des korrekten Genus-Gebrauchs im Kontext sprachlicher Fossilierungseffekte – wie die Bewusstmachung des Sprachbaus am Beispiel des Genus den Lernprozess von „Fließendfalschsprechern“ wieder in Gang bringen kann. In: Deutsch als Zweitsprache 3, 40‒48. Rogina, Irene (2010): Das Genus der Substantive – Überlegungen aus der fremdsprachlichen Lernund Erwerbssicht. In: Deutsch als Fremdsprache 47, 151‒159. Thomoglou, Polichronia (2007): Mutterspracheneinfluss beim Genuserwerb. In: Deutsch als Fremdsprache 44, 20‒25.
Untersuchte Lehrwerke Aspekte Koithan, Ute et al. (2007): Aspekte. Mittelstufe Deutsch. Lehrbuch 1. Berlin: Langenscheidt. (B1+) Koithan, Ute et al. (2008): Aspekte. Mittelstufe Deutsch. Lehrbuch 2. Berlin: Langenscheidt. (B2) Koithan, Ute et al. (2010): Aspekte. Mittelstufe Deutsch. Lehrbuch 3. Berlin: Langenscheidt. (C1) AusBlick Fischer-Mitziviris, Anni (2007): AusBlick 1. Deutsch für Jugendliche und junge Erwachsene. Brückenkurs. Kursbuch. Ismaning: Hueber. (B1) Fischer-Mitziviris, Anni (2009): AusBlick 2. Deutsch für Jugendliche und junge Erwachsene. Kursbuch. Ismaning: Hueber. (B2) Fischer-Mitziviris, Anni (2010): AusBlick 3. Deutsch für Jugendliche und junge Erwachsene. Kursbuch. Ismaning: Hueber. (C1) Aussichten Ros, Lourdes et al. (2009): Aussichten A1. Deutsch als Fremdsprache für Erwachsene. Kurs- und Arbeitsbuch. Stuttgart: Ernst Klett Sprachen. (A1) Berliner Platz NEU Lemcke, Christiane et al. (2009): Berliner Platz NEU 1. Deutsch im Alltag. Lehr- und Arbeitsbuch. Berlin/München: Langenscheidt. (A1) Lemcke, Christiane et al. (2010): Berliner Platz NEU 2. Deutsch im Alltag. Lehr- und Arbeitsbuch. Berlin/München: Langenscheidt. (A2) Lemcke, Christiane et al. (2011): Berliner Platz NEU 3. Deutsch im Alltag. Lehr- und Arbeitsbuch. Berlin/München: Langenscheidt. (B1) Harst, Eva et al. (2012): Berliner Platz NEU 4. Deutsch in Alltag und Beruf. Lehr und Arbeitsbuch. Berlin/München: Langenscheidt. (B2)
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em neu Perlmann-Balme, Michaela (2008): em neu. Deutsch als Fremdsprache. Brückenkurs. Kursbuch. Ismaning: Hueber. (B1) Perlmann-Balme, Michaela (2008): em neu. Deutsch als Fremdsprache. Hauptkurs. Kursbuch. Ismaning: Hueber. (B2) Perlmann-Balme, Michaela (2008): em neu. Deutsch als Fremdsprache. Abschlusskurs. Kursbuch. Ismaning: Hueber. (C1) Ideen Krenn, Wilfried und Herbert Puchta (2008): Ideen. Deutsch als Fremdsprache. Kursbuch 1. Ismaning: Hueber. (A1) Krenn, Wilfried und Herbert Puchta (2009): Ideen. Deutsch als Fremdsprache. Kursbuch 2. Ismaning: Hueber. (A2) Mittelpunkt Daniels, Albert et al. (2008): Mittelpunkt C1. Deutsch als Fremdsprache für Fortgeschrittene. Lehrbuch. Stuttgart: Klett Sprachen. Mittelpunkt neu Daniels, Albert et al. (2012): Mittelpunkt neu B2. Deutsch als Fremdsprache für Fortgeschrittene. Lehrbuch. Stuttgart: Klett Sprachen. wir Jenkins, Eva-Maria (2004): Wir 1. Grundkurs Deutsch für junge Lerner. Lehrbuch. Stuttgart: Klett. (A1) Jenkins, Eva-Maria (2004): Wir 2. Grundkurs Deutsch für junge Lerner. Lehrbuch. Stuttgart: Klett. (A2) Jenkins, Eva-Maria (2004): Wir 3. Grundkurs Deutsch für junge Lerner. Lehrbuch. Stuttgart: Klett. (B1)
Genuszuweisung im Unterricht Deutsch als Fremdsprache | 153
Anhang I
Datenerhebung zum Thema: Genuszuweisung im DaFUnterricht (Zdeňka Mičová 2011)
Untersuchte Gruppe: Gymnázium Zlín (Tschechien), 68 Schülerinnen und Schüler aus fünf Lerngruppen der Jahrgänge 11 bis 13 Aufgabe 1: a) b)
Der, die oder das? Ergänze bei allen Substantiven den bestimmten Artikel im Nominativ Singular. Welche Substantive kennst du nicht? Kreise sie ein.
____ Sendung, ____ Zahl, ____ Jahr, ____ Traum, ____ Leben, ____ Reichtum, ____ Teilnehmer, ____ Fähigkeit, ____ Leistung, ____ Runde, ____ Haus, ____ Stadt, ____ Punkt, ____ Publikum, ____ Nummer, ____ Stimme, ____ Sprung, ____ Ende, ____ Sieger, ____ Staffel, ____ Finale, ____ Ereignis, ____ Mädchen, ____ Name, ____ Lied, ____ Kommunismus, ____ Drucker, ____ Junge, ____ Mutter, ____ Wasser. Aufgabe 2: a) b)
Kreise im folgenden Text über Castingshows die passenden Ausdrücke ein. Wenn du dich nach dem Lesen des Textes über Castingshows entscheidest, einige Artikel in der Aufgabe 1 zu verändern, schreibe die neuen Artikel mit einer anderen Farbe.
Castingshows Eine Castingshow ist ein/eine Sendung im Fernsehen, in dem/der/den besonders talentierte Sänger, Tänzer oder Models gesucht werden. Der/Die/Das Zahl der Bewerber ist jeden/jede/jedes Jahr sehr hoch. Alle Kandidaten wollen ihren/ihr/ihre Traum von eine/einem/einen neue/neuen Leben verwirklichen. In diesen/diese/ diesem Leben spielen die Popularität und der/die/das Reichtum eine wichtige Rolle. Der/Die/Das Teilnehmer einer Castingshow zeigt sein/seine/ihr/ihre Fähigkeit vor einer Jury. Er/Sie/Es beurteilt der/die/das Leistung der Bewerber und trifft den/die/ das Entscheidung darüber, wer in den/die/das nächste Runde kommt und wer die Show verlassen muss.
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Die besten Kandidaten ziehen meistens in ein gemeinsamen/gemeinsame/gemeinsames Haus ein. Nach den Castings fängt die Live-Show-Phase an. Die Live-Shows finden immer in einen/einer/einem deutschen Stadt statt. Zu diesem/diese/dieses Zeitpunkt darf auch der/die/das Publikum mitentscheiden. Über ein/eine/einen speziellen/spezielle/spezielles Telefonnummer können die Zuschauer ihr/ihre/ihren Stimme für ihren Lieblingskandidaten abgeben. Den/Die/Das Sprung ins Finale schaffen nur die beiden besten Acts. Am/An Ende jeder Castingshow steht nur ein/eine Sieger. Im Herbst 2010 ist in Deutschland der/die/das erste Staffel der Castingshow „X Factor“ zu Ende gegangen. Der/Die/Das Finale war ein/eine großer/große/großes Ereignis. Es hat ein/eine Mädchen aus der Schweiz gewonnen, ihr/ihre/sein/seine Name ist Edita. Ihr/Ihre/Sein/Seine neuer/neue/neues Lied heißt „I’ve Come To Life“.
II
Zusammenstellung: Das Genus in Lehrwerken für Deutsch als Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache
Lehrwerk
Kommentar
Aspekte 1
Nichts
Aspekte 2
Nichts
Aspekte 3
– Genus bei bestimmten Endungen abgeleiteter Substantive mit Beispielen (S. 15, 21 u. 194/195)
Ausblick 1
Lektion 3: Substantivierte Adjektive im Plural: die Jugendlichen; Substantivierung von Partizipien: der/die Anwesende
Ausblick 2
Nichts
Ausblick 3
Nichts
Aussichten
farbige Markierung wie in den Lehrwerken wir und Ideen
Berliner Platz NEU 1
– Tipp: Nomen immer mit Artikel lernen (S. 30, S. 37, S. 61) – Nomen aus einer Liste mit Artikel und Plural nennen (S. 147) – Nomen mit Artikel lernen, „Artikelbilder“ machen (S. 166) [Mnemotechnik] – Wortschatzkarte für Nomen mit Artikel und Pluralform (S. 179)
Berliner Platz NEU 2
– Das Genus bei Komposita (S. 181)
Berliner Platz NEU 3
– „Wörter mit diesen Endungen haben immer den Artikel die: deutsche Wörter: heit, -keit, -schaft, -ung; internationale Wörter: -(i)tät, -(t)ion, -ik, -thek(e)“ (S. 37) – „Substantivierte Verben stehen immer mit dem Artikel das“ (das Gehen, S. 73)
Genuszuweisung im Unterricht Deutsch als Fremdsprache | 155
Lehrwerk
Kommentar
Berliner Platz NEU 4
Nichts
em neu 1
Nichts
em neu 2
Genus bei Komposita und bestimmten Endungen abgeleiteter Substantive („deutsche und fremdsprachliche Nominalisierungen“, S. 113)
em neu 3
Nichts
Ideen 1
– farbige Markierung durch bunten Punkt vor Substantiven (z.B. S. 14/15; Mask. = blau, Fem. = rot, Neutr. = grün) – wird verwendet bei Komposita, best./unbest. Artikel, Negationsartikel, Possessivartikel etc.
Ideen 2
– farbige Markierung wird fortgesetzt, aber weniger häufig als in Ideen 1
Mittelpunkt C1
– Genus „internationaler“ Substantive (S. 37) – Genus für bestimmte Endungen und Fremdwörter (Referenzgrammatik S. 170 172)
Mittelpunkt neu B2
– Genus bei Komposita und bestimmten Endungen abgeleiteter Substantive (z.B. -heit/-er/-chen) mit Beispielen (Referenzgrammatik S. 189)
wir 1
– farbige Markierung: Mask. = blau, Fem. = rot, Neutr. = grün, Pl. = orange, Schrift des Substantivs und des Artikels ist farbig, ebenso Personalpronomen (Farbenverteilung wie im Lehrwerk Ideen) – wird verwendet bei best./unbest. Artikel, Artikel + Präposition, Possessivartikel etc. – „Spiel: Computer! Blau, rot oder grün?“ (S. 49)
wir 2
– farbige Markierung wird fortgesetzt, aber weniger häufig als in wir 1
wir 3
– farbige Markierung wird fortgesetzt, aber noch weniger häufig als in wir 1 und 2
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III
Schulbuchseiten ASPEKTE 3, S. 15 und MITTELPUNKT neu B2, S. 189
Genuszuweisung im Unterricht Deutsch als Fremdsprache | 157
Rüdiger Harnisch
Das generische Maskulinum schleicht zurück Zur pragmatischen Remotivierung eines grammatischen Markers
1 Problemaufriss und These Der grammatische Marker, von dem hier die Rede sein wird, ist das Suffix -end von Partizip-Präsens-Konstruktionen, mit denen in substantivierter Form Personen bezeichnet werden, z.B. Studier-end-e. Partizipien verhalten sich flexivisch wie Adjektive. Beide weisen im Singular eine Genus-Unterscheidung auf (alt-er Mann/alt-e Frau, alternd-er Mann/alternd-e Frau). Im Plural ist Genus jedoch neutralisiert (alt-e Männer/Frauen, alternd-e Männer/Frauen). Die Genusneutralität behalten sie auch, wenn sie substantiviert werden (Alt-e, Alternd-e). Diese Eigenschaft erlaubt es adjektivischen und unter ihnen partizipialen Pluralformen, genusneutral auf beide Sexus zu referieren. Wenn sie substantiviert sind, können sie eigentliche Substantive ersetzen, ohne dass sich dabei der Zwang einer Genuszuordnung ergibt: Studierende ist genusneutral, Studenten dagegen wäre maskulin. Unter den Bedingungen einer feministischen Sprachpolitik, nach der Genus und Sexus 1:1 zu setzen sind und sich Generizität trotz ihrer paradigmatischen und pragmatischen Ökonomie (Harnisch 2009) verbietet, stellen solche pluralischen Partizipien eine probate Strategie zur Vermeidung sowohl von generischen Formen (Studenten) als auch von Splitting-Syntagmen (Studentinnen und Studenten) dar. Entsprechend häufig wird von diesem Vermeidungsverfahren Gebrauch gemacht. Es ist nun jedoch zu beobachten, dass die Partizipialformen des genannten Typs vermehrt auch singularisch (und damit genusspezifisch) und als Maskulina in nachweislich generischer Bedeutung verwendet werden: der Studierende, ein Studierend-er. Hypothese zur Erklärung dieses Formengebrauchs ist, dass hier offensichtlich ein Prozess der Reanalyse des Partizipialsuffixes -end stattgefunden hat. Ursprünglich notwendig, um an der adjektivischen Flexion teilhaben und damit bei Substantivierung im Plural das Genus neutralisieren zu können, wird das Partizipialsuffix, so die in diesem Beitrag aufgestellte Hypothese, zum Marker feministisch korrekter Sprechweise per se und erfährt damit eine pragmatische Remotivierung. Die ursprüngliche grammatische Bedingung, dass die gewünschte Genusneutralisierung nur im Plural funktioniert, gerät in Vergessenheit, und das generische Maskulinum schleicht sich, für die Verwender unbemerkt, ins Sprachsystem zurück. Zu
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unterstellendes Sprachbewusstsein und tatsächlicher Sprachgebrauch stimmen nicht (mehr) überein.1
2 Empirischer Befund Studien- und Prüfungsordnungen sind eine besonders ergiebige Quelle für den behandelten Gegenstand. In ihren alten, feministisch noch nicht korrekten Fassungen enthielten sie Formulierungen wie (1) Auf Anfrage erhält der Student Auskunft über den Stand seiner Leistungspunkte.2 In den letzten Jahren wurden solche Textpassagen durch Änderungssatzungen den Maßgaben der sogenannten ‚Geschlechtergerechtigkeit‘ angepasst.3 Die zum Zwecke der vorliegenden Untersuchung exemplarisch ausgezählte Prüfungsordnung eines Bachelor-Studiengangs wies in ihrer ursprünglichen Fassung 13 Vorkommen des Singulars von Student in einer solchen generischen Verwendung auf. Alle 12 von 13 Textstellen mit Student in unterschiedlichen Kasus, die von der Änderungsfassung betroffen waren, wurden im jeweiligen Kasus in den Typus der Studierende oder ein Studierender umgeformt. Diese Änderungen machten in der Satzung immerhin ein knappes Drittel aller Änderungen aus. Durch einen neu aufgenommenen Absatz sind zwei weitere Fälle des Typs der Studierende hinzugekommen. Beleg (1) zum Beispiel hatte jetzt den Wortlaut von (2): (2) Auf Anfrage erhält der Studierende Auskunft über den Stand seiner Leistungspunkte. Die Änderungen hatten immer das Format (3) In Satz x wird das Wort Student durch das Wort Studierender ersetzt. Auf die Formen der anaphorischen Pronomina musste man nicht explizit eingehen, denn sowohl der Student als auch der Studierende werden mit einem maskulinen
|| 1 Ähnliche Ausprägungen der Nicht-Übereinstimmung von Bewusstsein und Verwendung stellen auch Schröter/Linke/Bubenhofer (2012: 377) fest. 2 Die für das Thema relevanten Formen werden hier und im Folgenden vom Verf. kursiv gesetzt. 3 Die hier unmittelbar folgenden Ausführungen beziehen sich auf Satzungen zur Änderung von Studien und Prüfungsordnungen modularisierter Studiengänge, die am 28. Februar 2007 im Fakultätsrat der Philosophischen Fakultät der Universität Passau beschlossen werden sollten.
Das generische Maskulinum schleicht zurück | 161
Pronomen wiederaufgenommen, in den Beispielen (1) und (2) mit dem Possessivpronomen seine. Bei der Neuredaktion des Prüfungsordnungs-Textes hatte man also nur das eine generische Maskulinum in ein anderes generisches Maskulinum transformiert. 14 mal ist in der geänderten Prüfungsordnung nun im Singular von einem oder dem Studierenden die Rede. In der ursprünglichen Fassung war auch zweimal die Pluralform Studenten vorgekommen. Eine dieser Textstellen ist übrig geblieben. Dort findet sich nach der Änderung jetzt statt der generischen Formulierung Vertrauensschutz der Studenten die genusneutrale Formulierung Vertrauensschutz der Studierenden. Von den über ein Dutzend Partizipialformen im geänderten Text hat also gerade mal eine den intendierten Zweck erfüllt: die angeführte Pluralform. Nur im Plural der adjektivischen Flexion, der die Partizipialformen (und ihre Substantivierungen) folgen, wird ja Genus, wie einleitend ausgeführt, neutralisiert. Die beiden Personen aus dem Kollegium, die für die betreffenden Studiengänge und die Vorbereitung der Änderungssatzungen verantwortlich waren, hatten, obwohl für Fragen der feministischen Linguistik in höchstem Maße sensibilisiert4, die in den Änderungsfassungen enthaltene „Ungerechtigkeit“ durch die in hoher Zahl vorkommenden neuen generischen Maskulina ebensowenig bemerkt wie der in der Rechtsabteilung der Universität für den Wortlaut der Änderungssatzung Zuständige. Auch allen anderen im Fakultätsrat Anwesenden war der Umstand nicht aufgefallen. Als dann Verfasser das Problem in der Versammlung ansprach, wurde sein Anliegen zunächst gar nicht und später erst dann verstanden, als er davon abließ, das Problem am partizipialen Substantiv selbst zu erklären, vielmehr auf den maskulinen Artikel der und die maskulinen Pronomina wie er oder sein hinwies. Erst da sprang die Wahrnehmung auf die Bewusstseinsebene. Die Diskussion in der Versammlung hat Verfasser veranlasst, am Tag nach der Sitzung folgende Mail an eine der für die Änderungen verantwortlichen Personen zu schreiben, um mit ihr in einen linguistischen (!) Gedankenaustausch über das Phänomen zu treten: (4) das gestern von mir im FBRat angesprochene Genus/Sexus-Problem interessiert mich derzeit auch linguistisch. So – und nicht sprachpolitisch – ist auch diese E-Post und ihr Anhang motiviert. […] Interessant ist also, wie sich […] die generischen Maskulina, gleichsam von den Verwendern unbemerkt, durch die Hintertür wieder in den Sprachgebrauch einschleichen. In der Antwortmail wird das Bild vom „Einschleichen“ aufgegriffen:
|| 4 Dazu noch Linguisten.
162 | Rüdiger Harnisch
(5) Nicht nur unter linguistischen, sondern auch unter rechtlichen Aspekten haben Sie einen wichtigen Gesichtspunkt aufgegriffen, denn das neue Hochschulgesetz achtet inzwischen peinlich darauf, dass sich generische Maskulina nicht mehr „einschleichen“ können. Den generischen Maskulina ist es aber, sozusagen im Suffix -end „verpuppt“, selbst unter strenger sprachpolitischer Observation trotzdem gelungen. Ergebnis der Sitzung war, dass die Änderungssatzungen zur Bearbeitung in diesem heiklen Punkt zurückgegeben werden mussten. So konnte allerdings, was interessant gewesen wäre, nicht mehr verfolgt werden, auf welcher Ebene des Gangs dieses Textes durch immer höhere Verwaltungsinstanzen mit einer dadurch immer weiter steigenden Offizialität das Problem entdeckt worden wäre – und ob überhaupt. An Belegen für das untersuchte Phänomen auf allen Stufen von Offizialität mangelt es jedoch auch so nicht. Dieser Untersuchung liegt eine Sammlung von über 100 Belegen für das Phänomen zugrunde, die von Verf. 1991 begonnen wurde und bis heute fortgeführt wird. Die ältesten Belege dieser Sammlung sind: (6) Jeder Studierende wählt […]; nach Wahl des Studierenden5 Der jüngste Beleg6 entstammt dem Formular zum CHE-Ranking für das Jahr 2013, wo es unter der Ordnungsnummer 20 heißt: (7) die Kenntnisse eines angehenden Studierenden Der Befund ist also ein beleglinguistischer und schon als solcher empirisch breit gestützt. Eine korpuslinguistisch basierte Untersuchung würde die Belegzahl exponentiell erhöhen. Das Material besteht aus einer Sammlung von Belegen des grammatischen Typs der Studierende / ein Studierender und entsprechender pronominaler Wiederaufnahmen mit er, ihm, sein usw. aus gesprochener und geschriebener Sprache jeweils ganz unterschiedlicher Formalitätsgrade. Das Spektrum reicht hierbei von informellen Gesprächen bis zu schriftlich verfassten juristischen Texten. Pragmatisch gesehen sind die Situationen der Verwendung dieser Formen so geartet, dass die Verwender einen generischen Sprachgebrauch nicht intendieren. Wenn sie gegebenenfalls darauf aufmerksam gemacht werden, dass sie entgegen ihrer Intention, feministisch korrekt sprechen oder schreiben zu wollen, generische For-
|| 5 So in auffällig gleichlautenden Formulierungen sowohl die Studienordnung für das Lehramt an Gymnasien der Universität Bayreuth als auch der Studienführer „Editionswissenschaft“ der Universität Osnabrück, beide auf dem Stand von 1991. 6 Vor Ablieferung des Manuskripts.
Das generische Maskulinum schleicht zurück | 163
men verwendet haben, bemerken sie das – vergleichbar mit dem eingangs geschilderten Fall – zunächst nicht einmal. Die Belege reichen dem aufgestellten Kriterium der Offizialität/Formalität nach von mündlichen wie in (8) [dass] die Mensa von jedem Studierenden auch gefunden wird7 über schriftliche, z.B. in Plakatierungsaktionen vorkommende, wie bei (9) Jeder Studierende hat ein Recht zu erfahren, was mit seinem Geld passiert8 und schriftliche, etwa in Pressemeldungen abgedruckte, wie bei (10) Danach bricht jeder vierte Studierende in Deutschland die Ausbildung ab9 bis hin zu schriftlichen in Form von rechtlichen Regelungen wie in (11) Der Studierende kann seine Anmeldung bis zum 11. Januar 2009 […] zurücknehmen.10 Type-frequentiell überwiegt für diese Bildung im Belegmaterial der Studierende oder eine ähnliche Form (ein Studierender). Insofern ist das Phänomen stark lexemgebunden. Stellt man auf eine semantische Gruppierung ab, kann man sagen, dass sich weitere Types vor allem innerhalb des betreffenden Wortfelds ‚Angehörige des Studienbetriebs‘ finden: (12) Darauf aufbauend erwirbt der Lernende Kenntnisse11 (13) Sie bekommen dann eine Unterschrift von dem Lehrenden drunter12 (14) [der Zulassungsausschuss besteht aus] 2 im Studiengang tätigen Hochschullehrenden, 1 [= einem] Akademischen Mitarbeitenden und 1 [= einem] Studierenden13
|| 7 Kanzlerin der Universität Passau auf der Sitzung der Erweiterten Universitätsleitung am 12. Dezember 2011. 8 Aushang der Studierendenvertretung der Universität Passau, gesehen am 21. August 2007. 9 Süddeutsche Zeitung vom 28. Januar 1994. 10 Rundschreiben des Zentralen Prüfungssekretariats der Universität Passau vom 31. Oktober 2008. 11 Manuskript eines Bewerbungsvortrags am 17. März 2011. 12 Mündlicher Hinweis auf einer Informationsveranstaltung in der Orientierungswoche an der Universität Oldenburg am 7. Oktober 2003. 13 Aus der Selbstdokumentation in einem Akkreditierungsverfahren an der Universität Bremen im Januar 2008.
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(15) da Herr [X] auch noch Vorlaufzeit benötigt, um einen Dozierenden zu finden14 (16) Assistierender am Lehrstuhl15 Neben (oder statt) dieser Gebundenheit des Umformungsprozesses an bestimmte Lexeme könnte allerdings bereits eine allgemeinere Form von Bindung, nämlich eine an – bestimmte – Suffixe vorliegen. So scheint es möglich, dass Bildungen auf ent einer fast schon automatischen Transformation zu -ier-end-er-Bildungen unterzogen werden. Über Stud-ent > Stud-ier-end-er hinaus betrifft dies oben (15) Doz-ent > Doz-ier-end-er oder (16) Assist-ent > Assist-ier-end-er. Auch personenbezeichnende Bildungen auf -er scheinen davon erfasst zu werden. Über (12) Lern-er > Lern-end-er, (13) Lehr-er > Lehr-end-er und (14) Mitarbeit-er > Mitarbeit-end-er hinaus sind weitere er-Bildungen betroffen – in der Reihenfolge der Belege unten Preisträg-er, Stellvertret-er, Gutacht-er, Sprech-er und Schreib-er: (17) traditionell ist die Dankesrede, die der Preistragende hält16 (18) Am 27.07.2011 wurde […] als sein Stellvertretender Prof. [X] gewählt17 (19) Es sei gleich eingangs erwähnt, dass ich mich als Gutachtender […] in einer eigenartigen Situation sehe18 (20) Mitteilungsabsichten des Sprechenden19 (21) Vertextungsmuster erleichtern dem Schreibenden […] die Auswahl20 Da nicht nur die Wortbildungsreihen (Fleischer/Barz 1992: 69)21 der -ent- und -er-Ableitungen separat betroffen sind, liegt es nahe, die gesamte Wortbildungsgruppe (Fleischer/Barz 1992: 70)22 der Nomina agentis als von der Umformung zu end-er-Bildungen betroffen anzusehen.
|| 14 Mail aus dem Dekanat der Philosophischen Fakultät der Universität Passau vom 5. September 2012. 15 Verlagswerbung für das Buch „Textlinguistik fürs Examen“ von Heiko Hausendorf und Wolfgang Kesselheim, 2008. 16 In einer von Verf. betreuten Hauptseminar-Arbeit aus dem Sommersemester 2005 über eine skandalisierte Rede von Martin Walser. 17 Auf den 11. November 2011 datierter Entwurf des Protokolls der Sitzung des Fakultätsrats der Philosophischen Fakultät der Universität Passau am 26. Oktober 2011. 18 Männlicher Gutachter zu einem Drittmittelantrag, der am 26. Oktober 2012 bei der Förderinstitution behandelt wurde. 19 Aus einer von Verf. anonym zu begutachtenden Doktorarbeit von 2012. Hier ist der linguistische Terminus gemeint, für den früher Sprecher stand (wie in Sprecher und Hörer zum Beispiel). 20 Aus einer Passauer Habilitationsschrift aus dem Jahre 2007. Hier ist ebenfalls der linguistische Terminus gemeint, für den früher Schreiber stand (wie in Sprecher und Schreiber zum Beispiel). 21 In der Terminologie von Weisgerber (1964) „Wortnischen“. 22 In der Terminologie von Weisgerber (1964) „Wortstand“.
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Zuweilen mag der -end-er-Bildung auch ein Lexem mit abweichendem Grundmorphem zugrundegelegen sein: so für (12) Lernender nicht Lerner, sondern Schüler oder Student, für (13) Lehrender nicht Lehrer, sondern Dozent, für (21) Schreibender nicht Schreiber, sondern Verfasser oder Autor. Überhaupt nicht auf einer -erAbleitung mit gleichem Grundmorphem dürften folgende Fälle basieren: (22) wo […] in der Stufung des Studiums – wie vom Schreibenden seit 40 Jahren – die einzige erfolgversprechende Reform erblickt wird (Forschung & Lehre 05/2006: 262) (23) An den/die Beurteilende(n); Name und Titel des/der Beurteilenden23 Hier hat die -end-er-Bildung überall zusätzlich Synonymen-Charakter: vom Schreibenden (22) statt vom Autor oder von Verfasser, den/des Beurteilenden (23) statt den/des Gutachter/s bzw. die/der Gutachterin. Bleibt sie hier aber immer noch im Bereich von individualisierenden Personenbezeichnungen, so transzendiert die end-er-Bildung diesen Typus in Fällen wie den folgenden: (24) a. Unsere Regierenden tun sich damit schwer b. Könnten unsere Regierenden eine solche Bedrohung im Vorfeld angehen?24 Diese Konstruktionen sind womöglich über die Zwischenbedeutung ‚Angehörige unserer Regierung‘ schon hinaus und auf dem Weg zum Ersatz für Kollektivbildungen wie Regier-ung. Freilich handelt es sich – der Mehrzahligkeit der Angehörigen von Kollektiven geschuldet – um eine Pluralform, doch kann man sich eine Bezeichnung für ein aus dem Kollektiv herausgegriffenes Individuum des Typs *Regierender ‚Angehöriger der Regierung‘ durchaus vorstellen.
3 Theoretische Einordnung Der empirische Befund ist, wie in Kapitel 2 zu sehen, durch Belege gut abgesichert und das Phänomen wohl adäquat beschrieben. Mögliche Erklärungen wurden einleitend allerdings erst angedeutet. Expliziter sind sie in den Passagen der unter (3) wiedergegebenen Mail formuliert, die dort ausgelassen wurden. In voller Form lautete die betreffende Nachricht nämlich – mit den vorher ausgelassenen Textteilen in eckigen Klammern:
|| 23 Begutachtungsformular für Stipendienbewerbungen beim Europäischen Hochschulinstitut Florenz, hier 2009. 24 Beide Belege a. und b. aus dem Magazin research eu, Sonderausgabe 03/2008.
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(25) Interessant ist also, wie sich [– verdeckt durch das Partizipialsuffix end, das ja nur im Plural funktioniert, aber als generelles Symbol der politisch korrekten Ausdrucksweise interpretiert wird –] die generischen Maskulina, gleichsam von den Verwendern unbemerkt, durch die Hintertür wieder in den Sprachgebrauch einschleichen. [end scheint also als Träger der Bedeutung ‚der Verwender spricht/schreibt feministisch korrekt‘ reanalysiert und remotiviert worden zu sein.] Offensichtlich hat also eine pragmatische Uminterpretation des Suffixes -end stattgefunden. Dabei handelt es sich um einen – weiteren – Typus von sprachlicher ‚Verstärkung‘, der mit einem andern Verstärkungs-Prozess eng zusammenhängt (zu den Typen sprachlicher Verstärkung siehe Harnisch 2010b). Dieser Zusammenhang soll im Folgenden entwickelt werden.
3.1 Das Phänomen als Prozess sprachlicher Verstärkung Ausgangsbasis für alle Re-Interpretationen im Bereich Genus und Sexus ist das Postulat der Feministischen Linguistik, dass bei Personenbezeichnungen mit der Möglichkeit der Differenzierung nach natürlichem Geschlecht Genus und Sexus in einer Eins-zu-eins-Relation stünden und deshalb ein spezifisches Genus (hier immer das Maskulinum) nicht generisch sein könne. Der Glaube an diese Behauptung hat tatsächlich zu einem sexualisierten Gebrauch von Genus geführt. Mit diesem Gebrauch wird die Implikatur, ein Maskulinum referiere auf etwas biologisch Männliches, immer stärker, „was eine Annäherung an das Ziel der Feministischen Sprachpolitik“ bedeutet (Becker 2008: 72). Als sprachpolitische Forderung ist das natürlich nicht weiter hinterfragbar und zu akzeptieren. Als sprachliches Faktum ist das generische Genus aber vorhanden, wenn natürlich auch eine diachrone Entwicklung denkbar ist, die in einer solchen Gleichsetzung von grammatischem und natürlichem Geschlecht resultiert. Becker (2008: 72) sagt dazu: „Dieses Ziel ist erreicht, wenn die Implikatur lexikalisiert ist.“ Noch aber kann die faktische Existenz des generischen Genus nicht umgestoßen werden, auch nicht dann, wenn man das sprachpolitische Postulat mit einer petitio principii etwa der folgenden Art stützen wollte: (26) Ein spezifisches Genus kann nicht generisch sein, weil es sich eins zu eins nach dem Sexus richtet. Die Behauptung würde nämlich durch einen Satz begründet, der sie schon als faktisch voraussetzt. Die Herstellung einer Eins-zu-eins-Relation von Genus und Sexus ist das Produkt eines ersten Verstärkungsprozesses: Genus ist ja eigentlich nur ein klassifika-
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torisches Merkmal zur Organisation des Deklinationswesens – mit Beziehungen zur formalen Wortstruktur und zur kategorialsemantischen Organisation des Wortschatzes.25 Das heißt, die ‚Bedeutung‘ von Genus ist rein grammatisch. Doch diese rein grammatische Bedeutung wird von der Feministischen Linguistik angehoben zu einer taxonomischen Kategorie des biologischen Geschlechts der Denotate. Aus einer bloß grammatischen wird eine referentielle, wenn man so will, eine stärker semantische Kategorie. Auf dieser erreichten Ebene operiert, fortgesetzt sprachpolitisch motiviert, das Postulat, dass biologisches Geschlecht entweder durch Splitting doppelt explizit gemacht oder in Neutral-Formen unsichtbar gemacht werden müsse: im vorliegenden Fall Letzteres. Probates Mittel zu dieser Neutralisierung von Personenbezeichnungen war, wie gesehen, die Endung des Partizipiums Präteriti -end. In dieser Wirkung eigentlich auf den Plural beschränkt, wird sie später auf den Singular ausgeweitet. In diesem Numerus muss nun aber nach Genus spezifiziert werden, unter anderem in maskulines, was ja auch das herkömmliche und jetzt unbemerkt wieder gebrauchte generische Genus ist. Sehr wohl bemerkt wird aber offensichtlich der Marker -end, nur kennzeichnet er unterbewusst längst etwas anderes. Dies ist das Ergebnis eines zweiten Verstärkungs-Prozesses. Die Eigenschaft dieser partizipialen Form, Genus (und durch die angesprochene petitio principii auch Sexus) neutralisieren zu können, wenn auch nur im Plural, prädestiniert sie zur Signalisierung eines sexusvermeidenden Sprachgebrauchs überhaupt. Eine sexusneutrale Form wird so zu einem autoreferentiellen Zeichen des sexusneutral Sprechen-Wollens ‚verstärkt‘. Sie wird damit von einem semantischen Marker angehoben zum Signal einer sprachpolitischen Einstellung in der jeweiligen kommunikativen Situation oder zumindest zum pragmatischen Marker für eine unterschwellige sprachhandlungsbezogene Absichtserklärung. Damit erfüllt -end ungefähr die sprachverhaltensanzeigende Funktion des einmal gebräuchlich gewesenen Hinweises in offiziellen Texten, dass mit den ‚männlichen‘ Formen Angehörige beiderlei Geschlechts gemeint seien.26 Dieses neue pragmatische Interpretament ist sogar so stark, dass es das alte semantische überdeckt. Das heißt, dass die zweite Art von Verstärkung die erste Art von Verstärkung – gegen die Intention der Verwender – wieder aufhebt. Dieser doppelte Prozess vollzieht sich ‚von unten herauf‘ also auf die in Tab. 1 dargestellte Weise.
|| 25 Dazu Köpcke (1982), Köpcke/Zubin (2009) und Köpcke/Zubin (in Vorb.). 26 Siehe schon den altrömischen Rechtsgrundsatz Pronuntiatur sermonis in sexu masculino ad utrum sexum plerumque porrigatur ‚Wenn in einer Bestimmung das männliche Geschlecht genannt ist, erstreckt sie sich gleichwohl zumeist auf beide Geschlechter‘ (nach Düll 1960: 44‒45).
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Tab. 1: Mehrfache Verstärkung durch Kategorien-Anhebung Herausbildung jeweils stärkerer kategorieller Bedeutungen
‚feministisch korrekte Sprechweise‘
Arten der kategoriellen Bedeutungen und treibende Reanalyse-Motive
partizipiale end-Formen erhalten pragmatische Bedeutung
↑
Intention der Sexus-Neutralisierung durch partizipiale end-Formen
‚Sexus‘
Genus erhält die referential-semantische Bedeutung von Sexus
↑ ‚Genus‘
petitio principii der 1:1-Setzung von Genus und Sexus
Genus hat grammatische Bedeutung
↑ Richtung der Verstärkungs-Prozesse
Die Tabelle ist in Pfeilrichtung von unten nach oben zu lesen; in den Zellen neben den Pfeilen ist das treibende Reanalyse-Motiv formuliert, darüber das jeweilige Ergebnis der Reanalyse. Während das Motiv der beschriebenen Reanalysen in Remotivierungs-Bestrebungen der Sprecher liegt, liefert ihnen die Umnutzung vorhandener Merkmale die Mittel dafür. Der erste Sachverhalt kann, wie oben geschehen, im Rahmen der Theorie der ‚Verstärkung‘ erklärt werden (vgl. dazu Harnisch 2010a, 2010b), der zweite, wie nachfolgend dargestellt, im Rahmen der Theorie der ‚Exaptation‘ (vgl. dazu Wischer 2010 und Simon 2010 mit einer terminologischen Präzisierung in Bezug auf den junk-Begriff von Lass 1990).
3.2 Das Phänomen als Prozess der Exaptation Genus ist ja nicht originär und nicht in erster Linie dazu da, Sexus zu symbolisieren.27 Erst die Feministische Linguistik nimmt einen – zugegebenermaßen großen – funktionellen Überschneidungsbereich von Genuszugehörigkeit und Sexusmarkierung als Ausgangspunkt dafür, das grammatische Geschlecht bei Personenbezeichnungen ganz und ausschließlich an den biologisch geschlechtlichen Unterschieden auszurichten.28 Wo diese Unterschiede nicht zur Geltung kommen sollen, vor allem || 27 Unter dem Aspekt der Sexualisierung von Genus siehe Leiss (1994), unter dem der Anthropomorphisierung von Genus siehe Köpcke/Zubin (2012). 28 „Maskuline Personenbezeichnungen bezeichnen eben sehr häufig männliche Personen“ (Becker 2008: 74). Nur sei die daraus entwickelte Sichtweise abzulehnen, nach der „die Grundbedeu-
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bei den generischen Ausdrücken, sind sie zu neutralisieren, etwa mit den Partizipialformen von -end, wo diese dazu geeignet sind: im Plural. Auf dem damit erreichten Stand ist die Markierung von Sexus-Neutralität auch erst einmal nicht dazu da, Sprechereinstellungen zum politisch korrekten Sprachverhalten explizit zu signalisieren. Es ist einfach nur politisch korrekt,-end-Partizipien im Plural zu verwenden, weil sie geschlechtsneutral sind. Doch bildet auch in diesem Falle wieder ein funktioneller Überschneidungsbereich, nämlich der von partizipialer Pluralform als Genusneutralisierer mit der dadurch zum Ausdruck kommenden feministischen Korrektheit, die Basis für die Umnutzung (Reanalyse) eines grammatischen Merkmals zu einem pragmatischen, das dabei und dadurch mit der Zeit seine Bindung an die Sexus-Neutralität im Plural verliert. Das Besondere dabei ist, dass sich die pragmatische Funktion nicht einfach aus Situation oder Weltwissen ergibt, sondern in einem konkreten morphologischen Marker (-end) Niederschlag und Ausdruck findet. Das veranlasst Bülow (2014: 304) sogar, die „Markierung gendergerechten Sprachgebrauchs“ durch -end für „eine neue grammatische Kategorie“ zu halten. Insofern lasse sich „die Herausbildung eines Markers für gendergerechten Sprachgebrauch mit der Herausbildung einer grammatischen Kategorie Respekt vergleichen (vgl. Simon 2003).“29 In beiden Fällen können wir von ‚Exaptation‘ sprechen, also von der Nutzung eines Merkmals, das ursprünglich nicht für den späteren Zweck gedacht war.
4 Zusammenfassung und Ausblick 4.1 Genus und Kontrolle Bei den behandelten Verstärkungen – der grammatischen Kategorie Genus zur referentiellen Kategorie Sexus sowie – des für geschlechtliche Neutralisierung gedachten Markers -end zu einem für politisch korrekte Ausdrucksweise genutzten pragmatischen Signal haben wir es im Sinne des thematischen Zuschnitts dieses Bandes mit gestuften funktionalen, genauer umfunktionierenden, exaptativen Prozessen im morphosemantischen Bereich des Genus zu tun. Die semantische Verstärkung der grammatischen Kategorie Genus ist dabei vom Bestreben getrieben, sie unter die referentielle Kontrolle durch Sexus zu stellen.30 Die pragmatische Verstärkung des Markers || tung die männliche ist und sich die ‚generische‘ durch eine Neutralisation der Opposition ergibt“ (Ebd.: 73). 29 Vgl. die Rezension von Harnisch (2006). 30 Zu dieser Frage siehe Zubin/Köpcke (2009).
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end ist motiviert von einer Art illokutionären Kontrolle über politisch korrektes Sprechen-/Schreiben-Wollen. Beides steht unter den kommunikativen Maßgaben der sozialen Kontrolle durch die feministische Sprachpolitik (vgl. Hartig/Kurz 197131).
4.2 Politische und sprachliche Korrektheit Das Ergebnis der pragmatischen Verstärkung des Markers -end zum Symptom und Signal politisch korrekten Sprachgebrauchs an sich32 widerspricht zwar dem Anliegen der feministischen Sprachpolitik, weil durch Über-Anwendung dieser ja nur im Plural funktionierenden generizitätsvermeidenden Strategie sich generische Maskulina auch im Singular wieder einschleichen. Die entstehenden Formen des Typs der Studierende und sein Geld sind selbst aber nicht sprachsystemisch falsch. Das verhält sich anders bei weiteren inzwischen häufig bis fast schon überwiegend verwendeten Mustern politisch korrekter Formen. Die Beispiele kommen vor allem aus dem Bereich des morphosyntaktischen Zusammenspiels von Substantiven und ihren Attributen bzw. Prädikativen. Ein erster Typ sind Fälle wie unter (27), bei denen Adjektive, die weiblichen Sexus bezeichnen (v.a. das Adjektiv weiblich selbst), mit weiblich movierten Substantiven (v.a. auf -in) verkettet werden und so zum Fehlertyp der Tautologie führen: (27) a. das Bundesfamilienministerium, in dem es […] nur eine weibliche Abteilungsleiterin gibt33 b. Weiberwirtschaft – Erfolgsgeschichten weiblicher Unternehmerinnen34 c. Parallelen zwischen der ersten weiblichen Premierministerin von Großbritannien und der ersten deutschen Kanzlerin35 d. Unsere Zielkundin ist weiblich und 34 Jahre alt36
|| 31 Als diese damals „Sprache als soziale Kontrolle“ beschrieben, konnten sie allerdings das sprachpolitische Anliegen geschlechtergerechten Sprachgebrauchs noch nicht mit im Blickfeld haben. 32 Und nicht nur im Sinne einer generizitätsvermeidenden Strategie durch die Verwendung dieses Markers in der Pluralform. 33 Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 9. Februar 2011. 34 Einladung zu einer Veranstaltung im Herbst 2010 durch das EineWeltHaus, München. 35 Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 12. Februar 2012. 36 Chef der Otto-Firmengruppe in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 11. April 2010.
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Ein zweiter Typ sind attributive Ausdrücke, die solitäre Wesen aus einem nicht gegebenen Kollektiv individuieren und in Verbindung mit weiteren Attributen zu Bedeutungsfehlern führen: (28) a. Margaret Thatcher […] ist die unpopulärste britische Premierministerin Englands, seit regelmäßige Umfragen vor rund 50 Jahren begannen37 b. Sie [Angela Merkel] ist die erste deutsche Kanzlerin, die vor den versammelten Angehörigen beider Häuser des amerikanischen Kongresses reden durfte38 c. Ingo Schulze erhält den […] Samuel-Bogumil-Linde-Preis. Weitere Preisträgerin […] ist die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk. Mit dem Preis werden jährlich zwei Autoren oder Autorinnen geehrt […]39 Es gibt aber weder eine Reihe britischer Premierministerinnen, von denen Margaret Thatcher die unpopulärste wäre (28a), noch andere deutsche Kanzlerinnen, die vor Angela Merkel vor dieser Versammlung gesprochen hätten (28b). Wenn von zwei Preisen der eine an einen Mann, der andere an eine Frau ging, kann es keine weitere Preisträgerin gegeben haben (28c). Unter diesem Aspekt ist auch die Nominalphrase zwei Autoren oder Autorinnen semantisch falsch, weil dabei nicht mit einem gemischtgeschlechtlichen Preisträgerkollektiv gerechnet wird, sondern nur mit geschlechtshomogenen Kollektiven. Was diese semantischen Unstimmigkeiten jedoch mit dem im Schutz des Markers -end zurückgeschlichenen generischen Maskulinum verbindet, ist über das gemeinsame Motiv, sich feministisch korrekt ausdrücken zu wollen, hinaus der Umstand, dass beide Phänomene auf dem Weg zur Verwendungsnormalität sind, ohne dass ihren Verwendern die produzierte sprachliche Inkorrektheit auffiele.
5 Nachtrag Am 3. April 2013 war in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter der Rubrik „Verkündet“ folgender Hinweis zu lesen: Die schwarz-gelbe Bundesregierung macht Ernst mit dem „Gender-Mainstreaming“ in der Gesetzessprache: In der Neufassung der Straßenverkehrsordnung (StVO), die am Ostermontag in Kraft getreten ist, sind Begriffe wie „Fußgänger“ und „Radfahrer“ zugunsten von geschlechtsneutralen Formulierungen abgeschafft. Nun heißt es beispielsweise: „Wer zu Fuß geht“ oder „zu Fuß gehende“, ferner: „Wer ein Fahrrad oder Kraftrad fährt“ oder „Wer reitet, Pferde oder
|| 37 Nordbayerischer Kurier [Bayreuth] vom 7. April 1990. 38 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. November 2009. 39 Süddeutsche Zeitung vom 23. April 2008.
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Vieh führt“. Staatsdiener gibt es dagegen weiterhin nur in männlicher Form: „Die Zeichen und Weisungen der Polizeibeamten sind zu befolgen“, steht in § 36. (jja.)
Der oben als „männlich“ eingestuften Form Polizeibeamten könnte allerdings ein partizipial aufgefasstes der/die Beamte (Sg.), die Beamten (Pl.) analog der/die Angestellte (Sg.), die Angestellten (Pl.) zugrundeliegen, wie es das Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache (DWDS) verzeichnet und wie es im Sprachgebrauch tatsächlich häufig vorkommt. Damit würde die Form auf der Linie der Genusvermeidung durch Pluralformen solcher Partizipien liegen. Wenn aber ein Maskulinum zugrundeliegen sollte, kann das als Beleg dafür angesehen werden, dass generische Maskulina trotz großer Anstrengungen zu ihrer Vermeidung bei der Texterstellung doch immer wieder übersehen werden. Nimmt man § 5 der Novelle der StVO, in dem das Überholen geregelt wird, als Beispiel, lässt sich die unvollständige Ent-Generisierung nachweisen an Sätzen wie – Überholen darf ferner nur, wer mit wesentlich höherer Geschwindigkeit als der zu Überholende fährt (Abs. 2) – Wer überholt, darf dabei denjenigen, der überholt wird, nicht behindern (Abs. 4) – Beim Überholen muss ein ausreichender Seitenabstand zu anderen Verkehrsteilnehmern, insbesondere zu den zu Fuß Gehenden und zu den Rad Fahrenden, eingehalten werden (Abs. 4) Diese – wie anzunehmen ist: unwillentlichen – Verwendungen generischer Maskulina könnte man damit erklären, dass sie sich jeweils in Kontaktstellung zu Konstruktionen befinden, die äußerlich als ‚geschlechtergerecht‘ gelten: zu Partizipialkonstruktionen mit dem Korrektheitssignal -end auf der einen Seite, zu den für ein probates Mittel der Genusvermeidung gehaltenen wer-Periphrasen auf der andern. Welche Tücken aber diese Periphrasen selber aufweisen, zeigt der folgende Beleg: – Wer überholt wird, darf seine Geschwindigkeit nicht erhöhen (Abs. 6) Was sich im solitären Vorkommen von wer verborgen halten mag, tritt bei kongruentem Rückbezug von Pronomina auf dieses wer spätestens zutage: dass wer maskulin ist und generisch verwendet wird (dazu ausführlich Harnisch 2009). So hat das generische Maskulinum einen weiteren Weg gefunden, sich von den Verwendern unbemerkt und gegen deren eigene Intention ‚zurückzuschleichen‘.
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Angelika Redder
Das Neutrum und das operative Geschäft der Morphologie 1 Einleitung Wenn im Titel vom „operativen Geschäft“ die Rede ist, so wird damit eine bestimmte sprachtheoretische Kategorisierung in Anspruch genommen, nämlich die der operativen Prozedur als Leistung von sprachlichen Mitteln des operativen Feldes. Diese Kategorisierung ist der Sprachtheorie der Funktionalen Pragmatik1 eigen und geht systematisch auf das Konzept des sprachlichen Feldes zurück, das Karl Bühler in seiner Axiomatik der Sprachwissenschaft (1934) entwickelt hat. Bühler unterschied bekanntlich zwei Felder, nämlich das „Zeigfeld von Sprache“ und das „Symbolfeld von Sprache“. Darin ist die Konsequenz seiner Erkenntnis eingeschrieben, dass die klassische Referenztheorie der Bedeutung für die Bestimmung der Zeigwörter, d.h. der Demonstrativa oder deiktischen Ausdrücke von Sprache, unzureichend, ja unzutreffend ist und eine theoretische Revolution von einer sprachlichen Semiotik hin zu einer Handlungstheorie von Sprache ansteht. So kann Bühler die Zeigwörter als Mittel des sprachlichen Handelns, genauer: als Mittel des sprachlichen Zeigens im Sinne einer sprachpsychologischen Aufmerksamkeits-Orientierung des Hörers in Korrespondenz zum Sprecher, bestimmen. Mit Blick auf die Sprachtheorie insgesamt bleibt Bühler freilich noch inkonsistent, indem er lediglich für das Zeigfeld handlungstheoretisch argumentiert, während er für den ganzen „Rest“ sprachlicher Mittel, der unter dem Symbolfeld von Sprache subsumiert bleibt, weiterhin zeichentheoretisch verfährt (Ehlich 2004); erst Austin schafft die theoretische Konsequenz zu einer Handlungstheorie von Sprache – freilich bei ihm eher makro- als mikroanalytisch orientiert. Die Funktionale Pragmatik macht, als integrale Sprachtheorie, von einem konsistenten Konzept von Sprache als einer Form des menschlichen Handelns Gebrauch und differenziert demgemäß die sprachlichen Mittel und die ihnen je wesentlichen sprachlichen Zwecke weitergehend. Das bei Bühler summarisch gefasste Symbolfeld wird dadurch re-analysiert und die Scheidung von drei weiteren sprachlichen Feldern als systematisch notwendig erkannt. Demnach sind – in Einzelsprachen übergreifender Weise – fünf sprachliche Felder zu differenzieren (vgl. Ehlich 2007, Kap. A1): Zeigfeld (deiktisches Feld), Symbolfeld, Lenkfeld (expeditives Feld), Arbeitsfeld (operative Feld) und Malfeld.
|| 1 Einen – angewandt linguistisch orientierten – Überblick bietet zuletzt Redder (2008).
176 | Angelika Redder
Diese fünf Felder klassifizieren alle sprachlichen Mittel einer Einzelsprache, unabhängig davon, welche Form sie aufweisen (ob sie also z.B. lexikalisch, morphologisch oder syntaktisch geformt sind), nach ihren Funktionen. Kurz gesagt: Mittel des Zeigfeldes dienen der Synchronisierung von Aufmerksamkeitsorientierung; Mittel des Symbolfeldes dienen der Aktivierung von sprachlich gefasstem Wissen; Mittel des Lenkfeldes dienen dem unmittelbaren Eingriff in das interaktive Handeln; Mittel des Arbeitsfeldes oder operativen Feldes dienen der Bearbeitung von Sprache als Sprache, insbesondere der Bearbeitung des Propositionalen; Mittel des Malfeldes dienen der Expression von Emotion und Atmosphäre. Hinsichtlich der Einheiten des sprachlichen Handelns werden durch die sprachlichen Felder die kleinsten, nämlich die Prozeduren, klassifiziert, während Sprechhandlungen und schließlich Diskurs oder Texte zunehmend komplexe Einheiten darstellen.2 Für das Deutsche sind die formalen und funktionalen Charakteristika mehrfach detailliert diskutiert und zudem in einen sprachvergleichenden Kontext eingebracht worden (z.B. Redder 2005, 2007). Für die Grammatikschreibung ist relevant: Die Klassifikation sprachlicher Mittel in sprachliche Felder liegt systematisch VOR einer Klassifikation in Wortarten (Ehlich 2007a). Demgemäß hat die dreibändige IdSGrammatik des Deutschen (Zifonun/Hoffmann/Strecker 1998, Kap. B) diese Konzeption der fünf sprachlichen Felder auch grundlegend den weiteren Ausführungen vorangestellt. Allgemein sprachwissenschaftlich besteht die Herausforderung darin, für die jeweiligen Einzelsprachen zu rekonstruieren, in welchem Ausmaß und durch welche sprachlichen Mittel im Einzelnen die fünf Funktionsklassen sprachlich realisiert sind. Dabei gilt selbstverständlich: Es gibt keine Funktion ohne Form und keine Form ohne Funktion. Bislang ist nicht bekannt, dass eines der Felder gar nicht sprachrelevant wird; wohl aber ist bekannt, dass die Binnendifferenzierung innerhalb der Felder sehr unterschiedlich aussieht. Für eine komparatistische Linguistik ist auf diese Weise ein exzellentes Tertium comprationis geboten (z.B. Hohenstein/Kameyama 2010). Typologisch wird die von Ehlich vorgenommene Scheidung zwischen Mitteln für sprachinterne Zwecke von solchen für sprachexterne Zwecke derart relevant, dass die jeweiligen Vorentscheidungen das „sprachliche Strukturgitter“ bedingen (2007, Kap. B1). Thielmann (2013) argumentiert jüngst, dass das Genus – wie auch die Wortstellung (vgl. bereits Ehlich 2007, Kap. B1) – für das Deutsche sprachinternen Zwecken diene und insofern ein „Sprachmittel“, nicht jedoch ein „sprachliches Mittel“ darstelle, und legt in seinen weiteren Ausführungen nahe, das Genus wegen seiner Qualität als mentalem Verfahren nicht als operatives Mittel zum Vollzug einer operativen Prozedur zu erfassen. Damit greift er meines Erachtens theoretisch zu kurz.
|| 2 Eine graphische Darstellung bietet z.B. Redder (2005).
Das Neutrum und das operative Geschäft der Morphologie | 177
Ziel der folgenden Ausführungen ist eine Klärung dessen, was die Leistung des (nominalen) Genus im Allgemeinen, insbesondere aber des Genus „neutrum“ im Besonderen sei. Ich bleibe bei meiner Zuordnung: Es geht um ein operatives Geschäft – allerdings in sich komplexer Art.
2 Genus Bekannt ist: Ein nominales Genus3 ist keineswegs allen Sprachen eigen. Der „world atlas of language structures“ (Comrie et al. 2005) verzeichnet (bezogen auf insgesamt 257 diesbezüglich ausgewertete Sprachen der Welt) 145 Sprachen ohne Genus, 50 Sprachen mit zwei, 26 Sprachen mit drei und 12 Sprachen mit vier Genera neben 24 Sprachen mit fünf oder mehr Genera (Corbett 2005). Während etwa im westeuropäischen Bereich die finnougrischen Sprachen zusammen mit dem Baskischen zu den nicht-genusspezifizierenden Sprachen zählen, ist das Deutsche mit seinen drei Genera vergleichsweise genusreich ausgestattet. Das Genus ist, wie gewöhnlich argumentiert wird, den Substantiven „inhärent“, steht mithin nicht zur freien Disposition für kommunikative Zwecke, ist also nicht optional (Leiss 1997). Eisenberg (19892) charakterisiert das Genus in seiner deutschen Grammatik daher als „Paradigmenkategorisierung“ für Substantive – und demgegenüber als „Einheitenkategorisierung“ für Artikel, Pronomina und Adjektive, d.h. für diejenigen Ausdrücke, die mittels Kongruenz („Identitätsrelation“) genusmarkiert werden. Unter funktionalem Gesichtspunkt wird die Klassifikation von Substantiven – kognitionslinguistisch gesagt: die Klassifikation des mentalen Lexikons – seit der klassischen Sprachpsychologie, vorgeprägt bereits bei Wundt, als ein kognitives, mentales Verfahren bestimmt. Der Umstand, dass diese Klassen lediglich bestimmte Distinktionen leisten, aber keine eindeutigen semantischen Bestimmungen wie etwa Klassifikationssuffixe in sog. classifier-Sprachen (vgl. Aikhenvald 2003), verdeutlicht, dass wir für eine feldspezifische Bestimmung des Genus nicht mit Mitteln des Symbolfeldes zu rechnen haben. Darüber hinaus weisen Köpcke/Zubin (2005) stichhaltig darauf hin, dass nur ein kleiner Teil des Lexikons genusspezifiziert ist, während ein größerer Teil – etwa bei der Verschiebung von begrifflichen Benennungen zu Eigennamen – konzeptuell motiviert ein (wortfeldspezifisches) Genus erhält und insofern durch „pragmatische Projektionen“ geprägt ist. Ich werde diese Prozesse funktional-pragmatisch genauer ausloten und auf eine weniger lokalkommunikative und stattdessen sprachstrukturell verallgemeinerte prozedurale Bestimmung zu bringen versuchen.
|| 3 Dem Untersuchungsgegenstand dieses Artikels gemäß ist im Folgenden mit ‚Genus‘ stets das nominale Genus und nicht das genus verbi gemeint, auch wenn die Attribuierung fehlt.
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Unter formalem Gesichtspunkt ist das substantivische Genus in flektierenden Sprachen wie dem Deutschen genuin eine Flexionsklasse. Im Laufe der Sprachgeschichte haben sich diese Flexionsklassen jedoch morphologisch weitgehend abgeschliffen, so dass die Paradigmen an klassifikatorischer Leistung verlieren. Welche Motivationen ihnen zugrunde lagen und liegen, wird reich diskutiert (z.B. Bittner/Bittner 1990). Köpcke (1982) rekonstruiert für das Gegenwartsdeutsche überlagernde Formmerkmale wie etwa Silbenbildung und Silbenzahl als genusspezifisch und fasst – zusammen mit Zubin – die „kognitive“ Genuszuweisung in prägnanten sechs Prinzipien zusammen, welche semantische, morphologische und phonetische Aspekte einbeziehen (Köpcke/Zubin 1984). Unzweifelhaft bleibt, dass es sich nicht um eine Sexus-Klassifikation handelt, sondern im ernsthaften Sinne um ein grammatisches Genus. Funktional-pragmatisch lässt sich nach meiner Auffassung folgendes ausführen: (a) Die Wortart der Substantive bildet innerhalb des Symbolfeldes von Sprache eine bestimmte Subklasse.4 (b) Diese Subklasse ist durch formale Mittel (im Gegenwartsdeutschen vor allem durch die komplexe Wortbildung) von „puren Symbolfeldmitteln“ abgesetzt, welche vor jeglicher Wortartendifferenzierung geeignet sind, wissensaktivierende, nennende Prozeduren zu realisieren (Redder 2005). (c) Ein Verfahren für eine weitergehende substantivische Binnenklassifikation im Symbolfeld ist das Genus. (d) Substantive benennen Elemente der Wirklichkeit als solche5; das nominale Genus erlaubt eine distinkte Kategorisierung dieser Benennungsleistung, d.h. eine Kategorisierung der nennenden Prozedur, welche durch den Substantivstamm vollzogen wird. Insofern werden mittels Genus Wissensaktivierungen kategorial differenziert. Diese Leistung betont Thielmann (2013: 23), wenn er das substantivische Genus als „metakommunikativ“ charakterisiert. (e) Im Unterschied zu Bildungssuffixen wie -heit, -keit, -ung erfolgt die Kategorisierung durch das Genus in abstrakterer Weise und ist nicht auf sprachexterne Zwecke bezogen. Diese Binnenkategorisierung des großen, ‚unabgeschlossenen‘ Symbolfeldes dient sprachinternen Zwecken. (f) Genauer: Die genusspezifische Kategorisierung dient (im Deutschen) einer relationalen Abgrenzung innerhalb von substantivischen Wortfeldern nach wissensmäßiger Verallgemeinerungsform und Abstraktionsstufe. Verallgemeinerung oder Abstraktion machen, so behaupte ich, das Bestimmungsmoment des kategori-
|| 4 Thielmann (2007) bietet weitere Ausführungen zu dieser Subklasse. 5 Demgegenüber benennen Verben Wirklichkeit unter dem Aspekt ihrer Veränderung (Redder 2005); auch die anderen wortartenbedingten Subklassifikationen des Symbolfeldes (Adjektive und elementare Präpositionen) betreffen die sprachlichen Zugriffe auf Wirklichkeit, nämlich Qualitäten einerseits und (lokale) Relationen andererseits.
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sierenden Verfahrens aus. Die empirischen Befunde etwa von Köpcke/Zubin (1984, 2009) zur „differenzierenden Funktion des Genus“ sowie die Begriffskategorisierungen von Rosch (1977) sind mit diesen beiden Aspekten der Relationierung, nämlich Verallgemeinerung und Abstraktionsstufe, durchaus kompatibel.6 Diese relationale Kategorisierungsleistung gilt unabhängig davon, ob formal die genuine ‚semantische‘ Differenzierung mittels Genus noch prägend ist oder lediglich diejenige der Monembildung im Sinne phonologischer und morphologischer Charakteristika. Die aktuelle, prototypensemantische Frage nach lexikalisch-semantischer oder konzeptueller Motiviertheit der Genuswahl („lexical or conceptual“, Zubin/Köpcke 2009) ließe sich m.E. durch Rekurs auf diese beiden Relationierungskategorien klären und hinsichtlich notwendiger und kontingenter Phänomene scheiden. (g) Schließlich wird die genusbedingte Binnenkategorisierung der Subklasse ‚Substantiv‘ im Symbolfeld darüber hinaus funktional im Sinne der Organisation von Sprache als Sprache, also operativ, mittels der sogenannten Genus-Kongruenz.7 In Kategorien des sprachlichen Strukturgitters gesprochen, lässt sich (g) folgendermaßen formulieren: Ist die Subkategorisierung des Symbolfeldes mittels (nominalem) Genus sprachlich einmal ausgebildet, so erlaubt dies strukturelle Relationierungen für komplexe propositionale Expansionen. Und diese operative Funktionalität kann sich, wie im Deutschen, historisch verselbständigen – oder sie mag in anderen Sprachen primär sein wie umgekehrt mittels Klassifikatoren die absolut nennende Subkategorisierung dominant bleibt. Die Genuskongruenz ist also ein Mittel des operativen Feldes. In welches Set von operativen Mitteln fügt es sich damit ein? Betrachtet man das operative Feld für das Deutsche genauer, so gehören dazu: Junktoren, Konnektoren bzw. Partikeln, die Phorik (‚3. Personal- bzw. Possessiv-Pronomen‘) und die Determinatoren (‚Artikel‘), Fragewörter (‚Interrogativpronomina‘), Relativa (‚Relativpronomina‘) und Indefinita (‚Indefinitpronomina‘), die (strukturellen) Kasus und der Modus, die Satzintonation und die Wortstellung. All diese Subklassen des operativen Feldes haben die gemeinsame Funktion, die Sprache zu organisieren und die propositionale Struktur zu bearbeiten. Hinsichtlich der operativen Zweckstruktur lassen sich nach meiner Auffassung weiterhin unterscheiden:
|| 6 Die klassische „Wertetheorie“ von de Saussure dürfte zudem wissensmethodisch nutzbar zu machen sein. 7 Gegebenenfalls ist eine feldinterne Transposition historischer Art zu rekonstruieren (Redder 2005).
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(I) operative Bearbeitung für „sprachexterne Zwecke“ − z.B.: Fokuskontinuierung der Aufmerksamkeit , Wissensmanagement , Kategorisierung als bestimmtes Nicht-Gewusstes , Verallgemeinerung , Wirklichkeitsqualifizierung ; (II) operative Bearbeitung für „sprachinterne Zwecke“ − z.B.: Bearbeitung der grundsätzlichen Linearisierung von Sprache , Relationierung von (phrasalen) Einheiten , Strukturbearbeitung . Die Genus-Kongruenz dient, wie das substantivische Genus selbst, sprachinternen Zwecken. Es sind dies spezifische Bearbeitungen der sprachlichen, der propositionalen Strukturierung, die derart operativ geleistet werden – sei es in Kombination mit der Phorik und also Unterstützung der Fokus-Kontinuierung oder sei es bei der Deixis zum Support der Neu-Fokussierung; sei es im Zuge der Monoflektierung einer diskontinuierlich positionierbaren, klammernden Nominalphrase oder der Transparenz komplexer substantivischer Wortbildung. Alle sechs von Köpcke/Zubin (2009) angeführten „kommunikationsbezogenen“, „pragmatischen Funktionen“ fallen hierunter, indem sie dort Wirkungen bei der Rezeption oder bei der verbalen Planung beschreiben. Die Genus-Kongruenz ist beim sprachlichen Handeln jeweils angemessen herzustellen, also ein sprachliches Mittel mittlerer Verallgemeinerungsstufe, und nicht, wie das Genus, eine einzelsprachliche Gegebenheit für gegebene Symbolfeldausdrücke substantivischer Art, welche freilich ihrerseits hochabstrakt für Neubildungen oder Entlehnungen als kategoriales Verfahren produktiv gemacht wird – und insofern ebenfalls operativ funktionsfähig wird. Genus-Kongruenz gilt daher nicht zufällig als wesentliches Bestimmungselement von Genus: „Gender systems have agreement as their defining characteristic.“ (Corbett/Fraser 2001: 293). Die sprachintern angelegte Verfügbarkeit dreier Genera im Deutschen führt, so möchte ich in Konzentration auf das Genus ‚Neutrum‘ weitergehend argumentieren, sprachhistorisch zu einem operativen Funktionalisierungspotential für sprachexterne Zwecke. Mit anderen Worten: Das Genus wird nicht nur für sprachinterne Zwecke der Neuorganisation des substantivischen Lexikons und der Kongruenzherstellung operativ genutzt, sondern darüber hinaus funktional für verallgemeinernde und abstraktive Prädikationsweisen bis hin zu „unpersönlichen Konstruktionen“ (Redder 2012a). Anhand der neutralen Objektdeixis das und mit Seitenblick auf die neutrale Phorik es soll im Folgenden dargelegt werden: Das Neutrum wird für operative Zwecke 2. Stufe, nämlich für operative Zwecke sprachexterner Art, funktionalisiert und bildet so abgeleitet ein echtes Neutrum im Sinne einer Neutralisierungsform.
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3 Objektdeixis und neutrale Form Die neutrale Objektdeixis das ist, wie auch die feminine (die) und die maskuline Objektdeixis (der), relativ zu den Objektdeixis dieser, diese, dieses und jener, jene, jenes unempfindlich für die Nähe-Ferne-Dichotomie. Zudem haben die Objektdeixis der, die, das einen besonderen Anteil am deiktischen Strukturausbau im Deutschen (Redder 2009). Betrachtet man die funktional-etymologischen Pfade alleine für das, so sind (1.) (Zeigfeld-intern) die verschiedenen Abstraktionen der Verweisobjekte und Verweisräume zu bedenken und (2.), im Sinne einer Feld-Transposition, die operative Funktionalisierung als (i) (neutraler) definiter Artikel, (ii) (neutrales) Relativum, (iii) Subjunktor dass/daß. Dieser feldtranspositive Strukturausbau ist in Redder (2010/II) im Einzelnen dargelegt. Folgende systematische Leistungen sind für DAS8 zu rekonstruieren: – eine operative Verallgemeinerung mittels Neutrum in allen Verweisräumen; – ab Verweis im Rederaum eine symbolfeld-entbundene, ja tendenziell sprachentbundene Neufokussierbarkeit; – eine operative Abstraktion über Gewusstem bei standardisiertem Verweis im Wissensraum. Betrachten wir zunächst anhand empirischer Äußerungen mit DAS die Abstraktionen mittels Genus in Relation zu den Verweisräumen.9
[6] LHP [v] Sx [v] [7] LHP [v] Sx [v]
Das war 'n bisschen leise. Kannst wo unser liebster/ unser liebster Platz ist. du das nochmal ganz laut sagen? Wo/ wo/ wo unser (liebster)/ li/ liebster
|| 8 Ich wähle die Majuskelschreibung für den einheitlichen Ausdruck, unabhängig von seiner deiktischen oder aber para-operativen Funktion, die ihm unter (2.) eignet. 9 Es sei dazu an das von Ehlich (1979 u.a.) systematisch entfaltete Konzept des deiktischen ‚Verweisraums‘ und seine schrittweise Abstraktion aus dem Sprech-Zeit-Raum (als einem besonderen, durch sprachliches Handeln geprägten Wahrnehmungsraum, Bühlers „ad oculos et at aures“) erinnert; mit zunehmender Abstraktion sind demnach zu differenzieren: ‚Sprech-Zeit-Raum‘, ‚Rederaum‘, ‚Textraum‘, ‚Vorstellungsraum‘. Meine Untersuchungen zu denn und da mit ihren spezifischen Feldtranspositionen sowie die Analysen von dabei haben mich dazu geführt, einen ‚Wissensraum‘ als abstraktesten Verweisraum zu rekonstruieren, demgegenüber der Vorstellungsraum als besonderer ausgewiesen ist (Redder 2009).
182 | Angelika Redder
[8] LHP [v] MAC [v]
Okay. MAC.
Immer noch nicht Ähm, das hab' ich gar nicht verstanden
Platz ist. Sx [v] Beispiel 1: FiSS-Projekt MüWi10, authentischer Unterrichtsdiskurs („Fragebogen“), Jahrgang 2b, Grundschule T; LHP=Lehrerin, Sx, MAC=Schüler
Hier liegen geradezu klassische Verweise im Rederaum vor. Für diesen Verweisraum ist charakteristisch, dass das sprachliche Handeln selbst in allen drei Dimensionen zum Verweisobjekt werden kann und aufgrund der zeitlichen Erstreckung von Rede ein Verweis nach hinten (ana-) oder nach vorn (kata-) möglich wird. Die ersten beiden Verwendungen der Lehrerin haben den Äußerungsakt einer vorangegangenen Schüleräußerung als Verweisobjekt; die neutrale Deixis das in der Äußerung von MAC hat demgegenüber den gesamten propositionalen Akt als Verweisobjekt (und nicht ein phrasales Element des propositionalen Gehaltes, zu dem es genuskongruent sein könnte). Beide Nutzungen erfolgen anadeiktisch; gleichwohl bleiben sie deiktisch, also neufokussierend bezüglich der Aufmerksamkeit, und werden nicht plötzlich (ana)phorisch, d.h. fokuskontinuierend (Ehlich 2007/II, D2). Weder Äußerungsakt noch propositionaler Akt haben ein Genus. Die Verweisobjekte sind vielmehr derart, dass sie sich jeglicher Genuskongruenz entziehen. Wir haben es bei den Akten einer Sprechhandlung mit sprachlichen Einheiten komplexerer Art als derjenigen der Prozedur und insofern jenseits der sprachlichen Felderdifferenzierung, insbesondere jenseits des Symbolfeldes, zu tun. Es liegt mithin jeweils die Neufokussierung einer symbolfeld-entbundenen Einheit vor. Insofern ist die Genuswahl nicht an einer Binnenstrukturierung des Symbolfeldes orientiert. Stattdessen wird genau diese Symbolfeld-Entbindung für die Wahl des Genus Neutrum wesentlich. Das Neutrum leistet als operatives Mittel eine solche wissensmäßige Verallgemeinerung dessen, was deiktisch neufokussiert wird; es erlaubt einen summarischen, insofern allgemeinen Zugriff auf ein Verweisobjekt. Sprachlichkeit als solche – einmal als Äußerungsakt, einmal als propositionaler Akt11 – kennzeichnet die Verweisobjekte in diesen Belegen. Betrachten wir weitere Beispiele, um den durch das Neutrum realisierten Prozess genauer zu fassen.
|| 10 Dieses Projekt wurde 2009‒2012 vom BMBF finanziert (Leitung: Redder); die Ergebnisse finden sich in Redder/Guckelsberger/Graßer (2013). 11 Auch der illokutive Akt als Verweisobjekt funktioniert so: >Das war vorlaut.
Das sind noch n bisschen andere Zusammenhänge< aufgerufen: Die numerische Inkongruenz zwischen singularischer neutraler Objektdeixis und pluralischem, am Prädikativum orientierten finiten Verb wäre dann markant; in Beispiel 7 und 10 werden derartige Verhältnisse vorliegen.
[1] AMM AMM AMM SHK [2] AMM
[v] Das kenn' ich. Ja. Weil • •bei so ein Lerntrick, da/ohne [tag] DX/o OP/wb/ka/A DX/as/A DX/I/A [nv] schaut den Filmi [v] ((1s)) Ja? [v] ein Loch da drinne, da kann er das nicht schaffen, aber wenn
AMM [3] AMM AMM SHK
[tag] DX/I/PDX DX/I DX/o OP/eb/adPOP/kd1 DX/I [v] Loch ist, •dann/• dann kriegt er den Luftballon aufgepustet. [tag] POP/kd2 [v] ((13s))
da ein
Beispiel 4: FiSS-Projekt MüWi, elizitierte Äußerung im experimentellen Setting (Versprachlichung eines Videoclips zum nat-wiss. Experiment „Luftballon“), Jahrgang 2c; AMM=Schüler, SHK=Studentische Hilfskraft im Projekt, den Videoclip präsentierend
Die neutrale Objektdeixis „das“ in der ersten Filmkommentierung von AMM fokussiert Gewusstes als Verweisobjekt im Wissensraum neu. Relativ zu einem Verweis im Rederaum wird also eine weitere Abstraktionsmöglichkeit des sprachlichen Zeigens genutzt – und durch das Neutrum ein gesamtes Wissensthema mit dem ihm eigenen Gewussten als solches in die Aufmerksamkeit gerückt. Wissen oder Gewusstes ist als Mentales nicht genusspezifiziert. Das Neutrum trägt diesem Umstand, vor einer bestimmten Versprachlichung – etwa durch eine begriffliche oder namentliche Erfassung – in den Aufmerksamkeitsfokus gerückt zu werden, Rechnung. Man erkennt nun: Das Neutrum ist das Genus einer wissensmäßigen Verallgemeinerung, auch, wie Bespiel 1‒3 zeigen, von grundsätzlich sprachlich abgebundenem Wissen.
Das Neutrum und das operative Geschäft der Morphologie | 185
[1] BER BER BER VL2 VL2 [2] BER BER VL2
[v] ((!s)) Das [tag] DX/o [nv] liest das Kärtcheni [v] ((3s)) "Steinzeit". ((3s)) Weißt du, was das ist? [tag] DX/o [v] war früher. ((3s)) Da hatten die Leute noch keine Häuser. [tag] Dx/t [v] Hmhm̀ Hmhm̀.
Beispiel 5: FiSS-Projekt MüWi, experimentelles Setting „Worterklärungen“, Jahrgang 1c; BER=Schülerin, VL2=Versuchsleiterin
Auch hier wird ein – diesmal sprachlich durch ‚Steinzeit‘ gefasstes – Wissensthema aufgegriffen und das zugehörige Gewusste im Wissensraum neufokussiert, verallgemeinert durch das Neutrum. Es geht dezidiert um ein Sprachwissen.
[3] LHP [v] [4] LHP [v] [5] LHP [v]
die/ MAC, ( ). Was wollten Herr XY und Frau AB mit diesem Fragebogen rausbekommen? ((5s)) Das sind mir zu wenig Kinder. Ihr habt den alle ausgefüllt. ((6s)) Hm̀, mal gucken. Sx.
Beispiel 6: FiSS-Projekt MüWi, authentischer Unterrichtsdiskurs („Fragebogen“), Jahrgang 2b, Grundschule T; LHP=Lehrerin
Hier nimmt die Lehrerin mittels neutralem „das“ eine Abstraktion über Wahrnehmungen vor, welche im Sprech-Zeit-Raum neufokussiert und prädikativ gewertet werden. Man erkennt, dass die numerische Inkongruenz nicht notwendig an die Abstraktheit des Verweisraums gebunden ist. Vielmehr wird die Verallgemeinerungsleistung des Neutrums offenkundig zu einer Abstraktionsleistung gesteigert. (s1) L Diese Sachen haben wir im Sachunterricht mal gebastelt. (s2) Was sind denn das hier? (s3) Scht (s4) Bob. (s5) B Schneeglöckchen. (s6) L Schneeglöckchen haben wir damals gemacht. (s7) Ähm . . Wie nennt man/Wie nennt man solche Blumen denn? (s8) (So) den Über/Oberbegriff.
186 | Angelika Redder
(s9) Also Schneeglöckchen ist ihr Name . . und sie haben noch/ (s10) da gehören auch andere Blumen noch dazu, die Tulpe zum Beispiel, Krokus, (s11) wie nennen wir all diese Blumen? Beispiel 7: FiSS-Projekt MüWi, authentischer Unterrichtsdiskurs („Frühblüher“), Jahrgang 1c; Grundschule P;13 Rekapitulation im Sachunterricht qua L: „Was haben wir davor gemacht?“ – SS: was aus Papier und Pappe gemacht, Drachen, Hasen, Schmetterlinge gebastelt, Aufkleber gemacht …; L=Lehrerin, B=Schülerin
Der rekapitulierende Diskurs verläuft hier erkennbar vom Artennamen zum Gattungsbegriff, von der (gebastelten) Konkretion zur (biologischen) Abstraktion. Während mit der Objektdeixis der Nähe „diese“ in (s1) vergleichsweise wissensmäßig konkret im Sprech-Zeit-Raum gezeigt wird (auch wenn der Architerm ‚Sache‘ namentlich genutzt wird), geht die Lehrerin mit ihrer Frage „Was sind denn das hier?“ (s2) auf die höchste wissensmäßige Abstraktionsstufe über, nämlich auf das begriffliche Fachwissen. „Frühblüher“ ist, wie sich später zeigt, der gesuchte, in (s11) schließlich namentlich erfragte Begriff. Als Antwort erwartet – und später auch geliefert – wird: >Das sind Frühblüher. -(e)n (40,5 %) > -er (6,3 %) > -s (2 %) für Types -(e) (56 %) > -(e)n (39,4 %) > -er (8,4 %) > -s (0,7 %) für Token. Dies sind jedoch Zahlen für die Formen des Nominativ Plural. Zu bedenken ist, dass die Lerner die Nomen auch im Dativ Plural hören, wodurch sich die Zahl der (e)nFormen erhöht, da praktisch jedes Nomen im Dativ auftreten kann (mit den Kindern, in 3 Jahren, mit Engeln etc.), der nur beim s-Plural nicht markiert wird. Die (e)n-Formen überwiegen dadurch alle anderen. Zwei statistisch dominanten Klassen stehen also zwei marginale Klassen gegenüber.2 Wie der Unterschied zwischen der Type- und der Tokenfrequenz zeigt, sind
|| 1 Die Zahlen beruhen auf dem Grundwortschatz von Oehler (1966), könnten also besonders im Hinblick auf den s-Plural überholt sein, der heute stärker vertreten sein dürfte. 2 Nach Pavlov (1995: 45‒46) stellen die historischen Relikte der umgelauteten Formen mit -"(e) 3,75 % und -er 0,74 % sowie auf -s 9 % sämtlicher Substantive dar, bezogen auf einen Ausschnitt des Gesamtwortschatzes.
Regeln versus Muster | 197
besonders die er-Pluralformen sehr tokenfrequent, was auf der großen Zahl entsprechender Wörter im kindlichen Wortschatz beruht (Kinder, Bücher, Eier…). Die Pluralsuffixe unterscheiden sich ferner in ihrer Signalstärke oder Salienz und ihrer Validität. Hinsichtlich der Salienz unterscheiden sich die silbischen Pluralsuffixe -en, -e und -er von den nicht-silbischen -n und -s. Erstere werden leichter perzipiert und leichter segmentiert. Insbesondere -en ist das einzige Suffix, das aus zwei Segmenten besteht, denn -er wird vokalisch artikuliert [ɐ], -en ist also salienter und ikonischer als die anderen. Hinsichtlich der Validität unterscheidet sich das Suffix -en (in silbischer und nicht-silbischer Variante) von allen anderen: Es ist zugleich das eindeutigste Suffix, da es im Gegensatz zu -e, -er und -s fast nie an Singular-Stämmen auftritt, Pluralität also zuverlässig anzeigt und somit den ‚besseren‘ Pluralmarker darstellt, denn ein Suffix, das ausschließlich oder wenigstens vorrangig für eine bestimmte Funktion verwendet wird, ist leichter als Marker dieser Funktion zu klassifizieren als eines, das noch mehrere andere Funktionen erfüllt. Nur -(e)n trägt relativ zuverlässig die Bedeutung ‚Plural‘, es tritt nur an wenigen Singularformen auf (Kuchen), alle anderen treten häufiger an Singular- denn an Pluralformen auf (Runde, Eimer, Klaps). Da es außerdem bei Verben den Plural markiert, könnte dies seine Validität noch stützen. Einen Sonderstatus nimmt der s-Plural ein, statistisch gesehen marginal, aber regulär und produktiv. Die s-Pluralformen treten an speziellen Substantiven auf und werden dort regulär zugewiesen, und zwar nach dem rein phonetischen Kriterium des Auslauts (auf Vollvokal) und dem semiotischen Status des Substantivs, seiner Zugehörigkeit zu einer Klasse ‚spezieller‘ Wörter (Onomatopoetika, Eigennamen, unassimilierte Fremdwörter). In allen Fällen ist der s-Plural funktional motiviert: nach Vollvokal verhindert er einen Hiat (*Uhue), Eigennamen und Onomatopoetika bewahrt er in ihrer Silben- und Lautstruktur (die Kuckucks/*Kuckucke, Kochs/ *Köche). Strukturbewahrung, Transparenz zwischen Singular- und Pluralform, ist bei Wörtern, die entweder auf Lautimitation beruhen oder die als Eigennamen einen Teil der Identität eines Menschen darstellen oder die noch nicht etabliert sind, eine Bedingung ihres Überlebens. Der Vorteil des s-Plurals für spezielle Wörter besteht genau darin, dass er als nicht-silbisches Segment keine Resyllabierung bewirkt, folglich einen hohen Grad an Strukturbewahrung leistet (s. Wegener 2004). Die Kandidaten für den s-Plural sind also bis auf die Fremdwörter3 an ihrer Struktur oder Funktion zu erkennen. Jedoch spielen in den Erwerbsdaten Eigennamen keine, Onomatopoetika und Fremdwörter nur eine marginale Rolle.4
|| 3 Fremdwörter sind nicht immer zu erkennen, was die Pluralbildung *T-Shirte der Lerner erklärt. 4 Das belegte Onomatopoetikon endet auf Vollvokal (Uhu).
198 | Heide Wegener
3.2 Die Pluralformen oder Muster Eine Besonderheit des Deutschen, im Vergleich zum Englischen, ist, dass die am meisten verbreiteten Suffixe -e und -en nicht oder nur teilweise realisiert werden, um die Bildung ganz bestimmter Pluralmuster zu gewährleisten. Dies zeigt sich am deutlichsten daran, dass eine beachtliche Zahl von Pluralformen gar kein Suffix wählt, um dieser Outputrestriktion zu genügen. Im Gegensatz zum Englischen, das sein Pluralsuffix in jedem Fall realisiert, auch um den Preis eines epenthetischen Schwa (box-e-s), und selbst dann, wenn dadurch eine Pluralform mit zwei aufeinanderfolgenden Reduktionssilben entsteht (campuses, circuses), ist im Deutschen die Realisierung einer bestimmten Form, eines Musters, wichtiger als die Markierung der Kategorie ‚Plural‘. Dies Muster ist ein Trochäus mit finaler Schwasilbe. Da aber viele Nomen schon im Singular auf eine Schwasilbe auslauten, wird dann, um Formen mit zwei aufeinander folgenden Schwasilben zu vermeiden, -en zu -n reduziert, -e ganz getilgt (*Ampelen > Ampeln, *Enkele > Enkel). Die so entstehenden nund 0-Plurale5 sind keine Ausnahmen, sondern Bestätigung dieser Outputorientierung. Die Pluralformen des Deutschen, mit Ausnahme derjenigen auf -s, lassen sich daher bestimmten Schemata oder Mustern zuordnen. Sowohl für Plural- als auch für Singularformen existieren prototypische Muster. Für die Beurteilung der Validität eines Suffixes ist der Vergleich mit dem Auslaut typischer Singularformen, für die Beurteilung seiner Salienz und Frequenz ein Vergleich mit den anderen Suffixen notwendig. Nach diesen Kriterien kann bestimmt werden, was ein ‚gutes‘ Muster oder starkes Schema ausmacht. Nach allen Kriterien (Frequenz, Salienz, Validität) stellt -en das Suffix dar, das optimale Pluralformen ermöglicht. Diese Formen gelten folglich als prototypische Pluralformen und nehmen innerhalb eines Schemamodells den Spitzenplatz ein (vgl. Bybee 1988, 1995, Köpcke 1993). In Anlehnung an Köpcke (1993) lässt sich folgende Tabelle für die Pluralschemata in aufsteigender Signalstärke aufstellen: Tab. 1: Schema der deutschen Pluralformen: ‚Trochäus mit finaler Schwa-Silbe‘ Prototyp. Singulare
Nicht prototyp. Singulare
der Hund
die Stunde
das Haus
das Gebirge
die Uhr
der Löwe
0-Plurale
die Gebirge-
Overte Plurale
Prototyp. Plurale
die Hund-e
die Runde-n
die Berg-e
die Burg-en
die Löwe-n
der Engel
die Engel-
der Eimer
die Eimer-
die Kugel-n die Ei-er
die Leiter-n
|| 5 Nach Pavlov (1995: 46) sind 0-Formen fast so häufig wie die overt markierten auf -e (18 % vs. 20 % sämtlicher Substantive).
Regeln versus Muster | 199
Während sich die Pluralformen mit den Schwa-Suffixen gegenseitig stützen und als Muster verstärken, sind s-Pluralformen in diesem Schemamodell nicht vorgesehen. Es ist zwar denkbar, dass Lerner zumindest die zweisilbigen Formen in einem Netzwerk miteinander verbinden, also eine Verknüpfung zwischen Auto und Autos einerseits, zwischen Autos und Kinos andererseits (auf dem Merkmal des finalen Vollvokals) herstellen. Aufgrund der geringen Typefrequenz solcher Nomen kann allerdings kein starkes Muster erwartet werden.
3.3 Mögliche Regeln Die Lerner wissen zu Beginn ihres Spracherwerbs nichts über die Existenz von Flexionsklassen, sie kennen auch die Formen des Genitivs nicht, nach denen die starke und schwache Flexion unterschieden werden, und sie kennen auch die Genusklassen noch nicht. Regeln für die Pluralbildung, die auf Flexionsklassen oder den Genera basieren und die aufgrund ihrer Produktivität psychische Realität für den kompetenten Sprecher beanspruchen können (s. Wegener 2002, Bittner 1994), können sie also nicht ausbilden. Es gibt jedoch Kriterien, die dem Lerner auch im natürlichen Spracherwerb zugänglich sind und ihm erlauben, mehrere Regeln auszubilden. Das sind phonologische Merkmale, der Wortauslaut und die Silbenzahl der Stämme. Danach lassen sich zwei starke und zwei schwächere Regeln formulieren: 1. Stämme mit finaler offener Schwa-Silbe bilden den Plural mit -n, 2. Stämme mit finalem unbetontem Vollvokal bilden den Plural mit -s, 3. einsilbige Stämme bilden den Plural mit -e oder -er, nur selten mit -en, 4. Stämme mit finaler geschlossener Schwa-Silbe (Pseudosuffixe -el, -en und -er) bilden den Plural mit -0, selten mit -n. Regel 1 und 3 haben gegenüber Regel 2 und 4 den Vorteil, eine große Zahl von Nomen zu erfassen, haben also großen Skopus, Regel 1 kennt außerdem wie Regel 2 kaum Ausnahmen6. Regel 3 hat ebenfalls einen großen Skopus, aber ebenso wie Regel 4 geringere Validität, wie schon die Formulierung zeigt, da Feminina unter den Einsilbern und den Nomen auf Pseudosuffix den (e)n-Plural bilden. Regel 2 ist valide, erfasst aber nur die wenigen Nomen auf finalen Vollvokal. Regel 1 hat großen Skopus und große, fast absolute Validität, sie ist die eindeutigste Regel und sollte daher am leichtesten gelernt werden.
|| 6 Starke Nomen auf -e, die keinen n-Plural bilden, sind der Stoffname Käse und Kollektiva wie Gebirge, die aber in den Daten nicht vorkommen. Nomen auf Vollvokal, die keinen s-Plural bilden, sind assimilierte Fremdwörter wie Firma, die ebenfalls nicht vorkommen.
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3.4 Annahmen hinsichtlich Übergeneralisierungen und Fehlerhäufigkeit Ob für ein bestimmtes Pluralsuffix Regeln ausgebildet werden, ist nur an der Zahl der übergeneralisierten Formen zu erkennen, denn korrekte Formen könnten auch gespeichert sein. Auf der Basis der oben formulierten Regeln sollten dann auch Formen wie *drei Jahren alt, *Kinde, *Villas, *Engeln und *Kugel gebildet werden, also Formen mit -en, -e, -n und -s und sogar -0. Da diese Formen als regulär gelten können und da das Erkennen einer Regel immer auch zu ihrer Übergeneralisierung führt, sind solche Formen als positive Zeichen einer kognitiven Lernstrategie zu bewerten. Besonders klare Regeln, wie Regel 1 und 2 für die Suffixe -n und -s für Nomen auf -e und Nomen auf Vollvokal, sollten zu den wenigsten Fehlern führen, insbesondere Regel 1, die einen hohen Grad an Validität und zugleich großen Skopus aufweist. Stämme auf -e sollten also die geringsten Probleme bereiten, mit -n pluralisiert zu werden. Auch nach konnektionistischen Annahmen kommt es im Lernprozess, bei dem der Lerner aus den im Input vorhandenen Kookkurrenzen von Singular- und Pluralformen Muster für paradigmatisch zusammengehörende Formen extrahiert und daraus die Formen einer Flexionsklasse konstruiert, zu Übergeneralisierungen, wenn er diese Muster auf neue Stämme überträgt. Für die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens spielt die Größe der Pluralklasse und damit die Typefrequenz der ihr angehörenden Pluralformen eine entscheidende Rolle. Während hohe Tokenfrequenzen individueller Items diesem Ansatz zufolge die Systembildung eher behindern, weil sie als auswendiggelernte Formen morphologisch nicht analysiert und damit nicht in Beziehung zu den verwandten Formen gesetzt werden, stärkt die hohe Typefrequenz eines formalen Merkmals die Repräsentation und damit auch die Produktivität des entsprechenden morphologischen Schemas. (Menzel 2004: 155)
Übergeneralisierungen sind also prinzipiell mit jedem Pluralsuffix möglich, aber mit den typefrequenten Suffixen -(e)n und -(e) eher zu erwarten als mit den niedrigfrequenten -"(e) (= Umlaut), -er (mit/ohne Umlaut) und -s. Wenn, wie von Vertretern von NM angenommen, die Lerner outputorientiert vorgehen, d.h. ein Bewusstsein von Pluralformen entwickeln und Schemata ausbilden, sollte der en-Plural präferiert werden, weil er in mehrfacher Hinsicht, nach seiner Validität und Salienz und auch nach den Natürlichkeitsprinzipien der Ikonizität und der Uniformität, der ‚bessere‘ Pluralmarker ist, größere Signalstärke für das semantische Merkmal ‚Vielheit‘ hat. Nach beiden Modellen sind also die meisten Übergeneralisierungen mit dem enSuffix zu erwarten, diese Annahme stützt sich allerdings auf unterschiedliche Fak-
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ten: für regelbasiertes Lernen auf die hohe Typefrequenz, für musterbasiertes Lernen außerdem auf die Signalstärke des Musters. In der Annahme, dass die dominanten Suffixe, insbesondere das maximal valide und saliente -en, am ehesten übergeneralisiert werden, stimmen die beiden Modelle also überein. Sie machen jedoch unterschiedliche Annahmen hinsichtlich des Erwerbs – der irregulären Pluralformen, – der nichtsilbischen Pluralsuffixvarianten -n (und -0) , – der s-Pluralformen.
3.5 Die irregulären Formen auf -"(e) und -er (mit und ohne Umlaut) Regelbildung auf Seiten der Lerner setzt Regeln und reguläre Suffixe voraus. Daher ist nach dem DRM nicht anzunehmen, dass Regeln für die irregulären Formen ausgebildet werden. Vielmehr muss die Gesamtheit der er- und der Umlautformen durch Speichern gemeistert werden. Nach dem DRM können für die Pluralsuffixe der kleinen Klassen, also -er und -(e), d.h. Umlaut, keine Regeln ausgebildet werden, da diese ja irregulär sind. Wenn überhaupt, so sollten mit diesen Suffixen höchstens aufgrund von Ähnlichkeit neue Formen gebildet werden, wobei Frequenzeffekte zu erwarten sind. Es sollten aber keine Übergeneralisierungen mit diesen Suffixen oder mit Umlaut auftreten. Als Konsequenz der unterschiedlichen Regularität sollten die regulären und die irregulären Pluralformen sich ferner in der Korrektheit ihres Erwerbs, m. a. W. in der Fehleranfälligkeit unterscheiden. Da die irregulären Formen das Gedächtnis beanspruchen, ist ihr Erwerb von der Tokenfrequenz der Formen abhängig, der der regulären sollte dagegen keine Frequenzeffekte aufweisen. Denn ist die Regel einmal erkannt, kann jede neue Pluralform nach ihr gebildet werden. Nach dem NM kann der Lerner auch für Umlautformen, sofern diese in ausreichender Zahl vorliegen, Muster ausbilden, so dass es auch hier zu Übergeneralisierungen käme: Wenn nach dem Muster in Abbildung 1 für den er-Plural die Form Hühner mit Huhn einerseits, mit Bücher, Güter etc andererseits verknüpft wurde, kann nach diesem Muster auch zum Singular Sohn die Pluralform *Söhner gebildet werden, ebenso wie nach demselben Verfahren zu dem Wortpaar Frau – Frauen, das durch viele parallele Beispiele gestützt wird, auch das Paar Jahr – *Jahren gebildet werden kann. Nach dem NM sind Übergeneralisierungen für alle Pluralsuffixe zu erwarten, da der Lerner für alle Formen und Suffixe, die er im Input vorfindet, Muster ausbildet. Nach dem Muster:
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Burg > Burgen kann also auch Kuh > *Kuhen, nach Hund > Hunde auch Burg > *Burge und Frosch > *Frosche, nach Frosch > Frösche aber auch Hund > *Hünde, nach Huhn > Hühner auch Sohn > *Söhner, nach Oma > Omas auch Villa > *Villas, und nach Engel > Engel auch Kugel > *Kugel auftreten. Nach dem NM stellen die gerade im Grundwortschatz zahlreichen Umlautformen daher kein prinzipielles Problem dar. Auch für solche Formen können Muster extrahiert und miteinander verknüpft werden, s. das Diagramm für den er-Plural in 1., so dass ein Teil-Netzwerk für eine Klasse mit Umlaut aufgebaut wird, in dem der Stamm mit der Pluralform und analoge Pluralformen untereinander verknüpft sind. Der Lernprozess sollte also für Umlautformen nicht länger dauern, Übergeneralisierungen auch hier möglich sein, da ja sämtliche Formen des Pluralsystems nach einheitlichem Verfahren gelernt werden, mit nur graduellen Unterschieden aufgrund unterschiedlicher Token- und Typefrequenzen und daraus folgend unterschiedlicher Stärke eines Musters.
3.6 Die nicht-silbischen Suffixe -n und -0 Da es für das nicht-silbische Pluralsuffix -n eine klare Regel gibt, Regel 1 für auf -e auslautende Stämme, die fast ausnahmslos gilt, ist nach dem DRM für diese Nomen leichter Erwerb zu erwarten. Dasselbe gilt für die s-Formen. Ganz anderes ist nach dem Schemamodell zu erwarten. Auch wenn die regulären Formen mit finaler Schwasilbe identische Outputformen aufweisen, unabhängig davon, ob sie mit silbischen oder nicht-silbischen Suffixen gebildet wurden, so sind diese Pluralformen doch auf unterschiedliche Weise entstanden: es wurde eine ganze Silbe addiert (was Konsequenzen für die Stimmhaftigkeit des finalen Konsonanten hat: Burg-en, Hund-e), oder aber es wurde nur ein -n oder gar nichts addiert: Kugel-n, Engel-0. Für den Erwerb der Pluralformen kann dieser Unterschied eine Rolle spielen. Zusammen mit dem nicht-silbischen n-Suffix führt der 0-Plural zu optimalen, dem Schema voll entsprechenden Pluralformen – und stellt gerade deswegen ein Problem dar. Denn Stämme, die den Schemata schon im Singular entsprechen, da sie auf eine Schwa-Silbe auslauten und insofern in ihrer Struktur bereits das Pluralschema erfüllen (vgl. Sg Stunde - Pl Hunde), könnten von den Kindern als Pluralformen interpretiert und konsequenterweise nicht weiter suffigiert werden. Die Folge wären Untergeneralisierungen des n-Suffixes und besonders hohe Fehlerzahlen. Beim 0-Plural kann es aber natürlich gar nicht zu Fehlern kommen. Diese Formen stellen weniger für den Erwerb als für die Erwerbsuntersuchung ein Problem dar, da nicht klar ist, ob die Kinder hier die Singularform verwenden oder eine kor-
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rekte Pluralform bilden. Zu Beginn des Pluralerwerbs ist der Gebrauch der Singularform eine häufige und naheliegende Strategie.
3.7 Die s-Pluralformen Für regelbasiertes Lernen stellt der s-Plural kein Problem dar, da es zumindest für die zweisilbigen Formen (Stämme mit finalem Vollvokal) eine klare Regel gibt: Regel 2. Nach dem NM stellt der s-Plural dagegen aus mehreren Gründen ein Problem dar. Erstens hängen die Mächtigkeit eines Musters, seine Ausbildung und die Zahl der Übergeneralisierungen mit dem entsprechenden Suffix von der Typefrequenz dieses Pluralsuffixes und seiner Signalstärke ab. Trotz der Eindeutigkeit der Regel für den s-Plural ist aus konnektionistischer Sicht für diesen aber aufgrund seiner geringen Typefrequenz problematischer Erwerb zu erwarten. Ein weiterer Faktor für die Herausbildung eines Musters ist die Struktur der Pluralform. Strukturell unterscheiden sich die Pluralformen mit finaler Schwa-Silbe grundsätzlich von denen mit -s, insbesondere den einsilbigen. Die Schwa-Pluralformen sind trochäisch und enden auf eine offene oder durch einen Sonoranten geschlossene Schwa-Silbe: Hunde, Frauen, Eier, Engel. Diese Formen ähneln einander stark und können die sich herausbildenden Muster gegenseitig verstärken. Die Ausbildung mächtiger Muster für Pluralformen mit finaler Schwa-Silbe in der Lernergrammatik könnte aber die Ausbildung eines Musters für das stimmlose s-Suffix behindern. Da die s-Pluralformen ein- oder mehrsilbig (Parks, Autos) sind, ähneln sie weder einander noch den anderen Pluralformen, was für die Ausbildung eines Musters ungünstig ist. Nach dem NM müsste der s-Plural ein Lernproblem darstellen, weil er nicht in das Schema deutscher Pluralformen ‚Trochäus mit finaler Schwa-Silbe‘ passt. Auslassungen von -s oder seine Ersetzung durch andere Suffixe sind daher zu erwarten. Einsilbige s-Pluralformen sollten besonders große Probleme bereiten. Hinsichtlich der unsilbischen Pluralsuffixe ergeben sich für die beiden Modelle also unterschiedliche, ja entgegengesetzte Erwartungen. Die Annahmen beider Modelle hinsichtlich der Übergeneralisierungen und der Fehleranfälligkeit seien hier zusammengefasst. Beide Modelle erwarten die meisten Übergeneralisierungen für das en-Suffix, nur das NM lässt Übergeneralisierungen von irregulären Formen, auch solchen mit Umlaut, erwarten. Für die nicht-silbischen Suffixe -n, -s und -0, die ja regulär sind, sind nach dem DRM problemloser Erwerb, nach dem NM aber Probleme zu erwarten. Für die irregulären Formen der kleinen Klassen, insbesondere die mit Umlaut, sind umgekehrt nach dem DRM Probleme zu erwarten, weniger nach dem NM. Für den s-Plural sind nach dem DRM keine Probleme zu erwarten, zumindest für die
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zweisilbigen Pluralformen zu vokalfinalen Wörtern. Das NM erwartet dagegen Probleme für alle s-Pluralformen, besonders für die einsilbigen.
4 Die Kinder Meine Untersuchung basiert auf Daten, die während einer Langzeituntersuchung zum DaZ-Erwerb von Grundschulkindern aus Polen, Russland und der Türkei 1989‒ 1992 in Augsburg erhoben wurden. Für die vorliegende Arbeit wurden die Daten von 4 Kindern mit L1 Türkisch, 3 mit L1 Polnisch und 2 mit L1 Russisch ausgewertet. Die Kinder waren zu Beginn der Erhebungen 6‒7, am Ende 9‒11 Jahre alt, die Aufnahmen fanden in 1‒2-monatigem Abstand statt. Die Kinder unterscheiden sich nur geringfügig im Alter – die türkischen sind zu Beginn 1‒2 Jahre jünger, werden aber länger beobachtet –, aber erheblich in den Lernbedingungen. Zwar besuchen alle Kinder eine Augsburger Grundschule, die russischsprachigen Kinder aber zuerst 1‒2 Jahre lang eine Übergangsklasse, die Kinder aus Polen besuchen gleich die Regelklasse. Das bewirkt, dass diese früher deutsche Schulkameraden haben als die russischsprachigen. Die türkischen Kinder haben gar keine deutschen Schulfreunde, 2 von ihnen aber häufig deutsche Spielkameraden. Eu/R und Ka/P (= Namenskürzel mit Angabe der L1: R = Russisch, P = Polnisch, T = Türkisch) besuchen nachmittags einen deutschen Hort und haben dadurch die besten Lernbedingungen. Die türkischen Kinder erhalten in sog. zweisprachigen Klassen in den ersten beiden Schuljahren nur 6, dann 16 bzw. 19 Stunden ihres Unterrichts auf Deutsch, die Aussiedlerkinder (mit L1 Polnisch und Russisch) dagegen ihren gesamten Unterricht zusammen mit deutschen Kindern. In der Familie der Aussiedlerkinder wird teilweise auch deutsch gesprochen, bei den türkischen nicht. Die Pluralformen realer Wörter wurden im freien und im durch Bildergeschichten gelenkten Gespräch innerhalb der Interviews erfasst oder durch informelle Tests elizitiert (im Spiel mit Memorykarten, von denen erst eine, dann beide gezeigt wurden: Da ist das eine Haus, jetzt sind es zwei...?).
5 Analyse der Daten Die Darstellung beruht auf der statistischen Auswertung7 der gesamten Pluralformen, die in den Interviews über zwei ½ Jahre mündlich produziert wurden, entweder spontan oder in informellen Tests elizitiert.
|| 7 Bei der Auswertung wurden Dativ Pluralformen und Formen, die vom Kind repetiert werden, wenn sie von der Interviewerin unmittelbar vorher geäußert wurden, nicht berücksichtigt.
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Die folgende Tabelle (Tab. 2) zeigt für jede Pluralklasse, wie hoch der Anteil an korrekt gebildeten Pluralformen ist, m.a.W. den Grad der Fehleranfälligkeit. Für die nicht korrekt gebildeten Formen wird angegeben, ob das Suffix fehlt (= durch -0 ersetzt) oder ob es durch ein anderes ersetzt wird, das dann also übergeneralisiert wird. Spalte 1 gibt den erwarteten Pluralmarker, also die Pluralklasse an, wobei der Umlaut nicht berücksichtigt wird, Spalte 2 die Kindergruppe (TK = türkische Kinder, AK = Aussiedlerkinder), Spalte 3 den %-Anteil der für diese Pluralklasse von den jeweiligen Kindern korrekt realisierten Formen in Token/Types, Spalte 4 die Auslassungen des Pluralsuffixes (= Verwenden der Singularform), Spalte 5 das Ersetzen des korrekten Pluralsuffixes durch ein anderes, das hier nicht spezifiziert wird. Schließlich folgt ein Beispiel. Tab. 2: Korrektheit der Pluralformen realer Wörter über 30/32 Monate (To/Ty) PM -en AK TK -n AK TK
Korrekt 82,3/80 % 65/59 %
-0 anderes Sf 9,7/10 % 13/17 %
Beispiel
8/10 % 22/24 %
Frau-en Uhr-en
57/63,5 % 42,7/36 % 0,3/0,5 % 64/59 % 35/40 % 0,6/0,8 %
Pause-n Kugel-n
-e AK TK
86/83 % 78/75 %
6/8 % 10/12 %
8/9 % 12/13 %
-0 AK TK
97,2/96,8 % 96/93,6 %
-
2,8/3,2 % 3,8/6,4 %
EngelFenster-
-er AK TK
95/89 % 90,5/71,5 %
1/2,5 % 4/8,5 % 5/16 % 4,5/12,5 %
Kind-er Büch-er
-s AK TK
77/60 % 59/45 %
22/39 % 39/50 %
1/1 % 2/5 %
Hund-e Wölf-e
Auto-s Bonbon-s
Korrekte Pluralformen sagen über die zugrundeliegende Lernstrategie nichts aus. Sie können sowohl auf auswendig gelernten, gespeicherten Formen als auch auf Regeln oder Mustern basieren. Für die Frage, wie gelernt wird, sind aber die Unterschiede im Erwerb der einzelnen Pluralformen von Interesse. Nach Tabelle 2 ergibt sich für die Fehleranfälligkeit8 und daraus folgend für die Erwerbsreihenfolge der einzelnen Pluralklassen folgende Hierarchie:
|| 8 Im Vergleich zu L1-Erwerbsstudien ist die Zahl der Fehler hoch. Behrens 2001 findet eine allgemeine Fehlerrate von 3,4 %, ebenso Clahsen et al. (1992). Nach Behrens (2001) differiert die Fehlerzahl der Pluralklassen aber stark, von unter 1 bis zu 40 %. Dies gilt auch für die L2-Lerner. Ihre allgemein hohe Fehlerzahl ist u.a. dadurch bedingt, dass ein großer Teil der Daten durch informelle Tests elizitiert wurde.
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AK: -0 > -er > -e > -en > -s > -n TK: -0 > -er > -e > -en > -n > -s Keine Pluralklasse wird fehlerfrei erworben, am leichtesten fällt der Erwerb des erPlurals (abgesehen vom 0-Plural, wobei offen bleiben muss, ob 0-Plural- oder Singularformen vorliegen), denn hier treten die höchsten Korrektheitswerte (über 90 %) auf. Erklärlich ist dies durch die überaus hohe Tokenfrequenz der er-Pluralformen: nach Pavlov (1995) haben diese am Gesamtwortschatz (= Typefrequenz) nur einen Anteil von 0,7 %, im Korpus (= Tokenfrequenz) aber von 7,1 % (s. Wegener 2002: 294), und im GWS von 6,2 % – sie werden also unverhältnismäßig häufig gebraucht und können dadurch ganzheitlich gespeichert bzw. auswendig gelernt werden. Die unanalysierte Speicherung von Pluralformen zeigt sich u.a. in deren Verwendung in Singularkontexten, sie ist in den Daten gerade beim er-, aber auch beim e-Plural belegt: ein *Eier, ein *Schuhe, ein *Strümpfe und typisch für im Plural dominante Wörter. Da beide Lernmodelle für hochgradig tokenfrequente Nomen Speicherung annehmen, ist der leichte Erwerb der er-Formen mit beiden kompatibel.
5.1 Die Übergeneralisierungen Übergeneralisierungen treten für alle Pluralsuffixe sowie den Umlaut auf, wenn auch in unterschiedlicher Häufigkeit. Beispiele für Übergeneralisierungen auf: -en: *Haaren, *Freunden, *Schuhen, *Baumen, *Bäumen, *Hühnen, -e: *Stocke, *Elefante, *Bette, *Frosche, *Hühne, *T-Shirte -er: *Söhner, *Streichholzer, *Bäller,* Sträußer, -n: *Apfeln, *Uhun, *Karusseln, -s: *Kugels, *Mädchens, *Vogels Aus Tabelle 2 geht nicht hervor, welche Suffixe übergeneralisiert wurden, die Werte dafür wurden unabhängig bei den selben Kindern ermittelt. Sie gehen aus der folgenden Tabelle hervor. Zahlenmäßig differieren die Übergeneralisierungen, so dass sich Hierarchien ergeben. Mit großem Abstand ist -en das meist übergeneralisierte Suffix. Tab. 3: Reihenfolge nach den Übergeneralisierungen, Types in % -en
-n
-e
-s
-er
+U
-U
TK 62,3
6,5
13
16,5
1,6
5,2
17,9
AK 58,5
7,3
27
7,4
6,2 8,96
27
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Als +Umlaut gelten Formen wie *Hünde, *Häsen mit hyperkorrektem, als -Umlaut folglich *Frosche, *Streichholzer mit fehlendem Umlaut. Bei Formen mit korrektem Umlaut, aber falschem Suffix (*Mäusen, *Nüssen, aber auch *Haaren), wird nur das Suffix als Übergeneralisierung gewertet. Dativ-Pluralformen werden nicht gezählt. Hierarchie der übergeneralisierten Pluralmarker: TK: -en > -s > -e > -n > U > -er AK: -en > -e > U > -s > -n > -er Die Daten entsprechen den Annahmen beider Modelle, denn von beiden wird erwartet, dass Übergeneralisierungen mit -en alle anderen überwiegen. Dieses Ergebnis ist ebenso wie der fast fehlerfreie Erwerb der er-Pluralformen mit beiden Modellen kompatibel und sagt nichts aus über die zugrunde liegende Lernstrategie. Die höchsten Werte für -en erklären sich nicht nur durch dessen Frequenz, die im GWS kaum über der von -e liegt, sondern auch durch die hohe Ikonizität, hohe Signalstärke und Validität dieses Suffixes. Sie bestätigen insofern die Stärke des prototypischen Schemas. Die Kinder nutzen das im Input vorgefundene Material zum Aufbau von Pluralschemata in optimaler Weise, indem sie das ‚beste‘ Suffix zur Ausbildung optimaler Pluralformen verwenden – optimal allerdings nur, solange dessen Genusabhängigkeit nicht erkannt ist.9
5.2 Übergeneralisierungen von irregulären Formen Es treten aber nicht nur Übergeneralisierungen der regulären Suffixe auf, sondern es finden sich, wenn auch zahlenmäßig in viel geringerem Umfang, auch Übergeneralisierungen mit den irregulären Pluralmarkern -er und Umlaut wie die folgenden (Formen mit fehlendem oder hyperkorrektem Umlaut sind unterstrichen): er-Formen: *Bäller, *Sträußer, *Söhner (An/R10), *Fischer, *Pferder, *Schiffer, *Streichholzer (Eu/R)
|| 9 Testdaten, die bei Lernern der 3. Grundschulklasse erhoben wurden, zeigen nur für die AK Ansätze zur Berücksichtigung des Genus (+/- feminin) für die Wahl der Pluralsuffixe -(e)n vs. -(e) und -er (+/- Umlaut). Der s-Plural liegt bei beiden Kindergruppen unter 50%, bei den AK unter 20%, s. hierzu Wegener 2008a. 10 An = Namenskürzel, R = L1 Russisch
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Umlautformen: *Stühlen, *Fröschen, *Bällen, *Tüchen, *Mäusen, *Hünde, *Bäumen, *Füßen, *Händen, *Nüssen, *Zöpfen, *Pünkte, *Hühnen, *Hühne (Ne/T) bei mehreren Kindern: *Häsen *Bällen, *Nüssen, *Söhnen, *Häsen, *Zöpfen, *Zitröne, *Träktor (Eu/R) Bei den einzelnen Kindern sind bis zu 30 % der übergeneralisierten Formen umgelautet, für bis zu 40 % der Nomen mit umlautfähigem Vokal, und zwar meist dann, wenn der Umlaut tatsächlich verlangt ist: *Fröschen, *Zähnen, *Nüssen, *Vögeln, *Hühne, *Bäller, *Söhner, in bis zu 10 % liegt hyperkorrekte Umlautung vor (*Häsen, *Pünkte, *Hünde, *Traktön, *Zitröne).11 Nach dem DRM dürften solche Übergeneralisierungen nicht auftreten. Das Auftreten von Übergeneralisierungen für sämtliche Pluralsuffixe und den Umlaut deutet auf eine einheitliche Verarbeitungsstrategie durch Musterextraktion und assoziatives Verknüpfen dieser Muster hin und spricht gegen qualitativ unterschiedlichen Erwerb der regulären und der irregulären Formen. Eine auf dem Suffix basierende Regel, wie von den Verfechtern des DRM angenommen, kann bei den umzulautenden Stämmen allenfalls die Formen mit fehlendem Umlaut erklären (*Frosche, *Baumen). Sie kann den Anteil der Umlautformen an den Übergeneralisierungen ebenso wenig erklären wie die Tatsache, dass deren Umlaut meistens korrekt ist. Die Mehrzahl der umzulautenden Stämme wird also auch dann umgelautet, wenn das Kind die Pluralform nicht aus dem Gedächtnis abrufen kann, sondern tentativ bildet. Offenbar bildet es diese nicht durch Kombination des Singulars mit einem Suffix, sondern hat eine ungefähre Vorstellung von der Pluralform. Es folgt also keiner Regel, sondern einem Muster, das es aus den im Input vorgefundenen Formen extrahiert und durch Verknüpfung mit ähnlichen Formen (bzw. durch Analogie) zu einem Schema aufgebaut hat. Nach dem DRM bleibt offen, wie das Kind zu Pluralformen wie *Nüssen oder gar *Häsen und *Streichholzer kommt, denn für Regeln, die -n mit Umlaut kombinieren oder -er von Umlaut dissoziieren, gibt es im Input keine Evidenz. Für das NM sind diese Bildungen Beweis für die Ausbildung von Schemata. Wenn das Kind Umlaut mit -en kombiniert, folgt es außerdem einer Strategie der Verdeutlichung: es setzt das valideste Pluralsuffix und zusätzlich den Pluralmarker Umlaut ein, markiert Plural also doppelt. Das Kind nimmt also (wie häufig im Spracherwerb beobachtet) eine Optimierung der Pluralform vor. Für Musterextraktion und Konnektion zwischen Singular und Plural einerseits und der zwischen verschiedenen Pluralformen eines Musters andererseits spielt der
|| 11 Eine genaue Analyse der von 3 Kindern gebildeten 129 Pluralformen zu Stämmen mit umlautfähigem Vokal findet sich in Wegener 2008b.
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betonte Stammvokal eine wichtige Rolle. Insofern belegen diese Zahlen, dass in den Fällen übergeneralisierter Umlautformen unvollkommene Muster-Verknüpfung vorliegt. Dass der Umlaut häufiger fehlt als dass er hyperkorrekt gebildet wird, entspricht der Erwartung, denn Singularformen sind im Input häufiger als Pluralformen. Dies Ergebnis kann konnektionistisch erklärt werden: Fehlende Umlautung beruht auf zu enger Bindung des Lerners an den Singular bzw. zu enger Verknüpfung der Pluralform mit dem Singularstamm – von Fuchs gelangt man leichter zu *Fuchse als zu Füchse. Hyperkorrekte Umlautung beruht dagegen auf zu enger Verknüpfung mit Pluralformen der Umlaut-Klasse: von Füchse gelangt man leichter zu *Hünde als zu Hunde.
5.3 Die nicht-silbischen Suffixe -n und -s Nach dem DRM sollten Pluralformen auf -n und -s höhere Werte aufweisen als die anderen, da für sie ja die beiden validen Regeln 1 und 2 existieren – das Gegenteil ist der Fall, wie die Auslassungen der Pluralsuffixe in Spalte 4 von Tabelle 2 zeigen. Kein anderes Pluralsuffix wird so oft ausgelassen wie -n, in bis zu 42 % der Fälle. Dies Ergebnis spricht gegen die Ausbildung von Regel 1, die ja gerade für Nomen auf -e besonders deutlich und valide ist. Während sich die Korrektheitswerte in Tabelle 2 für die en- und e-Formen nicht wesentlich unterscheiden (82 und 86 % bei den Aussiedlerkindern, 65 und 78 % bei den TK)12, fallen die Werte für die nicht-silbischen Suffixe deutlich ab: in beiden Kindergruppen erreichen -s und -n die niedrigsten Werte (bei den AK 57 % für -n , 77 % für -s, bei den TK 64 % für -n, 59 % für -s; bei den i.a. erfolgreicheren Aussiedlerkindern ist der Abstand zu den silbischen Suffixen sogar noch größer). Dies sind für den Erwerb folglich die schwierigsten Suffixe trotz unterschiedlicher Frequenz: hoch für -n, niedrig für -s, und obwohl für beide eine relativ klare auslautbasierte Regel bildbar wäre, nämlich Regel 1 und 2. Nach Spalte 4 in Tabelle 2 lässt sich eine Hierarchie der ausgelassenen Pluralmarker aufstellen. Danach besetzen die nicht-silbischen Suffixe -n und -s die höchsten Ränge, d.h. sie fehlen mit Abstand am häufigsten: TK: -s > -n > -en > -e > -er AK: -n > -s > -en > -e > -er
|| 12 Die niedrigeren Korrektheitswerte der türkischen im Vergleich zu den Aussiedlerkindern erklären sich durch die schlechteren Lernbedingungen der ersteren.
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Konkret bedeutet dies, dass die Kinder v. a. 4 Typen von Singularstämmen als Pluralformen gebrauchen, wobei bei Typ 1 und 2 -n bzw. Umlaut fehlt, bei Typ 3 -s, bei Typ 4 -s oder -e/-en: 1. Stämme auf -e: viele *Blume, *Birne, *Affe, *Woche, *Hase.. 2. Stämme auf -el und -er: viele *Kugel, *Kartoffel, *Semmel, *Apfel, *Schulter… 3. Stämme auf Vollvokal: viele *Barbie, *Auto, *Bonbon… 4. sonstige Mehrsilber: viele *König, *Schmetterling, *Wohnung, *Traktor Sehr viel seltener fehlen die silbischen Pluralsuffixe bei Einsilbern, wird also viele *Turm, *Pferd gebildet. Außerdem gibt es Unterschiede im Zeitpunkt dieses Fehlers: Bei Einsilbern fehlt das Suffix vor allem zu Anfang, wenn die Kinder noch keine Vorstellung von deutschen Pluralformen, noch kein Muster für den ‚Trochäus mit finaler Schwasilbe‘ ausgebildet haben, später wird irgendein silbisches Suffix, meist -en, verwendet, um dieser Outputform zu genügen. Dagegen bereiten die nicht-silbischen Suffixe bei den Mehrsilbern die ganze Untersuchungsperiode hindurch Probleme. Ganz besonders sind Mehrsilber mit finaler Schwa-Silbe betroffen, wobei das Auslassen des -n nach -e sogar gegenüber seinem Fehlen nach Pseudosuffix noch überwiegt. (57: 43 %). Nur für letzteren Fehlertyp gibt es aber Evidenz im Input durch den 0-Plural nach Pseudosuffix: Engel, Eimer. Dagegen bilden Wörter auf -e fast ausnahmslos den n-Plural. Bei den Mehrsilbern fällt auf, dass der Pluralmarker vor allem dann fehlt, wenn das Wort auf Nasal oder eine unbetonte Silbe endet. Zur Erklärung s.u. Die geringe Korrektheit der s-Pluralformen und die zahlreichen Auslassungen des s-Suffixes sprechen eindeutig gegen das DRM in der Prägung durch Clahsen (1992, 1999) und für die Annahmen Bybees (1988, 1995) und Köpckes (1988, 1993). Innerhalb der deutschen Pluralsuffixe ist -s ein Fremdkörper, insbesondere sind einsilbige Pluralformen ein Störfaktor, der nicht ins Schema passt, das die Kinder offensichtlich ausbilden. Bei der Detailanalyse fällt auf, dass das Pluralsuffix besonders oft fehlt bei Wortausgang auf -n: viele *Clown, die *Bonbon, *Balkon, *Ballon, *Lampion. Den Kindern reicht hier offenbar schon die Existenz eines finalen -n zur Signalisierung von Plural aus. Seltener gibt es ein ähnliches Phänomen bei Einsilbern: Während der Gebrauch von Singular- statt Pluralformen zunächst für beliebige Einsilber auftritt (Eu4–5: *Baum, *Freund, *Nuss, *Schrank, *Spiel, *Kind, *Mensch, *Schaf), treten nicht suffigierte Formen ab Eu8 nur noch bei Stämmen auf Nasal, -r oder -s, d.h. potentiellen Pluralsuffixen auf: *Stein, *Bär, *Strauß, *Fuchs. Jedoch wird -s nie an Einsilber appliziert, d. h. Formen wie *Schranks, *Schafs werden von keinem der hier untersuchten Kinder je gebildet. Die niedrigen Werte für den s-Plural zeigen, dass dieser ein Lernproblem darstellt, wofür nicht nur seine niedrige Frequenz, sondern auch die für den deutschen Plural untypische Struktur der s-Formen verantwortlich sein dürfte. Die Kinder nehmen dies Suffix offensichtlich gar nicht als Pluralmarker wahr. Selbst an vokalfina-
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len Wörtern wird er nicht realisiert (viele *Barbie, *Foto, *Uhu) oder durch Sonoranten ersetzt: *Uhun, *Uhue, *Colen, was gegen die Ausbildung einer s-Regel spricht. Selbst die Übergeneralisierungen von -s bestätigen ex negativo noch das Pluralschema: -s wird nie an Einsilber appliziert, sondern ausschließlich an mehrsilbige Stämme, die meistens auf eine Schwa- oder jedenfalls eine unbetonte Silbe auslauten, also Trochäen bilden: *Törtles, *Traktors, *Vogels (An/R), *Mädchens, *Augens, *Kugels, *Löffels, *Eulens, *Königs. (Ne/Testdaten). Insofern bestätigen selbst die s-Übergeneralisierungen die Annahme des NMs, dass die Kinder Schemata ausbilden. Am erstaunlichsten sind die geringen Werte für -n im Gegensatz zu den hohen für -en. Da die Regel 1 für -n für Nomen auf finales Schwa die eindeutigste Regel überhaupt ist, spricht dieses Ergebnis gegen die dualistische Auffassung von Regelausbildung überhaupt. Denn danach ist nicht erklärlich, warum die Bildung von Pluralformen wie Blume-n, Kugel-n deutlich schwerer fällt als die Bildung von Burgen etc. Vielmehr bestätigt dieses Ergebnis das Schemamodell der Konnektionisten. Da -n nur an Stämme tritt, die auf eine Schwa-Silbe auslauten, wird es gerade deswegen ausgelassen, weil diese Singularstämme für die Lerner bereits Pluralformen darstellen, erfüllen sie doch das Pluralschema ‚Trochäus mit finaler Schwa-Silbe‘: Blume, Kugel, Kartoffel, Schulter. Die Kinder klassifizieren diese Stämme fälschlich als Pluralformen – und dann ist es nur folgerichtig, wenn sie sie nicht mit einem Pluralsuffix versehen. Das aber zeigt, dass die Kinder die Aufgabe der Pluralbildung nicht vom Stamm aus lösen, an den Suffixe anzufügen sind, sondern dass sie outputorientiert vom Prototyp der Pluralformen ausgehen. Die nicht-prototypischen Singulare, die formal identisch nicht nur mit 0-, sondern auch mit overten Pluralformen auf -e, -er und (selten) -en sind, s. Tabelle 1, werden von den Lernern aufgrund dieser formalen Identität für Pluralformen gehalten und konsequenterweise nicht suffigiert, stellen also eine Fehlerquelle, geradezu eine Falle dar. Nur bei Nomen auf -en (Kuchen) ist eine n-Suffigierung artikulatorisch tatsächlich nicht möglich. Dieser Fehlertyp kann als Evidenz für die Ausbildung eines Schemas für en-Pluralformen gewertet werden. Die Ausbildung dieses Schemas zeigt sich auch darin, dass einmorphemige Singulare auf -en für einige türkische Kinder Anlass zur Bildung einsilbiger Singulare sind, und zwar durch falsche Segmentierung und Abtrennen der ‚Endung‘ -en: viele Kuchen – ein *Kuch, viele Knoten – ein *Knot (Kuchen, Knoten) Schließlich bestätigt sich das Schema-Modell in einem Fehlertyp, der darin besteht, dass die Kinder ein Pluralsuffix konstruieren, das es im Deutschen gar nicht gibt. Das einzige frei erfundene Pluralsuffix, das die Kinder beim Test mit Kunstwörtern gebrauchen, ist die Schwa-Silbe -el, die an realen Wörtern als Pseudosuffix auftritt
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und bei starken Nomen zum 0-Plural führt (der/die Engel). Danach bilden die Kinder zu einsilbigen Kunstwörtern die folgenden Pluralformen: Schett – Schettel, Troch – Trochel, Knirf – Knirfel Da diese Formen perfekte Trochäen mit finaler Schwasilbe darstellen, bestätigen sie die Ausbildung eines Pluralschemas im Sinne des NMs.
6 Schluss Im Hinblick auf die zugrundeliegenden Lernstrategien bestätigen die Daten zum Pluralerwerb bei kindlichen DaZ-Lernern die Ergebnisse neuester Untersuchungen zum L1-Pluralerwerb (Elsen 1999, Bittner 2000, Schaner-Wolles 2001, Behrens 2001, Szagun 2001). Diese können anhand dichter Datenmengen nachweisen, dass die Kinder keine qualitativ verschiedenen Lernstrategien für reguläre und irreguläre Pluralformen anwenden, sondern auf der Basis der vom Input angebotenen Formen Schemata in graduell unterschiedlicher Stärke für die Pluralformen ausbilden. Die hier untersuchten DaZ-Lerner lernen wie die L1-Lerner „the different plural markings by using distributional and frequency information contained in the input“ (Szagun 2001: 139). Auch wenn sie das Zielsystem nur ansatzweise erreichen, so bieten sie keine Evidenz für zwei unterschiedliche Erwerbswege, vielmehr lernen sie die graduell unterschiedlichen Regularitäten des komplexen deutschen Pluralsystems nach einheitlichem kognitiven Verfahren, indem sie ihre kombinatorischen Fähigkeiten ausschöpfen.
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Regeln versus Muster | 213
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Arne Ziegler
Opakheit Ein Blick auf das Unsichtbare in Grammatik und Sprache
1 Vorbemerkungen Die nachfolgenden Ausführungen resultieren im Grunde aus Beobachtungen hinsichtlich der gegenwärtigen Architektur des Varietätenraums des Deutschen, die mich bereits seit längerer Zeit umtreiben. Insofern sind die Ausführungen in erster Linie varietätenlinguistisch motiviert und sind ganz wesentlich in den Rahmen sprachhistorischer Diskussionen rund um die Entstehung des sogenannten Neuhochdeutschen und hier insbesondere im Zusammenhang mit verschiedenen Ansätzen zur Erklärung dessen, was üblicherweise als Sprachausbau bezeichnet wird, zu stellen – Ansätze übrigens, die in der überwiegenden Mehrheit die Gegenwartssprache und aktuelle Situation nicht im Blick haben und stattdessen mit Abschluss der Standardisierungsprozesse im 18./19. Jahrhundert den Varietätenraum des Deutschen als konsolidiert und diesen somit auch für die Gegenwart als aussagekräftig erachten (vgl. u.a. Burdach 1884; Frings 1936; Mattheier 1981; Reichmann 1988, 1990; Besch 2003). Hinter einer solchermaßen gewählten variations- und varietätenlinguistischen Perspektivierung verbirgt sich dabei im Grunde eine gesamte Sprachauffassung, indem Variation und Veränderungen als konstitutive Prinzipien von Sprache angenommen und Sprache als permanenter Prozess – der natürlich auch seine Konstanten hat – verstanden werden. Untrennbar verbunden mit einer solchen Auffassung ist natürlich auch die Überzeugung, dass jeder theoretische Ansatz, der versucht Sprache und Sprachgebrauch voneinander zu trennen, zwangsläufig zirkulär werden muss (vgl. Habermann/Ziegler 2012). Während an anderer Stelle bereits sozialaußersprachliche Faktoren in Bezug auf das umrissene Koordinatenfeld in den Fokus gerückt wurden (vgl. Ziegler 2010), soll im Weiteren – sozusagen von der anderen Seite – perspektiviert und innersprachlich-grammatische Aspekte thematisiert werden. Dabei führt „grammatisch-initiierter Wandel immer von stärker markierten grammatischen Einheiten zu schwächer markierten grammatischen Einheiten. Das Wesen eines solchen Wandels besteht damit im Abbau von grammatischer Markiertheit“ (Wurzel 1994: 27). Ausgehend von verschiedenen morphologischen Entwicklungen der deutschen Sprache sowohl in der Nominal- als auch in der Verbalflexion, die teils schon lange Zeit virulent sind, will der Beitrag zur Diskussion stellen, inwiefern eine Zunahme an morphologischer Opakheit bei gleichzeitigem Verlust von morphologischer Transparenz, dazu führt, dass sich die deutsche Grammatik gegenwärtig zuneh-
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mend zu einer pragmatisierten Grammatik entwickelt – so meine These – und damit einen virulenten Umbau in der Architektur des Varietätenraums des Deutschen – quasi katalysierend – unterstützt. Dabei impliziert ein solches Vorhaben selbstverständlich auch eine diachrone Perspektive und lässt sich insgesamt unter dem Diktum einer emergenten Grammatik im Sinne Hoppers fassen (vgl. Hopper 1987). Diese kurzen Präliminarien führe ich an, um darauf hinzuweisen, dass die folgenden Überlegungen zu Opakheit als Resultat bestimmter morphosematischer Prozesse wie auch systematischer Anlagen im Deutschen nur einen Mosaikstein im Rahmen eines ganzen Kaleidoskops von sicher zu berücksichtigenden Aspekten darstellt und keinesfalls als monokausale Bedingung zu verstehen ist. Nach einigen einleitenden Bemerkungen und Beispielen zu morphologischer Intransparenz und damit verbundener Opakheit im Deutschen, wird der Beitrag darstellen, inwieweit dies zu einer pragmatisch indizierten Grammatik führt, bzw. führen kann und was darunter überhaupt zu verstehen ist. Schließlich werde ich versuchen, diese Beobachtungen in Verbindung mit den oben skizzierten Aspekten zu bringen und somit mögliche Rückschlüsse und Konsequenzen im Hinblick auf die Architektur des Varietätenraums des Deutschen zu umreißen. Ein Ausblick und Fazit beschließen den Beitrag.
2 Opakheit in Grammatik und Sprache Nun, was verstehe ich eigentlich unter Opakheit? Zunächst beschränke ich mich in meinen Überlegungen auf morphologische Opakheit im Deutschen im Rahmen der Verbal- und Nominalflexion. Wenn ich von morphologischer Opakheit spreche, dann im allgemeinsten Sinne von ‚Undurchsichtigkeit‘, d.h. ich möchte Opakheit insofern ganz grundsätzlich als semantischen Gegenbegriff zum Begriff der morphologischen Transparenz verwenden und somit eine Form-Funktionsperspektive wählen (vgl. Nübling 2006: 50). D.h. es ist ganz bewusst nicht der Anschluss an den sprachphilosophisch, aussagenlogisch und semantisch vorbelasteten Terminus der Opazität – genauer der referentiellen Opazität – gewählt worden, um hier mögliche vorschnelle Rückschlüsse zu vermeiden. Gemäß Mayerthaler (1987: 49) ist ein sprachliches Element maximal transparent, wenn es sich nach dem Frege’schen Prinzip der Kompositionalität orientiert (morphosemantische Transparenz) und wenn Silben- und Morphemgrenzen dabei übereinstimmen (morphotaktische Transparenz). Eine prototypisch morphologisch transparente Grammatik oder Sprache ist dabei eine, in der jeder morphologischen Markierung genau eine grammatische Funktion eindeutig zugeordnet werden kann und deren morphosyntaktische Konstruktionsregeln so ausfallen, dass Morpheme mit identischer grammatischer Funktion in jedem möglichen morphologischen Kontext gegeneinander ausgetauscht werden können, ohne am Funktionswert des
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Ausdrucks etwas zu verändern. Im Deutschen gibt es insgesamt gesehen – und das wissen wir natürlich – nur wenige solcher transparenten Flexive, wie etwa das Morphem -end für die grammatische Funktion Part.Präs. (vgl. Nübling 2006: 50). Opakheit meint demgegenüber vielmehr solche Fälle in denen a) eine grammatische Funktion nicht mehr morphologisch markiert wird, obwohl ein ausgebildetes Paradigma existiert, b) formale Isomorphie vorliegt, aufgrund morphologischer Homonymie und damit verbundener Synkretismen, oder c) überhaupt kein morphologisches Paradigma in der Einzelsprache ausgebildet ist bzw. dieses zumindest nicht explizit ist. Unter dem Begriff Opakheit werden also ganz unterschiedliche Fälle versammelt, denen als gemeinsames Merkmal die Eigenschaft zugrunde liegt, dass grammatische Funktionen morphologisch nicht overt markiert sind, gleich welche Gründe diese Opakheit motiviert haben. Für das Deutsche ist in der Gegenwartssprache eine Vielzahl solcher opaken Exponenten existent, denen gemeinsam ist, dass sie entweder morphologisch maximal unterspezifiziert oder aber gar nicht markiert sind. Das Resultat in Bezug auf die morphologische Explizitheit ist dabei dasselbe – sie ist nicht gegeben und es resultieren morphologisch opake grammatische Funktionen. Einige Beispiele, die in der einschlägigen Literatur immer wieder ins Feld geführt werden und insofern als bekannt gelten dürfen, sollen an dieser Stelle kurz schlaglichtartig in Erinnerung gerufen werden, um das vor Augen stehende Phänomen exemplarisch zu illustrieren.
2.1 Opakheit in der Verbalflexion Im verbalen Bereich ist Opakheit etwa bei den synkretischen präterialen Verbformen des Indikativs und Konjunktivs zu beobachten. Zur Verdeutlichung ist im Folgenden das entsprechende Paradigma nach der Duden-Grammatik abgebildet: Tab. 1: Paradigma der präterialen schwachen Verbformen (Duden 2006: 442) Indikativ Präteritum Numerus
Person
schwache Verben
Singular
1. (ich)
lach-te
red-ete
2. (du)
lach-test
red-edest
3. (man)
lach-te
red-ete
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Numerus
Person
schwache Verben
Plural
1. (wir)
lach-ten
red-eten
2. (ihr)
lach-tet
red-etet
3. (alle)
lach-ten
red-eten
Konjunktiv II (Konjunktiv Präteritum) Numerus
Person
schwache Verben
Singular
1. (ich)
lach-te
red-ete
2. (du)
lach-test
red-edest
3. (man)
lach-te
red-ete
1. (wir)
lach-ten
red-eten
2. (ihr)
lach-tet
red-etet
3. (alle)
lach-ten
red-eten
Plural
Bittner und Köpcke (2010) weisen darauf hin, dass für die schwachen Verben im Präteritum keine notwendige formale Distinktion zwischen den beiden morphosyntaktischen Kategorien gegeben ist, während bei den starken Verben, sofern sie einen umlautfähigen präterialen Stammvokal besitzen, die Umlautung Konjunktiv II signalisiert. „Fehlt […] dieser umlautfähige präteriale Stammvokal dann ist auch hier – abgesehen von der 1. und 3. Ps.Sg. – zwischen Indikativ und Konjunktiv Synkretismus zu konstatieren“ (Bittner/Köpcke 2010: 25). In der Folge wird auf die periphrastischen Suppletivformen ausgewichen, wie in (1) und (2) zu sehen. (1) lachen würde (2) lachen täte Eine aktuelle Analyse im Korpus des Projekts „Variantengrammatik des Standarddeutschen“1 stützt die Aussagen von Bittner und Köpcke, insofern einerseits eine Verteilung der Periphrasen über den gesamten geschlossenen deutschsprachigen Raum zu belegen ist und andererseits bei den schwachen Verben eine klare Dominanz in der Tendenz zur Auslagerung in den Konjunktiversatz festzustellen ist (vgl.
|| 1 Mit dem Korpus zum D-A-CH Projekt „Variantengrammatik des Standarddeutschen“ (gefördert in Österreich durch den Wissenschaftsfond FWF –Fördernummer I 716-G18) steht aktuell ein 547.322447 Millionen Wörter umfassendes, korpustechnologisch aufbereitetes und grammatisch annotiertes Korpus aus 63 Zeitungen des zusammenhängenden deutschsprachigen Raums zur Verfügung. Nach Bereinigung von arealen Überproportionalitäten wird der Umfang des Korpus voraussichtlich immer noch deutlich über 300 Millionen Wörter umfassen. Zur genauen Konzeption des Projekts vgl. Dürscheid/Elspaß/Ziegler (2011).
Opakheit | 219
Abb. 1).2 Warum gerade Luxemburg hier eine Ausnahme darstellt, bleibt noch zu klären. Darüber hinaus kann festgehalten werden, dass die genannten periphrastischen Suppletivformen allerdings nicht gleichermaßen verteilt sind, denn die tätePeriphrase findet sich ausschließlich im süddeutschen Sprachraum (vgl. Abb. 2), während die würde-Periphrase gleichmäßig über den geschlossenen deutschen Sprachraum im Gebrauch ist.
Abb. 1: Vergleich der Verteilungen periphrastischer Suppletivformen Konjunktiv II der starken und schwachen Verben
Abb. 2: Regionale Verteilung der täte-Periphrase
|| 2 Die jeweiligen Angaben auf der y-Achse der Abbildungen sind statistische Koeffizienten, die relational zu den absoluten Werten stehen, aber keine Auskunft über prozentuale oder absolute Verteilungen zulassen und insofern lediglich einen Richtwert über die Signifikanz der Distribution darstellen. Endgültige statistische Tests stehen zur Zeit noch aus.
220 | Arne Ziegler
Unter funktionalen Aspekten ist dieses Beispiel geradezu prototypisch für eine Verlagerung morphologischer Informationen in das Syntagma, in eine analytische Konstruktion, d.h. aus typologischer Sicht prototypisch für eine Veränderung des Bindungs- und Fusionsgrades der grammatischen Formative in Richtung isolierend. Ein anderes Beispiel, das im Rahmen des Verbalbereiches zumindest auch teilweise intransparent erscheint, ist mit den sogenannten inhärenten Verbalkategorien Tempus, Modus, Aspekt umrissen. Gerade in diesem Feld sind ja prinzipiell unterschiedliche Lesarten möglich. Etwa bei einer Äußerung wie (3) Petra wird nach Hause gehen. Hier ist eine modale Lesart ebenso wie eine zukunftsdeiktisch temporale und zumindest eine schwach imperativische gegeben. Welche Lesart die dominante in der konkreten Äußerung ist, müssen wir über Kontextualisierungen implizieren, sie ist für uns morphologisch nicht eindeutig zu erfassen. Besonders an diesem Beispiel wird daneben auch eine weitere Einschränkung opaker Markierungen fassbar: Morphologische Opakheit liegt insbesondere aus der Perspektive der Rezipienten vor. Denn es darf wohl angenommen werden, dass der Produzent sprachlicher Äußerungen vermutlich weiß – auch wenn er sich darüber im konkreten Produktionsvorgang sicher nicht immer bewusst ist –, welche Lesart er zuvorderst intendiert hat.
2.2 Opakheit in der Nominalflexion Im nominalen Bereich sind von morphologischer Intransparenz beispielsweise Phänomene betroffen, die in der Literatur häufig unter den Stichworten Kasusumbau, Kasusabbau oder auch Kasussynkretismus thematisiert werden und zumindest teilweise unter dem Etikett Tendenzen der Gegenwartssprache – abgesehen von der Validität dieser Etikettierung – firmieren. Zur Veranschaulichung sind im Folgenden einige Beispiele der Reduktion von Kasusmarkierungen ausgewählt worden, die zu morphologisch synkretischen Formen im Deutschen führen bzw. geführt haben (vgl. u.a. Thieroff 2003). Das vermutlich bekannteste Beispiel betrifft zunächst den Nominativ/Akkusativ-Synkretismus. Das Deutsche unterscheidet im Neutrum und Femininum systematisch nicht zwischen Akkusativ und Nominativ. Während im Falle der Neutra diese Differenzierung in sämtlichen indogermanischen Sprachen ebenfalls fehlt, ist der Formenzusammenfall bei den Feminina ein jüngeres Phänomen (vgl. Krifka 2005; Schmidt 1996: 342).
Opakheit | 221
Tab. 2: Diachroner Wandel der Nominativ/Akkusativ-Markierung bei Feminina Althochdeutsch
Pronomen
Demonstrativ
Artikel + Substantiv
Nominativ
siu
disiu
diu zunga
Akkusativ
sia
disia
dea, dia zungûn
Mittelhochdeutsch
Pronomen
Demonstrativ
Artikel + Substantiv
Nominativ
si, sî, siu, sie
disiu
diu zunge
Akkusativ
sie, si, sî, siu
dise
die zungen
Frühneuhochdeutsch Pronomen
Demonstrativ
Artikel + Substantiv
Nominativ
sie, sü
dis, diese, disü
die, diu zunge
Akkusativ
sie, sü
diese, dis, disü
die, deu zungen
Neuhochdeutsch
Pronomen
Demonstrativ
Artikel + Substantiv
Nominativ
sie
diese
die Zunge
Akkusativ
sie
diese
die Zunge
Das Althochdeutsche und zu einem gewissen Teil das Mittelhochdeutsche unterschieden bei Feminina im Nominativ und Akkusativ noch ziemlich klar, ebenso beim Personalpronomen, beim Demonstrativpronomen und beim Artikel. Gleiches gilt für die Nominaldeklination der Klasse der schwachen Femina (n-Stämme). Noch in mittelhochdeutscher, aber auch frühneuhochdeutscher Zeit wurde hier – zumindest zum Teil morphologisch – differenziert.3 Das wird deutlich, wenn man sich z.B. die Personalpronomina im Mhd. anschaut. Dort finden wir im Nominativ etwa siu neben sî, hingegen im Akkusativ weitgehend sie. Der Formenzusammenfall wird erst auf dem Weg zum Frühneuhochdeutschen evident; allmählich setzt sich die Form sie auch für den Nominativ durch. Auch beim definiten Artikel und dem Demonstrativpronomen setzt der Formenzusammenfall bereits im Mittelhochdeutschen ein (Paul 1917: § 148), allerdings vollzieht er sich langsamer als der Zusammenfall beim Pronomen. Heute sind die Kasus morphologisch nicht mehr differenzierbar, was deutlich wird, wenn man sich folgende Beispiele anschaut: (4) Ich wünsche ihnen noch eine schöne Tagung. = Akkusativ (5) Das war eine schöne Tagung. = Nominativ
|| 3 Walch/Häckel (1988: 130) zeigen eine Evidenz in der Kasusdistinktion bei Pronomina bis ins 14. Jahrhundert.
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(6) Ich wünsch ihnen noch ein schönes Fest. = Akkusativ (7) Das war ein schönes Fest. = Nominativ In jüngerer Zeit wird daneben auch immer häufiger eine morphologische Reduktion bei schwachen Maskulina in bestimmten Konstruktionstypen konstatiert und es betrifft nicht nur den Akkusativ, sondern auch den Dativ (vgl. u.a. Thieroff 2003; Dürscheid 2007; Lange 2008; Köpcke 2011; Ziegler 2011). (8) Was macht den Mensch zum Menschen?4 (9) Dem Architekt des Irakkriegs und Vorkämpfer gegen Korruption wird Vetternwirtschaft vorgeworfen. In anderen Fällen scheint hingegen diese Reduktion gegenwärtig (noch?) nicht akzeptiert, etwa in Fällen wie (10) Kann man sich Ostern ohne den Osterhasen vorstellen? (11) Kann man sich Ostern ohne *den Osterhase vorstellen? oder (12) Es ist Fakt, dass es Europas Wäldern immer schlechter geht. (13) Es ist Fakt, dass es Europas *Wälder immer schlechter geht. Aber natürlich sind auch starke, Maskulina, bzw. Maskulina der gemischten Deklinationsklasse betroffen, wie dies etwa bei der Reduktion der Genitivmarkierung zu beobachten ist: (14) […] macht sich aufgrund des Straßenzustand zugleich eine Begrenzung des Abschnitts […] (15) […] wenn Musiker neue Besetzungen bilden und einander während des Spiel mit ihren Ideen überraschen […] (16) Wegen des Thema hatte sich der Koblenzer Oberbürgermeister Joachim Hofmann-Göttig […] Und auch für die Reduktion der Genitivendung ist Evidenz für das gesamte geschlossene deutsche Sprachgebiet gegeben (vgl. Abb. 3). Auf nationaler Ebene sind die Abweichungen zu vernachlässigen, allerdings zeigen sich in der regionalen Distribution erhebliche Unterschiede, wie die Graphik deutlich veranschaulichen kann. || 4 Die Beispiele (8) bis (13) stammen aus Lange (2008).
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Abb. 3: Regionale Verteilung der Reduktion der Genitivmarkierungen
3 Opakheit und pragmatische Syntax Die Diskussionen um die dargestellten Phänomene sind nicht neu. Sie werden seit spätestens Mitte der 90er Jahre intensiv geführt und ringen mit ganz unterschiedlichen Ansätzen nach Erklärung. Ausführlich widmet sich etwa Dürscheid (1999) den skizzierten Phänomenen. Die Gründe, die dafür angeführt werden, warum es zu morphologisch intransparenten Formativen kommen kann, sind verschieden. So werden einerseits morphotaktische und semantische Gründe etwa für die Steuerung des Flexionsverhaltens schwacher Maskulina angenommen (vgl. Köpcke 1995). Im Rahmen der Prototypentheorie werden dabei Merkmale bestimmt, die ein Substantiv aufweisen muss, um als Prototyp für schwache Maskulina zu gelten – je weiter dann ein Substantiv von diesem Prototyp entfernt ist, desto eher tendiert es dazu, im Akkusativ bzw. Dativ Singular kein Kasussuffix zu tragen. Andererseits werden neben morphologisch-lexikalischen insbesondere auch syntaktische Gründe dafür verantwortlich gemacht, ob ein Kasussuffix am schwach flektierenden Substantiv realisiert wird oder nicht (vgl. Gallmann 1996). Ebenso wird ein analogischer Wandel (Eis mit Früchte_ zu Eis ohne Früchte) für bestimmte Synkretismen ins Feld geführt (vgl. Wegener 1995: 155). Weitgehend einig ist sich die Forschung allerdings bzgl. der Tatsache, dass im Deutschen dieser Abbau flexivischer Markierungen im Laufe der Geschichte voranschreitet, d.h. eine generelle Tendenz vom Althochdeutschen zum Neuhochdeutschen im Abbau von Kasusdistinktionen bei gleichzeitigem Aufbau von Numerusdistinktionen zu beobachten ist (vgl. Wegera 1985: 1313). Diese Zunahme intransparenter Formen ist für die hier angeführte Argumentation nun ein entscheidender Punkt – wenngleich auch keine neue Erkenntnis. So ist bereits bei Humboldt zu lesen Wie lässt sich aber die hier ausgeführte Behauptung, dass das fruchtbare Lebensprincip der Sprachen hauptsächlich auf ihrer Flexionsnatur beruht, mit der Thatsache vereinigen, dass der
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Reichthum an Flexionen immer im jugendlichsten Alter der Sprachen am grössten ist, im Laufe der Zeit aber allmählich abnimmt? (Wilhelm von Humboldt 2003: 468)
Und auch der Zweifelsfälle-Duden urteilt in ähnlicher Weise und hält fest: Im Deutschen geht die Entwicklung dahin, dass die Kasusendungen von Substantiven innerhalb von Nominalgruppen abgebaut werden, während sie bei Artikelwörtern und Adjektiven noch recht stabil sind. Der Kasusabbau erfolgt bei den Flexionstypen und den einzelnen Kasus des Substantivs unterschiedlich. [...] (Duden 2011: o.S.)
An anderer Stelle ist bezüglich der Verteilung der grammatischen Merkmale in der Nominalphrase gar die Rede von einer Tendenz zur Monoflexion (vgl. Duden 2006: 965). Allerdings irrt der Zweifelsfälle-Duden mit seiner Annahme, die Kasusdistinktionen seien bei Artikelwörtern „noch recht stabil“, wie ein Blick in das Korpus zur deutschen Standardsprache zeigt (vgl. Abb. 4), wobei die dargestellte Distribution lediglich die Reduktion der Akkusativmarkierung vor Maskulina bei Indefinitartikel entsprechend dem Beispiel ich lese ein Roman wiedergibt.
Abb. 4: Wegfall der Akkusativendung bei Indefinitartikel vor Maskulina – regionale Verteilung
Dass also die in der Literatur vorfindlichen Hinweise nicht lediglich Annahmen sind und dass die dargestellten Phänomene nicht nur in Ausnahmefällen oder etwa in umgangssprachlichen Nähe-Texten zu belegen sind, wird deutlich, wenn man sich die aktuellen Verteilungen zur deutschen Standardsprache anschaut. Die dargestellten Phänomene sind im gesamten geschlossenen deutschsprachigen Raum im standardsprachlichen Gebrauch frequent, wenn auch mit regional unterschiedlicher Ausprägung, so dass schließlich angenommen werden darf, dass die synkretischen Formen als Gebrauchsvariante in der Standardsprache durchaus usuell sind.
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Wie auch immer aber solche Synkretismen und andere Fälle des Zusammenfalls oder der Reduktion formaler Kennzeichnungen begründet sein mögen – so könnte man etwa grundsätzlich anführen, dass die Flexive im Deutschen dominant am schwachen phonologischen Rand positioniert sind und insofern aufgrund phonologischer Reduktionsmechanismen ohnehin die Tendenz aufweisen zu schwinden –, bleibt festzuhalten: Für das Deutsche ist im Laufe seiner Geschichte eine deutliche Zunahme einer solchen morphologischen Intransparenz zu konstatieren, die offensichtlich im Gegenwartsdeutschen ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden hat. Nun ist es allerdings so, dass uns diese morphologische Intransparenz in der Regel keineswegs vor kommunikative Probleme stellt, sondern wir dennoch in der Lage sind, in der Kommunikation die opaken grammatischen Funktionen auflösen zu können. Dies verdanken wir im Wesentlichen zwei Faktoren, nämlich erstens einer diachronen Perspektivierung, die uns erlaubt eine Veränderung in der flexivischen Auszeichnung überhaupt festzustellen und zweitens einer synchronen rezipientenorientierten Perspektive, mittels derer wir aufgrund inferentieller Operationen auf syntaktischer Ebene, d.h. bestimmter kognitiver Verfahren, eine Zuordnung grammatischer Funktionen vornehmen können. Grundsätzlich spricht wohl kein plausibler Grund dafür, dass prinzipielle Mechanismen der von Auer (2005, 2009) für die gesprochene Sprache formulierten Online Syntax nicht auch für geschriebene Texte zu unterstellen sind, referiert das Modell doch auf grundlegende kognitive Verarbeitungsstrategien, die – so die Annahmen stimmen – generell für die rezipientenseitige Sprachverarbeitung anzunehmen sein dürften. Die von ihm beschriebene inkrementelle Syntax nimmt permanente Projektionen über weitere Verläufe emergenter syntaktischer Konstruktionen zum Ausgangspunkt, die es ermöglichen sollen, dem Rezipienten die entstehende sprachliche Äußerung zu prozessieren (vgl. Auer 2005: 3). Wenn er schreibt: „Es ist unmittelbar einsichtig, dass eine Sprache mit rigiden Serialisierungsvorschriften präzisere syntaktische Projektionen erlaubt als eine mit freier Wortstellung“ (Auer 2005: 4) kann darüber hinaus geschlussfolgert werden, dass hier keine Exklusivität in Bezug auf die gesprochene Sprache gemeint sein kann, werden doch gerade in geschriebener Sprache – oder zumindest vor der Folie derselben – die angesprochenen rigiden Serialisierungsvorschriften evident und weniger in der gesprochenen Sprache.5 Dass Auer gerade auch die hier thematisierten Fälle vor Augen hat, wird deutlich, wenn er unter Rückgriff auf valenzgrammatische Grundannahmen darauf hinweist, dass im Deutschen z.B. verbinitiale Syntagmen (geht → eine Frau in ein Geschäft) die Vorhersage von Kasus und Anzahl der folgenden no-
|| 5 In der Konsequenz würde dies natürlich bedeuten, – sofern die angestellten Überlegungen zutreffen –, dass unser grammatisches Dekodierungsvermögen in gesprochener Sprache skriptizistisch determiniert wäre, was aber an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden soll.
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minalen Ergänzungen ebenso ermöglichen, wie etwa Präpositionen aufgrund ihrer Kasusrektion (vgl. Auer 2005: 5). Wie auch immer aber diese kognitive Leistung in der Rezeption begründet werden mag, in den meisten Fällen sind wir problemlos in der Lage, die korrekten grammatischen Informationen auch im Rahmen einer morphologisch intransparenten sprachlichen Äußerung zu erfassen. Dies verdanken wir allerdings einerseits nicht mehr der Morphologie, sondern der Syntax, die grammatische Informationen quasi suppletiv covert kodiert und andererseits natürlich unserem Sprach- und Weltwissen. D.h. wir disambiguieren und/oder er erschließen über Kontexte und Kotexte grammatische Information, quasi über das Verfahren der Implikatur, oder genauer einer Form der – wenn man so will – grammatischen Implikatur. Insbesondere der Kasusabbau am Substantiv und die Verlagerung dieser Informationen auf den Artikel kann aus funktionaler Perspektive als Paradebeispiel für die Auslagerung in die Syntax und gleichermaßen für morphologische Intransparenz angeführt werden. Natürlich lassen aber auch andere Aspekte zumindest latent auf bestimmte grammatische Informationen rückschließen und sind für ein implizites Erfassen morphologisch intransparenter grammatischer Informationen mitverantwortlich, wie z.B. Belebtheit oder prosodische Steuerung – man denke nur daran, dass z.B. die Pluralformen im Deutschen fast sämtlich auf einen Trochäus auslaufen – usw. All diese und sicherlich weitere Faktoren führen dazu, dass morphologische Opakheit in den allermeisten Fällen aufgelöst werden kann. Und damit ist der Weg in Richtung einer pragmatisch indizierten Syntax beschritten. Mit Habermann (2010) wird angenommen, dass eine pragmatische Indizierung grammatischer Formen grundsätzlich dann vorliegt, wenn die Verwendung sprachlicher Mittel zum einen entweder eine bestimmte Kontextualisierung benötigt, um verstanden zu werden, oder – zum anderen – wenn die sprachlichen Mittel aus sich selbst heraus Hinweise geben, in welchen Situations- und Verwendungskontext sie gehören. Für die hier dargestellten Fälle von Opakheit ist offensichtlich ersteres eindeutig zutreffend. „Die Kontextgebundenheit ist das auffälligste Merkmal ihrer pragmatischen Indizierung“ (Habermann 2010: 451; vgl. Ziegler 2010: 154). Allerdings macht Habermann diese Feststellung im Zusammenhang mit Beobachtungen zum Mittelhochdeutschen, also in Bezug auf sprachliche Äußerungen zu einer Zeit, in der der Varietätenraum des Deutschen horizontal gegliedert war, d.h. eine funktionale Äquivalenz der verschiedenen Varietäten vorlag. Und genau an diesem Punkt ist eine gewisse Analogie zur gegenwärtigen Situation des Varietätenraums zu konstatieren.
Opakheit | 227
4 Konsequenzen für den Varietätenraum des Deutschen An anderer Stelle wurde bereits darauf hingewiesen, dass es im geschlossenen deutschsprachigen Raum – mit Ausnahme der Deutschschweiz – gleichermaßen von nonstandardsprachlicher wie auch von standardsprachlicher Seite des Varietätenraums eine zunehmende „Orientierung zur umgangssprachlichen Mitte“ gebe (Debus 1999: 55; vgl. Ziegler 2011: 257). Unter dem Diktum Dialektabbau führt dabei der Verlust nonstandardsprachlicher Varietäten zur verstärkten Verwendung standardnaher Varietäten in der Sprechergemeinschaft. Diese standardnahen Varietäten – wie auch die Standardsprache selbst – müssen nunmehr zunehmend kommunikative Funktionen der ursprünglich nonstandardsprachlichen Varietäten übernehmen, indem sie etwa ebenfalls in informellen Kommunikationssituationen Anwendung finden, die zuvor beispielsweise der Mundart vorbehalten waren (vgl. Besch/Wolf 2009: 36; Ziegler 2011: 257). In Erweiterung der Vertikalisierungsthese6 von Reichmann (vgl. u.a. Reichmann 1988; 1990) wird an dieser Stelle daher im Anschluss an die Modellierung von Koch (2010: 163) die Annahme vertreten, dass wir uns nunmehr nach einer Phase der horizontalen Gliederung des Varietätenspektrums bis in frühneuhochdeutsche Zeit und einer anschließenden vertikalen Orientierung hin auf eine Leitvarietät, die ihren Höhepunkt in der Literatur- und Wissenschaftssprache des 19. Jahrhunderts gefunden hat und noch bis ins 20. Jahrhundert nachwirkte, heute in einer Situation befinden, die wieder eher in Richtung Ausgangslage tendiert, d.h. in Richtung eines gleichberechtigten Nebeneinanders unterschiedlicher Varietäten. Gleichzeitig befinden wir uns aber auch in einer Phase des Varietätenausgleichs, in der auch die Standardsprache in andere kommunikative Bereiche vordringt und somit letztlich ihre Funktion als Leitvarietät, die nur spezifischen Domänen vorbehalten ist, zunehmend verliert (vgl. Ziegler 2011: 155). In der Konsequenz führt diese Erweiterung der kommunikativen Flexibilität der Standardsprache dazu, dass auch Substandardvarietäten und die damit verbundenen sprachlichen Äußerungen eine höhere Akzeptanz bzw. Akzeptabilität in der Sprachgemeinschaft erfahren, gleichen sich doch die Funktionen allmählich an. D.h. einerseits ist eine Erweiterung des kommunikativen Radius im Sinne einer Erweiterung der Gebrauchssituationen der Standardsprache in der Sprecher-/ || 6 Unter Vertikalisierung versteht Reichmann die sprachliche Ausrichtung auf ein prestigedominantes Sprachmuster in der sozial-hierarchischen Sprachschichtung eines Landes auf dem Weg zur neuhochdeutschen Standardsprache (vgl. Besch 2007: 411); kritisch zur Vertikalisierungsthese äußert sich Besch (ebd.), der darauf aufmerksam macht, dass zwar für England und Frankreich mit ihren frühen Machtzentren dieser Vertikalisierungsvorgang klar nachweisbar ist, für das plurizentrische Großgebiet deutscher Sprache aber nicht.
228 | Arne Ziegler
Schreibergemeinschaft zu konstatieren, aber andererseits geht damit gleichzeitig ein Verlust der funktionalen Distanz zu Nonstandardvarietäten einher, so dass dies zu einer Verringerung der funktionalen Distanz wie auch einer Abnahme der funktionalen Differenz im Varietätenraum des Deutschen führt und letztlich zur Annahme eines geteilten Varietätenraums berechtigen kann (vgl. Ziegler 2012: 250‒ 251).7
5 Fazit und Ausblick Dass ein solcher Umbau des Varietätenraums gerade gegenwärtig zu beobachten ist, hat sicher verschiedene Gründe, die ich hier nicht im Einzelnen anführen konnte.8 Ein zumindest unterstützender Indikator ist meiner Auffassung nach aber darin zu sehen, dass wir eben eine Zunahme morphologischer intransparenter grammatischer Funktionen im Deutschen – und eben auch und besonders in standardsprachlichen Kontexten – zu verzeichnen haben, was letztlich dazu beiträgt, dass auch aus grammatischer Perspektive eine Annäherung nonstandardsprachlicher und standardsprachlicher Register im Sinne von „shared practices“ und „joint actions“ nach Croft (2011: 10) stattfindet. Während im nähesprachlichen Bereich gleich ob medial mündlich oder schriftlich ambige sprachliche Äußerungen, d.h. im hier skizzierten Sinne intransparente Strukturen, zahlreich begegnen und in bestimmten Zusammenhängen sogar die Regel darstellen (vgl. Ziegler 2010), begegnen die meisten der hier dargestellten Phänomene gegenwärtig also ganz grundsätzlich, d.h. eben auch in distanzsprachlichen Kontexten geschriebener Sprache und führen dazu, dass insgesamt morphologische Intransparenz einen – meines Erachtens bereits virulenten – Umbau des Varietätenraums des Deutschen unterstützen kann. Selbstverständlich sind die hier angestellten Überlegungen zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch als vorläufig und tentativ zu werten, insbesondere insofern eine abschließende empirische Überprüfung – etwa anhand diachroner Korpusdaten – noch aussteht. Dennoch haben die vorherigen Ausführungen versucht deutlich zu machen, dass:
|| 7 Ausführlich zu der Konzeption eines geteilten Varietätenraums vgl. Ziegler (2012: 248); ein wesentlicher Faktor für die Annahme eines geteilten Varietätenraums ist sicher darin zu sehen, dass gegenwärtig in einem Ausmaß wie niemals zuvor nähesprachliche Texte in medial schriftlichen Umgebungen kommuniziert werden, was zu einer deutlichen Zunahme der nähesprachlichen Domänen in der Sprecher-/Schreibergemeinschaft führt. Daneben existieren aber auch weiterhin gesellschaftliche Bereiche, die dem Ideal der Standardsprache und der damit verbundenen Leitvarietätsfunktion verpflichtet bleiben. 8 Zu sprachexternen Faktoren, die einen Umbau des Varietätenraums des Deutschen motiviert haben vgl. ausführlich Ziegler (2010: 154).
Opakheit | 229
1.
von einer Zunahme morphologischer Intransparenz im Laufe der Geschichte des Deutschen auszugehen ist, 2. die exemplarisch dargestellten Phänomene im standardsprachlichen Gebrauch virulent sind, 3. eine Evidenz für die Auslagerung morphologischer Informationen in syntaktische Konstruktionen existiert, die unter funktionalem Aspekt dazu führen, dass die Informationen nur noch über Verfahren der Kontext- und Kotextualisierung erfassbar sind, was eine pragmatisch indizierte Syntax, oder genauer pragmatisch indizierte syntaktische Rezeptionsverfahren impliziert – und 4. dass schließlich eine solchermaßen pragmatisch indizierte Syntax katalysierend auf einen Umbau des Varietätenraums des Deutschen wirken kann.
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Thomas Becker †
Gibt es im Deutschen eine ‚Satzklammer‘? 1 Was ist die deutsche Satzklammer? Die deutsche Sprache verfügt über ein reiches Inventar an Kuriositäten, über das sich schon Mark Twain lustig gemacht hat; zu den seltsamsten darunter gehört die Satzklammer: Eine Perfektform wie hat geschrieben wird aufgespalten und mehr oder weniger durch den gesamten übrigen Satz auseinandergehalten, bisweilen bis zur völligen Unverständlichkeit des Satzes: (1) Er hat gestern den ganzen Abend an einem schwierigen Brief, der … , geschrieben. Noch schlimmer kann die Aufspaltung der sog. Partikelverben werden: (2) Gestern brachte Fritz seine Tante, die sich fast drei Wochen bei ihm zu Besuch aufgehalten hatte, ihn regelmäßig mit Kuchen und guten Ratschlägen zur Partnerwahl versorgte und dabei […,] endlich a) zum Bahnhof. b) um. Harald Weinrich erklärt diese Besonderheit der deutschen Sprache zu einem wesentlichen Charakteristikum (1986: „Klammersprache Deutsch“) und sieht sogar die harmlosen einteiligen Verben wie in Fritz schläft als „virtuell geklammert“ (Weinrich 2005: 33) an. Diese Strukturen werden auch in theoretisch anspruchsvollen Arbeiten wie Wöllstein (2010), hier wohl zu didaktischen Zwecken, durch zwei Strukturpositionen – man verzeihe mir die klaffende Satzklammer – dargestellt, die als „linke und rechte Satzklammer“ o.ä. bezeichnet werden. In der vorliegenden Arbeit versuche ich zu zeigen, dass eine solche Darstellung die Verhältnisse im deutschen Satz eher verschleiert als klärt. Zunächst aber sollen die einzelnen Strukturen, die man unter dieses Phänomen subsumieren kann, vorgestellt werden.
2 Die Klammerstrukturen im deutschen Satz Die Klammerstrukturen hängen mit den Verbstellungsregeln des Deutschen eng zusammen; die Wortstellungsregeln des Deutschen lassen sich in mindestens drei Gruppen einteilen:
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a) die Wortstellung im Satzglied, die keine Variation zulässt (in das Haus vs. *das Haus in); b) die Satzgliedstellung, die mit der Informationsstruktur des Satzes zu tun hat (Fritz geht morgen nach Hause vs. Morgen geht Fritz nach Hause); c) die Verbstellung, die zusammen mit anderen Faktoren den Satztyp bestimmt (Fritz geht morgen nach Hause vs. Geht Fritz morgen nach Hause?). Das finite Verb kann im Deutschen genau drei Positionen einnehmen: Die Zweitposition (V2) nach dem ersten Satzglied, z.B. im Deklarativsatz (3), die Erstposition (V1) z.B. im Entscheidungsfragesatz (4) und die End- oder Letztposition (VL) z.B. im eingeleiteten Nebensatz (5): (3) V2: Fritz geht morgen nach Hause. (4) V1: Geht Fritz morgen nach Hause? (5) VL: (weil) Fritz morgen nach Hause geht. Die Position vor dem finiten Verb in (3) heißt ‚Vorfeld‘, die durch die Satzklammer eingeschlossenen Satzglieder besetzen das ‚Mittelfeld‘ nach der Klammer, im ‚Nachfeld‘, können noch ‚ausgeklammerte‘ Satzglieder oder Gliedteile stehen wie in (6): (6) Fritz hat gestern einen Brief geschrieben an das Finanzamt. Es besteht keine Einigkeit darüber, welche Strukturen durch die Aufteilung in linke und rechte Klammer zu beschreiben sind, unstrittig sind immerhin die mehrteiligen Verben: In V2-Sätzen steht der finite Teil des Verbs in Zweitposition, der infinite in Endposition:
Vorfeld (7) (8) (9) (10) (11) (12)
Fritz Fritz Fritz Fritz Fritz Fritz
linke Klammer hat wird will stellte geht lernt
Mittelfeld das Haus das Haus das Haus die Heizung mit Maria Maria
rechte Klammer gekauft. kaufen. kaufen. an. baden. kennen.
Konstruktionstyp finites Hilfsverb + infinite Form fin. Modalverb + infinite Form finites Verb + Verbpartikel enge Verbindung von finitem Verb + Infinitiv
Gibt es im Deutschen eine ‚Satzklammer‘? | 235
Bei V1-Stellung gibt es entsprechende Klammerstrukturen:
(13) (14) (15) (16) (17) (18)
linke Klammer Hat Wird Will Stellte Geht Lernt
Mittelfeld Fritz das Haus Fritz das Haus Fritz das Haus Fritz die Heizung Fritz mit Maria Fritz Maria
rechte Klammer gekauft? kaufen? kaufen? an? baden? kennen?
Konstruktionstyp finites Hilfsverb + infinite Form fin. Modalverb + infinite Form finites Verb + Verbpartikel enge Verbindung von finitem Verb + Infinitiv
In Imperativsätzen (Lass den Schirm da!) gibt es eine entsprechende Satzklammer. Man könnte die Auffassung vertreten, dass in diesen Fällen das Vorfeld fakultativ ist, denn zu diesen Sätzen gibt es entsprechende V2-Sätze (Den Schirm lass da!, Fritz hat das Haus gekauft?), bei den abhängigen V1-Konditionalsätzen allerdings ist ein Vorfeld nicht möglich (Lernt Fritz Maria kennen, wird sie ihm sicher gefallen.). Komplexe Verben sind jedoch keineswegs einfach von Konstruktionen aus Prädikat + Satzglied abzugrenzen. So ist der Status der folgenden Strukturen umstritten (Altmann/Hofmann 2004: 74): Vorfeld (19) (20) (21) (22) (23) (24) (25) (26) (27)
Er Ich Charly Brown Die Alpen Er Ich Fritz Fritz
linke Klammer bringt fahre gab sind Hältst stellte liebe kauft schläft.
Mittelfeld das Delikt sehr gerne schleunigst wirklich du ihn denn die Kiste dich heute
rechte Klammer zur Anzeige. Rad. Fersengeld. schön für einen Lügner? auf den Tisch. nicht. das Haus.
Konstruktionstyp Funktionsverbgefüge Objektinkorporation verbales Idiom Kopula + Prädikativ Verb + Prädikativ Verb + Richtungsergänzung Negation Objekt „offene Klammer“
Funktionsverbgefüge, Verben mit inkorporierten Objekten und verbale Idiome (19– 21) zählen Altmann/Hofmann (2004: 74) noch zu den Klammerstrukturen, die übrigen Fälle nicht mehr. Die Klammerstruktur sieht bei Kopula + Prädikativ (22) noch ganz unauffällig aus, wenn das Prädikativ aus einem Wort besteht; die semantische Prädikation wird auch durch das Prädikativ geleistet. Manche Autoren rechnen daher das Prädikativ zum Prädikat; nicht mehr so überzeugend ist diese Auffassung allerdings, wenn man bedenkt, dass in ein Prädikativ rekursive Strukturen eingebettet werden können, z.B. Adjektiva und Relativsätze: Er ist ein übermäßig autoritärer, dummer […] Dozent, den man mit Argumenten, die […]; das alles wird man ungern als Teil des Prädikats oder gar als rechte Klammer ansehen wollen. Für Richtungsergänzungen (24) gilt das Gleiche, sie sind nun auch zweifellos Satzglieder. Das Akkusativobjekt (26) hält heute kaum jemand für eine rechte Klammer (aber vgl. Drach
236 | Thomas Becker
1937: 66: „Akkusativobjektklammer“), ebenso wenig die Negation (25), die allerdings in älteren Arbeiten durchaus als klammerbildend angesehen wird, z.B. für Boost (1955), der den Spannungsaufbau als wesentliches Element der Klammer ansieht: Die Verneinung schwebt im Deutschen gewissermaßen drohend über dem ablaufenden Satz, bis sie so spät wie möglich erfolgt. Es liegt dadurch in dem ganzen Vorgang der Verneinung ein unerhörtes Spannungsmoment. (Boost 1955:48)
Tatsächlich muss man, wenn einem der Lebenspartner Ich liebe dich auf Deutsch sagt, immer noch ein wenig warten, ob nicht vielleicht doch noch eine Negation folgt. Somit bleibt das finite intransitive Vollverb (27) als einziger Fall der ‚offenen Klammer‘, die freilich für mindestens einen von uns (Weinrich 2005: 33) immerhin „virtuell zweiteilig“ ist – wie bereits erwähnt.1 Wenn das finite Verb an letzter Stelle steht, also bei VL-Sätzen, so bildet es die rechte Klammer. Dies kommt nur bei eingeleiteten Nebensätzen vor oder bei den von ihnen historisch abgeleiteten selbständigen Hauptsätzen wie z.B. dem Wunschsatz Wenn er nur käme! Hier bildet das ‚Einleitewort‘ des Nebensatzes die linke Klammer, die Subjunktion (28), das Interrogativ- (29) oder Relativpronomen (30):
(28) (29) (30) (31) (32)
Er weiß, Ich frage mich, Der Mann,
linke Klammer dass wer der ohne der
Mittelfeld Fritz das Haus das Haus das Haus das Haus gute, alte
rechte Klammer gekauft hat. gekauft hat. gekauft hat. zu kaufen Mann
Konstruktionstyp Subjunktionalsatz Indirekter Fragesatz Relativsatz Infinitiv-„Satz“ Nominalklammer
Unklar ist hier, ob nur das finite Verb hat oder der Rest des Prädikats gekauft hat die rechte Klammer bilden soll. Auch die Bestimmung der linken Klammer ist umstritten, dazu unten mehr. VL-Sätze haben kein Vorfeld; in Dialekten, z.B. dem Bairischen, sind Strukturen wie wer dass das Haus gekauft hat möglich, in der Standardsprache sind diese Strukturen zweifellos ungrammatisch. Auch für sogenannte Infinitiv-„Sätze“ (31) wird von manchen eine Klammer angenommen, sowie in der Nominalphrase (32).
|| 1 Die „Adverbialklammer“ (Ronneberger-Sibold 1991: 216) gehört nicht hierher, da diese Klammern keine der hier verhandelten Strukturpositionen besetzen: weil ich da nichts von weiß.
Gibt es im Deutschen eine ‚Satzklammer‘? | 237
3 Das Problem der rechten Klammer In V1- und V2-Sätzen ist die linke Klammer völlig unproblematisch. Sie wird immer durch das finite Verb besetzt und nur durch dieses; sie ist eine gut definierte Strukturposition des Satzes. Das gilt nicht für die rechte Klammer. Sie stellt uns zwei Fragen, die nur willkürlich zu beantworten sind: 1) Welche Ausdrücke bilden mit dem finiten Verb eine rechte Klammer: nur Prädikatsteile oder auch Ergänzungen, Objekte etc.? 2) Wie viele Ausdrücke bilden die rechte Klammer: ein Wort oder der ganze Rest des Prädikats? Wie in der Darstellung in Abschnitt 2 bereits angedeutet, muss z.B. für das Akkusativobjekt entschieden werden, ob es klammerbildend ist oder nicht. Fast alle Autoren entscheiden sich dagegen; aber warum sollen dann formale Akkusativobjekte in Idiomen wie Fersengeld geben, die lediglich semantisch nicht aufgelöst werden können, doch eine Klammer bilden? Die Grenzen zwischen idiomatisierten Phrasen und solchen, die auf dem Weg dahin sind, sind fließend, ebenso die zwischen inkorporierten und nicht inkorporierten Objekten. Wer hier einen strukturellen Unterschied annimmt, muss solche Fragen aber beantworten. Die zweite Frage ist ebenfalls ein theoriegeneriertes Problem: Bildet in dem Satz (33) nur das letzte Wort oder der Rest des Prädikats die rechte Klammer? (33) a) Du musst diesen Film unbedingt gesehen haben! b) Du musst diesen Film unbedingt gesehen haben! Auch dieses Problem ist ohne jede Relevanz. Eine durchaus sinnvolle Antwort auf die Frage scheint mir die folgende zu sein: Jeder Ausdruck, der mit dem finiten Verb eine (diskontinuierliche) Konstituente bildet, ist rechte Klammer; dann muss man aber die Klasse der klammerbildenden Ausdrücke erheblich erweitern, z.B. auch auf fakultative Adverbiale, z.B. Temporalangaben wie in (34) und (35) unten. Die Sätze (34) und (35) unterscheiden sich deutlich durch ihre Bedeutung:
(34) Er kommt oft nicht. ‚Es passiert oft, dass er nicht kommt‘
(35) Er kommt nicht oft. ‚Es passiert nicht, dass er oft kommt‘
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Offenbar bilden sowohl nicht in (34) als auch oft in (35) mit dem finiten Verb kommt eine Klammer: oft operiert in (34) auf nicht kommt, nicht operiert in (35) auf oft kommt. In einem VL-Satz dagegen ‚stimmen‘ die Skopusverhältnisse und es gibt keine diskontinuierlichen Konstituenten:
(36) (weil) er oft nicht kommt. ‚Es passiert oft, dass er nicht kommt‘
(37) (weil) er nicht oft kommt. ‚Es passiert nicht, dass er oft kommt‘ Bei genauerer Betrachtung zieht sich diese Klammerbildung durch das ganze Mittelfeld:
(38) Fritz kommt oft nicht rechtzeitig an
, wenn er den Bus nimmt.
An Satz (38) wird deutlich, dass das ganze Mittelfeld ‚geklammert‘ ist, was in älteren Arbeiten offenbar deutlicher gesehen wurde (vgl. Drach 1937: 66: „Akkusativobjektklammer“, Engel 1970: 33: „innerer Rahmen“). Eine Beschreibung, bei der das finite Verb seinen rechten Platz am Ende des Mittelfelds hat und aus dieser eigentlichen Position in eine andere Strukturposition (in der generativen Grammatik: „C“2) bewegt ist, macht das deutlich.3 Die Strukturierung in ‚linke Klammer + Mittelfeld + rechte Klammer‘ verschleiert diese Struktur. Was auch immer zufällig am Ende des Mittelfelds steht, gehört am engsten zum Verb. Die „rechte Klammer“ ist das am weitesten rechts im Mittelfeld stehende Element – eine ausgezeichnete Position, die mit C vergleichbar wäre, gibt es nicht.
|| 2 Die der generativen Grammatik entlehnten Termini verwende ich hier und später nur, um ihren Wiedererkennungswert auszunutzen, nicht mit der Absicht, eine Minimalismus-kompatible Beschreibung vorzulegen. 3 Diese Auffassung ist natürlich alles andere als neu, sie feiert genau genommen in diesem Jahr ebenfalls einen runden Geburtstag, und zwar den fünfzigsten (Bach 1962).
Gibt es im Deutschen eine ‚Satzklammer‘? | 239
Daher haben V1/V2-Sätze entweder keine rechte Klammer, manchmal zufällig eine rechte Klammer oder eben viele. Der Intuition, dass die Prädikatsteile am rechten Rand irgendwie zusammengehören und als ‚rechte Klammer‘ sinnvoll bezeichnet sind, kann man auch anders Rechnung tragen. Wie in (39) ersichtlich, sind die Prädikatsteile linksverzweigend, das Mittelfeld rechtsverzweigend:
(39) Er wird seine Anträge oft nicht selbst geschrieben haben
.
Die Linksverzweigung wird aus der Statusrektion deutlich: Das Hilfs- oder Modalverb werden verlangt einen Infinitiv und bekommt den Infinitiv Perfekt geschrieben haben, der somit Konstituente ist, haben verlangt ein Partizip Perfekt und bekommt geschrieben. Der linksverzweigende Teil des Mittelfelds entspricht der ‚rechten Klammer‘, jedenfalls wenn man meint, für den Rest des Prädikats einen Begriff zu benötigen; geeigneter wäre ‚Prädikatsfeld‘, da es durch Ausdrücke aus mehreren Wörtern besetzt werden kann. Aus der Struktur in (39) wird noch etwas anderes deutlich: Das finite Verb in Zweitposition steht (anders als im Englischen) nicht am rechten Platz. Die Skopusverhältnisse weisen ihm den Platz am Satzende zu.4 Da die Skopusverhältnisse für die Spezifikationsverhältnisse und somit für die Wortstellungstypologie relevant sind, kann man das Deutsche nur als SOV-Sprache ansehen; die SVO-Stellung ist gewissermaßen nur bei ‚oberflächlicher‘ Betrachtung so zu sehen. Das Phänomen, das nach einer funktionalen Erklärung verlangt, ist somit nicht die Klammer, sondern die Verbbewegung. Diese steht m. W. noch aus. Der vernünftigste Satz aus der Literatur, den ich hier zitieren kann, stammt von Eroms (1993: 32): „So läßt sich eine generelle Funktion der Klammerung auch in der frühzeitigen und deutlichen Signalisierung des Satzmodus erblicken.“ Dieser Erklärungsansatz soll unten noch verallgemeinert werden.
|| 4 Die Abfolge der Satzglieder im Mittelfeld wird bekanntlich nicht nur durch die Skopusverhältnisse bestimmt, sondern auch durch andere Faktoren wie z.B. der Informationsstruktur oder ‚kurz vor lang‘, die für diese Überlegungen aber ohne Belang sind.
240 | Thomas Becker
4 Das Problem der linken Klammer Bei VL-Sätzen ist die rechte Klammer unproblematisch: Sie wird durch das finite Verb oder auch – wenn man denn so will – durch das gesamte Prädikat gebildet. Problematischer ist hier die linke Klammer. Nach allgemeiner Auffassung bildet in Subjunktionalsätzen (wie 28) die Subjunktion die linke Klammer.
(28)
Er weiß,
linke Klammer dass
Mittelfeld Fritz das Haus gekauft
rechte Klammer hat.
Konstruktionstyp Subjunktionalsatz
Die Position der Subjunktion wird gern mit der des finiten Verbs identifiziert („C“), was eine Generalisierung ermöglicht, die die feste VL-Stellung in Subjunktionalsätzen erklären soll: Wenn die C-Position durch eine Subjunktion besetzt ist, kann sie nicht durch das finite Verb besetzt werden, daher muss das Verb in VL-Position bleiben. Diese Generalisierung (die allerdings kaum haltbar ist, s.u.) und die einheitliche Beschreibung von VL und V1/V2-Sätzen üben zweifellos eine gewisse Faszination aus. Andererseits sind die Gemeinsamkeiten dieser Strukturen auf den ersten Blick nicht so zwingend, denn Subjunktion und finites Verb bilden keine diskontinuierliche Konstituente wie Verb + Rest des Prädikats bei V1/V2-Stellung. Ferner ist das Verb Teil des Satzes, während die Subjunktion außerhalb des Satzes steht, semantisch außerhalb der Proposition. Ein Vergleich mit Präpositionen mag das verdeutlichen: (40) Fritz fühlt sich unwohl wegen der Kälte. (41) Fritz fühlt sich unwohl, weil ihm kalt ist. Die Präposition wegen in (40) ist ein kausales ‚Adverb‘ mit einer Valenzstelle, die meist mit einer Nominalphrase gefüllt ist. Die kausale Semantik der Präposition bezeichnet die Rolle, die ihre Ergänzung (die Kälte) im Satz spielt, nämlich die der Causa, des Grundes; die Kälte ist der Grund dafür, dass Fritz sich unwohl fühlt. Für die Subjunktion in (41) gilt das Gleiche, nur ist die Ergänzung bei Subjunktionen auf die Kategorie ‚Satz‘ eingeschränkt. Sonst ist ihre Leistung dieselbe: Die kausale Semantik der Subjunktion5 gibt an, dass der Umstand, dass ihm kalt ist, die Causa für Fritzens Unwohlsein ist. Präposition und Subjunktion unterscheiden sich nur durch die Kategorien ihrer Ergänzungen, stehen einander somit näher als Subjunk-
|| 5 Bei den nicht-adverbialen Subjunktionen ist es etwas anders: dass macht aus einem Satz ein Individuum, ob einen Wahrheitswert. Diese Subjunktionen ergeben etwas Nominales, nicht etwas Adverbiales.
Gibt es im Deutschen eine ‚Satzklammer‘? | 241
tionen und (koordinierende) Konjunktionen. Ebenso wenig wie die Präposition Teil der Nominalphrase ist, die ihre Ergänzung darstellt, ist die Subjunktion Teil ihrer Ergänzung, also Teil des Satzes. Dieser zweite Einwand lässt sich jedoch relativieren: So wie die Subjunktion Kopf der Subjunktionalphrase ist, so ist die C-Position mit dem bewegten Verb Kopf eines Ausdrucks (C′) und nimmt nicht einen Satz, sondern ein Satzradikal (also einen Satz ohne Satzmodus, IP) als Ergänzung, wobei dann das bewegte Verb in dem Satzradikal fehlt. Anders als bei Subjunktionen trägt bei diesen Köpfen kein Wort die Bedeutung des Gesamtausdrucks, sondern die Konstruktion, also bei konditionalen V1-Sätzen die Konditionalität, bei V1-Interrogativsätzen den Satzmodus der Interrogativität etc. (vgl. Bittner 2010: 226: [+/- Assertion]). Bei V2-Sätzen tut dann noch das Vorfeld als Konstruktionseinheit (‚Spec CP‘) das Seine.6 Das bewegte Verb in C ist somit ebenfalls außerhalb des Satzradikals (IP), das seine ‚Ergänzung‘ bildet, und C ist in beiden Fällen eine Kopfposition. Weil gerade Präpositionen mit Subjunktionen verglichen wurden, sollten kurz die sogenannten Infinitiv-‚Sätze‘ besprochen werden, die durch eine sogenannte Infinitiv-Subjunktion eingeleitet werden (z.B. Duden 4: § 1317), die die linke Klammer bilden (z.B. Philippi/Tewes 2010: 236).
(31)
linke Kl. ohne
Mittelfeld das Haus
rechte Kl. zu kaufen
Konstruktionstyp Infinitiv-„Satz“
Diese Infinitiv-Sätze sind tatsächlich Präpositionalphrasen, und von einer Verbendstellung, die die rechte Klammer bildet, kann keine Rede sein, denn nur finite Verben haben einen Verbstellungstyp. Duden 4: § 1317 führt die Wörter ohne, statt, anstatt, um als Infinitiv-Subjunktionen an, sowie als und wie. Die Wörter als und wie sind weder Subjunktionen noch Präpositionen, sondern Vergleichspartikeln; Infinitive können wie andere nominale Ausdrücke eben auch in Vergleichskonstruktionen auftreten (Fritz ist netter als Franz / in der Sonne zu baden ist netter als im Keller zu arbeiten). Die übrigen Wörter können sämtlich als Präpositionen verwendet werden und sämtlich nicht als Subjunktionen mit einem finiten Nebensatz:
|| 6 Dass das Vorfeld kein Feld ist wie das Mittel- oder Nachfeld, sondern eine Kopfposition wie die des finiten Verbs, wird unten anhand von Relativ- und Interrogativsätzen mit V2-Stellung erläutert.
242 | Thomas Becker Tab. 1: Lexeme mit möglichem präpositionalem bei gleichzeitig unmöglichem subjunktionalem Gebrauch Infinitivkonstruktion
Präpositionalphrase ungrammatische Subjunktionalphrase7
ohne
ohne das Haus zu kaufen
ohne ein Haus
ohne *(dass) er das Haus kauft
statt
statt das Haus zu kaufen
statt eines Hauses
statt *(dass) er das Haus kauft
anstatt anstatt das Haus zu kaufen anstatt eines Hauses anstatt *(dass) er das Haus kauft um
um das Haus zu kaufen
um ein Haus
*um (dass) er das Haus kauft
In um ein Haus ist die Präposition nicht in der häufigeren direktionalen Lesart zu verstehen, sondern in der finalen: Er kämpft um ein Haus (als Kampfpreis). Alle diese Präpositionen haben in diesen Infinitivkonstruktionen ihre übliche Semantik. Eine Besonderheit ist allerdings, dass nur wenige Präpositionen mit Infinitiven konstruiert werden können (*für das Haus zu kaufen). Wenn der VL-Satz als Ergänzung zur Subjunktion dass verwendet wird, wird aus dem Satz ein nominaler Ausdruck, der mit der Präposition verwendet werden kann (vgl. Fn. 6); unklar wäre hier, welcher Ausdruck in ohne dass er das Haus kauft die C-Position besetzen soll – beide Wörter, oder soll man hier zwei C-Positionen annehmen? Wenn diese Infinitiv-Präpositionen eine Klammer eröffnen, und es auch eine Nominalklammer geben soll (vgl. 32), dann eröffnet eine normale Präpositionalphrase (42) zwei Klammern und schließt nur eine: linke Kl. (??) (32) (42)
mit
linke Kl. der dem
Mittelfeld gute, alte guten, alten
rechte Kl. Mann Mann
Konstruktionstyp Nominalklammer Präpositionalphrase
Das macht einen ebenso schlechten Eindruck wie die vielen rechten Klammern im Mittelfeld bei V1/V2-Stellung. Von den in Abschnitt 2 aufgeführten Daten müssen nun noch die linken Klammern bei indirekten Fragesätzen (29) und Relativsätzen besprochen werden. Diese Nebensätze werden wie die Subjunktionalsätze als eingeleitete Nebensätze aufgefasst, wobei das Einleitungswort das Relativ- oder Interrogativwort ist, das wie die Subjunktion die linke Klammer bilden soll:
(29) (30)
linke Kl. Ich frage mich, wer der Mann, der
Mittelfeld das Haus gekauft das Haus gekauft
rechte Kl. hat. hat.
Konstruktionstyp Indirekter Fragesatz Relativsatz
|| 7 Der Asterisk vor der Klammer bedeutet, dass der eingeklammerte Ausdruck nicht weggelassen werden kann.
Gibt es im Deutschen eine ‚Satzklammer‘? | 243
Eine alternative Beschreibung nimmt für diese Sätze ein Vorfeld an, das durch das Relativ- oder Interrogativwort besetzt ist, wobei die linke Klammer leer bleibt (vgl. z.B. Duden 4: § 1345, Wöllstein 2010: 32–33). Für diese Position spricht, dass die linke Klammer in allen übrigen Fällen nur durch einzelne Wörter besetzt wird (Finitum oder Subjunktion), in diesen Fällen jedoch durch eine phrasale Einheit, ein Satzglied, das durch rekursive Einbettung beliebig komplex sein kann (dieses Argument wurde oben bereits verwendet, um Prädikative als Prädikatsteile und rechte Klammern auszuschließen). Das Argument, diese phrasalen Einheiten seien keine Köpfe (Wöllstein 2010: 33), ist nicht überzeugend, denn in Relativsätzen trägt das erste Satzglied stellvertretend die Kongruenzmerkmale, die Genus und Numerusmerkmale des ganzen attributiven Relativsatzes (42), was als Kopfeigenschaft anzusehen ist, wie auch die obligatorische Stellung am linken Rand des Relativsatzes. Freilich hat dieses Satzglied darüber hinaus auch seine Satzgliedfunktion, was es als theoretisch rätselhaften ‚Kopf und zugleich Nicht-Kopf‘ ausweist. Bei indirekten Fragesätzen (43) trägt das erste Satzglied für den Gesamtsatz das regierte Merkmal der Interrogativität: (42) [der Mann]mask sg [, [der]mask sg mein Haus gekauft hat]mask sg (43) a) Ich frage mich/*behaupte, [[wer]+Interr morgen kommt.]+Interr b) Ich *frage mich/behaupte, [[dass]-Interr er morgen kommt.]-Interr Periphere Stellung (am linken oder rechten Rand des Gesamtausdrucks) und Träger grammatisch relevanter Merkmale des Gesamtausdrucks zu sein, sind typische Kopfeigenschaften. Ein weiteres Argument gegen die Ansiedelung von Interrogativ-/Relativausdrücken in der linken Klammer ergibt sich aus dem Vergleich mit den entsprechenden Hauptsätzen: Interrogativ-/Relativausdrücke im Vorfeld (Duden 4, Wöllstein 2010): (44) (45) (46) (47)
Vorfeld den was den was
linke Kl.
hat hat
Mittelfeld er er er er
rechte Kl. bekommen hat bekommen hat bekommen bekommen
Konstruktionstyp Relativsatz Indirekter Fragesatz Aussagesatz Fragesatz
Diese Parallelität geht andernfalls verloren: Interrogativ-/Relativausdrücke in der linken Klammer (Eisenberg 2004: 403, Reis 1985): Vorfeld (44) (45) (46) (47)
den was
linke Kl. den was hat hat
Mittelfeld er er er er
rechte Kl. bekommen hat bekommen hat bekommen bekommen
Konstruktionstyp Relativsatz Indirekter Fragesatz Aussagesatz Fragesatz
244 | Thomas Becker
Das Vorfeld des Hauptsatzes ist ebenfalls eine Kopfposition: Bei Ergänzungsfragen markiert die Vorfeldposition die Interrogativität, bei Deklarativsätzen markiert sie ebenfalls den Satztyp, was weniger auffällig ist, weil es sich gewissermaßen um den Default-Satztyp handelt. Das Vorfeld ist daher eigentlich kein ‚Feld‘ wie das Mittelund Nachfeld, sondern eine Strukturposition für genau ein Satzglied (bzw. ‚Stellungsglied‘).8 Trotz des Verlusts dieser Parallelität argumentiert Reis (1985: 301) für die zweite Auffassung, indem sie subtile und deutliche Unterschiede des Vorfelds in Hauptsätzen und des mutmaßlichen Vorfelds in diesen Nebensätzen herausarbeitet.9 Als „erstes und wichtigstes“ (1985: 301) Argument führt sie die bereits erwähnte Generalisierung an, dass Relativ- und Interrogativausdrücke wie Subjunktionen die Verbbewegung blockieren: Relativsätze, indirekte Fragesätze und Subjunktionalsätze erzwingen die VL-Stellung dadurch, dass sie diejenige Position besetzen, auf die das finite Verb bewegt werden könnte. Diese Generalisierung lässt sich auf zwei Weisen widerlegen: Erstens, indem man zeigt, dass es VL-Stellung bei leerer C-Position gibt. Dafür sind m.W. die beiden eben besprochenen Nebensatztypen die einzigen Kandidaten. Zweitens könnte die Generalisierung widerlegt werden durch Subjunktionen, die V1- oder V2-Sätze einleiten. Diese scheint es zu geben: (48) Er kommt zu spät, denn er hat den Bus verpasst. (49) Er kommt zu spät, weil er hat den Bus verpasst. (50) Er kommt zu spät, außer er hat den Bus noch erreicht. Das Wort denn in (48) gilt als koordinierende Konjunktion, wofür man nur zwei Argumente anführen kann: Das Argument der V2-Stellung, das in diesem Zusammenhang zirkulär wäre, und die Tatsache, dass diese Sätze nur als letztes Element des Nachfelds auftreten dürften, was aber auch für die nicht-angezweifelte Subjunktion sodass gilt. Weil kann auch Satzteile verknüpfen, was es in die Nähe von Konjunktionen rückt (das schlechte, weil fehlerhafte Buch), allerdings gilt das auch für die nicht-angezweifelte Subjunktion da (das schlechte, da fehlerhafte Buch). Außer ist auch Präposition (Alle kommen außer ihm vs. Alle kommen außer er) und kann auch Satzteile verknüpfen (Ich habe alle Aufsätze außer den neusten gelesen). Diese Wörter stehen in (48) bis (50) links von dem Satz, den sie mit einer adverbialen Semantik (kausal bzw. exzeptiv) in den vorangehenden Satz einbetten, was sie als Subjunktionen ausweist. Die definitorische Eigenschaft von adverbialen10 Subjunk-
|| 8 Der Begriff ‚struktureller Kopf‘ schließt ‚funktionale‘ Köpfe mit ein, ist aber weiter, da z.B. das Vorfeld allgemein nicht als funktionaler Kopf angesehen wird. 9 Der Grund für diese Unterschiede ist wohl, dass das Vorfeld im Hauptsatz pragmatische Funktionen hat, die das Vorfeld im Nebensatz nicht hat (?die Annahme, recht hat/habe Meier). 10 Zu den nominalen Subjunktionen dass und ob vgl. Fn. 5.
Gibt es im Deutschen eine ‚Satzklammer‘? | 245
tionen sollte ihre Eigenschaft sein, Sätze in übergeordnete Sätze einzubetten, mit einer semantischen Rolle, die durch ihre Semantik ausgedrückt wird (s.o.); die Verbstellung kann höchstens ein oberflächliches Korrelat, ein Akzidens von Subjunktionen sein. Freilich handelt es sich bei diesen Ausdrücken um Grenzfälle, die auch anders behandelt werden können, die Grenzen zwischen den Unterklassen der Konnektoren sind nun einmal fließend. Eine Subjunktion jedoch, die m.E. nur als solche zu analysieren ist, ist kaum:11 (51) Kaum hatte er der den Saal verlassen, fingen alle an zu lachen. (52) *Er hatte den Saal kaum verlassen, fingen alle an zu lachen. (53) Er hatte den Saal kaum verlassen, da fingen alle an zu lachen. Der kaum-Satz in (51) steht im Vorfeld des Hauptsatzes und kann daher nur ein Nebensatz sein; kaum muss das erste Wort, des Satzes sein, sonst ist die Struktur ungrammatisch (52); mit dem Zusatz von da in (53) ist der Satz grammatisch, kann aber als Linksversetzung analysiert werden. Wenn kaum Subjunktion ist, leitet diese einen Nebensatz mit V1-Stellung ein. Die VL-Stellung, die Grundwortstellung, ist bei Subjunktionen der Default, die abweichenden Verbstellungstypen sind inzwischen grammatikalisiert und werden von den Subjunktionen regiert; der Rektionsparameter ist (parallel zu den regierten Kasus) das grammatische Merkmal „Verbstellungstyp“ mit den Werten V1, V2 und VL. Die Verba dicendi, die einen uneingeleiteten V2-Satz zur Ergänzung haben (Er sagt, er ist krank), regieren die V2-Stellung, die in diesen grammatikalisierten Nebensätzen keine assertive Bedeutung hat, was durch den Konjunktiv I noch verdeutlicht werden kann (Er sagt, er sei krank; vgl. auch Fn. 10). So wie bei Kasus- und Präpositionalobjekten durch die Grammatikalisierung die Bedeutung der Kasus bzw. Präpositionen verloren geht, so geht hier die Bedeutung der Verbstellung verloren. Wenn die eben angeführte Analyse keinen groben Fehler enthält, muss die Generalisierung ‚Subjunktionen blockieren die Verbbewegung‘ aufgegeben werden. Ob es sich bei den Positionen für Subjunktion, Relativ-/Interrogativausdruck und für das finite Verb dieselbe Position handelt, die eine einheitliche Bezeichnung erfordert, die von der Vorfeldposition des Hauptsatzes verschieden ist, scheint mir angesichts der offenkundigen Unterschiede zwischen den betreffenden Satztypen eine ganz unerhebliche Frage. Gemeinsam ist allen diesen Positionen, dass es sich um strukturelle, nicht-lexikalische Kopfpositionen handelt.
|| 11 Als gehört nicht hierher: In einem Satz wie als hätte er nichts Besseres zu tun ist es eine Vergleichspartikel mit einem V1-Konditionalsatz, vgl. als wenn/ob er nichts Besseres zu tun hätte (ob ist eine ungebräuchlich gewordene konditionale Subjunktion).
246 | Thomas Becker
Hieraus ergibt sich die Möglichkeit, die Klammerstrukturen im Deutschen durch eine Generalisierung zu erfassen:12 Im Deutschen stehen strukturelle Köpfe links, lexikalische Köpfe rechts. Ein lexikalischer Kopf ist ein Substantiv, Adjektiv oder Verb mit einem Begleiter wie z.B. laufen in schnell laufen. Das Wort laufen hat dieselbe syntaktische Kategorie wie der Gesamtausdruck (Verb), das Wort schnell nicht, daher ist laufen in dieser Konstruktion (lexikalischer) Kopf. Zu der genannten Generalisierung gibt es Ausnahmen, deren Gewicht noch zu beurteilen ist. Verben werden durch vorangestellte Begleiter spezifiziert, die Grundwortstellung für finite Verben ist VL, infinite Verben stehen ebenfalls rechts. Allerdings stehen im Prädikatsfeld die funktionalen Köpfe rechts: gesehen hat, vielleicht ein Erbe aus der Zeit, als sie noch Vollverben waren. Zu untersuchen wäre, ob die Umstellung der Köpfe in Bechs (1955) „Oberfeld“ beim Ersatzinfinitiv eine Reparatur dieser Inkonsequenz darstellt (wird1 haben2 │ lesen4 können3). Bei Substantiven gilt die Voranstellung der Begleiter nur für die prototypischen Adjektivattribute, präpositionale, Relativsatz- und subjunktionale Attribute sind nachgestellt, was sich historisch erklären lässt: Sie sind aus Adverbialen und selbständigen Sätzen entstanden, die eben nicht „eingeklammert“ wurden. Diese Ausnahme ist ebenfalls eine Ausnahme zu einer universellen Generalisierung, die man nicht leichtfertig aufgeben sollte, nämlich dass Köpfe peripher sind, also ganz rechts oder ganz links in ihren übergeordneten Kategorien stehen. Adjektiva werden meist von links spezifiziert, Ausnahmen sind präpositionale Attribute und Ergänzungen. Strukturelle Köpfe dagegen stehen links: Subjunktionen, Präpositionen (auch hier gibt es Ausnahmen), Determinatoren, bewegte Verben, Interrogativ-/Relativausdrücke, sowie das Vorfeld. Eine Klammerstruktur entsteht dann, wenn ein rechtsköpfiger Ausdruck (YP) in eine linksköpfige Struktur (XP) eingebettet wird:
|| 12 Das ist eine (arbiträre) formale Erklärung; eine funktionale Erklärung wie die von Bittner (2010: 233) oder Abraham (2010: 266), die auf informationsstrukturellen Maximen beruht, hat das Problem, dass es alle anderen Sprachen anders machen, was ja dann wohl dysfunktional wäre.
Gibt es im Deutschen eine ‚Satzklammer‘? | 247
XP YP
X
ZP
Y
Kopf 1
Kopf 2
linke
rechte
Klammer
Klammer
Abb. 1: Schematische Darstellung Klammerstruktur
Weil im Deutschen diese Spaltung konsequenter (wenn auch nicht perfekt) durchgeführt wird als in anderen Sprachen sind Klammerstrukturen häufiger. Diese Aussage mag unspektakulär sein, eine solche Darstellung entbindet uns aber immerhin von der Pflicht, nach fehlenden Klammern zu suchen, überflüssige zu ignorieren und uns zu fragen, ob dieses oder jenes Wort nun auch noch in die Klammer gehört oder nicht. Eine Tendenz, die gespaltene Verteilung der Köpfe zu systematisieren, könnte auch zur Erklärung des Präteritumschwunds und der tun-Umschreibung dienen.13 Die Verbbewegung sollte eigentlich nur die Flexion bewegen; bei den synthetischen Präsens- und Präteritalformen ist die Flexion aber an den lexikalischen Stamm gebunden, der dann notwendigerweise mitreisen muss, was die Verteilung der Köpfe stört.14 Die Ersetzung des Präteritums (54) durch ein Perfekt (55), das freilich erst Präteritalbedeutung angenommen haben muss, repariert diese Störung, ebenso die tun-Umschreibung (57) beim Präsens (56): (54) (55) (56) (57)
Er sah das Bild genau an. Er hat das Bild genau angesehen. Er sieht das Bild genau an. Er tut das Bild genau ansehen.
|| 13 Das Folgende verdanke ich einem Hinweis von Michael Rödel. 14 Die Tatsache, dass die Verbpartikel nicht mitreist (sah … an) ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass es sich bei Partikelverben nicht um Wortbildung handelt, sondern um Phraseologismen, also syntaktische Konstruktionen.
248 | Thomas Becker
5 Resümee Die Klammerstrukturen des Deutschen sollten besser nicht beschrieben werden, indem man für den deutschen Satz genau eine linke und genau eine rechte Klammer annimmt, sondern durch die gespaltene Serialisierung der Köpfe: Strukturelle Köpfe stehen links, lexikalische rechts. Durch die Einbettung einer rechtsköpfigen Struktur in eine linksköpfige entsteht der Eindruck einer Klammerstruktur; die Annahme von zwei ausgezeichneten Strukturpositionen für die Klammern ist überflüssig und verschleiert nur die tatsächlichen Satzstrukturen. Die Position lexikalischer Köpfe am rechten Rand des Ausdrucks ist offenbar ererbt, die Position struktureller Köpfe am linken Rand hat offenbar die Funktion, den Satztyp frühzeitig erkennen zu lassen (vgl. Eroms 1993: 32).
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Gibt es im Deutschen eine ‚Satzklammer‘? | 249
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Thomas Becker † Otto-Friedrich-Universität Bamberg Institut für Germanistik Hornthalstr. 2 D-96047 Bamberg Dr. Andreas Bittner Westfälische Wilhelms-Universität Münster Germanistisches Institut Schlossplatz 34 D-48143 Münster E-Mail: [email protected] Dr. Anastasia Christofidou Academy of Athens Research Center for Scientific Terms and Neologisms Anagnostopoulou Straße 14 GR-10673 Athen E-Mail: [email protected] Univ.-Prof. em. Dr. Wolfgang U. Dressler Universität Wien Institut für Sprachwissenschaft Sensengasse 3a AU-1090 Wien E-Mail: [email protected] Dr. Fabian Fahlbusch Deutscher Familiennamenatlas Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz Geschwister-Scholl-Str. 2 D-55131 Mainz E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Rüdiger Harnisch Universität Passau Lehrstuhl für Deutsche Sprachwissenschaft Innstraße 25 D- 94032 Passau E-Mail: [email protected]
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