Funktionen und Formen: Architekturtheorie der Moderne [1. Aufl.] 9783839423158

The definition and interpretation of relations between form and function has been the subject of a multi-faceted and con

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German Pages 282 [279] Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
1. Was sind architektonische Funktionen?
Über Begriffe
Das Verhältnis von wissenschaftlichen und architektonischen Funktionsverständnissen
Funktionen und Zwecke
2. Funktion und Repräsentation
Carlo Lodoli
Francesco Algarotti
Francesco Milizia
Andrea Memmo
Wirkung
3. Form und Funktion im Gegliederten Ganzen
Gottfried Semper
Karl Bötticher
Das Organische
Funktion und Stil
Sempers und Böttichers Wirkung
Louis Sullivan: »form follows function«
Frank Lloyd Wright
4. Funktionskonzepte der Klassischen Moderne
Hannes Meyer
ABC
Walter Gropius und das Bauhaus
Adolf Behne, Hugo Häring, Erich Mendelsohn
Außerarchitektonische Einflüsse
Schlussfolgerungen
Funktionalismus
5. Funktionalismus und seine Kritik
CIAM und die Funktionelle Stadt
Jane Jacobs und Alexander Mitscherlich
Postmoderne
Monofunktionalismus, Naiver Funktionalismus, Bauwirtschaftsfunktionalismus
6. Funktionen und Formen in Architekturen der Informationsgesellschaft
Raum der Ströme, Raum der Orte, Globale Städte
Architekturdiskurs der Umweltbewegungen
Performativität in der Architektur
Computersimulationen
Neubewertung architektonischer Funktionen
Zitierte Literatur
Abbildungsquellen
Index
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Funktionen und Formen: Architekturtheorie der Moderne [1. Aufl.]
 9783839423158

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Ute Poerschke Funktionen und Formen

Architekturen | Band 18

2014-05-26 14-41-28 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 01ce367525474512|(S.

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4) TIT2315.p 367525474520

Ute Poerschke (Dr.-Ing.) ist Architekturprofessorin an der Pennsylvania State University und Partnerin im Büro Friedrich Poerschke Zwink Architekten/ Stadtplaner.

2014-05-26 14-41-28 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 01ce367525474512|(S.

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Ute Poerschke

Funktionen und Formen Architekturtheorie der Moderne

2014-05-26 14-41-28 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 01ce367525474512|(S.

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Dieses Buch wurde möglich dank der großzügigen Unterstützung durch das Institute for the Arts and Humanities, das Department of Architecture und das College of Arts and Architecture der Pennsylvania State University.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Tanja Jentsch Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2315-4 PDF-ISBN 978-3-8394-2315-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2014-05-26 14-41-28 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 01ce367525474512|(S.

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4) TIT2315.p 367525474520

Inhalt

1 Was sind architektonische Funktionen? 7

Über Begriffe 8 | Das Verhältnis von wissenschaftlichen und architektonischen Funktionsverständnissen 11 | Funktionen und Zwecke 32 2 Funktion und Repräsentation 39

Carlo Lodoli 39 | Francesco Algarotti 57 | Francesco Milizia 62 | Andrea Memmo 67 | Wirkung 71 3 Form und Funktion im Gegliederten Ganzen 75

Gottfried Semper 75 | Karl Bötticher 85 | Das Organische 89 | Funktion und Stil 97 | Sempers und Böttichers Wirkung 103 | Louis Sullivan: »form follows function« 109 | Frank Lloyd Wright 115 121 Hannes Meyer 121 | ABC 132 | Walter Gropius und das Bauhaus 136 | Adolf Behne, Hugo Häring, Erich Mendelsohn 144 | Außerarchitektonische Einflüsse 152 | Schlussfolgerungen 166 | Funktionalismus 171

4 Funktionskonzepte der Klassischen Moderne

5 Funktionalismus und seine Kritik 175

CIAM und die Funktionelle Stadt 176 | Jane Jacobs und Alexander Mitscherlich 191 | Postmoderne 194 | Monofunktionalismus, Naiver Funktionalismus, Bauwirtschaftsfunktionalismus 207 6 Funktionen und Formen in Architekturen der Informationsgesellschaft 219

Raum der Ströme, Raum der Orte, Globale Städte 225 | Architekturdiskurs der Umweltbewegungen 237 | Performativität in der Architektur 243 | Computersimulationen 250 | Neubewertung architektonischer Funktionen 254

Zitierte Literatur 259 Abbildungsquellen 275 Index 277

Was sind architektonische Funktionen?

Funktion ist ein Schlüsselbegriff der Architektur. Architekten vereinnahmten diesen Begriff schon im achtzehnten Jahrhundert, und vor allem im zwanzigsten Jahrhundert verfolgten sie mit ihm ganz bewusst die verschiedensten, auch sich widersprechende Ziele. In den letzten zweieinhalb Jahrhunderten wurde der Begriff in Intervallen immer wieder von Neuem als anregendes Konzept in die Architekturdiskussion eingeführt, um dann auf unmittelbare Kritik zu stoßen und an Bedeutung zu verlieren. Das letzte Intervall endete um 1980. In diesem sorgte die Klassische Moderne der 1920er Jahre zunächst für eine weite Popularisierung, bis dann der Funktionalismus der 1960er Jahre und die Postmoderne den Begriff gründlich abwirtschafteten. Bis noch vor wenigen Jahren wurde die Feststellung, etwas sei funktionale Architektur, fast nur noch im abwertenden Sinn für vermeintlich effiziente Raumbereitstellung und als Antithese eines formalen Willens verstanden. Doch gibt es im Architekturdiskurs Anzeichen für ein neues Interesse am Thema der Funktion und ihres Verhältnisses zur Form, wie Konferenzen und Publikationen zeigen.1 Dabei kann man bemerken, dass die antithetische Verteidigung von Funktion einerseits oder Form andererseits kaum mehr eine Rolle spielt. Vielmehr versucht man zu verstehen, warum die Thematik der Funktion-Form-Beziehung eine solche Anziehungskraft über zweieinhalb Jahrhunderte ausüben konnte, und es wird diskutiert, wie man sie heute mit neuem Sinn beleben kann. Funktion ist ein Begriff, der in der Architektur immer dann auftauchte, wenn etwas Neues oder eine Wende zu beschreiben war. Angesichts der heutigen Herausforderungen, die auf praktischer und theoretischer Ebene an die Architektur herangetragen werden, insbesondere der globalen Vernetzung und der sich verändernden Umwelt, mag

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Zum Beispiel die Konferenz Neo-Funktionalismus? der Gesellschaft für Designgeschichte im Jahr 2010, das Buch Functionalism Revisited von Jon Lang und Walter Moleski 2010, und das Themenheft Funktion, Zweck, Gebrauch in Architektur und Städtebau der Zeitschrift Wolkenkuckucksheim – Cloud-Cuckoo-Land 2012.

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man denken, das Thema der Funktion-Form-Beziehungen positioniert sich von Neuem als Teil eines Paradigmenwechsels für die Zeit nach der Stararchitektur. Es wurde in der Vergangenheit zwar heftig diskutiert, aber keineswegs entschieden, was unter architektonischen Funktionen zu verstehen ist. Und daher ist ein wesentliches Ziel des Buches, ihre verschiedenen Interpretationen aufzuzeigen. Dabei wird es aufschlussreich sein, den Spuren nachzugehen, die zu den ersten Anwendungen des Funktionsbegriffs in der Architektur führten, sowie die verschiedenen Positionen und Gegenpositionen der letzten zweieinhalb Jahrhunderte zu verfolgen. Das Buch schließt mit Beobachtungen zu einer sich erneuernden Diskussion um den Funktionsbegriff, die zeigen, wie dieser auf die heutigen ethischen, technischen und ästhetischen Architekturfragen um Globalisierung, Digitalisierung und Nachhaltigkeit anwendbar ist. Alle diese Themen beziehen sich auf System- und Komplexitätstheorien, und diese hängen eng mit dem Konzept der Funktion zusammen. Wie kann Architektur in komplexen globalen und lokalen Systemen aussehen? Wie lässt sich die gegenseitige Abhängigkeit von Funktionen und Formen neu denken, nachdem sie in altfunktionalistischen und postmodernistischen Diskussionen sinnentleert wurde? Diese Fragen stellen sich heute nicht nur Architekten, sondern auch Kunsthistoriker, Literatur- und Begriffsgeschichtler, Wissenschaftstheoretiker und Künstler. Denn Funktion ist ein disziplinenübergreifendes Konzept.

Ü BER B EGRIFFE Was meint Funktion in der Architektur? Diese Frage stellte man sich in der Vergangenheit meistens dann, wenn man eigentlich eine andere Frage klären wollte, nämlich: Was meint Funktionalismus? Letztere Frage tauchte in der Architekturdiskussion etwa in den 1930er Jahren auf. Man findet das Wort Funktionalismus zwar vereinzelt in Schriften der 1920er Jahre, wie das vierte Kapitel zeigen wird, aber seine schlagartige Verbreitung kann man relativ genau auf das Jahr 1932 festlegen. Der berühmte CIAM-Kongress von 1933 in Athen erhielt schon während der Vorbereitungen seinen Titel Die funktionelle Stadt2. 1932 veröffentlichte Alberto Sartoris sein berühmtes Buch Gli elementi dell' architettura funzionale, von dem, so sagt man, die »terminologische Rede über ›Funktionalismus‹ ihren Ausgang nahm«3. Und im britischen Magazin Architectural Review von 1932 konnte man die Nöte des zeitgenössischen Architekturjournalismus nachempfinden:

2

Hirdina 1981, S. 140.

3

Thiel 1973, S. 514. Vgl. Banham 1960.

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»Du bist ein Schriftsteller, ein Kritiker, Du musst ein Wort finden für dieses neue Ding, das Deine kritische Ausgeglichenheit stört. Du schaust herum und findest ein Wort, das im Architekturvokabular bereits ein wichtiges ist – eines, das vielleicht von einem vrai romancier zu freizügig und zu laut benutzt wurde – Du hängst ein ›ist‹ oder ein ›ismus‹ daran, und Du nennst es ›Funktionalismus‹. Das neue Wort hat einen ›modernen‹ Klang, es ist ›smart‹ und ›hart‹ und vielleicht auch ein bisschen ›bolschi‹. (Das wird später sehr nützlich sein.) Und somit, für den Augenblick, ist das kritische Gleichgewicht wiederhergestellt, mit einem frischen strahlenden Wort.«4

Folgt man diesem Zitat, schien die Bezeichnung Funktionalismus der Suche nach einem schlagkräftigen Namen geschuldet zu sein, der nach Möglichkeit alle Strömungen der 1920er Jahre in sich aufnahm und dementsprechend vage bleiben musste. Trotzdem versuchten sich in den 1950er und 60er Jahren zahlreiche Autoren an einer genaueren Inhaltsbestimmung dieser Bezeichnung. Die Strategie, dieser anhand des Begriffs Funktion beizukommen, stellte sich zunächst als wenig erfolgreich heraus. Die angeblich unscharfe Bedeutung des Begriffs Funktion wurde sogar zum Hauptargument dafür, dass der Funktionalismus nicht bestimmbar sei. »Die programmatische Schwäche des Funktionalismus beginnt aber schon bei der Nicht-Definition des Begriffs ›Funktion‹«5, hieß es zum Beispiel bei Hartmut Seeger 1968, und Gerda Müller-Krauspe bemerkte 1969, dass »das Dilemma des Funktionalismus nicht zuletzt darin begründet ist, daß seine frühen Fürsprecher zwar prägnante Parolen zu artikulieren wußten, indessen nie eindeutig klärten, was denn nun genau unter Funktion zu verstehen sei«6. Emmanuelle Gallo und Claude Schnaidt formulierten 1988/89 in einem Rundumschlag achtzehn verschiedene Definitionen von Funktionalismus, und auch sie schlussfolgerten: »Dem Begriff Funktionalismus fehlt Festigkeit. Die Vieldeutigkeit ergibt sich aus der fehlenden Antwort auf eine wesentliche Frage: Was ist Funktion?«7 Man tat und tut sich bis heute also nicht nur mit dem Begriff des Funktionalismus schwer, sondern auch mit dem der Funktion. Die einen beklagten, der Funktionsbegriff sei zu eng – so zum Beispiel Bruno Flierl, der 1985 bedauerte, dass unter dem Begriff Funktion nur einseitig »materiell-praktische Aufgaben« festgeschrieben würden und erst später »im Lager der Funktionalisten auch theoretisch begriffen und postuliert wurde, dass zur Funktion der Architektur auch das Ideell-Ästhetische gehöre.«8 Andere gaben zu bedenken, wenn der Funktions-

4

Coates 1932, S. 165 (engl.). Zitat auch in Benton 1990, S. 50.

5

Seeger 1968, hier in Fischer/Hamilton 1999, S. 216.

6

Müller-Krauspe 1969, hier in Fischer/Hamilton 1999, S. 219.

7

Gallo/Schnaidt 1989, S. 26.

8

Flierl/Hirdina 1985, S. 137.

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begriff weit genug sei, »um das Ästhetische, das Soziale sowie das Phantastische einzuschließen, was bringt dann der Funktionalismus für eine Neuigkeit?«9. Am meisten verbreitet und wahrscheinlich die pragmatischste Herangehensweise war und ist jedoch, Funktion als Synonym für Zweck zu interpretieren, und daraus ein Verständnis von Funktionalismus abzuleiten, in dem es um das Verhältnis von Zweck und Form geht. Ohne großen Erkenntnisgewinn sind dann jene Texte, in denen sich alle diese Interpretationen mischen, und dies führte schließlich Adrian Forty und Andreas Dorschel unabhängig voneinander zu der Forderung, den Begriff der Funktion aus der Architekturterminologie gänzlich zu entfernen. So forderte Forty, man müsse endlich »ein befriedigendes Konzept und eine angemessene Terminologie entwickeln, um ›Funktion‹ zu ersetzen oder andernfalls ›Funktion‹ von seinen biologisch- und umweltbestimmten Bedeutungen zu reinigen«10. Und Dorschel schlug vor, das unscharfe Wort durch einerseits »Zweck« und andererseits »Technik« zu ersetzen oder nur dann zu verwenden, wenn die Bedeutung eindeutig ist11. »Es ist schwer, in der Architektur über Funktionen zu sprechen, da der Sprachgebrauch nicht eindeutig ist und immer wieder zu Missverständnissen führt«12, war die vorsichtige Formulierung Eduard Führs 2002. Es stellt sich allerdings die Frage, wie auch bei Forty und Dorschel, ob es nicht gerade diese Missverständnisse sind, die uns zum Weiterdenken veranlassen und die also teilweise auch wünschenswert und geradezu notwendig sind. Schaut man einmal in die Fachdisziplin der Begriffsgeschichte, so kann man lernen, dass Begriffe schlichtweg nicht eindeutig definiert werden können. Aus gutem Grund, denn gerade die Offenheit und Flexibilität von Begriffen, die Möglichkeit des Anders- und Uminterpretierens führt dazu, dass neue Denkansätze entstehen. Somit kann es also auch in der vorliegenden Untersuchung keinesfalls darum gehen, Funktion oder Funktionalismus zu definieren oder den Definitionsversuchen einen neuen hinzuzufügen. Es geht vielmehr darum, aus der Architekturgeschichte verschiedene Interpretationen aufzuzeigen, ihnen wenn möglich Zeitloses abzuringen, und so im heutigen Kontext zu neuen Schlussfolgerungen für die Architektur zu gelangen. In diesem Kapitel soll es darum gehen, prinzipielle Verständnisse herauszuarbeiten. Auf eines verwies das bereits genannte Zitat von Adrian Forty. In diesem sprach er von den »biologisch- und umweltbestimmten Bedeutungen« des Funktionsbegriffs. In der Tat bezogen sich zahlreiche Architekturtheoretiker auf das biologische Konzept der Funktion. Andere verwiesen auch auf die Mathematik, die

9

Gallo/Schnaidt 1989, S. 27.

10 Forty 2000, S. 195. 11 Dorschel 2002, S. 40. 12 Führ 2002, S. 25.

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Soziologie oder die Etymologie. Sie versuchten, sich an die Frage, was eine architektonische Funktion sei, anzunähern, indem sie wiederum eine andere Frage voranstellten, und zwar, was überhaupt eine Funktion sei. Die Annäherung über diesen sehr breiten Weg, der durch die Kultur- und Wissenschaftsgeschichte führt, erweist sich als sehr fruchtbar. Denn man kann in verschiedenen Disziplinen innerhalb der letzten dreihundert Jahre sehen, dass die Idee der Funktion das Weltverständnis grundlegend verändert hat. Descartes gebrauchte den Funktionsbegriff in der Naturgeschichte, Gottfried Wilhelm Leibniz führte ihn in die Mathematik ein, George Cuvier revolutionierte das Verständnis des Verhältnisses von Funktion und Form und schuf damit die Disziplin der Biologie, und Herbert Spencer integrierte das Konzept der Funktion in seine Grundlegung der Soziologie. Alle diese Denker trugen mit dem Funktionsbegriff entweder zu einer Gründung oder zu einer Erneuerung ihres jeweiligen Fachgebiets bei. Und auch Architekten profitierten davon, indem sie die verschiedenen Disziplinen studierten und mit Fragen der Architektur verglichen. Der folgende Abschnitt will einen ersten Eindruck davon vermitteln, wie Architekten Funktionsbegriffe anderer Disziplinen heranzogen und auf ihre eigene Disziplin anwendeten.

D AS V ERHÄLTNIS

VON WISSENSCHAFTLICHEN UND

ARCHITEKTONISCHEN

F UNKTIONSVERSTÄNDNISSEN

Architekturtheoretische Studien über Funktionalismus beginnen oft mit einem Blick in die Etymologie. Sie erklären, dass Funktion vom lateinischen functio hergeleitet ist und Verrichtung meint. Hier stoßen sie nun sofort auf das Problem, was ein Bauteil oder ein Gebäude denn verrichtet? »Bei toten Gegenständen ist der Funktionsbegriff irreführend, da sie keine Tätigkeiten ausführen«, schrieb zum Beispiel Werner Nehls 1966 in seinem Artikel Das Ende der Funktionalistischen Epoche. Er stellte weiter fest, Gebäude würden hier so verstanden, »als ob diese lebendige Wesen seien, die zu Handlungen fähig sind: das Messer schneidet, der Keil spaltet«, und folgerte daraus, dass »die wörtliche Anwendung des Begriffes Funktion nur Verwirrung stiftet. Dies ist auch der Grund für die vielen Unklarheiten und Widersprüche, die durch seine Anwendung entstehen.«13 Macht man sich im klassischen Latein auf die Suche nach der Verwendung des Worts functio wird man zunächst nur wenig fündig, nämlich nur in zwei Schriften Ciceros. Kein anderer Schriftsteller der lateinischen Antike verwendete dieses Wort, auch nicht Vitruv, obwohl er in seinen De Architectura Libri Decem bei Cicero reichlich Anleihen machte – der Begriff hätte dann in der Architekturtheorie

13 Nehls 1966, S. 39.

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womöglich eine andere Entwicklung genommen. In der ersten Schrift verstand Cicero functio als »Leistung einer (Steuer-)Abgabe«, in der zweiten definierte er »Arbeit« als »Verrichtung [functio] des Geistes oder Körpers«14. In beiden Fällen meinte functio eine menschliche Aktivität. Erst ab dem dritten Jahrhundert tauchte functio öfter auf, auch hier vorwiegend im juristischen und politisch-ökonomischen, auf öffentliche Ämter und Steuerpflichten bezogenen Sprachgebrauch. Auch hier war von einer menschlichen Tätigkeit die Rede, und man kann drei hauptsächliche Verwendungen erkennen: erstens eine allgemeine als Verrichtung oder Ausführung, zweitens eine spezifischere als Dienstverrichtung oder Amtsobliegenheit, und drittens als Abgabeleistung, Tributoder Steuerabgabe15. Im Mittelalter breitete sich Latein als Sprache von Kultus, Verwaltung und Bildung über ganz Europa aus und einzelne Bedeutungserweiterungen kamen hinzu, zum Beispiel in der christlichen Liturgie als Gottesdienst (functiones divine), ein Ausdruck, den später Goethe in seiner Italienischen Reise bei der Beschreibung der päpstlichen Gottesdienste der Karwoche im Eintrag vom 3. März 1788 eindeutschte: »Der Augenblick, wenn der aller seiner Pracht entkleidete Papst vom Thron steigt, um das Kreuz anzubeten [...], ist eine der schönsten unter allen merkwürdigen Funktionen. [...] Bei den päpstlichen Funktionen, besonders in der Sixtinischen Kapelle, geschieht alles, was am katholischen Gottesdienste sonst unerfreulich erscheint, mit großem Geschmack und vollkommner Würde.«16

Bis ins achtzehnte Jahrhundert war Latein die vorherrschende Sprache in den Wissenschaften und functio erlangte darin weitere spezifische Bedeutungen. In kunsttheoretischen Terminologien aber schien functio keinen Eingang zu finden, und so verwendeten auch die Architekturschriftsteller, zum Beispiel Leon Battista Alberti oder Andrea Palladio, functio weder allgemein noch in irgendeiner fachspezifischen Form. Functio war ein Begriff nicht der Kunst-, sondern der Amtsund Wissenschaftssprachen. Mit zunehmender Verwendung der Nationalsprachen in den Wissenschaften wurde functio in diese übertragen. Dagegen fand das Wort in den Alltagssprachen nur stockend und langsam Verwendung. Auch in den Nationalsprachen meinte Funktion eine Tätigkeit, in Grimms Deutschem Wörterbuch von 1878 mit Betonung

14 Cicero, Zweite Rede gegen Verres, 3,6,15; ders., Tusculanische Gespräche 2,15,35. 15 Vgl. Georges 1962; Thesaurus Linguae Latinae 1926. 16 Goethe 1976, S. 700-1. Siehe auch den Eintrag vom 3. Nov. 1786 (S. 169): »Die Funktion war angegangen, Papst und Kardinäle schon in der Kirche.«

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auf »die berufsthätigkeit, die amtliche thätigkeit, die amtsverrichtung«17. Dabei schien ein Unbehagen diesem Wort gegenüber vor allem in der deutschen Sprache zu bestehen, denn immer wieder wurde ein Ersatz oder eine Umschreibung dafür gesucht. Ein Beispiel dafür ist das häufig zitierte Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke von 1801, in dem der Verfasser Joachim Heinrich Campe als eben solchen »Function« anführte, Immanuel Kant für die eigenwillige Verwendung desselben anklagte, und vorschlug, das Wort »functioniren« durch »amten« zu ersetzen18. Kants Verständnis war in der Tat kompliziert. In der Critik der reinen Vernunft von 1781, im Abschnitt Von dem logischen Verstandesgebrauche überhaupt, bestimmte er eine Funktion folgendermaßen: »Es giebt aber, ausser der Anschauung, keine andere Art zu erkennen, als durch Begriffe. Also ist die Erkenntniß eines jeden, wenigstens des menschlichen Verstandes, eine Erkenntniß durch Begriffe, nicht intuitiv, sondern discursiv. Alle Anschauungen, als sinnlich, beruhen auf Affectionen, die Begriffe also auf Functionen. Ich verstehe aber unter Function, die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen. Begriffe gründen sich also auf der Spontaneität des Denkens, wie sinnliche Anschauungen auf der Receptivität der Eindrücke.«19

Auch bei Kant, wie in dieser etymologischen Übersicht überhaupt, lässt sich zeigen, dass Funktion stets eine aktivische Bedeutung implizierte. Mit der Übertragung dieser Bedeutung auf die Architektur taten sich die Architekturtheoretiker nicht nur der 1960er Jahre, sondern der letzten zweieinhalb Jahrhunderte schwer, denn wie kann man sich ein Gebäude aktivisch vorstellen? Auf der anderen Seite haben Theoretiker seit dem achtzehnten Jahrhundert und bis heute Gebäude tatsächlich als tätig beschrieben und es werden in diesem Buch viele Beispiele gezeigt werden, die belegen, dass dies nicht nur metaphorisch gemeint war. Darüber hinaus lassen sich aber noch andere Überlegungen anschließen. Insbesondere die Bedeutung von Amts- oder Pflichtverrichtung, Steuerabgabe und Gottesdienst beinhaltet die Idee von einen Beitrag leisten und in dieser Formulierung schwingt die Frage mit, wofür dieser geleistet werden soll? Man kann hier

17 Grimm 1878, S. 527. Vgl. Schulz/Basler 1913; Paul 1992. 18 Campe 1801, Bd. 2, S. 378: »Kant verbindet mit dem Worte Function willkührlicher Weise einen Begriff, von dem ich wenigstens nicht einzusehen vermag, wie er dadurch bezeichnet werden könne [...]. Jeder hat freilich das Recht zu bestimmen, was er bei seinen Worten gedacht wissen will; aber Klugheit und guter Geschmack rathen doch, uns dabei nicht zu weit vom Sprachgebrauche zu entfernen.« 19 Kant 1781, S. 68.

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thesenhaft formulieren, dass der Funktionsbegriff eine Tätigkeit innerhalb eines größeren Gebildes zum Inhalt hatte und dass es nicht nur um einen, sondern um viele Beiträge ging. Bedenkt man zum Beispiel das Präfix ›Amt-‹, so impliziert dieses ja immer, dass es mehrere Ämter geben muss, die gemeinsam einen größeren Verband bilden. Ebenso ist eine Steuerabgabe ein Beitrag für das größere Ganze des Staatshaushalts, und der Gottesdienst eine Tätigkeit innerhalb und für eine Glaubensgemeinschaft. Eine Funktion ausüben oder in Funktion sein, hieße demnach, innerhalb eines größeren Ganzen als Teil von diesem für dieses aktiv zu sein. Man kann im Folgenden sehen, dass diese Bedeutung auf die verschiedenen Wissenschaften anwendbar ist. Neben der Etymologie wurden auch die Naturgeschichte und die Biologie von Architekturtheoretikern oft herangezogen, wenn es um die Erklärung des architektonischen Funktionsbegriffs ging. In einem schon genannten Artikel interpretierte Werner Nehls Funktion als biologische Verrichtung, nämlich als die »Arbeitsweise, durch die ein Organ seinen Zweck erfüllt«20. Man bekommt in diesem Satz eine erste Ahnung davon, wie nah sich die Begriffe von Zweck und Funktion stehen, und wie sie voneinander abgegrenzt werden. In diesem Beispiel beantwortet Zweck die Frage des Wozu (Wozu taugt dieses Organ?), während Funktion das Wie (Wie oder auf welche Weise arbeitet das Organ?) beschreibt. Diese Abgrenzung der Begriffe Funktion und Zweck findet sich auch in neueren Texten, zum Beispiel in Andreas Dorschels Buch Gestaltung – Zur Ästhetik des Brauchbaren von 2002. Neben dieser Interpretation von Funktion als Organverrichtung, -arbeitsweise oder -aktivität gibt es eine weitere naturgeschichtlich-biologische Deutung, die von vielen Architekturtheoretikern vertreten wurde. Der Funktionsbegriff, so erklärte unter anderem Margit Staber 1974, sei auf »das Verhältnis zweier Grössen bezogen, zum Beispiel der Leistung der Zellstruktur im Verhältnis zum Gesamtorganismus«21. Das Konzept der Funktion ist hier also eines der Relation. Einige folgende Beispiele sollen zeigen, dass der Funktionsbegriff in Naturgeschichte und Biologie eigentlich immer auf das Verhältnis von Organ und Organismus abzielte, und hierbei die beiden Interpretationen von »Funktion als Verrichtung« und »Funktion als Relation« miteinander vereint waren und sich nicht ausschlossen. Die früheste Stelle, in der der Funktionsbegriff auf Organe angewendet wurde, findet sich im Jahr 306. Der frühchristliche Schriftsteller Arnobius stellte hier die Frage, ob Götter sich denn fortpflanzen würden und schlussfolgerte daraus für deren Geschlechtsorgane, man müsse entweder »glauben, daß auch diese Theile zu ihrer Dienstverrichtung [in sui muneris functionem] bereitet worden seyen: oder man muß annehmen, es finde sich in den Körpern der Götter irgend etwas

20 Nehls 1966, S. 38-9. 21 Staber 1974, S. 286.

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Unnützes«22. Danach finden sich erst wieder im sechzehnten Jahrhundert Verwendungen des Funktionsbegriffs in naturgeschichtlichem Zusammenhang. So soll Juan Luis Vives erstmals von Seelenfunktionen (functiones animae) gesprochen haben, und René Descartes von Körperfunktionen (corporis functiones)23. Eine den Funktionsbegriff betreffende Diskussion im sechzehnten Jahrhundert bezog sich auf die Frage, was eigentlich der Impuls sei, der die Körperfunktionen oder Organfunktionen in Gang setzt. Durch was wird eine Organfunktion angeregt? Viel diskutiert wurde dabei Jean Fernels Antwort, der Impuls werde durch die Seele mit ihren so genannten Vermögen der Seele (facultates animae) ausgelöst. Von diesen, so Fernel, gäbe es drei Arten, denen drei verschiedene Körperfunktionen zugeordnet seien. So seien die natürlichen Vermögen (facultates animae naturales) den natürlichen functiones der Ernährung und Verdauung zugeordnet; die animalen Vermögen (facultates animae animales) den functiones der Bewegung und Empfindung; und die vitalen Vermögen (facultates animae vitales) den functiones, die das Herz in Gang setzen. Descartes versuchte, die facultates als Ursache der functiones weitestgehend zu eliminieren und mechanische Erklärungen für die Funktionen zu finden. In seinem berühmten Traité de l’Homme von 1632 beschrieb er eine menschenähnliche Maschine, deren Antrieb die Wärmequelle im Herzen sei. Der Traktat endete mit folgender Feststellung: »Ich wünsche, daß man schließlich aufmerksam beachte, daß alle Funktionen, die ich dieser Maschine zugeschrieben habe, z.B. die Verdauung der Nahrung, das Schlagen des Herzens und der Arterien, die Ernährung und das Wachstum der Glieder, die Atmung, das Wachen, Schlafen, die Aufnahme des Lichtes, der Töne, der Gerüche, des Geschmacks, der Wärme und anderer solcher Qualitäten [...] so vollkommen wie möglich die eines richtigen Menschen nachahmen: ich wünsche, sage ich, daß man bedenke, daß die Funktionen in dieser Maschine alle von Natur aus allein aus der Disposition ihrer Organe hervorgehen, nicht mehr und nicht weniger, als die Bewegungen einer Uhr oder eines anderen Automaten von der Anordnung der Gewichte und ihrer Räder abhängen.«24

Descartes lehnte sich unter anderem an die Abhandlung des englischen Mediziners William Harvey De Motu Cordis et Sanguinis (Über die Bewegung des Herzens und des Blutes) von 1628 an, in dem Harvey den Blutkreislauf entdeckte und über die Funktionen des Herzens schrieb. Der deutsche Übersetzer von Harveys Schrift tat sich 1910 schwer mit dem Wort functio, das er stets mit Betätigung, einmal mit

22 Arnobius 1842, S. 102. 23 Thiel 1973, S. 511. Thiel beschrieb hier auch die Verwendung des Worts Funktion bei Thomas von Aquin, Campanella und Spinoza. 24 Descartes 1969, S. 135-6.

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Tätigkeit übersetzte und dabei in die Schwierigkeit kam, functio von actio abzugrenzen. Insbesondere dort, wo die beiden lateinischen Worte unmittelbar nebeneinander standen, wurde diese Schwierigkeit offensichtlich, zum Beispiel in der Überschrift des fünften Kapitels »Cordis motus actio, & functio«, das er mit »Die Herzbewegung als Tätigkeit und als Betätigung« übersetzte, ebenso wie die Feststellung, das Blut sei »in immerwährender Bewegung, und die ist die Tätigkeit bzw. Betätigung des Herzens [actionem siue functionem cordis], die es mittels seines Pulses zustande bringt«25. Ein weiterer Traktat Descartes’, 1648 verfasst, führte Funktion im Titel: Beschreibung des menschlichen Körpers und aller seiner Funktionen, ebenso von denen, die nicht von der Seele abhängen, wie von denen, die von ihr abhängig sind, außerdem über die wesentliche Ursache für die Formung seiner Glieder [Abb. 1].

Abbildung 1: René Descartes, Beschreibung des menschlichen Körpers und aller seiner Funktionen [...] außerdem über die wesentliche Ursache für die Formung seiner Glieder. Titelseite der lateinischen Ausgabe von 1686.

25 Harvey 1628, S. 29, 58. Ders. 1910 (Übers. von Töply), S. 38, 78.

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Überraschenderweise stehen hier die Begriffe von Funktion und Form(ung) nebeneinander, aber sie stehen tatsächlich nur nebeneinander und sind nicht aufeinander bezogen. Die bewusste Inbezugsetzung von Funktionen und Formen findet man erst um 1800 mit der Disziplinbildung der Biologie. Einen wesentlichen Anteil an dieser Disziplinbildung und der Verknüpfung von Funktion und Form leistete das Thema der Klassifizierung der Lebewesen: die Taxinomie. Ansätze von Klassifizierungen gab es zwar schon bei Aristoteles, der mit seinen Tierbeschreibungen die Zoologie begründete, so wie sein Schüler Theophrast die Botanik. Aber beide, Aristoteles und Theophrast, klassifizierten die Lebewesen nicht nach Funktionen, sondern nur nach sichtbaren Formen – also zum Beispiel hinsichtlich »Gestalt, äußerer und innerer Organisation, Lebens- und Vermehrungsweise, Lebensraum und Verhaltensweise«26. Auch der schwedische Naturforscher Carl von Linné, der mit seinem Werk Systema Naturae von 1735 als der eigentliche Begründer der Taxinomie gilt, konzentrierte sich noch ausschließlich auf sichtbare Merkmale, die nach vier Variablen untersucht wurden, nämlich »muß jedes Merkmal aus der Zahl, der Gestalt, der Proportion, der Situation gezogen werden«27. Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts änderte sich die Herangehensweise an die Klassifizierung grundlegend mit Jean-Baptiste de Lamarck und Georges Cuvier, die nun den Funktionsbegriff zum Schlüsselkonzept der Forschung machten, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen waren die Kriterien der Klassifikation nicht mehr nur die sichtbaren Merkmale, sondern auch die Funktion, die sozusagen ein unsichtbares Merkmal war. Zum zweiten wurde die Abhängigkeit der Organe innerhalb eines Organismus, ihre Zusammenstellung zu Suborganisationen (zum Beispiel Atmung oder Verdauung) und deren Beziehungscharakter zum Ganzen besonders hervorgehoben. Ein Organismus war nun etwas, dass eine innere Organisation hatte, deren Teile von den Funktionen bestimmt wurden. Funktion als unsichtbares Merkmal und Organismus als von den Funktionen bestimmtes und sie bestimmendes, beziehungsreiches, lebendiges Ordnungssystem waren die wesentlichen Elemente der Klassifikation seit Cuvier. Beide Elemente führte Cuvier aus in einem seiner Hauptwerke, den Leçons d’ anatomie comparée (Vorlesungen über Vergleichende Anatomie) von 1800, die auch auf Deutsch seit 1801 und 1809 erschienen. Insbesondere Gottfried Semper nahm darauf intensiv Bezug und versuchte, daraus für die Architektur eine Vergleichende Stillehre zu entwickeln. Cuvier definierte Organsysteme, die er hierarchisch ordnete. So seien Empfindung und Bewegung die Funktionen erster Ordnung; Verdauung, Blutzirkulation und Atmung Funktionen zweiter Ordnung; Fortpflanzung eine Funktion dritter

26 Jahn 1990, S. 67. 27 Zitat in Foucault 1974, S. 176.

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Ordnung28. Die Klassifikation nach diesen Funktionen machte es möglich, zum Beispiel Kiemen und Lungen miteinander zu vergleichen, obwohl ihre Strukturen unterschiedlich waren. Mit anderen Worten, die gleiche Funktion, hier die Atmung, konnte unterschiedliche Formen haben. Bei Cuvier galten nur mehr drei Kriterien: Funktion, Struktur und Lage eines Organs. Er unterschied vier mögliche Kombinationen dieser drei Kriterien: Erstens konnten Lebewesen übereinstimmende Funktionen, Strukturen und Lagen ihrer Organe haben und so einem »Organisationstyp« angehören; zweitens konnten Funktionen und Strukturen übereinstimmen, aber die Lagen der Organe unterschiedlich sein; drittens konnten unterschiedliche Strukturen eine analoge Funktion erfüllen; und viertens konnten ähnliche Strukturen verschiedene Funktionen haben29. Darüber hinaus schloss Cuvier aus der Anzahl der Organe auf die Rangstufe eines Lebewesens: Je mehr Organe ein Lebewesen hatte, je weiter also die Funktionen ausdifferenziert waren, und je komplexer ein Organ war, also aus Unterorganen bestand, je mehr es also organisiert war, desto höher in der Rangstufe war das Lebewesen. Je niedriger die Stufenleiter, je weniger Organe. Nicht nur die Organe in einem Organsystem, auch die Organsysteme selbst hingen von einander ab. Zu einem bestimmten Atmungssystem gehörte ein bestimmtes Kreislaufsystem oder ein bestimmter Verdauungsmechanismus – und so weiter. Man konnte also, wenn man zum Beispiel das Atmungssystem eines Lebewesens kannte, auf den Blutkreislauf, und letztlich auf alle Teile des Organismus schließen, »so daß ein geübter Beobachter, wenn er einen dieser Theile kennt, leicht die meisten übrigen errathen kann, ja daß er, nach den vorerwähnten Regeln, im Stande ist, seine Conjekturen auch auf die Organe der andern Funktionen auszudehnen«30. In den beiden Übersetzungen der Vergleichenden Anatomie von 1801 und 1809 stellt man fest, dass »fonction« in vielen Fällen zunächst mit »Verrichtung« übersetzt, dann aber 1809 durch »Funktion« ersetzt wurde. Man sieht darin einmal mehr, wie sich der Begriff im deutschen Sprachgebrauch zunehmend etablierte. Die Übersetzung als »Verrichtung« macht aber eindeutig klar, was die Übersetzer unter Funktion verstanden, nämlich eine Aktion. Darüber hinaus zeigen die Beispiele, dass es stets auch um die Relationen von Teilen (Organen) zum Ganzen (Organismus) ging. Cuvier folgerte, dass in einem Körper nicht nur alle Funktionen der Organe, sondern, da »jedes derselben auf die andern wirkt und von ihnen eine Einwirkung erleidet [...] alle ihre Formen in Beziehung auf einander«31 seien. Hier

28 Vgl. Cuvier 1809, S. 9-16. 29 Vgl. Cheung 2000, S. 21-3, 38. 30 Cuvier 1809, S. 46. 31 Ebd.

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also findet sich zum ersten Mal die unmittelbare Verknüpfung von Funktionen und Formen. Michel Foucault beschrieb diese neue Verknüpfung in seinem Buch Les mots et les choses (Die Ordnung der Dinge) meisterhaft: »Bei der Analyse in der Klassik wurde das Organ gleichzeitig durch seine Struktur und seine Funktion definiert. Es war gewissermaßen ein System mit doppeltem Eingang, in dem man exhaustiv, entweder ausgehend von der von ihm gespielten Rolle (zum Beispiel der der Reproduktion) oder ausgehend von seinen morphologischen Variablen (Form, Größe, Anordnung und Zahl) lesen konnte. [...] Diese Einteilung stößt Cuvier um [...] und unterwirft die Disposition des Organs der Souveränität der Funktion.«32

Um etwa 1800 begann auch die wichtige Diskussion, wie die gegenseitige Abhängigkeit von Form (Struktur, sichtbarem Merkmal) und Funktion, die vorher nur ein Nebeneinander war, genauer erklärt werden könne. Welches Merkmal hatte die Vorrangstellung? Bei Cuvier war es die Funktion, die die Form generierte, bei Etienne Geoffroy Saint-Hilaire war es umgekehrt, die Form generierte die Funktion33. Die erste Meinung teilte auch Jean-Baptiste de Lamarck, denn in seiner Theorie änderten Lebewesen während ihres Daseins ihre Form – zum Beispiel wird ein Giraffenhals ein Stück länger – und vererbten diese anschließend. Die zweite Sichtweise vertrat auch Charles Darwin, in dessen Theorie der Zufall Formen generierte, die anschließend nur dann überlebten, wenn sie ihre Funktion erfüllten oder besser erfüllten, als die vor ihnen existierenden Formen. Diese Auseinandersetzung, die als »Akademiestreit« in die Geschichte einging, übte eine geradezu revolutionäre Kraft auf den Architekturdiskurs aus und führte bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts zu heftigen Architekturdebatten. Die Tatsache, dass Funktion sowohl eine Aktion (Verrichtung) als auch eine Relation von Teilen und Ganzem meinte, wird vielleicht noch deutlicher am Beispiel des Biologen François Xavier Bichat, der 1801 in seinem Buch Anatomie générale (Allgemeine Anatomie) Tiere radikal als »Assemblage verschiedenartiger Organe« definierte, »von welchen jedes seine eigene Verrichtung [fonction] ausübet, und dadurch auf seine Art zur Erhaltung des Ganzen beyträgt«34. Die Idee der Verrichtung war hier eindeutig verknüpft mit der Idee der Teile-GanzesRelation als »Assemblage«. Man kann sogar sagen, dass nur beide Ideen zusammen den Funktionsbegriff ganz erklärten. Funktionen waren Aktionen und gleichzeitig waren sie Relationen von Teilen, und in beidem bezogen sie sich auf ein Ganzes. Im Verlauf der biologischen Wissenschaftsgeschichte kann man sehen, dass die beiden

32 Foucault 1974, S. 323. 33 Vgl. Collins 1965, S. 151. 34 Bichat 1802, S. 43. Franz. Orig. 1801, S. lxxix.

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Interpretationen von Funktion – als Aktion und als Teile-Ganzes-Relation – immer eindeutiger als eine einzige zusammenhängende Interpretation präzisiert wurden. Wilhelm Roux bestimmte 1895 Funktion als »Leistung, welche dem Ganzen nützt« und als »Verrichtung für das Ganze«. Carl Gegenbaur nannte 1898 Funktion »eine Leistung für den Körper«. Beide Zitate führte Alfred Benninghoff in einem sehr aufschlussreichen Artikel von 1935/36 an, in dem es hieß: »Ohne Beziehung auf das Ganze wäre eine Funktion sinnlos. [...] In diesem Sinne hat kein Teil für sich ein Dasein, kein Teil kann für sich eine Funktion leisten, erst der Zusammenschluß zu Systemen ordnet die Teile zum organischen Verband. Wenn die Funktionen die Leistungen für das Ganze bezeichnen, und wenn sie nicht frei im Raum schweben können, dann muß ihnen auch ein Gefüge zugrunde liegen, das diese ganzheitliche Ordnung zum Ausdruck bringt.«35

Bei Benninghoff findet sich auch eine erhellende Bestimmung von funktionell. Etwas sei dann funktionell, wenn »es zur Erhaltung des höheren Systems beiträgt«. Um funktionell zu sein, muss dieses Etwas also immer ein Teil von einem größeren Ganzen sein. So ist auch die Form, die aus einer Funktion resultiert, immer eine Teilform. Dabei betonte Benninghoff die gleichgewichtige, gegenseitige Abhängigkeit von Form und Funktion, denn die »Formteile eines Organismus betrachten wir als Glieder eines größeren Ganzen, dem sie der Leistung nach verbunden sind«36. Er führte folgendes Beispiel an: »Das Schienbein des Erwachsenen hat normalerweise einen dreieckigen Querschnitt, obwohl das nicht die statisch günstigste Form ist, obwohl für dieses dreikantige Bauglied mehr Material gebraucht wird als für eine runde Säule gleicher Tragfähigkeit. An sich betrachtet wäre die Gestalt des Schienbeins unzweckmäßig. [...] Das Schienbein als Glied des Unterschenkels muß also aus Rücksicht auf seine Nachbarschaft dreikantig sein. Der Körper läßt es sich also Material kosten, um zur Harmonie der Teile in der Planung des Ganzen zu gelangen. Das funktionelle Glied Schienbein steht somit unter der Herrschaft eines höheren Systems ›Unterschenkel‹ und letzthin des ganzen Körpers.«37

Man kann daran die Frage anschließen, was eigentlich ein Ganzes oder ein höheres System ist. Für Benninghoff konnte dieses Ganze immer nur ein Konstrukt sein. Denn man könne die Zellen als Teile, ein Organ als Ganzes betrachten; aber auch Organe als Teile und den Organismus als Ganzes; oder auch Organismen als Teile,

35 Benninghoff 1935/36, S. 152. 36 Ebd., S. 102. 37 Ebd., S. 155.

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die Natur als Ganzes; und auch noch größere Zusammenhänge schloss Benninghoff nicht aus. Diese Konstrukte seien hilfreich zur Herauslösung und Betrachtung einzelner Problemstellungen, da man sich ja nicht immer mit dem ganzen Universum befassen könne, wenn man nur die Zelle studieren wolle. Hat man sich diesen Zusammenhang einmal klar gemacht, erkennt man, dass alle Verwendungen des Funktionsbegriffs in der Biologie und Naturgeschichte als »Ausrichtung der Teilvorgänge auf das Ganze«38 gelesen werden können. Die Interpretation von Funktion als Tätigkeit tritt zwar zunächst deutlicher hervor, da in den Texten der untersuchten Naturgeschichtler und Biologen Umschreibungen des Funktionsbegriffs auftauchen wie »Aktion«, »Leistung«, »Wirkung«, »Vorgang«, »Prozess« und »Verrichtung«. Das Verständnis von Funktion als Verrichtung allein reicht aber nicht aus zur Erklärung seines Sachverhalts, denn diese Verrichtung muss außerdem innerhalb einer Teile-Ganzes-Relation geschehen. Dieses Verständnis aber konnte man auch schon in den ursprünglichen lateinischen Beispielen sehen: Auch die Verwendungen als Amtsverrichtung, Steuerabgabe und Gottesdienst verwiesen immer auf das Konzept der Teile-Ganzes-Relation, als Ämter einer Organisation, Steuern eines Staatshaushalts und Ämter einer Glaubensgemeinschaft. Mit dieser Erkenntnis lassen sich viele der Übertragungsmissverständnisse innerhalb der Architekturtheorie erklären. Als sich zum Beispiel Wend Fischer in einem sehr schönen Artikel von 1983 auf Goethes Bemerkung berief, Funktion wäre »das Dasein in Tätigkeit gedacht« und diese bezöge »sich nicht etwa nur auf Gestaltung, sondern beide sind identisch«39, so mag es den Leser vielleicht schon strapaziert haben, sich ein Gebäude als tätig vorzustellen. Darüber hinaus entging ihm aber der vollständige Sachverhalt von Goethes Zeilen, der im Kontext des Vergleichs von Körperteilen und -ganzem stand. An »diesem Teil und anderen«, hieß es bei Goethe, werde man »das Dasein, das sich durch die Gestalt hervortut, in lebendiger, verhältnismäßiger Funktion erblicken«40. Man wird in den kommenden Kapiteln sehen, dass den Architekten insbesondere des neunzehnten Jahrhunderts dieses Verständnis von Funktion eindeutig bewusst war. Man mag nun auch ahnen, warum im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert das Konzept der Funktion eine derartige Anziehungskraft für Architekten besaß. Denn in der Architektur ging es seit Vitruv um die sichtbaren Verhält-

38 Ebd., S. 152. 39 Fischer 1983, S. 377. 40 Goethe 1964, S. 394-6. Im Kontext ging es um die Körperteile von Menschen und Tieren. Der Satz hieß weiter: »Funktion, recht begriffen, ist das Dasein in Tätigkeit gedacht, und so beschäftigen wir uns [...] mit dem Arme des Menschen, mit den Vorderfüßen des Tieres.«

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nisse von Teilen und Ganzem, vor allem im Sinn einer Übertragung menschlicher Proportionen auf Gebäude. Die Idee der Funktion erlaubte, dieses Verhältnis der Bauteile jenseits von mess-, konstruier- und sichtbaren Proportionsregeln neu zu denken. Werfen wir einen Blick auf eine weitere Disziplin, in der Funktionen wichtig sind. Auch in der Mathematik verstehen wir gemeinhin unter Funktion eine Relation, Zuordnung oder auch Abbildung, und zwar eine ganz bestimmte. In der Schule lernen wir: Eine Funktion f: DW ist eine Vorschrift, die jedem Element aus der Menge D genau ein Element aus der Menge W zuordnet. Die eindeutige Zuordnung wird damit durch drei Angaben festgelegt: erstens eine Zuordnungsvorschrift, auch Funktions- oder Abbildungsvorschrift genannt, also zum Beispiel eine Gleichung f, zweitens einen Definitionsbereich D (zum Beispiel mit x-Werten), und drittens einen Wertebereich W (zum Beispiel mit y-Werten). Die Form der Funktion, also ihre Darstellung, kann graphisch sein, zum Beispiel als Kurve, Pfeildiagramm oder Koordinatensystem, sie kann tabellarisch oder eine textliche Beschreibung sein oder sich als Gleichung präsentieren. Es gibt also die verschie-

Abbildung 2: Silberglänzendes Titelblatt der Zeitschrift archithese 1973, Heft 5. Die »funktionale Gestaltung« wird mit einem Diagramm »zweck   form« anschaulich gemacht, das auf eine mathematische Zuordnungsvorschrift anspielt.

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densten Formen oder Darstellungen von ein und derselben Funktion, und man kann sagen, dass ohne diese keine Funktion sichtbar ist. In der Mathematik liegt der Unterschied zwischen einer Funktion und einer allgemeinen Relation darin, dass eine Funktion eine eindeutige Zuordnung eines Elements aus einer Menge zu einem Element aus einer anderen Menge bestimmt, im Gegensatz zur Relation, bei der es diese eindeutige Zuordnung nicht geben muss. Für Architekten ergab sich daraus das große Problem, wie sie mit dieser mathematischen Eindeutigkeitsregelung umgehen sollten. Oft verstanden (und verstehen) sie unter Funktion die Zuordnung eines Zwecks zu einer Form (Zweck  Form), wie das silberglänzende Titelblatt der archithese-Ausgabe aus dem Jahr 1973 zeigt [Abb. 2]. Zwecke sind hier also Elemente des Definitionsbereichs, Formen sind Elemente des Wertebereichs. Diese Formulierung birgt zwei Probleme: Erstens müsste es für einen bestimmten Zweck genau eine Form geben, und zweitens müsste es eine Zuordnungsvorschrift geben, durch die man eine Form erhielte, wenn man einen bestimmten Zweck darin »einsetzte«. Da beides aber erfahrungsgemäß nicht so ist, konnte man nur schlussfolgern, dass man die mathematische Funktion allenfalls als Denkfigur für die Architektur nehmen konnte, aber keinesfalls allzu wörtlich. Man findet in der Architekturliteratur auch hin und wieder das Wortspiel, Form werde »zu einer Funktion der Funktion«41, wobei hier Funktion und Zweck gleichgesetzt werden und dann wieder gemeint ist, dass eine Form einem Zweck eindeutig zugeordnet werden kann. Julius Posener beschrieb auf diese Weise die Architektur Hugo Härings, und man kann vermuten, dass er dabei mehr an dem Wortspiel der Begriffsverdoppelung Freude hatte als an einer Präzisierung der Terminologie. Vergleicht man die architekturtheoretische Zuordnung Zweck  Form mit der oben genannten Definition der Mathematik, so fällt eine eigenartige Verdoppelung auch der Form auf. Denn in der Mathematik ist bereits die Gleichung selbst, sagen wir f(x) = y, eine Form oder Darstellung einer Funktion. Auch eine Kurve ist eine Form einer Funktion. In der Architektur aber ist nun das y selbst die Form, und die Formulierung f(Zweck) = Form ist eine weitere Form. Architekten sind sich dieser Verdoppelungen selten bewusst, und so ist die Architekturtheorie hier ein trauriges Beispiel dafür, wie grob vereinfachende Übernahmen aus einer Fachdisziplin in eine andere zu katastrophalen Missverständnissen führen können. Historisch betrachtet waren die Erfindung der Infinitesimalmathematik (Differenzial- und Integralrechnung) und das Konzept der Funktion die bahnbrechenden Errungenschaften der Mathematik des achtzehnten Jahrhunderts. Die überragenden Akteure dabei waren Isaac Newton, Gottfried Wilhelm Leibniz, Johann Bernoulli und Leonhard Euler. Es war Leibniz, der den Funktionsbegriff

41 Posener 1977, S. 19.

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1673 zum ersten Mal verwendete, und viele Leibnizforscher haben bereits darauf hingewiesen, mit welcher Sorgfalt Leibniz darum bemüht war, für alle Erfindungen, also auch für die Funktion, die richtige Terminologie zu finden. »Bezeichnungen« mussten für Leibniz »die innerste Natur der Sache mit Wenigem ausdrücken und gleichsam abbilden. So wird nämlich auf wunderbare Weise die Denkarbeit vermindert«42. Man kann nun fragen, ob Leibniz den Funktionsbegriff der Naturgeschichte entlehnte oder auf seinen lateinischen Ursprung zurückführte, und ob er mit diesem eher eine Verrichtung oder eine Teile-Ganzes-Relation ausdrücken wollte. Dazu erklärte zum Beispiel der Mathematiker Dietrich Mahnke, dass Leibniz dieses Wort anfänglich in einem biologistischen Sinn gebrauchte: »es bedeutet also etwa die ›Verrichtung‹, die ein Glied eines Organismus oder ein Teil einer Maschine zu leisten hat, seine Aufgabe, Stellung oder Wirkungsweise«43. Folgt man diesem Zitat ging es Leibniz also sowohl um die Idee der Verrichtung als auch der Teile-Ganzes-Relation. Aber um welche Verrichtung oder Aktion ging es denn überhaupt in der Mathematik? War diese Übertragung nur metaphorisch gemeint? In den Schriften, in denen Leibniz das Konzept der Funktion einführte, beschrieb er Tangenten in Kurvenpunkten, nämlich zunehmende und abnehmende, oder steigende und fallende Tangenten in bestimmten Punkten einer Kurve, ebenso Wendepunkte von Kurven. Punkte auf einer Kurve betrachtete er also gewissermaßen als in Tätigkeit, nämlich fallend, steigend oder wendend, und in ihren Tangenten wurden diese Bewegungen darstellbar. In etwas anderer Weise zeigte sich die Idee der Bewegung auch bei Newton. Newton betrachtete Linien als »durch stetige Bewegung von Punkten; Flächen durch Bewegung von Linien; Körper durch Bewegung von Flächen; Winkel durch Rotation von Seiten; Zeiten durch stetiges Fließen«44 erzeugt. Diese Bewegungen nannte er »Fluxionen«, die erzeugten Größen »Fluenten«, die Berechnungsweise »Fluxionsmethode«, und diese gesamte Begrifflichkeit umfasste die Idee des Fließens (fluere, fluxus, lat.: fließen, fließend). Auch in der Mathematik und in der Kurvendiskussion beschrieb eine Funktion also von Anfang an eine Aktion. Felix Müller definierte die »Wissenschaft der Analysis« dann auch als diejenige, »welche auf dem Begriffe der Funktion die Lehre von den Verhältnissen stetig sich verändernder Größen aufbauen sollte«45. Und bis heute bezeichnen wir die Elemente x und y als Variable oder auch

42 Leibniz 2007, S. 74. Zur Entwicklung des mathematischen Funktionsbegriffs und zum Verhältnis von Sprache und Inhalt bei Leibniz vgl. Juschkewitsch 1972; Euler 1983; Wußing 1989; Hecht 1992. 43 Mahnke 1926, S. 47. 44 Newton 2007, S. 87. 45 Müller 1887, S. 7.

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»Veränderliche«, und auch in dieser Terminologie zeigt sich der Aspekt der Aktion oder Verrichtung. Darüber hinaus lässt sich nun auch beantworten, wo sich die Idee von Teilen und Ganzem verbirgt, denn man kann leicht die Punkte als die Teile und die Kurve als das Ganze verstehen. Allgemeiner formuliert ist die einzelne Zuordnung (x, y) das Teil, die Gesamtheit aller Zuordnungen das Ganze, und die steigende oder fallende Richtung eines Punkts im Ganzen bezeichnet die als aktiv gedachte Verbindung zwischen den beiden. Leibniz und Johann Bernoulli bauten die Idee der Funktion in ihrem Briefwechsel weiter aus46. Leonhard Euler schließlich, der Schüler Bernoullis war, führte in seinem berühmten Werk Introductio in analysin infinitorum (Einleitung in die Analysis des Unendlichen) von 1748 den Funktionsbegriff zu einem vorläufigen Abschluss und verhalf ihm zu einer weiten Verbreitung [Abb. 3]. Für die Architekturgeschichte ist dieses Datum insofern interessant, als es den Zeitraum markiert, in dem Architekten begannen, den Funktionsbegriff auf die Architektur zu übertragen. Eulers Buch begann mit dem Kapitel Von den Funktionen überhaupt, und

Abbildung 3: Leonhard Euler, Einleitung in die Analysis des Unendlichen, 1748, Deckblatt des Buchs und des ersten Kapitels »Von den Funktionen überhaupt«.

46 Vgl. Wußing 1989, S.180; Cantor 1898, Bd. 3, S. 438.

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die darin enthaltene Definition, die auch von Architekten übernommen wurde, behielt bis Ende des neunzehnten Jahrhunderts im Großen und Ganzen Gültigkeit: »Eine Function einer veränderlichen Zahlgrösse ist ein analytischer Ausdruck [expressio analytica], der auf irgendeine Weise aus der veränderlichen Zahlgrösse und aus eigentlichen Zahlen oder aus constanten Zahlgrössen zusammengesetzt ist.«47

Aufschlussreich ist auch der Gebrauch des Funktionsbegriffs in der Logik. Der Mathematiker, Logiker und Philosoph Gottlob Frege verglich in seinem 1891 gehaltenen Vortrag Function und Begriff das aus der Logik kommende Konzept des Begriffs mit dem Konzept der Funktion und stellte dabei fest, »ein Begriff ist eine Function, deren Werth immer ein Wahrheitswerth ist«48. In einem Beispiel nannte er »›die Hauptstadt des x‹ Ausdruck einer Function. Nehmen wir als ihr Argument das deutsche Reich, so erhalten wir als Functionswerth Berlin«49. Dieses Beispiel definierte eine eindeutige Zuordnung. Frege führte aus, dass eine bestimmte Zuordnung (Deutsches Reich, Berlin) erst durch die Zuordnungsvorschrift (Staat  Hauptstadt) zu einem Teil eines bestimmten größeren Ganzen werde. Ohne diese Funktionsvorschrift ginge es in dem Beispiel schlicht um das Deutsche Reich und Berlin, aber nicht um eine Menge von Staaten und Hauptstädten. Das gedachte Ganze dieser Funktion wäre demnach die Gesamtheit aller Zuordnungen aus dem Definitionsbereich, der die Staaten enthält, und dem Wertebereich, der die Hauptstädte umfasst. Dieses Ganze ließe sich in einer Tabelle, einem Diagramm oder auch einer anderen Form darstellen. Frege erklärte, dass »das eigentliche Wesen der Function« in dem läge, was »ausser dem ›x‹ vorhanden« sei. Das x gehöre gewissermaßen nicht zur Funktion, weil es auf die Elemente im Definitionsbereich verweise, die außerhalb der eigentlichen Funktionsvorschrift bezeichnet würden. Daher sei eine Funktion auch »unvollständig, ergänzungsbedürftig oder ungesättigt zu nennen«50. Genauso verhielte es sich auch bei einem Begriff, der ja nicht das konkrete Ding sei. Zwei architekturtheoretische Beispiele sollen zeigen, dass das mathematische Verständnis von Funktion als Teile-Ganzes-Relation und Aktivisch-Veränderliches auch im Architekturdiskurs herangezogen wurde. So interpretierte Adrian Forty 2000 eine Funktion folgendermaßen:

47 Euler 1885. Auch die Bezeichnung f(x) ist eine Erfindung Eulers, die er erstmals 1734/35, in den Commentarii Academiae Petropolitanae, erschienen 1740, gebrauchte. 48 Frege 1891, S. 15. 49 Ebd., S. 18. 50 Ebd., S. 6.

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»Eine ›Funktion‹ beschreibt das Ergebnis der Aktion einer Quantität auf eine andere; bezogen auf Architektur ist die Frage, was agiert auf was? Seit dem ersten Gebrauch von ›Funktion‹ im achtzehnten Jahrhundert bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts war die Quantität, auf die agiert wurde, fast immer die tektonischen Elemente eines Gebäudes, seine ›Struktur‹ [...]; die Quantitäten, die die Aktion ausführten, waren prinzipiell die gebäudeeigenen mechanischen Kräfte.«51

Forty erklärte hier also eine architektonische Funktion, zumindest für die Zeit vor dem zwanzigsten Jahrhundert, als Aktion. Die Elemente des Definitionsbereichs bestimmte er als die »gebäudeeigenen mechanischen Kräfte«, die Elemente des Wertebereichs als die »tektonischen Elemente eines Gebäudes«. Während die ersten Elemente aber klar eine Quantität darstellen, ist es etwas vage, was die Quantität bei den zweiten Elementen meint. Man könnte diese Quantitäten als Dimensionen von Länge, Breite und Höhe dieser tektonischen Elemente präzisieren, und dann ergäbe sich eine eindeutige Abhängigkeitsbeziehung der einwirkenden Kräfte und der Dimensionierung der Bauteile. Verändert sich x, also zum Beispiel die auf eine Stütze einwirkende Belastung, verändert sich auch y, also zum Beispiel der Durchmesser dieser Stütze. Das größere Ganze dieser Funktion aber ist die Summe dieser Zuordnungen von Belastung und Durchmesser, die man in einem Koordinatensystem auftragen oder in eine Tabelle eintragen kann. Ob Forty seine Interpretation allerdings so gemeint hat, sei dahingestellt. Peter Bernhard führte 2007 den gestalterischen Funktionsbegriff ebenfalls auf die Mathematik zurück, und zwar betonte er den Aspekt der Relation. Wie viele vor ihm bestimmte er die Idee des Funktionalismus und der architektonischen Funktion als Zweck-Form-Relation. Anders als in dem gezeigten Titelblatt der archithese, auf dem nur einmal das Wort Zweck und einmal das Wort Form vorkommt, und diese beiden Worte durch Pfeile von Zweck nach Form verbunden sind (»zweck   form«), führte Bernhard eine Reihe von Zwecken, eine Reihe von Formen und eine Reihe von Pfeilen an. Damit stellte er dar, dass es sich bei einer Funktion um die Relation einer Definitionsmenge (mehrere Zwecke) und einer Wertemenge (mehrere Formen) handelt, und diskutierte dann verschiedene Zuordnungsvorschriften, die er mit den Pfeilen dargestellte. Am Ende seines Aufsatzes erweiterte er das Verständnis einer Funktion als Relation um die zusätzlichen Kriterien der »internen Aktivität« und der »Verflochtenheit im System«52 – Kriterien, die uns nach dem bisher Gesagten nicht mehr unbekannt sind. Was kann man also zusammenfassend aus den Überlegungen zum mathematischen Funktionsbegriff für die Architekturtheorie mitnehmen? Die hauptsäch-

51 Forty 2000, S. 174 (engl.). 52 Bernhard 2007, S. 11.

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liche Schlussfolgerung ist, zur Klärung des Sachverhalts stets nach drei Dingen zu fragen, nämlich erstens was die Relation, zweitens was Teile und was Ganzes und drittens was das Aktive oder die Veränderlichkeit ist. Wenn alle diese Komponenten vorhanden sind, handelt es sich um eine Funktion. Und diese Interpretation gilt gleichermaßen für den Funktionsbegriff im lateinischen Ursprung, der Naturgeschichte und der Biologie. Auch der soziologische Funktionsbegriff sei hier kurz angeführt, zum Ersten weil er vielfach und vor allem von Architekten der Klassischen Moderne und des 1960er-Jahre-Funktionalismus aufgenommen wurde. Zum Zweiten weil funktionalistische Ansätze in der Soziologie bis heute fruchtbar weiterentwickelt werden. Drittens sind gerade in der Soziologie die drei Merkmale des Funktionsbegriffs, die auf den letzten Seiten herausgearbeitet wurden, also die Merkmale des Aktivischen, der Teilerelation und des Ganzheitsbezugs, deutlich erkennbar. Im Abschnitt über Etymologie konnte man sehen, dass sich functio in seinem lateinischen Ursprung hauptsächlich auf menschliche Leistungen bezog. Auch noch Thomas von Aquin hatte im dreizehnten Jahrhundert »die Tätigkeit eines Amtsinhabers oder einer Institution als functiones«53 bezeichnet. Man könnte also sagen, dass der Funktionsbegriff schon in seinem Ursprung auf das aktive Verhältnis eines Einzelnen zu seinem Staat, zu seinem jeweiligen gesellschaftlichen System abzielte. Allerdings konnte man hier noch nicht von der Disziplin der Soziologie sprechen, die sich erst im neunzehnten Jahrhundert herausbildete. Die Soziologie selbst hatte von Anfang an einen Funktionsbegriff, was sich daraus ergab, dass ihr Begründer Auguste Comte in seinem sechsbändigen Werk Cours de philosophie positive von 1830-42 eine Einheitswissenschaft entwickelte, die sich auf Mathematik gründete und hierarchisch aufbaute auf den fünf Wissenschaften der Astronomie, Physik, Chemie, Biologie und Soziologie. Nach Comte entwickelte sich jede Wissenschaft aus der ihr vorhergehenden und bezog deren Gesetze mit ein, sodass die Biologie einerseits auf der Chemie gründete und andererseits die Basis der Soziologie bildete. Aus der Biologie übertrug Comte die Idee des Organismus und mit ihr das Konzept der Funktion auf die Soziologie. Die Gesellschaft verglich er mit einem »sozialen Organismus«, der zum »Studium der gegenseitigen Wirkungen und Gegenwirkungen, die alle Teile des sozialen Systems aufeinander ausüben«54, auffordere. Eindeutig zeigten sich bei Comte die oben bestimmten Merkmale der Funktion, also der Aktion (Wirkung), der Relation (Teile) und des Systems (Ganzes). Den gleichen Funktionsbegriff verwendete auch Herbert Spencer. Sein Werk The Principles of Sociology, das 1876-96 in drei Bänden erschien, enthielt Über-

53 Thiel 1973, S. 511. 54 Comte 1974, S. 83.

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schriften wie »Eine Gesellschaft ist ein Organismus«, »Soziale Strukturen«, »Soziale Funktionen« oder »System der Organe«. Spencer definierte eine »Gesellschaft als eine Entität«55, und »Entität« sei überhaupt die grundlegende Idee einer Gesellschaft. Sie bestehe aus Teilen, mit zunehmender Komplexität auch aus Teilsystemen. Analog zum biologischen Organismus, der aus Organsystemen bestehe, gäbe es in der Gesellschaft Systeme der Erhaltung, der Verteilung oder der Regulierung. Spencer verstand unter Funktion die auf die Entität des Organismus oder der Gesellschaft gerichteten, »wechselseitig-abhängigen Aktionen [mutuallydependent actions]«56. So stellte er zum Beispiel fest: »Wo Teile wenig differenziert sind, können sie leicht ihre gegenseitigen Funktionen ausführen; aber wo sie sehr differenziert sind, können sie ihre gegenseitigen Funktionen sehr unvollkommen ausführen, oder überhaupt nicht. [...] Aber in Gesellschaften wie die unsere, die industriell und anderweitig in hohem Grad spezialisiert ist, kann die Aktion eines Teils, das in seiner Funktion versagt, nicht von anderen Teilen übernommen werden.«57

Der Leitsatz, den man schon in der Biologie lesen konnte, wurde hier wiederholt: Je höher ein Organismus oder hier eine Gesellschaft entwickelt ist, je spezialisierter sind die Teile mit ihren Funktionen. In der Soziologie des zwanzigsten Jahrhunderts wurden die Ideen der Funktion und des Funktionalismus außerordentlich stark, und zwar zeitgleich mit der Herausbildung des Worts Funktionalismus in der Architektur, also Anfang der 1930er Jahre. Alfred Radcliffe-Brown zum Beispiel definierte in seinem Artikel On the Concept of Function in Social Science von 1935 eine Funktion als »Beitrag einer Teilaktivität zur Gesamtaktivität, deren Teil sie ist«58. Eine derartige Sichtweise implizierte, dass ein soziales System eine bestimmte Einheit darstellte, die aber für Radcliffe-Brown nur hypothetisch war und dazu diente, die sozialen Strukturen besser zu untersuchen. Radcliffe-Browns wie auch Bronislaw Malinowskis und Talcott Parsons’ Theorien wurden als Strukturfunktionalismus bezeichnet, denn sie argumentierten, dass die gesellschaftlichen Funktionen der »Aufrechterhaltung des strukturalen Fortbestehens« dienten59. Generell verwies dabei das (Ordnungs-)

55 Spencer 1966, S. 436 (engl.). 56 Ebd., S. 473. 57 Ebd., S. 475-7. 58 Radcliffe-Brown 1952, S. 181: »By the definition here offered ›function‹ is the contribution which a partial activity makes to the total activity of which it is a part.« 59 Ebd., S. 180: »The function of any recurrent activity, […] is the part it plays in the social life as a whole and therefore the contribution it makes to the maintenance of the structural continuity.«

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System der Struktur auf den einzelnen Platz im Ganzen, im Gegensatz zum (Ordnungs-)System der Funktion, das auf die Aktion eines Teils verwies. Talcott Parsons nannte für ein gesellschaftliches System vier Hauptfunktionen: erstens Anpassung an die Umwelt (adaption), zweitens Zielstrebigkeit in der Abwehr von Gefahren (goal attainment), drittens Integration der Subsysteme (integration) und viertens Bewahrung der untergründig tragenden Werteideen (latent pattern maintenance). In dieser Reihenfolge wurden die Funktionen als AGILSchema bekannt. Bei Parsons ist darüber hinaus besonders interessant, wie er die Begriffe von Struktur und Funktion mit den Begriffen von Status und Rolle verknüpfte, was aufschlussreich für alle vier Begriffe ist: »Auf der einen Seite steht der Positionsaspekt – der des Platzes, den der in Frage stehende Handelnde in dem sozialen System relativ zu anderen Handelnden einnimmt. Dies ist, was wir seinen Status nennen werden, sein Ort im Beziehungssystem als Struktur, d.h. als strukturiertes System von Teilen, verstanden. Auf der anderen Seite steht der Prozeßaspekt, der Aspekt dessen, was der Handelnde in seinen Beziehungen mit anderen tut, gesehen im Kontext seiner funktionalen Bedeutung für das soziale System. Dies werden wir seine Rolle nennen.«60

Parsons betonte hier also vor allem den aktivischen Prozessaspekt des Funktionsbegriffs im Gegensatz zur Struktur, denn beide, Struktur und Funktion, sind TeileGanzes-Relationen, aber nur die Funktion ist aktivisch. Auf das Begriffspaar Funktion-Struktur wird in späteren Kapiteln zurückzukommen sein, da es insbesondere im Architekturdiskurs der 1960er und 70er Jahre sichtbare Spuren hinterließ. Die Vorstellung von Funktion als Rolle wird heute aber auch besonders in jenen Architekturdiskussionen interessant, die unter der Bezeichnung Performative Architektur geführt werden und die im letzten Kapitel dieses Buches eingehend behandelt werden. Die Annahme einer Gesellschaft als funktionale Einheit ist bis heute Gegenstand der Soziologiediskussion. Was meint Einheit einer Gesellschaft, zum Beispiel im Kontext einer offenen Gesellschaft? Wie steht es mit den Teilen, denn jede »Gesellschaft enthält nämlich nicht nur organisierte, sondern auch unorganisierte soziale Subsysteme«61? Wenn Niklas Luhmann 1962 bestimmte, als »funktional« gelte »eine Leistung, sofern sie der Erhaltung einer komplex strukturierten Einheit, eines Systems dient«62, so muss man heute fragen, ob Gesellschaften denn wirklich ihre Aufrechterhaltung anstreben. Und wie ist eine globale Gesellschaft als funktionale

60 Zitat in Dahrendorf 1955, S. 505. 61 Boudon/Bourricaud 1992, S. 151. 62 Luhmann 1962, S. 618.

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Einheit denkbar? In diesen Fragen sieht man, dass das Konzept der Funktion überall präsent ist. Was man aus der Soziologie für das Funktionsverständnis in der Architektur mitnehmen kann, ist vielschichtig. Die Frage, was Funktion, Zweck oder System bedeuten, stellt sich in beiden Disziplinen in oft sich überlagernder Weise. Man kann hier als vergleichendes Beispiel die Diskussion und Kritik der Funktionentrennung in der Gesellschaft und in der Architektur anführen. Die Ansicht, dass Organismen und Gesellschaften umso komplexer sind, je differenzierter ihre Funktionen ausgebildet sind, war schon Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts weit verbreitet. In der Soziologie gab es schon früh eine Kritik an der Funktionentrennung. So richtete Emile Durkheim in seinem 1893 erschienenen De la division du travail social sein Augenmerk auf die arbeitsteilige Gesellschaft, deren Hauptproblem er darin sah, dass »die Funktionen, die sich im Verlauf des Umschwungs voneinander getrennt haben, noch keine Zeit gehabt [haben], sich einander anzupassen«63. Auf der anderen Seite fand das Thema der Funktionentrennung in den Städtebaudiskussionen seit den 1930er Jahren weite Verbreitung, zum Beispiel als Forderung nach Trennung von Wohnen, Arbeiten, Erholung und Verkehr. Diese Trennung wurde später einer der Hauptangriffspunkte für die Architektur des zwanzigsten Jahrhunderts und sogar mit der Idee des architektonischen Funktionalismus gleichgesetzt: »Der Funktionalist analysiert die Teilaspekte des Problems, bestimmt ihre Besonderheiten, trennt die Bestandteile, um sie wieder nach Funktion zu assoziieren und arbeitet die Lösung aus diesen Prämissen aus. [...] In seinem Anliegen, das Leben in fragmentarische und exakte Bedürfnisse zu zerschneiden, ist der Funktionalismus absurd.«64

Dieses weit verbreitete Verständnis des Funktionalismus erscheint nach dem bisher gesagten als verkehrte Welt, denn Funktionen, wie wir gesehen haben, zielen ja auf das Zusammenwirken zum Ganzen und nicht auf dessen Zerteilung. Gründe für diese Entwicklung werden vor allem im vierten und fünften Kapitel untersucht. Vorausgreifend kann man aber nicht pauschal sagen, dem architektonischen Funktionsbegriff sei im Laufe der Moderne einfach der Ganzheitsgedanke verloren gegangen. So schrieb zum Beispiel Heinz Hirdina ganz gegenteilig über architektonische Funktion: »Wohl am häufigsten aber kommt das Verhältnis von Teil und Ganzem ins Spiel: mit Funktionen, die auf ein Ganzes bezogen sind.«65

63 Zitat in Korte 2004, S. 71-2. 64 Gallo/Schnaidt 1989, S. 26, 28. 65 Hirdina 2001, S. 589.

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F UNKTIONEN

UND

Z WECKE

Es muss hier noch auf zwei Soziologen eingegangen werden, die für die Idee der Funktion besonders erhellend sind. So ist Robert King Mertons berühmter Aufsatz Manifest and Latent Functions (Manifeste und Latente Funktionen) von 1949 anzuführen, weil er darin die konfuse Verwendung des Worts Funktion beanstandete. Im allgemeinen Sprachgebrauch würde Funktion oft gleichgesetzt mit »Gebrauch, Nützlichkeit, Zweck, Motiv, Intention, Ziel, Konsequenzen«66. Merton leitete daraus die Notwendigkeit einer genaueren Überprüfung des Begriffs und insbesondere seiner Abgrenzung zum Begriff des Zwecks (purpose) ab. Zweck nannte Merton eine »subjektive Kategorie«, im Gegensatz dazu Funktion eine »objektive Kategorie«. Er beklagte eine Vermischung dieser beiden Kategorien und forderte ihre klare Unterscheidung, um sich nicht »in einer Wolke diffuser Definitionen« zu verlieren67. Die beiden Begriffe mischten und verwirrten sich vor allem dann, so Merton, wenn der vom Subjekt gesetzte Zweck und seine Konsequenz im Objekt zusammenfallen. – Und dies ist in der Architektur eigentlich immer der Fall. Insbesondere die Systemtheorien der 1960er Jahre trieben die genaue Differenzierung wie auch eine sich anschließende Integrierung von Funktion und Zweck stetig voran. Niklas Luhmann zum Beispiel versuchte in seinem Buch Zweckbegriff und Systemrationalität: Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen von 1968 Zweck- und Funktionsbegriff zusammenzuführen. Der Zweck, so Luhmannn, gibt einer Handlung »seinen Sinn und seine Rechtfertigung«, er ist »für den Handelnden zugleich Grund und Richtmaß seines Handelns«68. Luhmann stellte sich dann die Frage, wie man aus einem isolierten Zweck ein System von aufeinander reagierenden Zwecken machen könne. Denn eigentlich spielen in Systemen isolierte Zwecke keine Rolle, sondern nur sich aufeinander beziehende Funktionen. Für eine »Theorie komplexer Handlungssysteme« müsse man »die Frage nach dem Wesen des Zweckes durch die Frage nach der Funktion der Zwecksetzung« ersetzen, so die Antwort Luhmanns, das heißt, es gelte, den Zweck »als Variable mit spezifischen Funktionen in eine umfassende Theorie organisierter Sozialsysteme einzuordnen«69. Dabei warf Luhmann auch die Frage auf, wie ein System, ein Ganzes oder eine Einheit überhaupt zu erklären sei. Einerseits könnten Systeme zwar »nicht kausal aus ihrer Umwelt heraus erklärt werden [...], weil sie auch über interne Ursachen verfügen«. Andererseits bildeten Systemgrenzen »keine

66 Merton 1967, S. 77: »use, utility, purpose, motive, intention, aim, consequences«. 67 Ebd., S. 79 (engl.). 68 Luhmann 1999, S. 10, 68. 69 Ebd., S. 155, 167, 86.

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Grenzen des Wirkungsbereichs der Kausalität. Kausalprozesse fließen aus der Umwelt in das System und aus dem System in die Umwelt.«70 Daraus entwickelte Luhmann seine Definition, dass Systeme »Identitäten« seien, »die sich in einer komplexen und veränderlichen Umwelt durch Stabilisierung einer Innen/AußenDifferenz erhalten.«71 Die Architekturtheorie kann hier von der Soziologie lernen, sich die Konzepte von Funktion und Zweck differenzierter anzueignen, als sie das bisher getan hat. In der Soziologie wird die Vermengung der Begriffe Zweck und Funktion vehementer und eindeutiger beanstandet als in der Architektur. Zwar konnte man vor allem in den 1970er Jahren bei Architekturtheoretikern die Klage lesen, dass Gleichsetzungen von Funktion, Nützlichkeit, Zweckmäßigkeit, Zweck, Bestimmung, Aufgabe, Bedürfnis oder Sachlichkeit an der Tagesordnung seien, doch daraus folgte bisher keine tiefere Analyse der Terminologie, sondern allenfalls war man froh, eine Antwort darauf gefunden zu haben, warum jeder unter Funktionalismus etwas anderes verstand und die Architektur, die dieses Etikett angeheftet bekam, so verschieden war. Dabei lassen sich relativ einfach drei Kriterien zur Unterscheidung von Funktion und Zweck angeben, die sowohl für die Architektur wie auch für die anderen hier besprochenen Disziplinen gelten, und die nun bereits mehrfach benannt wurden. Das erste Kriterium ist das der Relation. Zweck und Funktion sind beide Relationsbegriffe, doch die Art ihrer Relationen ist verschieden. Zweck zeigt eine Subjekt-Objekt-Relation an, in der ein Subjekt einen Zweck setzt und dazu ein Objekt als Mittel verwendet. An dem Wort Zweck hängt also immer auch das Wort Mittel. Funktion dagegen zeigt eine Objekt-Objekt-Relation an. Damit ist gemeint, dass Objekte sich gegenseitig beeinflussen, ohne dass ein Subjekt in den Vordergrund tritt, das einen zwecksetzenden Willen hat. Das zweite Kriterium ist die verschiedenartige Ausrichtung dieser Relationen. Wie man sehen konnte, bezieht sich die Funktion auf ein Ganzes, eine Struktur oder ein System. Ein Ganzes besteht aber nie aus einem Teil allein, die Funktionsträger sind also Teile, und die Relationen sind Teile-Ganzes-Relationen. Im Gegensatz dazu ist beim Zweck die Idee von Teilen und Ganzem völlig unwichtig. In der Zweck-Mittel-Relation ist es gleichgültig, ob das Mittel, das heißt das Objekt, aus Teilen besteht oder nicht, Hauptsache es erfüllt seinen Zweck. Das Konzept von Teil und Ganzem ist also nur der Funktion zu eigen, nicht aber dem Zweck. Für Luhmann zum Beispiel kann sich ein Zweck nur dann in ein System einordnen, wenn man eine Einzelhandlung in ein System von Handlungen einbindet, und somit aus ihr eine Teilhandlung in einem Ganzen macht. Und nur im Konzept von Teilen

70 Ebd., S. 194-5.

71 Ebd., S. 175.

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und Ganzem kann man von Subsystemen, Subrelationen und hierarchischen Strukturen sprechen, und somit Komplexitäten denken. Das dritte Kriterium ist das Aktivische. Es sei dahingestellt, ob ein Zweck mit der Idee einer Aktion verbunden sein kann, dies gilt aber, wie man sehen konnte, auf jeden Fall für die Funktion. Der Unterschied lässt sich schon am Wortstamm erkennen. Functio (Funktion) ist ein Abstraktum zu fungi (verrichten), hat also eine Verbalwurzel. Zweck dagegen meint ursprünglich ein Ding, nämlich einen Pflock oder eine Zwecke in einer Zielscheibe. Zu zeigen, wie man in der Architektur diese drei Kriterien der Funktion denken kann, ist eine Herausforderung dieses Buchs. Grundsätzlich könnte man aber auch fragen, ob und wozu man in der Architektur denn überhaupt die beiden Konzepte von Funktion und Zweck auseinanderhalten sollte. Darüber sind sich auch die heutigen Architekturtheoretiker keineswegs einig. Einige treten vehement für eine Differenzierung ein, andere halten dies eher für überflüssig. In vielen Architekturtexten zeigt sich aber, dass ein geschichtliches Verständnis für die beiden Begriffe vorhanden ist. In Heinz Hirdinas Untersuchung zur architektonischen Funktion stellte er zum Beispiel fest: »Begriffsgeschichtlich nimmt der Gebrauch von Zweck, Zweckmäßigkeit und anderen in der Frühphase des Werkbundes gebräuchlichen Termini ab, die seit Mitte der 20er Jahre durch Funktion, funktional, funktionell und – seltener – funktionalistisch ersetzt werden«.72 Vor allem im vierten Kapitel werden Gründe dafür gesucht, wie es möglich war, dass der eine Begriff den anderen anscheinend verdrängen konnte. Im Vorgriff könnte man hier spekulieren, dass diese Verdrängung des Zweckbegriffs durch den der Funktion kein isoliertes, auf die Architektur beschränktes Phänomen war, sondern eines der Industriegesellschaft, in der der Mensch zunehmend nicht mehr als Subjekt (also zwecksetzender Wille) sondern als Objekt (also funktionierender Teil) einer objektivierten Masse betrachtet wurde. Menschen setzten keine Zwecke mehr, sondern nahmen Funktionen in der Gesellschaft wahr. Das galt übertragen auf die Architektur zum Beispiel für die Verdrängung von individuellen Wohnhäusern durch den Massenwohnungsbau, in dem Wohnungen in Funktionen aufgeteilt wurden. Die Ver-

72 Hirdina 2001, S. 598. Hirdina war sich der drei Kriterien einer Funktion klar bewusst. Vgl. z.B. S. 589: »Gegenüber dem Autonomen verweisen Termini im Umfeld von Funktion [...] immer auf eine Abhängigkeit: von einem Ziel in der Spanne zwischen pragmatisch und teleologisch; von einer Aufgabe zwischen technologisch und sozial; von einem Problem, das zu lösen ist; von einer Struktur, die Träger von Funktionen ist; von einer Konstanten, die den Spielraum der Variablen bestimmt; von Bedingungen, die gegeben sein müssen, um das Potentielle einer Funktion in einer Aktion, einer Tätigkeit, einem Prozeß realisieren zu können. Wohl am häufigsten aber kommt das Verhältnis von Teil und Ganzem ins Spiel: mit Funktionen, die auf ein Ganzes bezogen sind.«

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drängung von Zweck durch Funktion hat hier also etwas mit dem ersten Kriterium, der Umwandlung von Subjekt-Objekt- zu Objekt-Objekt-Relationen zu tun. Auch Andreas Dorschel stellte in seinem bereits erwähnten Buch fest, dass »die Begriffe des Nützlichen und des Zwecks [...] in der Philosophie der Gestaltung durch den der Funktion [...] ersetzt worden«73 sind. Er führte als Hauptargument für diese Verdrängung an, dass Funktion eine Technikbegeisterung impliziere. Die Frage nach dem »Wie?« (Wie funktioniert eine Maschine?) habe die Frage nach dem »Was?« (Zu welchem Zweck?) verdrängt. Zweck verkörpere die Frage nach dem »Was?«, Technik die Frage nach dem »Wie?«. Dorschel kritisierte, dass Funktion eine diffuse Bedeutung habe, unter der man sowohl Zweck als auch Technik verstünde, und kam zu dem Schluss, es sei aufgrund dieser diffusen Bedeutung »angezeigt, nicht Funktion, wie der moderne Funktionalismus es tat, sondern Zweck und Technik als Grundbegriffe einer Theorie der Gestaltung«74 voneinander zu unterscheiden. Dorschel stellte also das dritte Kriterium der Funktion, die Aktion, in den Vordergrund, um die Abgrenzung von Zweck und Funktion zu präzisieren. Auf das Funktionieren, auf das Gebäude als Maschine schien es ihm anzukommen, und auf das Interesse der Industriegesellschaft an einer Gestaltung, in der »Technik sich als solche ausstellt«75. Anders Adrian Forty, der in seinem Buch Words and Buildings ein Kapitel dem architektonischen Konzept der Funktion widmete. Forty interpretierte den Gebrauch von Funktion in der Architektur im achtzehnten Jahrhundert als mathematische, im neunzehnten Jahrhundert als biologisch-organische Metapher. Für die Klassische Moderne erklärte er die Austauschbarkeit der Worte als Übersetzungsproblem vom Deutschen ins Englische. So wären die deutschen Worte sachlich, zweckmäßig und funktionell alle mit dem englischen Wort functional übersetzt worden, womit die Tiefe des Konzepts verloren ging. Für Forty machte es damit wenig Sinn, die Begriffe voneinander zu unterscheiden, da diese aufgrund ihrer vereinfachenden Übersetzung vor allem zwischen 1930 und 1960 ohnehin nicht mehr unterschieden wurden. Er übersetzte dann auch freimütig zweckmäßig mit »functional«, Zweckmäßigkeit mit »functionality«, Zweckbauten mit »functional structures«, Zweck mit »function«, und zweckbehaftet mit »function-proclaiming« – dabei hätte er auch zum Beispiel zweckmäßig mit »purposeful«, und Zweckmäßigkeit mit »purposiveness« übersetzen können. Sein Kapitel endet kritisch mit der Bemerkung, Funktion sei als »unangemessene Metapher« in die Architektur eingeführt worden. Als Alternative müsse man eine »angemessene Terminologie« entwickeln, »um ›Funktion‹

73 Dorschel 2002, S. 38. 74 Ebd., S. 40. 75 Ebd., S. 39.

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zu ersetzen oder andernfalls ›Funktion‹ von seinen biologisch- und umweltdeterministischen Konnotationen zu bereinigen«76. Vor allem seit den Funktionalismuskritiken der 1970er und 80er Jahre fallen die Begriffe von Funktion und Zweck zusammen. Darauf wird im fünften Kapitel umfassender eingegangen. Tim Benton mag hier stellvertretend stehen, als er 1990 beklagte, im »normalen Sprachgebrauch meint das Wort ›Funktion‹ wenig mehr als ›Gebrauch‹ oder ›Zweck‹«77. So gesehen ist es sinnvoll, auch die Gleichsetzung in den jeweiligen Interpretationen der Zeit zu berücksichtigen, damit man das gemeinte überhaupt versteht. Ob man zwischen Zweck und Funktion in der Architektur unterscheiden muss, kommt ganz auf den Zusammenhang an. Ein eindeutiger Gebrauch trägt zu einem genaueren Architekturdiskurs bei, eine klare Trennung ist aber auch nicht immer möglich oder notwendig. Die Unterscheidung, wie sie in diesem Kapitel vorgenommen wurde, zeigt, dass sich hinter Funktion und Zweck zwei unterschiedliche Sichtweisen auf Architektur manifestieren, die beide gleich wichtig sind: die Betrachtung eines Architekturobjekts als Mittel für einen Zweck ist grundsätzlich verschieden von der Betrachtung dieses Architekturobjekts als Teil in Bezug auf die Herstellung eines Ganzen. Letzteres ist eine Architekturdiskussion jenseits eines Zwecksetzers, mit anderen Worten, man betrachtet das Architekturobjekt zweckfrei oder autonom und also jenseits der leidigen Diskussion, ob Architektur eine – zweckfreie – Kunst sei. Vor allem die Klassische Moderne vor 1930 hat darin die besondere Gelegenheit erkannt, sich dieser Diskussion zu entledigen. Und vor allem in der Stararchitektur am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts kann man des Öfteren sehen, dass ein Gebäude in sich als Werk funktioniert und gleichzeitig recht unzweckmäßig für den Benutzer erscheint. Gebäude und Städte haben Funktionen, sie sind zudem immer Mittel zu Zwecken. Menschen (als beabsichtigende Subjekte) verfolgen mit dem Bau von Gebäuden viele Zwecke, auch den Zweck, sich künstlerisch auszudrücken. Gebäude bestehen aber auch aus Teilen, die in ihren Funktionen einen Wirkungszusammenhang und damit ein Gebäude realisieren. Und Gebäude wiederum sind selbst Teile im größeren Funktionszusammenhang ihrer Umgebung. Im Architekturdiskurs führt also die Unterscheidung dieser grundsätzlichen Konzepte zu einer differenzierteren Sichtweise auf Architektur. Dieses Kapitel zusammenfassend wird nun vorgeschlagen: Um dem Funktionsbegriff näher zu kommen und vom Zweckbegriff abzugrenzen, sollte man statt der bisher gestellten Frage Was für eine Funktion hat ein Element (Bauteil, Raum, Gebäude, Stadt, etc.)?, in der immer die Frage nach der Zweckmäßigkeit mitschwingt,

76 Forty 2000, S. 195 (engl.). 77 Benton 1990, S. 42 (engl.). Benton sprach von »function«, »use« und »purpose«.

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eher die folgenden drei Fragen stellen: Wie funktioniert dieses Element? Welche Elemente funktionieren zueinander? Bezogen auf welches Ganze hat dieses Element eine Funktion? Diese drei Fragen beziehen sich auf die in diesem ersten Kapitel herausgearbeiteten Kriterien der Funktion, die mit Aktion, Teile-Relation und Ganzheitsbezug umschrieben wurden. Sie sind für alle hier angesprochenen Disziplinen gültig, denn Funktion ist ein disziplinenübergreifendes Konzept. Es wird hier die These aufgestellt, dass nur alle drei Fragen zusammen den Funktionsbegriff verständlich machen können. Zwar kann die Betonung zuweilen auf einem bestimmten Merkmal liegen, doch kann man von Funktion nur sprechen, wenn alle drei Aspekte erfüllt sind. Zusammengenommen haben sie die Bedeutung von Wirken eines Elements in einem und für ein System, in den Worten des Biologen Benninghoff eine »Ausrichtung der Teilvorgänge auf das Ganze« oder mit dem Soziologen RadcliffeBrown ein »Beitrag einer Teilaktivität zur Gesamtaktivität, deren Teil sie ist«78. Von erheblicher Relevanz in diesem Kontext ist dann die Frage, wie sich Funktionen und Formen gegenseitig manifestieren.

78 Benninghoff 1935/36, S. 152; Radcliffe-Brown 1952, S. 181.

Funktion und Repräsentation

Wenn im Folgenden der ersten Verwendung des architektonischen Funktionsbegriffs nachgegangen wird, so wird dabei nicht nur das Ziel verfolgt, seine Geschichte darzustellen. Es geht vor allem darum, seine Zeitlosigkeit zu erörtern, also zu zeigen, auf wie viele verschiedene Weisen dieser Begriff gedacht und interpretiert werden kann. Zwar darf man den geschichtlichen Kontext nicht außer Acht lassen, in dem Carlo Lodoli (1690-1761) den Begriff zum ersten Mal für die Architektur gebrauchte, doch ist die Aktualität seines Gedankengangs der eigentliche Grund der folgenden Auseinandersetzung.

C ARLO L ODOLI Carlo Lodoli wird die Einführung des Funktionsbegriffs in die Architekturtheorie zugeschrieben und daher häufig zur geschichtlichen Herleitung des Funktionalismus herangezogen. So ist er für Emil Kaufmann »der erste Verfechter des Funktionalismus«, bei Joseph Rykwert und Hanno Walter Kruft wird er »zu einem der Begründer des Funktionalismus und Rationalismus« und »zum bedeutendsten Vorläufer des modernen Funktionalismus«, und für Diana Bitz ist der Einfluss von Lodolis Gedanken in den Schriften und Werken John Soanes und George Dances im achtzehnten Jahrhundert sowie Gottfried Sempers und der Moderne im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert evident1. Lodoli war eine illustre Figur im Venedig des achtzehnten Jahrhunderts. Porträts zeigen ihn bescheiden als Franziskanermönch, doch hielt er wichtige Ämter wie das des Oberzensors der Republik Venedig inne. Er hinterließ einen tiefgehenden Eindruck bei vielen seiner aristokratischen Zöglinge, die später auch über Architektur schrieben, unter ihnen Andrea Memmo, Francesco Algarotti und Gio-

1

Kaufmann 1955, S. 95 (engl.); Rykwert 1983, S. 198; Kruft 1995, S. 223; Bitz 1992, S. 22.

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Abbildung 4: Carlo Lodoli, Kupferstichporträt 1786.

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vanni Battista Piranesi. Die Porträts sind umrahmt mit Zirkeln und Architekturplänen, die ahnen lassen, wie wichtig ihm die Architektur war. Lodoli war kein Architekt, doch führte er 1743 einen Anbau an sein Kloster San Francesco della Vigna aus, den man heute noch besuchen kann. Man bezeichnete ihn als »Meister des Denkens und der Moral«, »Prediger von Wahrheit und Vernunft«, »Forscher nach Wahrheit und Zerstörer von Mythen und Vorurteilen«2. Wegen seines scharfsinnigen Zynismus’ und seiner eigenwilligen Lehrmethoden wurde er oftmals mit Sokrates verglichen, wie auch die Unterschrift des hier dargestellten Kupferstichporträts zeigt: »Il Socrate Architetto« [Abb. 4]. Er veröffentlichte keine eigenen Schriften über Architektur, sondern überließ dies seinen Schülern und Verehrern – auch dies ein Bezug zu Sokrates. Die Beschriftung des Kupferstichporträts und zwei Manuskripte zu architektonischen Lehrbüchern sollen allerdings unmittelbar auf Lodolis eigene Anweisungen zurückzuführen sein3. Im Bildnis und im zweiten Manuskript hat das Wort Funktion einen hervorgehobenen Platz, was darauf hindeutet, dass Lodoli es sehr bewusst als Begriff einsetzte und auf diese Weise ein neues architektonisches Stichwort schaffen wollte. Zunächst zum Porträt, das in Andrea Memmos Veröffentlichung von 1786 abgedruckt war. In ihm lassen sich einige interessante Verweise entschlüsseln. Das Spruchband »DEVONSI UNIR E FABRICA E RAGIONE - E SIA FUNZION LA RAPRESENTAZIONE«, das Lodolis Porträt umrahmt, lautet wörtlich übersetzt: »MAN MUSS HERSTELLUNG UND VERSTAND VERBINDEN – UND FUNKTION SEI REPRÄSENTATION«. In den 1960er Jahren, in denen der Funktionalismus hitzig diskutiert wurde, hat Edgar Kaufmann »funzione e rappresentazione« mit »function and form«4 ins Englische übersetzt mit der eindeutigen Absicht, einen Bezug zu dem berühmten Diktum »form follows function« herzustellen, das Louis Sullivan in seinem Aufsatz The Tall Office Building Artistically Considered von 1896 erstmalig verwendete. Die beabsichtigte Schlussfolgerung: Nicht erst Sullivan brachte die Begriffe von Funktion und Form in der Architektur zusammen, sondern bereits das achtzehnte Jahrhundert. Damit bescheinigte Kaufmann dem angeblich so ungeschichtlichen Funktionalismus eine zweihundertjährige Tradition. Die erste Hälfte dieses Spruchs, genauer gesagt die beiden Worte fabrica und ragione, verwiesen auf eine Textstelle in Vitruvs De Architectura Libri Decem:

2

Torcellan 1963, S. 31, 35, 190 (ital.).

3

Beschreibungen von Lodolis Leben und Interpretationen seines Porträts und seiner Manuskripte finden sich z.B. in: Memmo 1833/34; Torcellan 1963; Kaufmann 1964; Rykwert 1983; Frascari 1981; Frascari 1989; Pérez-Gómez 1983; Bitz 1992; Germann 1993; Kruft 1995; Neveu 2005.

4

Kaufmann 1964, S. 165.

42 | F UNKTIONEN UND F ORMEN »Des Architekten Wissen umfaßt mehrfache wissenschaftliche und mannigfaltige elementare Kenntnisse. Seiner Prüfung und Beurteilung unterliegen alle Werke, die von den übrigen Künsten geschaffen werden. Dieses (Wissen) erwächst aus fabrica (Hand-werk) und ratiocinatio (geistiger Arbeit). Fabrica ist die fortgesetzte und immer wieder (berufsmäßig) überlegt geübte Ausübung einer praktischen Tätigkeit, die zum Ziel eine Formgebung hat, die mit den Händen aus Werkstoff, je nachdem aus welchem Stoff das Werk besteht, durchgeführt wird. Ratiocinatio ist, was bei handwerklich hergestellten Dingen aufzeigen und deutlich machen kann, in welchem Verhältnis ihnen handwerkliche Geschicklichkeit und planvolle Berechnung innewohnt.«5

Fabrica bedeutete hier die Erfahrung, die durch das Herstellen eines materiellen Werks im Gegensatz zum Denk-Werk erwuchs. Fabrica meinte wahrnehmende Überlegung im Machen. Ein bedeutender Aspekt von fabrica war, dass sie »zum Ziel eine Formgebung hat«. Vitruv definierte fabrica nicht als Produktion von etwas Zweckmäßigem, sondern als Formgebung, woraus folgt, dass es an dieser Stelle vorrangig um die Form, nicht um den Zweck ging. Diese Formgebung aber war abhängig von den Materialeigenschaften – »je nachdem aus welchem Stoff das Werk besteht«. Demgegenüber meinte ratiocinatio (ragione) reines Denken, das nicht am konkreten Dinglichen hing. Beide, fabrica und ratiocinatio, waren für den Architekten wichtig, um Werke zu prüfen und zu schaffen. Diese Vitruv-Stelle ist eine Schlüsselstelle zur Interpretation Lodolis. Lodoli forderte mit Vitruv, dass Architektur mit Reflektion zu tun habe, die einerseits aus Erfahrung durch Behandlung der Werkstoffe und andererseits dem reinen Denken entstand. Er betonte die Notwendigkeit beider Prozesse und wandte sich mit diesem Hinweis gegen die zeitgenössische Architekturpraxis, historische Vorbilder nachzuahmen. Der Kern der Kritik ergab sich im Zusammenspiel mit einer anderen Vitruv-Stelle. Vitruv zufolge waren die ersten griechischen Tempel als Holzbauten entstanden, deren Formenkanon in späterer Zeit auf die Steintempel übertragen wurde6. Die zeitgenössische Vitruv-Ausgabe von Galiani gab eine bildliche Erläuterung dieser Übertragung wieder, in der man links die ursprüngliche Holzkonstruktion und rechts die Anwendung der Formen in einer Steinkonstruktion sieht [Abb. 5]. Die Formen der antiken marmornen Tempel wären also, so Lodoli, nicht aus ihrem Material Marmor entstanden und seien daher in ihrer Anlage nicht mate-

5

Vitruv 1991, S. 23.

6

Ebd., S. 177, 181: »Von diesen Bauteilen und ihrer zimmermannsmäßigen Ausführung in Holz her haben die Künstler beim Bau von Tempeln in Stein und Marmor deren Anordnungen in Steinmetzarbeit nachgeahmt [...]. Daher haben sie uns von diesen Ursprüngen (vom Holzbau) her festgelegte Symmetrien und Proportionen für jeden einzelnen Stil hinterlassen.«

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rialgerecht. Dass der Steinbau die Formen des Holzbaus nachahme, dass der Steinbau bisher keine material-, also steingerechte Formen herausgebildet hatte, war für Lodoli unhaltbar, umso mehr, als diese Nachahmung immer noch praktiziert wurde. Mit seinem Hinweis auf fabrica und ragione forderte er nichts weniger als eine Infragestellung dieser blinden Übernahme der antiken Formen und die Schaffung

Abbildung 5: Bildliche Erläuterung, wie Vitruv die Übertragung von Formen des Holzbaus auf den Steinbau erklärt. Berardo Galianis Vitruv-Edition, Neapel 1758.

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eigenständiger Formen für jedes Material. Lodoli wählte sich also für seine Kritik zwei bedeutsame Vitruv-Zitate, die sich seiner Meinung nach widersprachen. Damit versuchte er, seine Gegner mit ihren eigenen Waffen – der Verwendung historisch legitimierter Zitate – zu schlagen. Man kann dies als Mahnung verstehen, die Antike weder blind zu übernehmen noch zu verwerfen, sondern diese vorurteilsfrei zu hinterfragen und neu zu interpretieren. Lodoli machte dies vor, indem er in seinem Kupferstichporträt das Vitruv-Zitat mit zwei Worten verknüpfte, die ganz neu und modern waren: funzion und rapresentazione. Diese rechte Hälfte des Spruchbands – »und Funktion sei Repräsentation« – ist schwieriger zu interpretieren. Sie scheint Lodolis eigene Erfindung zu sein. Er stellte hier der Antike etwas Neues gegenüber und verknüpfte Alt und Neu, Antike und Gegenwart zu einem einzigen Satz. Wie diese Verknüpfung in der Architektur praktisch vonstattengehen sollte, darauf geben die beiden Tafeln am unteren Bildrand einen äußerst provokanten Hinweis: »UT ERUAS ET DESTRUAS« (dass Du ausreißen und niederreißen sollst) ist auf der linken, antiken Seite zu lesen, »UT PLANTES ET AEDIFICES« (dass Du pflanzen und aufbauen sollst) auf der rechten, modernen. Auch hier handelt es sich um ein Zitat, und zwar des Propheten Jeremia. Dass man mit diesem Zitat über das Niederreißen und Aufbauen sehr schön auf die Architektur anspielen konnte, war sicher nicht der einzige Grund, warum Lodolis Wahl darauf fiel. So finden sich im Buch des Propheten Jeremia Anspielungen auf die Materialien Stein und Holz, über den Frevel von jenen, »die zum Holz sagen: ›Du bist mein Vater‹ und zum Stein: ›Du hast mich geboren‹«7. Lodoli konnte damit auf die seiner Meinung nach schändliche Austauschbarkeit dieser Materialien im überlieferten und nachgeahmten Formenkanon verweisen. Lodoli legte mit den Jeremia-Tafeln auch Zeugnis für seine Berufung als Architekturprophet ab, in Analogie zur Berufung Jeremias durch Gott: »Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche, daß du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen.«8 Jeremia ging vor allem als derjenige Prophet in die Geschichte ein, dessen Prophezeiungen von niemandem befolgt wurden9. Lodoli kokettierte hier also gleichzeitig damit, dass seine Architekturlehren von den Architekten nicht gehört wurden, und mit Verweisung auf Jeremia musste er es nicht selbst aussprechen: »Kehrt zurück, ihr abtrünnigen Kinder, so will ich euch heilen von eurem Ungehorsam.«10

7

Jeremia 2, 27.

8

Ebd. 1, 10.

9

Vgl. Jeremia 7, 27. Gott sagt zu Jeremia: »Und wenn du schon ihnen dies alles sagst, so werden sie doch nicht auf dich hören; rufst du sie, so werden sie dir nicht antworten.«

10 Jeremia 3, 22.

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Was aber meinten nun Funktion und Repräsentation? Vor Lodoli sprach kein Architekt oder Architekturtheoretiker über Funktionen in der Architektur, weder Vitruv noch Leon Battista Alberti oder Andrea Palladio verwendeten dieses Wort. Man kann verschiedene Thesen aufstellen, von woher Lodoli den Funktionsbegriff in die Architekturterminologie transferiert hat. So hat er zum einen die Schriften Ciceros, einer der wenigen antiken Autoren, die das Wort Funktion verwendeten, studiert. Zum anderen könnte er den Begriff aus medizinischen und naturgeschichtlichen Traktaten entnommen haben, in denen der Begriff seit dem siebzehnten Jahrhundert zunehmend präsent war. In diesen beschrieb Funktion, wie im ersten Kapitel ausführlich gezeigt, eine Interaktion von Organen in einem Körper. Übertragend könnte man schlussfolgern, dass Lodoli Bauteile mit Organen, und Gebäude mit Körpern verglich. Es ginge dann um das Verhältnis von Bauteilen und Bauganzem als inneres Zueinanderwirken mit dem Ziel der Aufrechterhaltung dieses Ganzen. Anders formuliert ginge es dann in der Architektur nicht mehr darum, dass Teile und Ganzes in historisch überlieferten, geometrisch messbaren und sichtbaren Proportionen zueinander stehen, sondern dass dieser Zusammenhang tiefer begründet, im Inneren unsichtbar verborgen und aktiv ist. Außerdem war Lodoli auch äußerst bewandert in Mathematik und wird Leibniz’ und Bernoullis Funktionsbegriff gekannt haben. Wie im ersten Kapitel gezeigt, ging es auch beim mathematischen Funktionsbegriff seit dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts um die Verhältnisse von Teilen und Ganzem, von Punkten und der daraus gebildeten Kurve. Dabei wurde in jeden Punkt einer Kurve eine Bewegung oder Steigung hineingedacht, die durch eine »fallende« oder »steigende« Tangente ausgedrückt werden konnte. Sich darauf festzulegen, aus welcher Disziplin Lodoli den Begriff übernahm, ist schwierig und vielleicht auch müßig. Man kann hier anmerken, dass ja das gesamte achtzehnte Jahrhundert auf der Grundlage der mathesis aufbaute und viele zeitgenössische Theoretiker dazu neigten, Naturgeschichte und Mathematik miteinander zu vermengen. Da sich der Funktionsbegriff in den verschiedenen Wissenschaften gerade erst zu präzisieren begann, gab es noch keine klare Trennung zwischen einem mathematischen, naturwissenschaftlichen, biologischen und soziologischen Begriff. Zum Beispiel, so Leibniz, hingen die Organe eines Körpers voneinander ab wie »die einzelnen Punkte einer Kurve«, die »durch ihre allgemeine Eigenschaft oder Gleichung bestimmt werden können«11. Denn »alles ist in der Natur mit Zahl, Maaß und Gewicht oder Kraft gleichsam abgezirkelt«, schrieb Leibniz, und so sähe man, dass

11 Zitat in Cheung 2000, S. 48. Und auch noch bei Cuvier Anfang des neunzehnten Jahrhunderts wurden die Teile eines organischen Körpers auf die gleiche Weise reguliert, »wie die Gleichung einer Kurve alle ihre Eigenschaften bestimmt« (Zitat ebd., S. 19).

46 | F UNKTIONEN UND F ORMEN »alles mathematisch, das ist, ohnfehlbar zugehe in der ganzen weiten Welt, so gar, daß wenn einer eine gnugsame Insicht in die innern Theile der Dinge haben könnte, und dabey Gedächtniß und Verstand gnug hätte, umb alle Umbstände vorzunehmen und in Rechnung zu bringen, würde er ein Prophet seyn, und in dem Gegenwärtigen das Zukünftige sehen, gleichsam als in einem Spiegel«12.

In Bezug auf Lodoli kann man daher ohne Widerspruch zwischen Naturgeschichte und Mathematik folgende These formulieren: So wie in der Naturgeschichte Organe zu einem Organismus zusammenwirken, und so wie in der Mathematik veränderlich gedachte Kurvenpunkte eine Kurve bilden, so wirken Bauteile zusammen zu einem Baukörper. Was also das Bauwerk zu einem Ganzen macht, sind nicht äußerlich sichtbare Proportionen, sondern quasi unsichtbare Funktionen. Damit finden sich in Lodolis Architekturtheorie die drei grundsätzlichen Kriterien des Funktionsbegriffs, wie sie im ersten Kapitel aufgestellt wurden: Aktion, Relation von Teilen und Ganzheitsbezug. Auch Lodolis Funktionsbegriff beschreibt damit das Zusammenwirken von Teilen zum Ganzen. So weit die These zur Interpretation von Lodolis Funktionsbegriff. Nehmen wir nun als zweites Dokument Lodolis Manuskripte zu Hilfe. Nach Aussage Memmos, in dessen Buch von 1834 die Manuskripte veröffentlicht wurden, handelte es sich bei diesen um Diktate. Sie waren gedacht als Inhaltsangaben geplanter architekturtheoretischer Lehrbücher. Das zweite Manuskript13, in dem »funzione e rappresentazione« vorkommt, wird im Folgenden vollständig wiedergegeben (Unterstreichungen UP). LIBRO I.

BUCH I.

PROEMIO.

VORREDE.

Definizione dell’ architettura civile.

Definition der Zivilarchitektur.

Definizione della retta funzione e

Definition der richtigen Funktion und

rappresentazione.

Repräsentation.

–– della solidità.

–– der Solidität.

–– dell’ analogia.

–– der Verhältnismäßigkeit

–– del comodo.

–– der Bequemlichkeit.

–– dell’ ornamento.

–– des Ornaments.

Corollarii.

Folgesätze.

La retta funzione e la rappresentazione

Die richtige Funktion und die Repräsentation

sono i due soli oggetti finali scientifici

sind die beiden einzigen wissenschaftlichen

12 Zitat in Guhrauer 1840, S. 48-9. 13 Memmo 1834, S. 59-62.

F UNKTION UND R EPRÄSENTATION

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dell’ architettura civile. Che cosa

Ziele der Zivilarchitektur. Was unter der einen

debbasi intendere per l’una e per

und unter der anderen verstanden werden soll,

l’altra, e come convenga

und wie sie unmittelbar zusammenkommen, so

immedesimarle a segno che non sieno

dass sie nichts anderes sind als eine einzige

che una sola cosa.

Sache.

La solidità, l’analogia ed il comodo

Die Solidität, die Verhältnismäßigkeit und die

sono le proprietà essenziali della

Bequemlichkeit sind die wesentlichen

rappresentazione.

Eigenschaften der Repräsentation.

L’ornamento non è essenziale, ma

Das Ornament ist nicht wesentlich, sondern

accessorio alla retta funzione e

hinzugefügt zur richtigen Funktion und

rappresentazione: contuttociò non si

Repräsentation: demnach wird man keine

potrà trovar una bellezza architettonica

architektonische Schönheit finden können,

se dal vero non proceda; staccata, non

wenn sie nicht auf das Wahre zurückzuführen

è più analoga. L’autorità, l’uso non

ist; davon losgelöst, ist sie nicht mehr

potrebbero mai dare che un bello a

verhältnismäßig. Die Autorität, der Brauch

prestanza, e sol relativo ad idee troppo

können nie mehr als ein geliehenes Schönes

vaghe procedenti da cause non

ergeben, und nur bezogen auf zu vage Ideen,

costanti, ned eguali in ogni luogo.

die aus Ursachen herkommen, die weder beständig noch gleich an jedem Ort sind.

L’analogia, il comodo, e l’ornamento

Die Verhältnismäßigkeit, die Bequemlichkeit,

possono sol essere dimostrate dai

und das Ornament können nur mit

matematico-fisici elementi, e

mathematisch-physischen Grundsätzen und

raziocinate norme.

rationalen Regeln demonstriert werden.

LIBRO II.

BUCH II.

Che la funzione della materia tutta atta

Die Funktion jedes, zum Zusammensetzen

a compor fabbriche, è quella moltipli-

eines Gebäudes tauglichen Materials, ist jene

cata e modificata azione che risulta

vielfache und veränderte Aktion, die aus dem

dalla stessa materia, qualor venga essa

Material selbst resultiert, wenn es demonstrativ

impiegata dimostrativamente, secondo

angewendet werde, gemäß der eigenen Natur

la propria indole ed il proposto fine, e

und dem gesetzten Ziel, und die immer

fa sempre essere concordi tra esse la

untereinander die Solidität, die Verhältnis-

solidità, l’analogia ed il comodo.

mäßigkeit und die Bequemlichkeit vereint.

Rappresentazione è l’ individua e totale

Repräsentation ist der individuelle und totale

espressione che risulta dalla materia

Ausdruck, der aus dem Material resultiert,

qualor essa venga disposta secondo le

wenn es gemäß geometrisch-arithmetisch-

geometrico-aritmetico-ottiche ragioni

optischen Überlegungen für das gesetzte Ziel

al proposto fine.

eingesetzt wird.

Solidità architettonica è quella

Architektonische Solidität ist jene individuelle

fermezza individuale e totale che risulta

und totale Festigkeit, die in den Gebäuden aus

nelle fabbriche dalle statico-fisico-

der statisch-physisch-chemischen Theorie

48 | F UNKTIONEN UND F ORMEN chimiche teoríe, applicabili alla

resultiert, anwendbar auf das jeweilige

soggetta materia semplice e composta.

einfache und zusammengesetzte Material.

Analogia è quella proporzionata

Verhältnismäßigkeit ist jene im rechten

regolar convenienza delle parti e del

Verhältnis geregelte Übereinstimmung der

tutto, che risultar deve nelle fabbriche

Teile und des Ganzen, die in den Gebäuden

da stereometrico-aritmetiche teoríe

aus stereometrisch-arithmetischen Theorien,

combinate colle ragionevoli norme,

kombiniert mit überlegten Regeln resultiert,

applicabili alla forma e misura delle

anwendbar auf Formen und Abmessungen

fasi, de’ membri, de’ fori e de’ vasi

von Abschnitten, Gliedern, Öffnungen und

architettonici.

architektonischen Räumen. LIBRO III.

BUCH III.

Della prima proprietà essenziale detta

Über die erste wesentliche Eigenschaft, genannt

solidità, ed esposizione sommaria degli

Solidität, und die zusammenfassende Darstel-

elementi e norme ch’ esige.

lung der Elemente und Regeln, die sie verlangt.

Elementi sopra l’ indole dell’ archi-

Elemente (= Grundsätze) über die Natur des

tettonica materia semplice, cioè legno,

einfachen architektonischen Materials, nämlich

sasso e marmo, ovvero esperienze

Holz, Stein und Marmor, oder Erfahrungen aus

parziali di zilologia e di litologia.

den Bereichen der Zilologie und Litologie.

Elementi e norme per il meccanismo

Elemente und Regeln zu dem Mechanismus,

disponente la materia suddetta.

der obengenanntes Material verfügbar macht.

Elementi sopra l’ indole della materia

Elemente über die Natur des künstlichen

artifiziale inserviente alle fabbriche,

Materials, das in den Gebäuden dient, und zwar

cioè de’ cementi, de’ plasmi, della terra

des Zements, des Gips’, des Terrakotta und der

cotta e de’ metalli.

Metalle.

Elementi e norme per il meccanismo

Elemente und Regeln zu dem Mechanismus,

disponente la materia artifiziale.

der das künstliche Material verfügbar macht.

Elementi e norme applicanti la materia

Elemente und Regeln der Anwendung des

disposta, e prima quelli per la

verfügbaren Materials, und erste Aussagen

ubicazione e per la immersione.

über die Lage und über die Immersion.

Elementi intorno la connessione e la

Elemente über die Verbindung und den

elevazione, dove si tratta della varia

Aufbau, dort wo es sich um verschiedene

qualità di fondamenti di suoli, della

Qualitäten der Fundamentsohlen, der

palificazione sott’ acqua, de’ sostegni,

Pfahlwerke unter Wasser, der Träger, Stützen,

puntelli, macchine per facilitare,

Maschinen zum Bauen, Transportieren und

trasportar, e alzar pesi di varii

Lastenheben von verschiedenen Geräten etc.

istromenti ec.

handelt.

Elementi per la contiguazione e

Elemente für die Wasserrückhaltung und

depluviazione.

Entwässerung.

Elementi per la struttura retta.

Elemente für orthogonale Strukturen.

Elementi per la struttura curva.

Elemente für gekurvte Strukturen.

F UNKTION UND R EPRÄSENTATION

LIBRO IV.

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BUCH IV.

Della seconda proprietà essenziale,

Über die zweite wesentliche Eigenschaft,

detta analogia, ed esposizione

Verhältnismäßigkeit genannt, und die

sommaria degli elementi e norme ch’

zusammenfassende Darstellung der

essa esige.

Elemente und Regeln, die sie verlangt.

Elementi e norme inservienti alla

Dienliche Elemente und Regeln zur Stereo-

stereometria delle moli architettoniche.

metrie der architektonischen Bauwerke.

Elementi e norme inservienti alla

Dienliche Elemente und Regeln zur Szeno-

scenografia delle moli suddette.

graphie der obengenannten Bauwerke.

Elementi e norme inservienti ai vasi

Dienliche Elemente und Regeln zu

architettonici.

architektonischen Räumen.

Elementi e norme inservienti ai fori

Dienliche Elemente und Regeln zu

architettonici.

architektonischen Öffnungen.

Elementi, e norme inservienti alle fasi,

Dienliche Elemente und Regeln zu

ed ai membri architettonici.

architektonischen Abschnitten und Gliedern.

LIBRO V.

BUCH V.

Definizione della terza proprietà

Definition der dritten wesentlichen Eigen-

essenziale, detta comodo, esposizione

schaft, Bequemlichkeit genannt, Darstellung

degli elementi e norme ch’ essa esige.

der Elemente und Regeln, die sie verlangt.

Norme sull’ interessantissimo punto

Regeln über den sehr interessanten Punkt der

dell’ economia delle fabbriche, dopo

Ökonomie der Gebäude, nachdem man jene

aver intese quelle spettanti alla

verstanden hat, die die größte Beständigkeit

maggior sussistenza di esse.

von ihnen betreffen.

LIBRO VI.

BUCH VI.

Della quarta proprietà accessoria,

Über die vierte hinzugefügte Eigenschaft,

detta ornamento, ed esposizione

Ornament genannt, und die zusammen-

sommaria degli eglimenti ch’ essa

fassende Darstellung der Elemente, die

esige.

sie verlangt.

Elementi e norme sopra la quantità e

Elemente und Regeln über die Quantität

qualità delle cose ornanti esterne ed

und Qualität der geschmückten Dinge, äußere

allusive.

und anspielende.

Lodevoli esempii in molte moli degli

Lobenswerte Beispiele in vielen Bauwerken der

antichi Greci, Romani, Goti, Tedeschi,

antiken Griechen, Römer, Goten, Deutschen,

Mori, e dei moderni architetti ancora.

Mauren und auch der modernen Architekten.

Elementi e norme per la giusta

Elemente und Regeln für die gemäße

collocazione degli ornati al di fuori ed

Anordnung der Ornamente im Außenbereich

al di dentro, e lodevoli esempii ec.

und im Inneren, und lobenswerte Beispiele etc.

50 | F UNKTIONEN UND F ORMEN

In diesem Manuskript waren also sechs Bücher vorgesehen. Das Manuskript begann mit einer Auflistung gängiger, zeitgenössischer Architekturbegriffe – solidità, analogia, comodo, ornamento –, die man zum Beispiel auch in Marc-Antoine Laugiers Essai sur l'Architecture von 1753 finden konnte14. Jedem dieser Begriffe war ein eigenes Buch gewidmet, das dritte der solidità, das vierte der analogia, das fünfte dem comodo, das sechste dem ornamento. Die beiden ersten Bücher dagegen zeigten die Verknüpfungen der Begriffe untereinander, und in beiden ging es zentral um »die richtige Funktion und Repräsentation«. Diese stellten übergeordnete Prinzipien dar, sie »sind die beiden einzigen, letzten wissenschaftlichen Ziele der Zivilarchitektur«. Im ersten Buch versprach Lodoli eine Definition von funzione und rappresentazione: »Was unter der einen und unter der anderen verstanden werden soll, und wie sie unmittelbar zusammenkommen, sodass sie nichts anderes sind als eine einzige Sache.« Leider führte er dieses Vorhaben nicht weiter aus. Bis auf die allerdings wichtige Feststellung, dass sie »eine einzige Sache« sein sollen, waren der Interpretation also keine Grenzen gesetzt. Im zweiten Buch standen funzione und rappresentazione im Zusammenhang mit dem Thema des Baumaterials. Der wichtigste Punkt ist hier, dass Funktion als Aktion bestimmt wurde: »Die Funktion jedes, zum Zusammensetzen eines Gebäudes tauglichen Materials, ist jene vielfache und veränderte Aktion, die aus dem Material selbst resultiert«. Bei diesem etwas unverständlichen Satz ist das Interessante, dass Lodoli Materialien, die man zu Gebäuden zusammenstellt, als aktiv dachte, und zwar, wie zu zeigen sein wird, keineswegs in metaphorischem Sinn, sondern als Tragen von Last. Um dies besser zu verstehen, kann man einen Zeitgenossen Lodolis heranziehen, den Philosophen Giambattista Vico. Lodoli verehrte Vico außerordentlich und versuchte, in seinem Amt als Zensor der Republik Venedig, Vico zur Veröffentlichung seiner Autobiographie in Venedig zu bewegen, die dann auch 1728 erschien15. Interessant ist zu sehen, dass bei Vico Teile und Aktionen unmittelbar voneinander abhingen, denn er schrieb »Zusammengesetztsein heißt Bewegtsein« und »Natur ist Bewegung«16. In jedem einzelnen Ding, und damit waren nicht nur Lebewesen gemeint, fand für Vico eine Bewegung statt, die er actio, effectu oder momentum nannte. Das Gegenteil von Natur, Bewegung und Zusammengesetztsein bestimmte er als die Ruhe, das Unendliche, das Eine. In der

14 Laugiers drittes Kapitel »Considérations sur l'Art de bâtir« (Betrachtungen über die Kunst zu Bauen) hat drei Abschnitte: »Solidité«, »Commodité« und »Bienséance«. Letzteres ist vergleichbar mit »analogia«. 15 Über die Beziehung von Lodoli und Vico siehe insbesondere Bitz 1992. 16 Vico 1979, S. 97, 91.

F UNKTION UND R EPRÄSENTATION

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Natur gäbe es »weder Gerades, noch Eines, noch Selbiges, noch Ruhe«17, doch alles in der Natur sei Teil eines größeren Ganzen, des Einen und Unendlichen, das heißt Gott. Von diesem Einen gehe eine göttliche Wirkkraft (virtus, conatus) aus, die alle Dinge in Bewegung hält: »Natur ist Bewegung. Die dieser Bewegung zugrundeliegende unbegrenzte Bewegkraft ist der Conatus. Diesen bringt der unendliche in sich ruhende Geist hervor, nämlich Gott. Das Naturgeschehen vollendet sich in der Bewegung, es hebt an im Conatus. Die Entstehung der Dinge verdankt sich der Bewegung, die Bewegung dem Conatus, der Conatus verdankt sich Gott.«18

Da für Vico also alle Dinge aus Teilen bestanden, alle Dinge Bewegung waren (Aktion) und alle Dinge sich auf größere Ganzheiten und letztlich Gott bezogen (Relation, Ganzheitsbezug), sprach er ein funktionalistisches Konzept aus. Daher wurde Vico auch als derjenige beschrieben, der eine »Metaphysik der Funktion«19 begründete. Dabei verwendete er auch die mathematische Begrifflichkeit von punctum und momentum, analysis, maxima und minima, und zwar in Fragen sowohl der Physik als auch des Menschen. Für Vico war die neue Errungenschaft der Mathematik, die Analysis, ein wichtiger Teil seiner metaphysischen Reflektion, denn »die Analysis nimmt ihren Gegenstand aus dem Unendlichen und steigt von hier aus herab zu den kleinsten Einheiten«20. Merkwürdig ist dabei nur, dass er nicht das Wort Funktion verwendete, obwohl die im Begriff enthaltenen Aspekte wesentliche Punkte seiner Philosophie darstellten, in der die Welt aus Teilen bestand, die aufeinander und gemeinsam zu einem großen Ganzen zusammenwirkten, und umgekehrt das große Ganze auf den einzelnen Teil und die Zusammenstellung der Teile Einfluss nahm. Man kann Vico also nicht als direkte Quelle des Worts Funktion heranziehen, einfach weil er es nicht verwendete. Lodoli konnte von Vico zwar nicht das Wort, aber doch das funktionalistische Konzept übernehmen. Denn, wie gesehen, betrachtete auch Lodoli alle Dinge als zusammengesetzt, in Aktion und in Bezug auf ein

17 Vico 1979, S. 117. 18 Ebd., S. 91. 19 Otto/Viechtbauer 1985, S. 103. Zu Vicos Philosophie schreibt Viechtbauer, S. 101-2: »Der infinite Zusammenhang [...] erweist sich vielmehr als innerlicher Zusammenhang, und zwar so, daß Glied eines solchen Zusammenhanges sein ganz allgemein bedeutet, an einer bestimmten Stelle eines organisierten Ganzen eine spezifische Funktion zu erfüllen [...]. Die wechselseitige Bezogenheit aller Glieder prägt und konstituiert den Zusammenhang und qualifiziert jedes Glied zugleich als das, was es ist.« 20 Vico 1979, S. 59.

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größeres Ganzes, wobei die Materialien die »zum Zusammensetzen [...] tauglichen« aktiven Teile eines Gebäudes als Ganzes waren. Betrachten wir nun Lodolis Komplementärwort zur funzione: rappresentazione. Im Deutschen wird dieser Begriff meistens mit »Darstellung« übersetzt, was eine genauere Interpretation verhindert. Aber ebenso wie Funktion nicht einfach »Aktion« ist, sondern »Teilaktion im Hinblick auf ein größeres Ganzes«, bedeutet Repräsentation nicht nur einfach »Darstellung«, sondern »Teildarstellung im Hinblick auf ein größeres Ganzes«. Um dies besser zu verstehen, kann man sich zunächst das Verhältnis zwischen einer Repräsentation und dem Zu-Repräsentierenden verdeutlichen. Eine Repräsentation kann das Zu-Repräsentierende niemals völlig repräsentieren, sonst wäre es ja die Sache selbst. Zum Beispiel kann ein Repräsentant einer Gruppe von Menschen niemals die Gruppe selbst sein – aber er ist Teil der Gruppe und als solcher repräsentiert er diese. Nehmen wir an, diese Gruppe stellt ihre innere Hierarchie in einem Diagramm dar, so ist das Diagramm eine Repräsentation dieser Gruppe, aber eben nur einer bestimmten Teileigenschaft dieser Gruppe und nicht diese selbst. Repräsentation ist demnach die Präsentation, also das Gegenwärtigsein als Teil eines größeren Ganzen 21. Auf die Idee der Repräsentation ging insbesondere Foucault in Die Ordnung der Dinge ein. Für ihn war das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert von einer bestimmten »Seinsweise« geprägt, »die der Repräsentation«22. Foucault gab einige Beispiele, die eine solche Definition als Teildarstellung zulassen. So bezeichnete er am Beispiel der Ökonomie das Geld als eine Repräsentation des Reichtums, und am Beispiel der Naturgeschichte das »wesentliche Merkmal« als Repräsentation eines Lebewesens. Dabei waren sowohl das Geld als auch das wesentliche Merkmal Teile von dem, was sie repräsentierten. Lodolis zweitem Buch zufolge ist Repräsentation »der individuelle und totale Ausdruck, der aus dem Material resultiert, wenn es eingesetzt wird gemäß geometrisch-arithmetisch-optischen Überlegungen für das gesetzte Ziel«. Repräsentation ist also Ausdruck, und zwar soll etwas ausgedrückt werden, dass aus dem Material selbst stammt, also Teil davon ist. Wenn man sich nun das Beispiel der übertragenen Holzformen in Erinnerung ruft, wird Lodolis Forderung umso deutlicher: Die Holzformen sind nicht Teil des Steinmaterials, resultieren nicht aus dem Stein, und daher können sie den Stein auch nicht adäquat repräsentieren. Betrachtet man nun nochmals das Spruchband des Kupferstichporträts, scheinen sich die beiden Begriffe funzione und rappresentazione plötzlich gegenseitig zu erklären. Hat man wenigstens einen der beiden Begriffe als »Teil-von« dekodiert,

21 Vgl. Ritter/Gründer 1992, S. 810: »Die Repräsentation ist oft selektiv, doch niemals kann sie dem Repräsentierten etwas hinzufügen«. 22 Foucault 1974, S. 260.

F UNKTION UND R EPRÄSENTATION

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kann man sich daraus das Verständnis des anderen Begriffs erschließen. Funktion meinte demnach das Wirken-als-Teil, Repräsentation das Darstellen-als-Teil. Funktion als »Aktion, die aus dem Material selbst resultiert« und Repräsentation als »Ausdruck, der aus dem Material resultiert« sollen »nichts anderes [...] als eine einzige Sache« sein, heißt es in seinem Manuskript. Und sie können es sein, weil sie beide »Teil-von« sind. Dieses Verständnis von Funktion (Wirken-als-Teil) und Repräsentation (Darstellen-als-Teil) hat nicht nur eine architektonische Dimension. Vielmehr kann es als eine grundlegende Weltauffassung angesehen werden. Für den Mönch Lodoli bedeutete das italienische Wort funzione auch Gottesdienst, also das Zelebrieren des Anteilhabens an Kirche und Gott. Man kann also interpretieren, dass der Funktionsbegriff eine Brücke herstellt zwischen Lodolis Hingabe zur Architektur und zur Kirche, die beide das aktive Teil-Sein zum Inhalt haben. Mit dieser Interpretation beschränkt sich der Schriftzug im Kupferstichporträt also nicht mehr nur auf Architektur allein, sondern erweitert sich zu einer Art Weltanschauung, die das Kleinste (minimum) und das Unendliche (infinito) umschließt. Dies erscheint umso plausibler, wenn man das Porträt als Vermächtnis Lodolis begreift, denn erschiene es nicht merkwürdig, dass sich Lodoli in diesem Vermächtnis ausschließlich auf Architektur reduzierte? Schließlich war er Mönch und kein Architekt. Mit dieser Interpretation aber fügt sich der besondere Bezug zur Architektur ein in den umfassenderen Bezug zu Welt und Gott. Um die bisherige Interpretation weiter zu stützen, kann man nun Lodolis Anbau an sein Kloster San Francesco della Vigna heranziehen, und hier insbesondere die Ausbildung der Fenster [Abb. 6]. Die massiven Fensterbrüstungen folgen mit ihrer Unterkannte einer Kettenlinie. Die Gründe für diese Ausformung lassen sich am einfachsten beschreiben, wenn man sie mit einer normalen steinernen Türschwelle vergleicht, wie man sie in Venedig tausendfach findet [Abb. 7]. Viele dieser Schwellen sind in der Mitte gerissen oder gebrochen – eine Aktion! –, weil die seitlichen Türlaibungen auf der Schwelle aufsitzen und damit ein Biegemoment in der Mitte der Schwelle verursachen, das der Stein aufgrund seiner mangelnden Elastizität nicht aufnehmen kann. Wäre die Schwelle dagegen aus Holz, das eine höhere Elastizität besitzt, könnte das Reißen verhindert werden. Damit ist die Schwelle oder Brüstung ein Paradebeispiel für die angesprochene Diskussion über materialspezifische Bauformen. Lodolis Brüstungsstein ist nur so breit wie die Fensteröffnung und dadurch können die Seitenlaibungen nicht auf das Bauteil drücken und ein Biegemoment verursachen. Und seine bauchige Form gleicht die mangelnde Elastizität aus. Das heißt: Form, Abmessung und Anordnung des Bauteils ermöglichen einerseits, die Kräfte in der baulichen Struktur besser abzuleiten und entsprechen andererseits der inneren Materialaktivität des Biegemoments. Und genau das macht die Übereinstimmung von Funktion und Repräsen-

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Abbildung 6: Lodolis Fensterentwurf für sein Kloster San Francesco della Vigna, Venedig.

Abbildung 7: Tür in Venedig mit in der Mitte gebrochener Türschwelle.

F UNKTION UND R EPRÄSENTATION

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tation aus. So, wie dieser Brüstungsstein eine Aussage darüber macht, wie er wirkt und wo er im größeren Ganzen seinen Ort hat, so sollen auch alle übrigen Teile in einem Gebäude diese Aussage machen. Lodoli besaß demgemäß eine größere Sammlung von Architekturfragmenten, die er in seinem Kloster zu Studienzwecken ausstellte. Als Fragmente sollten sie von einem größeren Ganzen zeugen und zu Metaphern des Weltgeschehens werden. Nach dem bisher Gesagten mag man verstehen, warum zahlreiche Theoretiker Lodolis Diktum von »funzione e rappresentazione« auf Materialgerechtigkeit bezogen haben23. Doch sollte auch klar geworden sein, dass diese Interpretation zu kurz greift und in ein umfassenderes Konzept eingebettet werden muss. Julius Schlossers Übersetzung von funzione und rappresentazione mit »lebendige Wirksamkeit« und »Aufbau«24 mag hier die Richtung weisen. Außerdem geht aus keiner einzigen Interpretation schlüssig hervor, wie Lodoli auf den Funktionsbegriff kam, und noch weniger ist klar, wie er ihn mit dem Repräsentationsbegriff verband. Schon Joseph Rykwert, der eine der spannendsten Interpretationen zu Lodoli lieferte, stellte die These auf, dass Lodoli beide Begriffe aus der Mathematik und der Naturgeschichte übernahm, denn beide »spielten in den wissenschaftlichen und philosophischen Kontroversen eine wichtige Rolle«25. Funzione führte Rykwert auf Bernoullis Definition einer mathematischen Funktion zurück, und rappresentazione sei den Naturwissenschaften entnommen, in denen der Begriff eine »Entsprechung zu einer Naturerscheinung«26 bezeichne. Rykwert folgerte, für Lodoli sei Funktion »die mechanische Wirkungsweise der Kräfte innerhalb der in graphische Form übersetzten Struktur«27. Leider konnte aber auch Rykwert keine Stelle eines naturwissenschaftlichen Texts zitieren, die beide Begriffe der Funktion und Repräsentation gleichzeitig verwendete. Demnach müsste Lodoli also nicht nur einen, sondern zwei abstrakte Begriffe auf die Architekturtheorie übertragen und diese auch noch miteinander verbunden haben. Man kann hier im Sinne Rykwerts weiterspekulieren, indem man Lodolis Sätze über Funktion und Repräsentation den Definitionen der mathematischen Funktion von Bernoulli 1718/1742 und Euler 1748 gegenüberstellt [Abb. 8]. Dabei verblüfft insbesondere die Ähnlichkeit der Satzkonstruktionen, auch wenn der Zusammenhang zwischen Lodolis »Aktion« und »Material«, Bernoullis »veränderlichen Größe« und Eulers »Ausdruck« nicht vollständig klar ist. Adrian Forty behalf sich

23 Z.B. Frascari 1989, S. 7; Bitz 1992, S. 97-8; Germann 1993, S. 218. 24 Schlosser 1924, S. 579. 25 Rykwert 1983, S. 205. 26 Ebd. 27 Ebd., S. 213.

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in seiner Besprechung des Funktionsbegriffs mit der Mischformulierung, eine Funktion sei das »Ergebnis einer Aktion einer Größe auf eine andere«28. Zusammenfassend bleiben also einerseits Fragen offen: Woher nahm Lodoli den Funktionsbegriff? Und in welchen zeitgenössischen Schriften wurden Funktion und Repräsentation gleichzeitig verwendet und standen miteinander in Zusammenhang? Das Auffinden solcher Texte würde sicher zur weiteren Klärung von Lodolis Ideen beitragen. Andererseits aber kann mit der hier vorgeschlagenen Interpretation von Lodolis Funktionsbegriff die übergeordnete, allgemeine Interpretation des ersten Kapitels weiterhin gültig bleiben. Wie wurde Lodolis Theorie der Funktion und Repräsentation nun weiter getragen, und wie konnte sie zum Fundament des Funktionalismus werden? Um

Abbildung 8: Gegenüberstellung von Bernoullis, Eulers und Lodolis Definitionen von Funktion und Repräsentation. Bernoulli: Man Funktion einer

eine Größe, die auf

nennt veränderlichen

aus eben dieser

irgendeine veränderlichen

Größe

Weise

Größe

der in

aus dieser

und der

zu-

Konstanten sammengesetzt ist.

Euler: Eine Funktion einer veränderlichen Größe

ist ein

und aus

zu-

analytischer beliebiger veränderlichen

Zahlen oder sammen-

Ausdruck,

konstanten gesetzt ist.

Weise

Größe

Größen Lodoli: Die Funktion jedes,

ist jene viel-

die aus dem wenn es demonstrativ

und dem

zum Zusammensetzen

fache und

Material

angewendet wird

gesetzten

eines Gebäudes

veränderte

selbst

gemäß der eigenen

Ziel.

tauglichen Materials

Aktion,

resultiert,

Natur

Lodoli: Repräsentation

ist der

der aus dem wenn es eingesetzt wird für das

individuelle

Material

gemäß geometrisch-

gesetzte

und totale

resultiert,

arithmetisch-optischen

Ziel.

Ausdruck,

28 Forty 2000, S. 174 (engl.).

Überlegungen

F UNKTION UND R EPRÄSENTATION

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diese Fragen zu beantworten, kann man sich einige Schriften nachfolgender Architekturtheoretiker ansehen. Um drei Lodoli-Nachfolger soll es im Folgenden gehen: Francesco Algarotti, Francesco Milizia und Andrea Memmo.

F RANCESCO A LGAROTTI 1756 erschien der Architekturtraktat Saggio Sopra l’Architettura (Essay über die Architektur) von Francesco Algarotti (1712-64), der sich mit Lodolis Thesen beschäftigte und auch dessen Funktionsbegriff zitierte. Er war die erste architekturtheoretische Veröffentlichung überhaupt, die das Wort Funktion enthielt. In der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts war Algarottis Essay sehr populär, er erschien in vielen Ausgaben und wurde bereits 1769 ins Französische und Deutsche übersetzt. Auch hatte er großen Einfluss auf die Architekten der Folgezeit29. Die Popularität des Essays war teilweise in der schillernden Person Algarottis begründet. Der gebürtige Venezianer, den sein erstes Buch Il Newtonianismo per le Dame 1737 überall in Europa bekannt gemacht hatte, war der zeitgenössische Charakter eines schöngeistigen Kosmopoliten. Anfang der 1740er Jahre und 1747-53 hielt er sich am preußischen Hof Friedrichs II. auf, der ihn 1740 zum Grafen ernannte und ihn mit »geliebter Paduanischer Schwan«30 anschrieb. Algarotti war aber auch Langzeitgast am sächsischen Hof Augusts III., für den er als Berater beim Aufbau der Dresdner Gemäldegalerie und als Einkäufer von Gemälden tätig war. Er schrieb auch Essays über Musik und Malerei, und über Architektur wurden neben dem Saggio Sopra l’Architettura seine Lettere Sopra l'Architettura veröffentlicht31. Funzione war ein Begriff, den Algarotti eindeutig und exklusiv auf Architektur bezog. In anderen kunst- und wissenschaftstheoretischen Schriften, die nicht von Architektur handelten, vermied er den Begriff. Im Traktat stehen funzione und rappresentazione immer zusammen, und zwar in phrasenhaften Sätzen, die Lodolis Thesen beschreiben. Lodoli kommt dabei nur als »filosofo« vor. Die vier Textstellen, in denen es um funzione e rappresentazione ging, sind im Folgenden wiedergegeben. Dabei stehen die deutsche Übersetzung von 1769 von Rudolf Erich Raspe (1736-94) und die italienische Ausgabe von 1764, die Raspe verwendete, nebeneinander, um nachzuvollziehen, wie funzione übersetzt wurde – nämlich an

29 Nach Rykwert 1983 wurde Algarottis Abhandlung von Milizia aufgenommen und fand von dort Eingang in Horatio Greenoughs, Louis Sullivans und Frank Lloyd Wrights Schriften.

30 Algarotti 2008, S. 28. 31 Zu Leben und Werk Algarottis vgl. insbesondere Haskell 1996, S. 487-505.

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keiner Stelle mit Funktion. Es sieht so aus, als hätte Raspe nicht recht gewusst, wie er das Wort übersetzen sollte. Man kann also mit dieser Übersetzung gleichzeitig verfolgen, wie Algarottis Text im Deutschen des Jahres 1769 verstanden wurde (Unterstreichungen UP). Saggio Sopra l’Architettura

Versuch über die Architectur.

Algarotti 1764

Übersetzung Raspe 1769

Erste Textstelle »Niuna cosa, egli insiste, metter si dee in

»Er bestehet darauf, daß nichts ohne

rappresentazione, che non sia anche vera-

Nutzen paradiren müsse, und daß, im

mente in funzione; e con proprio vocabolo

eigentlichen Verstande, alles ein

si ha da chiamare abuso tutto quello, che

Mißbrauch sey, was sich von diesem

tanto o quanto si allontana da un tale prin-

Grundsatz entfernet, welcher der wahre

cipio, che è il fondamento vero, la pietra

Eckstein ist, auf dem die Architectur

angolare, su cui ha da posar l’arte

beruhen muß.« [S. 7-8]

architettonica.« [S. 62-3] Zweite und dritte Textstelle »Fermo il Filosofo in quel suo fonda-

»Unser Philosoph hält sich von eben

mentale principio, che la buona Archi-

erwähntem Grundsatze, daß die gute

tettura ha da formare ornare e mostrare,

Architectur bilden, schmücken und para-

e che in essa lo stesso ha da essere la

diren, auch daß Absicht, Nutzen und Vor-

funzione e la rappresentazione, egli

stellung einerley seyn müsse, fest über-

procede co’ suoi argomenti più là; e ne

zeugt; er schließet also fort und kommt

ricava una troppo terribile conseguenza.

auf eine entsetzliche Folge – ›diese

Questa si è di dover condannare non

nemlich, man müsse nicht nur einen oder

questa o quella parte; ma tutti insieme gli

den andern Theil, sondern alle sowohl

edifizj così moderni come antichi, e quelli

alte als neue Gebäude ganz verwerfen,

singolarmente che hanno il maggior

diejenigen vorzüglich, die man für die

vanto di bellezza, e sono decantati come

schönsten hält und als Muster der Kunst

gli esemplari dell'arte. Di pietra sono essi

ansiehet.‹ Sie sind von Steinen gebauet

fabbricati; e mostrano essere di legname;

und scheinen von Holz zu seyn. Die

le colonne figurano travi in piedi che

Säulen stellen Pfeiler vor, die das

sostentino la fabbrica, la cornice lo sporto

Gebäude tragen und die Cornische das

del comignolo di essa; e l'abuso va così

Hervortreten des Daches; und der

innanzi, che tanto più belli si reputano gli

Mißbrauch geht so weit, daß man

edifizj di pietra, quanto più rappresentino

diejenigen steinernen Gebäude für die

in ogni loro parte e membratura, con ogni

schönsten hält, die in allen ihren Theilen

maggior esattezza e somiglianza le opere

und Verbindungen der Holzarbeit am

di legno. Abuso veramente dice egli il più

nähesten kommen. Wahrhaftig, sagt er,

F UNKTION UND R EPRÄSENTATION

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solenne di quanti immaginare si potessero

der feyerlichste Irrthum, den man sich

giammai; e che per essere da così lungo

jemals hätte vorstellen können! den man

tempo radicato nelle menti degli uomini,

also, da er sich seit so langer Zeit und so

conviene adoperare, per isterparnelo, ogni

tief eingewurzelt, mit allen Verstandes-

maggiore sforzo della ragione. Ben lontano

kräften auszurotten bemühet seyn muß!

che la funzione e la rappresentazione sieno

Gebrauch und Vorstellung sind in Ge-

negli edifizj una sola e stessa cosa; esse vi

bäuden bey weitem nicht ein und dieselbe

si trovano nella contradizione la più mani-

Sache; sie sind vielmehr im steten Wider-

festa. Perchè ragione la pietra non rap-

spruch. Warum soll Stein nicht Stein

presenta ella pietra, il legno il legno, ogni

seyn? Holz nicht Holz? Jedes Ding nicht

materia se medesima, e non altra? Tutto al

das was es ist, sondern etwas anders? Die

contrario per appunto di quanto si pratica

Architectur müßte just das Gegentheil

e s’insegna, tale esser dovrebbe l’Archi-

seyn von allen was man darinnen lehret

tettura, quale si conviene alle qualità

und thut – so wie sie sich zu der charac-

caratteristiche, alla pieghevolezza o

teristischen Beschaffenheit, Biegsamkeit

rigidità delle parti componenti, a’gradi

oder Steifigkeit der Materie, zu der ver-

di forza resistente, alla propria essenza

schiednen widerstehenden Kraft, mit

in una parola, o natura della materia che

einem Worte, zum Wesen und der Natur

vien posta in opera. Cosicché, diversa

derselben schicket. Da nun die Natur des

essendo formalmente la natura del legno

Holzes von der Natur des Steines auf die

dalla natura della pietra, diverse eziandio

förmlichste Art verschieden ist, so

hanno da esser le forme, che nella cos-

müssen auch natürlicherweise die

truzione della fabbrica tu darai al legno, e

Gestalten, die man im Bauen dem Holze

diverse quelle che alla pietra.« [S. 64-6]

giebt, von denen Gestalten, die den Steinen gegeben werden, verschieden seyn.« [S. 10-1]

Vierte Textstelle »Se la pietra fosse posta in rappresenta-

»Wollte man den Stein in Form und

zione egualmente che in funzione, le aper-

Vorstellung paradiren lassen, als man ihn

ture nelle fabbriche non potrebbono riu-

gebraucht, so würden die Öffnungen der

scire altro che strettissime. E ciò per la

Gebäude nicht anders als sehr enge

propria natura della pietra, che non essen-

ausfallen können; und dies seiner Natur

do tessuta di firbre come è il legno, non può

wegen, denn da er keine Fasern als Holz

reggere al sovrapposto carico, se sia con-

hat, so kann er keine Last tragen, sobald

formata in uno architrave o sopraciglio di

man ihn zu einer Architrave von einiger

qualche notabile lunghezza; ma tosto si

Länge machen will, sondern er reißet und

rompe e se ne va in pezzi. Le porte e le

gehet in Stücken. Es würden also die

finestre sarebbero adunque di una

Thüren und Fenster sehr schmahl,

strettezza sgarbata a vedersi, e incomode

wunderlich fürs Auge und unbequem für

all’uso«. [S. 73]

den Gebrauch werden«. [S. 19-20]

60 | F UNKTIONEN UND F ORMEN

In der ersten Textstelle übernimmt die Phrase funzione e rappresentazione bereits eine herausragende Rolle. Sie wird als der »wahre Eckstein«, das oberste Prinzip der Architektur präsentiert: Nichts dürfe in Repräsentation sein, was nicht auch wirklich in Funktion sei! In den übrigen Textstellen geht es um Materialität und den strukturellen Aufbau eines Gebäudes. Genauer gesagt geht es um die Forderung, der »characteristischen Beschaffenheit, Biegsamkeit oder Steifigkeit der Materie« bei der Ausformung von Bauteilen gerecht zu werden. Die Gestalt eines Bauteils soll der Natur des Materials entsprechen. Ein Architrav aus Stein, zum Beispiel, müsse kürzer ausfallen als einer aus Holz. Ebenso werden falsch eingesetzte Bauteile, zum Beispiel die Verwendung der Säule als Wandpfeiler angeprangert: Säulen haben frei zu stehen. In der Diskussion über das materialgemäße Bauteil bedeutete funzione also zweierlei: erstens ein Kräftewirken eines Materials, zweitens ein Kräftewirken eines Bauteils. Das Kräftewirken eines Materials ist direkt an seine Materialeigenschaften, zum Beispiel seine Zugfestigkeit oder seine Faserigkeit (also sein stofflicher Aufbau) gekoppelt, und seine Repräsentation ist dementsprechend zum Beispiel bei Holz und Stein verschieden. Das Kräftewirken eines Bauteils bedeutet zum Beispiel, dass in einem Balken Kräfte anders wirken als in einer Säule, nämlich aufgrund von Lage und Geometrie, also unabhängig vom Material, und dementsprechend muss auch die Repräsentation von Balken und Säule verschieden sein. Aus Algarottis Text lassen sich zwei wichtige Schlüsse ziehen. Erstens belegen alle von Algarotti vorgebrachten Beispiele sehr gut, dass auch er unter funzione das Wirken von Teilen zu einer Gesamtheit verstand, sei es nun ein Wirken von Holzfasern in einem Architrav oder ein Wirken einer Säule in einer baulichen Struktur. Zweitens betonte Algarotti, wie wichtig für Lodoli die Übereinstimmung von Funktion und Repräsentation war, dass also das Wirken und das Erscheinen eines Bauteils »ein und dieselbe Sache» seien (2. und 3. Textstelle). Bedenkt man die darauf folgende, zweihundertfünfzig Jahre andauernde Diskussion, ob die Form der Funktion folge oder umgekehrt die Funktion der Form, haben wir hier schon eine ausgereifte Schlussfolgerung, die man vielleicht am ehesten mit Frank Lloyd Wrights Ausruf »form and function are one« (»Funktion und Form sind eins«) vergleichen kann (siehe drittes Kapitel). Es ist noch anzumerken, dass Algarotti keineswegs Lodolis Theorie pries, sondern ganz im Gegenteil eine Gegenposition zu Lodoli einnahm. Anders gesagt, er schrieb diesen Text über Lodoli, um seine eigene Architekturhaltung vorzustellen. Algarotti konnte sich der radikalen Haltung Lodolis nicht anschließen. Er befürchtete, dass die Anwendung des lodolianischen Prinzips sowohl bezogen auf Materialität als auch bezogen auf die Anordnung der Bauteile in einem baulichen Ganzen zu einer Verarmung der Architekturformen führen würde. Holz sei vielseitiger als Stein, berge die Möglichkeit eines größeren Formenreichtums und einer größeren Mannigfaltigkeit. Die architektonische Form aus dem Stein zu gewinnen,

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hieße, diesen Formenreichtum zu reduzieren. Algarotti kritisierte also den funzionerappresentazione-Zusammenhang als übertrieben konsequent, wie zum Beispiel auch in einem Brief von 1759 zum Ausdruck kommt: »Zu wollen, dass jede Sache, die in Repräsentation ist, auch wirklich in Funktion sei [...], ist zuviel Wollen. Was kann denn jemals die Funktion der Blätter des korinthischen Kapitells sein, der Voluten des ionischen, der Kanneluren der Säulen, der Tiere und anderer ähnlicher Dinge, die gewöhnlich im Fries eingemeißelt sind?«32

Algarottis Text wurde von zwei typischen Themen der zeitgenössischen Architektur- und Kunstdiskussion bestimmt, die auch den Funktionsbegriff und die spätere Diskussion um den Funktionalismus betrafen. Das erste war die Frage nach der Nützlichkeit von Kunst. In seinem Text verwendete Algarotti ein Begriffspaar, das schon eine lange kunsttheoretische Tradition vorweisen konnte: utilità e bellezza (Nützlichkeit und Schönheit). Diese beiden Eigenschaften zu verbinden, galt als Maxime für alle Dinge. Algarotti polemisierte gegen Lodoli, dass »dieser Philosoph keine Schönheit (bellezza) erkenne, die nicht auch einigen Nutzen (utilità) hat«33. Man gerät leicht in Versuchung, dieses Begriffspaar mit jenem von funzione e rappresentazione gleichzusetzen, doch muss man verstehen, dass utilita-bellezza ein kunsttheoretisches Paradigma ist, das auf alle Künste angewendet wurde, wohingegen Algarotti funzione-rappresentazione nur auf Architektur bezog. Bei funzione ging es nicht um eine allgemeine Nützlichkeit, sondern um eine Abhängigkeit, die sich auf einen inneren Aufbau bezog. Funzione-rappresentazione war keine auffrischende, moderne Wortwahl für utilita-bellezza, denn dann hätte Algarotti diese auch in seinen anderen Kunsttraktaten verwendet. Stattdessen meinte funzionerappresentazione ein inneres Wirken in einer systemischen Gesamtheit, das zur Repräsentation gebracht werden musste. Das zweite Thema der Architekturdiskussion drehte sich um das Verständnis von Architektur als Nachahmung der Natur. Für Algarotti, wie zum Beispiel auch für Laugier, war die Architektur eine »schöne Kunst«, die mit den anderen schönen Künsten das Ziel der Nachahmung der schönen Natur gemeinsam hatte. Nur die Art der Nachahmung war in der Architektur etwas anders als in den anderen Künsten: »Die Architectur ist von einer andern Ordnung, als Poesie, Mahlerey und Musik, welche die Schönheit in Einzelnen schon vor sich finden. Die Architectur hat es nicht. Jene brauchen auf gewisse Weise nur die Augen aufzuthun, die Gegenstände um sich her zu betrachten und sich hiernach ein System der Nachahmung zu bilden. Die Architectur muß sich hingegen mit dem

32 Algarotti 1764 (Bd. 6), S. 209 (ital.). 33 Algarotti 1769, S. 7.

62 | F UNKTIONEN UND F ORMEN Geiste in die Höhe schwingen, und aus den allgemeinesten Begriffen, die dem Auge nicht sichtbar sind, ihr System erfinden, so daß man mit Recht von ihr sagen kann, sie sey unter den Künsten was die Metaphysik unter den Wissenschaften ist. Immittelst mag die Art ihrer Nachahmung von der Art der andern so verschieden seyn als sie will, die Vollkommenheit, die ihr Gegenstand ist, gleicht dennoch der Vollkommenheit der übrigen Künste«34.

Diese Ausführungen hingen einmal mehr mit der Materialdiskussion zusammen. Für Algarotti musste die Architektur den ursprünglichen Holzbau, aus dem sie entstanden war, nachahmen. Ebenso müsse man die Antike nachahmen, da sie in ihren Tempeln den Holzbau zur höchsten Vollendung gebracht hatte. Da »in der Architectur das Holz die Mutter aller übrigen Materien ist«35, hätte, so Algarotti, der Stein immer das Holz nachzuahmen. Diese Aussage stand jedoch im Widerspruch zu Lodoli, der ja forderte, steinerne Bauteile müssten ihre eigene Repräsentation finden, nämlich eine, die ihrer Funktion entspreche. Algarotti warf Lodoli vor, dass dieser sich gegen die Lehre von Vitruv stellte und Architektur nicht als Nachahmung der Natur anerkannte. Offenbar war es für Algarotti keine Naturnachahmung, die architektonische Form »aus der Natur und Wesen der Materie selbst«36 herzuleiten. Stattdessen verstand er unter Nachahmung, die Formen des Holzbaus im Steinbau nachzuahmen, eben nach dem historisch legitimierten Vorbild der Antike. Für Algarotti geriet in dieser Konsequenz der Funktionsbegriff zum Angriff auf das Konzept der Kunst als Nachahmung. Dieser Auseinandersetzung werden wir noch öfter begegnen.

F RANCESCO M ILIZIA Auch der Kunsttheoretiker Francesco Milizia (1725-98) veröffentlichte Schriften über Musik, Malerei, Theater und Architektur. Wie schon Algarotti gebrauchte er dabei den Begriff funzione ausschließlich im architektonischen Zusammenhang, beschränkte ihn also auf die Architektur. Milizia übernahm aus Algarottis Saggio Sopra l’Architettura ganze Satzpassagen und fast wörtlich auch dessen Sätze zu funzione e rappresentazione, noch dazu gleich in fünf Büchern. Aufgrund der zahlreichen Wiederholungen fast identischer Textpassagen und dazu der vielen Auflagen seiner Werke37 kann man Milizia als denjenigen würdigen, der den Funktionsbegriff im Architekturdiskurs verbreitet hat. Die Textpassagen, die mini-

34 Algarotti 1769, S. 17. 35 Ebd., S. 39. 36 Ebd., S. 12. 37 Vgl. die umfangreiche Bibliographie in O’Neal 1954.

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male Unterschiede aufweisen und ungefähr mit »Was in Repräsentation ist, muss in Funktion sein« übersetzt werden können, sehen im Vergleich folgendermaßen aus: Schriften Francesco Milizias

Phrasenartige Textpassagen

1768 Vite de’ più celebri architetti »in una parola, che quanto è in Rappred’ogni nazione e d’ogni tempo sentazione debba esser in Funzione« [S. 14]. 1781 Memorie degli architetti antichi e moderni

»onde quanto è in rappresentazione, deve essere sempre in funzione« [S. XV].

1781 Principj di Architettura Civile »onde quanto è in rappresentazione deve essere in funzione« [hier 1785, S. 31]. 1781 Dell’Arte di Vedere nelle Belle »Quanto è in rappresentazione dee Arti del Disegno secondo i essere in funzione« [hier 1786, S. 95]. Principi di Sulzer e di Mengs 1797 Dizionario delle Belle Arti del Disegno

»Quanto è in rappresentazione deve essere in funzione« [Bd. 2, S. 90].

Um die Bedeutung dieser Parolen zu verstehen, muss man sie in den Kontext von Milizias Schriften einordnen. Milizia ging es – vielmehr noch als Algarotti – um den Nützlichkeitsgedanken innerhalb von Architektur als Nachahmung der Natur. »Alle Künste müssen die Natur zu unserem Nutzen und Vergnügen imitieren«38, schrieb er. Dieses Konzept von »utile e diletto« (Nutzen und Vergnügen) als Zielsetzung der Kunst hatte dabei eine lange klassische Tradition, die über Vitruvs »ad utilitatem et delectationem« bis auf Horaz zurückführte39. Mitte des achtzehnten Jahrhunderts wurde es von Charles Batteux (1713-80) empfindlich durcheinandergebracht, indem er das horazische Prinzip nochmals unterteilte. In seinem berühmten Buch Les beaux arts réduits en un même principe (Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz) von 1747 unterschied er drei Arten der schönen Künste: eine erste, die erfreuen, eine zweite, die nützen, und schließlich eine dritte Gruppe, die sowohl erfreuen als auch nützen will. Zur letzteren zählte er

38 Milizia 1785, S. 28 (ital.): »Tutte le Arti s’impiegano ad imitar la Natura per nostro utile, e diletto.«

39 Vitruv 1991, S. 498. Die berühmte Stelle aus Horaz’ Pisoner-Brief heißt: »Entweder nützen oder erfreuen wollen die Dichter oder zugleich, was erfreut und was nützlich fürs Leben ist, sagen« [Horaz 2011, S. 25]. Siehe auch S. 27: »jede Stimme erhielt, wer Süßes und Nützliches mischte, indem er den Leser ergötzte und gleicherweise belehrte.« Zum Einfuß des horazischen Pisonerbriefes auf Milizia vgl. Gollwitzer 1969, S. 41.

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die Architektur. Da für ihn jene Künste, die erfreuen, im Wert höher standen als jene, die nützlich sind, degradierte er die Architektur. Diesem System wurde in Batteuxs Nachfolge heftig widersprochen, zum Beispiel von Johann Adolf Schlegel, der Batteuxs Buch 1751 ins Deutsche übersetzte und mit Anmerkungen versah. Im Gegensatz zu Batteux interpretierte auch Milizia das höchste Ziel der Künste anders. Für ihn war Nutzen kein Ausschlusskriterium für Kunst, im Gegenteil, er war das wichtigste Kriterium: »Der Anblick eines schönen Dings erfreut uns, aber diese Freude darf da nicht enden, sie hat uns zu etwas Gutem zu führen. Die Freuden sind umso lebendiger, je mehr sie notwendig und nützlich [necessarj ed utili] sind. Die größte Freude ist die notwendigste [più necessario] und interessanteste. Die wahren Freuden sind fruchtbare Bedürfnisse der Nützlichkeit [bisogni fertili di utilità]: die unfruchtbaren sind abgeschmackt, leer, mißbraucht oder Larven der Freuden.«40

Somit zählte die Architektur für Milizia sogar als die höchste aller Künste, da sie am meisten nützte: »Unter allen Künsten, Töchter der Notwendigkeit und des Gefallens [figlie della necessità e del piacere], denen der Mensch verbunden ist, um die Sorgen des Lebens ertragen zu helfen und die eigene Erinnerung den zukünftigen Generationen zu übermitteln, nimmt die Architektur einen höheren Rang ein. An Nützlichkeit [utilità] übersteigt sie alle anderen.«41

Architekturtheoretiker sind auf die Idee kommen, dass das Konzept von »utile e diletto« und die Parole von »funzione e rappresentazione« das gleiche meinen42, doch muss man auch bei dieser Behauptung wieder Vorsicht walten lassen. Das »utile e diletto«-Prinzip galt für alle Künste, »funzione e rappresentazione« nur für die Architektur. Um nun zu verstehen, wie sich funzione und utilità voneinander abgrenzen, muss man sich tiefer in Milizias Schriften hineinlesen. Abgesehen von den allgemeinen Parolen kann man feststellen, dass Milizia immer dann von Funktion sprach, wenn es um Ornamente (ornamenti) und den Gebäudeschmuck (ornato) ging. Ornamente waren für Milizia ganz konkret die »Ordnungen« (ordini), womit er die Säulenordnungen meinte. Im Kern von Milizias Theorie stand die Betonung der Säulenordnungen, unter die sich alle anderen Ornamente unterwerfen sollten:

40 Milizia 1786, S. 40 (ital.). 41 Milizia 1797, S. 58 (ital.). 42 Zum Beispiel Gollwitzer 1969. Auch bei Kruft 1995 gibt es eine Vermischung von utilità, funzione und commodità.

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»Die ersten Ornamente [ornamenti] der Architektur sind ihre Ordnungen [ordini], die statt Ornamente in Wirklichkeit viel eher das Knochengerüst des Gebäudes sind, sowie dessen essentielle Teile. Deshalb können sich die Ordnungen als notwendige Ornamente [ornati necessarj], Produkte der Natur des Gebäudes selbst, definieren.«43

Milizia gab in seinen Büchern nur drei praktische Beispiele, wie sich Funktion in der Architektur zeigte. Dabei ist erstaunlich, dass sich alle auf die Säulenordnungen bezogen: die Säulen des Pantheons, des Colosseums und der Porta del Popolo. In allen drei Beispielen ging es um eine Beschreibung der einzelnen Säulen als sinnvolle Teile im Aufbau des Gebäudes: PANTHEON

»Die Säulen [...]. Im Pantheon sind sie, wie alle Säulen sein sollten, in wahrer Funktion [in vera funzione]: mit dem Versuch, eine einzige wegzunehmen, ist plötzlich alles ruiniert.«

COLOSSEUM

»Die Säulen treten nicht stark hervor, weil sie dort wenig Funktion [poca funzione] haben; jene schmalen Pilaster machen dort nicht viel mehr, als dieselbe Dekoration zu wiederholen, die unmittelbar darunter ist.«

PORTA DEL

»Von dem nach außen zeigenden Teil, [sind] die Sockel zu hoch,

POPOLO

vielleicht durch die ihnen angewiesenen kleinen Säulen. Aber die Säulen machen dort wenig Funktion [fanno poca funzione], und verursachen dort Vorsprünge. Der Fries ist gut eingeteilt in Triglyphen und Metopen. Die Attika ist eher hoch.«44

In Milizias Texten fanden wir also bisher einerseits diese drei konkreten Beispiele und andererseits die übergeordnete Formulierung im Kontext allgemeiner Nützlichkeit. Erst in dem letzten Buch, in dem er das funzione-rappresentazione-Diktum vorbrachte, dem Dizionario delle Belle Arti del Disegno von 1797, fügte Milizia diese beiden Vorstellungen zusammen. Hier erst wird klar, dass Milizia auch bei den Texten, die von allgemeiner Nützlichkeit der Architektur sprachen, immer dann, wenn es um funzione-rappresentazione ging, es auch um den wichtigsten Punkt gelungener Architektur ging, nämlich die Säulenordnungen. Sie waren die wesentlichen Ornamente der Architektur und funzione-rappresentazione meinte die Forderung, die Säulenordnungen den Regeln gemäß (»vernunftgemäß«) zu gebrauchen. Milizia beschrieb mit funzione das Verhältnis der Elemente einer Säulenordnung zum gesamten Gebäude: Jeder Teil hatte sich auf die Gesamt-

43 Milizia 1781, S. XIV (ital.). 44 Milizia 1786, S. 103 (ital.); ebd., S. 104-5 (ital.); Milizia 1787, S. 160 (ital.).

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wirkung zu beziehen. In-Funktion-Sein hieß, eine Aufgabe gegenüber der Gesamtstruktur der Säulenordnungen zu erfüllen. Das klingt folgendermaßen: »Alles muss aus der Notwendigkeit geboren werden; und die Notwendigkeit lässt keinen Überfluss zu. Deswegen müssen die Säulen immer in Funktion sein und nie in Repräsentation. Also wollen sie isoliert sein, rund, nach unten hin abnehmend, unmittelbar auf dem Boden stehend, gleichmäßig geformt mit kleinen Interkolumnen.« »Die Ornamente müssen aus dem Notwendigen geboren sein. Was in Repräsentation ist, muss in Funktion sein: dies gilt für den Gebrauch der (Säulen-)Ordnungen. Genereller: Man sollte nie etwas machen, ohne gute Gründe angeben zu können. [...] Beispiele und Autorität sind keine Gründe. Nebensächlichkeiten [...] werden nie Ornamente sein, wenn sie nicht mit dem Charakter des Ganzen übereinstimmen.«45

Milizias beide großen Themen – die Nützlichkeit der Kunst und die Säulenordnungen – verbanden sich also miteinander im Funktionsbegriff. Der Zusammenhang zwischen utile und funzione lässt sich demnach folgendermaßen erklären: Ein Bauteil, das nicht an der Gesamtstruktur eines Gebäudes Anteil hat (funzione), ist auch nicht nützlich (utile) im allgemeinen Sinn. Damit muss man also jenen Milizia-Interpretationen, die utilitá und funzione synonym verstehen, eine klare Absage erteilen. Wenn sie Synonyme wären, hätte Milizia funzione auch in seinen Schriften über andere Künste und Wissenschaften verwenden können, was er nicht tat. Im Vergleich zu den Funktionsbegriffen von Lodoli und Algarotti war somit auch eine klare Bedeutungsverschiebung zu sehen. Die Betonung der Materialgerechtigkeit der Bauteile war bei Milizia nicht vorhanden. Vielmehr ging es Milizia um vernunftgemäße Regeln innerhalb des Aufbaus eines Gebäudes. Bezogen auf die drei Aspekte des Funktionsbegriffs überwogen also die Aspekte von Relation und Ganzheitsbezug. Die Wirkung der Teile, ihre Aktion, wurde nicht thematisiert. Auch Milizia, wie Algarotti, verstand Architektur als Kunst der Nachahmung, so wie auch die Malerei, Bildhauerei, Rhetorik, Dichtung und Musik. Nachahmung, so erklärte Milizia, sei die »künstliche Repräsentation einer Sache«46. Dabei wies er

45 Milizia 1797, Bd. 1, S. 63, und Bd. 2, S. 90 (ital.): »Tutto ha da nascer dalla necessità; e la necessità non ammette il superfluo. Onde le colonne han da esser sempre in funzione e non mai in rappresentazione. [...]« und »Ornamenti in Architettura debbon nascere dal necessario. Quanto è in rappresentazione deve essere in funzione: questo è per l´uso degli ordini. [...]« 46 Milizia 1785, S. 27 (ital.): »Imitazione, è la rappresentazione artificiale d’un oggetto.«

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nicht explizit auf den Teil-Charakter des Repräsentationsbegriffs hin, aber seine Definition spricht auch nicht gegen eine solche Interpretation. Denn wenn sich, wie bei Milizia, funzione immer auf die Säule als Teil innerhalb einer Gesamtheit bezieht, dann repräsentiert sie auch immer als Teil das Gesamte. Mustergültig fand Milizia diese Repräsentation der Säulen nur im Pantheon: »mit dem Versuch, eine einzige wegzunehmen, ist plötzlich alles ruiniert«. Im Gegensatz dazu war es Algarotti noch nicht möglich gewesen, das Thema von Funktion und Repräsentation mit demjenigen von Kunst als Nachahmung zu verbinden, für ihn waren sie einander widersprechende Forderungen.

A NDREA M EMMO Andrea Memmo (1729-93) war der engste Schüler Lodolis. Von ihm stammte die umfangreichste Schrift über Lodoli und dessen Ideen zur architektonischen Funktion. Sein Buch Elementi d’architettura lodoliana erschien zum ersten Mal 1786, fünfundzwanzig Jahre nach Lodolis Tod, allerdings nur der erste von zwei Teilen. Eine vollständige Ausgabe erschien erst 1833/34, also wiederum erst vierzig Jahre nach Memmos Tod. Memmo setzte sich in seinem Buch intensiv mit Algarottis Saggio Sopra l’Architettura und Milizias Schriften auseinander. Er verglich Textstellen von Algarotti und Milizia und belegte mit Zitaten, wo Milizia von Algarotti abgeschrieben hatte. Er beschrieb, wie missverstanden sich Lodoli in Algarottis Saggio dargestellt sah, und unternahm den Versuch, Algarotti im Sinne Lodolis zu widerlegen. Die Schriften Milizias erschienen nach Lodolis Tod, und daher konnte Memmo hier auch nicht Lodolis Meinung darüber einholen, sondern nur seine eigene wiedergeben. Er schonte Milizia, den er möglicherweise kannte. Anders als Algarotti und Milizia beschwor Memmo die mathesis als Grundlage der Architektur, das heißt »die Mechanik und Statik der Gebäude« als »erstes Fundament guter Architektur«47. Er verwies auf »die zwei berühmtesten Mathematiker Europas, Newton und Leibniz, die als erste die Infinitesimalrechnung entdeckt haben«48. Allerdings lässt sich in Memmos Buch keine direkte Verbindung zwischen Mathematik und Funktionsbegriff finden. Im ersten Buch von 1786 wurde der Funktionsbegriff nicht thematisiert. Weder wurde das Frontispiz [Abb. 4] erklärt, noch auf eine Andeutung über Säulen, die nur »wenig Funktion machen«, näher eingegangen. Im zweiten Buch, das 1834 erschien, ließ sich dagegen der Funktionsbegriff gut nachvollziehen. Diesen betref-

47 Memmo 1833, S. 20 (ital.). 48 Ebd., S. 13 (ital.).

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fend konnte man das Buch in drei Teile unterteilen: In einem ersten Teil kommentierte Memmo Algarottis Architekturschriften49. Er gab hier den Funktionsbegriff Algarottis wieder und es war ihm wichtig zu betonen, dass Algarotti »funzione e rappresentazione« von Lodoli übernahm, »queste sono originalissime parole lodoliane«50. Akribisch führte er auch die Milizia-Passagen in den Vite, Principii und Dell’ Arte di Vedere auf, die wiederum Algarottis Spruch übernahmen. In einem zweiten Teil veröffentlichte Memmo die beiden Manuskripte, die ihm von Lodoli diktiert worden waren, und deren zweiten wir genauer analysierten. So weit zitierte Memmo in seinem Buch zwar die Funktionsbegriffe von Algarotti, Milizia und Lodoli, aber interpretierte diesen nicht neu. Erst den dritten Teil kann man als Kommentar zu den Manuskripten und Lehren Lodolis lesen. Und hier wird sehr deutlich, wie technisch Memmo den Begriff auffasste, ihn für technischkonstruktive Eigenschaften von Materialien, insbesondere von Holz und Stein in Bauteilen gebrauchte. Es ging ihm in erster Linie um »jene lodolianischen Prinzipien über Funktion und Repräsentation des Steinmaterials«, genauer um »die Festigkeit und die Funktion jedes Stück Steins, im Verhältnis zu irgendeiner gegebenen Last oder relativen Beanspruchung«51. Memmo gab technische Anweisungen: So müsse man bei steinernen Architraven, wie zum Beispiel im Portikus des Pantheon, drei Dinge beachten »im Hinblick auf die Funktion: das erste die größte Weite der Interkolumnen; das zweite die außergewöhnliche Größe des Stücks, das diesen oder diese Architrave formt, das dritte die größte oder kleinste Beanspruchung, dasjenige zu tragen, was darüber ist«52. Es ging hier also wieder um den strukturellen Aufbau, diesmal aber in konstruktivem Verständnis. Funktion hatte aber auch eine aktivische Bedeutung bei Memmo, zum Beispiel in folgendem Satz: »Versuche einmal, Repräsentation und Funktion derart zu verbinden, dass eine einfache Wahrheit resultiert, nämlich wahre steinerne Proportionen unterschieden nach Ort, Größe und Kohäsion des Marmors«.53

Wichtig ist hier das Wort Kohäsion (coesione), das in Chemie und Physik die Zusammenhangskräfte zwischen den Atomen und Molekülen bezeichnet. Kohäsion ist hier das Zusammenwirken (Aktion) der Bestandteile des Marmors im und zum

49 Das erste Kapitel trug den Titel Commento sopra i principali passi del Saggio algarottiano, Memmo 1834, S. 5. 50 Memmo 1834, S. 16. 51 Ebd., S. 128, 119 (ital.). 52 Ebd., S. 122 (ital.). 53 Ebd., S. 70 (ital.).

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ganzen Stück Stein. Kohäsion ist also Funktion (aktive Teilerelation). Memmos »Ort, Größe und Kohäsion« erinnern so unweigerlich an Georges Cuviers Klassifikation nach Lage, Gestalt und Funktion, die wir im ersten Kapitel besprachen. Somit kann man für Memmos Verständnis von funzione und rappresentazione schlussfolgern, dass dieses auf ein Wirken und Zeigen von Teilen in einem baulichen Gefüge zielte. Zum Beispiel weisen die Betrachtungen, dass sich ein steinernes Bauteil der äußeren Belastung widersetzen müsse, dass man in ihm Energie vermehren könne und dass es elastisch sei, auf den Versuch hin, eine Aktion im Bauteil zu formulieren. In seinem Buch kam Memmo auch auf Lodolis Erfindungen an Türen und Fenstern zu sprechen, die wir schon teilweise in Lodolis Klosteranbau gesehen haben.

Abbildung 9: Links: Frontispiz von Giovanni Ziborghis L’Architettura di Jacopo Barozzi da Vignola, Venedig 1748, mit Darstellung von Lodolis Erfindungen für Sturz, Schwelle und Seitenlaibungen54. Rechts: Fenster im Kloster San Francesco della Vigna. Die von Lodoli entwickelte Fensterbank besteht aus drei Teilen. Das Mittelstück hat eine gekurvte Unterseite mit Tropfnasen, schrägen Seiten und mittiger Rinne auf der Oberseite des Steins.

54 Für eine ausführliche Darstellung von Ziborghis Buch vgl. Rykwert 1983.

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Teil für Teil ging er Lodolis Verbesserungsvorschläge durch: neue Ausformungen für die Schwelle, den Sturz und die Seitenteile der Laibungen. Zuerst besprach er die Schwelle, die eine »ganz neue und ganz lodolianische Erfindung«55 gewesen sei. Aber er beschrieb auch die Stürze, die am besten als Halbkreis oder Kettenlinie geformt würden, und Seitenlaibungen, die in ihrer Mitte verdickt werden sollten, da der Seitendruck aus der Wand dort am größten sei und sie an dieser Stelle dazu neigten, sich in die Öffnung hineinzubiegen. Schließlich gab Memmo an, dass eine Abbildung einer solchen Tür in Giovanni Ziborghis Vignola-Ausgabe von 1748 abgedruckt sei [Abb. 9]. Memmo ließ auch eigene Türen und Fenster gemäß diesen Vorgaben ausführen. Hätte Lodoli – den Memmo »Steinkundephilosoph«56 nannte – diese gesehen, so hätte er auf den ersten Blick den »Grund ihrer richtigen Funktion und ihrer richtigen Repräsentation«57 angeben können. Auch Memmo beschäftigte sich mit den Themen von Kunst als Nachahmung der Natur einerseits, und dem Verhältnis von Kunst und Nützlichkeit andererseits. Wie Algarotti verwendete auch Memmo das Begriffspaar bellezza-utilità als künstlerische Forderung, nämlich indem er behauptete, dass Schönheit (bellezza) nicht ohne Nützlichkeit (utilità) zu finden wäre58. Aus obiger Beschreibung von Memmos Funktionsbegriff ist noch viel eindeutiger als bei Algarotti oder Milizia ersichtlich, dass funzione und utilità nicht gleichgesetzt werden können. Funzione war die Wirkungsweise der Kräfte in Material und Bauteil, ihre Elastizität und Energie, quasi ihr immanentes Gesetz, dem mit einer möglichst passenden Form entsprochen werden musste. Die Meinungsverschiedenheit zwischen Algarotti und Memmo lag insbesondere in der Frage, inwieweit der Steinbau den Holzbau nachzuahmen habe. Nach Lodoli habe jedes Material sich selbst darzustellen, und es sei merkwürdig, dass der Steinbau die Formen des früheren Holzbaus nachahme. Dem entgegen stand Algarottis bereits beschriebene Auffassung, dass gerade die Transformation der Formen des Holzbaus auf den Steinbau dem Ideal der Nachahmung der Natur folge. Die ersten Bauformen hätten sich unter Verwendung von Holz entwickelt, also seien sie der natürliche Ursprung der Architektur, den es nachzuahmen gelte. Algarotti kritisierte Lodolis Auffassung heftig, da dieser mit seinem Dogma die meisten und schönsten Gebäude aller Jahrhunderte verwerfen würde. Memmo wiederum nahm nun Lodoli in Schutz. Algarottis Vorwurf sei »eine neue Lächerlichkeit, die der Herr Graf seinem Freund darreicht«59. Memmo folgte in seiner Auffassung Lodoli, dass sich

55 Ebd., S. 158 (ital.). 56 Ebd., S. 157 (ital.): »filosofo litologo«. 57 Ebd., S. 160 (ital.). 58 Vgl. Memmo 1834, S. 15. 59 Memmo 1834, S. 20 (ital.).

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nämlich die Formen des Steinbaus nach den im Material wirkenden Kräften richten müssen. Da Stein andere Eigenschaften (Zugfestigkeit, Gewicht) hat als Holz, da Stein keine zusammenwirkenden Fasern hat, können die Formen von Holz und Stein nicht gleich sein. Heute könnte man Nachahmung der Natur so verstehen, dass eben der Stein seiner Natur gemäß geformt werde. Diesen Schritt machten aber weder Memmo noch seine Zeitgenossen. Nachahmung der Natur bedeutete in der Architektur die Nachahmung der sich aus dem Holzbau entwickelten Formen nach dem Vorbild der Antike – unabhängig vom Material. So kam es, dass Memmo die Nachahmung ablehnen musste. Es dürfe nur »der Verstand und nicht die Nachahmung den Geist der neuen Architekten«60 anleiten. Schließlich wurde er sehr deutlich: Die Nachahmung sei eine Seuche, »la imitazione è un morbo«61. Der Funktionsbegriff diente hier, in der Diskussion um die architektonische Formfindung, der Unterstützung einer rationalen Vorgehensweise im Gegensatz zur nachahmenden Anwendung eines historischen Formenkanons. Mit den »lodolianischen Prinzipien über funzione und rappresentazione des Steinmaterials« und »nicht etwa beredsam mit der Autorität der Antiken zur Hand, aber mit der nackten anschaulichen Vernunft«62 kritisierte Memmo das Konzept der Nachahmung. Memmo verwehrte sich aber auch gegen die Anschuldigung, Lodoli hätte die Antike in der Gesamtheit abgelehnt. Die Griechen, schrieb er, hätten nach ihren Fähigkeiten das Bauen weiterentwickelt, und es wäre in ihrem Sinne gehandelt, wenn man sie nicht nachahme, sondern weiterentwickle. So wie die Griechen für das Material Holz logische Formen erfunden hätten, so müssten heute die Architekten für den Stein logische Formen erfinden. Es bleibt auch hier ungeklärt, ob und inwieweit Memmo den Funktionsbegriff dem mathematisch-technischen Vokabular entnommen hatte und ob er ihn metaphorisch meinte. Er erläuterte ihn nicht weiter, doch schwingt in ihm eine technische Ausrichtung mit: funzione als Wirkungsweise der Kräfte, die aus den »Gesetzen von Mechanik, Statik, Stereotomie und Litologie etc.«63 resultiert.

W IRKUNG Zusammenfassend stellt sich diese erste Verwendung der Funktionsidee im achtzehnten Jahrhundert in den Quellen von Lodoli, Algarotti, Milizia und Memmo höchst unterschiedlich dar. In Lodolis Funktionsbegriff ließen sich am überzeu-

60 Ebd., S. 83 (ital.). 61 Ebd., S. 110. 62 Ebd., S. 128 (ital.). 63 Ebd., S. 109 (ital.).

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gendsten die Merkmale von Aktion, Relation und Ganzheitsbezug erkennen. Und als Entsprechung zu diesem Funktionsbegriff als Teil-Aktion konnte man den Repräsentationsbegriff als Teil-Darstellung und sichtbaren Verweis auf ein größeres Ganzes lesen. Bei Lodoli ging es um die grundsätzliche Erkenntnis, dass alles ein Teil von etwas anderem ist, das Teil-Sein Bewegtsein-Sein heißt, und dass ein Teil erst in der obersten Stufenleiter des letzten Unteilbaren, Ruhenden und Ewigen aufgeht. Bei Milizia erfuhren die beiden Begriffe eine explizite Anwendung auf die Säulenordnungen, bei der Funktion als notwendige, relationale Verbindung der Elemente der Säulenordnungen aufgefasst wurde. Außerdem sahen wir bei Milizia eine enge Verknüpfung von verschiedenen Begriffen des Nutzens, des Gebrauchs und der Funktion, die sich vor allem in der Rezeption zunehmend vermischten. Man sollte sich aber nochmal ins Gedächtnis rufen, dass Milizia Funktion nur auf Architektur bezog. Algarotti und Memmo stellten Funktion und Repräsentation in den Dienst der Diskussion über materialgerechte Bauteilausformung, jedoch mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Bei Memmo ging es schwerpunktmäßig um die Bestandteile im Stoff (Kohäsion), bei Algarotti um die strukturellen Teile des Gebäudes. Wie verbreitete sich nun die Idee von der Einheit von Funktion und Repräsentation durch Algarottis, Milizias und Memmos Schriften? Wir haben bereits gesehen, dass vor allem Algarottis und Milizias Bücher schnell übersetzt wurden und viele Auflagen erreichten. Man könnte also meinen, dass sich die Idee der Funktion in ihren verschiedenen Ausrichtungen schnell verbreitete, doch trifft dies nur mit Einschränkung zu. Die ersten Übersetzer der Schriften von Algarotti und Milizia konnten offenbar mit der Vokabel funzione nicht sehr viel anfangen, denn weder in deutschen und französischen noch in englischen Übersetzungen fand eine direkte Übersetzung in Funktion, fonction oder function statt. Rudolf Erich Raspes Algarotti-Übersetzung von 1769 hat das bereits gezeigt. Betrachtet man die Übersetzungen genauer, ist es interessant zu sehen, wie die Übersetzer funzione e rappresentazione verstanden haben. Da sind zunächst die beiden Übersetzungen von Algarottis Saggio ins Deutsche und Französische. In der deutschen Übersetzung gab Raspe dem Wort funzione eine eindeutige Ausrichtung als »Nutzen«, »Absicht« und »Gebrauch«, nämlich die Forderung nach Nützlichkeit jedes einzelnen Bauteils. Aber Raspe übersetzte nicht nur funzione, sondern auch uffizio und utilità mit »Nutzen«, und so wurde den Lesern der deutschen Übersetzung keine Möglichkeit gegeben, den Funktionsbegriff zu verstehen. Auch die Übersetzung von rappresentazione mit »paradieren«, »Vorstellung« und »Form« verschleierte den Sinn. Im Französischen der Ausgabe von 1772 überraschte dagegen die Verbindung von funzione mit »Wahrheit« (»realité«, »usage véritable & réel«). Im letzten Zitat schien funzione tatsächlich als Wirkung (»effet«) im Material verstanden worden zu sein, und traf damit, im Gegensatz zum

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Deutschen, den gemeinten Sinn. Der Begriff der rappresentazione wurde ins Französische mit représentation übersetzt64. Ähnlich verhielt es sich mit den deutschen Übersetzungen von Milizias Principii, die 1784 und 1824 als Grundsätze der bürgerlichen Baukunst veröffentlicht wurden. Der Halbsatz »onde quanto è in rappresentazione deve essere in funzione« wurde in beiden Übersetzungen schlichtweg weggelassen. Offensichtlich schien er entbehrlich. In der englischen Ausgabe von Milizias Memorie übersetzte Eliza Cresy 1826 den Satz »onde quanto è in rappresentazione, deve essere sempre in funzione« mit »so that whatever is represented must appear of service«65. Auch hier keine direkte Übersetzung. Es zeigt sich hier also das gleiche Bild. Daraus folgt für die nachfolgenden Theoretiker im neunzehnten Jahrhundert, dass sie entweder die italienischen Originale gelesen, oder aber den Funktionsbegriff von Neuem für die Architekturtheorie entdeckt, übertragen oder erfunden haben. Aus den Übersetzungen hatten sie ihn zumindest nicht. Am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts lagen somit schon mannigfache Interpretationen vor. Das unübliche Wort forderte das geradezu heraus. Das folgende Kapitel wird zeigen, wie der Begriff von Neuem in die Architekturterminologie eingeführt wurde.

64 Algarotti 1772, Bd. 2: 1. »Il ne faut, ajoute-t-il, rien employer pour la représentation qui ne soit d’un usage véritable & réel« [S. 75], 2. »que la représentation doit être conforme à la réalité« [S. 78], 3. »Bien loin que la réalité & la représentation soient la même chose dans les bâtimens« [S. 79], 4. »Si la pierre s’employoit en représentation telle qu’elle est en effet« [S. 89). In der französischen Ausgabe von Algarottis zitiertem Brief wurde funzione nicht übersetzt [1772, Bd. 6]. 65 Milizia (Cresy) 1826, S. XIX.

Form und Funktion im Gegliederten Ganzen

Gottfried Semper, Karl Bötticher und Eugène-Emmanuel Viollet-le-Duc waren die stärksten Verfechter einer architektonischen Form-Funktion-Korrelation in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, gefolgt von Louis Sullivan und Frank Lloyd Wright am Ende des Jahrhunderts. Dabei stützten sich diese Protagonisten auf die neuen Erkenntnisse der Naturgeschichte, der Biologie und der romantischen Philosophie. Zusätzlich war für Semper die Mathematik und ihre im neunzehnten Jahrhundert bereits weit entwickelte Funktionsrechnung interessant. In diesem Kapitel soll, mit Fokus auf Semper und Sullivan, untersucht werden, wie die Architekten und Theoretiker der neunzehnten Jahrhunderts das Verhältnis von Form und Funktion in der Architektur verstanden.

G OTTFRIED S EMPER Als Gottfried Semper (1803-79) in Göttingen 1823 zu studieren begann, belegte er anfänglich mathematische Fächer und vertiefte sich in Themen der Hydraulik, Hydrostatik und den Beruf des Wasserbauingenieurs, bevor er sich 1826 der Architektur zuwandte. Seinem großen Interesse an der Mathematik mochte die unklare Bemerkung in seiner Antrittsvorlesung als Architekturprofessor 1834 in Dresden geschuldet sein, dass »der abstracte Begriff der rein architectonischen Functionen nur auf rein mathematische Formen anwendbar«1 sei. In den darauffolgenden zwanzig Jahren las man in Sempers Veröffentlichungen nichts mehr über Funktionen und deren Anwendung auf Formen. Dann, plötzlich, in der Dekade von 1853 bis 1863, tauchten Überlegungen über Funktionen und Formen überall auf, um danach, erstaunlicherweise, wieder zu verschwinden. Der Beginn dieser Dekade fiel zusammen mit Sempers Exilzeit in London, genauer gesagt mit seiner Anstellung als Lehrer am Department of Practical Art ab 1852. Zu den ersten

1

Zitat in Laudel 1991, S. 228.

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Äußerungen in dieser Dekade gehörten zwei englische Vorlesungen über Gefäße, die 1884 von seinen Söhnen ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht wurden2. Am Ende dieser Dekade stand Sempers bedeutendste Veröffentlichung, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, oder Praktische Aesthetik, deren erster Band 1860 und zweiter Band 1863 erschienen. In später nie erreichter Bestimmtheit stellte Semper in den beiden Vorlesungen über Gefäße dar, was er unter Funktion verstand. In der ersten, Klassifikation der Gefäße, erläuterte er: »Jede Vase oder irgend welches Gerät überhaupt ist, gleich einem Gebäude, ein Ganzes, das aus Teilen zusammengesetzt ist, die ihre eigenen Funktionen ausüben, während sie mit den anderen auf ein gemeinsames Ziel zusammenwirken. Nicht nur ein jeder Gegenstand als Ganzes, sondern auch jeder Teil desselben muß durch sein Aeußeres seine Funktion aussprechen, und die Wahl der Ornamente muß mit der Absicht stattfinden, durch ihre Anwendung die charakteristische Eigentümlichkeit und Funktion eines jeden Teiles und des Ganzen hervorzuheben.«

3

Unschwer kann man hier erkennen, dass es in diesem Satz um das Verhältnis von Teilen und Ganzem geht und dass Funktion etwas Aktives ist, etwas, das ausgeübt werden muss. Dementsprechend hat das folgende Kapitel zur These, dass es Semper, immer wenn er über Funktionen schrieb, um dieses Thema der aktiven Relation von Teilen und Ganzem ging. In dem Vortrag Ueber die Gefäßteile wurde er genauer: »ich nannte als die konstituierenden Teile eines zusammengesetzten Gefäßes die folgenden: I. den Bauch, II. den Fuß oder Untersatz, III. den Hals und Ausguß, IV. die Handhaben, V. den Deckel. Jeder dieser Teile hat seine eigene Bedeutung und Funktion. [...] I. Der Bauch. [...] Derselbe hat die Funktion, eine Flüssigkeit in einem Zustand des hydrostatischen Gleichgewichts zu erhalten. Es findet hier eine dynamische Aktion und Reaktion vom Mittelpunkt zur Oberfläche und von dieser zurück auf den Mittelpunkt statt; aber diese beiden Aktionen neutralisieren sich, sie gehen auf keine anderen Teile des Ganzen über. [...]

2

Den ersten der beiden Vorträge, in den Kleinen Schriften unter dem Titel »Klassifikation der Gefäße« geführt, hielt Semper am 25. November 1853, den zweiten Vortrag, »Ueber die Gefäßteile«, am 2. Dezember 1853. Die Titel der beiden Vorträge wurden von Hans Semper zugefügt. Wolfgang Herrmann veröffentlichte 1981 auszugsweise die Originaltexte der Manuskripte und zeigte Übersetzungsfehler auf. Bis zu Herrmanns Veröffentlichung waren die Kleinen Schriften die einzige allgemein zugängliche Quelle dieser Vorlesungen.

3

Semper 1884, S. 32.

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II. Der Fuß oder Untersatz. Wir kommen jetzt zu einem anderen Glied der Vase, welches zwei Funktionen ausübt; der eine Teil desselben wirkt aufwärts als Accipient des Bauches, der andere Teil abwärts als Stütze und Widerlager gegen das Gewicht des Ganzen. Diese zwei aktiven Kräfte treffen zusammen und finden einen gemeinsamen Stützpunkt ungefähr in der Mitte zwischen dem Bauch des Gefäßes und dem Abakus, welcher den Boden repräsentiert. [...] III. Der Hals und Ausguß. [...] Auch hier wirken zwei Kräfte in entgegengesetztem Sinne. Der Hals ist der Trichter für das Ein- und Ausgießen der Flüssigkeit. Er ist ein doppelter Trichter; er muß geeignet sein, einerseits die Flüssigkeit zu empfangen, andrerseits dieselbe von sich zu geben. Zwei Funktionen sind in eine verschmolzen, aber beide negieren sich nicht gegenseitig, wie am Fuß, sie gehen stufenweise ineinander über und wechseln in ihrem Dienste ab.«

4

Man sieht hier, dass Funktion mit »Aktion und Reaktion«, »Dienst«, »aktive Kräfte« und »Wirken« von »Gliedern« in einem Ganzen umschrieben wurde. Teile eines Geräts oder auch Gebäudes als »Glieder« zu bezeichnen, konnte man nun bei Semper immer wieder lesen. Im Gegensatz dazu grenzte er die Bedeutungen von Funktion (function) einerseits und Zweck (intention) andererseits voneinander ab. Wenn Semper von Intention sprach, ging es nicht um Teile-Ganzes-Relationen, sondern stattdessen um eine andere Relation, nämlich diejenige von Individuum und Objekt. Demnach gebrauchten Individuen Gefäße mit folgenden Intentionen: »Drei verschiedene Zwecke [intentions] sind maßgebend bei jeder Herstellung von Gefäßen, welche dieselben in ursprüngliche oder Mischformen teilen, je nachdem nur einer oder mehrere dieser Zwecke zugleich bei der Bereitung derselben erfüllt werden. Der erste Zweck ist der, eine Flüssigkeit oder eine Kollektivmasse von Substanzen zusammenzuhalten. Der zweite Zweck ist der des Schöpfens oder Auffangens. [...] Der dritte Zweck ist der des Ausleerens.«

5

In diesen Sätzen findet sich weder eine Anmerkung über Teile und Ganzes noch über Aktionen, die von bestimmten Teilen ausgeführt werden. Semper bestimmte hier Intentionen und Aktionen von Menschen, die Gefäße gebrauchten, um bestimmte Dinge zu sammeln, aufzubewahren und wieder zu verbrauchen. Gefäße waren Mittel zur Verfolgung dieser Intentionen, Mittel zu Zwecken, und dabei spielte es keine Rolle, ob sie aus Teilen bestanden oder ein Ganzes waren. Inten-

4 5

Ebd., S. 35-40. Ebd., S. 25. Im englischen Original verwendete Semper die Worte »function« und »intention«, die von seinem Sohn mit »Funktion« und »Zweck« übersetzt wurden. Vgl. Herrmann 1981, S. 157.

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Abbildung 10: Gottfried Semper beschrieb die Intention des Wasserholens an einem Brunnen anhand der griechischen Hydria. Die rechte Illustration druckte er im zweiten Band von Der Stil ab [1863, S. 5].

Mittel

Intention(en), Zweck(e)

Abbildung 11: Skizze zu den Teilen eines Gefäßes und seinen Funktionen, sowie Ausschnitte aus Sempers Klassifikation der Gefäße, die die Funktionen erklärten. »Ein zusammengesetztes Gefäß 5. Deckel/Propf:

hat: 1. Einen Körper, oder Bauch.

Decken+Schützen

2. Einen Stand, oder Fuß. 3. Einen Hals, oder Ausguß mit

3. Hals/Ausguß:

Lippen oder Rändern. 4. Henkel.

doppelter Trichter

5. Einen Deckel. Der Körper ist

für Ein- +

zusammenhaltend und seine

Ausgießen

Ornamentierung muß diese Funktion zeigen, sie muß die Idee des

4. Henkel/

Umfanges erwecken [...]. Der

Handhaben

Stand hat zwei Funktionen, welche in der Mitte als in ihrem

1. Körper/Bauch:

Stützpunkte zusammentreffen.

Fassen/Aufbewahren

[...] Der haltende oder umfangende Teil des Standes [...]

2. Stand/Fuß:

wirkt aufwärts [...]. Der untere

doppelte Funktion,

Teil [...] ist abwärts gerichtet.

aufwärts Stützen,

[...] Der Hals hat ebenfalls

abwärts Widerlager

eine doppelte Funktion«. [Semper 1884, S. 33-4].

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tion/Zweck und Funktion waren zwar jeweils Begriffe, die auf je etwas anderes verwiesen. Aber Intention/Zweck verwies auf etwas außerhalb des Gegenstands, auf den Nutzer. Im Gegensatz dazu verwies Funktion nach innen, auf das Verhältnis der einzelnen Teile und des Ganzen, auf den Aufbau des Gegenstands. Dadurch wurde eine Grenze bestimmt, die einen Gegenstand oder eine Sache von etwas außerhalb abgrenzte. Das Außenseiende, also zum Beispiel der Nutzer, beeinflusste zwar auch den inneren Aufbau, aber er war nur eine Bedingung unter vielen, die berücksichtigt werden mussten, wenn es um die Herstellung eines Ganzen ging. Funktion betonte das aus Teilen bestehende Ganze als etwas für sich abgeschlossenes, das damit in den Worten Sempers »als Gegliedertes zugleich individuelles Sein«6 gewann. Semper gab selbst ein Beispiel anhand der griechischen Hydria, ein antikes Keramikgefäß, das sehr gut zur Erläuterung der beiden gegensätzlichen Betrachtungsweisen eines Gegenstandes diente. Einerseits war die Hydria ein Mittel zum Zweck des Wasserholens an einem Brunnen. In der Antike bedienten sich die Frauen dieses Mittels [Abb. 10]. Andererseits ließen sich an der Hydria alle von Semper beschriebenen Teile eines Gefäßes und deren Funktionen zeigen. Mit der Beschreibung der Funktionen der Gefäßteile wurden ihre Bezüge untereinander und dadurch der strukturelle Aufbau des ganzen Objekts verständlich [Abb. 11]. Dieses Verständnis der Funktionen der Gefäßteile, also ihre teilhabende Aktivität im Gefäßganzen, ließ sich für Semper ebenso auf die Objekte anderer technischer Künste übertragen. Und da diese Künste – Textilkunst, Keramik, Tektonik (Zimmerei), Stereotomie (Steinschnitt) und Metallotechnik – architektonische Formen hervorgebracht hatten und auch zukünftige Veränderungen der Architektur hervorbringen würden, war das Gesagte auch auf die Funktionen der Architekturteile anwendbar. In der Tektonik zum Beispiel verglich Semper Möbel und Holzgebäude derart, dass die »beiden Funktionen des Stützens und des Tragens [...] bei beiden auf die einfachste Weise durch vertikale Ständer und horizontale Pfosten oder Balken vertreten«7 waren. Ein anderes Beispiel war die Mauer oder Wand, deren hauptsächliche Funktion war, den Raum innerhalb eines Gebäudes abzuschließen. Semper stellte fest, dass die Antike »in der Mauer nie das tragende, sondern immer nur das Raum trennende Element«8 sah. Nach Semper hatte »die Wand noch bis zu Ende des 12. Jahrhunderts ihre antike Bedeutung als Raumesabschluss behalten, und obschon sie Gewölbeträgerin und Gewölbestütze geworden war gab sie diese ihre mechanischen Funktionen noch eigentlich nicht kunst-

6

Semper 1863, S. 241.

7

Semper 1860, S. 373.

8

Semper 1884, S. 16. Zur umschließenden, aber nicht tragenden Funktion der Mauer vgl. auch Semper 1860, S. 243, 483.

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symbolisch zu erkennen, sie verrichtete diese Dienste gleichsam verstohlen, und das uralte indogermanische Symbol des Dachstützens, die Säule, blieb noch immer scheinbar die Trägerin des gewölbten Deckenzeltes«9. Das bedeutendste Beispiel war die antike Säule. In Der Stil schrieb Semper von den »drei Thätigkeiten« oder von den »Bestimmungen des Aufnehmens, selbständigen aufrechten Tragens und Uebertragens einer Last, welche der cylindrischen Stele beigelegt werden«. Der Säule werde »gleichsam für jede ihrer Thätigkeiten besondere Organe zugetheilt [...], wodurch sie als Gegliedertes zugleich individuelles Sein gewinnt«10. Analog zum Funktionendiagramm der Gefäße [Abb. 11] kann man dementsprechend auch Teile und Funktionen der Säule diagrammatisch darstellen [Abb. 12].

Abbildung 12: Darstellung der Säulenfunktionen anhand zweier Säulen der Westfassade von Gottfried Sempers Polytechnikum in Zürich (1864).

1. Kapitell: Last-Aufnehmen

2. Schaft: Selbständiges, aufrechtes Tragen

3. Basis: Last-Übertragen (aufwärts Stützen, abwärts Widerlager)

9

Semper 1860, S. 506.

10 Semper 1863, S. 241-2.

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Trotz dieses Vergleichs zwischen Gefäß und Säule stellte sich aber das Thema der Funktionen in der Architektur viel komplexer dar als bei Gegenständen der technischen Künste. Der Unterschied zwischen Gefäß und Säule war, dass das Gefäß ein Ganzes bildete, also in gewisser Weise abgeschlossen war, wohingegen die Säule zwar einerseits ein Ganzes für sich, andererseits aber wieder nur ein Teil mit einer Funktion innerhalb eines größeren Ganzen, nämlich der baulichen Struktur, darstellte. So hatte die Säule, »mit ihrem Epistyl, die Funktion des Dachaufnehmens zu vollfüllen«11. Es gab also in der Architektur eine Reihe von unter- und übergeordneten Systemen und es war die Aufgabe des Architekten, in den konkreten Objekten sowohl ihr individuelles Sein als auch ihr Teil-Sein innerhalb einer größeren Struktur auszudrücken. Die Säule sollte sich sowohl als eigenständige Einheit darstellen als auch als Glied in das Bauwerk einordnen. Die Funktionen der Teile waren dementsprechend genau zu bestimmen, jeweils für sich im einzelnen als auch im Hinblick auf die Gesamtwirkung im gegliederten Bau. Aus dem bisher Gesagten mag deutlich geworden sein, dass die Konzepte von Struktur und Funktion bei Semper eng zusammengehörten. Oft schrieb Semper sogar von der struktiven Funktion, was redundant anmutet, denn die Funktionen bezeichneten fast immer das Wirken eines Teils auf die Struktur eines Ganzen. Bei Semper gab es hauptsächlich mechanische, tragende, dynamische, struktive, statische und dienende Funktionen, und alle diese Umschreibungen verwiesen mehr oder weniger auf die Struktur, unter der Semper das »Stützwerk« oder auch das »Gittergerüst«12 eines Geräts oder Gebäudes verstand. Dabei ist wichtig festzuhalten, dass nicht nur Bauwerke einen strukturellen Aufbau hatten, sondern ebenso auch Gefäße, Textilien und andere Produkte der technischen Künste. Selbst ein Fingerring, der einen Diamanten hielt, war ein Element, das »struktiv [ist], es fungiert mechanisch, es faßt, verkettet, bindet«13. Insgesamt ging daraus eine Architekturauffassung hervor, deren grundsätzliche Fragestellung darin bestand, wie Bauteile so zusammengestellt werden können, dass künstlerische Ganzheiten entstehen, die »individuelles Sein« beanspruchen und zu »freier selbstzwecklicher Idealität«14 gelangen. Der Ausdruck der Funktionen in architektonischen Formen spielte dabei eine wichtige Rolle. So sollte zum Beispiel die »doppelte Funktion« des Vasenfußes – Stütze für den Vasenkörper und Lastabtrag auf den Boden – sich ausdrücken »in Form und Schmuck«, und zwar durch »steigende und fallende dekorative Formen, die an Straffheit und Elasticität

11 Semper 1860, S. 483. 12 Semper 1863, S. 237, 496. 13 Semper 1884, S. 338. 14 Ebd., S. 422.

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erinnern«15. Analog schrieb Semper zur zusammenhaltenden Funktion des Vasenbauchs, »seine Ornamentierung muß diese Funktion zeigen, sie muß die Idee des Umfanges erwecken«16. Diese Beispiele zeigen, dass es in der Auffassung Sempers nicht ausreichte, dass die einzelnen Teile mittels ihrer Form ihre Funktionen erfüllten, sondern er verlangte, dass den Funktionen Ausdruck gegeben wurde. Die wirkenden Funktionen, die im feststehenden, unbeweglichen Geräteteil oder Bauglied nicht ablesbar waren, mussten dem Beschauer in Erinnerung gerufen, sichtbar gemacht und gezeigt werden. Und nur, indem die Teile überformt, indem ihre Funktionen »in Form und Schmuck« ausgedrückt wurden, erhoben sich Geräte und Gebäude zu Kunstwerken. Funktionserfüllung und Funktionsausdruck waren also zwei verschiedene, sich gegenseitig bedingende Gesichtspunkte ein und derselben Aufgabe, beide waren zwingende Voraussetzung für gute Architektur. Umgekehrt waren diejenigen Geräte und Gebäude, die die Funktionen nicht ausdrückten, eben auch keine Kunst. Nun wurden jedoch nicht nur Funktionen zum Ausdruck gebracht, sondern auch Intentionen oder Zwecke. Innere Funktionen und äußere Bestimmung waren gleichermaßen wichtige Bedingungen des Geräts oder Gebäudes und mussten beide in Form und Ornament ausgedrückt werden. Dafür unterschied Semper zwei Arten von Ornamenten. Die erste Art bestand aus geometrischen und naturalen Motiven. Sie dekorierten jene Teile, die »struktiv tätig« waren – also zum Beispiel beim Gefäß den Fuß, bei der Säule Basis oder Schaft – und veranschaulichten die Funktionen der Glieder. Die zweite Art von Ornamenten war eine figürliche Darstellung, also zum Beispiel die gemalten Szenen auf einem Gefäßkörper oder die Skulpturen im Giebelfeld eines Tempels. Diese zweite Art von Ornamenten veranschaulichte, wofür ein Gerät oder Gebäude gemacht wurde, seine »Bestimmung«: »Wenn letztere [die Ornamente, UP] keine andere Bedeutung haben als die, Symbole zu sein, welche der Natur oder anderen Künsten in der einzigen Absicht entlehnt wurden, in unserem Geiste auf angenehme Weise eine klare Auffassung von der dynamischen Funktion eines Teiles oder eines Ganzen an einem Kunstwerke zu erwecken, dann sind es Ornamente und Symbole im ersteren Sinne des Wortes. – Die wundervollen griechischen Ornamente sind

15 Semper 1863, S. 96. Analog schrieb Semper über den Vasenhals als Trichter S. 99-100: »Der Hals ist der Trichter, um das Gefäss zu füllen, zugleich ist er der Spund, um dasselbe zu leeren. [...] Die Griechen urgirten diesen Unterschied, und wussten ihn mit gewohntem Scharfsinne formell zu verwerthen, indem sie den Hals als doppelten Trichter, als aufwärts und niederwärts thätig, charakterisirten; – zunächst durch die Form, indem sie den Hals oben und unter erweiterten, in der Mitte verengten, sodann durch den Ornatus«. 16 Semper 1884, S. 33.

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meistens Symbole dieser Gattung. Die zweite Art von Ornamenten sind die, welche [...] Gedanken, Handlungen und Umstände ausdrücken, die nicht unmittelbar mit der dynamischen oder struktiven Idee des Gegenstandes in Zusammenhang stehen. Solcher Art sind z.B. die schönen Malereien auf den griechischen Vasen, welche Heroenkämpfe und Gegenstände darstellen, die sich auf die Bestimmungen der Vasen beziehen.«

17

Semper entwickelte hier eine sehr interessante Theorie für diese beiden Arten von Ornamenten. Beiden wurden bestimmte Plätze innerhalb einer Struktur zugewiesen. Die Ornamente der äußeren Bestimmung, die in der Regel bildhafte oder plastische Darstellungen waren, waren nur auf solchen Teilen des Ganzen zulässig, die nichtstruktiv tätig, also konstruktiv neutral waren. Da diese Art der Ornamente meistens einer höheren Kunst, zum Beispiel der Bildhauerei oder Malerei angehörte, wurden sie noch weiter erhöht, indem man sie innerhalb der »Ruhepunkte der Struktur«18 anordnete. Anhand der Hydria kann man diese Zuweisung sehr gut verdeutlichen. Auf ihrem Gefäßbauch, der ein solches Ruhefeld darstellt, befindet sich die bildliche Darstellung ihrer Bestimmung, des Wasserholens am Brunnen. Dagegen hat der Vasenfuß hauptsächlich stützende und lastabtragende Funktionen und bildet somit keinen Ruhepunkt. Auf dem Fuß befinden sich Ornamente erster Art, es sind Blätter, die die Stützfunktion repräsentieren [Abb. 13].

Abbildung 13: Semper unterschied zwei Arten von Ornamenten, solche zur Repräsentation der Bestimmung eines Objekts und solche zur Repräsentation der Funktionen der Teile (Bildvorlage: Semper 1884, S. 264).

Ornament der Bestimmung (Intention/Zweck): Wasserholen

Ornament der Funktion: Stützen

17 Ebd., S. 36. 18 Semper 1863, S. 254.

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Auch im Holzbau unterschied Semper sowohl konstruktiv wirkende Bauteile als auch »in struktiver Beziehung unthätige«19 Felder, nämlich die Füllungen von Ständer- oder Rahmenwerken. Aus ihnen folgten unterschiedliche Ornamente: »Da die Zwischenfelder nicht dynamisch thätig sind, bilden sie Ruheplätze und gleichsam Tafeln für die Entfaltung frei dekorativer und tendenziöser Kunst, die auf struktive Thätigkeit keinerlei Bezug hat; hierin das Gegentheil jener ersterwähnten stützenden, tragenden und getragenen Theile des Holzgezimmers, deren Dekoration ihre Thätigkeit und Bestimmung 20

hervorheben und bildlich versinnlichen darf und soll.«

Und wie so oft bei Semper war es die griechisch-antike Architektur, in der die beiden Ornament- oder Schmuckarten und ihre Platzierung am vollendetsten herausgearbeitet waren: »Die hellenische Kunst [...] weiset jeder Hälfte die ihr gebührende Stelle an. Sie fasst die ornamentalen Symbole vorzugsweise in struktiv-funktionellem Sinne, mit möglichst gemilderter und leisester Anspielung auf tendenziöse Bedeutung, die ihnen noch bleibt; der höheren Kunst weist sie ihre neutralen Felder an, wo sie, von der Struktur und dem nächsten materiellen Dienste des Systemes unabhängig, sich frei entfaltet.«

21

Die antiken Säulen hatten in der Hauptsache Ornamente, die Funktionen ausdrückten. Die Kanneluren zum Beispiel wurden von Semper als Schmuck beschrieben, der die lastabtragende Funktion der Säule, »ihre Straffheit und koncentrirte Widerstandskraft«22 veranschaulichte. Auch das korinthische Kapitell mit dem Ornament der von Last umgebogenen Blätter war ein Beispiel für Funktionsausdruck. Das Motiv der gekrümmten Pflanzenblätter führte Semper oft als Symbol von Elastizität an – zum Beispiel in seiner 1854 gehaltenen Vorlesung Über architektonische Symbole – wobei der Krümmungsgrad der Blätter die Schwere der Last anzeigte23. Im Gegensatz dazu waren die Felder zwischen den Säulen, wie es der Bildausschnitt der beiden Säulen am Polytechnikum in Zürich zeigt [Abb. 12], konstruktiv neutrale Felder, die Platz für Inschrifttafeln lieferten. Das Giebelfeld eines Tempels war ein ebensolches Beispiel. Da dieses nicht konstruktiv beansprucht war, war es frei für die bildliche Darstellung dessen, wofür der Tempel errichtet wurde.

19 Ebd., S. 212. 20 Ebd., S. 304. 21 Semper 1860, S. 386. 22 Ebd., S. 420. 23 Semper 1884, S. 301.

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Damit war die Aufgabe des Architekten klar umrissen, sie bestand wie bei »jedem künstlerischen Streben« im »Schmücken, Bilden und Darstellen«24, eine Feststellung, die uns schon bei Algarotti im zweiten Kapitel begegnet ist. Für Semper war dementsprechend eine »Karaiben-Hütte« kein Werk der Architektur, da die einzelnen Elemente dieser Hütte keinen formalen Ausdruck ihrer Funktionen zeigten25. Erst der Architekt schaffte über die Ausbildung von Ornamenten Werke der Kunst. Da die Ornamente der Funktion den Naturformen entlehnt waren, und zwar den Pflanzenformen, Tierformen und menschlichen Figuren, waren sie Symbole. Ein Blätterkranz zum Beispiel, bei dem die Blätter abwechselnd aufwärts und abwärts eingeflochten waren, benutzte man dort »als Symbol, wo ein gleichzeitiges oder abwechselndes Fungiren im entgegengesetzten Sinne oder ein Wirken von Kräften gegeneinander ausgedrückt werden«26 sollte. Semper bezeichnete diese Ornamente auch des Öfteren als »Repräsentanten«, die der Künstler schaffen müsse. In Der Stil war für Semper das Ornament der Funktion der »Repräsentant der erhaltenden Kräfte« und erst der »Künstlersinn« mache »aus den gestützten Bestandtheilen Repräsentanten und gleichsam Vorboten der wirklichen Last, ertheilt so dem Gestelle eine gewisse innerliche Vervollständigung und bildet es zu einer in sich abgeschlossenen Kunstform aus«. An anderen Stellen bezeichnete Semper die Balkenköpfe an der Aussenfassade als »Repräsentanten der inneren Balkendecke«27. Man kann somit mutmaßen, auch wenn Semper nicht darauf verwies, dass ihm das Diktum »funzione e rappresentazione« geläufig war28.

K ARL B ÖTTICHER Als Semper in seinen Vorlesungen 1853 das Konzept der Funktionen und der sie repräsentierenden Ornamente erstmalig behandelte, lagen bereits zwanzig Jahre reger Schreibtätigkeit hinter ihm, in denen er dieses Thema nicht berührt hatte. Man kann daher durchaus die Frage stellen, ob es einen Auslöser dafür gegeben hat. Wolfgang Herrmann hat schon 1981 eine Antwort auf diese Frage vorbereitet. Er stellte fest, dass Semper am 13. Dezember 1852 ein Buch aus der Bibliothek des Britischen Museums entliehen hatte, das ihn in der Folgezeit intensiv beschäftigte: Karl Böttichers (1806-89) Die Tektonik der Hellenen, 1844-52 erschienen. Semper exzerpierte dieses Buch mehrfach, davon einen bestimmten Passus von sechzehn

24 Semper 1863, S. 522. Siehe Algarotti, »zweite Textstelle«. 25 Vgl. Semper 1884, S. 294. 26 Semper 1860, S. 17. 27 Semper 1863, S. 218, 237, 302. 28 Semper verwies auf Milizia zum Beispiel in Semper 1884, S. 173-4.

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Seiten besonders akribisch, insgesamt dreimal, in dem es ausgerechnet um Ausführungen zu keramischen Gefäßen ging. Herrmann wies nach, dass Semper den Begriff Tektonik erst nach seiner Beschäftigung mit Böttichers Buch gebrauchte, und diese Feststellung lässt sich nun auch auf den Begriff Funktion übertragen29. Die Ähnlichkeit von Sempers Gefäßtexten mit Böttichers Tektonik der Hellenen ist überdeutlich. Eine Gegenüberstellung zweier Textausschnitte mag einen ersten Eindruck von der Ähnlichkeit der Auffassungen vermitteln: Gottfried Semper: Klassifikation der Gefäße, in Semper 1884, S. 32

Karl Bötticher: Die Tektonik der Hellenen, 1844/52, S. 42

»Jede Vase oder irgend welches Gerät überhaupt ist, gleich einem Gebäude, ein Ganzes, das aus Teilen zusammengesetzt ist, die ihre eigenen Funktionen ausüben, während sie mit den anderen auf ein gemeinsames Ziel zusammenwirken.«

»Jedes Geräth zerfällt eben so wie der Bau in einzelne Theile [...]. Es ist mithin je nach Begriff, Wesenheit und Funktion sowohl die Totalität wie jeder einzelne Theil derselben durch entsprechende Form der Körperlichkeit erledigt.«

Auch Bötticher unterschied fünf Teile eines Gefäßes und führte sie in gleicher Reihenfolge auf, nämlich Bauch, Fuß, Hals, Henkel und Deckel. Auch Bötticher beschrieb die Funktionen dieser Teile als Aktionen, die zusammen die Gesamtheit des Gefäßes ausmachten. So war zum Beispiel der Bauch »der besondere Theil welcher bestimmt ist die Flüssigkeit aufzunehmen und in sich zu halten«. Der Fuß war »ein besonders fungirender Theil welcher isolirt und freistehend sowohl das Gefäß in die Höhe heben und so stützend tragen, sich mithin aufwärts strebend darstellen, als auch zum sichern Stande seiner selbst sich nach unterwärts mächtig ausbreitend organisiren und auf den Boden aufsetzen soll«. Und der Hals war derjenige Teil des Gefäßes, der »die Funktion erledigen soll die Flüssigkeit so wohl in den Kessel hinein, als wie herauszuführen«30. Was nun Böttichers Tektonik der Hellenen wesentlich von Sempers Schriften, einschließlich seines Hauptwerks Der Stil, unterschied, war die Betonung der »Architektonik«. In Böttichers Buch ging es hauptsächlich um Architektur und nur untergeordnet um Gefäße und Geräte. Das grundsätzliche Verständnis der Dinge und Gebäude als zusammengesetzte Einheiten sowie als Wirkbeziehungen von Teilen und Ganzem zog sich jedoch wie ein roter Faden auch durch Böttichers Schrift. Dabei waren sich Semper und Bötticher auch darüber einig, dass die helle-

29 Herrmann 1981, S. 26-40. 30 Bötticher 1844/52, S. 43-7.

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nische Antike das Maß aller Kunst sei. So stellte Bötticher für den »Hellenische[n] Bau im Plane und Aufbaue« fest: »Jedes einzelne seiner Glieder geht nur aus dem Ganzen hervor, ist deshalb ein unerläßlich nothwendiger Theil, ein integrirendes Element desselben, welchem aus dem Ganzen je seine besondere Funktion und Oertlichkeit übertragen und angewiesen wird.«

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Auch Böttichers Funktionsverständnis war im Wesentlichen auf die Struktur bezogen. Struktive Funktion meinte auch bei ihm nicht allein die Lastabtragung (statische Funktion), sondern die Gliederung von Teilen zum Ganzen, die aktive Wirkung des inneren Aufbaus. So werde eine »totale Form eines Bauwerkes« aus einzelnen Körpern geschaffen, denen »bei der Konception des Ganzen von vorn herein eine gewisse struktive Funktion – bauliche Dienstverrichtung – zugetheilt«32 werde. Jeder Teil innerhalb einer Struktur hätte »eine bestimmte Oertlichkeit und ein gewisses räumliches Maaß innerhalb welchem er seine Funktion beginnt, entwikkelt und beendet«33. Bötticher meinte diese innere Aktion keineswegs metaphorisch, sondern als tatsächliches Phänomen der »statischen Dynamis in der Materie«, die abhängig sei von dem »Gesetze ihrer atomischen Fügung«, denn: »Jede dieser Kräfte ist im formlosen Zustande der Materie todt und latent; sie wird erst erweckt und zur statischen Kraftäußerung genöthigt, sobald man ihr eine solche körperliche Form verleiht welche ihr analog ist und sie zugleich geschickt macht den baulichen raumbildenden Dienst zu erfüllen zu dem sie bestimmt ist, oder mit andern Worten: sobald man ihr die Form baulicher Glieder gibt.«

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Somit bezog Bötticher eine klare Stellung dazu, wie das Verhältnis zwischen Form und Funktion aussehen musste. Erst die Form erweckte die latenten Kräfte zum Agieren. Erst wenn man »dem betreffenden Baumateriale eine Form verleiht, und zwar die Form eines baulichen Gliedes, [...] wird in dem Materiale das inliegende aber in formlosem Zustande ruhende und latente Leben zu einer dynamischen Aeußerung gelöst, zu einer statischen Funktion genöthigt«35. Form und Funktion waren gegenseitig voneinander abhängig:

31 Ebd., S. XIV-XV. 32 Ebd., S. 4. 33 Ebd., S. 10. 34 Bötticher 1846, S. 116. 35 Bötticher 1844/52, S. XV.

88 | F UNKTIONEN UND F ORMEN »Die Form erst verleiht dem baulichen Materiale die Eigenschaft seine Funktion erfüllen zu können; umgekehrt kann aus der Form jedes Mal die Funktion erkannt werden.«

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In der Tektonik der Hellenen wiederholte Bötticher des Öfteren eine terminologische Dreiheit, nämlich »Begriff, Wesenheit und Funktion«. Während er den Unterschied dieser drei Begriffe nicht erklärte und man sie an vielen Stellen als Synonyme verstehen konnte, traten sie aber alle in eine Dialektik zur Form. »Form eines Körpers« definierte Bötticher als die »Verkörperung oder plastische Darstellung seines innern Begriffes im Raume«. Die Form sollte so entwickelt werden, dass sie »die Funktion ganz offenkundig verräth« und dass sich »je nach Begriff, Wesenheit und Funktion sowohl die Totalität wie jeder einzelne Theil derselben«37 äußerte. Um nun das Verhältnis von Funktion und Form genauer zu bestimmen, führte Bötticher seine berühmte Unterscheidung von »Kernform« und »Kunstform« ein, die beide im Objekt verwirklicht werden müssten. Dabei war die Kernform das funktionsausführende, »das mechanisch nothwendige, das statisch fungirende Schema«, und im Gegensatz dazu die Kunstform »nur die Funktion=erklärende Charakteristik«38. Bötticher behauptete, dass die Kernform allein nicht in der Lage war, Funktionen eines Bauteils darzustellen und nur durch die Kunstform konnte »recht eigentlich sein Begriff in allen Beziehungen ausgesprochen«39 werden. Die Kunstform selbst führte keine Funktionen aus, sondern diente deren Darstellung oder Versinnlichung. Sie war die »Begriff=symbolisirende Hülle des wirklich fungirenden Kernes«40. Wie schon bei Semper gezeigt, wurde auch bei Bötticher diese Darstellung der Funktion in der »Ornamenthülle«41 durch Symbole erreicht, die aus Pflanzen- oder Tierformen oder menschlichen Figuren bestanden und so, im Gegensatz zu den eigentlichen Bauteilen, Bewegung ausdrücken konnten. Je nachdem, wie viele Funktionen ein Teil oder ein Ganzes auszuführen hatte, so viele Symbole mussten auch an diesem Teil oder Ganzem in Erscheinung treten. Einschränkend fügte Bötticher hinzu, dass in der Architektur »der Ausdrukk des

36 Ebd., S. 6. 37 Ebd., S. 6, 42. 38 Ebd., S. XV. 39 Ebd., S. 4. 40 Ebd., S. 8. Vgl. Bötticher 1846, S. 123: »denn da jene Körper nur erbildet waren um statisch dienend ein Räumliches herzustellen, so können alle Formen welche ihnen außerhalb jenes materiellen Dienstes weiterhin angebildet sind, nur gedacht worden sein um dieses Wesen an ihnen charaktervoll zu versinnlichen«. 41 Bötticher 1844/52, S. 8.

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statischen Lebens, des mechanischen Fungirens, nur der Ausdrukk einer Thätigkeit in Ruhe sein«42 konnte. Für Bötticher waren diese Zusammenhänge nicht etwa nur Regeln, sondern »allgemein gültiges, immer wahres« Prinzip. Es war wahr aus dem einzigen Grund, weil es »ganz identisch mit dem Bildungsprinzip der lebendigen Natur«43 war. Die Baukunst wiederholte nur das ewige Gesetz, dass die »Form jedes Körpers in den Bildungen der organischen Natur nur Verkörperung seines Begriffes, seiner Funktion sei«44. Man kann zusammenfassen, dass Semper und Bötticher sich einig waren in der Entsprechung von Funktion und Form, wobei letztere sowohl eine innere, statisch wirksame Form als auch eine äußere Erscheinung bedeutete. Dabei gab es bezogen auf die innere Form eine gegenseitige Abhängigkeit, in der durch die Form das Material seine statische Funktion erfüllte. Bezogen auf die äußere Form war die Abhängigkeit anders. Hier gab es die Forderung, dass die äußere Form oder Ornamentik die Funktion darstellen, also im wahrsten Sinn des Wortes repräsentieren sollte, aber hier löste die Form kein inneres Kräftewirken des Materials aus. Vereinfacht kann man für die äußere Form folgern, dass das Abhängigkeitsverhältnis einseitig war, da nur die Form abhängig von der Funktion zu sein hatte, aber dadurch die Funktion nicht verändert wurde. Man kann hier noch anfügen, dass Semper sich genötigt sah, für Böttichers Kern- und Kunstform richtig zu stellen, dass die äußere symbolische Form nicht etwa angeheftet, sondern aus dem gleichen Werkstück bestand und daher eins mit der inneren Form war.

D AS O RGANISCHE Wir haben gesehen, dass Böttichers Tektonik der Hellenen Semper als Inspirationsquelle für das Konzept der Funktion-Form-Beziehung diente. Wie aber Bötticher auf dieses Konzept kam, wurde bisher und kann auch hier nicht geklärt werden45. In der Einleitung zur Tektonik, die bereits 1840 in der Allgemeinen Bauzeitung abgedruckt wurde, konnte man auf den ersten drei Seiten schon gut vierzigmal die Worte Funktion und Fungiren lesen, ein untrügliches Zeichen dafür, dass hier ein Autor von einer neuen Idee fasziniert war. Aber in den Schriften seiner Vorbilder,

42 Ebd., S. 9. 43 Ebd., S. 6. 44 Ebd., S. 113. 45 Bötticher erwähnte zum Beispiel Johann Wolfgang von Goethe und Wilhelm von Humboldt, doch sind diese Bezüge zu allgemein, um als schlüssige Herleitung gelten zu können.

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wie Aloys Hirts Die Baukunst nach den Grundsätzen der Alten 1823, Johann Heinrich Wolffs Beiträge zur Ästhetik der Baukunst 1834 oder Karl Friedrich Schinkels Lehrbuchmanuskripten fand er dieser Begriff nicht. Welche anderen Inspirationsquellen gab es für die Theoretiker des neunzehnten Jahrhunderts? Zunächst könnten sie aus den Schriften von Algarotti, Milizia und Memmo das Funktions-Repräsentations-Konzept übernommen haben. Diese Schriften mussten sie allerdings im italienischen Original studiert haben, denn wie bereits gesehen, lieferten die deutschen, französischen und englischen Ausgaben keine direkte Übersetzung von »funzione e rappresentazione«. Bei Semper trafen wir den Begriff der Repräsentation einige Male an, bei Bötticher weniger, und bei beiden überwog der Bezug auf Form. Darüber hinaus kann man sich die rasanten Entwicklungen in Naturgeschichte und Biologie sowie in der romantischen Philosophie als Ideengeber vorstellen. In den Disziplinen der Naturgeschichte und Philosophie wurden um 1800 intensive Diskussionen über »Das Organische« geführt. Da es im neueren Architekturdiskurs ein gängiges Erklärungsmuster ist, die Begriffe des Organischen und der Funktion als zwei Aspekte der gleichen Idee zu interpretieren, wird nun im Folgenden ein genauerer Blick auf ihre Verbindung geworfen. Dabei wird auf die einführenden Erläuterungen zum Funktionsbegriff in der Naturgeschichte aus dem ersten Kapitel aufgebaut. Grundsätzlich ist zu sagen, dass die Begriffe des Organischen und des organischen Ganzen bereits vor dem Funktionsbegriff in den Architekturdiskurs eingeführt worden waren. Nach Georg Germann hatte Filarete schon um 1460 geschrieben: »So wie sich ein Mann einen wohldisponierten und wohlorganisierten Körper wünscht [...], so soll auch ein Bau sein.« Bei Johann Georg Sulzer konnte man 1771 lesen: »Jeder organisierte Körper ist ein Gebäude; jeder innere Teil ist vollkommen zu dem Gebrauch, wozu er bestimmt ist, tüchtig; alle zusammen aber sind in der bequemsten und engsten Verbindung«46. Weiter beschrieb Germann, wie der Genfer Naturforscher Charles Bonnet in genetischen Untersuchungen das »Organische Ganze« 1762 definierte, und Aloys Hirt diesen Begriff als erster 1809 auf die Architektur übertrug: »Man kann jedes architektonische Werk als ein organisches Ganze [sic] betrachten, das aus Haupt-, Unter- und Nebentheilen besteht, welche zu einander ein bestimmtes Größenmaß haben. [...] Will man z.B. bey dem menschlichen Körper die Verhältnisse der Theile und Glieder unter einander und zum Ganzen bestimmen; so nimmt man irgend einen Theil dieses Körpers selbst zum Maßstab, als den Ellbogen, den Fuß, die Spanne, die Querhand, die Fingerbreite, die Kopf- oder Gesichtslänge. Auf eine ähnliche Weise verfährt man bey den

46 Beide Zitate in Germann 1972, S. 36.

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Bauwerken, indem man irgend einen Theil an dem auszuführenden Gebäude zum Maßstab machet, nach welchem dann alle übrigen bestimmt werden. Gewöhnlich nimmt man hiezu den untern Durchmesser der Säule, oder die Hälfte desselben.«

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In diesen Beispielen war nur der Begriff des Organischen neu, aber die Idee der Funktion konnte man noch nicht finden. Denn bei Hirt, Sulzer und Filarete ging es um das Verhältnis von Teilen zu Ganzem nach sichtbaren, messbaren Einheiten und Modulen. Es ging um Proportionen, vor allem denjenigen des menschlichen Körpers. Und es ging nicht um das gewissermaßen unsichtbare, innerlich agierende Merkmal der Funktion. Auch der Architekturdiskurs innerhalb der romantischen Philosophie drehte sich um die Themen des Organischen und der Verhältnisse von Teilen und Ganzem. Das Wort Funktion suchte man aber auch in der romantischen Philosophie vergebens. August Wilhelm Schlegel bestimmte zum Beispiel in seinen 1801/02 gehaltenen Vorlesungen zur Kunst, dass Gebäude symmetrisch ausgebildet sein sollen in »Analogie mit der organischen Natur«48. Die Vorstellung einer lebendigen organischen Einheit sollte darauf hindeuten, dass Symmetrie und Proportion ein komplexes System darstellten. Trotzdem ist die Versuchung groß, hier die Idee der Funktion hineinzulesen: »So hat der Architekt eine Menge Beziehungen zu beobachten; es ist nicht genug, daß er Theile zusammenfügt, wie sie nach gewissen mechanischen Regeln an sich und gegen andre proportionirt seyn sollen, sondern er muß sie in ihrem lebendigen Zusammenhange anschauen: sein Werk muß, nach einer einigen untheilbaren Idee entworfen, ein solches seyn, in welchem jeder Theil alle übrigen bestimmt, und gegenseitig von ihnen bestimmt wird.«

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Auch in Friedrich Schellings Vorlesungen über die Philosophie der Kunst von 1802/03 zeigte sich das Organische in der Symmetrie. So sei ein Tier als Organismus symmetrisch und ein Gebäude symmetrisch machen hieße, es organisch den Lebewesen ähnlich zu machen. Eine Säule sei »nach Art eines organischen Wesens nach oben und unten zu vollenden«. Andererseits schrieb Schelling der Säule auch eine aktivische Idee zu, denn »die Säule ist das Stützende, gleichsam die Stufe, die zu dem höheren Gebilde hinaufleitet«50. Diese Aktivität bezeichnete er jedoch noch nicht als Funktion. Ein solches Beispiel konnte man auch bei Karl Friedrich Schinkel finden: »Architektur ist eine Fortsetzung der Natur in ihrer

47 Hirt 1809, S. 13. Auch in Germann 1974, S. 31-2. 48 Schlegel 1884, S. 167. 49 Ebd., S. 178. 50 Schelling 1959, S. 244, 238.

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konstruktiven Tätigkeit«51. Schelling und Schinkel verwendeten zwar den Begriff des Organischen, um Lebendigkeit zu bezeichnen, definierten aber kein explizites Konzept der Funktion. Aufgrund dieser Beispiele kann man verschiedene Bedeutungstendenzen für das »Organische Ganze« im frühen neunzehnten Jahrhundert erkennen. Erstens drückte man damit den Wunsch nach einer Einheit von Teilen aus, zweitens nach einer inneren Logik der Form und drittens implizierte es die Idee der Lebendigkeit, die jedoch nicht mit dem Wort Funktion in Verbindung stand. Organische Lebendigkeit meinte zunächst nur jenen Zusammenhang der Teile und des Ganzen, der sich in sichtbaren Kriterien darstellte, also in Proportionen, vor allem in Analogie zum menschlichen Körper, in der Symmetrie und in den Verhältnissen der Richtung von Unten-Oben oder Hinten-Vorn. Der Gegensatz zum Organischen war das Mechanische. Ging es um die Zusammensetzung eines Ganzen aus Teilen, dann bedeutete mechanisch, dass diese Teile gerade nicht miteinander korrespondierten, nur nebeneinander lagen und kein Ganzes bildeten. Ging es um die innere Logik der Form, bedeutete mechanisch gerade die Unfähigkeit, sich von innen heraus zu entwickeln. Mechanische Dinge hatten keine Proportion, keine Symmetrie und kein Richtungsverhalten von unten nach oben oder von hinten nach vorn. Um Kunst zu sein, mussten sich Dinge über das Mechanische erheben. Wie konnte aber ein architektonisches Werk ein Organismus oder ein organisches Ganzes sein, wenn es doch mit anorganischen Stoffen, in geometrischer Regelmäßigkeit, unter Berücksichtigung mechanischer Gesetze gebaut wurde? Man kann hier mit Schlegel antworten, der den Unterschied zwischen organisch und mechanisch bezogen auf Architektur folgendermaßen dargelegte: »Da sie es mit todten Materien zu thun hat, so muß sie zuvörderst geometrisch und mechanisch bauen, darin besteht die architektonische Richtigkeit. Erst wann dieser Genüge geleistet ist, darf an eine freyere Ausschmückung gedacht werden, die eben deswegen unfehlbar eine nähere oder entferntere aber immer unverkennbare Anspielung auf das Organische seyn wird. [...] In der Grundlage, im eigentlichen Bauen, sucht sie die Wirkungsart der mechanischen Kräfte sichtbar zu machen; in der Anlage des Ganzen aber sowohl, als in der Ausschmückung der einzelnen Theile [...] giebt [sie] auf mancherley Weise Anspielungen auf das organische Leben.«

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Die Naturgeschichte um 1800 bewertete den Organismusbegriff neu. Vor allem in Frankreich wurden auf diesem Gebiet wissenschaftliche Höchstleistungen errungen, die auch großen Eindruck auf die Architektenschaft machten. Gefeierte Lichtgestalt

51 Zitat in Börsch-Supan 1976, S. 161. 52 Schlegel 1884, S. 165, 169.

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war Georges Baron de Cuvier (1769-1832), der die Biologie mitbegründete und dessen Werke Leçons d’anatomie comparée von 1798-1805 (Vorlesungen über vergleichende Anatomie 1801-10) und Le règne animal distribué d'après son organisation von 1817 (Das Tierreich geordnet nach seiner Organisation 1831-43) Weltruhm erreichten. Die vergleichende Anatomie diente Cuvier dazu, eine Klassifikation der Lebewesen vorzunehmen. Er teilte die tierischen Lebewesen in vier Klassen: Zoophyten/Polypen, Mollusken, Gliedertiere und Wirbeltiere. Diese Einteilung erfolgte aufgrund der Ausbildung des Nervensystems: »Wo kein sichtbares Nervensystem vorhanden ist, handelt es sich um die Klasse der Zoophyten und Polypen; wo offene Fäden und ein Gehirn oberhalb des Nahrungskanals anzutreffen sind, um Mollusken; wenn zwei zusätzliche Fäden dazukommen, um Gliedertiere. Die Klasse der Wirbeltiere schließlich zeichnet sich durch einen zentralen Nervenkanal aus, der durch eine knochige Röhre läuft.«53 Cuvier nahm also seine Klassifizierung über den Vergleich eines Organs, des Nervensystems, beziehungsweise einer »Funktion erster Ordnung«, der Empfindung, vor. Die strukturellen Unterschiede eines einzigen, der Funktion nach definierten Organs ermöglichten es also, die Lebewesen in verschiedene Klassen einzuteilen. Eine oft und über die Fachwelt hinaus gepriesene Fertigkeit Cuviers war, dass er aus Teilstücken eines Lebewesens und Fossilienresten auf dessen ganze Gestalt schließen konnte. Dabei verwiesen die Formen dieser Teilstücke auf deren Funktionen, die wiederum nur mit anderen bestimmten Funktionsweisen und also Teilstücken kompatibel waren. Diese Fertigkeit wurde von Architekten mit Bewunderung betrachtet, wünschte man sich doch selbst aus einzelnen Baufragmenten historische Gebäude rekonstruieren zu können. Insbesondere Gottfried Semper, der sich 1826-27 und 1829-30 in Paris aufhielt, war von Cuvier sehr beeindruckt. In seinem Vortrag über Vergleichende Stillehre von 1853 pries er die von ihm viel besuchte Sammlung, die Cuvier in den Jardins des Plantes aufgebaut hatte. Ihm schwebte vor, die komparative Methode, wie sie von Cuvier für die Klassifizierung der Lebewesen fruchtbar gemacht worden war, in der Architektur anzuwenden. Semper steckte sich ein hohes Ziel: »Ich bemühte mich daher, einiges Material für einen zukünftigen Cuvier der Kunstwissenschaft zu sammeln.«54 Semper hat zwei Klassifikationsversuche für die Architektur unternommen. 1851 formulierte er in seinem Aufsatz Die vier Elemente der Baukunst, der den Untertitel Ein Beitrag zur vergleichenden Baukunde trug, vier Teile eines Gebäudes: Herd, Erdaufwurf, Umzäunung und Dach. Man könnte diese vier

53 Hauser 1985, S. 101. 54 Semper 1884, S. 263. Zu Sempers Interesse an Cuvier siehe u.a. Rykwert 1983; Hauser 1985; Herrmann 1990.

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Elemente mit den Organen eines Körpers und seinen zugehörigen Funktionen vergleichen, doch muss man feststellen, dass weder solch ein Vergleich noch das Wort Funktion in dieser Schrift vorkamen – wohl aber die Worte Organismus und organisch. Die zweite Klassifizierung fällt mit den Gliederungspunkten zusammen, nach denen Semper sein Werk Der Stil einteilte, nämlich nach den technischen Künsten beziehungsweise den »vier Hauptkategorieen« oder »vier Hauptklassen«55 der textilen Kunst, Keramik, Tektonik und Stereotomie. Beide Klassifikationen hingen miteinander zusammen, insofern als die technischen Künste die Elemente der Baukunst hervorgebracht haben. So erzeugte die textile Kunst die Umfriedung, Keramik den Herd, Tektonik das Dach, und Stereotomie den Erdaufwurf. Eine direkte Übertragung der biologischen Klassifikation, die Lebewesen gemäß einem Hauptorgan und dessen Funktion (Nervenkanal und Empfindung) einteilte, auf Bauwerke konnte Semper aber auch mit dieser Klassifikation nicht erreichen. Doch war Der Stil Sempers originärer Versuch, Klassifizierungen in die Architekturtheorie einzuführen und wurde dementsprechend von Rykwert gewürdigt als »Sempers wesentliche Leistung, der vergleichenden Morphologie Eingang in die Kunstgeschichte«56 verschafft zu haben. Während Semper, wie gezeigt, ab 1852/53 über Funktionen schrieb, gebrauchte er die Terminologie um das Organische schon viel früher. Herrmann bemerkte, dass Semper nach Erteilung eines Auftrags für eine »umfassende Baugeschichte« durch den Verleger Eduard Vieweg im Jahr 1843 sich an Cuviers Sammlung erinnerte und die Organismusterminologie »von nun an zu seinem Wortschatz«57 gehörte. 1843 definierte Semper: »Man nennt die Gebilde der Baukunst organisch [...] wenn bei ihren Formationen die Gesetzlichkeit und innere Nothwendigkeit hervortritt, durch welche die Natur schafft«58. Auch schon früher, in Sempers Vorläufige Bemerkungen über bemalte Architectur und Plastik bei den Alten von 1834 tauchte das Organische mehrfach auf. Man muss daraus grundsätzlich schlussfolgern, dass eine zwingende Abhängigkeit des Organischen und der Funktion also nicht gegeben war. Man kann aber behaupten, dass die Einführung des Funktionsbegriffs die Idee des Organischen veränderte, indem letztere nun nicht mehr nur nach sichtbaren Merkmalen fragte, sondern nach inneren Prozessen. Diese Veränderung im Architekturdiskurs folgte der Veränderung des Organismusbegriffs in der Naturgeschichte durch Cuvier. Seine Definition eines »organisierten Wesens« lautete:

55 Semper 1860, S. 9; Semper 1884, S. 283. 56 Rykwert 1983, S. 227. 57 Herrmann 1990, S. 78. 58 Zitat in Laudel 1998, S. 141.

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»Jedes Lebe-Wesen [être organisé] bildet ein Ganzes, ein einziges und geschlossenes System, in welchem alle Theile gegenseitig einander entsprechen und zu derselben endlichen Aktion durch wechselseitige Gegenwirkung beitragen. [...] folglich bezeichnet und giebt jeder Theil einzeln genommen alle übrigen.«

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Cuvier bestimmte, dass für das »organisierte Ganze« nun die aktiven Funktionen entscheidend waren, denn änderte man nur eine der Funktionen eines Wesens derart, dass sie »mit den Abänderungen aller übrigen nicht verträglich wäre«, so könnte »dies Wesen nicht mehr existiren«60. Organismen läge ein inneres Prinzip zugrunde, das Prinzip der Selbsterhaltung, und Funktionen dienten dazu, die Organisation des Körpers aufrechtzuerhalten. Funktionen waren die wechselseitigen Prozesse der Organe, welche »im Zustande des Lebens […] alle nach einem gemeinschaftlichen Zweck hinarbeiten«61. Semper formulierte, wie schon gezeigt, seine Idee eines Ganzen ähnlich: »Jede Vase oder irgend welches Gerät überhaupt ist, gleich einem Gebäude, ein Ganzes, das aus Teilen zusammengesetzt ist, die ihre eigenen Funktionen ausüben, während sie mit den anderen auf ein gemeinsames Ziel zusammenwirken.«

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Mechanisch und organisch dienten auch Semper als Gegensatzpaar. Zum Beispiel hätte eine steinerne Fundamentkonstruktion zwar »eine gewisse Gliederung«, aber »sie ermangelt der Gegensätze lebendiger und mechanischer Thätigkeit, durch welche das Aufrecht-Gegliederte, als Gewachsenes, inneres Leben ausdrückt«63. Über chinesische Baukunst behauptete er, ihre Elemente seien »nicht organisch, nicht einmal quasi chemisch verbunden, sondern mechanisch neben einander gestellt durch keine das Ganze beherrschende Idee zusammengehalten«64. »Barbarische Baukunst« nannte er diejenige, in welcher »Struktur und Dekoration [...] mehr oder weniger unorganisch, gleichsam mechanisch«65 zusammentrafen. Man könnte

59 Cuvier 1822, S. 72. Frz.: Cuvier 1812, S. 58: »Tout être organisé forme un ensemble, un système unique et clos, dont toutes les parties se correspondent mutuellement, et concourent à la même action définitive par une réaction réciproque. [...] par conséquent chacune d’elles, pris séparément, indique et donne toutes les autres.« 60 Cuvier 1809, S. 39. 61 Ebd., S. 38. 62 Semper 1884, S. 32. Im englischen Manuskript sprach Semper von »Ensemble«, das mit »Ganzes« übersetzte wurde (vgl. Herrmann 1981, S. 157). 63 Semper 1863, S. 358, Anm. 1. 64 Semper 1860, S. 243. 65 Ebd., S. 225-6.

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meinen, dass der Funktionsbegriff zum Organischen gehörte, doch studiert man Sempers Verwendung des Funktionsbegriffs genauer, stellt man fest, dass er Funktionen nicht ausschließlich dem Organischen zurechnete, sondern auch dem Mechanischen. Er verwendete Wortverbindungen wie mechanische, tragende, dynamische, struktive, statische und dienende Funktion. Dabei meinte Funktion sowohl im Bereich des Organischen als auch des Mechanischen eine innere Aktivität. Doch nur im organischen Ganzen waren die Teile mit dem Ganzen so sehr verbunden, dass sie zugrunde gehen würden, würde dem Teil das Ganze, dem Ganzen das Teil fehlen. Diese Verbundenheit werde erreicht, indem das Ganze den Teil bestimmt und aus ihm »seine besondere Funktion und Oertlichkeit«66 erhält. Aus dem Mechanisch-Fungierenden ein Organisch-Fungierendes zu generieren, war also die eigentliche Aufgabe der Baukunst. Die antike Baukunst hatte diese Aufgabe zur Vollendung geführt, denn sie »läßt den leblosen Stoff zu einem kunstvoll gegliederten idealen Organismus zusammentreten, verleiht jedem Gliede ein ideales Sein für sich, und läßt es zugleich sich als Organ des Ganzen, als fungierend aussprechen«67. Es wurde hier ein Spannungsfeld zwischen Individualität einerseits und Unterordnung unter ein größeres Ganzes andererseits aufgespannt. Die antike Tektonik strebte an, die Glieder eines Körpers gleichermaßen »in ihrer Individualität und in ihrer funktionellen Beziehung scharf zu bezeichnen«68. Ein Organ, ein Teil einer Vase, ebenso eine Säule hatten hier die gleichen Eigenschaften: Sie sollten nach Semper eine eigenständige, individuelle Form haben und sich zugleich mit einem übergeordneten Ganzen, als Organismus, verbinden. Vorbildlich hatte die Antike die Teile in diesem Spannungsfeld ausgebildet, denn man »ließ sie ihre Geschichte, die Gründe ihres Daseins, die Richtung und Gewalt ihrer Thätigkeit, die Rolle, welche sie im ganzen Werke zu spielen hatten, und ihre gegenseitigen Beziehungen erzählen. Man ließ sie endlich auch erzählen, für welchen Zweck das Gebäude errichtet war.«69 Bei Semper hatten die einzelnen Teile ein Recht auf Eigenständigkeit und nur den Griechen »gelang die glorreiche Vereinigung des Gleichberechtigten in der Zusammenfassung zweckeinheitlicher Harmonie«70. Diese Entfaltung eines individuellen Seins hatte nichts mit Zweckgerichtetheit oder Nützlichkeitsbestrebungen zu tun, sondern ganz allein mit den Themen der Natur und der zweckfreien Kunst. Kunstwerke und Organismen hatten individuelles Sein, wurden sich selber Zweck, waren für sich abgeschlossene Ganze. Semper definierte Kunst als etwas Zweckfreies, als »Kunst, die aufhört zu dienen und sich

66 Bötticher 1844/52, S. XV. 67 Semper 1884, S. 323. 68 Ebd., S. 323-4. 69 Ebd., S. 295. 70 Ebd., S. 323.

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selber Zweck wird«71. Ein Gegenstand, der nur auf seinen praktischen Zweck verwies, konnte kein Kunstwerk sein. Dies war aber keine Aufforderung, Zwecke zu missachten, sondern diese zu sublimieren. Ein Gegenstand konnte nur dann ein Ganzes und somit ein Kunstwerk werden, wenn er den Zweck in sich aufnahm und derart durchdrang, dass die Erfüllung des Zwecks in der Form aufging und der Gegenstand sich so vom Zweck emanzipierte. Anders gesagt, so wie sich also die mechanische Funktion zur organischen Funktion emanzipieren musste, musste sich der Zweck zum Selbstzweck emanzipieren. Dies galt in gleicher Weise für eine Vase, ein einzelnes Gebäude und die Architektur im Allgemeinen. Semper bestimmte als das Ziel der Architektur, dass diese sich »aus dem dienenden Verhältnisse zu Bedürfnis, Staat und Kult zu freier selbstzwecklicher Idealität emancipieren«72 müsse. Es gab aber noch weitere Bedingungen, von denen das Bauen sich emanzipieren musste, um sich »zur Kunstform zu erheben«73, zum Beispiel von Material, Stoff und Technik. Dabei ging es immer um das gleiche, um das »Resultat der freiesten, bewusstvollsten und vollkommensten Beherrschung aller zwecklichen (oder ethischen), stofflichen und technischen Vorbedingungen der Form. Indem sich das Ringen mit diesen nicht formalen Elementen in letzterer in keiner leisesten Weise mehr verräth, ist sie von jenen Elementen vollständig emancipirt, als Schönes an sich nur noch sich selbst Zweck.«74

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UND

S TIL

Bisher wurde von einem architektonischen Funktionsbegriff gesprochen, der zur zeitgenössischen Naturgeschichte eine enge und zur romantischen Philosophie eine eher indirekte Beziehung besaß. Jedoch gibt es noch eine andere Auslegung, die Gottfried Semper gegenüber seinen Zeitgenossen für sich allein beanspruchte: die Übertragung des mathematischen Funktionsbegriffs. Wie schon erwähnt, zeigte Semper großes mathematisches Interesse bereits während seines Studiums in Göttingen. Sein erstes Berufsziel des Wasserbauingenieurs verband sehr konkret die Mathematik, zum Beispiel Strömungsmechanik, mit dem Bauen. In seinen Architekturschriften gelang es ihm immer wieder, diese Kenntnisse kunsttheoretisch zu verwerten. In einer Abhandlung über Schleudergeschosse von 1859 berechnete er zum Beispiel die Form beziehungsweise Verformung solcher Geschosse in der Luftströmung. Semper verfolgte mit der Anwendung der Mathematik auf die Archi-

71 Semper 1863, S. 335, Anm. 1. 72 Semper 1884, S. 422. 73 Bötticher 1844/52, S. 3. 74 Semper 1863, S. 142.

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tektur ein ähnliches Ziel wie mit seinen naturgeschichtlichen Anlehnungen. Es ging ihm darum, Methoden zu finden, mit denen man innere Gesetze für einzelne Bauwerke und die gesamte Architektur erkennen und aufzeigen könnte. In dem 1853 in London gehaltenen Vortrag Entwurf eines Systems der vergleichenden Stillehre versuchte Semper nichts weniger, als mit einer Funktionsgleichung seine Theorie des Stils zu erklären. Die von Sempers Söhnen 1884 veröffentlichte Übersetzung dieses englischen Vortrags wurde in den 1980er Jahren heftig kritisiert, weil darin mehrere Manuskripte vermengt und damit die Inhalte verunklärt worden seien75. Da diese Übersetzung aber für gut einhundert Jahre die einzige

Abbildung 14: Beispiele für »F«, von Semper als »Grundformen der Töpferei« bezeichnet, Der Stil 1863, S. 80.

75 Vgl. Herrmann 1981; Mallgrave/Rykwert 1983; Poerschke 2012.

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verfügbare Version von Sempers Funktionsgleichung darstellte, wird sie hier im Folgenden wiedergegeben: »Jedes Kunstwerk ist ein Resultat, oder, um mich eines mathematischen Ausdruckes zu bedienen, eine Funktion einer beliebigen Anzahl von Agentien oder Kräften, welche die variablen Koefficienten ihrer Verkörperung sind. Y = F (x, y, z n) In dieser Formel steht Y für das Gesamtresultat und x, y, z n stellen ebensoviele verschiedene Agentien dar, welche in irgend welcher Richtung zusammen oder aufeinander wirken, oder voneinander abhängig sind. Die Art dieser gegenseitigen Beeinflussung oder Abhängigkeit ist hier durch das Zeichen F (Funktion) ausgedrückt.«

76

Semper – oder zu einem gewissen Teil sein Sohn Hans – beschrieb im Anschluss, was er einerseits unter F, andererseits unter x, y, z n verstand. F umfasste »diejenigen Anforderungen, welche in dem Kunstwerke selbst begründet sind und auf gewissen Gesetzen der Natur und des Bedürfnisses beruhen, die zu allen Zeiten und unter allen Umständen sich gleich bleiben«77. F bezeichnete die »Motive« oder »Typen«78. Semper erläuterte F am Beispiel der Trinkschale und gab in Der Stil ein Beispiel für solche Urformen aus der Gefäßkunde [Abb. 14]: »Eine Trinkschale z.B. wird in ihrer allgemeinen Gestalt bei allen Nationen, zu allen Zeiten dieselbe sein, sie wird im Prinzip unverändert bleiben, ob sie in Holz, in Thon, in Glas oder was immer für einem Stoff ausgeführt wird. Die Grundidee eines Kunstwerkes, die aus dessen Gebrauch und Bestimmung hervorgeht, ist unabhängig von der Mode, vom Material 79

und von zeitlichen und örtlichen Bedingungen. Sie ist das Motiv eines Kunstgegenstandes.«

Im Gegensatz dazu umfassten x, y, z n »diejenigen Einflüsse, die wir als von außen her auf die Entstehung eines Kunstwerkes wirkend bezeichnen dürfen«. Sie seien in ihrer Anzahl unbegrenzt und »modifizieren die Erscheinung der Elementaridee eines Kunstwerkes«80. Die Koeffizienten x, y, z, n unterteilte Semper hier in drei Gruppen: erstens Materialien, Ausführungsarten und -prozesse; zweitens lokale, ethnologische, religiöse, politische, nationale und klimatische Einflüsse; und drittens persönliche Einflüsse von Auftraggebern, Künstlern und Handwerkern.

76 Semper 1884, S. 267-8. 77 Ebd., S. 268-9. 78 Ebd., S. 269. 79 Ebd. 80 Ebd., S. 269, 271.

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Im ersten Kapitel wurde auf die allgemeine Entwicklung der mathematischen Terminologie eingegangen. Dabei haben wir F als »Zuordnungsvorschrift« erklärt, nämlich als Vorschrift, die Werte eines Definitionsbereichs den Werten eines Wertebereichs zuordnet. In Sempers Gleichung wird nun F – als Urform, Motiv, Typ oder Grundidee – zur Vorschrift, wie sich die einzelnen Faktoren x, z, y, n – Material, Geschichte usw. – einem Kunstwerk Y zuordnen. Beide zusammen, F als innere Bedingung und x, y, z, n als äußere Faktoren, ergeben das Kunstwerk. Die Unterscheidung von inneren und äußeren Bedingungen, oder F und x, y, z, n, war dabei für Semper von entscheidender Bedeutung: »Sobald einer oder einige der Koefficienten sich verändern, muß diese Veränderung in dem Resultat einen entsprechenden Ausdruck finden. Wenn x zu x+a wird, so wird das Resultat U ganz verschieden zwar von dem früheren Resultate Y sein, im Prinzip aber wird es mit letzterem doch identisch bleiben, indem es mit demselben durch eine gemeinsame Beziehung verbunden ist, welche wir mit dem Buchstaben F ausdrücken. Wenn die Faktoren x, y, z n dieselben bleiben, dagegen F verändert wird, so wird Y in einer anderen Weise als vorher sich 81

umgestalten, es wird fundamental verschieden werden von seiner früheren Beschaffenheit.«

Mit dieser Erklärung beabsichtigte Semper zu zeigen, dass die drei Gruppen von Koeffizienten x, y, z, n die verschiedenen Stile hervorrufen. Es gäbe, so Semper, Materialstile (»Holzstil«, »Quaderstil«), kunstgeschichtliche Stile (»ägyptischer Stil«), vom Auftraggeber geprägte Stile (»Stil des Louis XIV«) und natürlich auch Künstlerstile (»Stil des Raphael«). x, y, z, n war also das, was den Stil ausmachte. Stil war das, was die Typen in ihren Erscheinungen modifizierte und somit erklärte die Funktionsgleichung die Lehre vom Stil. In diesem Sinn schrieb Semper, Stil sei »die Uebereinstimmung einer Kunsterscheinung mit ihrer Entstehungsgeschichte, mit allen Vorbedingungen und Umständen ihres Werdens«82. Für die Funktion F oder die Urform (der Typ), hieß das, sie war das Gegenteil von Stil. Sie war diejenige Form, die übrig blieb, wenn man die stilistischen Merkmale davon abzog, quasi das, was allen Kulturen zugrunde lag, eine internationale Form ohne Stil, um eine Beziehung zu den 1920er Jahren herzustellen. F steht über dem Stil, ist das Zeitlose, Ortlose, Künstlerlose. In Sempers Nachlass fanden sich unterschiedliche Manuskripte, in denen er sich an unterschiedlichen Gleichungen und Interpretation versuchte. Nach Herrmann lautete eine frühere Version Y = C (x, y, z, t, v, w, …), diejenige des eigentlichen Vortrags U = C x, y, z, t, v, w. und eine nach 1855 entstandene U = C (x, y, z, t, v, w .…). Herrmann stellte auch fest, dass es Hans Semper war, der in den Kleinen

81 Ebd., S. 268. 82 Ebd., S. 402.

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Schriften die inneren, zeitlosen Bedingungen dem Funktionszeichen F und die äußeren Faktoren den Buchstaben x, y, z, n zuwies83. Auch wenn all dies für Verwirrung sorgte, können wir verschiedene Erkenntnisse aus Sempers Gleichungen gewinnen. Zunächst einmal war die Unterteilung in grundsätzliche, innenliegende Bedingungen einerseits, und äußere, stilbestimmende Faktoren andererseits in allen Gleichungen zu finden. In den verschiedenen Varianten ist interessant, dass Semper sich bei einigen Faktoren nicht ganz sicher war, zu welcher der beiden Klassen sie gehörten. Insbesondere die Materialien und Bearbeitungstechniken, die im Text der Kleinen Schriften zu den äußeren Faktoren gezählt wurden, gehörten im Laufe seiner Schreibtätigkeit eher zu den inneren, gleichbleibenden Faktoren, und bildeten als solche schließlich die Grundstruktur seines Hauptwerks Der Stil. Darüber hinaus kann man den Versuch, eine Funktionsgleichung auf Architektur anzuwenden, als kühn und auch gefährlich bezeichnen. Die Gleichung lud geradezu dazu ein, Sempers Theorie als materialistisch und deterministisch zu kritisieren. Semper hatte der bevorstehenden Kritik auch gleich vorgebeugt, indem er in seinem Vortrag die Gleichung als »Krücke« bezeichnete. Für ihn lag das Problem der Gleichung aber nicht darin, dass Mathematik nicht grundsätzlich auf Kunst- und Naturformen anwendbar wäre, sondern dass eine mathematische FormGleichung viel zu kompliziert und aufgrund der unendlich zahlreichen Faktoren, die komplex aufeinander wirken, unmöglich aufzustellen wäre. Da sich aber die Analysis mit dem Unendlichen beschäftigte, konnte man mit ihr immerhin eine allgemeine Gleichung formulieren. Eine solche, dem Gegenstand immanente FormGleichung könne ein mit Schönheitssinn begabter Mensch ohnehin unbewusst in sich tragen, denn »der Eindruck, den die Form auf unseren Schönheitssinn macht, [ist] zunächst begründet auf ein unbewußtes Messen, Abwägen und Integrieren von Funktionen, die unserer Wissenschaft zu kompliziert sind, und deren Lösung ihm allein gelingt«84. Ein weiterer Kritikpunkt war, dass der Künstler in dieser Formel nur als ein »Koeffizient« unter vielen auftauchte und hinter die Faktoren von Material, Produktionstechnik und den aus dem Gebrauch abgeleiteten Urmotiven zurücktrat. Semper erkannte aber durchaus »die besondere Welt des kleinen Nachschöpfers«85 in ihrer Bedeutung: »Daher kommt der freie Wille des schöpferischen Menschengeistes als wichtigster Faktor bei der Frage des Entstehens der Baustile in erster Linie in Betracht, der freilich bei seinem Schaffen sich innerhalb gewisser höherer Gesetze des Ueberlieferten, des Erforderlichen und

83 Herrmann 1981, S. 161. 84 Semper 1884, S. 326. 85 Ebd., S. 401.

102 | F UNKTIONEN UND F ORMEN der Notwendigkeit bewegen muß, aber sich diese durch freie objektive Auffassung und 86

Verwertung aneignet und gleichsam dienstbar macht.«

Sempers Vision war groß. Der mathematische Funktionsbegriff einerseits und der biologische andererseits fanden gleichzeitig Eingang in sein theoretisches Werk, um 1852/53. Cuvier zum Vorbild nehmend, der die Organisation eines organischen Körpers mit der mathematischen Gleichung einer Kurve verglich87, strebte Semper an, in einer »empirischen Kunstlehre« Kunstwerke zusammenzustellen, »in ihnen die nothwendig verschiedenen Werthe einer Funktion, die aus vielen variablen Koefficienten besteht, nachweisend, und dieses hauptsächlich in der Absicht, das innere Gesetz hervortreten zu lassen, das durch die Welt der Kunstformen gleich wie in der Natur waltet.«88 Semper versuchte sich gleichzeitig von einer schematisch vereinfachten Wissenschaftlichkeit, wie er sie zum Beispiel Jean-NicolasLouis Durand unterstellte, abzugrenzen. Dieser »verliert sich in Tabellen und Formeln, ordnet alles in Reihen und bringt auf mechanischem Wege eine Art von Verbindung zwischen den Dingen heraus, anstatt die organischen Gesetze zu zeigen, mittels deren sie in Beziehung untereinander stehen«89. Anfänglich formulierte er den Wunsch, durch die Naturwissenschaften und insbesondere die vergleichende Methode eine »Erfindungsmethode« aufzudecken, »welche zur Erkenntnis des natürlichen Prozesses des Erfindens führen könnte, womit wir mehr erreicht haben würden, als dem großen Naturforscher im Bereiche seiner Wissenschaft vergönnt war«90. Er erhoffte sich, von der Analyse zur Synthese, oder mathematisch formuliert, vom Differenzieren zum Integrieren zu gelangen. Dies konnte in der Architektur genauso wenig gelingen wie in der Biologie. In Bezug auf Formfindung erkannte Semper durchaus die Grenzen der Mathematik, sie könne »zwar jede gegebene noch so complicirte Funktion differentiiren, aber das Integriren gelingt ihr selten, und am wenigsten in solchen Fällen der Physik, bei denen ein verwickeltes Durcheinanderwirken von Kräften Statt findet, dessen Gesetz zu bestimmen ist. – Aber die Mathematik versucht doch wenigstens derartige Integrationen und rechnet sie zu ihren höchsten Aufgaben«91. In der Beschreibung der Natur- wie der Kunstformen stoße die Mathematik an Grenzen, und so könne man nur hoffen, wenigstens »durch die Wissenschaft [...] die Schlüssel einiger der einfachsten Natur-

86 Ebd. Vgl. Herrmann 1990, S. 80. 87 Vgl. Cheung 2000, S. 19. 88 Semper 1860, S. VI. 89 Semper 1884, S. 262. 90 Ebd., S. 261. 91 Semper 1860, S. XVIII.

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formen zu finden. Was für die Natur gültig ist, findet auch für Kunstformen Anwendung«92. Semper lag nicht an einer schematischen Übertragung der Naturwissenschaften auf Kunst. So beklagte er, dass die »exakten Wissenschaften« die Leitung der »Volkserziehung« übernommen hätten: »Dasselbe ist gleichbedeutend mit der grundsätzlichen Ertödtung eben desjenigen Organs, das bei dem Kunstempfinden, und in gleichem Masse bei dem Kunsthervorbringen, sich bethätigt, ich meine den Sinn und den rein menschlich-idealen Trieb des sich selbst Zweck seienden Schaffens und die dem Künstler sowie dem Kunstempfänglichen unentbehrliche Gabe unmittelbaren anschauenden Denkens.«93

S EMPERS

UND

B ÖTTICHERS W IRKUNG

Es stellt sich abschließend zu Semper und Bötticher die Frage nach der weiteren Wirkung ihrer Funktionsbegriffe. War diesen mehr Erfolg beschert als denjenigen Lodolis, Algarottis, Milizias und Memmos? Hier ist eine überraschende Entdeckung zu machen. Es waren diese beiden selbst, die in ihren späteren Veröffentlichungen das Wort Funktion zurücknahmen und es durch andere Worte austauschten. Als Beispiel für Semper kann man zwei etwa zehn Jahre auseinanderliegende Textausschnitte über Keramik gegenüberstellen. In diesen wird deutlich, dass Semper versuchte, Funktion durch andere Worte wie Verrichtung oder Dienst zu ersetzen. Gleichzeitig zeigt der Vergleich aber auch, dass Semper hier Funktion nicht durch Zweck ersetzte, er also in beiden Texten etwas anderes als Zweck damit meinte: Ueber die Gefäßteile 1853 (1884)

Der Stil 1863

»ich nannte als die konstituie-renden Teile eines zusammengesetzten Gefäßes die folgenden: I. den Bauch, II. den Fuß oder Untersatz, III. den Hals und Ausguß, IV. die Handhaben, V. den Deckel.« [S. 35]

»Als Bestandtheile einer komponirten Vase erkannten wir: 1) den Bauch; 2) den Fuss oder Untersatz; 3) den Hals, 4) den Ausguss [...]; 5) die Handhaben; 6) den Deckel (unter Umständen den Propf).« [S. 78]

92 Semper 1884, S. 279. 93 Semper 1860, S. VIII.

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»Jeder dieser Teile hat seine eigene Bedeutung und Funktion. Ihre Formen und Ornamente beziehen sich hauptsächlich auf materiellen oder symbolischen Gebrauch«. [S. 35]

»Jeder dieser Theile hat seine besondere Verrichtung, von welcher, sei sie nun materiell oder symbolisch zu nehmen, seine Gestaltung hauptsächlich abhängig ist«. [S. 78]

»Der Bauch [...] hat die Funktion, eine Flüssigkeit in einem Zustand des hydrostatischen Gleichgewichts zu erhalten.« [S. 37]

»Der Bauch oder der Kessel des Gefässes ist bestimmt eine Flüssigkeit in sich aufzunehmen und im hydrostatischen Gleichgewicht zu erhalten.« [S. 78]

»Der Hals ist der Trichter für das Ein- und Ausgießen der Flüssigkeit. [...] Zwei Funktionen sind in eine verschmolzen, aber beide negieren sich nicht gegenseitig«. [S. 40]

»Der Hals ist der Trichter, um das Gefäss zu füllen, zugleich ist er der Spund, um dasselbe zu leeren. [...] Er dient [...] in doppeltem Sinne, doch so, dass die Dienste einander nicht verneinen«. [S. 99]

In Anlehnung an Herrmann könnte man sich folgende Begründung vorstellen, warum Semper hier Funktion eliminierte. Herrmann stellte die These auf, dass Semper nach der Lektüre der Tektonik der Hellenen von Böttichers Tektonikbegriff tief beeindruckt war und diesen daher häufig verwendete, dann aber in Der Stil wieder eliminiert habe, um jeglichen Vergleich mit Bötticher zu unterbinden94. Man kann an Herrmanns These zum Tektonikbegriff anschließen mit der Spekulation, dass dies ebenso auf den Funktionsbegriff zutrifft. Bei Bötticher war die Eliminierung des Worts Funktion noch radikaler. In der 1874, also dreißig Jahre nach der Erstausgabe veröffentlichten überarbeiteten Ausgabe der Tektonik der Hellenen hatte er die Vokabel Funktion so gut wie eliminiert. In der einhundertfünfzigseitigen Einleitung tauchte sie ein einziges Mal auf, fast scheint es, als hätte er die Änderung dieser einen Stelle übersehen. Mit der Vokabel Fungieren verhielt es sich nicht anders. Dieses Fungieren, das in der Einleitung nur noch viermal auftauchte, hieß so viel wie das Erbringen einer (statischen) Leistung und erhielt Beiwörter wie statisch, materiell und tragend. Das Fungieren gehörte dabei immer auf die Seite der »Werkform« (die in der vorherigen Ausgabe die »Kernform« war), und die »Kunstformen« fungierten nur »scheinbar«. Einige vergleichende Beispiele können die Eliminierung des Funktionsbegriffs verdeutlichen:

94 Herrmann 1981, S. 40.

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Tektonik der Hellenen 1844/52

Tektonik der Hellenen 1874

»Die Hellenische Architektonik erbildet die totale Form eines Bauwerkes [...] aus einzelnen [...] Körpern. [...] Jedem dieser Körper ist bei der Konception des Ganzen von vorn herein eine gewisse struktive Funktion – bauliche Dienstverrichtung – zugetheilt«. [S. 4]

»Dieser hellenische Steinbau zeigt sich als ein Gefüge aus einzelnen Körperlichkeiten [...] Unter ihnen treten diejenigen hervor, welchen eine besondere und selbständige Dienstleistung in statischer Hinsicht übertragen ist«. [S. 8]

»Das Prinzip nach welchem die Hellenische Tektonik ihre Körper erbildet, ist ganz identisch mit dem Bildungsprinzip der lebendigen Natur: Begriff, Wesenheit und Funktion jedes Körpers durch folgerechte Form zu erledigen, und dabei diese Form in den Aeußerlichkeiten so zu entwikkeln, daß sie die Funktion ganz offenkundig verräth. [...] Die Form erst verleiht dem baulichen Materiale die Eigenschaft seine Funktion erfüllen zu können; umgekehrt kann aus der Form jedes Mal die Funktion erkannt werden.« [S. 6]

»Auf solche Weise ist bei den Vegetabilien wie bei lebenden Geschöpfen, der ihrem Dasein zu Grunde liegende Begriff, als ganz identisches Abbild seiner selbst, in der körperlichen Form des Stoffes zur Erscheinung gelangt: auch findet man diesen innigen Wechselbezug zwischen dem Begriffe und der Form, bei allen welche sich ungestört in der Körperlichkeit haben entwikkeln können. Aus der gewordenen Form, kann der Begriff dann auch zweiffellos erkannt werden.« [S. 18]

»Es sind beim Kandelaber eben so wie bei den Kesseln und Schalen wieder drei besondere Theile, als drei besondere Funktionen des Ganzen erledigend, herausgehoben: 1. Fuß, 2. Stamm, und 3. Kaptäl.« [S. 52]

»Seine einzelnen Bestandtheile Fuss Stamm und Capitell, sind eben so wie die einzelnen Theile des Hohlgeräthes, für ihre verschiedenen Leistungen vollkommen erfüllend in der Werkform gebildet und bestimmt in sich abgeschlossen, während ihre Kunstform dies folgerecht scharf heraushebt«. [S. 140]

Diese Textveränderungen, so schrieb Bötticher einleitend, seien nur eine Änderung »der sprachlichen Fügung«, nicht aber eine »Abweichung vom leitenden Gedanken«95. Insbesondere platzierte er seine beiden Begriffe von Werk- und Kunstform

95 Bötticher 1874, S. 152.

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viel öfter, die in erster Auflage noch Kern- und Kunstform hießen. Er betonte noch einmal, dass der Werkform »ganz ausschliesslich nur die materielle und statische Leistung zufällt: es wurde deshalb früher auch wohl Kernform des Gliedes genannt, weil es den statisch fungirenden Kern desselben bildet«96. Durch was ersetzte Bötticher Funktion? Dies ist nicht immer direkt zu beantworten, weil Bötticher seinen Text sehr stark änderte und längere Textpassagen, zum Beispiel das Vorwort, ganz strich, andere einfügte. In der Einleitung, die ursprünglich »Zur Philosophie der tektonischen Form« übertitelt und nun in »Zur Lehre der tektonischen Kunstformen« umgewandelt war, fällt insbesondere auf, dass Bötticher die Dreiheit »Begriff, Wesenheit und Funktion« änderte zu »Begriff, Wesen und Leistung«. Das Verhältnis von Funktion und Form wurde zu einem Verhältnis von Begriff und Form. Mit dem Verschwinden des Worts Funktion trat aber auch die Betonung des Organischen zurück. Die Kunstform schaffte aus der Werkform nicht mehr einen »idealen Organismus«, sondern verlieh nun der Werkform »das Siegel idealer Kunstgestaltungen«97. Wie bei Semper wurde das Wort Funktion nicht durch Zweck ersetzt. Zweck bezog sich – wie bei Semper – auch in der überarbeiteten Ausgabe der Tektonik der Hellenen auf den Gegenstand als Mittel, ohne Berücksichtigung seiner einzelne Teile, seiner Ganzheit oder seiner Struktur. Es war das Wort Funktion, das verschwand, nicht die Frage des Zwecks. Zur Beantwortung der Frage, warum Bötticher das Wort Funktion in der zweiten Ausgabe seines Buchs unterdrückte, muss anders spekuliert werden als wir dies bei Semper getan haben. Man könnte die These formulieren, dass Bötticher Funktion als Modewort ansah und der besseren Verständlichkeit und Seriosität wegen ersetzte. Dies könnte auch an der in Deutschland sich kundtuenden Abneigung gegen Fremdwörter gelegen haben. Wie schon im ersten Kapitel dargestellt, kritisierte der Sprachforscher Johann Heinrich Campe in seinem Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke das Wort Funktion. Böttichers Sprache wurde schon bei Erscheinen des Vorabdrucks der Tektonik 1840 getadelt. So hätte Bötticher »seine Sache in einer so gezwungenen, ungewöhnlichen und namentlich mit so sehr vielen fremden und neuen Wörtern durchwebten gelehrten Sprache behandelt«98. Und Richard Streiter fügte 1896 hinzu, Böttichers Schreibstil hätte »die Aufmerksamkeit und Geduld des Lesers auf die härteste Probe«99 gestellt. Streiter bezog seine Kritik zwar in der Hauptsache auf die vielen griechischen und lateinischen Benennungen der

96 Ebd., S. 20. 97 Ebd., S.35. 98 J. Gärtner 1844, zitiert in Streiter 1896, S. 126. 99 Streiter 1896, S. 126.

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Gebäude- und Gefäßteile, seine Bemerkung, Bötticher sei »befangen in der geistigen Richtung seiner Zeit«100 kann man aber auch auf den Sprachgebrauch von Funktion, Begriff und Wesen beziehen. Der Vergleich von Sempers und Böttichers Schriften bestätigt, dass sich der Funktionsbegriff in Deutschland wieder, wie schon zuvor in Italien bei Lodoli, Algarotti, Milizia und Memmo, nicht durchsetzte. Das lag aber nur zum Teil an der bewussten Eliminierung des Worts in den späteren Schriften und Zweitausgaben. Böttichers Erfolg ging zum Beispiel von der ersten Ausgabe der Tektonik der Hellenen aus, und Streiters Meinung von 1896, dass in der Originalausgabe »die leitenden Gedanken Böttichers schärfer und eigenartiger zu Tage«101 träten, war einhellig. Viel grundsätzlicher war es das Missverständnis gegenüber den Theorien Sempers und Böttichers sowie die neuen ästhetischen Theorien des »Kunstwollens« und der »Einfühlung«, durch die beide in den Hintergrund gedrängt wurden102. So würdigte Streiter Böttichers Tektonik zwar als »bahnbrechendes Werk«, kritisierte es aber auch als »vielfach sehr überschätzt« und als »mühsam und künstlich aufgebaute Theorie«103 . Streiters Kritik hat in zweifacher Hinsicht mit dem Funktionsbegriff zu tun. Einerseits, so Streiter, basiere Böttichers »ganze Theorie auf den irrtümlichen Grundgedanken, dass die ›Analogie von Form und Begriff‹ das einzige Kriterion für Körperschönheit bilde, dass die Materie tektonischer Gebilde ›an sich tot‹, d.h. ausdruckslos sei«104 . Dass die Werkform für sich nicht in der Lage sei, ihre Funktion auszudrücken und dazu die Kunstform benötige, sei eine irrige Annahme. Es sei ein Fehlschluss, dass »das Anorganische an sich keine symbolische Bedeutung haben könne«, und dieser Fehlschluss stünde im Widerspruch zu zeitgenössischen Ästhetiktheorien, die »auch im Anorganischen symbolische Bedeutung findet«105 . Zum zweiten kritisierte Streiter, dass Bötticher das rationale Erkennen eines Funktionsablaufs in der Kunstform mit einem ästhetischen Genuss verwechsle. Weshalb, fragte Streiter, sollte »eine Form als Ausdruck der Wesenheit, des Begriffes, der Funktion eines Körpers für den Beschauer überhaupt ästhetisch wertvoll sein«106? Viel zu einseitig habe Bötticher versucht, »in jedem Glied, in jeder Einzelform der griechischen Bauwerke, Geräte und Gefäße einen bestimmten ›Begriff‹ nachzuweisen, dem ›analog‹ Glied und Form ›erbildet‹ sei,

100 Ebd., S. 128. 101 Ebd., S. 9. 102 Vgl. Oechslin 1994, S. 70-85. 103 Streiter 1896, S. 128, 45. 104 Ebd., S. 129. 105 Ebd., S. 36. 106 Ebd., S. 38.

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und in jedem Ornament ein von der organischen Natur oder von menschlichen Erzeugnissen entlehntes ›Vergleichsbild‹ für ›struktive Begriffe‹ zu sehen«107, deren Verstehen dann eine Kunsterfahrung sein solle. »Beruht denn aber unser ästhetisches Gefühl auf einer derartigen gedanklichen Prüfung?«, fragte Streiter und fuhr fort: »Wäre wirklich eine Form schon deshalb schön, weil sie ›den inliegenden Begriff in der äußeren Erscheinung am wahrsten und schlagendsten darstellt,‹ so wäre nicht einzusehen, weshalb nicht alle Formen der organischen oder anorganischen Natur schön sein sollten, sofern sie eine unverkümmerte, ›ihrem Begriffe entsprechende‹ Bildung aufweisen«108. Bötticher hätte dies wohl bejaht, und mit ihm, um hier vorzugreifen, auch Streiters örtlich weit entfernter Zeitgenosse Louis Sullivan, der, wie es der Zufall will, im gleichen Jahr 1896 erstmalig sein Diktum »form follows function« veröffentlichte. Im gleichen Jahr, in dem Streiter behauptete, niemand könne einen Löwen und ein Nilpferd »gleich schön finden«109, stellte Sullivan die Gestalt des kreisenden Adlers und des sich abmühenden Pferds auf eine Stufe. Die Kunsttheorien, auf die sich Streiter berief, also diejenigen Theodor Lipps, Hermann Lotzes und Robert Vischers verlagerten ihre Analysen auf den Betrachter, auf das Verhältnis von Objekt und Subjekt, auf die Einfühlung. Unter diesem Blickwinkel wurde Böttichers »an den Verstand mehr als an das Gefühl sich wendende Symbolik« als »verhängnisvoller Mangel«110 angesehen. Streiters Kritik ließe sich in diesem Punkt sicher auch auf Sempers Theorien ausweiten. Dieser neue theoretische Einfluss führte dazu, dass die Theorien Böttichers und Sempers und auch die spezifischen architektonischen Bedeutungen des Funktionsbegriffs für einige Zeit simplifiziert wurden und verblassten. In der Zeit von Otto Wagner, so stellte Werner Oechslin fest, hätte man »unter Konstruktion meist kaum mehr so abstrakt und allgemein das ›mechanisch nothwendige, das statisch fungirende Schema‹ Böttichers begriffen«111 . Eine weitere interessante Begründung lieferte Sokratis Georgiadis. Für ihn lag das Problem gerade in der Bezugnahme auf Bereiche wie der Biologie, die »ausserhalb der disziplinären Grenzen der Architektur angesiedelt waren«. Seiner Auffassung nach scheiterte der »Funktionalismus« des neunzehnten Jahrhunderts »wegen der mangelnden architektonischen Immanenz des Funktionsbegriffes«112 .

107 Ebd., S. 129-30. 108 Ebd., S. 45-6. 109 Ebd., S. 47. 110 Ebd., S. 39. 111 Oechslin 1994, S. 58. 112 Georgiadis 1996, S. 10.

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Die Zunahme der Ornamentfeindlichkeit, wie sie zum Beispiel in Adolf Loos’ Ornament und Verbrechen 1908 zum Ausdruck kam oder zumindest von der Öffentlichkeit so verstanden wurde, kann als weiterer Grund angesehen werden, warum Böttichers und Sempers Funktionsbegriff vorerst seinen Niedergang fand. Da dieser, wie gezeigt wurde, eng am Ornamentbegriff hing, führte die ablehnende Haltung gegenüber Ornamentierungen auch zu einer Distanzierung gegenüber ihren Theorien. Es musste also zu einem erneuten Anlauf für den Funktionsbegriff kommen. Dieser war zwar relativ unabhängig von Sempers und Böttichers Theorien, behielt aber auch in seiner neuerlichen Anwendung in der Architektur zunächst die Bedeutung einer inneren Wirkrelation von Teilen und Ganzem.

L OUIS S ULLIVAN : » FORM

FOLLOWS FUNCTION «

An der Schwelle zum zwanzigsten Jahrhundert stand Louis Sullivans (1855-1924) berühmte Wendung »form follows function«, die aus seinem Essay The Tall Office Building Artistically Considered stammte und die bis heute stereotyp wiederholt wird, wenn es um Erklärungsversuche des Funktionalismus geht. Dieser berühmte Essay erschien im Jahr 1896 gleich zweimal, anschließend in leicht veränderter Fassung 1905 unter dem Titel Form and Function Artistically Considered, und schließlich noch einmal 1922 unter dem ursprünglichen Titel113 . Sullivan setzte sich darin mit der Gliederung des Bürohochhauses als originär-amerikanischem Bautypus auseinander, den er auf eine Stufe stellte mit dem antiken Tempel, der gotischen Kathedrale und der mittelalterlichen Burg. In mehreren Ansätzen gab er verschiedene Begründungen, warum ein Bürohochhaus eine Dreiteilung haben musste, bestehend aus Sockel mit Eingangsbereich und Geschäften, Mittelteil mit Büros und Dachgeschoss als oberen Abschluss. In der letzten Schleife, im letzten Textfünftel, kam er zu seiner umfassenden und abschließenden Hauptbegründung, die er aus der Natur herleitete. In der ersten deutschen Übersetzung, die erst 1925 erfolgte, las sich diese Herleitung und Übertragung folgendermaßen: »Laßt mich jetzt die wahre, die unerschütterliche Philosophie architektonischer Kunst vortragen, denn sie bringt uns eine endgültige und umfassende Formel zur Lösung des Problems: Alle Dinge in der Natur haben eine Gestalt, mit anderen Worten eine Form, eine äußere Erscheinung, welche uns sagt, was sie sind, wie sie sich unterscheiden von uns selbst und voneinander. Untrüglich drücken diese Formen in der Natur das innere Leben aus, die

113 Lippincott’s Magazine 57 (1896) S. 403-9; The Inland Architect and News Record 27 (1896), S. 32-4; The Craftsman 8 (1905), S. 453-8; The Western Architect 31 (1922) S. 3-11.

110 | F UNKTIONEN UND F ORMEN angeborenen Eigenschaften des Tieres, Baumes, Vogels, Fisches [...] Sei es nun der kreisende Adler auf seinem Flug, oder die geöffnete Apfelblüte, das arbeitende Lastpferd, der muntere Schwan, die sich verästelnde Eiche, der sich windende Fluß, die treibenden Wolken, über allen die Sonne in Auf- und Untergang, Form folgt immer Funktion, und dies ist das Gesetz. Wo kein Wechsel der Funktion, da auch kein Wechsel der Form [...] Es ist das allgegenwärtige Gesetz aller Dinge, organisch oder unorganisch, aller physischen und aller metaphysischen Dinge, aller menschlichen und aller übermenschlichen Dinge, Gesetz aller echten Manifestationen des Kopfes, des Herzens, der Seele, daß das Leben erkennbar ist in seinem Ausdruck, daß die Form immer der Funktion folgt.«

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Die Wichtigkeit dieser Formel für Sullivan war unverkennbar, sie war »endgültige und umfassende Formel«, »unerschütterliche Philosophie«, schlichtweg »Gesetz«. Von diesem Gesetz ausgehend folgerte er für das hohe Bürohaus: »Zeigt dies nicht leicht, klar und überzeugend, daß die unteren ein oder zwei Geschosse eines Bürohauses einen besonderen Charakter annehmen müssen, ihren besonderen Zwecken [special needs] angepaßt, daß die Reihen von typisierten Büros, welche alle die gleiche, unveränderte Funktion haben, sich in derselben unveränderten Form fortsetzen, und daß auch das oberste Geschoß, ebenso eigenartig und schlüssig, wie es seinem Wesen und seiner Funktion nach ist [in its very nature, its function], auch seiner äußeren Form nach Kraft, Bedeutung, Fortsetzung und Abschluß darstellen soll? Daraus folgt – nicht infolge irgend einer Theorie, eines Symbols oder einer eingebildeten Logik, sondern natürlich, selbstverständlich und ungekünstelt – eine Dreiteilung.«

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Wie man hier sieht, generierte sich Sullivans Funktionsbegriff aus der Idee der Lebendigkeit. »Erkennbarkeit des Lebens« und »Ausdruck des inneren Lebens« können als Umschreibungen von »form follows function« verstanden werden. Die naturphilosophische Erkenntnis, dass die Gestalt eines Lebewesens mit dessen Lebensweise zu tun hat, übertrug er als Gestaltprinzip auf Bauwerke. Er erhob es zu einem allgemein gültigen künstlerisch-synthetischen Verfahren der Formfindung und -generierung in der Architektur116. Lebendigkeit offenbarte sich für Sullivan nicht nur in Tieren und Pflanzen, sondern auch in Fluss, Sonne und Wolken. Auch ein Bauwerk sollte diesem Ideal nahekommen, es sollte »als natürliches, wesenhaftes und physikalisches Ganzes einen emotionalen Ausdruck« zeigen und musste daher » – und dies ist fast wörtlich

114 Zitat in Kimball 1925, S. 231-2. 115 Ebd., S. 232. 116 Vgl. die Interpretationen von Morrison 1962, S. 251, und Gallo/Schnaidt 1989, S. 28.

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zu nehmen – Leben haben«117. Leben zeigte sich in den Verbalattributen, die Sullivan zum Beispiel dem Adler, dem Fluss und den Wolken beigab: »der kreisende«, »der sich windende« und »die treibenden«. Gleiches galt für das hohe Bürogebäude, dessen innere Aktivität er »stolzes Emporsteigen« nannte: »Was ist das Hauptmerkmal des hohen Bürogebäudes? und sofort antworten wir: ›Es ist hoch!‹ Diese Höhe ist für eine Künstlernatur der bestimmende Gedanke. [...] Hoch muß der Bau sein, jeder Zoll von ihm hoch. Die Kraft und Gewalt der Höhe muß in ihm sein, der Ruhm und der Stolz hoher Begeisterung muß ihn beseelen. Jeder Zoll muß stolzes Emporsteigen sein.«

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Es ist einfach, die drei Charakteristika des Funktionsbegriffs bei Sullivan wiederzufinden. In Sullivans Betonung der inneren Aktivität – zum Beispiel dem »stolzen Emporsteigen« des Bürogebäudes – ist der aktivische Aspekt des Funktionsbegriffs erkennbar. Gleichzeitig zeigen sich in der Beschreibung der drei Teile und des »Hauptmerkmals« des Bürogebäudes auch die beiden anderen Aspekte des Funktionsbegriffs, die Relation von Teilen und der Ganzheitsbezug. Die aktivische Beschreibung des Bürohochhauses in Verbindung mit der obigen Nennung seiner Teile ist durchaus vergleichbar mit Böttichers und Sempers Definition der Vasenteile, zum Beispiel dem zusammenhaltenden Vasenbauch oder dem trichterförmigen Hals, der Ein- und Ausgießen ermöglicht und versinnbildlicht. Sullivans Forderung nach »Ausdruck des inneren Lebens« ist dabei nicht sehr weit entfernt von Böttichers »Ausdruck wirklichen Fungirens, echter Lebensthätigkeit«. Sullivans Weltgesetz, dass die Form immer der Funktion folge, liest sich wie die Verknappung von Böttichers Einsicht, dass die »Form jedes Körpers in den Bildungen der organischen Natur nur Verkörperung seines Begriffes, seiner Funktion sei«119 . Im Unterschied aber zu Sullivan, der das »innere Leben« auch in den anorganischen Formen der Natur, in Fluss oder Wolken erkannte, lag Böttichers Betonung darin, dass das Anorganische keine »Lebenstätigkeit« ausdrücken könne und dass dafür eine Kunstform ausgebildet werden müsse. Die Einbettung aller Dinge, einschließlich der Architektur, in die Natur deutet sich in The Tall Office Building Artistically Considered an und ist der zentrale Kern von Sullivans Transzendentalphilosophie. Sein Naturverständnis ist der Schlüssel zu seiner Architektur und insbesondere auch zu seinem Funktionsbegriff. In diesem Naturverständnis integrierte die Natur alle Dinge als ihre Teile und bestimmte das Wirken der Dinge untereinander, der Dinge für sich, und schließlich ihre aktiven

117 Hier in Paul 1963, S. 130. 118 Zitat in Kimball 1925, S. 231. 119 Bötticher 1844/52, S. 113.

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Verknüpfungen. Natur war Funktion schlechthin, denn sie war in ihrem Grundsatz Aktivität, Teilerelation und unbedingter Ganzheitsbezug. Alle Formen in der Natur drückten diesen Grundsatz aus. Die »Wechselbeziehung von Funktion und Form«, so Sullivan 1901-02, »hat keinen Anfang, kein Ende. Sie ist unermesslich klein, unermesslich ausgedehnt; unerforschlich lebhaft, unendlich gelassen; inniglich komplex und doch einfach.«120 In Sullivans Transzendentalphilosophie war nicht nur die Natur als Ganzes eine Einheit, sondern auch einzelne Organismen für sich; der Mensch selbst oder Bauwerke konnten individuelle Einheiten sein. Der Architekt, wie jeder Mensch, trug als Teil der Natur deren innere Logik in sich und konnte daher in sich selbst die Antworten des richtigen Gestaltens finden. Er musste nur anerkennen, dass auch er »ein unabtrennbarer Teil der Natur ist und daß seine Kraft aus ihrer Güte kommt«121. Dem Architekten würden gute Bauten gelingen, wenn er sein gesamtes Schaffen danach ausrichtete, sich »dem Frieden vollkommenen Gleichgewichts, der Ruhe in unendlicher Einheit, der Gelassenheit fragloser Identifikation«122 zu ergeben. Der Schlüssel für eine bessere Architektur läge darin, so Sullivan, dass wir »uns wieder zur Natur wenden, ihrer klangvollen Stimme lauschen«123 . Diese Erkenntnisse müssten die Grundlage des schaffenden Architekten werden, und natürlich sah er sich selbst als Erfüller dieses Ansatzes. Leider lehre man aber dem Architekten nicht das »Suchen nach einem natürlichen Ausdruck unseres Lebens, unseres Denkens, unserer Meditation, unserer Gefühle – das ist die Kunst der Architektur«124 . Der Architekturschüler erlerne nur »tausendundeine spezifische Tatsache über Gestalt, Abmessungen und Verhältnisse der genannten Bauten insgesamt und in ihren einzelnen Teilen«, und so könne man im Vergleich mit der Natur sehen, dass der Mensch immer »Zusammenstellungen erfand«, aber »die Natur immer Organismen hervorbringt«125 . Sullivan missbilligte Kompositions- und Proportionsregeln, die Gestaltungsprinzipien der Akademien, und stellte diesen, von außen an ein Werk herangetragenen Prinzipien, die Suche nach inneren Funktionen entgegen126. Die Hintergründe von Sullivans Funktionsbegriff waren äußerst vielfältig. Viele Architekten hatten bereits vor der Veröffentlichung von The Tall Office Building

120 Sullivan 1979, S. 43 (engl.) 121 Hier in Paul 1963, S. 150. 122 Ebd., S. 138. 123 Ebd., S. 134. 124 Ebd., S. 142. 125 Ebd., S. 141, 143. 126 Zu Sullivans Abneigung gegenüber Proportionen und Kompositionen vgl. Morrison 1962, S. 247, und Collins 1965, S. 155.

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Artistically Considered Funktion zu einem architektonischen Schlagwort gemacht. Hier ist zunächst Eugène-Emmanuel Viollet-le-Duc (1814-79) zu nennen, neben Bötticher und Semper der Pionier der Entwicklung des Funktionsbegriffs. Violletle-Ducs Überzeugungen unterschieden sich von denjenigen Sempers und Böttichers insofern, als er mit ihnen nicht die Antikenverehrung teilte, sondern die Gotik als zeitgemäßen Nationalstil begriff. In seinem Hauptwerk Entretiens sur l’Architecture, das 1863-72 erschien, diskutierte er, wie Formen Funktionen ausdrücken müssen. Das Werk wurde als Discourses on Architecture 1875 ins Englische übersetzt und war in Sullivans Besitz. Sullivan erwähnte in seiner Autobiographie den Begriff der Funktion erstmalig mit Bezug auf seinen frühen Kollegen und Freund John Edelmann, der ihm um 1873-74 seine gesellschaftskritische Idee der »unterdrückten Funktionen« dargelegt und dabei eine »Explosion« in Sullivan ausgelöst hätte127 . Dies deutet an, dass Edelmanns Funktionsverständnis von der Soziologie herkam. Ungefähr zeitgleich erschien Herbert Spencers The Principles of Sociology, auf dessen Ideen einer »Gesellschaft als Organismus« mit »sozialen Strukturen« und »sozialen Funktionen« im ersten Kapitel eingegangen wurde. Ein weiterer Einfluss auf Sullivan war die Pariser Ecole des Beaux-Arts, an der er ab 1874 studierte und über die er 1904 schrieb, dass »dort der Keim zu jenem Gesetz sich in meinem Kopf festsetzte und zu entwickeln begann, welches ich später nach vielen Beobachtungen in der Natur im Satz darlegte: Die Form folgt der Funktion.«128 In seiner Autobiographie erwähnte Sullivan außerdem den Philosophen Hippolyte Taine, mit dessen Philosophie er sich schon als Schüler und später während seines Parisaufenthalts befasst hätte. Taine war von Cuvier, Spencer und Comte beeinflusst, deren Betonung der Funktionen wir bereits gesehen haben. Weitere Quellen des zeitgenössischen Architekturdiskurses waren das 1881 erschienene Buch des deutschstämmigen Leopold Eidlitz Nature and Function of Art und John Roots Übersetzung von Sempers Ueber Baustile, die in der Zeitschrift The Inland Architect and News Record 1889/90 erschien129. In den 1890er Jahren verfasste Sullivans Büropartner, der in Sachsen-Weimar geborene Dankmar Adler, mehrere Artikel über das hohe Bürogebäude, die aber zunächst nicht das Thema der Funktion-Form-Beziehung berührten. Erst kurz nachdem Sullivans berühmter Artikel erschienen war, meldete sich Adler in der Zeitschrift The Inland Architect and News Record zu Wort und schlug vor, Sullivans »Drei-Worte-Aphorismus« abzuändern in »Funktion und Umwelt bestimmen Form [function and environment

127 Sullivan 1926, S. 207, 252 (engl.). 128 Zitat in Frei 1992, S. 20 (Brief an Claude Bragdon 25. Juli 1904). 129 »Development of Architectural Style«, in: The Inland Architect and News Record 14 (1889/90), S. 76-8, 92-4; 15 (1890), S. 5-6, 32-3.

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determine form]«130 . Dabei verstand Adler unter Umwelt auch die neue Materialien, die das neunzehnte Jahrhundert hervorgebracht hatte, insbesondere Stahl und Glas. Da die Stahlrahmen der hohen Bürogebäude sowohl mit Fassaden gefüllt als auch gegen Feuer geschützt werden müssten, böten Füllungen und Beschichtungen Gelegenheiten »für künstlerische Behandlung, die ausschließlich mit Bezug zu dem Verlangen, die ›Form‹ der ›Funktion‹ anzupassen, behandelt werden könnten«131. Zu erwähnen sind schließlich auch die 1852/53 veröffentlichten Textsammlungen des Künstlers und Theoretikers Horatio Greenough, der sich während eines langen Italienaufenthalts mit Memmos und Milizias Schriften befasste. Greenoughs Texte drehten sich um die Frage, wie amerikanische Kunst aussehen und sich generieren könne. Der Begriff der Funktion spielte dabei eine wichtige Rolle. In seinem Aufsatz Relative and Independent Beauty (Relative und unabhängige Schönheit) definierte er »Schönheit als das Versprechen der Funktion; Aktion als die Präsenz der Funktion; Charakter als die Dokumentation der Funktion«132. Es war ihm wichtig zu betonen, dass diese drei Umschreibungen nur verschiedene Phasen einer Einheit seien. In einem weiteren Aufsatz Structure and Organization (Struktur und Organisation) erläuterte er, dass sich in Kunst und Natur »die Seele, der Zweck eines Werks [the soul, the purpose of a work]« zeigen müsse »im Verhältnis der Unterordnung der Teile zum Ganzen, und des Ganzen zur Funktion«. So stamme die »Schönheit und Majestät des Vogels« aus der »Einheit seiner Funktion«, aus dem »transzendentalen Mechanismus allein«133. Gerade bei Greenough, aber auch bei den meisten anderen der genannten Referenzen, war eine tiefgehende Auseinandersetzung mit der Natur und den Naturerscheinungen erkennbar, die von wissenschaftlichen zu philosophischen und künstlerischen Disziplinen spannte. Viele hatten die Funktion-Form-Beziehung bereits zum alles durchdringenden Prinzip erhoben. Und was wir bei Sullivan sehen konnten, ließe sich auch bei jedem der hier genannten Referenzen zeigen, nämlich, dass deren Funktionsverständnis mit den nun bekannten Kriterien beschrieben

130 Adler 1896, S. 34-5 (engl.). 131 Ebd., S. 36 (engl.). Weitere Artikel Adlers waren: »Tall Office Buildings – Past and Future«, in: Engineering Magazine 3 (1892) S. 765-73; »Light in Tall Office Buildings«, in: Engineering Magazine 4 (1892), S. 171-86; »The Chicago Auditorium«, Architectural Record 1 (1892), S.415-34; »The Tall Business Building«, in: Cassier’s Magazine 12 (1897), S. 193-210. In allen diesen Artikeln kam der Funktionsbegriff (mit einer Ausnahme) nicht vor. Das Büro Adler & Sullivan existierte 1881-95. 132 Orig. in Tuckerman 1853, S. 132 (engl.): »When I define Beauty as the promise of Function; Action as the presence of Function; Character as the record of Function, I arbitrarily divide that which is essentially one.« 133 Ebd., S. 175-6.

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werden konnte: Ganzheitsbezug, Teilerelation und innere Aktivität, zusammengefasst als Wirken von Teilen zu einer Ganzheit. Dabei bezogen diese Referenzen den Funktionsbegriff oft nicht nur auf Architektur, sondern leiteten diesen aus einem allgemeinen Weltverständnis ab. So auch bei Sullivan, der für sein Diktum Allgemeingültigkeit beanspruchte. Er bezeichnete Funktionen schlichtweg als das »Lebensdrängen [life’s urging]«. Dabei drückte die Form nicht nur die Funktion aus, »sondern die wesentliche Idee war diese: Dass die Funktion ihre Form erschaffte oder organisierte« und dass daher »alle Funktionen in der Natur als Kräfte, Manifestationen der All-Kraft des Lebens«134 betrachtet werden konnten.

F RANK L LOYD W RIGHT Frank Lloyd Wright (1867-1959) kann man als den ersten Interpreten von Sullivans Form-Funktion-Diktum ansehen. Für Wright, der von 1888 bis 1893 in Sullivans Büro arbeitete, war Sullivan »der echte Radikale seiner Zeit«. Den »großen Lehrer« nannte er in vielen Vorträgen und Veröffentlichungen »Lieber Meister«135. Wrights Architekturverständnis war wie Sullivans von einer romantischen Hingabe an eine Natur geprägt, »von der wir selbst nur ein Teil sind und mit der wir eins sind«136. Architektur war für ihn durch den Menschen gemachte Natur, sie war »ein höherer Typus, ein höherer Ausdruck der Natur auf dem Weg über die menschliche Natur«137. Wrights eigenes Verständnis der Beziehung »form follows function« ging aus Sullivans hervor. In einer Rede von 1896, also schon im gleichen Jahr, in dem Sullivans berühmter Aufsatz erschien, schrieb Wright: »Ich kann die Natur nicht kopieren und will sie nicht sklavisch imitieren, aber ich habe einen Verstand, um das Bilden von künstlichen Dingen zu kontrollieren und von der Natur ihre einfachen Wahrheiten der Form, Funktion und Anmut der Linie zu lernen. Die Natur ist ein guter Lehrer. […] die Natur würde Dich als erstes lehren, dass die ›Form‹ der ›Funktion‹ folgt und niemals eine Sache der Mode oder Willkür ist«

138

.

Doch auch wenn für die Erklärung des Funktionsbegriffs die Natur und die Umwelt eine enorme Rolle spielten, entstand für Wright höchste Architektur nur von innen,

134 Sullivan 1926, S. 290 (engl.) 135 Z.B. in Wright 1966, S. 8, 169, 175, 227; Wright 1992, S. 86 (engl.). 136 Wright 1986, S. 14. 137 Wright 1966, S. 32. 138 Wright 1992, S. 31 (engl.).

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aus dem schaffenden Architekten heraus, denn nur aus dem Inneren erwuchs »Freiheit« und diese war Voraussetzung für freie Kunst139. Wrights Verarbeitung der Funktion-Form-Beziehung rieb sich oft an Sullivans ursprünglicher Definition. 1928 erzählte er von einem Disput mit Sullivan, in dem er diesen gefragt hätte, ob es nicht genauso wahrscheinlich wäre, dass die Funktion der Form folge. Diese »Ketzerei«, so Wright, hätte Sullivan abgeschmettert mit der Bemerkung, das sei wie die Frage nach der Henne und dem Ei140. Bereits 1914 spöttelte er über »die schicke Sprache von ›Form und Funktion‹«141 . Diese Formel schien sich aus seiner Sicht bereits zum Modewort entwickelt zu haben. Wesentlich wichtiger wurde für Wright der Begriff der Organischen Architektur (Organic Architecture), in dem die Funktion-Form-Beziehung nur ein Teilaspekt war. Organisch meinte für ihn, dass Teile zueinander in harmonischem Verhältnis waren, eine »organische Einheit«142 bildeten nach dem Vorbild der Natur. Das galt für die Natur genauso wie für die vom Architekten zu schaffenden Dinge, die alle voneinander abhingen. »Organische Architektur« war »moderne«, »freie«, »integrierte« und »natürliche« Architektur143 . Die kontinuierliche Infragestellung und Verarbeitung von Sullivans Theorien reifte dann zu Wrights berühmter Abänderung des Diktums. In seinem Artikel Organic Architecture von 1936 schrieb er in klarer Abgrenzung zu Sullivan: »›Die Form folgt der Funktion‹ ist bloßes Dogma bis man die höhere Wahrheit realisiert, dass Form und Funktion eins sind.« Daraus schloss er auf ein neues Dogma: »mache alle Form und Funktion eins«. Er wurde auch in den darauffolgenden Jahrzehnten nicht müde zu wiederholen: »form and function are one«144. Mit Louis Sullivan und Frank Lloyd Wright überschreiten wir die Schwelle ins zwanzigste Jahrhundert und leiten in das nächste Kapitel über, das sich mit der Klassischen Moderne in Deutschland und anderen europäischen Ländern beschäftigt. Insbesondere ist die Frage interessant, wie groß der amerikanische Beitrag – das heißt im Großen und Ganzen der Beitrag Sullivans und Wrights – zur Verbreitung des Funktionsbegriffs in den europäischen Avantgarden eigentlich war. Dazu muss man einige Schlussfolgerungen aus dem nächsten Kapitel vorwegnehmen. Die Rezeption von Sullivan und Wright in Europa erfolgte in zwei Schüben, der erste vor dem Ersten Weltkrieg, der zweite ab Mitte der 1920er Jahre. Ein erstes Wright-Heft der amerikanischen Zeitschrift Architectural Record vom März 1908

139 Wright 1966, S. 158-9. 140 Wright 1992, S. 288 (engl.). 141 Ebd., S. 127 (engl.). 142 Z.B. Wright 1986, S. 14. 143 Wright 1966, S. 159, 172, 245. 144 Wright 1954, S. 20 (engl.). Vgl. Wright 1954, S. 45; Wright 1966, S. 173, 227, 247.

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zirkulierte nicht nur unter amerikanischen, sondern auch unter europäischen Architekten. 1910-11 erschienen in Berlin umfangreiche deutsche Publikationen zu Wright, und 1912 veröffentlichte Hendrik Berlage einen größeren Artikel über Sullivan und Wright in drei aufeinanderfolgenden Heften der Schweizer Bauzeitung. Die Rezeption Sullivans und Wrights schien sich dabei aber zunächst auf das praktische Werk zu beschränken, obwohl bereits erkannt war, wie Berlage in Bezug auf Sullivan feststellte, dass von diesem auch »als Dichter, als Denker und als vorzüglichem Schriftsteller viel zu sagen wäre«145 . In diesen Veröffentlichungen wurde weder die Formel »form follows function« thematisiert noch war überhaupt ein Funktionsbegriff erkennbar. Allein in dem berühmten Wright-Buch Ausgeführte Bauten und Entwürfe, das 1910 in Berlin erschien, deutete Wright »gewisse Tatsachen der Form mit Bezug auf ihre Funktion«146 an. Der zweite Schub der Sullivan- und Wright-Rezeption folgte ab etwa 1924. Der Chicago-Tribune-Wettbewerb von 1922, an dem eine große Anzahl europäischer Architekten teilnahm und der 1923/24 in europäischen Zeitschriften besprochen wurde, mag einer der Auslöser für das steigende Interesse an amerikanischer Architektur gewesen sein. Um die gleiche Zeit, 1922-23, erschien Sullivans The Autobiography of an Idea. Der Tod Sullivans im April 1924 wurde in den Architekturzeitschriften zunächst nur wenig zur Kenntnis genommen, doch Wrights Nachruf auf Sullivan mag einen Anstoß gegeben haben, sich dem Werk des in seinen letzten Lebensjahren verarmten und in Vergessenheit geratenen Architekten zu erinnern147. Europäische Aufsätze über Sullivan erschienen dann zum Beispiel in Wasmuths Monatsheften 1925/26, über Wright in der Schweizer Zeitschrift Werk 1925 und in einer Serie von sieben Sonderheften der Holländischen Wendigen 1925. Hinzu kamen zwei Ausstellungen zu amerikanischer Baukunst, die erste 1924 in München, die zweite 1926 in Berlin. Während in der Ausstellung Neuer Amerikanischer Baukunst an der Berliner Akademie der Künste Wrights Werk nicht vorkam, stand Sullivans Werk buchstäblich im Zentrum: Ihm war mittig ein eigener Raum gewidmet, wie der Plan im Ausstellungskatalog zeigt. Auch in diesen Veröffentlichungen der 1920er Jahre wurde in erster Linie wieder das praktische Werk hervorgehoben. Wie in den 1910er Jahren wartete »das gedankenreiche Werk Louis Sullivans [...] noch darauf, ein künftiges Geschlecht zu entzünden«148 . Im Katalog der Berliner Ausstellung fand sich die deutsche Übersetzung von Sullivans Artikel Was ist Architektur von 1906, in dem es allerdings

145 Berlage 1912, S. 150. 146 Wright 1986, S. 14. 147 Wright, F.L.: »Louis Sullivan – His Work«, in: Architectural Record 56 (1924), S. 2832. 148 Akademie der Künste zu Berlin 1926, S. 19.

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nicht um die Funktion-Form-Beziehung ging. 1925 lieferte Fiske Kimball erstmalig eine deutsche Übersetzung der wichtigsten Teile von Sullivans The Tall Office Building Artistically Considered, aus der oben zitiert wurde. Sie war Teil eines Aufsatzes mit dem Titel Sieg des jungen Klassizismus über den Funktionalismus der neunziger Jahre. Darin stellte Kimball fest, dass Sullivan und Wright in Europa einen »größeren Einfluß als in ihrer Heimat« hätten, wohingegen sich in den Vereinigten Staaten statt der »Betonung des Funktionellen und Dynamischen« die Rückkehr »zu den klassischen Elementen«149 durchgesetzt hätte. Diese Verbreitung des Klassizismus in Amerika, bei der schließlich auch »die Hochburg des Funktionalismus, der Wolkenkratzer« erobert worden sei, begründete Kimball damit, dass »zu viele von den Impressionisten und Funktionalisten alle Form« verloren hätten150. Kimballs Beschreibung dieses klassizistischen Siegs musste bei den europäischen Avantgarden, von denen im nächsten Kapitel die Rede sein wird, wohl mit Unverständnis aufgenommen worden sein. Ihre Ablehnung historisierender Architektur kam gerade zu voller Entfaltung. Die Zeitschrift ABC empörte sich zum Beispiel 1924 über die amerikanischen Architekten: »Man feiert den Sieg über die Bewegung, die Sullivan und Wright mit so grosser Kraft begonnen haben.«151 Berlage und de Fries fanden sogar die Architektur Wrights gar nicht amerikanisch152. Sullivan und Wright wurden zu den standhaften Vertretern gegen den amerikanischen Klassizismus stilisiert, ja fast europäisiert. Dabei blendete die europäische Avantgarde Sullivans Hingabe zum plastischen Ornament aus und begann stattdessen, »form follows function« für eigene Interessen umzuinterpretieren153. Eine intensive Diskussion über die Beziehung von Form und Funktion fand in den 1925 erschienenen sieben Wright-Sonderheften der holländischen Zeitschrift Wendigen statt, die ein Jahr später auch in Buchform zusammengefasst wurden. Neben Wrights praktischem Werk waren darin dreizehn Artikel veröffentlicht, die meisten von Wright selbst sowie von Sullivan, Wijdeveld, Mumford, Berlage, Oud, Mallet Stevens und Mendelsohn. Oud kritisierte zum Beispiel, dass die europäischen Architekten nur die formale Sprache Wrights imitierten, nicht aber die dahinter liegende Idee, nämlich »mit der Funktion und nicht mit der Form zu beginnen«. Wrights Nachahmer, so stellte Oud fest, seien ein größeres Problem für

149 Kimball 1925, S. 233-4. 150 Ebd., S. 236-7. 151 ABC 1 (1924), H. 1, S. 1. 152 Vgl. Wright et al. 1992, S. 80; de Fries 1926, S. 30. 153 Vgl. Berlage 1912, S. 149: »Sullivan ist nebenbei ein grosser Zierkünstler [...]. Nach moderner Ansicht geht er meines Erachtens darin zu weit«.

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die Entwicklung einer »funktionalen Kunst« als die Architektur der Akademien154. Mendelsohn sprach bereits von einer »funktionellen Mode«155. In einem anderen Artikel, der 1926 in Wasmuths Monatsheften erschien, beschrieb Mendelsohn aber Sullivans Bewunderung gegenüber dem »Organisationsvorbild der Natur«, nämlich »ihre Folgerichtigkeit, die Ordination und Subordination aller ›Organismen‹, das Ineinandergreifen der einzelnen Teile, also das Absolute ihrer Gesetzmäßigkeit, nicht die zufälligen Erscheinungen ihrer ›Organe‹«. Diese Kenntnisse müssen, so Mendelsohn, »zur Erkenntnis der Elemente im Kunstwerk führen«156. Insgesamt trugen diese Veröffentlichungen dazu bei, die Thematik der Funktion-FormBeziehung zu verbreiten, ihre Inhalte zu diskutieren und den Begriff des Funktionalismus vorzubereiten. Parallel zu diesen Veröffentlichungen folgten ab 1925/26 zahlreiche Architekturbücher über Amerika, die zu einer weiteren Verbreitung der Architektur von Sullivan und Wright beitrugen157. Insgesamt lässt sich aus der Lektüre dieser Beispiele der Schluss ziehen, dass zwar die Bauwerke von Sullivan und Wright schon um 1910 breit rezipiert wurden, die Formel von »form follows function« aber erst ab etwa 1925. Wie das nächste Kapitel zeigen wird, fanden sich erste Äußerungen über Funktionen und Formen in den europäischen Avantgarden ungefähr zeitgleich, zum Beispiel Hugo Härings Beitrag zum Friedrichstraßen-Wettbewerb, den er 1922 unter dem Kennwort »Funktionale Form« einreichte, Walter Gropius’ Forderung einer »Gliederung nach Funktionen« im Jahr 1923 und Adolf Behnes Artikel Funktion und Form von 1924. Sullivans und Wrights Funktionsverständnisse mögen dabei aus früheren amerikanischen Quellen bekannt gewesen sein oder aber wirkten nur mehr verstärkend – aber nicht initialisierend – auf den europäischen Architekturdiskurs. Ähnlich verhält es sich mit einer ganzen Reihe anderer Themen, die vergleichbar, aber nicht nachweisbar auf Sullivan und Wright zurückzuführen sind. Zum Beispiel war die Formgenerierung »von selbst« oder »von innen nach außen«158 ein wesentlicher Punkt in deren Schriften, der sich bei den europäischen Avantgarden oft wiederfindet. Wir konnten aber auch schon bei Semper das Interesse an »inne-

154 Wright et al. 1992, S. 86, 89 (engl.). 155 Ebd., S. 99. 156 Mendelsohn 1926, S. 245. 157 Hegemann, Werner: Amerikanische Architektur und Stadtbaukunst, Berlin: Wasmuth 1925; Mendelsohn, Erich: Amerika, Bilderbuch eines Architekten, Berlin: Mosse 1926; Neutra, Richard: Wie baut Amerika?, Stuttgart: Hoffmann 1927; Mendelsohn, Erich: Russland, Europa, Amerika, Berlin: Mosse 1929; Neutra, Richard: Amerika: Die Stilbildung in den Vereinigten Staaten, Wien: Schroll 1930. 158 Z.B. Wright 1966, S. 9.

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ren Gesetzen« deutlich erkennen. Ein ähnliches Beispiel ist Sullivans Kritik an Proportionsregeln. Für ihn sollte Proportion ein Resultat sein, aber nicht am Anfang einer Gestaltung stehen159. Jahrzehnte später stellten Hitchcock und Johnson fest, dass für die Funktionalisten der Klassischen Moderne Proportionen nur ein vergangenes Relikt seien. Und bei vielen modernen Architekten, zum Beispiel bei Ludwig Mies van der Rohe, werden wir die Behauptung finden, dass die Form nur ein Resultat sein, nur am Ende des Entwerfens als Ergebnis stehen könne. Sullivan und Wright hatten eine Abneigung gegenüber Kompositionen, an deren Stelle das Prinzip »form follows function« als inneres Prinzip der Natur und des Lebens treten sollte. Man könne im Vergleich mit der Natur sehen, dass der Mensch immer »Zusammenstellungen erfand«, aber »die Natur immer Organismen hervorbringt«, formulierte Sullivan, und Wright bemerkte, man solle »nicht länger über ›Komposition‹ sprechen«160. Im Vergleich werden wir im nächsten Kapitel auf viele Texte der europäischen Avantgarden treffen, in denen behauptet wird, Komposition sei die Antithese von Funktion. Auch Sullivans Hingabe zum »Leben« werden wir dort wiederfinden. Sullivan bewunderte, wie in der Natur »das Leben seine Formen sucht und findet«, wie »das Wesen der Dinge in der Materie Gestalt« annehme. Er schrieb: »Das was lebendig ist, agiert, organisiert, wächst, entwickelt sich, entfaltet sich, dehnt sich aus, differenziert sich, Organ nach Organ, Struktur nach Struktur, Form nach Form, Funktion nach Funktion.«161

Etwa dreißig Jahre später lesen wir bei Hannes Meyer, ohne dass hier ein direkter Einfluss nachweisbar wäre, eine ähnliche Aneinanderreihung von den reichen Aktivitäten des Lebens: »so ist leben: umändern, umstellen, umstürzen, umarbeiten, umbauen: funktion.«162

159 Zitat nach Morrison 1962, S. 247 (engl.): »[P]roportion is a result, not a cause.« 160 In Paul 1963, S. 143; Wright et al. 1992, S. 57 (engl.). 161 Zitat in Morrison 1962, S. 247 (engl.). 162 Meyer 1928a, S. 16.

Funktionskonzepte der Klassischen Moderne

Ab Mitte der 1920er Jahre nahm der Gebrauch des Worts Funktion drastisch zu. Im folgenden Kapitel wird untersucht, wie und wo dies geschah und welche Ideen sich dahinter verbargen. Dabei soll zunächst von den Schriften eines Vertreters der Zeit ausgegangen werden, um anschließend andere Verständnisse differenzierter dagegenstellen und vergleichen zu können. Hannes Meyer wurde als dieser Vertreter ausgewählt, da man ihn schon 1927 als »Zweckfanatiker und Maschinalisten« anführte, gefolgt von der Diffamierung als »fanatischer Funktionalist (fanatical functionalist)« durch Alfred Hitchcock und Philip Johnson im Ausstellungskatalog The International Style von 19321. Meyer galt auch in der Nachkriegszeit als »›Anti-Kunst‹-Architekt« und zählt bis heute zu den »Erzfunktionalisten«2. Kennt man nur einzelne seiner Sätze außerhalb ihres Kontexts – zum Beispiel »Alle Dinge dieser Welt sind ein Produkt der Formel: (Funktion mal Ökonomie)« – kann man diesen Eindruck auch leicht gewinnen. Aber im Gegensatz dazu gab es auch Theoretiker, die von Meyers Projekten als »›sprechender‹ Architektur« mit »›poetisch‹ überhöhter Form« sprachen, sein Werk als »poetischen Funktionalismus« verstanden, und seine Texte, Photographien, Collagen, Ausstellungskonzepte und Gebäude als künstlerischen Ausdruck der modernen 1920er Jahre interpretierten 3.

H ANNES M EYER Hannes Meyer (1889-1954), der sich in seiner frühen Laufbahn mit Gartenstadttheorien und Arbeiter- und Genossenschaftssiedlungen beschäftigte, schloss sich um 1924 an die Avantgarde an. Er wurde im April 1927 zum Bauhausmeister für die Architekturlehre berufen, trat ein Jahr später Walter Gropius’ Nachfolge als

1

Peter Meyer 1927, S. 105; Hitchcock/Johnson 1932, S. 14 (engl.).

2

Sharp 1973, S. 60; Hain 1998, S. 20. Vgl. Wingler 1974, S. 53.

3

Winfried Nerdinger in Bauhaus-Archiv (Hg.) 1989, S. 18-21.

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zweiter Bauhausdirektor an und besetzte diese wichtige Position bis zu seiner Entlassung im Jahr 1930. Genau in diesem Zeitraum von etwa 1924 bis 1930 wurde er für die Entwicklung des »Funktionalismus« der Klassischen Moderne bedeutsam. In seinem Artikel Junge Kunst in Belgien, der 1925 in der Zeitschrift Das Werk erschien, gebrauchte er erstmalig das Wortpaar Funktion und Form: »Das Automobil ›Minerva‹. Das Motorvelo ›F.N.‹. Der Phonograph ›Chantal‹. Es ist sinnlos, deren äusserliche Form ästhetischer Betrachtung zu unterwerfen. Sie sind ›schön‹, weil sie vollkommenstes Ergebnis ihrer Funktionen sind. Sie zeugen, ungeziert und unverziert, für einer neuen Zeit neue Art.«4

Meyer begann hier einen Schreibstil zu entwickeln, der in kurzen Sätzen technische Geräte mit Ästhetik konfrontierte. In seinem Artikel Die Neue Welt, der im folgenden Jahr in der gleichen Zeitschrift erschien, führte er diesen Stil fort: »Muster-Messe, Getreide-Silo, Music-Hall, Flug-Platz, Bureau-Stuhl, Standard-Ware. Alle diese Dinge sind ein Produkt der Formel: Funktion mal Oekonomie. Sie sind keine Kunstwerke. Kunst ist Komposition, Zweck ist Funktion. Die Idee der Komposition eines Seehafens erscheint uns unsinnig, jedoch die Komposition eines Stadtplanes, eines Wohnhauses ...?? Bauen ist ein technischer, kein ästhetischer Prozess, und der zweckmässigen Funktion eines Hauses widerspricht je und je die künstlerische Komposition.«5

Die zitierten Sätze erscheinen als Absage von Architektur als Kunst. Kunst wird definiert als Komposition, Zweck als Funktion, und diese Wortpaare sind als Gegensatz dargestellt. Inwieweit Komposition ein Synonym für Kunst, und Funktion ein Synonym für Zweck ist, ist aber nicht eindeutig zu bestimmen, denn die Wortpaare sind am Ende verschmolzen zur »zweckmäßigen Funktion« und »künstlerischen Komposition« und wären dann Tautologien, also künstlerischer Ausdruck. Vergleicht man die Texte, die Meyer während seiner gesamten Schaffenszeit schrieb, muss man feststellen, dass die Aussage »Zweck ist Funktion« ausschließlich in diesem Artikel zu finden ist. In keinem seiner Aufsätze nach Die Neue Welt setzte Meyer Funktion und Zweck einander gleich oder erklärte Zweck durch Funktion. Stattdessen formulierte Meyer diese Sätze in seinem Aufsatz bauen, veröffentlicht 1928 in der Bauhauszeitschrift, noch einmal um. Zwischen

4

Meyer 1925b, S. 305.

5

Meyer 1926a, S. 222. Schnaidt bemerkte über die Die Neue Welt: »Dieses meisterhafte Loblied auf den Modernismus, gleichzeitig Manifest des ›neuen Bauens‹, überrascht durch seine seltsame Mischung aus Lyrik und Nüchternheit, Schematismus und Realismus, Illusion und Scharfblick.« (Schnaidt 1965, S. 20)

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beiden Texten stand Meyers Berufung an das Bauhaus. Sein Stil war nun noch pamphletartiger geworden und der Inhalt war auf den Punkt gebracht: »alle dinge dieser welt sind ein produkt der formel: (funktion mal ökonomie) alle diese dinge sind daher keine kunstwerke: alle kunst ist komposition und mithin zweckwidrig. alles leben ist funktion und daher unkünstlerisch. die idee der ›komposition eines seehafens‹ scheint zwerchfellerschütternd! jedoch wie ersteht der entwurf eines stadtplanes? oder eines wohnplanes? komposition oder funktion? kunst oder leben ? ? ? ? ?«6

Meyer hatte hier »Zweck ist Funktion« durch »Leben ist Funktion« ersetzt, während er »Kunst ist Komposition« beibehielt. Die Gegensatzpaare Kunst– Komposition und Leben–Funktion kann man als eine Art Dreisatz lesen, der in den letzten beiden Zeilen des Zitats sehr anschaulich wird: »komposition oder funktion? kunst oder leben?«. Aus diesem Dreisatz folgt also nicht nur, dass Kunst sich zu Komposition verhält wie Leben zu Funktion, sondern auch, dass Kunst sich zu Leben verhält wie Komposition zu Funktion [Abb. 15]. Gerade diese zweite Lesart ist aufschlussreich für die weitere Interpretation. Der Leser findet hier die Bestimmung von Kunst als Gegensatz zum praktischen, zweckbestimmten Leben wieder, die ja schon ein gängiges Motiv des achtzehnten Jahrhunderts war. Gleichzeitig muss er sich die Frage stellen, wie die Bestimmung von Komposition als Gegensatz von Funktion zu verstehen ist. Generell kann man Komposition als Zusammenstellung einer künstlerischen Einheit beschreiben. Komposition erfordert Elemente, die komponiert, also in Relation zueinander gestellt werden können. Wie bisher gesehen konnte man, zumindest in den vorangegangenen Jahrhunderten, auch Funktion als Zusammenstellung von

Abbildung 15: Hannes Meyer präzisierte zwischen 1926 und 1928 sein Verständnis von Funktion, zuerst im Sinn von Zweck, später als Leben. Komposition

Kunst

Kunst

1926 Zweck

6

Meyer 1928c, S. 12.

Komposition 1928

Funktion

Leben

Funktion

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Einheiten verstehen. Auch Funktion erforderte Elemente, die in Relation zueinander gestellt waren. Auf diese Weise waren Komposition und Funktion also miteinander vergleichbar: Komposition als Gestaltungsakt der Kunst, Funktion als Gestaltungsakt des Lebens. Demnach erklärte Meyer zwar nicht direkt, was er unter Funktion verstand, aber er konnte voraussetzen, dass der Leser wusste, was eine Komposition war, und die Kontrastierung von Komposition und Funktion ermöglichte ihm, sein Verständnis von Funktion wiederzugeben. Man kann diese Interpretation mit weiteren Bemerkungen Meyers stützen. Für Meyer war Komposition ein subjektiver und diffuser Gestaltungsakt der »gefühlten Nachahmung« mit »Stimmung, Valeur, Grat und Schmelz«. Kompositionen waren »Affektleistung« und solche »individualistischen Ausschreitungen« mussten bekämpft werden7. Im Gegensatz dazu war Funktion für Meyer zuerst ein »technischer Prozess« und später ein »biologischer Vorgang« der Zusammenstellung der Bauelemente nach nachvollziehbaren Gesetzmäßigkeiten, »dem Zweck und ökonomischen Grundsätzen entsprechend«8. Dabei waren Zweck und Ökonomie keine von außen an ein Werk herangetragenen Anforderungen, sondern wie bei einer Maschine oder einem Lebewesen ging es um die innere Ökonomie der Teile und eine innere Zweckmäßigkeit. Funktion meinte also eine Art objektimmanenten, und Komposition einen von außen, dem Objekt aufgedrückten Gestaltungsprozess. Und natürlich konnte auch das Endprodukt des Funktionsakts nun nicht mehr Komposition oder Kunstwerk heißen. Teile wurden nun zur »konstruktiven Einheit« oder »reinen Konstruktion«9 zusammengestellt. Man kann nun Meyers Verständnis von Funktion wieder mit den drei Aspekten des Funktionsbegriffs vergleichen. Zunächst steht außer Frage, dass Meyer in den dargestellten Texten Funktion auf Teile und Ganzheiten bezog. Dies ergibt sich aus seiner Gegenüberstellung von Komposition und Funktion und der Zusammenstellung zur »konstruktiven Einheit« als Bezeichnung der neuen Ganzheit. Das dritte Charakteristikum, die Vorstellung einer Aktion, scheint von Meyer zunächst nicht so explizit hervorgehoben worden zu sein, man kann es zwar in der Betonung des Lebens durchaus herauslesen, doch sollte man noch nach weiteren Anhaltspunkten suchen. Hier hilft der Vergleich mit Komposition wieder weiter. Auch Komposition betrifft ja erstens das Ganze (was wird komponiert), zweitens die Teile (mit was wird komponiert), drittens die Teile-Ganzes-Relation, das heißt die Kompositionsgesetze (wie wird komponiert) und dazu noch viertens den Künstler (wer komponiert). Für Meyer lagen die Unterschiede zur Funktion wohl im dritten und vierten Aspekt. Es war zwar der Künstler, der komponierte, aber es war das Werk selbst, das funktionierte. Die gestaltbildende Aktion sollte also vom äußeren

7

Meyer 1926a, S. 222-4.

8

Ebd., S. 222; Meyer 1928c, S. 12.

9

Meyer 1926a, S. 222.

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Künstler in das Innere des Werks übergehen. Für Meyer folgte die Art der Anordnung (wie funktioniert es) inneren Gesetzmäßigkeiten, sodass der Künstler entfiel. Zweifelsohne musste es aber ein Äquivalent zum Künstler geben, der die Funktionen, die einem Werk inhärent waren, mittels »Denkschärfe und Erfindungskraft«10 hervorbrachte. Diese Qualitäten besaß nur der »erfinder« oder der »spezialist der organisation«11. Für Meyer stand Organisation für die Tätigkeit des Entwerfens oder den Akt des Hervorbringens von Architektur. Organisation war also Gestaltungsakt, Funktion inneres Gestaltungsprinzip. Organisation war bei Meyer synonym für Gestaltung, denn er bezeichnete das »bauen« einerseits als »die überlegte organisation von lebensvorgängen« und andererseits als »gestaltung von lebensvorgängen«12. Organisiert wurde in Meyers Texten so gut wie alles. Baustoffe oder Bauelemente »organisieren wir nach ökonomischen grundsätzen zu einer konstruktiven einheit«; die neue Siedlung sollte »ein bewußt organisiertes gemeinkräftiges werk« werden; die Architekten hatten ihre »geistigen und seelischen kräfte« zu organisieren und »in jeglicher lebensrichtigen gestaltung eine organisationsform des daseins« zu erkennen13. Vom Kleinen (dem Bauelement) bis zum Großen (dem Dasein) ahnte man bei Meyer eine durchgängige, allumfassende Lebensphilosophie: »bauen ist nur organisation: soziale, technische, ökonomische, psychische organisation.«14 Auch wenn diese Aussagen sehr technisch anmuten, muss man noch einmal festhalten, dass Meyer nur zu Beginn seiner Laufbahn von einer Zweck-FunktionÄquivalenz sprach, die er aber nicht weiterverfolgte. Die Interpretation von Leben und ihre Verknüpfung mit der Architektur wurde sein zentrales Thema. Zwischen 1926 und 1928 trat das Biologische an die Stelle des Technischen – in ähnlicher Weise, wie das Leben an die Stelle des Zwecks trat. Aus dem Satz »Bauen ist ein technischer, kein ästhetischer Prozess« von 1926 wurde zwei Jahre später »bauen ist ein biologischer vorgang. bauen ist kein aesthetischer prozeß«15. Auch in anderen Schriften erkannte man Meyers Abwendung von Funktion als technischen Begriff und vom Haus als technische Maschine hin zur gesellschaftlichbiologischen Definition »Leben ist Funktion«. Nachdem Meyer diese Verbindung zwischen Leben und Funktion gefunden hatte, hielt er sein ganzes Leben lang daran fest. Man findet sie zum Beispiel 1929 in dem Artikel bauhaus und gesellschaft:

10 Ebd., S. 223. 11 Meyer 1928c, S. 13. 12 Ebd., S. 13; Brandenburgisches Landesamt für Denkmalpflege 1993, S. 46. 13 Meyer 1928c, S. 12; ebd., S. 13; Meyer 1929, S. 2. 14 Meyer 1928c, S. 13. 15 Vgl. Meyer 1926a, S. 222; Meyer 1928c, S. 12.

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»wir suchen keine geometrischen oder stereometrischen gebilde, lebensfremd und funktionsfeindlich.« Der Begriff des Lebens war in diesem in Versform verfassten Text zentral. Es häuften sich darin Bemerkungen über »lebensbedürfnisse«, »lebensgestaltung«, »lebensgemeinschaft«, »lebensaufbau« und »lebensraum«. Dementsprechend definierte Meyer die Bauhauslehre als »systematik des lebensaufbaues, und sie klärt gleicherweise die belange des physischen, psychischen, materiellen, ökonomischen«16. Funktion bezeichnete Art und Weise, wie Leben vonstattenging. Funktion war damit für Meyer ein Gestaltungsvorgang, der sich aus dem Leben selbst ergab und dieses erkärte: »so ist leben: umändern, umstellen, umstürzen, umarbeiten, umbauen: funktion. so ist leben: werkzeugbau, materialtransport, arbeitstechnik: funktion.«17

Um nun einen Schritt weiter zu gehen, kann man die Frage stellen, ob es für Meyer analog zu den Kompositionsgesetzen – also beispielsweise Symmetrie, Proportion, Rhythmus – auch Funktionsgesetze gab. Schon in Die Neue Welt zählte Meyer Kriterien auf, die als solche gelesen werden konnten: »Wärmehaltung, Besonnung, natürliche und künstliche Beleuchtung, Hygiene, Wetterschutz, Autowartung, Kochbetrieb, Radiodienst, grösstmögliche Entlastung der Hausfrau, Geschlechts- und Familienleben etc. sind die wegleitenden Kraftlinien. Das Haus ist deren Komponente.«18

Im Aufsatz bauen folgte eine ähnliche Aufzählung, die Meyer dann noch erweiterte und die ungefähr ein Drittel des Textes einnahm. Die Nummerierung, die gegenüber dem früheren Text neu hinzukam, gab einen wissenschaftlichen Anschein: »1. geschlechtsleben

4. gartenkultur

7. wohnhygiene

10. erwärmung

2. schlafgewohnheit

5. körperpflege

8. autowartung

11. besonnung

3. kleintierhaltung

6. wetterschutz

9. kochbetrieb

12. bedienung

solche forderungen sind die ausschließlichen motive des wohnungsbaues. wir untersuchen den ablauf des tageslebens jedes hausbewohners, und dieses ergibt das funktionsdiagramm für vater, mutter, kind, kleinkind und mitmenschen. wir erforschen die beziehungen des hauses und seiner insassen zum fremden [...] wir erforschen die menschlichen und die

16 Meyer 1929, S. 2. 17 Meyer 1928a, S. 16. 18 Meyer 1926a, S. 222.

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tierischen beziehungen zum garten, und die wechselwirkungen zwischen menschen, haustieren und hausinsekten.«19

Der Unterschied zwischen diesen beiden, zwei Jahre auseinanderliegenden, aber inhaltlich ähnlichen Aufzählungen war, dass Meyer die erste als »technisch« beschrieb, die zweite als »biologisch«. Es hatten sich dabei aber nicht die Inhalte, sondern die Sichtweise auf sie geändert. Wenn man diese Aspekte gründlich untersuchte, ergab sich daraus 1926 eine gut gestaltete »Wohnmaschinerie«, zwei Jahre später aber »ein biologischer apparat für seelische und körperliche bedürfnisse«20. Der Komplexität des Lebens angemessen, mussten die Aufzählungen so umfangreich wie möglich sein und umfassten zum Beispiel Handlungen des Einzelnen (Geschlechtsleben, Schlafgewohnheit), der Gesellschaft (Bedienung, Haustiere, Autowartung), Bedingungen der Natur (Jahresschwankungen der Bodentemperatur, Sonneneinfallswinkel) und technische Kriterien des Hauses (Wärmeverlust der Fußböden). Meyer versammelte die unterschiedlichsten Aspekte, die das Leben und die baulichen Gestalten beeinflussten: soziologische, psychologische, biologische, technische. Er suchte die größtmögliche Totalität, das umfassende Ganze, das sich jedoch nur in den vielen Teilen, Prozessen und Beziehungen zeigte. Er versuchte am Bauhaus, diese Komplexität in seinem Lehrplan zu vermitteln, sichtbar in den Bemühungen, neben Gestaltung, Statik oder Baukonstruktion auch Gastkurse und Vorträge zu Psychologie, Soziologie und anderen Disziplinen anzubieten21. Er versuchte auch, seine eigenen Entwürfe und Projektbeschreibungen stets im Sinne von Funktion als Ersatz von Komposition darzustellen. Das Studium der »wegleitenden Kraftlinien« sollte die Grundlage des Entwerfens bilden. Durch Analyse einer Bauaufgabe sollten Teilaspekte herausgefiltert und diese jeweils untersucht werden. Diagramme konnten wichtige Teilaspekte verbildlichen und so fertigte Meyer Diagramme zum Verkehrsfluss und zur Schallausbreitung für das Genfer Völkerbundprojekt 1926/27 an sowie Diagramme zur Belichtung der Klassenräume in den Projekten der Petersschule in Basel 1926 und der Bernauer Schule für den Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund 1930/31. So weit waren diese Analysen und Diagramme aber nur Optimierungen einzelner Teile und ergaben noch keine Ganzheiten. Fenster sollten beispielsweise nicht nach Symmetrie, sondern nach guter Besonnung angeordnet werden, ein Aspekt,

19 Meyer 1928c, S. 12. 20 Meyer 1926a, S. 222; Meyer 1928c, S. 12. 21 Vgl. Winkler 1989, S. 82: »Das Spektrum der wissenschaftlichen Disziplinen, in dem sich der Architekt analysierend bewegt, ist außerordentlich breit. Soziologische, geologische, biologische, bauhygienische, psychologische, physikalische und andere Untersuchungen werden aufgeführt.«

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den Meyer immer wieder anführte. Wie aber konnte aus Optimierungen einzelner Komponenten eine »konstruktive Einheit« entstehen? Meyer behauptete, diese könne durch »das funktionelle diagramm und das ökonomische programm« erreicht werden, die »die ausschlaggebenden richtlinien des bauvorhabens« seien und aus denen sich »die einzelform, der gebäudekörper, die materialfarbe und die oberflächenstruktur« ganz von selbst ergäben. Das Funktionsdiagramm markierte also die Schwelle zwischen Analyse und Synthese und spielte eine herausragende Rolle für die »funktionell-biologische auffassung des bauens«22. Es ist aber nicht ganz klar, wie mit diesen Diagrammen die komplex zueinander stehenden »funktionellen Erwägungen« oder »Lebensvorgänge« geordnet, hierarchisiert, zueinander ins Verhältnis gebracht und »organisiert« werden, denn ein Diagramm kann nicht gleichzeitig alle Forderungen berücksichtigen. Diagramme waren zwar das am häufigsten proklamierte Mittel des Entwurfs, Meyer schien sich jedoch nicht vollständig darauf verlassen zu wollen, dass daraus auch Ganzheiten entstehen. Denn betrachtet man seine Beschreibungen zu seinen Entwürfen und Projekten, stellt man fest, dass er für viele dieser Projekte ein Leitprinzip oder eine übergeordnete Organisationsidee entwickelte. Er stellte dieses Leitprinzip jeweils so dar, als würde es aus der Projektaufgabe selbst kommen. Keinesfalls durfte der Eindruck entstehen, dieses Leitprinzip käme aus persönlichem Gestaltungswillen – denn das wäre ja Komposition –, sondern es musste als innewohnender Zweck und ökonomischer Grundsatz begründet werden können. Sehen wir uns beispielhaft einige von Meyers Beschreibungen seiner Projekte an, um zu verstehen, was solche innewohnenden Ideen, innere Lebensprinzipien oder bauliche Ordnungsprinzipien waren. Als innewohnende Aufgabe der Gewerkschaftsschule in Bernau nannte Meyer die Bereitstellung von Räumen für die Erholung der Werktätigen und für Gelegenheiten »zum freundschaftlichen sichergehen, zur schöpferischen pause«. Das daraus gefundene Gestaltungsprinzip hieß sowohl für die Teile als auch für das Ganze »lockerung der bauteile« und »lockerung einer schule im walde«23. Man kann dieses Gestaltungsprinzip sehr deutlich in der ausgedehnten Schulanlage nachempfinden [Abb. 16]. Auch Zeitgenossen haben die Schule in dieser Weise gelesen. Für Adolf Behne war sie »die vollkommenste räumliche verwirklichung des pädagogischen programms«24. 1931 führte er aus: »Am besten in den Flugzeugaufnahmen erkennen wir die in allen Gelenken locker spielende, flüssige Beweglichkeit dieses Hauses, das ohne Panzer jede Bewegung des Bodens und jede Bewegung des Sinnes mitmacht. Die Diktatur

22 Meyer 1928c, S. 12-3. 23 Meyer 1928b, S. 14. 24 Behne 1928, S. 12.

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der Form ist abgebaut, das Leben ist siegreich und sucht sich seine Gestalt.«25 Ebenso bemerkte Steen Eiler Rasmussen 1932, für Meyer »war die Schule in erster Linie nicht ein Körper, sondern ein Kleinstaat. Die eigentliche, kompositionelle Aufgabe ist die Gliederung dieser Gesellschaft«. Rasmussen begann seinen Aufsatz mit den Worten: »Mit Zögern schreibe ich über Hannes Meyer’s Arbeiterschule in Bernau, in der Furcht, daß es mir nicht gelingen wird, dem Leser genügend klarzumachen, wie wichtig dieser Bau für unsere heutige Architektur ist.«26 Aus diesen Sätzen mag deutlich werden, warum die Gewerkschaftsschule bis heute als Meyers Meisterwerk gilt. Aber man kann die Suche nach einem übergeordneten, »inne-

Abbildung 16: ADGB-Schule in Bernau, Hannes Meyer (mit Hans Wittwer und Bauabteilung Bauhaus Dessau) 1928/29. »diese schule darf mit recht gelockert erscheinen. [...] diese gewerkschaftsschule darf weitspurig sein, damit eine aufbauende geselligkeit sich bildet. das resultat: [...] exzentrische lockerung der bauteile. [...] diese bundesschule ist ausschließlich und folgerichtig aus der anschauung der unter sich verbundenen 12 arbeitskreise entwickelt [...]. die vertiefung in den lebenszweck der bundesschule ergibt deren bauliche elemente (schuleinheit, wohneinheit, tischeinheit usw.). die anordnung dieser bauelemente auf dem baugelände und deren beziehung untereinander wird folgerichtig durch die organisation des schul- und gemeinschaftslebens mit bedingt: die lockere lagerung der gebäude-elemente um den see entspricht wesensklar der als gestaltungsprinzip angedeuteten ›lockerung‹ einer ›schule im walde‹.« [Meyer 1928b, S. 14]

25 Behne 1931, S. 213. 26 Rasmussen 1932, S. 18, 15.

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wohnenden Prinzip«, das der Organisation der Teile zu einem identitätsvollen Ganzen diente, in allen Projekten Meyers finden, zum Beispiel in der Siedlung Freidorf [Abb. 17] und dem Projekt des Völkerbundpalasts [Abb. 18]. Parallel zur Aufsplitterung einer Aufgabe in Einzelanforderungen lieferte Meyer also in seinen Projekten eine Interpretation des Gefüges, des Zusammengehörens der Teile. Für Freidorf hieß die Interpretation des Gefüges »Gleichheit und Unterordnung unter die Gemeinschaft«, für das Völkerbundprojekt »Zweckverband« und für die Gewerkschaftsschule »Lockerung im Walde«. Diese Beschreibung des Gefüges konnte man als Gegenkonzept zu Komposition werten, wenn man sich vergegenwärtigte, was Meyer unter Komposition verstand, nämlich die alleinige Anwendung formaler Prinzipien ohne Rückkoppelung auf die Aufgabe selbst. Derart, wie man sich zum Beispiel Symmetrie der Bauteile zueinander (als Kompo-

Abbildung 17: Siedlung Freidorf in Basel, Hannes Meyer 1919/20. »Co-op heisst Cooperation. Cooperation heisst Genossenschaft. [...] und so ist diese Siedelung ein Stein und Raum gewordenes Prinzip, allseitig und allerorts unendlich angewendet, mathematische Formel, etwa (COOP)3~. [...] so ist Freidorfs Bauanlage nur Offenbarung seines innern Geistes und Verkörperung dieses Versuches einer Lebensgemeinschaft von 150 Familien im bienenwabenähnlichen Zellenbau einer Siedelung. Derart entspricht strenger Satzung innern Aufbaues straffe Gliederung des Aeussern, Einhelligkeit der Siedler die Einheitsform der Häuser, die Gleichartigkeit und Gleichfarbigkeit der Hausblöcke und der Gleichklang der Hausteile. Denn die Stützen der Gemeinschaft wurden zu Säulen des Bauwerkes: Einfachheit, Gleichheit, Wahrhaftigkeit. [...] Und allen Bauwerkes Gruppenbilder sind nur bauliche Variationen über ein genossenschaftliches Thema.« [Meyer 1925a, S. 42, 49]

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sitionsgesetz) vorstellen kann, kann man sich auch Lockerung der Bauteile zueinander vorstellen. Die Behauptung, dass nur letzteres Gestaltungsprinzip sich aus der Interpretation der Aufgabe begründen ließe, ist allerdings kühn. In einem weiteren Schritt kann man nun fragen, welche Einflüsse auf Meyer gewirkt haben. Wie anfangs gesagt, verwendete er das Wort Funktion nicht vor 1925, also erst seit seiner Beschäftigung mit verschiedenen Avantgardegruppen. So war er aktives Mitglied der Schweizer Architektengruppe ABC und schrieb Artikel für die Zeitschrift gleichen Namens. Er beschäftigte sich mit den Bauhausbüchern, die er 1926 für die Zeitschrift Das Werk rezensierte. Er kannte auch Behnes Der moderne Zweckbau von 1926, eines der frühesten Beispiele der Verwendung des Begriffs Funktionalismus überhaupt. Zwischen den Autoren, den Büchern und den Zeitschriften gab es zahlreiche Wechselbeziehungen, zum Beispiel warb man für-

Abbildung 18: Völkerbundpalast in Genf, Hannes Meyer und Hans Wittwer 1927. »der völkerbund [...] erstrebt als neue form der völkergemeinschaft den zwischenstaatlichen zweckverband. [...] so kann er seine neuartige gesellschaftseinrichtung nicht in ein gehäuse baulicher überlieferung quetschen. keine säulengespickten empfangsräume für müde souveräne, sondern hygienische arbeitsräume für tätige volks-vertreter. keine winkelgänge für die winkelzüge der diplomaten, sondern offene glasräume für die öffentlichen unterhandlungen [...] selbst die lage der gebäulichkeiten im gelände wird nur niederschlag der verkehrsdiagramme, belichtungsdiagramme, besonnungsdiagramme. [...] als bauorganismus zeigt es unverfälscht den ausdruck seiner bestimmung eines gebäudes der arbeit und der zusammenarbeit.« [Meyer 1927, S. 6]

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einander und druckte dieselben Artikel in verschiedenen Zeitschriften ab. Diese Einflüsse und ihre Funktionsverständnisse werden im Folgenden untersucht.

ABC Die Schweizer Avantgardegruppe ABC gründete sich 1924 und verband die Schweizer Architekten Hans Schmidt, Emil Roth, Paul Artaria, Hans Wittwer, Hannes Meyer, Werner Moser, Max Ernst Haefeli, Rudolf Steiger, Karl Egender sowie den Holländer Mart Stam und den Russen El Lissitzky. In einem Brief an Gropius vom Februar 1927, in dem sich Meyer für eine Anstellung am Bauhaus empfahl, bekannte er, die Ausrichtung seiner Lehre werde »absolut eine funktionell-kollektivistisch-konstruktive sein im sinne von ›abc‹ und von ›die neue welt‹«27. Es wird daher nicht verwundern, wenn Gebrauch und Bedeutung des Funktionsbegriffs bei ABC und Meyer, der sich 1927 auch als »abc-mensch«28 bezeichnete, deutliche Ähnlichkeiten aufweisen. 1924-28 gab die Gruppe ihre Zeitschrift ABC-Beiträge zum Bauen heraus, die insgesamt neunmal erschien. Ein Heft des Jahrgangs 1926 entstand unter der Redaktion Hannes Meyers und behandelte ausschließlich zeitgenössische bildende Kunst (Malerei und Skulptur). In den vierziger Jahren, als Meyer schon lange zum Antiästheten abgestempelt war, bemerkte er zu diesem Heft, dass »ich meinen Namen als Herausgeber zeichnete, weil die damaligen Antikunst-Superfunktionalisten Stam, Schmidt etc. sich offiziell distanzieren«29 wollten. Ein Artikel aus dem ersten ABC-Heft von 1926 mit dem Titel Komposition ist Starrheit – Lebensfähig ist das Fortschreitende diskutierte die Begriffe Kunst, Komposition, Ökonomie, Funktion und Leben und wies eklatante Ähnlichkeiten in Inhalt und Stil mit Meyers Junge Kunst in Belgien und Die neue Welt auf. Schon der Beginn, die Aufzählung technischer Errungenschaften und die Verkettung mit ästhetischen Fragen zeigt dies: »Der Rennwagen, die Lokomotive, das Motorboot und mit ihnen alle Dinge, die strenge Anforderungen zu erfüllen haben, weisen uns, weil sie dem formal-ästhetischen Streben einer falsch erzogenen Künstlerschaft entgangen sind, bereits den Weg, der zur Deutlichkeit und Klarheit führt. Diese Klarheit ist keine Komposition«30 .

27 Zitat in Meyer 1980, S. 44. 28 Zitat in Bauhaus-Archiv 1989, S. 167. 29 Zitat in Winkler 1989, S. 59. 30 ABC 1926, H. 1, S. 1.

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Wie schon im Titel des Artikels wurde in diesem Zitat die gleiche Absage an Kompositionen formuliert, die wir schon bei Meyer gesehen haben. Komposition sei ein »bewusstes oder unbewusstes Ordnen von Elementen nach Gesetzen, die neben den Gesetzen der Aufgabe selbst regieren. Komposition ist Schönmacherei«, so konnte man weiter im Artikel lesen. Dabei wurde gleichzeitig deren Gegensatz aufgebaut, der in Fettdruck zu lesen war: »Komposition, Komposition von Kuben, von Farben, von Materialien bleibt ein Hülfsmittel und eine Schwäche. Wichtig sind die Funktionen, und diese werden die Form bestimmen.« Meyers Behauptung, alle Dinge unterlägen dem Prinzip von »Funktion mal Ökonomie« war vergleichbar mit der hier vorgebrachten Feststellung, dass »nicht allein das gute Funktionieren und die Dauerhaftigkeit, sondern vor allem auch die ökonomische Verwendung des Materials«31 zur Form führten. Auf ABCs Kritik an der Komposition als ein Ordnen von Elementen nach äußeren formalen Gesetzen folgten in diesem Heft aber nur wenige Hinweise, wie stattdessen zu ordnen sei, die zudem im Vergleich zu Meyers Erläuterungen unschärfer blieben. Die alternative Formfindung wurde zwar mit Funktion umschrieben, doch bezeichnete dies nicht sehr viel mehr als die vage Aufforderung, statt einer äußeren formal-ästhetischen Herangehensweise mit einer tiefgreifenden Analyse der Erfordernisse der spezifischen Aufgabe zu beginnen. Die Kritik am Begriff der Komposition innerhalb der 1920er Jahre war vielschichtig. Das Verneinen der Komposition folgte dabei schon einer längeren Tradition, die sich zum Beispiel bis zur Berufung El Lissitzkys zum Leiter der russischen Architekturfakultät der Höheren Technischen Werkstätten WChUTEMAS 1921 und seine Teilnahme an der am Institut für künstlerische Kultur INChUK geführten Debatte »Komposition-Konstruktion« zurückführen ließ. Funktion war aber nicht nur ein Gegenbegriff zu Komposition, sondern wurde von ABC insbesondere für eine Maschinenideologie vereinnahmt. In fast allen ABC-Heften ging es um die Maschine. Das Gedicht Warum sind unsere Maschinen schön? ist ein Beispiel für die Verknüpfung von Funktion und Maschine, das zeigt, dass dabei seltener von Funktion als vom Funktionieren gesprochen wurde: »Warum SIND UNSERE MASCHINEN SCHÖN ? WEIL SIE

Arbeiten Sich bewegen Funktionieren

FABRIK SILO LOKOMOTIVE LASTWAGEN FLUGZEUG

31 Ebd.

134 | F UNKTIONEN UND F ORMEN Warum SIND UNSERE HÄUSER NICHT SCHÖN ? WEIL SIE

Nichts tun Herumstehen Representieren

VILLA SCHULPALAST GEISTESTEMPEL BANKPALAST EISENBAHNTEMPEL«32

Die Betonung des Funktionierens – hier als Gegenteil des Repräsentierens proklamiert – ist ein wesentlicher Punkt, der auch in anderen Schriften der Zeit immer wieder dann deutlich wird, wenn es um den Maschinenzusammenhang ging. Mit Funktionieren assoziierte man den reibungslosen Ablauf eines Systems. Die Begeisterung über die Perfektion war wichtiger als der tatsächliche, schlussendliche Zweck. Die Maschinenanalogie kam auf verschiedene Weisen zum Ausdruck. Selten war man der Überzeugung, das Haus sei tatsächlich eine Maschine. Dagegen war die formale Übernahme technisch-maschinell anmutender Elemente wie zum Beispiel Antennen, die selten mit dem Funktionieren zu tun hatten, die häufigste Form der Aneignung. Als dritte, seriöseste Variante diente die Maschinenanalogie als Vorbild für den Gestaltungsprozess. Man versuchte, sich die Technik zum Vorbild zu nehmen, da diese »die Zweiheit von Form und Aufgabe endgültig überwunden«33 hätte. Maschinen bestanden – wie komplexe Bauaufgaben – aus Teilen und Teilfunktionen, die zueinander und zum Ganzen zusammenwirkten in der Art, dass sie einen übergeordneten Zweck erfüllen konnten. Die Kenntnis ihrer Funktionsweise, ihr Funktionsprinzip war für den Nutzer nicht unbedingt erforderlich, ihn interessierte ja in erster Linie ihr Zweck. Für den Erfinder – analog zum Entwerfer – war aber die Funktionsweise, das (Gestaltungs-)Prinzip der Maschine wesentlich. Wesentlich war, dass eine Maschine erst einmal in und für sich eine funktionierende Einheit bildete, und erst im zweiten Schritt konnte sie deshalb einen Zweck erfüllen. Das hieß, der Erfinder kümmerte sich erst einmal um die innere Funktionsweise, um dann zweitens einen finalen Zweck damit zu erreichen. In diesem Punkt wird deutlich, warum Maschine und Technik als Vorbild zur vermeintlich notwendigen Überwindung von Komposition dienen konnte. Das Fürsich-selbst-Funktionieren und die Komposition waren beide zu einem gewissen Grad unabhängig vom gesetzten Gesamtzweck und führten beide zu einer in sich geschlossenen Einheit eines Gegenstands.

32 ABC 1925, H. 3/4, S. 8. 33 ABC 1926, H. 1, S. 8.

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Auch wenn die Maschinenideologie für die Gruppe ABC zentral war, bestand auch bei ihnen das Konzept des Organischen weiter. Maschine und Organismus waren zwei nebeneinanderstehende Bilder, die ständig herangezogen wurden. Beide Bilder mischten sich auch. Für ABC war zum Beispiel der Entwurf einer Stadt »wie die Anlage eines Hafens, eines Wasserkraftwerkes, als Aufgabe ein organisches Ganzes«34. Wir hatten diese Vermischung schon bei Meyer gesehen, als er ein Wohnhaus sowohl als »wohnmaschinerie« als auch als »biologischen apparat« bezeichnete. Dies hatte in ähnlicher Weise schon Gropius vor ihm getan, als er in einem Atemzug 1923 von »Wohnorganismen« und »Wohnmaschinen«35 schreiben konnte. Der Funktionsbegriff war fundamental in beiden Bildern, sowohl im neuen Konzept der Maschine wie im alten Konzept des Organismus. In beiden Bereichen wurden Dinge als aus Teilen bestehend verstanden, die jeweils Funktionen hatten, die aufeinander und zu einem größeren Ganzen zusammenwirkten, und die wiederum in einem noch größeren Ganzen, ihrem Umfeld, standen. Dabei wurde das »größere Ganze« immer wichtiger. So forderte zum Beispiel Emil Roth in Bezug auf die Stadtentwicklung am Zürichsee die Architekten auf, »dass man im Denken, Planen und Arbeiten ein grösseres Ganzes im Auge behalte«36. Mart Stam erweiterte das »größere Ganze« noch weiter: »Der Künstler [...] hat den grossen organischen Zusammenhang zu begreifen, der alle Dinge aus ihrem Zustand als Einzelobjekt erlöst und sie in jene Gesamtheit von Gesetzen ein- und unterordnet, die das Weltall beherrscht.«37 Vom einzelnen Organismus ausgehend war man über eine Stufenleiter von immer größeren »Organismen« nun bei einer totalen Sichtweise angekommen. Im Gegensatz zur Vergangenheit, die einen Organismus sowohl als autonomes Ganzes als auch als Teil eines größeren Ganzen verstand, lag nun zunehmend die Betonung auf dem größeren Kontext, dem sich dieser individuelle Organismus unterzuordnen habe. Bei sehr vielen Architekten konnte man diese totale Weltsicht finden, auch in Lissitzkys Beschreibung moderner (russischer) Gestaltung, die den »Weg zu einer organischen Totalität«38 wies. Für den Funktionsbegriff bei ABC waren damit zusammenfassend folgende Punkte wichtig: Zunächst waren Meyers Schlagworte »Funktion mal Ökonomie« und »Komposition oder Funktion« auch in der Zeitschrift ABC vertreten. Funktion wurde auch hier als Alternativbegriff zur Komposition, als Gegenvorschlag der Zusammenstellung von Elementen zu einem Ganzen begriffen. Was bei Meyer

34 Ebd., H. 3, S. 4. 35 Gropius 1988, S. 91. 36 ABC 1925, H. 5, S. 2. 37 ABC 1924, H. 1, S. 2. 38 ABC 1925, H. 3/4, S. 2.

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»Komposition oder Funktion? Kunst oder Leben?« hieß, las sich bei ABC als »Komposition von Kuben, von Farben, von Materialien bleibt ein Hülfsmittel und eine Schwäche. Wichtig sind die Funktionen, und diese werden die Form bestimmen.«39 Funktion wurde auch aktivisch gedacht und dabei »die Ordnung der baulichen Normalelemente nach den Erfordernissen des Zusammenwirkens [!]« als »Grundforderung des Bauens«40 bestimmt. In den ABC-Schriften waren damit die Charakteristika der Funktion – Relation, Ganzheitsbezug und Aktion – klar erkennbar, und zwar sowohl im Sinne einer Maschinen- als auch einer OrganismusAnalogie. In der Maschinenanalogie wurde meist das Verbalsubstantiv Funktionieren gebraucht. Nur in wenigen Fällen wurde Funktion im Sinne einer mathematischen Zuordnungsvorschrift verwendet, die »mathematische Folgerichtigkeit«41 und Exaktheit der Form versprach. So behauptete man zum Beispiel, dass die Form einer Straße »die Funktion der Bewegung des Verkehrsmittels«42 sei. In den Analogiebildungen spiegelte sich zunehmend eine totalisierte Welt-Auffassung mit einer Gestaltung, die Unterordnung vor Individualität setzte.

W ALTER G ROPIUS

UND DAS

B AUHAUS

Natürlich sind auch die Bauhauspublikationen für unseren Zusammenhang von Interesse. In den Bauhausbüchern und der -zeitschrift wird sehr deutlich, dass der Funktionsbegriff einerseits kein einheitlicher war, das heißt er fand sich in den verschiedensten Diskussionen um den Zusammenhang von Gestaltung und Konstruktion, Nützlichkeit, Dauerhaftigkeit, Maschine, Organismus und sozialen Inhalten wieder. Andererseits, und das ist auch hier die wesentliche These, war die strukturelle Bedeutung des Begriffs, seine aktivische Teile-Ganzes-Relation, in allen Diskussionen sichtbar. Als Beispiel kann man Gunta Stölzls Anmerkungen über die Weberei heranziehen. Sie schrieb, »die zukunft wird entscheiden, ob sie lebendiges glied einer kommenden architektur sein kann und sich damit ihre funktion in der menschlichen gesellschaft schafft. [...] stoffe im raum sind ebenso wesentliche glieder der großen einheit architektur wie wandfarbe – möbel – geräte. sie haben ihrer ›funktion‹ zu dienen, müssen sich einordnen, müssen unsere ansprüche an farbe – materie – struktur mit letzter präzision erfüllen.«43 Stölzls Verwendung des Funktionsbegriffs

39 ABC 1926, H. 1, S. 1. 40 Ebd., H. 3, S. 4. 41 Ebd., H. 2, S. 2. 42 Ebd., H. 1, S. 5. 43 Stölzl 1931, S. 4.

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war ganz auf Teile bezogen, die zusammen ein Ganzes bilden. Von Zwecken sprach sie nicht. Auch die Beschreibung des berühmten Bauhausschachs kann hier als ein treffendes Beispiel betrachtet werden. Es wurde als ein »Spiel mit neuen Brettsteinen, die entsprechend ihrer Funktion gestaltet sind«, beschrieben. Damit war gemeint, dass die Bewegungsrichtungen in den Spielsteinen repräsentiert wurden, zum Beispiel war die diagonale Bewegungsrichtung des Läufers in Form eines diagonalen Kreuzes geformt. Alle Spielsteine bildeten mit ihren verschiedenen Bewegungsrichtungen zusammen ein geschlossenes System, das Spiel, und diese Ganzheit zeigte sich im einheitlichen Formenkanon. Dabei war die Gestalt jedes Steins einerseits individuell, also für seine spezielle »Funktion« im Ganzen ausgebildet, andererseits der Gestalt des Ganzen, als Referenzebene, untergeordnet. Diese Beziehungen der Teile und des Ganzen haben wir bisher als Objekt-ObjektBeziehungen bezeichnet. Unabhängig von dieser Betrachtung konnte man das Bauhausschach auch als Mittel zum Zweck des Schachspiels analysieren, und als solches hatte es eine Subjekt-Objekt-Beziehung zwischen Spieler und Spiel. Dieser Abgrenzung des Funktionsbegriffs, der sich auf einen als tätig gedachten Teil (Spielstein) innerhalb eines übergeordneten Ganzen (Schach) bezieht, vom Zweckbegriff, der dieses Ganze bezogen auf ein Subjekt beschreibt, soll auch im Folgenden wieder nachgegangen werden. In den Bauhauspublikationen konnte man das Wort Funktion vor 1923 nicht finden. Auch Walter Gropius (1883-1969), der schon seit 1910 eine rege Schreibtätigkeit entwickelte, gebrauchte diesen Leitbegriff erstmalig 192344. Es handelte sich um die Publikation Idee und Aufbau des Staatlichen Bauhauses Weimar 19191923, in der man, im Abschnitt Die Baulehre, lesen konnte: »Wir sollen den klaren organischen Bauleib schaffen, nackt und strahlend aus innerem Gesetz heraus, ohne Lügen und Verspieltheiten, der unsere Welt der Maschinen, Drähte und Schnellfahrzeuge bejaht, der seinen Sinn und Zweck aus sich selbst heraus durch die Spannung seiner Baumassen zueinander funktionell verdeutlicht und alles Entbehrliche abstößt, das die absolute Gestalt des Baues verschleiert.«45

In diesem Satz, den Gropius auch noch im zwei Jahre später erschienenen Bauhausbuch Internationale Architektur wiederholte, ergänzten sich die Begriffe »Zweck« und »funktionell«. Ganz im Sinne unserer Interpretation bezog sich »Zweck« auf den ganzen »Bauleib«, »funktionell« dagegen auf dessen Teile (»Bau-

44 Zwei frühe Ausnahmen 1911 und 1914 scheinen eher zufällig und nicht konzeptuell zu sein. Gropius 1911, S. 117-8; Gropius 1914, S. 31. 45 Gropius 1988, S. 90.

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massen«), die zueinander in »Spannung« stehen und gemeinsam eine »absolute Gestalt« hervorbringen. Weiter hieß es in Idee und Aufbau des Staatlichen Bauhauses zur »größten Baueinheit, der Stadt«, ihre »Gesichtsbildung« liege unter anderem in der »Gliederung aller Baueinheiten nach den Funktionen der Baukörper, der Straßen und der Verkehrsmittel«46. Auch hier bezog sich Funktion auf Teile einer größeren Einheit (der Stadt), und auch dieser Satz wurde von Gropius noch einige Jahre wiederholt. In den folgenden Jahren sprach Gropius dann oft von Funktionen, wenn er Teilfunktionen meinte, und zwar auf ganz verschiedenen Ebenen, zum Beispiel den »funktionen des fensters« (»lichteinfall und luftzu- und abfuhr«) oder den »funktionen der familie«47 oder auch auf der Ebene der Maschinen- und Organismusanalogie: »Was zieht den künstlerischen Gestalter zu dem vollendeten Vernunfterzeugnis der Technik hin? Die Mittel seiner Gestaltung! Denn seine innere Wahrhaftigkeit, die knappe, phrasenlose, der Funktion entsprechende Durchführung aller seiner Teile zu einem Organismus, die kühne Ausnutzung der neuen Stoffe und Methoden ist auch für die künstlerische Schöpfung logische Voraussetzung.«48

Hier ging es Gropius um die Frage, mit welchen Gestaltungsmitteln es möglich sei, dass Teile eine formale Einheit hervorbringen49. Immer wenn es um diese Frage der Herstellung von gestalterischen Einheiten ging, führte er sowohl die Maschinen- als auch die Organismusanalogie an, und oft auch beide zugleich. So müsse man sich einerseits »mit den formbildenden Eigenschaften der Maschine nachdrücklich auseinandersetzen« und andererseits das Wohnhaus untersuchen, »dessen Einheit sich aus vielen Einzelfunktionen organisch zusammensetzt«50. Zur Erreichung dieser Einheit formulierte er neben gängigen formalen Prinzipien – Einfachheit im Vielfachen, Grundformen, Kontraste, Reihung und Wiederholung, Proportionen51 – auch das Prinzip der Gliederung nach Funktionen. Verschiedentlich umschrieb Gropius Funktion auch als »Vorgang«: »bauen bedeutet gestalten von lebensvorgängen. der organismus eines hauses ergibt sich aus dem ablauf der vorgänge, die sich in ihm abspielen. in einem wohnhaus sind es die funktionen des wohnens, schlafens, badens, kochens, essens, die dem gesamten hausgebilde

46 Ebd., S. 91. 47 Ebd., S. 105, 122. Das Neue Frankfurt 3 (1929), S. 225. 48 Gropius 1988, S. 102. 49 Zur Wichtigkeit des Gedankens der Einheit vgl. Claussen 1986, S. 41-5. 50 Gropius 1920, S. 31; Gropius 1927a, S. 197. 51 Z.B. Gropius 1912, S. 6.

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zwangsläufig die gestalt verleihen. in bahnhöfen, fabriken, kirchen sind die vorgänge andere«52.

Es ist wichtig festzustellen, dass es in allen angeführten Zitaten darum ging, Einheiten (Organismen, Maschinen) zu schaffen und nicht in erster Linie darum, Zwecke zu erfüllen. Man kann sogar behaupten, dass, immer wenn Gropius von Funktionen sprach, es nur indirekt um Zweckerfüllung ging. Er verwendete die Begriffe Zweck und Funktion gleichzeitig, die sich, ähnlich wie bei Hannes Meyer, zu ergänzen schienen. Seine Bemerkungen, ein Ding solle »seinem Zweck vollendet dienen, d.h. seine Funktionen praktisch erfüllen, haltbar, billig und ›schön‹ sein«53 und es müsse seinen »Sinn und Zweck aus sich selbst heraus durch die Spannung seiner Baumassen zueinander funktionell«54 verdeutlichen, erinnern an Meyers Phrasen von »Zweck ist Funktion« und der »zweckmäßigen Funktion«, und zwar in dem Sinn, dass Funktion und Zweck einander bedingen, aber keine Synonyme darstellen. Das Funktionieren zielte auf Einheit eines Gegenstands und war Voraussetzung der Zweckerfüllung. In unmittelbarem Zusammenhang mit dem Begriff der Funktion kam bei Gropius ein weiterer hinzu, der des Wesens: In vielen seiner Texte folgten die Begriffe Wesen und Funktion aufeinander. Er forderte »eine veränderte Baugestalt, die nicht um ihrer selbst willen da ist, sondern aus dem Wesen des Baues entspringt, aus seiner Funktion, die er erfüllen soll«55. Um ein Ding »so zu gestalten, daß es richtig funktioniert – ein Gefäß, ein Stuhl, ein Haus – muß sein Wesen zuerst erforscht werden«56. Es liegt nahe, Wesen und Funktion als Synonyme zu interpretieren, wie zum Beispiel Kruft (1995) und Führ (2001) das getan haben57. Und gleichzeitig wird hier noch einmal klar, dass bei Gropius Funktion und Zweck nicht Synonyme sein konnten, es sei denn, er würde sich in seinen Schriften als radikaler Materialist klassifizieren wollen. Aber dies scheint wenig plausibel für jemanden,

52 Gropius 1988, S. 114. Ähnlich in anderen Schriften von 1927/28. Der erste Satz dieses Zitats findet sich dann auch ein Jahr später in Meyers Aufsatz bauen wieder. Seine besondere Bedeutung – für Gropius eine »Wiederentdeckung« – und sein enger Zusammenhang mit dem Funktionsbegriff wurden bereits hervorgehoben. 53 Gropius 1925, S. 5. 54 Gropius 1988, S. 90. 55 Gropius 1927b, S. 6. 1926 heißt es abgewandelt: »Die neue Baugesinnung dagegen, die eine einheitliche Erfüllung der Forderungen des Lebens und der Kunst herbeiführen will, geht aus von der Funktion der Dinge, von ihrem inneren Wesen, und von dem Typus des Menschen, für den sie bestimmt sind.« (Gropius 1988, S. 107) 56 Gropius 1925, S. 5. 57 Kruft 1995, S. 444; Führ 2001, S. 314.

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der 1919 von »unserer zweckverfluchten Zeit« sprach und 1920 postulierte, die »wahre Kunst ist heilig, sie ist selten, sie ist ohne Zweck«58. Gropius’ Ziel war auch noch 1923 der »reine zweckentbundene Bau«59. Gropius vollzog zwar einige radikale theoretische Kehrtwendungen in seiner Laufbahn, aber als rein zweckorientierter Materialist präsentierte er sich nie, denn auch die Diskussion über Zwecke diente ihm nur als Mittel, über Form und formale Einheit zu reflektieren. Der Zweck eines Dings mag zwar dessen Wesen beeinflusst haben, doch ließ es sich nicht darauf reduzieren. Wie aber passen nun die beiden Interpretationen – Funktion als Wesen eines Dings einerseits und Funktion als Wirken von Teilen zu einem Ganzen andererseits – zusammen? Unweigerlich wird man an Böttichers Dreiheit von »Funktion, Wesenheit und Begriff« erinnert. Wie im vorigen Kapitel gezeigt, verwendete auch Bötticher diese Begriffe im Großen und Ganzen synonym. Wesen drückte sich bei Bötticher aus im Zusammenwirken der Teile zum Ganzen. Ebenso lesen wir bei Gropius: »Die Organisation eines Hauses ergibt sich aus dem Ablauf der Vorgänge, die sich in ihm abspielen. [...] Die Baugestalt ist also nicht um ihrer selbst willen da, wie es vor kurzem noch vielfach geglaubt wurde, sondern sie entspringt allein aus dem Wesen des Bauens, aus der inneren Funktion, die es erfüllen soll.«60

Zum zweiten ergänzen sich beide Interpretationen in einem Weltbild, in dem sich jede Ganzheit zugleich auch wieder als Teil einer noch größeren Einheit darstellt. In einer Sichtweise also, in der sich das Wesen zugleich sowohl als Entität wie auch als Teil definiert und sich also die Fragen nach Teil und Ganzem ineinanderfalten. Dieses Weltbild, das seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts immer mehr zur Totalisierung neigte, zeigte sich in den Idealen der Bauhütte, des Gesamtkunstwerks, der Forderung von »Kunst zu Leben«, im »unteilbaren Organismus«, im »Organischen Ganzen« oder in Gropius’ Worten: »Das alte dualistische Weltbild, das Ich – im Gegensatz zum All – ist im Verblassen, die Gedanken an eine neue Welteinheit, die den absoluten Ausgleich aller gegensätzlichen Spannungen in sich birgt, taucht an seiner Statt auf. Diese neuaufdämmernde Erkenntnis der Einheit aller Dinge und Erscheinungen bringt aller menschlichen Gestaltungsarbeit einen gemeinsamen, tief in uns selbst ruhenden Sinn.«61

58 In Conrads 1964, S. 43; Gropius 1920, S. 33. 59 Gropius 1988, S. 90. 60 Gropius 1927c, S. 315. 61 Gropius 1988, S. 83.

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Es ging Gropius um eine neue Grundhaltung der Gestalter, die »die Vielheit der Erscheinungen erst zur Einheit zusammenschließt«62. Dies musste sich in ganz alltäglichen Bereichen zeigen. Ein Stuhl, zum Beispiel, sollte nicht nur auf seinen Einzelzweck als Sitzgelegenheit bezogen sein, sondern auf seine übergeordnete Einheit, die Zimmereinrichtung. Stuhl und Zimmereinrichtung standen in Spannung

Abbildung 19: Walter Gropius »Baukasten im Großen«. »Bei Herstellung der genormten Bauelemente wird für ihre organische Gestaltung lediglich ihre Bestimmung, ihre Funktion maßgebend sein. [...] Wie weit sodann aus diesen Bauelementen, aus diesem ›Baukasten im großen‹, gut gestalteter Raum im Bauwerk selbst entsteht, hängt von der schöpferischen Begabung des bauenden Architekten ab.« [Gropius in Adolf Meyer 1925, S. 13]

62 Gropius 1924, S. 226.

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zueinander. Dieser Bezug wurde mit dem Funktionsbegriff ausgedrückt. Ähnlich verhielt es sich mit dem Wohnhaus als »Glied der größeren Einheit, der Straße, der Stadt«63. Dementsprechend war die Bauhauslehre darauf ausgerichtet, »durch systematische Versuchsarbeit in Theorie und Praxis – auf formalem, technischem und wirtschaftlichem Gebiete – die Gestalt jedes Gegenstandes aus seinen natürlichen Funktionen und Bedingtheiten heraus zu finden«64. Im dritten Bauhaus-Buch Ein Versuchshaus des Bauhauses kann man sich dieses Thema an einem Beispiel vergegenwärtigen, den »Baukasten im Großen« [Abb. 19]. Gropius schlug hier eine Gliederung der Bauwerke vor, die aus »Bauelementen« und »Bauteilen« bestehen sollte. Er forderte eine Vereinheitlichung der Bauelemente und Typisierung der Bauteile. Bei diesem »Baukasten im Großen«, so Gropius, seien die Teile für »ihre Bestimmung, ihre Funktion« gestaltet. Sensibilisiert für den Unterschied zwischen Zweck und Funktion kann man für dieses Beispiel nun fragen, was mit »Bestimmung« und »Funktion« hier gemeint ist. Der Zweck? In der Bezeichnung der »Einzel-Raumkörper 1-6« [Abb. 19 oben links] findet sich keine Zuweisung zu Zwecken. Es werden keine Aussagen gemacht, wozu man einen zweigeschossigen Körper (Nr. 1) braucht oder wozu ein winkelförmiger (Nr. 3) geeignet ist. Dagegen wurde mit diesen kubischen, modularen Körpern sehr wohl eine Aussage gemacht, dass sie zu größeren Einheiten zusammengestellt werden können und sollen. Vorrangig für sie war, dass sie als Module zusammenpassten, dass sie als System funktionierten. Die Bestimmung/Funktion der Bauelemente schien geradezu ihre Zusammensetzbarkeit selbst zu sein. Dazu mussten sie gemeinsamen übergeordneten (Gestaltungs-)Prinzipien folgen, neben der Modularordnung hatten sie zum Beispiel gleiche Fenstergrößen und eine abgestimmte Konstruktion. Erst wenn das System funktionierte, erfüllte es anschließend auch einen Zweck. Die Zweckerfüllung war also auch hier erst ein zweiter Schritt. So weit zum Verständnis von Gropius’ Funktionsbegriff. Man muss hier noch anmerken, dass die Unterscheidung der Begriffe, wie sie hier vorgenommen wurde, vor allem in späteren Schriften nicht immer so eindeutig war wie hier dargestellt. Dementsprechend waren auch die Interpretationen von Gropius’ Funktionsbegriff nicht einheitlich. Horst Claussen zum Beispiel definierte in seinem Gropius-Buch Funktion »als das Verhältnis von Form und Zweck« und als »Zuordnung bestimmter Formen und zu erfüllender Zwecke«65. Mit dieser Definition konnte

63 Gropius 1927d, S. 152. 64 Gropius 1925, S. 5. 65 Claussen 1986, S. 136, 113. Vgl. S. 115: »Viele Architekten und Gestalter verwenden den Begriff lediglich synonym für ›Zweck‹ und ›Aufgabe‹ und nicht im Sinne einer Relation. Der Begriff der Funktion bezeichnet aber gerade die Relation von ›Zweck‹ und ›Form‹ im gestalteten Objekt oder in der Architektur.«

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man aber nicht sehr weit kommen, denn wenn Funktion das Verhältnis von Zweck und Form meinen würde, wäre das Begriffspaar Funktion–Form ad absurdum geführt, weil redundant. In dieses Problem seiner Interpretation verwickelt, rettete sich Claussen lapidar: Wenn Gropius schreibe, dass man den »Zweck ›funktionell verdeutlichen‹« solle, habe er eben »etwas unscharf« formuliert66. Gropius’ Texte lieferten aber zugleich die Begründung, warum sich die Begriffe Funktion und Zweck in ihrer Bedeutung zunehmend vermischen konnten. Denn in einem totalisierten Weltbild, in dem Subjekte zu Objekten, Teile zu Ganzheiten und umgekehrt wurden, sowie das Prozesshafte in den Vordergrund trat, war eine Unterscheidung von Zwecken und Funktionen nicht immer möglich oder nötig. Werfen wir einen Blick auf die Publikationen anderer Bauhausmeister. In den Bauhaus-Büchern von Paul Klee, Oskar Schlemmer und László Moholy-Nagy finden sich Funktionen ausschließlich mit physiologisch-biologischer Bedeutung, als Tätigkeit menschlicher Organe und Körperteile. Klee verstand unter Funktionen die Aufgaben und Wirkungsweisen der einzelnen menschlichen Gliedmaßen, die zusammen zu einer Einheit, dem Körper, wirkten. In seinem Pädagogischen Skizzenbuch veranschaulichte er die Funktion der Muskeln über Pfeile und verdeutlichte, dass die Funktionen von Gehirn, Nerven, Muskeln, Sehnen und Knochen in hierarchischen Verhältnissen zueinander standen. Er leitete aus diesen Untersuchungen Gestaltungsprinzipien für das künstlerische Schaffen ab, wie Hierarchie oder Vermittlung zwischen Elementen, und definierte passive und aktive, dienende und herrschende Elemente beziehungsweise deren Wechselwirkungen. Schlemmer stellte in seiner Bühnentheorie den Menschen und die Bühne als zwei Pole gegenüber. In seinem Buch Die Bühne am Bauhaus stellte er dar, wie einer dieser Pole jeweils den anderen dominierte. Entweder bestimmten die menschlichen Körperfunktionen die Bühnengestaltung oder die menschlichen Handlungen ordneten sich dem kubischen Raum unter. Aus diesen beiden Polen ergäben sich, so Schlemmer, zwei grundsätzliche Bwegungsmöglichkeiten des Akteurs oder Tänzers auf der Bühne. Die eine unterwerfe sich den Gesetzen des kubischen Bühnenraums, die andere den Bewegungsgesetzen des organischen Lebewesens und seinen »unsichtbaren Funktionen seines Innern: Herzschlag, Blutlauf, Atmung, Hirn- und Nerventätigkeit«67. Diese Bühnentheorie Schlemmers reichte bis zur Gestaltung der Kostüme, unter ihnen das Kostüm der »Gliederpuppe«, das »die Funktionsgesetze des menschlichen Körpers« repräsentierte. Auch in den Ausführungen zu seinem Unterrichtsfach »Der Mensch« in der Zeitschrift bauhaus war Schlemmers Funktionsbegriff nur auf den biologischen Körper bezogen. Unter anderem wurden »vom biomechanischen und biochemischen stand-

66 Ebd., S. 131. 67 Schlemmer/Moholy-Nagy/Molnar 1925, S. 15.

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punkt« Erläuterungen gegeben über »die gelenkorganisation des knochengerüsts, die muskelfunktionen, die inneren organe, herzpumpe und blutkreislauf, lunge und atmung«68 und festgestellt, »die gesetze des organischen menschen [...] liegen in den unsichtbaren funktionen seines inneren«69. Eine ähnliche menschlich-organische Ausrichtung des Funktionsbegriffs liegt auch in Moholy-Nagys Bauhaus-Buch Malerei, Photographie, Film vor. Darin beschrieb Moholy-Nagy den »Aufbau des Menschen« als »Synthese aller seiner Funktionsapparate«, womit er »die Zellen ebenso wie die kompliziertesten Organe« meinte. Es läge in der menschlichen Natur, dass ihre »Funktionsapparate nie zu sättigen« seien. So hätten zum Beispiel die Wahrnehmungsorgane durch die Entwicklung der Technik »ihre Fähigkeit einer simultanen akustischen und optischen Funktion erweitert«70. Der Gebrauch des Worts Funktion bei Klee, Schlemmer und Moholy-Nagy ist also eng begrenzt. Bei allen dreien kamen die Eigenschaften des physiologischen Funktionsbegriffs, nämlich der Prozesscharakter (Organtätigkeit) sowie der Systemcharakter (Organ–Organismus) zum Tragen. Klee zog aus diesen Erkenntnissen Schlüsse für die Gliederung von Kunstwerken, während Schlemmer und MoholyNagy direkt die menschlichen Funktionen in der Kunst betrachteten, als Teil der Kunst (Schlemmer) oder in der Bedeutung des Menschen als Rezipienten (MoholyNagy).

A DOLF B EHNE , H UGO H ÄRING , E RICH M ENDELSOHN Einen wesentlichen Beitrag zum Funktionsbegriff leistete auch Adolf Behne (18851948), einer der bedeutendsten Architektur- und Kunstkritiker der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Insbesondere in seinem Buch Der moderne Zweckbau, 1926 veröffentlicht, entwickelte er ausführlich und als erster Deutscher eine Definition von Funktionalismus. In dem Artikel Funktion und Form von 1924 nahm er das Vorwort von Der moderne Zweckbau vorweg. Auch schon früher, in dem Artikel Die deutsche Baukunst seit 1850 von 1922, setzte er sich mit der »funktionellen Form« auseinander. In Der moderne Zweckbau kann man keine klare Abgrenzung der Begriffe Funktion und Zweck erkennen. Das Buch schien damit ein Katalysator für die

68 Schlemmer 1928, S. 23. 69 Schlemmer 1929, S. 4. 70 Moholy-Nagy 1925, S. 23, 35. Vgl. hierzu auch Moholy-Nagys Aufsatz Ismus oder Kunst? in: ABC 1926, H. 2, S. 6-8. Hierin wird sogar das Ziel der Kunst, die Menschen »zu der Erkenntnis ihres organischen, elementaren Funktionsaufbaues zu führen«.

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Gleichsetzung von Funktion und Zweck innerhalb der Architekturdiskussion zu sein. Das traf auch noch auf die Diskussion nach dem Zweiten Weltkrieg zu, denn Behnes Buch wurde 1964, also gerade im Aufleben der postmodernen Funktionalismuskritik, als Bauwelt Fundamente neu aufgelegt und fand so nochmals große Verbreitung. Bis heute ist Behnes Buch eine Standardlektüre zum Thema Funktionalismus. Die spanische Ausgabe von 1994 und die amerikanische von 1996 tragen zu der neueren Verwischung der Begriffe bei, wie die bezeichnenden Übersetzungen des deutschen Titels ins Spanische mit La construcción functional moderna und ins Englische mit The modern functional building zeigen. Beide Übersetzer kamen offenbar zu dem gleichen Schluss, dass »Zweckbau« und »funktionales Gebäude« als Synonyme betrachtet werden konnten71. Die Vermengung der Begriffe zeigt sich zum Beispiel darin, dass Behne über »werkzeughafte Funktionen«72 schrieb. Werkzeuge aber sind Mittel zu Zwecken und gehören zu den Zweck-Mittel-Relationen. Im Gegensatz dazu haben wir Funktionen als Teile-Ganzes-Relationen identifiziert, in denen ein Teil auf das andere wirkt, sodass kein Teil als Werkzeug angesehen werden kann. Man kann ein und dasselbe Ding unter beiden Blickwinkeln betrachten, doch folgt man dabei unterschiedlichen Zielrichtungen. Betrachtet man zum Beispiel ein Organ unter dem Zweck-Gesichtspunkt, zum Beispiel ein Gebiss als Kauwerkzeug, dann ist das Gebiss ein Hilfsmittel eines Lebewesens, seine Nahrung zu zerkleinern. Unter dem Zweck-Gesichtspunkt spielt es keine Rolle, ob das Gebiss ein Teil des Organismus ist, nur der Mittel-Aspekt als Zerkleinerungswerkszeug ist von Interesse. Betrachtet man dagegen das Gebiss unter dem Funktions-Gesichtspunkt, dann ist es Teil eines größeren Wirkungsgefüges, das im Prozess der Verdauung sein Gefüge aufrecht erhält. Natürlich gibt es im Sprachgebrauch Überschneidungen, die daher resultieren, dass es oft gar nicht erforderlich ist, die Begriffe Zweck (vom Subjekt ausgehend) und Funktion (im Objekt liegend) auseinanderzuhalten. Man könnte also spekulieren, dass Behnes »werkzeughafte Funktionen« gleichzeitig auf beide Blickwinkel, einerseits die Zweck-Mittel-Relation und andererseits die TeileGanzes-Relation, abzielten. Im Buch fällt zudem auf, dass Behne immer wieder die Worte Zweck und Funktion aneinanderreihte. Man muss feststellen, dass diese Redundanz nicht

71 Vgl. die Einleitung zur englischen Übersetzung von Bletter 1996, S. 47-8: »Zweck means purpose or function […] On many occasions he uses Zweck, Sachlichkeit, and Funktion interchangeably or as a series.« S. 52-3: »In Der moderne Zweckbau Behne did not satisfactorily explain why Zweck, Funktion, and Sachlichkeit are often used to form a constellation of words that seem to stand for slightly different aspects of Modernism, or why Zweckbau is used in the title, and not Funktion or Sachlichkeit.« 72 Behne 1926, S. 9.

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wirklich verständlich ist, wenn beide Worte das gleiche meinten. So schrieb er zum Beispiel über Peter Behrens, dass sich dieser nie »ganz an den Zweck, bedingungslos an die Funktion« preisgegeben hätte und lobte an seinen NAG-Bauten die »Betonung der klassischen Form, das Neutralisieren der Funktionen und Zwecke«73. Auch Henry van de Veldes Arbeit wäre »für die weitere Entwicklung der Zweckarchitektur von Bedeutung durch die konsequente Herausstellung einer funktionalen Form«74. In seinem Buch gibt es zahlreiche solcher Beispiele, in denen die beiden Worte unmittelbar im gleichen Satz oder in zwei aufeinander folgenden Sätzen einander abwechseln. Schon der Buchanfang zeigt das: »Der Mensch baut ursprünglich, um sich zu schützen – gegen Kälte, gegen Tiere, gegen Feinde. Die Not zwingt ihn, und wären nicht bestimmte, sehr nahe und drängende Zwecke, so würde er nicht bauen. Seine ersten Bauten haben einen rein funktionalen Charakter, sind ihrem Wesen nach Werkzeuge. [...] Jetzt ist jeder Bau ein Zweckbau – d.h. er wird von seiner Bestimmung, von seiner Funktion aus angegriffen.«75

Deutlich zeigt sich hier die Vermischung und Gleichsetzung der Begriffe Funktion und Zweck in der Verkettung mit dem Begriff des Werkzeugs. Bauten konnten bei Behne »bedingungslos zu einem Werkzeug« werden, und der »Funktionalist in letzter Konsequenz würde das Haus zu einem reinen Werkzeug machen«76. Behnes Definition des Funktionalismus, und zugleich seine Kernkritik daran, ergab sich aus dieser Verkettung mit dem Werkzeug. In Übertragung der Naturbetrachtung stellte er fest, dass »je reicher und subtiler die Organisierung eines Lebewesens, umso ausgeprägter seine Individualisierung ist. So kennt auch ganz logisch das vollkommen gute und ausgeprobte Werkzeug keine ›Umwelt‹, und wo eine Maschine steht, ist völlig gleichgültig.«77 Für Behne waren Lebewesen, Werkzeug und Maschine insofern gleich, als sie für sich abgeschlossene Einheiten ohne »Umwelt« darstellten. Er definierte Funktionalismus als Individualisierung78, als Erfüllung ganz spezifischer Anforderungen, aus der die Umwelt ausgeschlossen war. Das war eine äußerst fragwürdige Definition, und das sah eigentlich schon Behne selbst, denn er wandte gegen seine eigene Definition ein, dass »die Individuen der organischen Natur eine Einheit bilden« und stellte fest: »Wo die Natur Räume für viele kennt,

73 Ebd., S. 30-1. 74 Ebd., S. 34. 75 Ebd., S. 9, 11. 76 Ebd., S. 41, 46. 77 Ebd., S. 47. 78 Vgl. Behne 1926 S. 52: »Vereinzelung, unbedingter Individualismus ist die letzte Triebkraft im konsequenten Funktionalismus.«

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macht sie sie nach einem normungsfähigen, mechanischen Prinzip: das Massenmietshaus der Bienenwabe«79. Er bemerkte also selbst, dass Individuen sehr wohl eine Umwelt hatten und nicht alles in der Natur Individualisierung war, doch wischte er diesen Einwand weg: »Mag dies sein, wie es will – jedenfalls sind diese Individuen ausgezeichnet durch die ihnen gegebene Möglichkeit der Bewegung und der Ortsveränderung«80. Behne ging noch einen Schritt weiter, indem er dem Individuum die Form absprach: »Für das Einzelne, Einzige in der Natur existiert kein Problem der Form. Das Einzelne, auch das Einzelne in der Natur, ist frei. Das Problem der Form erhebt sich dort, wo ein Zusammensein gefordert wird. Form ist die Voraussetzung, unter der ein Zusammen möglich wird. [...] Wäre die Menschheit nur eine Und-Summe von Individuen, so wäre es wohl möglich, das Haus als reines Werkzeug, rein funktional aufzufassen. Für den, der in der Menschheit eine Gestalt sieht, ein in Raum und Zeit gegliedertes Gebilde, treten an das Haus formale Forderungen heran – wobei ja ›formal‹ nicht zu verwechseln ist mit ›dekorativ‹. Ist jeder Bau Teil eines gebauten Ganzen, so erkennt er bestimmte, allgemeingültige Regeln an – Regeln, die nicht aus seinem individuellen Zweckcharakter folgen, sondern aus den Ansprüchen dieses Ganzen – aus ästhetischen, formalen Ansprüchen. [...] Solange nur das Einzelobjekt in Frage steht, mag Zweckerfüllung allein genügen, ein gesundes Gebilde zu schaffen. Stehen wir aber zu der Forderung [...] eines architektonischen Ganzen, so kann uns die Tatsache eines Nebeneinander selbst von lauter gesunden Körpern nicht genügen.«81

Nach allem bisher Gesagten wird klar, dass Behne gründlich das Verständnis des allgemeinen Funktionsbegriffs ignorierte. Seine Theorie lässt sich nur dann verstehen, wenn Funktion sich auf einen abgegrenzten und optimierten Organismus bezieht, dessen innere Teile zusammenwirken. Sobald man aber davon spricht, dass mehrere Organismen einen weiteren, größeren Organismus, sagen wir ein Ökosystem, bilden, gilt seine Theorie nicht mehr. Behnes Kernaussage war, dass er an die Architekten appellierte, sie sollten nicht einzelne Gebäude optimieren, sondern diese in ihren jeweiligen Kontext einordnen. Er blendete aus, dass gerade Funktionen diese Teile-Ganzes-Relationen (Gebäude-Kontext-Relationen) zum Inhalt haben können. Man könnte auch mutmaßen, dass er diesen Sachverhalt mit Absicht ausblendete, um seine Theorie umso schärfer zu formulieren. Behne teilte die Architekten in solche, die ein einzelnes Gebäude optimierten, die »Funktionalisten«, und solche, die das Ganze und die Form betonten, die »Rationalisten«.

79 Behne 1926, S. 47. 80 Ebd. 81 Ebd., S. 62, 70.

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Damit hat Behne bis heute den Unterschied zwischen Funktionalismus und Rationalismus festgelegt. Für ihn war Hans Scharoun ein Funktionalist und Le Corbusier ein Rationalist, und beide ließ er in einem imaginären Dialog aufeinanderstoßen: »›Warum‹, so fragte Scharoun, ›muß alles gerade sein, da das Gerade doch erst durch die Umwelt wird?‹ – ›Eben weil nichts isoliert bleiben kann‹, so dürfte ihm Le Corbusier antworten, ›weil wir alle zur Umwelt stehen, muß alles gerade sein und ist die Kurve individualistische Disziplinlosigkeit.‹«82

Am Ende seines Buches versuchte Behne, diese beiden Pole miteinander zu versöhnen. Da die Bevorzugung nur eines Pols zu unbefriedigenden Ergebnissen führe, müsse man an ihrer gegenseitigen Verständigung arbeiten: »Uns scheint, daß alles Bauen den Charakter eines Kompromisses trägt: zwischen Zweck und Form, zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Wirtschaft und Politik, zwischen Dynamik und Statik, zwischen Eindringlichkeit und Einheitlichkeit, zwischen Körper und Raum – und daß Stil nichts anderes ist als die jeweilige besondere Fassung dieses Kompromisses. […] Kehren wir zum Bau zurück, so dürfen wir sagen, seine konkrete Gestalt ist das Kompromiß zwischen Individuum (Funktion) und Gesellschaft (Form).«83

Nun gibt es auch einige wenige Bemerkungen Behnes, die im Gegensatz zu dem bisher Gesagten doch auf eine Kenntnis des Funktionsbegriffs schließen lassen, jedoch immer im Rahmen eines individuellen, für sich stehenden Objekts: »Und sodann kommt durch die Anpassung an die Funktion der Bau zu einer weit größeren und besseren inneren Einheit, er wird organischer [...]. Aufgabe des Architekten ist es, die Räume rein nach ihren letzten sachlichen Funktionen frei gegeneinander auszubalancieren, unter Ausschluß aller Willkür, mit dem Ehrgeiz, aus Boden, Bodenbewegung, Größe des Innen- und Außenraumes, Notwendigkeit der besten Raumfolge, Lage zum Licht, zum Garten, zur Straße, zum Verkehr die zuletzt nur noch allein mögliche, die endgültige tektonische Zuordnung aller Faktoren, den Bau, zu schaffen. Hiebei müssen alle Symmetrieachsen, alle Reißbrettgeometrien, alle Grundrißornamente sofort verschwinden: Architektur wird gestaltete Wirklichkeit.«84

In dieser Beschreibung von Funktionalismus hatte Funktion durchaus etwas mit Ordnung, Aufbau und Form zu tun. Sie hatte eine Absage an klassische Kompo-

82 Ebd., S. 64. 83 Ebd., S. 65, 69. 84 Ebd., S. 42-3.

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sitionsgesetze und die Suche nach neuen Gesetzen wie zum Beispiel »freies Ausbalancieren« zum Inhalt. Das Zusammenstellen von Teilen zu einem Ganzen nach Funktionen beschränkte sich in Behnes Auffassung aber, wie bereits gesagt, auf nur ein einzelnes Gebäude, ein einzelnes Objekt, und zwar auf seine »innere Einheit«. Das Gebäude oder das Objekt wurde nicht wieder als Teil eines noch größeren Ganzen, zum Beispiel der Stadt, begriffen, sondern stand als Individuum für sich. Das war, was Behne als Funktionalismus definierte und zugleich seine Kritik: »Wir betonten, daß funktionale Einstellung die innere Einheit des Baukörpers sehr zu fördern und zu steigern vermag, müssen aber jetzt hinzufügen, daß sie die Entstehung einer größeren objektiven Einheit aus mehreren oder vielen Körpern ebensosehr erschwert«85.

Man kann hier zusammenfassend zwei Schlüsse ziehen. Erstens hat Behne mit seinem Buch die unscharfe Überlagerung der Begriffe Zweck und Funktion sehr gefördert, indem er beide über den Werkzeugbegriff verschmolz. Zweitens bezog Behne Zweck und Funktion auf individuelle Dinge, also beschränkte Objekte. Behne hielt die Optimierung eines einzelnen Objekts für »Funktion«, die Optimierung eines größeren Zusammenhangs für »Form«. Wenn man nun weiter fragt, wie Behne auf den Ausdruck »funktionelle Form« kam, so gibt einer seiner Beiträge in Wasmuths Monatsheften von 1922 einen Hinweis. In diesem Aufsatz rühmte Behne Hugo Härings (1882-1958) Beitrag zum Friedrichstraßen-Wettbewerb, den dieser unter dem Kennwort »Funktionale Form« im Januar 1922 eingereicht hatte. Härings Wettbewerbspläne waren mit diesem Titel versehen [Abb. 20]. Sein Entwurf wurde 1922 vielfach besprochen und im Hamburger Fremdenblatt vom 3. Mai 1922 hieß es sogar, der Entwurf stehe im »Geist der modernen Wirtschaft, ihres intellektuellen Funktionalismus«86. Häring, der mit diesem Wettbewerbsbeitrag erstmals auf sich aufmerksam machte, verstand unter Funktion zwar auch das Individuelle, doch betonte er mit diesem stets den Zusammenhang von Teilen und Ganzem, denn »Bauen verlangt Einstellung auf die Funktion des zellisch Einzelnen, fordert peinlichste Prüfung ihrer Wertigkeit in Bezug auf das Ganze«87. Dieses Wechselspiel aus Teilen und Ganzem hob er als besonders wichtig hervor. Er forderte, »die Dinge so zu ordnen, daß ihre Individualität sich entfalte und diese Entfaltung zugleich dem Leben des Ganzen diene. Dieses Ganze ist die Gestalt unseres Lebens.«88 Die Natur zeigte diese Möglichkeit auf, denn, ganz anders als Behne, schrieb Häring:

85 Ebd., S. 47. 86 Zitat nach Schirren 2001, S. 114. 87 Ebd., S. 316. 88 Ebd., S. 322.

150 | F UNKTIONEN UND F ORMEN »In der Natur ist die Gestalt das Ergebnis einer Ordnung vieler einzelner Dinge im Raum, in Hinsicht auf eine Lebensentfaltung und Leistungserfüllung sowohl des Einzelnen wie des Ganzen. [...] Denn wir können den Sinn des Einzelnen nicht bestimmen, solange wir nicht den Sinn des Ganzen kennen, dem dieses Einzelne angehört.«89

Einer seiner wichtigsten frühen theoretischen Texte, Wege zur Form von 1925, dem dieses Zitat entnommen ist, liest sich wie eine vorweggenommene Antwort und Abgrenzung zu Behnes noch nicht erschienenem Der moderne Zweckbau. Behne warf Häring vor, dass er sich nur um individuelle Zweckerfüllung kümmere. Häring

Abbildung 20: Hugo Härings Entwurf zum Friedrichstraßen-Wettbewerb 1922, untertitelt mit »Kennwort: Funktionale Form«.

89 Ebd., S. 321-2. Dass Häring seine Meinung Anfang der 1930er Jahre änderte und sich in gewisser Weise selbst Behnes Betrachtungen anschloss, sei dahingestellt. Vgl. dazu Huse 1985, S. 60.

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sagte aber eindeutig, dass das Ganze mehr sei als nur ein Gebäude, sondern die Natur sei das Ganze. Zudem stellte er fest, dass die »Dinge, die wir Menschen schaffen« das Ergebnis einerseits der »Ansprüche an eine Zweckerfüllung, andererseits Ansprüche an einen Ausdruck«90 seien. Ebenso wie Behne forderte also auch Häring, dass Zweckerfüllung und Form zur Deckung gebracht werden müssten. Hervorzuheben ist, dass Häring in dem ganzen Text immer nur von »Zweckerfüllung« spricht, und nicht etwa einen Funktionsbegriff hineinmischt. Häring unterschied präzise die Begriffe, in deutlichem Kontrast zu Behne. Unter anderem setzte sich Häring mit Adolf von Hildebrands 1893 erschienenen Buch Das Problem der Form in der Bildenden Kunst auseinander, einschließlich des Kapitels VI. Die Form als Funktionsausdruck. Als zweiter Einfluss auf Häring ist Fritz Schumacher zu erwähnen, bei dem Häring im Wintersemester 1901/02 an der Dresdener Technischen Hochschule studierte und dessen Funktionsverständnis sich noch stark an demjenigen des neunzehnten Jahrhunderts orientierte, in dem »das künstlerische Wesen der Architektur [darauf beruht], für die konstruktive Funktion den symbolischen Ausdruck in der Architekturform zu finden«91. Auch Martin Mächler kann man in diesen Zusammenhang nennen, der Ende 1918 die Stadt als »organisches Wesen« beschrieb, als »ein geographisch ethnisches Individuum, harmonisch gestaltet und natürlich funktionierend, wie das Weltall in der Pracht seiner Erscheinungen oder wie der menschliche Körper in der Harmonie seiner Glieder und der natürlichen Funktion seiner inneren Organe.«92 Es scheint, als habe Häring das Verständnis des Funktionsbegriffs von Hildebrand, Schumacher und Mächler aufgenommen und weiterverarbeitet, und in seinem Beitrag zum Friedrichstraßen-Wettbewerb 1922 trat sein Kennwort dann in das Blickfeld der Öffentlichkeit. Ein weiterer Architekt, der hier genannt werden muss, ist der seit Anfang der 1920er Jahre sehr erfolgreiche Erich Mendelsohn (1887-1953). In Der modernen Zweckbau wählte Behne Mendelsohns Einsteinturm als Beispiel »ausdrucksvoller Individualisierung«93. Auch Mendelsohn war mit Hildebrands Problem der Form in der Bildenden Kunst vertraut. 1923 hielt er einen Vortrag mit dem Titel Dynamik und Funktion in Amsterdam, der in Auszügen 1924 in Wasmuths Monatsheften erschien. Er unterschied darin drei verschiedene Funktionen, erstens die der Maschine, zweitens die der Baukonstruktion und drittens die der Architektur. Als Beispiel einer »reinen maschinellen Funktion« nannte er einen »Zangenkran, also ein eindeutiges Greiforgan«, dessen »Greifen, Ziehen, Reißen« eine »reine Zweck-

90 Zitat in Schirren 2001, S. 321. 91 Schumacher 1901, S. 17. 92 Zitat in Schirren 2001, S. 37. 93 Behne 1926, S. 39.

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funktion« darstelle. Organe und Maschinen waren auch für Mendelsohn analoge Bilder. In der Baukonstruktion würde darüber hinaus »dieser reguläre Begriff des Funktionierens zur Funktion in mathematischem Sinne der zwangsläufigen Abhängigkeit«. In der Architektur schließlich könne Funktion »nur die räumliche und formale Abhängigkeit bedeuten von den Voraussetzungen des Zwecks, des Materials und der Konstruktion«94. Diese drei Funktionen konnten, so Mendelsohn, keinesfalls aufeinander übertragen werden. In diesem Vortrag definierte er Funktion außerdem in Abgrenzung zum Begriff Dynamik, wobei dieses Begriffspaar nicht unbedingt eindeutig war und sich im Lauf der Zeit auch veränderte95. Dynamik war für Mendelsohn das Expressive, Funktion das Logische. Bezugnehmend auf die holländische Architektur beschrieb er 1923 Rotterdam als »funktionell«, Amsterdam als »dynamisch« und definierte: »Das erste setzt Ratio voraus – Erkenntnis durch Analyse. Das zweite Irratio – Erkenntnis durch Vision. Der Analytiker – Rotterdam – lehnt die Vision ab. Der visionäre Amsterdamer begreift nicht die kühle Sachlichkeit.« Seine persönliche Architekturhaltung bestand in der Koppelung der beiden Begriffe, die er sein »Versöhnungsprogramm« nannte: »Beide sind notwendig, beide müssen sich finden«, dies allerdings in eindeutiger Hierarchie, nicht etwa die »dynamische Funktion«, sondern die »funktionelle Dynamik«96 gelte es zu verwirklichen.

A USSERARCHITEKTONISCHE E INFLÜSSE Wie wir gesehen haben, suchten die meisten der genannten Theoretiker und Architekten nach neuen Gestaltungskriterien jenseits von althergebrachten Kompositionsregeln. Hannes Meyers Aufzählung neuer Kriterien von Autowartung bis Sexualität war eine der provokativsten. Er proklamierte, dass durch die Analyse dieser Kriterien neue Syntheseregeln aufgestellt werden könnten. Diese Aufzählung war mit ein Grund, warum Meyer als Erzfunktionalist und Zweckpragmatiker angeprangert wurde und bis heute wird. Man sollte aber nicht die Komplexität seines Ansatzes unterschätzen. Denn wir lesen hier nicht eine Aneinanderreihung pragmatischer Bedürfnisse, sondern bereits eine Interpretation seiner Welt und Zeit, die er

94 Mendelsohn 1924, S. 4. 95 Huse 1985, S. 26, stellte fest, dass »sich der genaue Inhalt der Formel selbst [...] immer wieder verändert hat«. 96 Mendelsohn 1961, S. 57.

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als »reich«97 empfand. Wer nicht die Ironie und Poetik in der Aufzählung begreift, für den sollte zumindest der Aufsatztitel Die neue Welt darauf hindeuten, dass Meyer seiner Zeit einen Spiegel vorhalten wollte. Bezogen auf das Thema der Funktion reichten seine Betrachtungen von Raoul Heinrich Francés Funktionswissenschaft und Konrad von Meyenburgs funktionaler Landwirtschaft bis zu Bess Mensendiecks funktionellem Turnen. Überall listete Meyer Funktionstheoretiker auf, auf die sich nicht nur er, sondern viele Architekten der 1920er und 30er Jahre beriefen. Insbesondere der Naturphilosoph Raoul Heinrich Francé (1874-1943), der neben seinen naturwissenschaftlichen Studien vor allem für seine populärwissenschaftlichen Werke bekannt war, wirkte auf zahlreiche Architekten inspirierend. So bezeichnete Meyer ihn als »Heiligen der letzten Jahre«98. Ludwig Mies van der Rohe besaß in seiner Bibliothek über vierzig Publikationen von Francé, mit dem er sich seit etwa 1924 intensiv auseinandersetzte99. El Lissitzky referierte über Francés Formenkunde in einem Doppelheft der Zeitschrift Merz, das er 1924 mit Kurt Schwitters herausgab und das als »Nasci-Nummer« bekannt wurde. Der Bauhausschüler Siegfried Ebeling lobte in seiner Schrift Der Raum als Membran von 1926 insbesondere Francés Buch Technische Leistungen der Pflanze als wegweisend für die Zukunft der Architektur100 . Und Moholy-Nagy bezog sich 1929 in seinem Buch von material zu architektur auf Francés Schrift Die Pflanze als Erfinder. Francé wurde am Bauhaus der Ära Mies gelesen und seine Biophilosophie von dem Bauhausschüler Karl Keßler 1933 als »das ist bauhausgut, das ist bauhausgeist« vereinnahmt101. Umgekehrt äußerte sich auch Francé selbst über Architektur und forderte ganz direkt die Architekten auf, die Botanik, die »eine wahre Hochschule der Erfinder« sei, zu studieren, denn »hundertfach sind dann die Anwendungsmöglichkeiten […] im Bauwesen«102 . Francé war Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ein bekannter Botaniker, Begründer der modernen Bodenbiologie und Biotechnik, Naturphilosoph, graphischer Künstler und Erfinder. Er gründete verschiedene Gesellschaften und populärwissenschaftliche Zeitschriften, denn er wollte die Naturwissenschaften »in den

97

Vgl. Meyer 1925b, S. 257: »Reich sein ist alles.« Vgl. auch Meyers Brief an Giedion 1926: »Mir ist öfters, als hätte ich 35 Jahre lang geschlafen, und seit 2 Jahren ist das Leben reich und der Glaube an unsere Zeit sicher geworden.« Zit. in Kieren 1990, S. 71.

98

Meyer 1928a , .S 15 . Ähnlich Meyer 1926a , .S 221 .

99

Vgl. Neumeyer 1986, S.138.

100 Ebeling 1926, S. 30. 101 Zitat in Neumeyer 1986, S. 139. 102 Francé 1919, S. 35.

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weitesten Kreisen unseres Volkes verbreiten«103. Seine rund sechzig Bücher und Hunderte von Aufsätzen erreichten erstaunliche Auflagenzahlen. Francé bemühte sich um eine ganzheitliche Weltanschauung, die er als »biozentrische«, »biologische« oder »objektive Philosophie«104 bezeichnete. Es waren mehrere Aspekte, die Francé für die Architekturdiskussionen der 1920er Jahre im Allgemeinen und für den Funktionsbegriff im Besonderen interessant machten. Erstens schrieb er ausgiebig über seine Auffassung der Welt als Ganzheit und sein Verständnis dieser Ganzheit als System aufeinander wirkender Teile. Zweitens bestimmte er Grundbegriffe – Funktion, Funktionsform, Wesen – und ihr Verhältnis zu Gestaltprinzipien wie Proportion und Harmonie. Drittens formulierte er für die Natur eine Theorie des Optimums und des kleinsten Kraftmaßes, die er auch auf die Technik anwandte. Und schließlich findet man bei ihm zahlreiche Vergleiche von Maschine und Organismus sowie erhellende Hinweise zur Abgrenzung der Begriffe Zweck und Funktion. 1900 schrieb Francé sein erstes philosophisches Werk, Der Wert der Wissenschaft, in dem er Goethe als »Lichtgestalt« rühmte, da dieser nie »Einzelphänomene vor sich sah, sondern immer nur ein Ganzes: die Natur« 105. Diesem Vorbild eiferte Francé nach, indem er unaufhörlich die »Wahrheit von der ewigen Einheit alles Seins«106 wiederholte. Diese Einheit setze sich aus unzählbar vielen Teilen zusammen, »man sagt das fachgemäßer und einfacher: es ist ein komplexes System«107 . Es bestand aus vielen kleineren Subsystemen, in der Natur zum Beispiel dem Wald oder dem Erdboden, die sich dadurch kennzeichneten, dass sie »Lebensgemeinschaften geschlossener Art«108 darstellten, in denen ein Lebewesen von den anderen lebt. Nicht zuletzt habe auch der Mensch eine komplexe »Beziehungswelt«109 , die seine Lebensgrundlage ist, bestehend aus »tausend Zusammenhängen und Gemeinschaften, in die wir mit den anderen Lebewesen und dem Weltall versponnen sind«110 . Für alle Teile und das Ganze gelte immer, dass »es ein gesetzmäßiges Verhältnis zwischen diesen beiden geben muß. Welches? Jedenfalls das Eine, daß das Ganze den Teil beeinflußt. Jeder Teil den anderen und sie alle zusammen, als Summe jeden Teil noch einmal.«111

103 Francé 1926, S. 79. 104 Z.B. Francé 1908, S. 28; Francé 1919, S. III; Francé 1925, Vorrede und S. 13. 105 Francé 1908, S. 119, 122. 106 Ebd., S. 128. 107 Francé 1920, S. 10. 108 Francé 1922, S. 62. 109 Ebd., S. 61. 110 Francé 1925, S. 3. 111 Francé 1920, S.10.

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Das Streben nach »Ausgleich« und »Harmonie« war für Francé das grundlegende Gesetz der Welt, und sein Systemverständnis kulminierte in dem Ausspruch: »Die Welt ist ein Ausgleichsystem.«112 Ihm ging es sowohl um den harmonischen Ausgleich von Formen als auch von Funktionen. Beide hingen zusammen, sie mussten sogar identisch sein, und sind sie es einmal nicht, gäbe es ein Ungleichgewicht, das wiederum einen Ausgleich zur Harmonie suchen müsse. In seinem Hauptwerk Bios: Die Gesetze der Welt widmete Francé ein ganzes Kapitel dem »Funktionsgesetz«. Funktionen waren für ihn Prozesse, denen technische Formen zugrunde lagen: »Jeder Vorgang hat seine notwendige technische Form. Die technischen Formen entstehen immer als Funktionsform durch technische Prozesse. Sie folgen dem Gesetz des kürzesten Ablaufes und sind stets Versuche, um optimale Lösungen des jeweils gegebenen Problems anzubahnen. Jeder Prozeß schafft sich so selbst seine technische Form«113 .

Diesen Satz verarbeitete Moholy-Nagy in seinem Buch von material zu architektur. Francé fasste nochmals prägnant und aus dem Text herausgehoben zusammen: »Jede Form ist nur das erstarrte Momentbild eines Prozesses!«114 Pauschal waren alle in der Welt vorkommenden Formen »stets Funktionsformen in mechanischem Sinn, also technische Formen«115. Technische Form und Funktionsform meinten bei Francé dasselbe. Sie seien die jeweils optimale Form, denn jedes einzelne Lebewesen würde in seinem Drängen, ein Maximum zu erreichen, von seiner Umwelt eingeschränkt und könne daher nur ein Optimum erreichen. Nur das Optimum, nicht das Maximum ermöglicht den Ausgleich zwischen den Teilen und zwischen Teil und Ganzem. Mit der »optimalen Form« zeigte Francé also, wie sich die Dinge in größere Systeme einordneten. Das Gesetz des Optimums folge aus dem Gesetz des Ausgleichs und der Harmonie. Die optimale Form erzeuge Harmonie, sowohl für die Teile als auch das Ganze. Und so müsse sich auch der Mensch innerhalb der Weltharmonie in sein Optimum fügen: »Mehr als optimal leben, kann auch der

112 Francé 1926, S. 70. Vgl. ebd., S. 31: »Wunderbar eingerichtet ist dieser Kosmos mit seinem so prachtvoll funktionierenden System der steten Ausgleichsvorgänge, die ihn im Sein erhalten als ein ewig wechselndes und doch beständiges Bild der erstaunlichsten Vorgänge.« 113 Francé 1920, S. 13. 114 Ebd., S. 68. 115 Francé 1925, S. 118.

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Mensch nicht!«116 Schließlich bezeichnete Francé die »optimale Form« noch als »Wesensform« und als »Identitätsform«117 , die alle auf das gleiche hinausliefen: »Mit anderen Worten, da der Satz gar so wichtig ist; es gibt für jedes Ding, sei das nun eine Sache oder ein Gedanke, gesetzmäßig nur eine Form, die allein dem Wesen des Dinges entspricht und die, wenn sie geändert wird, nicht den Ruhezustand, sondern Prozesse auslöst [...] bis wieder die optimale, die essentielle Ruheform erreicht ist, in der Form und Wesen wieder eins sind.«118

Wenn sich die Funktion änderte, dann auch die Form. »Der Lebensprozeß selbst ist ein fortgesetztes Schaffen von Formen für die stete Variation der Funktion, also eine Kette von Techniken.« Damit stellte Francé eine eindeutige »Zusammenhangslehre zwischen Form und Funktion«119 auf, sowohl für Lebewesen als auch für alle anderen Dinge: »Formbildung ist immer nur ein Ausdruck des Geschehens [...] weshalb jeder Wechsel der Funktion einen Wechsel der Form [...] nach sich zieht.«120 In einem weiteren Schritt führte Francé alle Formen auf sieben Grundformen zurück, auf die sich dann auch mehrere Architekten bezogen: Kristall, Kugel, Fläche, Stab und Band, Schraube und Kegel. Er erklärte anhand verschiedener Beispiele den Zusammenhang dieser Formen mit ihren Funktionen. So war das Band »die optimale technische Form des Zuges«, der Stab hat »Stützfunktionen« und alles, »was bohren, durch etwas dringen soll, muß die Form der Schraube haben«121 . Ein weiteres Prinzip, auf das viele Architekten Bezug nahmen, war das »Gesetz des kleinsten Kraftmaßes«. Francé führte dieses Gesetz bis auf Leibniz zurück. Aus der Allgemeingültigkeit dieses Gesetzes folgerte er: »Die Gesetze des geringsten Widerstandes und der Ökonomie der Leistung erzwingen es, daß gleiche Tätigkeiten stets zu den gleichen Formen führen«122. Für die Architektur und die Künste stellte er entsetzt fest, wie weit sie »von diesem Ideal des kleinsten Kraftmaßes, das doch in jedem Naturgegenstand verwirklicht ist, entfernt sind!«123

116 Francé 1922, S. 70. 117 Francé 1920, S. 72; Francé 1925, S. 45, 118. 118 Francé 1920, S. 12. 119 Francé 1925, S. 73; ebd., S. 64-6: »Selbstverständlich ist diese Zusammenhangslehre zwischen Form und Funktion ebenso gut gültig, ob dieser Zusammenhang nun innerhalb eines lebenden Wesens oder außerhalb desselben besteht.« 120 Ebd., S. 78. 121 Francé 1920, S. 17. 122 Ebd., S. 25. 123 Francé 1925, S. 213-4.

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Schließlich sei noch auf die Abgrenzung des Zweck- vom Funktionsbegriff bei Francé verwiesen. Der Zweckgedanke führte bei Francé direkt zur Frage nach der Zweckgerichtetheit der Natur und der Begründung des Seins. Er stellte klar, dass diese Fragen von den Wissenschaften nicht beantwortet werden können. Die Welt müsse als eine Ganzheit betrachtet werden, und nur innerhalb dieser könne man eine »Teleologie des Weltgeschehens«124 denken, in der Leben »keinen anderen Zweck als das Leben«125 habe. Leben sei gleichzusetzen mit Harmonie und somit sei die Harmonie der Teile und des Ganzen »gewissermaßen der Sinn der Welt, der Endzweck des Weltprozesses [...], um dadurch ihre Dauer zu erreichen«126. Die Natur folge also dem Endzweck der Weltharmonie, die Technik der Menschen dagegen folge den Zielen, die die Menschen setzen und sei deshalb nur »ein Diener des Lebens«127. Geht man nun zu dem Architekturdiskurs zurück, kann man zunächst ganz allgemein feststellen, dass sich Francés Auffassung der Einordnung des Individuums als Teil eines großen Ganzen mit der Grundeinstellung vieler moderner Architekten deckte. Sie zeigte sich zum Beispiel bei Gropius, der 1923 »Gedanken an eine neue Welteinheit, die den absoluten Ausgleich aller gegensätzlichen Spannungen in sich birgt«, aufdämmern sah. »Diese neuaufdämmernde Erkenntnis der Einheit aller Dinge und Erscheinungen bringt aller menschlichen Gestaltungsarbeit einen gemeinsamen, tief in uns selbst ruhenden Sinn.«128 Auch lassen viele Passagen in Meyers Aufsätzen auf einen starken Einfluss von Francés Schriften schließen. Zum Beispiel ließe sich Meyers oft wiederholte Betonung einer Weltharmonie durch Francé erklären. 1929 kulminierte diese Betonung der Weltharmonie in folgenden Sätzen: »alles leben ist drang zur harmonie. wachsen heißt das streben nach harmonischem genuß von sauerstoff + kohlenstoff + zucker + stärke + eiweiß. arbeiten heißt unser suchen nach der harmonischen daseinsform. [...] so ist das endziel aller bauhausarbeit die zusammenfassung aller lebensbildenden kräfte

124 Ebd., S. 69. 125 Francé 1919, S. 11. 126 Francé 1925, S. 235. 127 Francé 1920, S. 69, 70. 128 Gropius 1988, S. 83.

158 | F UNKTIONEN UND F ORMEN zur harmonischen ausgestaltung unserer gesellschaft. als bauhäusler sind wir suchende: wir suchen das harmonische werk«129

Francés Gesetz des geringsten Widerstands, sein Ökonomiegesetz, das Gesetz des Optimums und das Funktionsgesetz tauchten alle in Meyers berühmtem Credo auf: »unter ›ARCHITEKTUR‹ verstehe ich die kollektivistische oder unter ausschluß des persönlichen erfolgende deckung aller lebensbedürfnisse; deren realisierungen unterliegen dem gesetz des geringsten widerstandes und der ökonomie; deren ziel muß es sein, das optimum an funktion zu erreichen.«130

Man kann behaupten, dass Meyers Formel »(funktion mal ökonomie)«131 beeinflusst war von Francés Ökonomie- und Funktionsgesetzen. Diesen beiden schien Meyer gegenüber den anderen Gesetzen Francés eine Vorrangstellung einzuräumen, denn mehrfach führte er, wie viele andere Avantgardisten auch, »das funktionelle diagramm und das ökonomische programm« als »die ausschlaggebenden richtlinien«132 an. Vergleichend kann man feststellen, dass auch Francé diesen beiden Gesetzen eine vorrangige Bedeutung beimaß. Nicht zuletzt könnte man auch Meyers Verschiebung der Aussage von »Zweck ist Funktion« (1926) zu »Leben ist Funktion« (1928) begründen mit Francés Feststellung, »Leben hat keinen anderen Zweck als das Leben«133. Francé verstand Funktion als Prozess des Lebens und konstatierte: »jeder Prozeß ist ein biotechnischer Vorgang«134 – und damit war er nicht weit von Meyers Formulierung »bauen ist ein biologischer vorgang« entfernt135. Und auch Meyers Beschreibung des Bauens als »gestaltung des lebensprozesses«136 klang nach Francé: »So hat auch das Leben seine Lebensform. Jeder seiner Funktionen entspricht eine bestimmte Gestaltung.«137 Mit dem Funktionsbegriff einher ging ein großes Thema der Architekturdiskussion der 1920er Jahre: die Selbstgenerierung der Form. Wie schon an vielen

129 Meyer 1929, S. 2. 130 Meyer 1980, S. 14. 131 Meyer 1928c, S. 12. 132 Ebd., S. 13. 133 Francé 1919, S. 11. 134 Francé 1925, S. 69. 135 Meyer 1928c, S.12. 136 Meyer 1928a, S. 17, Meyer 1928c, S. 12. 137 Francé 1920, S. 13.

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Stellen in diesem Kapitel gesehen, war das Ideal, dass architektonische Form nach innerem Gesetz quasi von selbst entstehen sollte. Es wird nicht verwundern, wenn man diese Auffassung auch bei Francé antrifft. Alle Dinge der Natur seien grundsätzlich ausgestattet mit einer »technischen Form [...], die sich zwangmäßig durch das Geschehen selber schafft«138. In der sogenannten »Nasci-Nummer« der Zeitschrift Merz, die von El Lissitzky und Kurt Schwitters 1924 herausgegeben wurde, stand das Thema der Selbstgenerierung der (Natur-)Form im Vordergrund. Schon auf der Titelseite formulierte Lissitzky das Ideal, dass ein Ding »sich aus sich selbst durch eigene Kraft entwickelt gestaltet und bewegt«. Lissitzky widmete dann eine ganze Seite den sieben »grundlegenden technischen Formen der ganzen Welt«: Kristall, Kugel, Fläche, Stab, Band, Schraube, Kegel, die natürlich auf Francé zurückzuführen sind. Diese sieben Formen waren bei den Avantgardearchitekten vor allem deswegen so beliebt, weil sie technisch begründet waren und man mit ihnen dem Vorwurf einer formalistischen oder stilistischen Herangehensweise im Entwurf zu entgehen glaubte. Sie waren funktionsbegründete Formen. Nur eine der genannten Formen passte zu einer gegebenen Funktion optimal, so die Theorie. Auch Moholy-Nagy war genau aus diesem Grund an Francés technischen Formen interessiert. Sie trügen ihre Begründung in sich und dies ergäbe, so Moholy-Nagy, »zugleich einen neuen schönheitsbegriff«139 . In seinem Buch von material zu architektur zitierte er Francé: »jeder vorgang hat seine notwendige technische form. die technischen formen entstehen immer als funktionsform durch prozesse. sie folgen dem gesetz des kürzesten ablaufs: kühlung erfolgt nur an auskühlenden flächen, druck nur an druckpunkten, zug an zuglinien; bewegung schafft sich bewegungsformen, jede energie ihre energieform. es gibt keine form der technik, welche nicht aus den formen der natur ableitbar wäre.«140

Ein weiterer Kandidat, der auf sein Funktionsverständnis untersucht werden kann, ist Henry Ford (1863-1947). Sehr viele Architekten und Architekturtheoretiker nahmen ab etwa 1924 auf ihn Bezug, neben Hannes Meyer zum Beispiel Ludwig Mies van der Rohe, Hugo Häring, Erich Mendelsohn, Adolf Behne, Ludwig Hilberseimer, Walter Gropius, Sigfried Giedion, J.J.P. Oud, Bruno Taut, Le Corbusier, die Gruppe ABC, El Lissitzky bis hin zur russischen Avantgarde. Fords Buch Mein Leben und Werk, 1922 veröffentlicht, wurde 1923 ins Deutsche übersetzt und erreichte schnell hohe Auflagezahlen. Neben Autobiographischem ging es darin um die Entwicklungsmöglichkeiten der Industrialisierung, Rationalisierung

138 Ebd., S. 56. 139 Moholy-Nagy 1929, S. 149. 140 Ebd., S. 60. Aus Francé 1920, S. 13, 20, 25.

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und Typisierung der Automobilproduktion sowie die Deckung des Massenbedarfs durch Massenproduktion. Diese Themen wurden auf vielfältige Weise in die Architekturdiskussion hineingetragen, sei es bezogen auf den Massenbedarf im Wohnungsbau, auf maschinelle Herstellungstechniken am Bau, auf den zum Konsumenten gewandelten Bewohner und schließlich auf den Architekten als Konstrukteur und Erfinder von Produkten und Herstellungsverfahren. Vergleiche zwischen Typenwohnungen und Autotypen wurden gezogen und vom »Wohnford«141 gesprochen. Darüber hinaus verband sich mit Ford eine ganze Reihe von Themen der 1920er Jahre, wie zum Beispiel die Maschinenbegeisterung, das Verhältnis von Mensch und Maschine, der Vorrang der Zweckmäßigkeit gegenüber der Schönheit oder die Vermeidung des Überflüssigen. Insbesondere war Fords Analyse, Gestaltung und Optimierung des Fertigungsprozesses in kleinen Arbeitsschritten (»Taylorsystem«) von großem architektonischem Interesse und wurde auf die Optimierung der architektonischen Planungsprozesse zu übertragen versucht. Derjenige, der diese Prozesse analysierte und gestaltete, war sowohl bei Ford wie auch bei vielen Architekten der »Erfinder«. Ford stellte fest, dass die Mehrzahl der Arbeiter ungelernt sein könne, dass es aber Erfinder brauche, die neue Ideen entwickelten und ausarbeiteten. Diese Art des Zusammenarbeitens schwebte auch Architekten vor, nicht zuletzt Meyer, der Bauen als »gemeinschaftsarbeit von werktätigen mit erfindern«142 definierte. Fords Maxime war die Herstellung des bestmöglichen Produkts mit dem geringsten Aufwand. Diese Maxime verweigerte sich einer Diskussion des Zusammenhangs von Zweckmäßigkeit und Schönheit sowie jeder Frage eines formalen Stils. Ist ein Produkt, so Ford, »in irgendeinem Punkte mangelhaft, so ist sofort die strengste Untersuchung einzuleiten; bezieht der Wink sich jedoch auf etwas Äußerliches, auf Stil oder Typ, so gilt es, sich vorerst zu vergewissern, ob es sich nicht nur um eine persönliche Laune handelt«143. Mit solchen Statements kam er parallelen Architektenformulierungen der Stil- und Kunstverweigerung sehr nah, ebenso wie der damit einhergehenden Forderungen der »Eliminierung alles Überflüssigen«: »Man nehme einen passenden, bewährten Artikel und suche dann alles Überflüssige zu eliminieren. Das gilt vor allem – von Schuhen, Kleidern, Häusern, Maschinen, Eisenbahnen, Dampfschiffen, Flugzeugen. Indem wir die überflüssigen Teile abbauen und die notwendigen vereinfachen, bauen wir zugleich die Herstellungskosten ab. Das ist einfache Logik.«144

141 Vgl. Hannemann 2000, S. 37-46. 142 Meyer 1928c, S. 13. 143 Ford 1923, S. 83. 144 Ebd., S. 16.

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Dieses Zitat klingt wie eine Handlungsanweisung für architektonisches Entwerfen oder Gestalten der Moderne. Das Bauhaus beschäftigte sich intensiv mit dem Thema der Arbeitstechniken, wie die zahlreichen Gastvorträge zu diesem Thema zeigen. Die Forderung nach Eliminierung des Überflüssigen hatte sein architektonisches Äquivalent in der Diskussion um das Eliminieren des Ornaments. Ford selbst klassifizierte diese Herangehensweise an die Produktentwicklung als »industrielle Methode«. Er trat aber auch direkt an die Künstler heran, indem er forderte, dass die »schöpferischen Menschen« sich von den Künsten abwendeten und in die Produktion gingen: »Wer sich jedoch in Wahrheit schöpferisch betätigen will, der wage sich auf ein Gebiet, wo höhere Gesetze walten als die des Tons, der Linie und der Farbe [...]. Wir brauchen Künstler, die die Kunst industrieller Beziehungen beherrschen. Wir brauchen Meister der industriellen Methode [...]. Wir brauchen Menschen, die die formlose Masse in politischer, sozialer, industrieller und ethischer Hinsicht zu einem gesunden, wohlgebildeten Ganzen umzuformen vermögen.«145

Adolf Behne zitierte diesen Absatz in seinem Buch Der moderne Zweckbau146. Es spiegelte sich darin der Wunsch nach der Verbindung des Alltags mit der Kunst und zwar in beide Richtungen, sowohl Kunst in den Lebensalltag der Menschen als auch deren Alltag in die Kunst zu bringen. Es spiegelte sich darin auch die Auffassung der Welt als einer beherrschbaren Totalität. Menschen waren bei Ford Masse, und diese müsse von wenigen geführt werden, und zwar »in politischer, sozialer, industrieller und ethischer Hinsicht«, also total. Diese Forderung fiel in Deutschland und Europa auf einen fruchtbaren Boden, der vorbereitet war durch Theoretiker wie Max Weber oder Paul Natorp, die ein Aufgeben der individuellen Eigeninteressen sowohl der Unternehmer als auch der Arbeitnehmer zugunsten eines gemeinsamen Werks forderten. Abgesehen aber von diesen weitreichenden Bezügen war Fords Verwendung des Worts Funktion nicht besonders ausgeprägt und bezog sich weitestgehend auf das Funktionieren von Maschinen. Allein schon, dass eine Maschine funktionierte – im Gegensatz zur Frage, wozu sie funktionierte – erweckte Begeisterung und Stolz des Konstrukteurs. Maschinen hatten insofern bei Ford ein gewisses Eigenleben, sie wurden personifiziert. So sei eine Gasmaschine »ein geheimnisvolles Ding – sie geht nicht immer wie sie soll. Man stelle sich vor, wie diese ersten sich benahmen«147 . Im Vergleich mit der Architektur war der wichtigste Punkt den

145 Ebd., S. 121. 146 Behne 1926, S. 26. Zur Beziehung Behne-Ford vgl. Behne (Bletter) 1996, S. 41. 147 Ford 1923, S. 34.

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Funktionsbegriff betreffend sicher die Assoziation von Maschine und Funktionieren, wie sie insbesondere bei der Schweizer Gruppe ABC vorkam. Während Ford sich damit als wenig ergiebig für den Funktionsbegriff herausstellte, ist ein anderer Unternehmer und Erfinder, nämlich Konrad von Meyenburg (1870-1958), in vielerlei Hinsicht interessant, nicht zuletzt als ein wesentlicher Schlüssel zum Verständnis von Meyers Gedankengebäude. Im Artikel Die Neue Welt 1926 bildete Meyer eine »Meyenburg-Bodenfräse« ab und zwar neben Bauten und Bildern von Oud, Le Corbusier, Mies, Mondrian und Lissitzky. Diese Zusammenstellung erinnerte an Le Corbusiers Abbildung von Pantheon und DelageSportwagen in Vers une Architecture (1922/23). In zahlreichen Artikeln wies Meyer auf Meyenburg hin148, der für ihn den modernen, technikbejahenden Menschen und den erfolgreichen Erfinder zu verkörpern schien. In der Tat war Meyenburg eine besondere Persönlichkeit. 1911 gründete er seine Firma Motorcultur AG und entwickelte hauptsächlich technische Geräte für die Landwirtschaft, die von großen Firmen wie Siemens produziert wurden. Mit seinen Erfindungen und zahlreichen Publikationen trug er wesentlich zur Industrialisierung der Landwirtschaft bei. Darüber hinaus setzte sich Meyenburg auch intensiv mit avantgardistischer Architektur auseinander. Über private Verbindungen, Genossenschaftswesen, Schweizer Konsumverein, Gartenstadttheorien und dem praktischen Bauen selbst gab es vielfältige Anknüpfungspunkte zwischen Meyer und Meyenburg, die sich stetig intensivierten. Meyenburg schrieb einen Artikel über Meyers Siedlung Freidorf und rezensierte den Wettbewerbsbeitrag von Meyer/Wittwer zum Völkerbundpalast. In der Zeitschrift bauhaus 1927 erschien sein Artikel kultur von pflanzen, tieren, menschen. 1929 hielt Meyenburg dann auch einen Vortrag am Bauhaus über »Grundlagen der Arbeit und Arbeitsforschung« und nahm 1930 sogar Stellung zu Meyers Entlassung. Meyenburg entwickelte seine eigene, spezielle Interpretation des Funktionsbegriffs, die sich, entsprechend seines Berufs als Landwirtschaftsingenieur, sowohl aus der Technik als auch der Biologie speiste. Meyenburg definierte Funktion als Leben und Vorgang und lag damit näher an Raoul Francé, der ebenfalls alles Geschehen als Funktion auffasste, als an Henry Ford, mit dem er aber die Bemühung, die Landwirtschaft zu industrialisieren, teilte. Francé und Meyenburg versuchten, eine Analogie zwischen Natur und Technik herzustellen. Meyenburgs Funktionsbegriff stellte sich in dem Artikel kultur von pflanzen, tieren, menschen folgendermaßen dar:

148 Meyer 1925a, S. 50; Meyer 1928a, S.15; Meyer 1980, S. 69; Kieren 1990, S. 30.

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»leben ist arbeit, transport, bauen, geschehen, vorgang, kurz funktion. [...] leben ist analyse und synthese, ist arbeitstechnik; also transport und werkzeugbau dafür.«149

Ein Vergleich zeigt, dass Meyer davon deutlich beeinflusst war, als er 1928 schrieb: »so ist leben: umändern, umstellen, umstürzen, umarbeiten, umbauen: funktion. so ist leben: werkzeugbau, materialtransport, arbeitstechnik: funktion.«150

Man kann hier eine geschichtliche Kette aufstellen, die zeigt, wie Meyers Funktionsverständnis sich im Lauf der 1920er Jahre veränderte. Zunächst schrieb Meyer 1926 in Die neue Welt seinen Satz »Zweck ist Funktion«, worauf Meyenburgs Formulierung »leben ist [...] funktion« im September 1926 (Fortschritte der Landwirtschaft) und Oktober 1927 (bauhaus) folgte. Darauf erschien 1928 Meyers Aufsatz in Kritisk Revue mit dem Satz »so ist leben [...]: funktion«. Und schlussendlich änderte Meyer 1928 in bauen den Satz »Zweck ist Funktion« um in »leben ist funktion«. Bezogen auf die beiden in großen Teilen ähnlichen Texte Die neue Welt 1926 und bauen 1928 ergibt sich hier eine plausible Herleitung von Meyers Änderung des Satzes »Zweck ist Funktion« zu »Leben ist Funktion« durch den Einfluss Meyenburgs. Funktion war in Meyenburgs Bauhaus-Aufsatz in verschiedenen Punkten ein zentraler Begriff. So leitete er mit der Feststellung, der Forscher stünde vor einer »täglich komplexer, funktionell verwobener und feiner konstruiert erscheinenden natur«151 seinen Aufsatz ein. Er stellte fest, dass der Mensch »recht schwache sinne und instrumente hat für die struktur der gebilde«, aber schlimmer noch hätte er »ganz miserable sinne für deren funktionen«152. Dieser »Funktionssinn«, also ein Sinn zur Wahrnehmung von Vorgängen, sei beim Menschen nur schwach entwickelt, er »schlief ein im schatten des geschärften tast- und sehsinnes«153 . Mit den Sinnen könne man zwar konkrete Dinge, also Funktionsträger wahrnehmen, jedoch nicht oder zu wenig die Funktionen selbst. Dieser Sinn zur Wahrnehmung von Vorgängen in Gebilden müsse wieder geschärft werden. Zwei Pioniere des Funktionssinns stünden hier als Vorbilder bereit: »zwei genies des funktionssinnes, der arbeiter taylor und der bauernsohn ford, zeigten uns drastisch die triumfe klareren, vereinfachten, erleichterten, beschleunigten und gesicherten

149 Meyenburg 1927b, S. 4-5. 150 Meyer 1928a, S. 16. 151 Meyenburg 1927b, S. 1. 152 Ebd., S. 3. 153 Ebd., S. 4.

164 | F UNKTIONEN UND F ORMEN transportes. [...] diese beiden ingenieure machten namentlich bewegungsstudien an kleinsten wie größten vorgängen. [...] dabei trieb taylor vor allem analyse, ford namentlich synthese. dort zerspanung, hier montage.«154

Das Aktivische im Funktionsbegriff trat bei Meyenburg somit eindeutig in den Vordergrund. Unter Funktion verstand er »kleinste und größte Vorgänge«. Diese hatten mit Transport zu tun, zum Beispiel der chemischen Elemente C, O, H, N: »kohlenstoff, sauerstoff, wasserstoff und stickstoff. aus C, O, H, N erbaut sich das leben mit sonnenkraft [...] die uns noch reichlich unverständlichen grünen apparate auf, zum suchen, wählen, raffen, sondern, speichern, aufbauen, ausgeben von C, O, H, N, die pflanzen.«155

Diese Aufzählung der chemischen Elemente schien Meyer ganz besonders zu beeindrucken, denn er wiederholte sie mehrfach in Architekturzeitschriften in seiner ihm eigenen Mischung aus populärwissenschaftlichem Interesse und Poetik. Dabei führte diese Formulierung zu einer gehässigen Anekdote innerhalb der Architektenavantgarde, die etwas von dem Verhältnis zwischen Meyer und Gropius preisgibt. Meyer formulierte zunächst: »jede form ist erstarrter geist. jedes zeitalter will die ureigenste form. unsre aufgabe ist, die neue welt mit den heutigen mitteln neu zu gestalten. diese neugestaltung ist unsere kontinuierliche & biologische bestimmung. (neben der lebensjagd nach sauerstoff + kohlenstoff + zucker + stärke + eiweiss.)«156

worauf Gropius 1965 die Gelegenheit wahrnahm, Meyer damit zu kompromittieren: »Seine Strategie und Taktik waren zu klein; er war ein radikaler Kleinbürger. Seine Philosophie gipfelte in der Behauptung: ›Leben sei Sauerstoff plus Kohlenstoff plus Zucker plus Stärke plus Eiweiss‹, worauf Mies ihm prompt antwortete: ›Rühren Sie das mal zusammen; es stinkt.‹«157

Wie sehr sich Meyenburg mit einem auf die Architektur übertragbaren Funktionsbegriff auseinandersetzte, zeigte sein Artikel über Meyers und Wittwers Wettbewerbsbeitrag für den Völkerbundpalast 1927. Darin lehnte sich Meyenburg zwar über weite Strecken an Meyers und Wittwers eigenen Erläuterungen ihres Projekts

154 Ebd. 155 Ebd., S. 3. 156 Meyer 1928a, S. 16. Siehe auch Meyer 1929, S. 2; Meyer 1980, S. 68. 157 Zitat in Schnaidt 1965, S. 122.

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an, aber er entwickelte auch eine biologisch-funktionelle Analogie, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht in jenen Erläuterungen zu finden war. Er nannte das Projekt sogar »funktionelle Architektur [architecture fonctionnelle]«, da es mit neuen Formen und Materialien »die lebendige Funktion [...] des neuen Geists«158 des Völkerbunds ausdrückte. Als ein letztes Beispiel für die offenkundige Tatsache, dass Mitte der 1920er Jahre Funktion bereits zum Modewort in breiten Bevölkerungsschichten avanciert war, werfen wir einen Blick auf das »funktionelle turnen der mensendieck«, das Meyer in Aufsätzen von 1926 und 1928 erwähnte159 . Bess Mensendieck (18641958) wurde mit ihrem 1906 erschienenen Buch Körperkultur der Frau berühmt, dessen Erfolg als ein Beispiel für die neu erwachte Körperlichkeit gelten kann, zu der auch Gret Paluccas Tänze und Rudolf von Labans Bewegungschöre gehörten. 1923 veröffentlichte sie Funktionelles Frauenturnen, in dem sie ihr »MensendieckSystem«160 vorstellte, das ein »Mittel zu allgemeiner Körpererziehung für das Alltagsleben« sein sollte, und zwar nicht durch Sport oder Tanz, sondern mittels der Alltagsbewegungen, also denjenigen »Bewegungen, die zum Unterhalt der Lebensfunktionen und Lebensverrichtungen dienen«161. In diesem popularistischen Gymnastikberater bezeichnete »funktionelles Turnen« das Trainieren und Aufrechterhalten von Muskelfunktionen mit dem Ziel, Muskelgruppen »zu Funktionsbereitschaft zu animieren«162 . Mensendieck ging es um das Verständnis des Zusammenspiels aller Muskeln im Körper, denn die Tätigkeit eines Muskels wirkte sich auf die richtige Haltung aus, diese wiederum auf die richtige Organtätigkeit und letztlich auf die gesamte Gesundheit. »Muskelfunktion« bedeutete das »von der Natur jedem Muskel zugedachte Amt, das Geschäft, das er an der gegenseitigen Stellung der Knochen zu verrichten hat«. Dabei diente die Funktion der Form, denn »die Funktion ist dazu da, daß durch ihre Erfüllung das von der Natur gespendete Relief erhalten bleibt«163. Dazu war Training erforderlich, denn auch »Muskelbeamte« neigten dazu, sich um ihre »Funktionspflicht« zu drücken164 . Ein Vergleich mit Architektur sollte nicht weiter gehen, als die Feststellung, dass die Popularität des »Funktionellen Turnens« dazu führte, dass Meyer es in seinen Aufzählungen über Populärkultur aufnahm. Heute würde man wohl Modewörter wie »Funktionskosmetik«, »Funktionswäsche« oder »Functional Food« auf-

158 Meyenburg 1927a, S. 223 (frz.). 159 Meyer 1926a, S. 221; Meyer 1928a, S. 15. 160 Mensendieck 1923, S. 23. 161 Ebd., S. 4. 162 Ebd., S. 119. 163 Ebd., S. 41, 63. 164 Ebd., S. 39-40.

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nehmen. Interessant an Mensendiecks Buch war das Datum des Erscheinens: 1923. Verglichen mit der Verwendung des Funktionsbegriffs in der Architektur ab 1922/1923 zeigt es, dass seine Popularisierung in der Alltagskultur mindestens zeitgleich fortgeschritten war. Daneben bediente sich Mensendiek auch populärer Aussagen über die Maschine, den Organismus und Analyse-Synthese-Prozesse. Insgesamt war Mensendieck noch radikaler in ihren mechanistischen Bemerkungen als man dies bei Architekten antreffen konnte: »Weil der menschliche Körper gebaut ist wie eine Maschine, bedarf er zu seiner Instandhaltung der Genauigkeit, mit welcher Maschinen behandelt werden.«165 Wie sehr einige architektonische Formeln zeitgenössische Phrasen waren, die sich nicht nur auf Architektur beschränkten, zeigt zum Beispiel ihre Feststellung: »Die Form eines jeden Körpers ist das Resultat seiner Alltagsbewegungen.«166 Im Vergleich war bei Mies van der Rohe die architektonische »Form [...] Resultat unserer Arbeit«, bei Lissitzky bildete sich »die Form als Resultat der Aufgabe«, und bei Le Corbusier stand die »endgültige Form [...] am Ende, ist Resultat«167.

S CHLUSSFOLGERUNGEN In den vorgestellten Ansätzen der unterschiedlichen Architekten und Architektengruppen lassen sich einige durchgehende Überlegungen zum Funktionsbegriff der 1920er Jahre zusammenfassen. Dabei interessiert hier vor allem, wie sich die drei Charakteristika des Funktionsbegriffs – Teilerelation, Ganzheitsbezug und innere Aktivität – im Vergleich zum vorhergehenden Kapitel verändert haben. Zunächst kann man die Frage stellen, ob in den 1920er Jahren der Funktionsbegriff den Zweckbegriff wirklich abgelöst hat und also Funktion und Zweck synonym gesetzt werden können, wie einige Theoretiker in den letzten Jahren behauptet haben168 . Diese Frage muss man verneinen. Zwar nahm die Verwendung des Funktionsbegriffs in den 1920er Jahren in beträchtlichem Maß zu, aber parallel dazu blieb auch der Zweckbegriff erhalten, und beide wurden oft in der gleichen Phrase oder im gleichen Satz gebraucht. In den Begriffen von Zweck und Funktion lagen mindestens noch bis Mitte der 1920er Jahre – vielleicht mit Ausnahme von Behnes Auffassung – unterschiedliche Konzepte vor. Zweckform bezog sich auf den zu erfüllenden Zweck, die funktionale Form auf die optimale Zusammensetzung der Teile als Funktionsträger einer Gesamtheit. Inwieweit beide in erklären-

165 Ebd., S. 94. 166 Ebd., S. 11. 167 Mies van der Rohe 1923, S. 1; Le Corbusier 1963, S. 108; Lissitzky 1924, S. 4. 168 Z.B. Hirdina 2001, S. 596-8; Dorschel 2002, S. 7.

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der Beziehung zueinander standen, kann man nicht eindeutig sagen, da die jeweiligen Autoren sie nicht einzeln definiert oder definitorisch voneinander abgegrenzt haben. Nimmt man als Beispiel die Zeitschrift ABC, so hatten zumindest in den Heften von 1924 und 1925 alle Verwendungen von Funktion keine Bedeutung von Zweck. Die änderte sich allerdings in den späteren Jahren, in denen die Trennung der Begriffe zunehmend unklarer wurde. So konnten zum Beispiel die Forderungen »Funktion mal Ökonomie« einerseits und »Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit« andererseits nicht mehr klar voneinander abgegrenzt werden. Dies wurde schon Ende der zwanziger Jahre von Zeitgenossen beklagt, zum Beispiel von Naum Gabo 1928: »worte wie ›gestaltung‹, ›ökonomie‹, ›zweckmäßigkeit‹ und ›sachlichkeit‹ fehlen heutzutage in keiner modernen zeitschrift, in keinem artikel, in dem es sich um das neue in der kunst handelt. man gibt sich keine mühe, diese worte auf ihren inhalt zu prüfen oder diesen inhalt in bestimmtem sinne zu präzisieren.«169

Eine Unterscheidung der Begriffe Zweck und Funktion, auch wenn sie im gleichen oder in aufeinanderfolgenden Sätzen gleichzeitig gebraucht wurden, wurde nun zunehmend schwieriger oder gar unmöglich – so zum Beispiel in der Beschreibung eines Produkts, »das eine ökonomische, zweckmässige Form trägt, die im Grunde durch seine Funktionen gegeben ist.«170 Oder wie in der Forderung Stams: »was wir brauchen ist, daß alles klappt, daß jede funktion aufgeht, jedes bedürfnis erfüllt wird. was tun? wie sollen wir arbeiten? wir müssen bei jeder aufgabe bewußt vom zweckmäßigen ausgehen und sämtliche technischen faktoren in erwägung ziehen.«171

So ist es zwar offensichtlich, dass das Wort Funktion immer häufiger auftauchte, jedoch nicht, dass Zweck deswegen in gleichem Maße verschwand. Der immer noch tendenziell vorhandene Bedeutungsunterschied mag seinen Anteil daran gehabt haben. Im architektonischen Funktionsbegriff überlagerten sich zwei drängende Fragen, die im Grundsatz schon um 1900 heftig diskutiert wurden und letztlich beide daraus hervorgingen, dass Architekten Auswege aus dem Historismus suchten. Nur die erste Frage bezog sich auf Zweckmäßigkeit, die zweite auf Gestaltung. Man kann dies kurz an der Diskussion im Werkbund verdeutlichen.

169 Gabo 1928, S. 2. 170 ABC 1926, H. 3, S. 7. 171 Stam 1928, S. 16.

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Bereits im Werkbund wurden historistische Formanleihen im Kunstgewerbe und in der Architektur heftig kritisiert und als Heilmittel eine Formgebung mit strenger Bezugnahme auf Zwecke, Materialien und Konstruktionen dagegengesetzt. Es sei der »Hauptinhalt des modernen Kunstgewerbes, sich den Zweck eines jeden Gegenstandes zunächst einmal recht deutlich klarzumachen und die Form logisch aus dem Zweck zu entwickeln«, schrieb Muthesius 1907. Nur diese Vorgehensweise könne verhindern, »in historische Sentimentalität und damit in Unsachlichkeit zu verfallen«172. Um 1911/12 änderte Muthesius seine Meinung und schrieb, »wichtiger als das Materielle ist das Geistige, höher als Zweck, Material und Technik steht die Form«173. Und noch zwei Jahre später folgte die radikalisierte Bemerkung, die »so oft gehörte Behauptung, die neuere Kunstauffassung gestalte lediglich nach dem Zwecke, dem Material und der Konstruktion, muß ausdrücklich bekämpft und als dem Ziele des Werkbundes fremd, ja widersprechend bezeichnet werden«174 . Man sieht hier sehr gut, wie im Werkbund innerhalb eines Jahrzehnts das Verhältnis von Zweck und Form auf die unterschiedlichsten Arten durchdekliniert wurde. Die zweite Herangehensweise an das Historismusproblem kam nicht aus der Zweckdiskussion, sondern lag in der gestalterischen Einheit von Teil und Ganzem. Diskutiert wurde hier die Einbindung des einzelnen Gegenstands in die Raumausstattung und diese in die Architektur, also die Entwicklung hin zur allumfassenden Gestaltung: »Die neue Bewegung ging in instinktivem Drange auf ein zusammenfassendes Ganzes los: das Zimmer. [...] Ein Stuhl als solcher war jetzt nichts mehr, er gehöre denn zu einer Zimmereinrichtung, eine Füllung an sich kein Gegenstand nennenswerten Interesses, eine Deckenmalerei nur insofern berechtigt, als sie als Teil eines Innenraumes auftrat, der im einheitlichen Sinne entworfen war. Dieser Schritt wurde von ungeheurer Wichtigkeit.«175

Diese Diskussion betraf also die gestalterische Einordnung von Teilen in größere Ganzheiten. Sie stand damit in einem gewissen Konflikt mit dem ersten Thema der Zweckgerichtetheit. Denn es sind einfach zwei grundsätzlich verschiedene Sichtweisen, ob ein Stuhl hinsichtlich seines Zwecks als Sitzgelegenheit entworfen wird, oder ob dieser Stuhl sich der Gestaltung einer Zimmereinrichtung zu unterwerfen hat. Beide Themen aber sind im Funktionsbegriff vereint. Daher kann man den Werkbunddiskurs – also die Zweckdiskussion einerseits und der »Drange auf ein

172 Muthesius 1907, S. 180-1. 173 Muthesius 1912, S. 19. 174 Muthesius 1914, Zitat in Claussen 1986, S. 137. 175 Muthesius 1905, S. 230.

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zusammenfassendes Ganzes« andererseits – als gemeinsame Vorgeschichte zum Funktionsbegriff verstehen. Die Forderung nach einer Gestaltung gemäß den Funktionen der Teile erscheint vor diesem Hintergrund wie eine neue verbindende und erweiternde Variante dieser Diskussion. Wir sind in diesem Kapitel auch dem Aspekt des Aktivischen immer wieder begegnet, sei es in den Naturprozessen oder der Maschinenanalogie oder grundsätzlicher in der soziologischen, biologischen oder kulturellen Interpretation des »Lebens« bei Meyer oder Gropius. Man kann behaupten, dass der Aspekt des Aktivischen noch in den gesamten 1920er Jahren klar erkennbar war und erst Anfang der 1930er Jahre zunehmend verschwand. Für Dorschel war dieses Aktivische, diese Prozesshaftigkeit der ausschlaggebende Grund für die Attraktivität des Funktionsbegriffs. Funktion stelle die Frage nach dem »Wie?« (wie funktioniert etwas) und dies sei für Gestalter ein wesentlich interessanteres Thema als die Frage nach dem »Was?« (zu welchem Zweck). Dorschel sah im Funktionsbegriff der 1920er Jahre eine bewusste Doppeldeutigkeit zwischen Prozess und Zweck. Der Begriff der Funktion, so folgerte er weiter, »ist aber nicht trotz dieser grundlegenden Doppeldeutigkeit prominent geworden, sondern gerade wegen derselben. Sie erlaubte nämlich, mit ein und demselben Etikett Funktionalismus die eine Bedeutung unauffällig durch die andere zu substituieren«176. Nach dem Gesagten erscheint also eine Umschreibung des Funktionsbegriffs nach den drei genannten Aspekten auch in der Moderne der 1920er Jahre noch möglich und fruchtbar. Gerade dort, wo Zweck und Funktion als Begriffe direkt aufeinandertrafen, schienen auch ihre Unterschiede auf, wenn man den Kontext der Zitate betrachtete, sei es in Gropius Definition, ein Ding solle »seinem Zweck vollendet dienen, d.h. seine Funktionen praktisch erfüllen«, Meyers »zweckmässigen Funktion eines Hauses« oder Mendelsohns »Zweckfunktion der Maschine«177. Der Funktionsbegriff beschrieb also auch noch in den 1920er Jahren – wenngleich nicht überall – eine Relation zwischen Objekten durch Vorgänge. Es wurde dabei immer noch von der Vorstellung ausgegangen, dass die Objekte als Teile zu betrachten waren, die eine gegenseitige Wirkung aufeinander ausübten, sowie auf ein übergeordnetes Ganzes, das wiederum in Wechselwirkung auf die Teile eine Wirkung ausübte. Andererseits ließ sich im Gegensatz zum Funktionsbegriff ein Zweckbegriff erkennen, bei dem sich ein Subjekt und ein Objekt, also ein zwecksetzender Wille und ein ihm zweckerfüllendes Beigestelltes als Mittel gegenübertreten. Gerade wenn man die Begriffe Zweck und Funktion derart unterscheidet, tritt die Konsequenz der Maschinenanalogie deutlich hervor. Denn in der Auseinander-

176 Dorschel 2002, S. 39. 177 Mendelsohn 1924, S. 4; ders. 1930, S. 31; Gropius 1925, S. 5; Meyer 1926a, S. 222.

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setzung mit der Maschine wird das Funktionieren einer Maschine zu einem Selbstzweck stilisiert, das den eigentlichen Zweck einer Maschine in seiner Bedeutung zurücktreten lässt. Das trifft auch und insbesondere dort zu, wo die Maschinenanalogie mit der Organismusanalogie in Zusammenhang steht. Denn Organismen oder »Organische Ganze« haben, anders als Maschinen, ohnehin eine selbstzweckliche Realität. Nichtsdestotrotz überlagerten sich beide Begriffe zunehmend. Wie besprochen wurde mit Behnes Umdeutung von Funktion in »werkzeughafte Funktion« die Abgrenzung der Begriffe problematisch, denn ein Werkzeug ist immer ein Mittel zum Zweck. Die weite Verbreitung dieser Umdeutung war folgenreich für das Funktionsverständnis des restlichen zwanzigsten Jahrhunderts. Die gesellschaftspolitische Situation, die den funktionalisierten Menschen als Masse gegenüber dem zwecksetzenden Menschen als Individuum bevorzugte, mag diese Umdeutung und Überlagerung der Begriffe Funktion und Zweck auch in der Architektur begünstigt haben. Die Entwicklung der Architektur, die geschichtlich vom einzelnen Wohnhaus ausging und nun im Massenwohnungsbau ihr neues Feld entdeckte, spiegelt die veränderte Auffassung wider. Spätestens in der Erklärung von La Sarraz, abgedruckt in bauhaus 1928, weitete sich der Funktionsbegriff auf die Städtebautheorie aus. Wir werden dies im nächsten Kapitel genauer analysieren. In gewisser Weise parallel und nur schwierig vereinbar mit dieser totalen Weltauffassung ist ein anderer Aspekt, der uns in den folgenden Kapiteln weiter beschäftigen wird, die Umdeutung des Funktionsbegriffs hin zu einer Optimierung eines einzelnen Dings oder Lebewesens – und weg vom Zusammenwirken zu größeren Einheiten. Behne hatte dies in seinem Der moderne Zweckbau 1926 besonders hervorgehoben, indem er Funktion als Individualisierung definierte. In den Entwürfen Meyers schienen einzelne Baukörper eher unabhängig nebeneinander zu stehen, als dass sie zu einem Gesamtbaukörper synthetisiert, zusammengefasst waren. Die Projekte zum Völkerbund und zur ADGB-Schule bestanden aus mehreren gruppierten Baukörpern. Und am Gemeinschaftshaus seiner Siedlung Freidorf bemerkte Meyer selbstkritisch, dass die vereinheitlichende Form dazu geführt hätte, dass die Funktionen nicht optimal erfüllt seien: Man »sollte eben so verschiedenartige Betriebe nicht unter einem Dach vereinigen, ohne daß man jeden Teil funktionell äußerlich auszeichnet«178 . Es ist diese Separierung von Teilen, die zum Hauptkritikpunkt des Funktionalismus wird, wie wir im nächsten Kapitel genauer sehen werden. Man schien dabei langsam zu vergessen, dass im Funktionsbegriff grundsätzlich ein Anspruch auf Komplexität enthalten war, dem weder einseitige Separierung noch einseitige Unterordnung auf ein Ganzes gerecht wurden, sondern der gerade im Ausgleich von Individualität und Einordnung bestand.

178 Meyer 1926b, S. 303.

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F UNKTIONALISMUS Man kann nun auch die Frage stellen, wann eigentlich genau der Begriff Funktionalismus zum architektonischen Schlagwort wurde. Kimballs Artikel von 1925, den wir im dritten Kapitel besprachen, war einer der frühesten Belege einer Verwendung des Begriffs Funktionalismus. Im gleichen Jahr wie Kimballs Artikel erschien auch Karel Teiges Text Der Konstruktivismus und die Liquidierung der Kunst, in dem es hieß: »Anstelle des bisherigen Kunstformalismus – alle Kunst war formalistisch – stellt die konstruktivistische Zeit den Funktionalismus.«179 Im Vergleich zu Kimballs und Teiges Aufsätzen verfasste Behne sein Buch Der moderne Zweckbau zwar schon 1923, veröffentlichte es aber erst 1926. Behnes Bestimmung von Funktionalismus von 1926 war zunächst offenbar zu eng, als dass sich diese durchsetzen konnte, und wir sehen bis dahin recht individualistische Interpretationen, was Funktionalismus bedeutet. Funktionalismus diente schon in diesen drei Texten der Gegenüberstellung zu anderen Ismen, und darin liegt ein wesentliches Merkmal von Funktionalismus: Für Kimball war Funktionalismus das Gegenteil von Klassizismus, für Behne das Gegenteil von Rationalismus, für Teige das Gegenteil von Formalismus. Einige Jahre später aber, als die Popularisierung des funktionalistischen Ansatzes nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte, setzte sich auch der Begriff Funktionalismus durch. Banham behauptete, dass erst Sartoris Buch Gli Elementi dell’ Architettura Funzionale von 1932 zu einer Verbreitung dieser Bezeichnung geführt habe, insbesondere weil Le Corbusier ihm diesen Titel vorgeschlagen habe. Dies aber erscheint unwahrscheinlich, denn Sartoris Buch wurde nicht in andere Sprachen übersetzt180. Stattdessen erscheint ein anderer Anlass die Verbreitung des Titels Funktionalismus sehr gefördert zu haben, gemeint ist der CIAM-Kongress von 1932, der den Titel Die funktionelle Stadt trug. Auf diesen werden wir im nächsten Kapitel genauer eingehen. Von besonderer Bedeutung ist auch Henry-Russell Hitchcocks und Philip Johnsons Buch The International Style: Architecture since 1922, das 1932 als Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art erschien. Darin unterschieden die Autoren zwischen einem allgemein akzeptierten Funktionalismus, dessen »ästhetischer Ausdruck auf Struktur und Funktion« basiere, und einer »Doktrin zeitgenössischer anti-ästhetischer Funktionalisten«, die es ablehnen würden, der Architektur überhaupt eine ästhetische Bedeutung zuzu-

179 In Hilpert 1979, S. 378. 180 Vgl. Banham 1990, S. 267-8. Sartoris beabsichtigte ursprünglich, sein Buch Architettura Rationale zu nennen.

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schreiben181. Für Hitchcock und Johnson war ein Hauptmerkmal dieser radikalen Funktionalisten, dass diese behaupteten, Ästhetik spiele in ihren Bauten keine Rolle. Diese zugespitzte Interpretation eines fanatischen Funktionalismus als Komplettverweigerung der Form passte nicht in die Zielsetzung ihres Buchs, einen neuen formalen Stil zu proklamieren. Um diese Architektur aber dennoch in ihren International Style integrieren zu können, behaupteten sie kurzerhand, viele sogenannter funktionalistischer Gebäude hätten durchaus ästhetische Qualitäten. Sie führten als Beispiel das von Mart Stam und Werner Moser 1930 fertiggestellte Budge-Altenheim in Frankfurt an. Auf der anderen Seite kamen sie aber in ihrem Buch immer wieder auf die Bedeutung von Funktion und Struktur als Grundlage des International Style zurück. Langweilige Gebäude, so schrieben sie, seien ihnen lieber als brillante Entwürfe, die Funktion und Struktur nicht adäquat berücksichtigten. Es »wäre besser, wenn die Welt nur nach den rigiden anti-ästhetischen Theorien der extremen europäischen Funktionalisten bauen würde, als wenn die Entwurfsausschweifungen des neunzehnten Jahrhunderts weitergeführt werden«182 . Die Abgrenzung dieser beiden Interpretationen von Funktionalismus zog sich wie ein roter Faden durch den gesamten Textteil des Buchs und man kann sogar behaupten, dass diese ein wesentliches Mittel darstellte, die Merkmale des International Style zu definieren. Dabei ist für unseren Kontext wichtig festzuhalten, dass in der Interpretation von Hitchcock und Johnson die Vorstellung von Funktion als eine aktive Teile-GanzesRelation vollständig verloren gegangen war. Außergewöhnlich an diesem Buch war auch das Vorwort Alfred Barrs, der bereits einen »Post-Funktionalismus« ausrief und damit ebenfalls nicht eine Überwindung funktionalistischer Ideen, sondern ihre Durchdringung mit ästhetischem Willen zu formulieren versuchte: »Funktionalismus als dominantes Prinzip erreichte seinen Höhenpunkt unter den modernen europäischen Architekten vor einigen Jahren. Wie zu erwarten war, haben erst kürzlich amerikanische Architekten begonnen, die Nützlichkeit-und-Nichts-Sonst-Entwurfstheorie mit asketischem Eifer aufzunehmen. Sie versagen dabei zu realisieren, dass Le Corbusier [...] mehr mit Stil als mit bequemer Planung und technischen Installationen befasst ist, und dass der luxuriöseste der modernen deutschen Architekten, Mies van der Rohe, für Jahre der Leiter des Bauhauses war, dabei Hannes Meyer, einen fanatischen Funktionalisten, ersetzend. Als Name für den neuen Stil wurde sogar ›Post-Funktionalismus‹ vorgeschlagen, gleichzeitig präziser und genetisch treffender als ›International‹.«183

181 Hitchcock/Johnson 1932, S. 35-6 (engl.). 182 Ebd., S. 68 (engl.). 183 Ebd., S. 13-4 (engl.).

F UNKTIONSKONZEPTE DER K LASSISCHEN M ODERNE

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Für die Formulierung eines »Post-Funktionalismus« war es aber noch zu früh, da sich doch der Begriff des Funktionalismus gerade erst durchzusetzen begann. Hitchcocks und Johnsons gemäßigte Version des Funktionalismus setzte sich – mehr als ihre Proklamation eines International Style – in der Nachkriegszeit durch.

Funktionalismus und seine Kritik

Im vorangegangenen Kapitel haben wir die rasante Verbreitung des Funktionsbegriffs in den 1920er Jahren sowie die Erweiterung zur Bezeichnung Funktionalismus nachvollzogen. Dabei schien es, dass unter dem Titel Funktionalismus alle möglichen modernistischen Strömungen der 1920er Jahre zusammengeführt wurden1. Eines der Hauptanliegen des nun folgenden Kapitels ist aufzuzeigen, wie sich nach dem Zweiten Weltkrieg unter diesem Titel verschiedene Inhalte fortentwickelten – schärften, vereinfachten, verkomplizierten oder verworfen wurden. Auch der Funktionsbegriff änderte sich in der allgemeinen Nachkriegsrezeption. Im Architekturverständnis büßte er seine Bedeutung als Zusammenwirken von Teilen und Ganzem weitgehend ein und begann zuweilen, genau das Gegenteil, nämlich das Zerteilen anstatt das Zusammenwirken zu meinen. Bis heute führt dies zu großen Missverständnissen über den Inhalt des Funktions- und Funktionalismusbegriffs, vor allem wenn man ohne ausreichende Kenntnis die theoretischen Texte zwischen 1750 und 1920 liest. Mit den Worten Adolf Max Vogts wird es in diesem Kapitel darum gehen, wie die Begriffe »in den wenigen Jahrzehnten hernach breitgetreten und vulgarisiert wurden«2. Die erste Dekade der Nachkriegszeit war von Orientierungsversuchen geprägt, die sowohl an die Vorkriegszeit anknüpften als auch eine kritische Neuorientierung anstrebten. In Europa, vor allem in Deutschland, trat zunächst eine architekturtheoretische Leere ein. Viele Protagonisten des Neuen Bauens waren nach Amerika abgewandert, unter ihnen Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe, Ludwig Hilberseimer, László Moholy-Nagy und Marcel Breuer. Es herrschte eine besondere Vorsicht gegenüber großen Thesen und Pamphleten. Die Wohnungsnot in den zerstörten Städten und die Scham und Ernüchterung nach dem industriellen

1

Vgl. Hirdina 2001, S. 596: »Die 20er Jahre sind Höhepunkt in der Entwicklung des Funktionalismus zum Programm, aber als Programmbegriff verbreitet sich Funktionalismus erst nach dem Ende des Jahrzehnts.«

2

Zitat in Steinmann 1979, S. 6.

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Massenmorden weckte kein Bedürfnis nach Repräsentationsarchitektur. Während nach dem Ersten Weltkrieg die Erkenntnis über die Zerstörungskraft der Maschine mit einer Rückwendung auf das Handwerk beantwortet wurde, orientierte man sich nach dem Zweiten Weltkrieg eher an praktischen Erfordernissen. Aufbau der zerstörten Städte und die möglichst schnelle Bereitstellung von Wohnraum waren die vordringlichen Ziele. Gleichzeitig sahen einige Stadtadministratoren die Möglichkeit, die alten Stadtgrundrisse an neue Verkehrsanforderungen anzupassen und versuchten in vielen Städten, eine autogerechte Stadt umzusetzen. Die Bezeichnung Funktionalismus schien dazu geeignet, diese grundsätzlichen Tagesthemen in sich aufzunehmen. Unter dieses Leitmotiv fielen Themen wie Zurücknahme formaler Ansprüche, wirtschaftliche und schnelle Deckung des Wohnbedarfs und der Ausbau der Stadt gemäß den Anforderungen des Autoverkehrs. Dabei konnte man auf das Vorkriegsthema des »Wohnens für das Existenzminimum« unmittelbar Bezug nehmen. In den 1950er Jahren verbesserte sich die wirtschaftliche Situation in den kriegsgeschädigten Ländern, und mit dem Aufschwung verschärfte sich auch die Kritik am Funktionalismus, der aber selten genauer definiert wurde. Im Folgenden wird nun der Architekturdiskurs der Nachkriegszeit bis zu den 1980er Jahren genauer betrachtet. Die erste Untersuchung umfasst die CIAMKongresse bis 1959, die zeigen wird, wie die erarbeiteten Erkenntnisse der Vorkriegszeit aufgenommen, an ihrer Verbesserung gearbeitet, schlussendlich jedoch aufgegeben wurden. In einer zweiten Untersuchung zeigen die kritischen Schriften gegen eine autogerechte Stadt, die seit Beginn der 1960er Jahre auftauchten, zum Beispiel von Jane Jacobs 1961 und Alexander Mitscherlich 1965, exemplarisch die Diskussionen funktionalistischer Inhalte und die allmähliche Neuorientierung im Städtebau. Der dritte Untersuchungsschwerpunkt richtet sich auf wichtige Texte der Postmoderne mit ihrer Interpretation, Kritik und Karikatur des Funktionalismus. Dabei kann es nicht darum gehen, die verschiedenen Diskurse in ihren Facetten darzustellen, sondern wir müssen uns auf die Frage beschränken, inwieweit bei den Befürwortern wie den Kritikern der Vorkriegs- und unmittelbaren Nachkriegsmoderne die Entwicklung begleitet war von einer Verunklärung der Funktionsidee und von einer anhaltenden Unschärfe des Begriffs Funktionalismus.

CIAM

UND DIE

F UNKTIONELLE S TADT

Die Schriften der Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (Internationale Kongresse Moderner Architektur, CIAM) dienen als erster Fokus für die Untersuchung der Frage, was unter Funktion und Funktionalismus nach dem Zweiten Weltkrieg verstanden wurde. Insgesamt fanden elf Hauptkongresse statt, fünf davon vor dem Krieg 1928 bis 1937 und weitere sechs zwischen 1947 und 1959. Einige

F UNKTIONALISMUS UND SEINE K RITIK

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Protagonisten der Vorkriegsperiode – Sigfried Giedion, Walter Gropius, Le Corbusier3 – waren auch in der Nachkriegsperiode aktiv, sodass die CIAM eine gewisse Kontinuität auch ihres Funktionsverständnisses besaß. Die CIAM bietet so ein sehr gutes Beispiel dafür zu zeigen, wie mit mehr oder weniger Erfolg versucht wurde, an die Vorkriegsthemen anzuschließen. Der Fokus der CIAM-Kongresse lag auf Fragen des Wohnungs- und Städtebaus. Die Diskussionen der CIAM trugen wesentlich dazu bei, dass Fragen zu architektonischen Funktionen und Funktionalismus in der unmittelbaren Nachkriegszeit auf den Städtebau verlagert wurden. Die gemeinsame Erklärung des Gründungskongresses im Juni 1928 im schweizerischen La Sarraz spielte in der ganzen CIAM-Geschichte eine herausragende Rolle. Die Erklärung enthielt eine Definition von Städtebau und nur diese Definition, die bezeichnenderweise im Wesentlichen von Hannes Meyer, Mart Stam und Victor Bourgeois stammte4, enthielt das Wort Funktion: »1. Stadtbau ist die Organisation sämtlicher Funktionen des kollektiven Lebens in der Stadt und auf dem Lande. Stadtbau kann niemals durch ästhetische Überlegungen bestimmt werden, sondern ausschließlich durch funktionelle Folgerungen. 2. An erster Stelle steht im Stadtbau das Ordnen der Funktionen: a) Das Wohnen; b) Das Arbeiten; c) Die Erholung (Sport, Vergnügen). [...] 4. Die Verkehrsregelung hat die zeitliche und örtliche Folge aller Funktionen des Gemeinschaftslebens zu umfassen. Die wachsende Intensität dieser Lebensfunktionen [...] zieht die wachsende Diktatur des Verkehrs unumgänglich nach sich.«5

In dieser Erklärung stand der Verkehr noch nicht als »Funktion« neben den anderen zentralen Funktionen Wohnen, Arbeiten und Erholen, doch wurde er in der Folgezeit, wie wir noch sehen werden, oft als vierte Funktion diskutiert. Auf den beiden darauffolgenden Kongressen in Frankfurt 1929 und Brüssel 1930, die primär den Wohnungsbau – Wohnen für das Existenzminimum und Rationelle Bebauungsweisen – behandelten, traten Funktionsdiskussionen noch nicht in den Vordergrund. Ausnahmen waren Gropius’ Besprechung der »funktionen der familie« und der »lebensfunktionen« des Menschen sowie Karel Teiges Bestimmung eines »funktio-

3

Le Corbusier wurde im vierten Kapitel nur wenig erwähnt, da bei ihm der Funktions-

4

Vgl. Hilpert 1984, S. 101.

5

Das neue Frankfurt 2 (1928) 10, S. 195-6. Wiederabdruck in CIAM 1931, S. 207-8.

begriff eine untergeordnete Rolle spielte, doch beteiligte er sich intensiv an der CIAM.

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nellen wohntypus«, der sich durch die »zentralisierung der hauswirtschaftlichen funktionen […] in einen modern-mechanisierten großbetrieb« auszeichne6. Ein expliziter Funktionsbegriff trat dann aber während des berühmtesten CIAMKongresses hervor, der auf dem Schiff Patris II und in Athen 1933 unter dem Titel Die funktionelle Stadt abgehalten wurde und der die Nachkriegsdiskussionen zum Städtebau deutlich prägte. Bei diesem vierten Kongress, für den man auch die Titel Die konstruktive Stadt und Die organische Stadt erwogen hatte7, griff man auf die Erklärung von La Sarraz zurück, genauer gesagt auf die zitierten »Grundfunktionen der Stadt: Wohnen, Arbeiten, Erholung, mit dem Verkehr als bindendes Element«8. Nach dem Kongress wurde das Dokument Feststellungen des 4. Kongresses erarbeitet, dessen deutsche Schlussfassung in der Schweizer Zeitschrift weiterbauen 1934 erschien. Auch in diesen Feststellungen war der Gebrauch des Worts Funktion begrenzt auf die genannten vier Stadtfunktionen. Man stellte fest, dass ein Stadtgebiet, das für eine der Funktionen vorgesehen war, einerseits für seine eigenen Anforderungen optimiert, andererseits mit den anderen Gebieten in Beziehung gesetzt werden sollte. Es wurden einzelne Planungsschritte für die »funktionelle Stadt« und ihre einzelnen Gebiete aufgestellt: »Richtige Wahl der Lage und Grösse der einzelnen Gebiete für Arbeiten, Wohnen, Erholung und Verkehr; Entwicklung und Planung dieser Gebiete nach den ihnen eigenen Gesetzen und Forderungen; gegenseitiges Inbeziehungsetzen dieser Gebiete, so dass der täglich wiederkehrende Wechsel von Arbeiten, Wohnen und Erholung auch nach den Gesichtspunkten der grössten Zeitersparnis erfolgen kann. [...] Das Stadtgebilde muss in seinen einzelnen Teilen entwicklungsfähig sein. In jedem Stadium der Entwicklung muss Gleichgewicht zwischen den Funktionen der einzelnen Teile herrschen.«9

Es war genau dieses Thema von Analyse und Optimierung der einzelnen Funktionen einerseits und die Verknüpfung dieser Funktionen andererseits, das später zu dem größten Streitpunkt im Städtebau der Nachkriegsmoderne wurde. Dabei warf man dem Funktionalismus unter Bezugnahme auf diesen vierten CIAMKongress vor, dass er eine Trennung der Funktionen empfahl und die Diskussion der Synthese vernachlässigte. In den Feststellungen, dem einzigen offiziellen Dokument, kann man eine explizite Empfehlung der Funktionentrennung nicht lesen, vielmehr betonte die CIAM den »analytischen Charakter« dieser Untersuchungen »als notwendige erste Etappe für ihre weiteren Arbeiten auf dem

6

Gropius in: Das Neue Frankfurt 3 (1929), S. 225. Teige in: CIAM 1931, S. 68, 70.

7

Vgl. Hilpert 1978, S. 217; Steinmann 1979, S. 119.

8

In Steinmann 1979, S. 115.

9

Ebd., S. 160, 163.

F UNKTIONALISMUS UND SEINE K RITIK

| 179

Gebiete der funktionellen Stadt«10. Liest man aber zum Beispiel obiges Zitat ohne diese Erklärungen kann man leicht eine solche Strategie der Funktionenteilung und -optimierung für die anzustrebende Stadtplanung hineininterpretieren. Genau dieser Interpretationsspielraum wurde in den Nachkriegsdiskussionen voll ausgenutzt11. Da der Athener Kongress gezeigt hatte, dass man sich bisher nur um die Analyse der Teile, aber nicht um deren Zusammenwirken und die Synthese zum Ganzen gekümmert hatte, plante man, auch den nächsten Kongress der »funktionellen Stadt« zu widmen. Als dieser dann 1937 als letzter CIAM-Kongress vor dem Krieg in Paris abgehalten wurde, konzentrierte man sich unter dem Titel Logis et Loisirs auf die beiden Funktionen »wohnen und sich erholen, zwei Funktionen die man nicht von einander trennen kann«12. Dieser Fokus ging aber an der Frage nach der Gesamtheit der Stadt vorbei. Somit wurden am Ende dieser ersten CIAM-Periode zwei Defizite offensichtlich. Erstens waren die vier Funktionen zu kurz gegriffen, da zum Beispiel die Funktionen der Bildung, Verwaltung und des öffentlichen Lebens viel zu wenig berücksichtigt wurden. Zweitens wurden zwar die einzelnen Teilfunktionen beschrieben, analysiert und diskutiert, nicht aber ihre Verflechtungen und Synthese in der Stadt. Beide Kritikpunkte wurden nach dem Krieg von der CIAM aufgegriffen. Zuvor aber gaben Le Corbusier und CIAM-Vizepräsident José Luis Sert Anfang der 1940er Jahre zwei eigenwillige Veröffentlichungen zum Athener Kongress Die funktionelle Stadt heraus, die keine Autorisierung durch die CIAM-Mitglieder beanspruchen konnten: Serts Can Our Cities Survive? von 1942 und Le Corbusiers Le Charte d’Athènes von 1943. Insbesondere die weitverbreitete und erfolgreiche Charte d’Athènes mag zur Festigung der Meinung, dass die CIAM eine Funktionentrennung forderte, beigetragen haben. Neben verschiedenen französischen Fassungen wurde die deutsche Übersetzung der Charta von Athen 1948 in Das Neue Frankfurt abgedruckt, gefolgt von weiteren Übersetzungen13. Sie hat daher mehr Verbreitung gefunden, als das offizielle Abschlussdokument, die oben zitierten Feststellungen. Le Corbusiers Leitsätze den Städtebau betreffend, die nur beschränkt von den CIAM-Mitgliedern geteilt wurden, lasen sich – mehr als die Feststellungen – wie die Aufforderung, die Stadt in Zonen aufzuteilen: »77 Allem Städtebau liegen die vier Funktionen des Wohnens, der Arbeit, der Erholung und des Verkehrs zugrunde. 78 Die Planung bestimmt das Gefüge der den vier Funktionen entsprechenden Lebensbereiche und ihren Platz im Gesamtzusammenhang.

10 Ebd., S. 160. 11 Vgl. Domhardt 2012, S. 34-5. 12 Gedrucktes Programm in Steinmann 1979, S. 181. 13 Le Corbusier 1962; Conrads 1964; Hilpert 1984.

180 | F UNKTIONEN UND F ORMEN 79 Der Kreislauf der täglichen Funktionen des Wohnens, der Arbeit und der Erholung ist vom Städtebau unter dem Gesichtspunkt sorgsamster Zeitersparnis zu regeln. [...] 81 [...] Die neue Zoneneinteilung des Stadtgebietes entsprechend den vier Hauptlebensfunktionen bringt diese in harmonischen Zusammenhang, der durch ein zweckmäßiges Netz großer Verkehrsadern gesichert wird. [...] 84 Die Stadt, nunmehr begriffen als funktionale Einheit, wird sich nun in all ihren Teilen harmonisch entwickeln.«14

Die Veröffentlichung dieser Leitsätze 1948 wurde zwar wohlwollend, doch auch mit kritischen Worten begleitet: »Städtebau wird zur gigantischen Rechenaufgabe. Jede Funktion erhält ihren eigenen Bereich [...]. Die Aufgabe geht, so gestellt, wunderschön auf. Nur ist vergessen, ein paar wichtige Faktoren in ihrer ganzen Tragweite in die Rechnung einzubeziehen. Wir nennen nur, beinahe willkürlich herausgegriffen: das Dasein altgewachsener, selbst noch in Trümmern wirkkräftiger Städte; das Prinzip der Wirtschaftlichkeit; den Willen zum Kind; den menschlichen Gestaltungstrieb.«15

Auch Serts Buch Can Our Cities Survive? kann nicht als Wiedergabe der kollektiven und autorisierten CIAM-Meinung gelten. Die Eigenständigkeit der Publikation wurde im Buch mehrfach hervorgehoben und zeigte sich auch an den vielen amerikanischen Beispielen, die im Buch abgebildet und diskutiert wurden. Auf der anderen Seite ist unübersehbar, dass das Buch auf die CIAM gründete, denn es war im Großen und Ganzen nach den vier Funktionen aufgebaut. Zu Beginn übersetzte es die Städtebaudefinition von La Sarraz: »TOWN PLANNING is the organization of the functions of the collective life of cities: DWELLING, RECREATION, WORK, TRANSPORTATION.«16 Im Buch kam Sert immer wieder auf die »vier städtischen Funktionen betrachtet als voneinander abhängig und unauflösbar«17 zurück. Für ihn bestand die Stadt aus Organen, die die verschiedenen Stadtfunktionen ausführten. »Diese Organe, wie jene im menschlichen Körper, hängen voneinander ab und sind miteinander verbunden durch ausgedehnte Verkehrssysteme und andere Mittel der Kommunikation, die wie pulsierende Blutströme sind.«18 In dieser Analogie zeigt sich sehr gut sein Verständnis von Funktionentrennung einerseits und die Weise ihrer Verbindung andererseits. Nach Serts Meinung war die bestehende Stadt »eine

14 Kampfmeyer 1948, S. 66-7. 15 Ebd., S. 67. 16 Sert 1942, S. 5 (engl.). 17 Ebd., S. 12 (engl.). 18 Ebd., S. 224 (engl.).

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der größten Fehlschläge des Menschen«, die man zwar erhalten, doch drastisch transformieren müsse: »Die chirurgische Operation ist delikat, aber saubere Instrumente sind zur Hand.«19 Wohn-, Arbeits- und Erholungsstätten durften nicht unmittelbar aneinandergelagert oder gar vermischt sein, sondern ihre Verbindung sollte mehr oder weniger ausschließlich über Verkehrswege erfolgen. Das Beispiel von Jones Beach erklärte diese Strategie: Die säuberliche Trennung von Parkieren,

Abbildung 21: José Louis Sert setzte sich in seinem Buch Can Our Cities Survive? von 1942 mit folgenden Worten für Funktionentrennung am Strand ein: »EINE NEUE FORMEL DER STRAND-ERHOLUNG. […] Jones Beach (New York) zeigt die Möglichkeiten guter Planung. In der heißen Jahreszeit besuchen bis zu 29.000.000 Menschen Jones Beach […]. Für diese Menschen ist frische Luft die Hauptsache; Spiele, Schwimmen und Erfrischungen sind nur Nebensache. Sogar mit diesen großen Massen funktioniert Jones Beach, von seinen Einrichtungen für Zu- und Ausgänge (seinem System der Parkstraßen und riesigen Parkierungsflächen) bis zu den Unterteilungen selbst.« [S. 101 (engl.)]

19 Ebd., S. 196, 212 (engl.).

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Promenieren, Umkleiden und Sonnenbaden führte nach Serts Meinung zu vorbildlichem Funktionieren [Abb. 21]. Der Zweite Weltkrieg brachte Veränderungen für die CIAM. Viele Mitglieder waren in die Vereinigten Staaten emigriert, unter ihnen Gropius und Sert. Innerhalb Europas wurde Großbritannien mit seiner Gruppe MARS – Modern Architectural ReSearch – das intellektuelle Zentrum der CIAM. Englisch wurde zur offiziellen CIAM-Sprache. Der CIAM-Generalsekretär Sigfried Giedion setzte sich auf unzähligen Reisen als Korrespondent zwischen den nordamerikanischen, britischen und schweizerischen Mitgliedern ein. Während es in vielen Ländern Europas um Wiederaufbau, Erstellung von Wohnraum und die autogerechte Stadt ging, beherrschten in den USA andere Planungsprobleme den Alltag, zum Beispiel die Zersiedlung der Landschaft und die Entvölkerung der Innenstädte. Die Ausbreitung großer Städte in die Regionen war für die meisten CIAM-Mitglieder ein verbindendes, diskussionsrelevantes Problem, mit dem man sowohl an die Vorkriegsdiskussionen anknüpfen als auch sich neue Themen erschließen sowie die unterschiedlichen Planungsinteressen zusammenführen konnte. Der erste Kongress nach dem Krieg, CIAM 6, fand im englischen Bridgwater 1947 statt, organisiert von der MARS-Gruppe, doch dominiert von Giedion, Gropius und Sert. Das Abschlussdokument Reaffirmation of the Aims of CIAM bezeugte den Versuch der Länderdelegationen, an den vergangenen Kongressen anzuknüpfen und sich neu zu formieren. Man erneuerte darin auch in verknappter Form die Definition von Städtebau aus der Erklärung von La Sarraz: »Planning is the organisation of the functional conditions of community life: it applies equally to town and country, and operates within the divisions: (a) dwelling; (b) places of work and (c) of recreation; (d) circulation, connecting these three…«20

Darauf aufbauend beschloss man, die Ziele von CIAM neu zu definieren, insbesondere hin zu »der Bildung einer physischen Umgebung, die die emotionellen und materiellen Bedürfnisse des Menschen befriedigt und sein spirituelles Wachstum stimuliert«21. Giedion bemerkte, dass die Funktion der Erholung auf dem Kongress erweitert wurde in »Kultivierung von Geist und Körper«22, da dies den neu definierten Zielen besser entsprach. Grundsätzlich wurde damit aber an den vier Funktionen festgehalten. Abgesehen von dem Benennen, Festhalten und Erweitern der vier Funktionen mischte sich in Giedions Veröffentlichung zum sechsten CIAM-Kongress, A

20 Giedion 1951, S. 16 (engl.). »Reaffirmation of the Aims of CIAM« in ebd., S. 16-7. 21 Ebd., S. 17 (engl.).. 22 Ebd., S. 25 (engl.).

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Decade of Contemporary Architecture, die aber erst 1951 erschien, ein erster negativer Unterton in die Bezeichnung Funktionalismus. Der Begriff Funktionalismus wurde im Buch nur einmal gebraucht, bezeichnenderweise in dem Abschnitt, in dem es um die für die CIAM neue Frage nach dem Zusammenhang von Architektur, Skulptur und Malerei ging. Hier druckte Giedion Aldo van Eycks Bemerkung ab: »Die eher handfesten Funktionen – jene, die im Wort ›Funktionalismus‹ enthalten sind – sind relevant nur insofern als sie helfen, die Umwelt des Menschen genauer an seine elementaren Bedürfnisse anzupassen. Aber dies ist letzten Endes nicht mehr als eine notwendige Voraussetzung.«23 Van Eyck stand mit seinem Verständnis von Funktionalismus als Deckung von Basisbedürfnissen mit architektonischen Mitteln wohl kaum allein. Dieses Verständnis schien die andere Interpretation von Funktionalismus als innere Notwendigkeit der Teile in Bezug auf ein Ganzes vollständig verdrängt zu haben. Eine ähnlich skeptische Bemerkung fand sich in einem späteren Abschnitt im Buch, hier von Giedion, der für »Kirchen, Versammlungsstätten und Theater« feststellte, diese »verlangen mehr als eine bloße funktionale Herangehensweise«24. Auf dem siebten Kongress in Bergamo 1949 kam es zu Irritationen und Spannungen zwischen der französischen Landesgruppe, die den Kongress organisiert hatte, einerseits und den britischen und nordamerikanischen Delegationen andererseits, da insbesondere Le Corbusier auf der Wohnfunktion als Schwerpunkt der CIAM-Arbeit beharrte. Die Diskussion über die vier Funktionen wurde weitergeführt, deren zentrale Wichtigkeit allerdings von einigen Mitgliedern, insbesondere aus der MARS-Gruppe, angezweifelt. Die MARS-Gruppe versuchte sich dementsprechend auf dem nächsten Kongress, dem von ihr organisierten CIAM 8 im englischen Hoddesdon, zu positionieren. Der Kongress fand 1951 unter dem Titel The Heart of the City: Towards the Humanisation of Urban Life statt und wurde als der bedeutendste Nachkriegskongress gewertet. Die gleichnamige Veröffentlichung von 1952 war die einzige offizielle Publikation der CIAM nach dem Zweiten Weltkrieg und versuchte, auch die beiden Vorgängerkongresse einzubeziehen. Der Kongress rückte, wie der Titel schon andeutet, das Stadtzentrum als »Herz der Stadt« in den Diskussionsfokus. Dabei liest sich The Heart of the City nicht unbedingt wie eine Abkehr von früheren Prinzipien, sondern, zumindest in Teilen, wie der Versuch ihrer kontinuierlichen Weiterentwicklung und Verbesserung. Auf den Errungenschaften der vier Funktionen und des Wohnungsbaus aufbauend sollten diese nun um den sozialen, politischen und künstlerischen Ausdruck mittels der Ergänzung der vergessenen Funktion, des politischen und kulturellen Stadtzentrums, erweitert werden. Überlagert wurde diese Diskussion

23 Ebd., S. 37 (engl.). 24 Ebd., S. 133 (engl.).

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von einem Drängen nach einer Perspektivänderung, weg von den »vier Funktionen« und hin zu den »fünf Maßstäben«25: erstens das Dorf oder die urbane Hausgruppe, zweitens das ländliche Marktzentrum oder die Nachbarschaft, drittens die Kleinstadt oder das Stadtviertel, viertens die Stadt und fünftens die Metropole. Auf jeder dieser Ebenen sollte jeweils ein Kern (Core, Heart, Nukleus) platziert werden. Somit war das Gemeinschaftszentrum (Core) ein Thema, mit dem sich alle CIAMGenerationen identifizieren konnten. Die ältere Generation schien im Gemeinschaftszentrum die Möglichkeit der Verbindung der vier Funktionen als die viel gesuchte Synthese zu sehen, während die jüngere Generation das Gemeinschaftszentrum als neues Thema und damit die Überwindung der vier Funktionen ansah. Während die vier Funktionen bisher stereotyp und jeweils gemeinsam genannt wurden und dabei relativ allgemein gehalten waren, kam nun mit dem Gemeinschaftszentrum eine wesentlich differenziertere Diskussion über Funktionen zustande. Das Zentrum sollte zum Beispiel »soziale«, »psycho-soziale« und »spirituelle«26 Funktionen beinhalten. Historische Vorbilder wie das Imperiale Forum in Rom mit seinen »staatlichen Funktionen« oder die »religiösen Funktionen« der Akropolis27 wurden herangezogen. Als weitere Funktionen für das Zentrum wurden genannt: »Seine Funktion ist, Gelegenheiten zu eröffnen – auf unbefangene Weise – für spontane Manifestationen des sozialen Lebens.« »Die soziale Funktion der neuen Gemeinschaftszentren oder Cores ist primär diejenige, Menschen zu vereinen und direkte Kontakte und Ideenaustausch zu unterstützen, die freie Diskussion stimulieren.« »Der Core sollte die verflechtende Funktion von Arbeit, Handel, Kultur, Erziehung, Erholung, Regierung und Transport bereitstellen.«28

Gerade das letzte Zitat zeigt, dass mit der Schaffung von Cores versucht wurde, das wichtige Thema der Synthese, der Herstellung einer ganzheitlichen Lebensumgebung zu beantworten. Indem auf verschiedenen Maßstabsebenen Cores vorgesehen wurden, versuchte man, den einzelnen Nachbarschaften, Stadtteilen oder Städten eigene Identitäten zu geben und damit der Komplexität von Teilen und Ganzheiten besser gerecht zu werden. Das Gemeinschaftszentrum wurde als Mittel und sogar als Inbegriff verstanden, diese Ganzheiten zu erreichen, diesem »Sehnen

25 Tyrwhitt/Sert/Rogers 1952, S. 8, 104-5 (engl.). 26 Ebd., S. 28, 59 (engl.). 27 Ebd., S. 26 (engl.). 28 Ebd., S. 167, 6, 96 (engl.).

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nach ›Ganzheit‹«29 (Giedion) Genüge zu leisten. Ein Gemeinschaftszentrum könne Geschichte speichern und daher als Inbegriff für Gemeinsinn dienen, erklärte G. Scott Williamson, Direktor des Peckham Health Centre und Sprecher auf dem Kongress. In diesem Sinn formulierte auch J.M. Richards, Herausgeber von Architectural Review, der Core sei »das Repositorium des kollektiven Gedächtnisses der Gesellschaft«30. Und die englische CIAM-Gruppe definierte den Core als dasjenige »Element, das eine Gemeinschaft zur Gemeinschaft macht, und nicht nur zu einem Aggregat von Individuen«31. Auch in einer späteren Beschreibung der CIAM durch Kenzo Tange wurde diese Neuorientierung deutlich. Tange erklärte in der Zeitschrift The Japan Architect die vier Funktionen und beschrieb dann die Kongresse in Bridgwater und Hoddesdon folgendermaßen: »Man erkannte, dass etwas fehlte in den vier Funktionen der Charta von Athen, etwas das die Funktionen in ein organisches Ganzes zusammenbringen würde, etwas das aus einer Gemeinschaft eine Gemeinschaft machte. Dieses etwas war das Zentrum der Stadt [the core of the city]. Auf der achten Konferenz, abgehalten 1951 in Hoddesdon, einer Londoner Vorstadt, wurde dieses Zentrum das Hauptthema der Diskussion. [...] Nach dieser Konferenz wurde die Notwendigkeit für kulturelle und öffentliche Architektur im Zentrum eines der großen Themen zeitgenössischer Architektur.«32

Aus heutiger Sicht ist es offensichtlich, dass der Versuch, ein Ganzes herzustellen, indem man einen neuen, identitätsstiftenden Teil, den Core, hinzufügt, nur bedingt gelingen konnte. Denn man erkannte zwar die Wichtigkeit des Vorhandenseins eines koordinierenden und übergeordneten Teils (Kopf, Herz), vernachlässigte aber nach wie vor, die Verbindung zwischen den Teilen als ebenso wichtig zu erkennen und dafür Lösungen zu diskutieren. Auch hielt man an der Trennung der Verkehrsarten fest. Man wurde die analytische Anschauungs- und Vorgehensweise immer noch nicht wirklich los. Sert forderte vehementer als je zuvor die Funktionentrennung: »Wenn wir unseren Städten eine deutliche Form geben wollen, müssen wir sie klassifizieren und nach Sektoren unterteilen, dabei Zentren oder Cores für jeden dieser Sektoren etablieren. [...] Wenn eine Stadt neu geplant wird, unterteilt man sie in Zonen verschiedener Land-

29 Ebd., S. 159 (engl.). 30 Ebd., S. 61 (engl.). 31 Ebd., S. 160 (engl.). 32 Tange 1960, S. 8 (engl.).

186 | F UNKTIONEN UND F ORMEN nutzung – Industrie, Geschäfte, Büros, Wohnen usw. Das sich ergebende Muster sollte organisch sein und sich von dem formlosen Wachstum unterscheiden, das wir heute haben.«33

Dieser Fragmentierungsstrategie konnte sich auch das Stadtzentrum selbst nicht entziehen. Man befürwortete die »Tendenz, das Erholungszentrum, das Einkaufszentrum und das Verwaltungszentrum voneinander zu separieren«34. Man kann daran sehr gut die Befangenheit in dieser Strategie sehen. Was anfangs analytisch gedacht war, hielt man nun für eine Entwurfsmethode. Zwar war man einen Schritt weiter, weil man Funktionen komplexer dachte, behielt jedoch die Fragmentierungsmethode bei. Die letzten drei Kongresse waren von dem zunehmenden Unwillen, Meinungsverschiedenheiten auszuräumen, geprägt. CIAM 9, abgehalten 1953 in Aix-enProvence, brachte keine Kongress-Publikation hervor, obwohl der Titel Le Charte de l’Habitat dies vorgegeben hatte. Die jüngere Generation stellte nun grundsätzlich die Aktualität der »funktionellen Stadt« in Frage. In einem Arbeitspapier des CIAM-Mitglieds André Wogenscky hieß es, man würde »nicht mit dem Studium [...] der vier Funktionen fortfahren«35. Statt der Diskussionsbasis der vier Funktionen schlugen Alison und Peter Smithson nun eine »Hierarchie von Assoziationen« vor bestehend aus den Ebenen Haus, Straße, Distrikt und Stadt36. In den darauffolgenden Monaten begann die Formierung des Team 10 (oder Team X), dessen Name sich aus der Aufgabe, CIAM 10 vorzubereiten, ergab. Es bestand überwiegend aus Mitgliedern der jüngeren Generation wie Jacob Bakema, Georges Candilis, Giancarlo de Carlo, Aldo van Eyck, Alison und Peter Smithson und Shadrach Woods. Das Team 10 bestand bis zum Tod von Bakema 1981. Der Vorschlag des Team 10 zum Kongress-Programm wurde im Jahr 1955 vom CIAMBeirat, bestehend aus Sert, Gropius, Giedion und Tyrwhitt mit einer erneuten Verteidigung der vier Funktionen beantwortet. Unter Bezugnahme auf die Charta von Athen stellte der Beirat fest: »Seine vier Funktionen stellen immer noch eine exzellente Doktrin dar, nützlich im Besonderen wenn es um den Entwurf eines allgemeinen Rahmens für einen Masterplan geht. Jeder ist sich bewusst, dass die Verallgemeinerungen der Charta von Athen weiter ausgeführt werden müssen, sobald man ins Detail geht, und die Charta muss nun weiterentwickelt und

33 Tyrwhitt/Sert/Rogers 1952, S. 6, 11 (engl.). 34 Ebd., S. 162 (engl.). 35 In Mumford 2000, S. 226 (engl.). 36 In Landau 1992, S. 41 (engl.).

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vervollständigt werden, indem das Konzept der menschlichen Assoziation [human association] einbezogen wird, das in unseren Core-Studien in die CIAM eingeführt wurde.«37

Es wurde hier und in der Folge offensichtlich, dass die ältere Generation nicht gewillt war, ihre Führerschaft und das, was sie berühmt gemacht hatte, aufzugeben. Sie versuchte als CIAM-Beirat die Geschicke weiterhin zu bestimmen und verkannte völlig, dass die jüngere Generation kein Interesse am Vier-FunktionenKonzept mehr hatte. Die Konfrontationen zwischen den Generationen setzten sich auf dem Kongress CIAM 10 in Dubrovnik 1956 fort. Die geplante Charte de l’Habitat kam auch dort nicht zustande. Interessant für unseren Zusammenhang ist das vom Team 10 eingeführte Konzept des Clusters, der eine »Entwicklung einer ausgeprägten Gesamtstruktur jeder Gemeinschaft und nicht eine Unterteilung einer Gemeinschaft in Teile«38 bezeichnen sollte. Der Cluster diente einerseits als Kritik an der Funktionentrennung, andererseits war er ein erstes Anzeichen des sich herausbildenden Strukturalismus in der Architektur, wie er von Aldo van Eyck vertreten wurde. Der letzte Kongress, betitelt CIAM ’59 und abgehalten im niederländischen Otterlo, sollte einen Neuanfang initiieren, führte jedoch zur Auflösung von CIAM. 1961 gab Oscar Newman, beauftragt vom Hauptorganisator des Kongresses Jacob Bakema, die Dokumentation CIAM ’59 in Otterlo heraus, die wie die meisten CIAM-Veröffentlichungen nur geteilte Akzeptanz der Mitglieder erfuhr. Insgesamt wollte die Dokumentation darstellen, wie die Moderne in ihrer Suche nach universalen Lösungen auf unakzeptable Weise den individuellen Menschen ver-

nachlässigt hatte. Man wetterte über den Irrweg der Vier-Funktionen-Doktrin und der »funktionellen Stadt«. Insbesondere van Eyck ging zum Angriff über: »Überall in Holland kann man die ›funktionelle Stadt‹ sehen und sie ist absolut unbewohnbar. [...] Man kann nach Amsterdam gehen und stundenlang durch Kilometer funktioneller Stadt fahren, die aus den vier CIAM-Schlüsseln gemacht ist – aber man kann dort nicht leben. Das ist unser Feind. Der Feind ist dieses schreckliche, rationale, eindimensionale Denken. [...] Unser Feind ist die unmittelbare CIAM-Vergangenheit. [...] Ihr alle wisst, wie argwöhnisch Architekten gegenüber den wenigen Ausnahmen gewesen sind, die dem Messen in Gramm und Millimeter trotzen und durch das grobe Netz der vier Funktionen fallen und daher als Konterbande betrachtet werden [...]. Himmel, dass wir so lange zum Narren gehalten wurden.«39

37 In Mumford 2000, S. 244 (engl.). 38 Ebd., S. 252 (engl.). 39 In Newman 1961, S. 197, 216 (engl.).

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Auch die Smithsons zeigten sich sehr angriffslustig, und zwar nicht nur gegenüber den alten Doktrinen, sondern auch gegenüber den Arbeiten der eigenen Generation der CIAM-Mitglieder. Interessant in unserem Zusammenhang ist, dass sie damit aber nicht grundsätzlich die Relevanz der Formen-Funktionen-Beziehung verwarfen. Ganz im Gegenteil war ihnen diese Beziehung ein besonderes Anliegen. Peter Smithson griff zum Beispiel recht drastisch Ralph Erskines Architektur an, indem er dessen Vorgehensweise mit Walt Disneys verglich: »Du hast absichtlich gewisse Merkmale übertrieben, um klarer die Intention der Funktionen zu kommunizieren. Das tut auch Walt Disney. […] Du solltest in Deiner Arbeit bestrebt sein, etwas weniger wie zum Beispiel Walt Disney zu sein, und ein bisschen mehr wie Charles Eames.«40

Auf dem Kongress wurde auch das Mailänder Projekt des Torre Velasca der Architekten BBPR vorgestellt, das immer wieder als Startpunkt der Postmoderne interpretiert wurde. Es ist überliefert, dass Ernesto Rogers und Peter Smithson heftige Wortgefechte zu diesem Gebäude und zur Wichtigkeit von Architekturtradition und -geschichte austrugen. Die Debatte dokumentierte und förderte letztendlich ein neues Interesse an der historischen Stadt, das dann zum Beispiel von Aldo Rossi und Josef Paul Kleihues weiterverfolgt wurde. In Peter Smithsons Angriff auf den Torre Velasca ging es zum Teil auch um das Verhältnis von Form und Funktion. So kritisierte er, dass die beiden Hauptnutzungen – Büros und Wohnungen – zwar ablesbar wären, diese Ablesbarkeit aber »nicht funktional«, sondern aus formalistischem Interesse hervorgegangen sei. Seine Beurteilung des Torre Velasca – »Funktion ist nicht mehr als die Dienerin der Form«41 – war dementsprechend kritisch gemeint. Ein weiteres wichtiges Gebäude, das auf dem Otterlo-Kongress diskutiert wurde, war van Eycks Amsterdamer Kinderheim, das einen wesentlichen Beitrag zum Strukturalismus leistete. Für van Eyck hatten sich Funktionen in eine Struktur einzuordnen. Die Bedeutung einzelner Räume ergab sich aus ihrem Platz innerhalb der Struktur: »Es ist ihr Ort, ihre Sequenz, und ihre folgende Behandlung, ihre Relation untereinander und zum Ganzen, welche ihnen die Qualität, ihre bestimmten Funktionsansprüche innerhalb des Rahmens des Planmusters und der konstruktiven Form gibt. Natürlich muss die architek-

40 Ebd., S. 169 (engl.). 41 Ebd., S. 96 (engl.).

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tonische Beziehung Teil-Ganzes die menschliche Beziehung Individuum-Kollektiv abdecken – mindestens bis zu einem gewissen Grad.«42

Diese Beispiele geben einen Einblick in die verschiedenen Architekturauffassungen, die auf diesem Kongress zusammentrafen. Sie zeigen, wie das schematische Verständnis der städtebaulich orientierten Vier-Funktionen-Doktrin abgelöst wurde von einer erneuten Diskussion der Form-Funktion-Beziehung in Gebäuden. Es waren die Meinungsverschiedenheiten zwischen der älteren Generation mit Giedion, Gropius, Le Corbusier, Sert und Tyrwhitt einerseits und einer jüngeren Generation um die Smithsons, van Eyck und Bakema andererseits, die letztlich zur Auflösung von CIAM führten. Ein großer Teil dieser Meinungsverschiedenheiten drehte sich nach wie vor um die »vier Funktionen«, wobei keine Rolle mehr spielte, ob sie nun der Analyse oder dem Entwurf dienten. Alison und Peter Smithsons Vorschlag, »dass wir eine Hierarchie menschlicher Assoziationen konstruieren sollten, die die funktionale Hierarchie der Charte d’Athènes ersetzt«43, führte nicht auf einen gemeinsamen neuen Weg. Die CIAM konnte sich letztlich nicht von dem einmal aufgestellten Prinzip der Analyse der vier Funktionen lösen, so sehr man auch versuchte, diese zu erweitern, zu differenzieren oder zu überwinden. Nach CIAM ’59 fühlten sich Sert, Gropius, Le Corbusier und Giedion veranlasst, einen offenen Brief in der Zeitschrift Architectural Review zu veröffentlichen, in dem sie zur Weiterarbeit aufriefen. Bakema, als Sprecher des Team 10, ließ in seiner offiziellen Antwort, die einen Monat später in der gleichen Zeitschrift erschien, die Zukunft von CIAM offen. Er führte aber auch hier wieder eine indirekte Kritik an den vier Funktionen an, indem er sich von Gropius abgrenzte und auf die »moralische Funktion des architektonischen Ausdrucks«44 verwies. Man kann zusammenfassen, dass die Bedeutungsinhalte von Funktion und Funktionalismus in der Nachkriegszeit maßgeblich durch die CIAM-Auftritte geprägt wurden. Die CIAM-Diskussionen waren ein Hauptgrund dafür, dass man mit Funktionalismus eine simplifizierende Funktionentrennung assoziierte. Dabei hatte die CIAM den Begriff Funktionalismus weder thematisiert noch finden sich irgendwelche Äußerungen, dass sie sich mit ihm identifizieren wollte. Auch wenn die Analysen der offiziellen Vorkriegspublikationen zeigen, dass die CIAM die Funktionentrennung nicht zum Gestaltungsprinzip erhoben hatte, blieb genau dieses Verständnis im Bewusstsein der Nachkriegsgeneration haften. Innerhalb der Stadtplanung wurde Funktional(ismus) gleichgesetzt mit Dezentralisation. Zum Teil lag das an der Verbreitung von Le Corbusiers Charta von Athen, in der er – unautori-

42 Ebd., S. 33 (engl.). 43 Ebd., S. 68 (engl.). 44 Bakema 1961, S. 226. Antwort auf Sert/Gropius/Corbusier/Giedion 1961, S. 154 (engl.).

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siert von den CIAM-Mitgliedern – schrieb: »Jede der Schlüsselfunktionen wird autonom sein«45. Je mehr aber CIAM begründete, dass diese Teilung nur auf die Analysephase anzuwenden und die Verbindung der Funktionen das Hauptanliegen der Synthesephase war, je mehr blieb haften, dass die CIAM hier nur selbst ihre Vorkriegspostulate korrigierte. Hinzu kam, dass die Trennung der städtischen Funktionen sowie die Trennung von Fahr- und Fußgängerverkehr von allen CIAMGenerationen positiv beurteilt wurde. Das eigentliche Problem, das sich sowohl aus der Vorkriegs- als auch aus der Nachkriegsphase ergab, war weniger die Funktionentrennung als die Nichtdefinition, was ein Ganzes sei, auf das hin die Funktionen verflochten werden können. In der Vorkriegsphase wurde bei der Untersuchung jedes Teils – sei es die Wohnung, das Quartier, die Stadt – die Bestimmung des Ganzen auf den jeweils größeren Kontext verschoben, anstatt nach der Entität oder Individualität jedes einzelnen Teils und des Ganzen zu fragen, so wie man das in den vorangegangenen Kapiteln, zum Beispiel bei Semper, sehen konnte. So ging es bei der Diskussion der Wohnung niemals um ihre Individualität oder Entität, sondern sie war nur Teil eines größeren Problems, des Hauses. Beim Stadtquartier ging es niemals um dessen identitätsstiftende Eigenarten, sondern, bevor man sich diese Frage stellte, schlussfolgerte man sofort, dass man beim nächsten Kongress erst die ganze Stadt ansehen müsse, bevor man ein Stadtquartier entwerfen könne. Selbst eine Stadt hatte keine Identität aus sich heraus, sondern man musste erst über ihren Bezug zur Region diskutieren, aus der sich dann ihre Identität als Teil ergab46. Mit anderen Worten, in ihrem Anspruch, das größtmögliche, komplexe Ganze zu berücksichtigen, sprach die CIAM den Teilen zwar eine relative Eigenständigkeit, aber keine Identität aus sich heraus zu. Dies änderte sich zwar zu einem gewissen Grad mit der Fokussierung auf Gemeinschaftszentren, doch verlagerte man damit nur das Problem. Denn anstatt zu fragen, wie ein Gemeinschaftszentrum, egal ob in einer Nachbarschaft oder Stadt, mit seiner unmittelbaren Umgebung in Wechselwirkung trat, machte man stattdessen dieses Zentrum allein dafür verantwortlich, Identität und Einheit zu stiften. Der permanente Aufschub der Frage, wie Teile und Ganzes eines Stadtgefüges zusammenhängen, hatte für das Verständnis des Funktionsbegriffs fatale Folgen. Man war blind geworden dafür, dass der Funktionsbegriff gerade diesen Zusammenhang zum Inhalt hatte. Gleichzeitig ging damit auch der dritte Aspekt des Funktionsbegriffs verloren, sein Aktivitätspotential. In der CIAM-Doktrin über-

45 In Hilpert 1984, S. 158. 46 So hieß es schon in den Feststellungen 1934: »Der Stadtorganismus muss als Teil des ihm zugehörigen grösseren Wirtschaftsgebietes betrachtet werden.« In Steinmann 1979, S. 163.

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nahmen die Verkehrswege die Kommunikation zwischen den Zonen des Wohnens, Arbeitens und Sich-Erholens, die auf diese Weise als statisch in der Stadt positionierte Bereiche erschienen. Von den komplexen Funktionsaspekten der Teilerelation, des Ganzheitsbezugs und des Aktivischen blieben also nur noch Vereinzelung und Optimierung von Teilen übrig sowie das Verständnis einer Ganzheit als Ordnen von Teilen. Ein weiterer Grund für die zunehmend negative Sicht auf den Funktionalismus mag sein, dass sich die gesamte Geschichte von CIAM wie ein Streitgespräch liest. Von Anfang an ging es immer nur um »Probleme« und »unbefriedigte Bedürfnisse«. Zwar war man sich einig, dass Architektur essentiell eine positivistische Angelegenheit ist, die aufbaut und das Leben besser machen will. In der CIAM wurde aber stets der Mangel betont und selten, wie das bessere Leben denn aussah. Ihre analytische Vorgehensweise und die versäumte Synthese boten viele Möglichkeiten für zersetzende Kritik, bei der man zwar mitschimpfen, sich aber selten positiv äussern konnte.

J ANE J ACOBS

UND

A LEXANDER M ITSCHERLICH

CIAMs Selbstauflösung fiel zusammen mit einer Veröffentlichung, die die »funktionelle Stadt« grundsätzlich in Frage stellte und der Stadtplanung eine völlig neue Orientierung gab: The Death and Life of Great American Cities von 1961 (Tod und Leben grosser Amerikanischer Städte 1963). Die Autorin Jane Jacobs (19162006) attackierte darin heftig Ebenezer Howards Garden City und Le Corbusiers Cité Radieuse und stellte so gut wie alle Prinzipien von CIAM in Frage: die räumliche Trennung der Funktionen, die räumliche Absonderung der Straßen von Wohn-, Arbeits- und Erholungsbereichen, die Zusammenballung übergeordneter Funktionen in Gemeinschaftszentren, die Trennung von Fußgänger- und Fahrverkehr und die Anordnung von Hochhäusern in Parks. Diametral entgegengesetzt betonte sie die herausragende Wichtigkeit »funktioneller Mischungen [functional mixtures]«47, die wo immer möglich hergestellt werden müssten. »Diversität« war ihr Schlagwort, verstanden als »Notwendigkeit von untereinander abhängigen, feinkörnig gesäten, verschiedenartigen Nutzungen [most intricate and close-grained diversity of uses], die sich ständig gegenseitig, sowohl wirtschaftlich als auch sozial gesehen, stützen«48. Jacobs Kritik war nicht, dass Architekten und Stadtplaner die Funktionen zu sehr betonten und dabei die Form vernachlässigten. Ihre Hauptkritik bezog sich auf die Funktionentrennung und

47 Jacobs 1963, S. 18, 71. 48 Ebd., S. 17.

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die mangelnde Sensibilität dafür, wie Funktionen in der Stadt zusammenhingen, einschließlich der Frage, wie diese sich formal ausdrückten. Sie kritisierte zum Beispiel die Vorgehensweise, »gewisse kulturelle oder behördliche Funktionen aus dem Gewebe der normalen Großstadt herauszulösen«49, da dadurch die Stadt an Intensität verliere. Jacobs verstand unter einer funktionierenden Stadt eine komplexe Einheit, die aus vielen, untereinander in vielfältiger Verbindung stehenden Teilen besteht. Alles andere, so Jacobs, sei eine »schwere funktionelle Krankheit [deep, functional sickness]« mit »tiefen funktionellen Unzulänglichkeiten [deep, functional inadequacies]«50. Das Vorhandensein von vier Aspekten war für Jacobs notwendig, um Diversität in der Stadt herzustellen: Nutzungsmischung, kleine Baublocks, verschieden alte Gebäude und Bevölkerungskonzentration. Bei diesen vier Aspekten waren materielle Form und Funktion immer gleich wichtig. Das Vorhandensein alter Gebäude in einem Stadtteil zum Beispiel, deren Erscheinung sich nicht für teure Firmen oder Geschäfte eigne, sorge für eine funktionelle und soziale Mischung, die sich positiv auf die Stadt auswirke. Stadtteile, die in ihrer Nutzung homogen seien, seien auch formal homogen und würden daher keine Orientierung geben. Die Anhäufung von öffentlichen Gebäuden in einem Stadtzentrum würde nur dazu führen, dass diese formal miteinander konkurrieren. Viel besser könnten sie in Form und Funktion ausstrahlen, wenn sie innerhalb der Alltagsstadt an besonderen Orten platziert wären. Was Jacobs mit ihrem Buch also grundsätzlich offenlegte, war die völlige Fehlinterpretation, was eine »funktionelle Stadt« sei. Sie machte unmissverständlich klar, dass die Stadtvision von CIAM genau das Gegenteil darstellte, eine anti-funktionelle Stadt. »Funktionale Monotonie« sei der Feind der »funktionalen Einheit«51 der Stadt, da für letztere Nutzungsmischungen notwendig seien. Gerade am Beispiel der Straße machte sie den Irrsinn deutlich, diese nur als Verkehrsverbindungen zwischen statischen Orten und nicht als multifunktionalen Raum zu verstehen. Sie räumte ein, dass komplexe Systeme funktionaler Ordnung nur schwer zu verstehen seien. »Einfache Reglementierung ist in dieser Welt aber höchst selten mit echter funktioneller Ordnung zu vereinen. [...] Die funktionelle Ordnung der Stadt erfordert, daß Intensität und Mannigfaltigkeit vorhanden sind«52. Am Ende ihres Buchs teilte Jacobs bemerkenswerte Einsichten mit, wie die Teile einer Stadt zusammenwirken. Völlig falsch sei es zu denken, dass die Straßen die Struktur bilden. Stattdessen wären es die Aufeinanderwirkungen der Nachbarschaften selbst, die diese Struktur herstellten.

49 Ebd., S. 25. 50 Ebd., S. 37, 40. 51 Jacobs 1961, S. 99 (engl.). 52 Jacobs 1963, S. 193-4.

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Auch der Stadtsoziologe Alexander Mitscherlich (1908-82) verstand in seinem Buch Die Unwirtlichkeit unserer Städte von 1965 Funktion ganz im Sinne des Wirkens von Teilen in einer Ganzheit. Der Prozess der Entmischung der Stadtfunktionen konnte seiner Meinung nach nur dazu führen, dass dieses Zusammenwirken gestört würde. Er bedauerte, dass die Stadtplaner ihre Arbeit als erledigt betrachteten, »wenn die Befriedigung vorgegebener Spezialfunktionen gewährleistet ist: Verkehrs- oder Vergnügungszentrum, Wohnsiedlung, Industrievorort. Die hochgradig integrierte alte Stadt hat sich funktionell entmischt.«53 Diesen »Unsinn der Entmischung der Stadtfunktionen« erkannte Mitscherlich als Kardinalfehler der modernen Städteplanung, als »Kapitalfall der Selbstzerstörung unserer städtischen Kultur«54. Die »Entmischung von Wohn- und Arbeitsgegend«55 erklärte er zum Hauptgrund für die neue Unwirtlichkeit der Städte: »Lösen sich die alten, gestalthaften Städte immer weiter in wuchernde Vorstädte auf, und entmischen sie sich gleichzeitig in ihren Grundfunktionen immer weiter, dann können natürlich die einzelnen Areale nur mehr Partialbefriedigung verleihen. Wenn Produktions-, Verwaltungs-, Vergnügungs- und Wohnbereiche regional streng getrennt sind, was hält dann das Leben in der Stadt noch zusammen? Dann werden hier und dort verstreut Teilwünsche befriedigt, die aber nicht mehr auf ein Ganzes bezogen, und der Erfahrung eines Ganzen integriert werden können.«56

Als Gegenbild entwarf Mitscherlich die Idee der Stadt als »Biotop«, nämlich als einen Ort, »an dem sich Leben verschiedenster Gestalt ins Gleichgewicht bringt und in ihm erhält«. Er fügte hinzu: »Zur allgemeinen biologischen Ausrüstung gehört es, Gleichgewichtslagen zu finden und zu erhalten, das Biotop nicht allzu grob zu stören.«57 Doch als Stadtsoziologe interessierte sich Mitscherlich letzten Endes für die einzelnen Individuen in Beziehung zur Gesellschaft. Das Problem, so Mitscherlich, ist die riesige Anzahl der Menschen, die es neu zu behausen gelte. Die Stadtplanung versorge die Masse, doch nicht die Individuen mit ihren einzelnen Wünschen und Lebensentwürfen. Stattdessen aber müssten die Stadtplaner sowie die Stadtbewohner die »von Generation zu Generation langsam verwirklichte Funktion« der Stadt wiedererkennen und einfordern, nämlich »der Ort der Selbstbefreiung des Menschen zu sein«58. Die Stadt müsse das Gleichgewicht zwischen

53 Mitscherlich 1965, S. 9. 54 Ebd., S. 16, 38. 55 Ebd., S. 15. 56 Ebd., S. 116. 57 Ebd., S. 39, 42. 58 Ebd., S. 69.

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Individualität und Gemeinschaft gewährleisten und ausdrücken. Die Gestalt der Stadt war für Mitscherlich »Sozialgestalt«, sie war Zeugnis des Einzelnen in seiner »Gruppenorientierung«59. Als Ergänzung zur Stadt übernahm die einzelne Wohnung »die biologische Schutz- wie die sozio-kulturelle Ausdrucksfunktion«, und so ermöglichten Stadt und Wohnung dem Menschen, »zwischen Sozialwesen und Individualwesen zu oszillieren«60. Jacobs und Mitscherlich waren die beiden wichtigsten Vertreter der Kritik an der herrschenden Städtebaupraxis. Es gab viele andere Quellen, zum Beispiel Wolf Jobst Siedlers und Elisabeth Niggemeyers eher auf erzählende Bilder setzendes Buch Die gemordete Stadt von 1964. Der Verlust des öffentlichen Raums war einer der Hauptkritikpunkte dieser Schriften. Jacobs wie Mitscherlich forderten die Rückkehr eines öffentlichen Bewusstseins und eine Verantwortung für den öffentlichen Raum. Dabei war Mitscherlichs Kritik an den deutschen, Jacobs’ eher an den amerikanischen Kontext gebunden. Mitscherlich sah die Lösung zur Überwindung der mangelhaften Städte und Großsiedlungen in einer neuen Bodenpolitik, die individuelles Landeigentum und Bodenspekulation aufgab. Damit stand er in der breiten Öffentlichkeit zwar nicht allein, doch setzte sich diese Idee in der Bundesrepublik und den westlichen Industrieländern nicht durch. Jacobs dagegen zelebrierte die Komplexität der alten gewachsenen Stadt und machte direkte pragmatische Vorschläge, wie eine komplexe, vielfältige, lebendige Stadt zu erreichen und zu erhalten sei, und hatte damit breiten Erfolg. Für unseren Zusammenhang ist interessant, dass die Idee des Funktionierens bei Jacobs und Mitscherlich grundsätzlich auf Komplexität beruhte. Was sich im allgemeinen Verständnis breit gemacht hatte – Funktionieren bedeutet Funktionentrennung – haben beide als Fehlinterpretation entlarvt. Jacobs Buch ist in seiner zeitgenössischen Wirkung herausragend und hat die Kritik und Überwindung vieler klassisch-moderner Doktrinen maßgeblich provoziert. Auch die Vertreter der Postmoderne haben sich auf Jacobs berufen.

P OSTMODERNE Die Postmoderne ist wie der Funktionalismus eine fragwürdige Klassifikation innerhalb der Architekturtheorie. Sie hat wie der Funktionalismus keine eindeutige Begriffsbestimmung. Es sind die Werke von Robert Venturi, Robert Stern und Charles Moore, die Charles Jencks 1977 mit dem Titel »hard-core PMs«61 versah,

59 Ebd., S. 63, 18. 60 Ebd., S. 133, 138. 61 Jencks 1977, S. 7 (englische Ausgabe).

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wobei diese Architekten wiederum ablehnten, als Vertreter der Postmoderne bezeichnet zu werden. Im weitesten Sinn könnte man sagen, dass die Postmoderne in ihren verschiedenen Ausrichtungen den Anspruch des Modernen als dem EwigNeuen in der Kunst hinterfragte. Sie suchte Antworten auf die offenen Fragen der Moderne und nur zweitrangig auf den Funktionalismus, den sie als eine Teilströmung innerhalb der Moderne betrachtete. Mit dieser allgemeinsten Erklärung von Postmoderne mag man verstehen, warum sich innerhalb der Architektur keine Bezeichnungen wie Post-International Style oder Post-Funktionalismus durchgesetzt haben, die sich bereits sehr speziell auf einzelne Diskurse bezogen hätten. Nur wenige Architekten und Theoretiker sprachen von Post-Funktionalismus, so Peter Eisenman 1976, worauf wir später zurückkommen werden. Generell war die Postmoderne keine Anti-Moderne und kein Anti-Funktionalismus, sondern vereinnahmte und verarbeitete die verschiedensten Stilrichtungen in ihren pluralistischen Theorien und kritisierte damit den Exklusivitätsanspruch der Moderne62. Charles Jencks fasste zur Bezeichnung Postmoderne treffend zusammen, dieses »glatte Wort ist sehr passend, es besagt lediglich, von wo man ausgegangen, aber nicht, wo man angekommen ist«63. Im Folgenden kann es aber nicht um eine Postmodernebestimmung gehen, sondern nur um die Frage, wie einzelne Architekten und Theoretiker, die allgemein der Postmoderne zugeschrieben werden, den Zusammenhang von Funktionen und Formen interpretierten. Dabei verlagerte sich insgesamt die Diskussion wieder weg vom Städtebau und hin zur Architektur. Die Zeitschrift Perspecta spielte eine wichtige Rolle in der Herausbildung der Postmodernediskussion in der Architektur. Charles Moores Artikel über die Villa Hadrian, die »dem Primat der Form gewidmet«64 sei, war ein frühes Beispiel der Modernekritik aus dem Jahr 1960. Doch insbesondere das Jahr 1965 förderte deutliche Kritik zutage: Es erschienen Moores You have to pay for the Public Life und eine Vorveröffentlichung von Robert Venturis Complexity and Contradiction in Architecture. Robert Venturi und Denise Scott Brown haben sich in Aufsätzen und Gebäuden intensiv mit dem Verhältnis von Funktion und Form auseinandergesetzt. Man kann ihnen sicher nicht vorwerfen, dass es ihnen nicht um Funktionen ging. Bereits 1966 schrieb Vincent Scully über Venturi, es »interessieren ihn die Funktionen, und die

62 Jencks 1978, S. 7-8: »Während die Moderne so exklusiv ist wie die Architektur Mies van der Rohes, ist die Postmoderne so total inklusiv, daß sie sogar ihrem puristischen Gegensatz einen Platz einräumt, wo es sich rechtfertigen läßt.« 63 Jencks 1978, S. 7. 64 Moore 1960, S. 26 (engl.).

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starken Formen verdanken sich dem Ausdrucksgehalt des Funktionalen«65. In seinem 1966 veröffentlichten Buch Complexity and Contradiction in Architecture (Komplexität und Widerspruch in der Architektur 1978) verstand Venturi unter architektonischer Funktion hauptsächlich das Programm und unter Programm Nutzungstypen wie zum Beispiel Krankenhäuser oder Laboratorien, einschließlich der Nutzungen, die gar nicht explizit in einem Programm benannt wurden, sondern sich aus dessen Komplexität ergaben. Für Venturi besaß schon ein kleines Wohnhaus ein komplexes Programm, doch sein besonderes Interesse galt dem »mehrfunktionalen Gebäude [multifunctional building]«, denn dieses barg die größte Herausforderung, nämlich »trotz aller Komplexität in Raumprogramm und Struktur auch als Ganzes geschlossen«66 in Erscheinung zu treten. Daneben interessierten Venturi auch die Funktionen einzelner Bauelemente in verschiedenen Maßstäben. Es ist interessant zu sehen, dass Venturis Kritik an der Moderne nicht auf deren analytisches Verfahren, Funktionen einzeln zu bezeichnen, abzielte. Das analytische Verfahren erschien Venturi fruchtbar für den Erkenntnisgewinn und er nannte seine eigene Vorgehensweise im Entwurf analytisch. Er beschrieb, wie er Analyse, also den Vorgang, »Architektur in ihre Einzelteile zu zerlegen«67, als Technik des Entwerfens häufig gebrauchte. Seine Kritik bezog sich aber darauf, dass die Moderne die Anzahl und Komplexität von Funktionen zu sehr reduziert und vereinfacht hätte. Mit diesem Grundfehler fortfahrend hätte sie dann für jede bestimmte Funktion eine einzeln sie bezeichnende Form zu bestimmen versucht, und also diese Analyse voreilig als Synthese betrachtet. Man müsse sich aber bewußt sein, dass Analyse »das gerade Gegenteil von Integration ist, dem letzten Ziel der Kunst«68. Integration sei der Moderne nicht gelungen, sie hätte »stattdessen Trennung und Spezialisierung von Funktionen auf allen Ebenen gefördert – beim Baumaterial ebenso wie bei der Konstruktion, in der Lageplanung ebenso wie beim Raumprogramm«69. In dieser Spezifizierung einzelner Funktionen sah er einen Hauptangriffspunkt der Moderne. Alle Gebäude der Moderne, die in »locker verbundene Gebäudeflügel bzw. Pavillons«70 zergliedert sind, wären Beispiele für Zergliederung und Verweigerung von integrierender Entwurfsarbeit. Er bezeichnete diese Vorgehensweise der Moderne als »Tradition des ›Entweder-oder‹«:

65 In Venturi 1978, S. 14. 66 Venturi 1978, S. 49. 67 Ebd., S. 15. 68 Ebd. 69 Ebd., S. 51. 70 Ebd., S. 49.

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»Die Tradition des ›Entweder-oder‹ hat die orthodoxe Architektur bestimmt: eine SonnenJalousie ist wahrscheinlich sonst nichts anderes mehr; tragende Elemente formen kaum je selbst einen Raum; eine Wand ist nicht durchbrochen von Fensteröffnungen, sondern wird gänzlich in Glas aufgelöst. Teile des Raumprogramms sind übertrieben spezifiziert und in bestimmte Flügel oder abgetrennte Trakte ausdifferenziert.«71

Für Venturi waren die Abhängigkeiten zwischen Funktionen und Formen offensichtlich. Die Diskussion, ob Funktion oder Form wichtiger sei, schien ihm »nicht mehr aktuell«, aber er mahnte, man solle »die Notwendigkeit ihrer wechselseitigen Interdependenz nicht vergessen«72. Er kritisierte und wahrscheinlich langweilte ihn auch die Einheit von simplifizierten Formen und simplifizierten Funktionen und er forderte stattdessen, als Ausdruck seiner Zeit, den Entwurf komplexer Formen für komplexe Funktionen. Gebäude hätten notwendigerweise sich widersprechende Funktionen, zum Beispiel private und öffentliche Funktionen, und daher müsse man auch sich widersprechende Formen zulassen. So schlug er vor, »Elemente mit Doppelfunktionen« einzusetzen, die die Moderne versucht hatte zu eliminieren, denn »den Puristen der Struktur und genauso den Organizisten ist doppelfunktionelle Form ein Greuel; dies wegen der nicht-exakten, mehrdeutigen Beziehung zwischen Form und Funktion, Form und Struktur«73. Venturi ging es in Komplexität und Widerspruch um den Zusammenhang von Teilen und Ganzen. »Die wichtigste Aufgabe des Architekten ist die Gestaltung des einheitlichen Ganzen bei Benutzung bewährter oder bei vorsichtiger Einfügung neuer Teile, wenn die alten versagen.«74 Die Frage, was komplexe Ganzheiten eigentlich sind und wie diese hergestellt werden können, spielte dementsprechend in seinem Architekturdenken eine große Rolle. Selbstkritisch sah er in seiner eigenen Entwurfstätigkeit die Gefahr, dass aus seiner Forderung nach Komplexität, Widerspruch, Paradox und Ambiguität eine Architektur entstehen könnte, die ebenfalls – wie die Moderne – keine Einheit des Werks erreichen würde. Diese Gefahr der mangelnden Einheit sei vielleicht noch größer in seiner Architektur als in der Moderne, weil sie ja geradezu die Forderung in sich barg, Teile in ihrer widersprüchlichen Uneinheitlichkeit zu zeigen. »Die Vermittlung der Gegensätze mag zu Resultaten führen, bei denen die Formen unklar werden und verschwimmen. Aber Gegensätze nur aufzureißen, vermittelt möglicherweise nichts als Ratlosigkeit.«75 Die Aufgabe müsse also sein, Gebäude zu schaffen, die sowohl Ganzheiten seien

71 Ebd., S. 37. 72 Ebd., S. 29. 73 Ebd., S. 52. 74 Ebd., S. 65. 75 Ebd., S. 71.

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als auch ihre inneren Widersprüche zeigen. Damit definierte Venturi ein klares entwerferisches Ziel. Die Villa Savoye, das P.S.F.S.-Gebäude in Philadelphia und Alvar Aaltos Architektur waren für ihn Beispiele gelungener komplexer Gebäude. Eine Strategie, die Venturi vorschlug, war, Teile bewusst als Fragmente auszubilden, sodass sie auf ein Ganzes verweisen. Diese Bedeutung von Fragmenten hatten wir schon bei Lodoli im zweiten Kapitel gesehen. Als Beispiel beschrieb Venturi die Zusammenstellung von Treppe und Kamin im Vanna-Venturi-Haus [Abb. 22] mit folgenden Worten: »Zwei vertikale Elemente – der unten offene Kamin und die Treppe – machen sich die zentrale Position gegenseitig streitig. Und jedes der beiden Elemente – das eine Inbegriff von Festigkeit, das andere ganz wesentlich leer – geht in Form und Position Kompromisse ein – d.h. sie beziehen sich aufeinander, um aus der Zweiheit des zentralen Kerns, den sie doch bilden, eine Einheit werden zu lassen. [...] Die Treppe, betrachtet man sie nur als mißlichen Restraum, scheint zweifellos schlecht zu sein; betrachtet unter dem Blickwinkel ihrer rela-

Abbildung 22: Vanna-Venturi-Haus von Robert Venturi, 1964. Treppe und Kamin beanspruchen den gleichen Ort im Haus, indem sie sich formal durchdringen.

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tiven Bedeutung in einer Hierarchie der Nutzungen und der Räume, ist die gleiche Treppe jedoch ein Fragment, das in angemessener Weise auf ein vielfältiges und widersprüchliches Ganzes verweist: insofern ist sie gut.« 76

Man kann also behaupten, dass Venturi eine funktionsorientierte Herangehensweise hatte. Dabei stellte er sich gegen einen vereinfachenden Funktionalismus, der die Anzahl der Funktionen reduzierte, ihre Komplexität vereinfachte, widersprüchliche Funktionen negierte und Funktionentrennung zum Formprinzip erhob, indem einer Nutzung genau eine Form zugeordnet wurde. Er empfand dieses Prinzip nicht als adäquaten Ausdruck seiner Zeit und stellte diesem das »mehrfunktionale Gebäude« entgegen, das komplexe und widersprüchliche Funktionen in einem Gebäude verband und Mehrdeutigkeit zum Prinzip erhob. Multifunktionalität war eine neue Forderung und Venturi war einer der ersten, der darauf hinwies. Damit kam er dem ursprünglichen Funktionsverständnis wieder nahe, denn Lösungen für Komplexitäten und Widersprüche zu finden, ist vielleicht gerade das, was die Idee der Funktion im Kern ausmacht, nämlich »eine Vielfalt von Funktionen in einem Ganzen zusammenfassen zu können«77. Dabei erkannte Venturi, dass Dinge gleichzeitig sowohl Ganzheiten als auch Teile eines größeren Ganzen sein müssen. Er bezeichnete dies als das »Paradoxon eines ganzen Fragments«, bei dem ein Bauwerk »zur gleichen Zeit in der einen Beziehung ein Ganzes und auf einer anderen, weiter gespannten Beziehungsebene doch auch wieder ein Fragment«78 sei. Das Interesse an Funktionen setzte sich auch in Venturis viel plakativerem Buch Learning from Las Vegas fort, das er zusammen mit Denise Scott Brown und Steven Izenour (im Folgenden VSBI) 1972 veröffentlichte (Lernen von Las Vegas 1979). Darin machten die Autoren keine relevante Unterscheidung zwischen Moderne und Funktionalismus, sondern definierten sie zusammen als abstrakte Reduktion auf ausschließlich architekturinhärente Elemente: Programm, Struktur und Konstruktion. Dementsprechend war ein Funktionalist oder Modernist jemand, der forderte, »Form soll sich aus der Funktion, der Struktur und der gewählten Konstruktionsmethode ableiten lassen«79. In diesem Buch stellten VSBI ihre berühmteste These auf, die sowohl die Symbolhaftigkeit als auch die Funktionalität von Architektur ansprach. Sie behaupteten, dass die gesamte Architektur aus zwei Bautypen bestand, dem »dekorierten Schuppen [decorated shed]« und der »Ente [duck]«. Unter einem »dekorierten Schuppen« verstanden sie ein Gebäude, das aus einem einfachen Raumvolumen mit einer vorgestellten, ornamentierten Fassade

76 Ebd., S. 189-90. 77 Ebd., S. 158. 78 Ebd., S. 160. 79 VSBI 1979, S. 141.

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bestand. Es war ein Gebäude, in dem »Raum und Struktur direkt in den Dienst der Nutzung gestellt und Verzierungen ganz unabhängig davon nur noch äußerlich 80 angefügt werden« . Im Gegensatz dazu war die »Ente« ein Gebäude, in dem Funktion, Struktur und Konstruktion die architektonisch signifikante Form bildeten. Die »Ente« kam ohne zusätzlich angefügte Symbole aus. VSBI fassten den Gegensatz folgendermaßen zusammen: »Die Ente ist ein Bau spezifischer Nutzung, der als Ganzes Symbol ist; der dekorierte Schuppen ist ein normales, schützendes Gehäuse, das Symbole verwendet.«81 Als Beispiel für »Enten« führten VSBI die Ikonen der Klassischen Moderne an. Dagegen bezeichneten sie die Pallazzi Farnese, Strozzi, Rucellai und Odescalchi, sowie ihr Guild House als »dekorierten Schuppen«. Die Kathedrale von Chartres sei beides. Für ihre eigene Architektur bevorzugten VSBI den »dekorierten Schuppen« mit der Begründung, dadurch könnten die Struktur, die Nutzung und die kommunikativen Elemente für den Nutzer effizienter herausgearbeitet werden. Denn sowohl die Nutzung und Konstruktion einerseits als auch die kommunikative Funktion des Gebäudes andererseits könnten so jeweils eine optimalere Form erhalten. Ihnen ging dabei nur wenig auf, dass sie mit dieser säuberlichen Trennung eines Gebäudes in ein hinteres »Obdach [shelter]« und eine »rhetorische Front [rhetorical front]«82 selbst das moderne Entwurfsverfahren des »Entweder-oder« anwandten, das sie ja ständig kritisierten. Die Methode des »dekorierten Schuppens« ist Funktionentrennung, unterliegt also Venturis eigener Kritik, die er in Komplexität und Widerspruch ausgeführt hatte. Die »Ente« war in sich komplexer und widersprüchlicher und hätte VSBI aus diesem Grund eigentlich besser gefallen müssen. Sie erkannten dies eigentlich auch selbst, indem sie sagten: »Ironischerweise hat die moderne Architektur gerade durch die Austreibung alles direkt Symbolischen, aller frech und großspurig schmückenden Beigaben das gesamte Gebäude in ein einziges Ornament verwandelt. Mit der Ablösung der Dekoration durch immanente ›Artikulation‹ wird der ganze Bau zur Ente.«83

Interessant für unseren Zusammenhang ist auch, dass VSBI zwischen Ausdruck (expression) und Repräsentation (representation) unterschieden. Repräsentation hatte für VSBI etwas mit der zusätzlichen Verwendung äußerer Ornamente und Symbole zu tun, während Ausdruck sich direkt aus Nutzung und Konstruktion,

80 Ebd., S. 105. 81 Ebd. 82 VSBI 1972, S. 64 (engl.). Die deutsche Übersetzung (1979, S. 105) spricht hier von einer »regendichten Behausung« und einer »geschwätzigen Fassade«. 83 VSBI 1979, S. 122.

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quasi aus inneren Anforderungen ergab. Anders gesagt: Die »Ente« war Ausdruck, der »dekorierte Schuppen« Repräsentation; die »Ente« sollte »bedeuten [connote]«, der »dekorierte Schuppen« sollte »anzeigen [denote]«. Die Moderne, so VSBI, hätte sich der Repräsentation verweigert und an ihre Stelle den Ausdruck zu setzen versucht, sie sei demnach eine Art von Expressionismus84. VSBI bevorzugten wiederum klar die Repräsentation, denn diese befreie die Nutzung und Konstruktion von der Pflicht, Ausdruck zu sein. Ihre Begründung war auch hier eine der Funktionen: Wenn man die kommunikative Funktion von den konstruktiven und räumlichen Funktionen trenne, können alle diese Funktionen umso besser erfüllt werden. Bis heute haben Venturi und Scott Brown ihre Theorien weiter ausgearbeitet. Stets ging es dabei um eine Auseinandersetzung mit Funktionen. Erstens betonten sie immer wieder die »kommunikative Funktion« von Architektur, die von der Moderne vernachlässigt worden sei. So begründete Venturi den »dekorierten Schuppen« damit, dass man nur dann einer »Funktion gestattet wirklich funktional zu sein«, wenn man »Form und Funktion erlaubt, getrennte Wege zu gehen«85. Zweitens wehrten sie sich gegen den Vorwurf, dass die einfachen Gehäuse hinter den zweidimensionalen graphischen Fassaden zu unspezifisch für das jeweilige Programm seien. Scott Brown konterte, dass in solchen Gebäuden »einige heutige Programmpunkte etwas weniger gut sitzen mögen, aber diese ändern sich wahrscheinlich sogar bevor das Gebäude gebaut ist. In vielen Projekten mag es für die zukünftige Flexibilität wertvoll sein, wenn etwas von der Einhaltung besonderer Detailpunkte des bestehenden Programms aufgegeben würde«86. Für beide Kritikpunkte muss man feststellen, dass die ursprüngliche Forderung nach Zulassung von komplexen und widersprüchlichen Funktionen und Formen, wie Venturi sie in Komplexität und Widerspruch vertrat, subtiler war, als in späteren Rechtfertigungen ihrer Arbeiten. Man kann aber zusammenfassen, dass Venturis und Scott Browns Schaffen in allen Phasen deutlich von der Auseinandersetzung mit dem Thema der Beziehung von Funktion und Form inspiriert wurde. In ihrem Essay The Redefinition of Functionalism von 2004 behauptete Scott Brown sogar: »Bob und ich sind starrsinnige Funktionalisten. Wir betrachten den Glauben an den Funktionalismus als einen der ruhmreichsten Aspekte der Moderne. Während postmoderne und neomoderne Architekten die Doktrinen über Funktion der frühen Moderne verlassen haben, sind wir aus moralischen und ästhetischen Gründen Funktionalisten geblieben.«87

84 Vgl. VSBI 1972, S. 97. 85 Venturi 1984, S. 111 (engl.). 86 Scott Brown 2004, S. 153 (engl.). 87 Ebd., S. 142. Vgl. Denise Costanzos Diskussion von Venturi und Scott Brown als Funktionalisten in: Costanzo 2012.

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Ein weiterer wichtiger Autor der Postmoderne, der ergiebig für unsere Analyse ist, ist Charles Jencks. Sein Buch The Language of Post-Modern Architecture erschien 1977 (Die Sprache der postmodernen Architektur 1978) und kann daher schon als Reflektion der ersten Dekade der Postmoderne betrachtet werden. Entgegen der gängigen Meinung, die Postmoderne sei nicht an Funktionen interessiert gewesen, müssen wir auch bei Jencks feststellen, dass er in seinen Überlegungen der Funktion – hauptsächlich als Gebäudeprogramm und Konstruktion verstanden – durchaus eine wichtige Bedeutung zubilligte. Dabei unterschied er in gewisser Weise zwei Modernen: einen formalen Internationalen Stil und einen »expressiven Funktionalismus«. Letzteren hatten wir auch schon bei VSBI angetroffen. Jencks kritisierte an den Architekten des Internationalen Stils, sie hätten die Funktion als unwichtig erachtet. Sein wichtigstes Beispiel war Mies van der Rohe, der seine Formensprache so eingesetzt hätte, dass die Gebäudenutzungen daran nicht ablesbar waren. Für Wohn- und Bürogebäude entwarf Mies van der Rohe die gleichen Vorhangfassaden. Seine Campusbauten für das Illinois Institute of Technology in Chicago, die er in den 1940er und 50er Jahren realisiert hatte, hätten das offensichtliche Problem, dass die einzelnen Funktionen von außen nicht ablesbar seien. Die Fakultät für Astrophysik sähe aus wie eine Fabrik, das Heizhaus wie die Kathedrale, die Kapelle wie das Heizhaus, und die Architekturfakultät wie der Sitz des Universitätspräsidenten88. Mit keinem Wort analysierte Jencks dabei den funktionalen oder ästhetischen Zusammenhang der Gebäude zueinander oder wie sie in ihrer gegenseitigen Wechselwirkung die Gesamtheit des Campus herstellten, sondern nur die einzelnen Gebäude für sich und ihr mangelnder Ausdruck der verschiedenen Funktionen. In dieser Kritik wird deutlich, dass die Darstellung der Nutzung für Jencks offenbar ein wichtiges Element bedeutete. Die andere Richtung der Moderne, der »expressive Funktionalismus«, hätte, so Jencks, direkte Verknüpfungen von Funktionen und Formen produziert, indem »jeder Funktion ein klares und getrenntes Raumvolumen zugestanden wird, das in der Idealvorstellung einen Umriß der Funktion darstellt«89. In Konstantin Melnikovs 1928 in Moskau fertiggestelltem Russakov Club zum Beispiel wären die Auditorien an der äußeren Form klar ablesbar: »Die Formen folgen, mehr oder weniger, den für die Funktionen erforderlichen Volumen«90. Das Opernhaus in Sydney von Jørn Utzon, gebaut 1957-73, besprach er als Gegenbeispiel, da man an der äußeren Hülle nicht ablesen könne, wo die einzelnen Säle seien:

88 Vgl. Jencks 1978, S. 15. 89 Jencks 1978, S. 44. 90 Ebd.

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»Man kann die verschiedenen Theater, Restaurants und Ausstellungsräume nicht hinter den Schalen ablesen, daher ist es ein Ärgernis für Architekten, die in der Tradition des expressiven Funktionalismus aufgewachsen sind. Sie erwarten, daß jeder Funktion ein klares und getrenntes Raumvolumen zugestanden wird, das in der Idealvorstellung einen Umriß der Funktion darstellt – wie das Auditorium.«91

Mit Bezug auf Venturi behauptete Jencks, dass Utzons Opernhaus trotzdem eine »Ente« sei, weil nämlich seine Konstruktion die Form dominieren würde. Jencks gefiel das Opernhaus, er unterstellte aber zugleich Venturi, dass dieser wohl Utzons Bau ablehnen würde, da er kein »dekorierter Schuppen« sondern eine »Ente« sei. Jencks kritisierte Venturis klare Bevorzugung des »dekorierten Schuppens« mit der Begründung, man sollte keine Möglichkeit der Kommunikation von vornherein ausschließen. »Entgegen Venturis Meinung brauchen wir mehr Enten«92 proklamierter er, da diese ihre zugrunde liegenden Ideen artikulierten. Jencks’ Kritik zielte darauf, den durchtrennten Zusammenhang von Ausdruck und Funktion wiederherzustellen, indem architektonische Zeichen zur Sichtbarmachung von Funktionen in die Architektur integriert werden. Sein besonderes Interesse galt der Frage, wie Formen und Funktionen miteinander assoziiert werden können. Für Jencks war es offensichtlich, dass Formen vor Funktionen entstehen können, um erst in einem zweiten Schritt mit einer bestimmten Funktion assoziiert zu werden. Dabei ging es nicht um eine faktische Entsprechung von Form und Funktion, sondern um die assoziative Aneignung. Folgender Abschnitt soll dazu ein Beispiel geben: »So wurden Ende der fünfziger Jahre die ersten vorgefertigten Betongitter als ›Käsereiben‹, ›Bienenstöcke‹, ›Kettenzäune‹ bezeichnet. Dagegen benannte man sie zehn Jahre später, als sie zur Norm bei einem bestimmten Gebäudetyp geworden waren, in funktionalen Begriffen: ›Es sieht aus wie ein Parkhaus.‹ Von der Metapher zum Klischee, vom neuen Ausdruck durch ständige Verwendung zum architektonischen Zeichen, das ist der immer wiederkehrende Ablauf, dem neue und erfolgreiche Formen und Techniken folgen.«93

So weit konnte man also bei Jencks ein deutliches Interesse an Form-Funktion-Beziehungen sehen. Doch kann man auch klare Grenzen an diesem Interesse erkennen. In seinem Buch erhellt der Erläuterungstext zum Foto einer Bank [Abb. 23], welchen Stellenwert die Funktionen für Jencks besaßen. Das Foto zeigt ein einfaches Wohnhaus mit einer davorgestellten Plakatwand, die eine klassizistische

91 Ebd.

92 Ebd., S. 46. 93 Ebd., S. 40.

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Fassade abbildet, also eine Art von VSBIs »dekoriertem Schuppen«. Jencks beschrieb den vorderen Teil des Gebäudes, also die Plakatwand, als »Status und Sicherheit« kommunizierend, den hinteren Teil als »Funktion«. Das Gebäude hinter der Werbewand war aber ganz offensichtlich ein kleines Wohnhaus, sodass man durchaus die Frage stellen kann, was an diesem Wohnhaus denn die Funktionen einer Bank bereitstellte? Die Türe ist klein, man weiß nicht, ob der Bankschalter rechts oder links steht, welche Bankfunktionen man im Obergeschoss, also im Dachraum erledigen kann, und ob dieses Holzhaus wohl sicher gegen Überfälle ist. Funktion reduziert sich in dieser Bildunterschrift auf Bereitstellung eines nicht weiter beschriebenen Raums, in dem man etwas irgendwie erledigen kann. Obwohl Jencks also einerseits die Wichtigkeit der Funktion proklamierte, zeigte er anderer-

Abbildung 23: Charles Jencks zeigte am Beispiel der Security Marine Bank, wie »Kommunikation« und »Funktion« voneinander getrennt werden können: »Security Marine Bank, Wisconsin, 1971. Der symbolische Schuppen, ein Teil Kommunikation von Status und Sicherheit, der andere Funktion. Kommerzielle Zwänge trennen auch heute natürlich den Signifikanten und das Signifikat, aber gewöhnlich nicht auf so deutlich sichtbare Weise.« [Jencks 1978, S. 45] Wie man aber in diesem Gebäude die Funktionen einer Bank tatsächlich ausüben sollte, erläuterte Jencks nicht weiter.

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seits gleichzeitig, wie unwichtig doch tatsächliche Funktionen waren. An sich war für Jencks die Funktion nur in der Plakatwand interessant, als die Methode, die Funktion »Bank« zu kommunizieren – wobei man auch hier Zweifel anbringen kann, ob die Plakatwand tatsächlich »Status und Sicherheit« vermittelt. Ähnlich verhielt es sich mit dem Foto eines Donut-Kiosks, der von einem übergroßen Plastik-Donut bekrönt wird und von Jencks mit den Worten beschrieben wurde: »Im Gegensatz zu so vielen modernen Bauten sprechen diese ikonischen Zeichen mit Exaktheit und Humor über ihre Funktion. Ihre – wenn auch infantile – unmittelbare Wiedergabe drückt die Wahrheit der Fakten aus (die das Werk von Mies verschleiert)«94. Nun kann man zwar sagen, dass die Donut-Krone in ihrer unmittelbaren Zeichenhaftigkeit sicher Donut-Käufer anlockte, die tatsächlichen Funktionen aber, wie Donuts produziert oder verkauft wurden, waren Jencks völlig unwichtig. Jencks zeigte zwar ein Interesse am Zusammenhang von Funktion und Form, dieses bezog sich jedoch auch hier ausschließlich auf einen bildhaften Zusammenhang, auf die Möglichkeit der Assoziation. Seine Forderung, dass eine Metapher zu ihrer Funktion passen müsse95, hatte nur mit der Kommunikation der prinzipiellen Funktion – Bank, Donut-Kiosk – zu tun, aber nicht mit den eigentlichen spezifischen Handlungen von Menschen in diesen Gebäuden. Jencks war also nur an Funktionen interessiert, sofern diese formal-assoziativ verwertbar waren. Er kritisierte einerseits die Bedeutungslosigkeit der Funktionen bei Mies van der Rohe, doch andererseits war »Eisenmans sardonischer Haß der Funktion« für ihn akzeptabel, denn trotz Eisenmans modernistischer Formensprache befand er »die Doppeldeutigkeit und Sinnlichkeit seiner räumlichen Vorstellungskraft postmodern.«96 Jencks unterschied ikonische, indexikalische und symbolische Zeichen. Utzons Opernhaus und VSBIs »Ente« waren Ikonen. Indexikalische Zeichen verwiesen unmittelbar auf die Funktion, zum Beispiel ein linearer Korridor. Und symbolische Zeichen waren die Donutplastik oder die Plakatwand der Security Marine Bank. Auf den Anspruch nach Angemessenheit der zeichenhaften Form gegenüber der Funktion kam Jencks immer wieder zurück, zum Beispiel, als er die einzelnen Strömungen der Postmoderne beschrieb, den Historismus Venturis, den »Straight Revivalism« des Getty-Museums mit seiner »offensichtlichen funktionalen Angemessenheit« oder den »Adhoc-Stil« von Ralph Erskines Byker-Renewal-Projekt, bei dem es um »Mehrfachnutzung von Aktivitäten und entsprechenden Mehrfachausdruck von Funktionen« ging97.

94 Ebd., S. 46. 95 Vgl. Jencks 1978, S. 50. 96 Jencks 1978, S. 122. 97 Jencks 1977, S. 95 (engl.); Jencks 1978, S. 104.

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Die Frage, wie in der Architektur Teile und Ganzheiten hergestellt werden können und was ein architektonisches Ganzes sei, bewegte auch Jencks. Er verwies auf die Villa Hadrian als Beispiel einer komplexen, nicht-totalen Einheit, auf die sich auch Louis Kahn, Sigfried Giedion, Mathias Ungers und Vincent Scully bezogen hätten. Er untersuchte dieses Thema auch anhand von Léon Kriers Vogelperspektiven von Stadtteilentwürfen, die mit ihren identifikationsstiftenden Achsen und Plätzen sowohl Ganzheiten hervorbrachten als auch auf die größere Ganzheit einer Stadt verwiesen. Die Vogelperspektive von Kriers zweitem Preis im Pariser La Villette-Wettbewerb zeigte solch eine Balance zwischen der Einheit als Stadtquartier und dem Verweis auf das größere Stadtgefüge von Paris. Kriers Entwürfe waren offene Ganzheiten. In dieser Strategie ähnelten sie den zahlreichen Beispielen in Colin Rowes und Fred Koetters Buch Collage City von 1978. Der Raum der Moderne, so Jencks, war »begrenzt durch Einfassungen oder Ränder und rational oder logisch ableitbar vom Teil zum Ganzen oder vom Ganzen zum Teil. Im Gegensatz dazu ist der postmoderne Raum historisch bestimmt, verwurzelt in Konventionen, unbegrenzt oder doppeldeutig in der Flächenaufteilung und ›irrational‹ oder veränderlich in seiner Beziehung vom Teil zum Ganzen.«98

Blickt man nur auf die Schriften von Jencks, Venturi, Scott Brown und Izenour – als kleine Gruppe beispielhafter Vertreter der Postmoderne – so sehen wir mannigfaltige Reaktionen auf die Funktion-Form-Fragen, die die Moderne aufgeworfen hatte. Als Erstes ist die Kritik an der Moderne zu nennen, Entwürfe als Analyse von Problemen aufzufassen und gleichzeitig über Themen der Synthese zu schweigen. »Aber es ist völlig klar, warum ›Probleme‹ keine Architektur produzieren. Sie produzieren vielmehr ›rationale‹ Lösungen in reinem Stil für allzu simplifizierte Fragestellungen«99, so Jencks. Die zweite Kritik bezog sich auf das reduktionistische Verständnis der Funktionen, dem die Anerkennung von lebensweltlicher Komplexität entgegengehalten werden müsste. »Die Postmoderne gibt«, so Jencks, »die klare, unumstößliche Ordnung der Ereignisse zugunsten eines labyrinthischen, weitschweifigen ›Weges‹ auf, der niemals ein absolutes Ziel erreicht«100 . Drittens führte die Postmoderne das Suchen nach Synthese als dem Schaffen von Ganzheiten fort. Eine vierte Kritik galt dem vermeintlichen Exklusivitätsanspruch der Moderne. Die Postmoderne strebte stattdessen eine Codierung ihrer Architektur an, deren einer Teil sich an eine Elite und deren anderer Teil an »den Mann auf der

98

Jencks 1978, S. 118.

99

Ebd., S. 13.

100 Ebd., S. 124.

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Strasse«101 richtete. Der Betrachter konnte selbst entscheiden, zu welcher Kategorie er gehörte. Die Codierung des Donut-Kiosks mochte die eine Gruppe besser verstehen, den Sprenggiebel des Vanna-Venturi-Hauses die andere. Damit aber war die Postmoderne elitärer als die Moderne, die mit ihrer Architektur keine derartige Unterscheidung traf, sondern die gleiche potentielle intellektuelle Kapazität aller voraussetzte.

M ONOFUNKTIONALISMUS , N AIVER F UNKTIONALISMUS , B AUWIRTSCHAFTSFUNKTIONALISMUS Bisher konnte man in den ausgewählten Schriften der CIAM, der Städtebaukritik und der Postmoderne sehen, dass der Begriff Funktionalismus zwar gebraucht, aber in den einzelnen Diskursen nicht wirklich thematisiert wurde. Es gab jedoch auch eine ganze Reihe von Fachpublikationen, die sich explizit mit der Auslegung des Funktionalismus und des Funktionsbegriffs beschäftigten. Im Folgenden sollen einige dieser Publikationen zwischen 1950 und 1980 vorgestellt und miteinander verglichen werden. Theoretiker der unmittelbaren Nachkriegszeit, die sich mit der Idee des Funktionalismus beschäftigten, versuchten zunächst, den Begriff der Funktion zu erweitern und anschließend ein gewonnenes Begriffsfeld – bestehend unter anderem aus Funktion, Zweck, Leistung oder Aufgabe – auf sein Verhältnis zur Form hin zu überprüfen. Einen sprachgeschichtlichen Ansatz, also eine Untersuchung der tatsächlichen Verwendung des Worts Funktion in historischen Texten mit der Absicht, sich Bedeutungsinhalte zu erschließen, gab es nicht oder beschränkte sich im Großen und Ganzen auf die Interpretation von Louis Sullivans »form follows function« und mitunter auch auf Horatio Greenough. Man betonte die Unzulänglichkeit des Begriffs Funktion, erweiterte ihn und entfaltete anschließend seine eigene Idee des Funktionalismus. Zwei Protagonisten für diese Herangehensweise aus den 1950er Jahren waren Lewis Mumford mit seinem Text Symbol and Function in Architecture in seinem Buch Art and Technics von 1952 (Kunst und Technik 1959) sowie Edward Robert de Zurko mit seinem Buch Origins of Functionalist Theory 1957. Mumford und de Zurko stellten beide die Frage, was Funktion eigentlich meine und kritisierten die Enge des Wortsinns, um anschließend den Funktionsbegriff neu zu interpretieren und zu erweitern, und daraus die Idee des Funktionalismus abzuleiten. Mumfords Anliegen war, die Bedeutung des architektonischen Ausdrucks zu rehabilitieren,

101 Ebd., S. 8: »Daher die Doppelkodierung, die Architektur, welche die Elite und den Mann auf der Straße anspricht.«

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dem sich, nach seiner Meinung, die Architekten seit den 1920er Jahren so vehement verweigerten. Aus der Erkenntnis, dass man sich aus der selbstgewählten formalen Armut befreien müsse, folge aber nicht, so Mumford, »daß der Funktionalismus zum Absterben verurteilt ist, es bedeutet vielmehr, daß es an der Zeit ist, die objektiven Funktionen mit den subjektiven Funktionen in Einklang zu bringen«102. In seinem Text wollte er das richtige Verhältnis von Funktion und Ausdruck ausloten und stellte dabei die Phrase »form follows function« keineswegs in Frage, sondern nur ihre eng gefasste Interpretation: »In Wirklichkeit muß sich der Funktionalismus zwei wesentliche Modifikationen gefallen lassen. Die erste ist, daß wir Funktion nicht in einem bloß mechanischen Sinne nehmen dürfen, als ob er sich nur auf die physikalischen Funktionen des Gebäudes bezöge. [...] Mit anderen Worten – und dies ist die zweite Modifikation – Ausdruck ist eine der primären Funktionen der Architektur.«103

De Zurkos Strategie der Erweiterung war, die architekturtheoretisch-historischen Begriffe convenience, fitness, utility und purpose für den Funktionalismus zu vereinnahmen, indem er diese nicht voneinander abgegrenzte. Die feinen Bedeutungsunterschiede dieser Begriffe schienen in seiner Architekturdiskussion nicht von Interesse, sondern er ging ihm darum, ein Begriffsfeld zu schaffen, das mit Funktion umschrieben werden konnte. Dabei grenzte er, gegensätzlich zu Mumford, soziale und monumentale Funktionen in seiner Definition von Funktionalismus aus: »Es gibt zahlreiche zusammenhängende Typen von Funktionen, zum Beispiel die praktischen oder materiellen Bedürfnisse der Bewohner eine Gebäudes; der funktionale Ausdruck der Struktur; die psychologischen Bedürfnisse der Bewohner; die soziale Funktion der Architektur; und die symbolisch-monumentale Funktion von Architektur. Funktionalismus assoziiert man generell mit den ersten beiden: den praktischen, materiellen Bedürfnissen der Bewohner eines Gebäudes und dem Ausdruck der Struktur.«

104

Mit dieser Definition ausgerüstet machte sich de Zurko dann in der Architekturtheorie seit Vitruv auf die Suche nach Zusammenhängen zwischen Funktion und Form. Man kann sich leicht vorstellen, dass er überall fündig wurde. Eine ähnliche historische Verankerung des Funktionalismus findet man einige Jahre später in Peter Collins Buch Changing Ideals in Modern Architecture von 1965. Collins führte den Funktionalismus auf verschiedene Analogiebildungen seit 1750 zurück,

102 Mumford 1959, S. 97. 103 Ebd., S. 105. 104 De Zurko 1957, S. 7 (engl.).

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nämlich auf eine biologische, eine mechanische, eine gastronomische und eine linguistische Analogie. Mit seinem Buch wollte er eine Ideengeschichte darstellen, die vor allem bei den Themen der Gastronomie und Linguistik eher assoziativ war und von anderen Autoren auch nicht weiter verfolgt wurde. Zwei Kerntexte zur Funktionalismusinterpretation der 1960er Jahre waren Jürgen Joedickes Anmerkungen zur Theorie des Funktionalismus in der modernen Architektur von 1965 und Theodor Adornos Funktionalismus heute von 1965/66. Joedicke unterschied zwischen einem »naiven« und einem »realen« Funktionalismus. Der »naive Funktionalismus« war für ihn der vermeintliche Glaube, dass ein direkter Determinismus zwischen Funktion und Form in der Architektur vorliege, dass man also eine architektonische Funktion ganz eindeutig konkretisieren und dann auf eine bestimmte Form schließen könne. Diesem stellte er den »realen Funktionalismus« gegenüber, bei dem der Architekt die Beziehung von Funktion und Form selbst entwickelte. Beide Richtungen, so Joedicke, erkennen an, dass die Architektur Funktion-Form-Beziehungen ausdrücken solle, doch nur der »reale Funktionalismus« akzeptiere, dass im Entwurf eine »Unveräußerlichkeit der ästhetischen Entscheidung des einzelnen«105 vorlag. Adornos Aufsatz Funktionalismus heute ging aus einem Vortrag auf der Tagung des Deutschen Werkbunds in Berlin 1965 hervor. Darin bezeichnete Adorno ein Werk als funktional, wenn es eine Entsprechung von Inhalt und Form »ohne ornamentalen Überschuß« zeigte und »immanente Logik«106 besaß. Funktionalismus war dementsprechend eine Frage sowohl der zweckfreien als auch der zweckgebundenen Künste, deren Trennung ohnehin in Frage zu stellen sei, denn weder gäbe es »Ästhetisches an sich« noch »chemisch reine Zweckmäßigkeit«107. In der Architektur könne man den Zweck als Inhalt des Werks nicht negieren. In ihr sei »Raumgefühl […] ineinander gewachsen mit den Zwecken« und also sei die Synthese von Raumgefühl und Zwecken »ein zentrales Kriterium großer Architektur. Diese fragt: wie kann ein bestimmter Zweck Raum werden, in welchen Formen und in welchem Material; alle Momente sind reziprok aufeinander bezogen.«108 Von diesen grundsätzlichen Anmerkungen ging Adorno über zu dem »Unbehagen, das mich beim deutschen Wiederaufbaustil befällt«109, und führte es auf einen falschen, nur so bezeichneten Funktionalismus zurück, bei dem es nicht um den Zusammenhang von Inhalt und Form, sondern um Profitinteressen gehe. Die Dinge erscheinen nur so, »als wären sie um der Menschen willen da [...]; sie

105 Joedicke 1965, S. 23. 106 Adorno 1999, S. 201, 199. 107 Ebd., S. 200. 108 Ebd., S. 206-7. 109 Ebd., S. 198.

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werden produziert um des Profits willen, befriedigen die Bedürfnisse nur beiher, rufen diese nach Profitinteressen hervor und stutzen sie ihnen gemäß zurecht«110. Da es also nur noch einen »geronnenen Gegensatz des Zweckvollen und Zweckfreien« gäbe, schloss Adorno mit der Feststellung, dass im heutigen Funktionalismus ein grundsätzlicher Widerspruch stecke: »Das finstere Geheimnis der Kunst ist der Fetischcharakter der Ware. Aus ihrer Verstrickung möchte der Funktionalismus ausbrechen und zerrt vergebens an den Ketten, solange er der verstrickten Gesellschaft hörig bleibt.«111 Bei Adorno wie auch bei Joedicke kann man eine Identifikation mit den Idealen eines grundsätzlichen Funktionalismus erkennen, den beide jedoch genauer bestimmen mussten, da er sich anfällig zeigte, von Kleindenkern und Wirtschaftsinteressen ausgebeutet zu werden. Auch die 1970er Jahre haben einige interessante Funktionalismusdiskussionen hervorgebracht, die sich weiterhin um eine Interpretation des Funktionsbegriffs drehten112. Die Bemerkung der Redaktion der Zeitschrift archithese, dass »Funktionalismus« und »funktionale Gestaltung« Begriffe seien, »die Staub angesetzt haben«, hielt sie nicht davon ab, 1973 das Heft Zweck   Form im silberglänzenden Umschlag herauszugeben, auf das im ersten Kapitel eingegangen wurde [Abb. 2]. Rudolf Arnheim definierte darin, »›Funktion‹ im weitesten Sinne umfasst jeden Zweck, den ein Gebäude oder ein Gerüst erfüllen könnte; das heisst, er bezieht sich auf das Wohlbefinden des Körpers und des Geistes«113. Arnheim lag somit in der Tradition derjenigen, die den Funktionsbegriff zu erweitern suchten. So auch das Buch The Concept of Function in Twentieth-Century Architectural Criticism, in dem sein Autor Larry Ligo eine Erweiterung des Begriffs unternahm und Gebäude nach ihrer Artikulation der »strukturellen«, »physischen«, »psychologischen«, »sozialen« und »kulturell-existentiellen« Funktionen untersuchte114 . Zu Beginn seines Buchs gab er eine Definition des Funktionsbegriffs, deren Breite diesen geradezu aufzulösen schien:

110 Ebd., S. 209. 111 Ebd., S. 211, 210. 112 Vgl. z.B. Gerlach/Laudel/Möbius 1972, S. 94: »Funktion bezeichnet in der Architekturtheorie die Aufgabe bzw. Leistung von Gebautem (Gebäude, städtebauliche Einheit, Stadt), die es zur Befriedigung spezifischer menschlicher Bedürfnisse erfüllt. Sofern es sich dabei um Architektur handelt, sind diese Leistungen sowohl auf die Erfüllung materieller Bedürfnisse als auch auf die Erfüllung von Bedürfnissen nach künstlerischem Ausdruck in der baulichen Umwelt gerichtet. Die Funktion von Werken der Architektur besitzt demnach immer eine materielle und eine ideelle Seite, die sich wechselseitig bedingen.« 113 Arnheim 1973, S. 8. 114 Ligo 1984, S. 5 (engl.).

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»Das traditionelle Verständnis von ›Funktion‹, das auch die Grundlage für meinen Gebrauch der Worts ist, ist ›Brauchbarkeit [utility]‹, ›Fitness für den Zweck‹; es ist die ›Aufgabe‹, die ein Gebäude erfüllen soll, der Effekt auf jene, die es gebrauchen oder ansehen. Es ist daher die ›Bequemlichkeit [commodity]‹ von Vitruvs ›commoditas, firmitas und venustas‹, in dem ›firmitas‹ and ›venustas‹ Technik und Form sind. [...] Der weniger traditionelle Sinn, in dem der Begriff ›Funktion‹ hier verstanden wird, hat mit der Anerkennung der verschiedenen Verzweigungen der architektonischen ›Bequemlichkeit‹ zu tun. Zusätzlich zur mehr direkten ›Arbeit‹, die ein Gebäudes leistet [...], gibt es auch die weniger greifbaren, weiterreichenden, profunderen Effekte, die Architektur auf Menschen hat.«115

Schärfere Einsichten ergaben sich aus dem Symposium Das Pathos des Funktionalismus, das 1974 in Berlin unter der Leitung von Heinrich Klotz (1935-99) stattfand und dessen Beiträge von Aldo Rossi, Robert Venturi und Denise Scott Brown, Adolf Lorenzer, Adolf Max Vogt und Julius Posener in der Zeitschrift werk-archithese 1977 veröffentlicht wurden. Klotz forcierte vehement den Gegensatz einer »Architektur der blossen Zwecke« und einer »Architektur der bildhaften, auf Inhalte bezogenen Phantasie«116 , den er später zur Formel »nicht nur Funktion, sondern auch Fiktion!«117 verkürzte. Seiner Meinung nach verdiente das architektonische »Desaster der Gegenwart« nicht den Titel Funktionalismus und so prägte er die Bezeichnung »Bauwirtschaftsfunktionalismus«118 . Unter dem Funktionalismus der Klassischen Moderne verstand er eine »Poesie [...], deren Ästhetik Verzicht auf Repräsentation«119 bedeutete. Eine solche Einteilung in positiv und negativ konnotierten Funktionalismus haben wir bereits in Joedickes »realem« und »naivem« Funktionalismus gesehen und wir treffen sie in der werk-archithese auch bei Adolf Max Vogt als »qualifizierten« und »defizienten Funktionalismus«120 und bei Posener in der Bezeichnung »ausgehöhlter Funktionalismus« an. Auch Aldo Rossi sprach vom »naiven Funktionalismus«, eine Formulierung, die er bereits 1966 in seinem Buch L’Architettura della Città (Die Architektur der Stadt 1973) ausformuliert hatte und in der werk-archithese fast wörtlich wiederholte: »Damit meine ich jene vom naiven Empirismus diktierte Vorstellung von Funktionalismus, derzufolge die Funktionen die Form bestimmen und damit allein die städtische Struktur und Architektur bilden. [...] Das bedeutet jedoch nicht, dass der Funktionsbegriff in seiner

115 Ebd., S. 1. 116 Klotz 1977, S. 3. Siehe auch S. 4: »Architektur des Zweckprimates«. 117 Klotz 1984a, S. 10. 118 Klotz 1977, S. 4. 119 Ebd., S. 6. 120 Vogt 1977, S. 30.

212 | F UNKTIONEN UND F ORMEN eigentlichen Bedeutung abgelehnt werden soll. Dieser ist nämlich mathematischer Natur und impliziert, [...] dass zwischen den Funktionen und der Form komplexere Beziehungen als die von Ursache und Wirkung hergestellt werden müssen.«121

Rossi lehnte die Analogie von physiologischem Organ und architektonischer Form entschieden ab. Er bestand darauf, dass Architektur »autonome Qualität«122 unabhängig von praktischen Funktionen besaß und keinesfalls vergleichbar war mit der direkten Beziehung zwischen Form und Funktion bei Organen. Daher müsse man unabhängig von den praktischen Funktionen die Stadt in ihrer physischen Struktur und die Architektur in ihrer Typologie studieren. Insgesamt versammelten sich damit auf diesem Symposium kritische und präzisierende Stimmen zum Funktionalismus, die diesen aber nicht radikal ablehnten. Eine wichtige Funktionalismusdiskussion wurde auch in der amerikanischen Zeitschrift Oppositions zwischen 1976 und 81 geführt. In einer Reihe von Heften erschienen mehrere Artikel, die das Thema Funktionalismus vielfältig beleuchteten. 1976 rief Mario Gandelsonas einen »Neo-Funktionalismus« aus, unter dem er sowohl Venturis »Neo-Realismus« als auch Rossis »Neo-Rationalismus« zusammenführte, da beide den historischen Funktionalismus zwar kritisierten, aber auch weiterentwickelten und sich daher im gleichen Kanon bewegten123. Peter Eisenman widersprach Gandelsonas im folgenden Heft. Für ihn stellte der Funktionalismus eine letzte Phase des Humanismus dar, der nun obsolet geworden sei, da der Mensch nicht mehr im Weltzentrum stehe. Statt »Neo-« müsste man demnach nun den »Post-Funktionalismus« ausrufen, denn dieser sei »ein Konzept des Abwesenden. Durch seine Negation des Funktionalismus deutet er bestimmte positive, theoretische Alternativen an – bestehende Gedankenfragmente, die, betrachtet man sie näher, als Grundgerüst zur Entwicklung einer größeren theoretischen Struktur dienen können, welche ein neues Bewußtsein in der Architektur begründet, dessen Entfaltung nun – wie ich glaube – unsere Aufgabe ist.«124

Drei Jahre später wurde in Oppositions 17 (1979) die Übersetzung von Theodor Adornos Funktionalismus heute herausgegeben. Und 1981 stach das Heft Oppositions 24 mit dem Aufsatz Monofunctionalism in Architecture Between the Wars des schweizerischen Philosophen Elmar Holenstein (*1937) hervor, bei dem es sich ebenfalls um eine Übersetzung handelte. Holenstein beschrieb in seinem

121 Rossi 1977, S. 39-40. Vgl. Rossi 1973, S. 29. 122 Rossi 1973, S. 29. 123 Gandelsonas 1976, S. 7-8. 124 Eisenman 1995, S. 41 (Orig. Eisenman 1976, S. 4).

F UNKTIONALISMUS UND SEINE K RITIK

| 213

Aufsatz, wie sich in der Klassischen Moderne die Entwurfsstrategien der Entflechtung und Differenzierung einzelner Funktionen und der Zuweisung von autonomen Baukörpern für jede Funktion als formales Prinzip verselbständigten. Dieser »monofunktionalistische Purismus«125 sei deutlich nachweisbar bei Le Corbusier, Hannes Meyer, Walter Gropius und anderen. Dementsprechend definierte er den Funktionalismus der Klassischen Moderne als »Monofunktionalismus«, dessen Armut letztlich darin bestand, dass er die »komplexen Verhältnisse zwischen Funktion und Form auf das lineare von Ursache und Wirkung« zu reduzieren versucht und dabei der »Form ihrer vielfältigen Motivationen beraubt«126 hätte. Dagegen hätten bereits die Literaturwissenschaftler zur Zeit der Klassischen Moderne, insbesondere Jan Mukařovský, herausgefunden, dass Funktionalismus dem Sinn nach doch eigentlich immer ein »Plurifunktionalismus«127 sein müsse, bei dem die komplexen Beziehungen verschiedener Funktionen im Vordergrund stünden. Werner Oechslin und Bernhard Schneider kommentierten Holensteins Aufsatz. Dabei gab Oechslin zu bedenken, dass die »Naivität des Monofunktionalismus«, die in den modernen Schriften sichtbar werde, eher als »taktisches Hilfsmittel« seiner Autoren verstanden werden müsse, das hauptsächlich darauf abgezielt hätte, »effiziente Slogans zu präsentieren«128. Er verteidigte Le Corbusier, dessen Schriften zwar monofunktionalistische Bemerkungen enthielten, dessen praktisches Werk aber einem multifunktionalistischen Konzept folge. Auch Schneider, Mitherausgeber der Architekturzeitschrift Daidalos, wollte mit dem Titel seines Kommentars – Non-functionalist Functionalism – darauf hinweisen, dass Le Corbusiers Schriften und Bauten schwer zur Deckung zu bringen seien. Die Charta von Athen stünde auf der Seite einer primitiven Funktionentrennung, Le Corbusiers Bauten auf der Seite struktureller Komplexität. Besonders bemerkenswert sind aber Schneiders einleitende Worte zum Zusammenhang von Funktion und Struktur, die auch das Thema des Funktionalismus vertiefen. Funktion und Struktur seien ohne einander nicht denkbar, Struktur setze Funktion voraus und umgekehrt: »Es ist nutzlos über Funktionen zu sprechen ohne ihren spezifischen Referenzrahmen zu identifizieren, im Sinne der eingeschlossenen Elemente und Kräfte, der Ganzheiten und Entitäten, die den grundsätzlichen Innen-Außen-Gegensatz funktionaler Komplexe definieren, und die Ziele und Mittel, die die funktionalen Ketten und Hierarchien der Referenzrahmen definieren. Ohne diese strukturellen Definitionen und Bestimmungen hat jede Vorstellung von Funktion keine Funktion. Andererseits bedeutet das Sprechen über Strukturen, die

125 Holenstein 1979, S. 38 (engl. 1981, S. 54). 126 Ebd., S. 43 (engl. 1981, S. 57). 127 Ebd., S. 40 (engl. 1981, S. 56: »multifunctionalism«). 128 Oechslin 1981, S. 63 (engl.).

214 | F UNKTIONEN UND F ORMEN Wechselwirkungen von Elementen und Ganzen zu identifizieren, weil Elemente und Ganzheiten durch ihre Wechselwirkungen bestimmt sind: es bedeutet, funktionale Verbindungen und Abgrenzungen zu realisieren, die die Grenzen zwischen gegenseitig sich bedingenden Strukturen ziehen und ihre interne Artikulation etablieren. Die genaue Vorstellung von Struktur braucht funktionale Definitionen und Bestimmungen, um strukturiert zu sein. ›Struktur‹ ist ein nützlicher Begriff, wenn er funktionierende Struktur meint, und ›Funktion‹ ist ein nützlicher Begriff, wenn er auf die Funktion eines Strukturierten verweist.«129

Bezogen auf den Funktionsbegriff führte Schneider also mehrere Komponenten an, die für diesen von Bedeutung seien, diesen sogar erst konstituieren: Elemente und Kräfte (elements and forces), Ganzheiten und Entitäten (wholes and entities), Ziele und Mittel (aims and means), Wechselwirkungen (interactions) und einen InnenAußen-Gegensatz (inside-outside opposition), der die Grenze des Ganzen bestimmt. Schneider umriss damit präzise die Aspekte des Funktionsbegriffs, so wie wir sie in diesem Buch zu erklären versuchen. Vergleicht man diese Äußerungen zur Interpretation des Funktionalismus in den 1950er bis 1980er Jahren, lassen sich mehrere Feststellungen treffen. Nach einem anfänglichen Ausloten des Funktionsbegriffs, das mit erweiternden Interpretationen einherging, begann sich bei vielen Theoretikern eine zweigeteilte Interpretation durchzusetzen, die man jeweils als einen positiv und einen negativ konnotierten Funktionalismus bezeichnen könnte. Damit soll gesagt sein, dass kein Theoretiker, der sich mit dem Thema Funktionalismus beschäftigte, ernsthaft die Relation von Form und Funktion ableugnete, dass man sich aber offenbar permanent genötigt sah, sich von seiner simplifizierenden Ausbeutung abzugrenzen. So gaben die Theoretiker ihren abgrenzenden Interpretationen jeweils Titel, zum Beispiel: Positiv konnotierter

Negativ konnotierter

Funktionalismus

Funktionalismus

Jürgen Joedicke 1965

»Realer Funktionalismus«

»Naiver Funktionalismus«

Theodor W. Adorno

(Entsprechung von Form

»der verstrickten Gesellschaft

1965/66

und Inhalt)

höriger Funktionalismus«

Mario Gandelsonas

»Neo-Funktionalismus«

(historischer Funktionalismus)

1976 Charles Jencks 1977

»Expressiver Funktionalismus«

Heinrich Klotz 1977

(Funktionalismus

»Bauwirtschafts-

des ›Neuen Bauens‹)

funktionalismus«

129 Schneider 1981, S. 66 (engl.).

F UNKTIONALISMUS UND SEINE K RITIK

Adolf Max Vogt 1977 Julius Posener 1977

»Qualifizierter

»Defizienter

Funktionalismus«

Funktionalismus«

(echter (Häring) und unechter

»Ausgehöhlter

(Mies) Funktionalismus des

Funktionalismus«

| 215

›Neuen Bauens‹) Aldo Rossi 1977

(komplexe Beziehung)

»Naiver Funktionalismus«

Elmar Holenstein 1979

»Plurifunktionalismus«

»Monofunktionalismus«

(nach Jan Mukařovský)

(der Klassischen Moderne)

Die Kritik am Funktionalismus offenbarte sich an drei Fronten: zum Ersten auf der Architektenseite, also im Entwurf, zum Zweiten auf Seiten der Bauwirtschaft, also der Produktion, und zum Dritten auf der Nutzerseite, also bei der Rezeption. Dabei bezog sich die erste Kritik auf den Monofunktionalismus, die zweite auf den Bauwirtschaftsfunktionalismus (Profitmaximierung) und die dritte auf die Kritik an mangelnder Bildhaftigkeit. Bei der ersten Kritik kann man so unterschiedliche Theoretiker wie die CIAMMitglieder selbst, Elmar Holenstein, Jane Jacobs, Aldo Rossi und Robert Venturi anführen, also alle jene, die das Hauptproblem in der Funktionentrennung und der eindirektionalen Funktion-Form-Zuweisung sahen. In diesem Sinn kann man Julius Posener zitieren, der 1977 sagte, der Funktionalismus »ist gescheitert, weil er nicht gesehen hat, dass Zerlegen, Zerteilen, Analysieren keine Grundlage für eine Theorie des Bauens und Planens sein kann, da es sich dabei um ein Unteilbares handelt«130 . Alle Kritiker waren sich zumindest im ersten Schritt zur Lösung des Problems einig: Anerkennung von Komplexität beim Entwerfen. Innerhalb der zweiten Kritik wurde das Profitstreben aller Akteure in der Bauwirtschaft für den Niedergang des Funktionalismus verantwortlich gemacht, das sich aber nicht nur auf die kapitalistischen Länder beschränkte. Adorno erkannte die Verstrickung des Funktionalismus im »Fetischcharakter der Ware«, Klotz klagte über einen »Bauwirtschaftsfunktionalismus« und Lorenzer bedauerte, »dass anstelle der Frage nach der Bedürfnisbefriedigung die Strategie der Profitmaximierung«131 getreten sei. Auch Jencks hatte diese Pervertierung des Funktionalismus gesehen, der anfällig dafür sei, »zum Profit unbekannter Spekulanten, unbekannter Vermieter und unbekannter Nutzer, deren Geschmack als Klischee vorausgesetzt wird«132, missbraucht zu werden. Allerdings hatte auch die Postmoderne ihren Anteil an dieser Sichtweise, indem sie die billigen und einfachen Gehäuse, die hinter den

130 Posener 1977, S. 21. 131 Lorenzer 1977, S. 31. 132 Jencks 1977/78, S. 14.

216 | F UNKTIONEN UND F ORMEN

zeichenhaften Fassaden versteckt waren, als ausreichend für »Funktion« charakterisierten, wie Jencks’ Beispiel treffend verdeutlichte [Abb. 23]. Dieses Verständnis von Funktionalismus als Reduktion auf möglichst billige Raumbereitstellung mag das seit den 1960er Jahren am meisten verbreitetste sein und hatte zur Folge, dass dem Konzept der Funktion bis heute ein Negativimage anlastet. In Bezug auf die dritte Kritik, jene der mangelnden Bildhaftigkeit, kann man beispielhaft Klotz und Venturi anführen. Gerade bei diesen wird der Ruf nach Bildund Symbolhaftigkeit lauter, als dies in früheren Kritiken zu hören war. Es war Klotz, der den Gegensatz von Funktion und Fiktion mit dem markanten Ausspruch »Nicht Funktion, sondern Fiktion!« einführte, um damit für das Kunstwerk »seinen poetischen Scheincharakter gegenüber dem bloßen Funktionieren als Realität des Lebens zurückzugewinnen«133. Stanford Anderson nahm Klotz’ Ausspruch in seinem Aufsatz The Fiction of Function von 1987 auf und wies ihn gleichzeitig entschieden zurück. Er legte dar, dass Gebäude weder allein mit funktionalen noch formalen Erwägungen entworfen werden können und das Funktionalismus »schon an sich eine Fiktion«134 sei. Wie kam es zu dieser Entwicklung der Dualität von positiv und negativ konnotierten Funktionalismen? Die Diskussionen innerhalb der CIAM, die gebetsmühlenartige Wiederholung der vier Stadtfunktionen und die Kritik an der »funktionellen Stadt« sind sicher ein wesentlicher Grund dafür, dass sich der Funktionsbegriff in der Architektur nicht weiterentwickelte. Schneider nannte diese Entwicklung zu Recht das »Charta-von-Athen-Syndrom«135, das zu Funktionsüberdruss und Funktionsmüdigkeit geführt hatte. In anderen Disziplinen gab es diesen Überdruss nicht und der Funktionsbegriff entwickelte sich weiter innerhalb von Studien zu komplexen Systemen und ihrer emergenten oder nichtlinearen Selbstorganisation. Nachdem aber die Postmoderne als gescheitert erklärt wurde, nahm man auch in der Architektur diese Themen auf und begann, das Verständnis von Funktion und Funktionalismus anderer Disziplinen aufzuholen und für die Architektur weiterzuentwickeln. Man konnte sogar auf eigene architektonische Versuche aufbauen, beispielsweise jene von Richard Buckminster Fuller, die aufgrund der dominierenden Postmodernediskussion erst noch auf ihre weite Verbreitung warteten. Im folgenden, letzten Kapitel werden wir diese weitere Entwicklung untersuchen. Abschließend lässt sich fragen, was nun aus den drei Charakteristika des Funktionsbegriffs geworden ist, die in den ersten vier Kapiteln so deutlich hervorgetreten waren: der Teilerelation, des Ganzheitsbezugs und des Aktivischen. Die Mehrheit der Architekten und Theoretiker zwischen den 1940er und 1980er Jahren

133 Klotz 1984b, S. 9; Klotz 1996, S. 18. 134 Anderson 1987, S. 22 (engl.). 135 Schneider 1981, S. 67.

F UNKTIONALISMUS UND SEINE K RITIK

| 217

hat unter Funktion einen erweiterten Begriffskomplex verstanden, der andere Begriffe wie Zweck, Aufgabe, Leistung und Programm einschloss. Insofern war das im Funktionsbegriff vormals inhärente Thema von Teilen und Ganzem verschüttet. Es stand auch bei dem Begriff Programm nicht im Vordergrund, dass Programme aus Teilen bestehen, die ein Ganzes herstellen. Selbst als die Kritik an der Funktionentrennung einsetzte, schien man sich nicht mehr an dieses ursprüngliche Charakteristikum erinnern zu können oder zu wollen, das dem Funktionsbegriff zu Eigen war. Nur die Nicht-Architekten waren sich dieser Bedeutung bewusst und nur sie erkannten, dass die Separierung von Teilen und Ganzem eine »schwere funktionelle Krankheit« (Jacobs) bedeutete. Es ist vor allem Venturi zu verdanken, dass er auf die Komplexität und Widersprüchlichkeit von Programmanforderungen verwies und die Frage aufwarf, was Ganzheiten seien. Das Charakteristikum des Aktivischen schien komplett verloren gegangen zu sein. Man stößt zwar in den Texten der Nachkriegsjahrzehnte immer wieder auf Verweise zur aktivischen Bedeutung des Funktionsbegriffs, doch scheinbar mit wenig Konsequenz. Zum Beispiel rief Rudolf Schwarz in der Zeitschrift Baukunst und Werkform im Jahr 1953 den Bewegungsaspekt der Funktion in Erinnerung, der allerdings recht einseitig-deterministisch klingt: »Vielleicht kann man sich auf die vorläufige Bestimmung einigen, daß eine Funktion eine Bewegung ist, und zwar eine gesetzlich bestimmbare und darum beliebig wiederholbare, der man mithin einen Apparat bauen kann, in dem sie ›funktioniert‹. [...] Echte Funktionen enthält der konstruktive Teil unserer Arbeit, und es ist selbstverständlich, daß wir unsere Bauteile technisch sauber durchführen und ihren Funktionen in etwa anpassen – in etwa.«

136

Auch Rudolf Arnheim erinnerte 1973 an den Aktivitätscharakter von Funktion, als er, wohl an Semper denkend, schrieb: »Den Ausdruck eines Gegenstandes sehen heisst, allgemeine dynamische Qualitäten in seiner besonderen Erscheinung sehen. In einem Zweckobjekt können wir eine gewisse Dynamik – Giessen, Aufsteigen, Fassen, Aufnehmen usw. – sehen. Wir können auch ›Charakterzüge‹ erkennen, wie Biegsamkeit, Festigkeit, Anmut, Stärke usw.; diese Eigenschaften sind genau wie bei einem Werk der bildenden Kunst eng mit dem Thema verbunden: die Anmut des Ausgusses besteht eben darin, dass er seine Giessfunktion anmutig erfüllt; die Festigkeit der dorischen Säule darin, dass sie das Dach fest trägt. Ausdruckeigenschaften sind adverbial, nicht adjektivisch. Sie beziehen sich auf das Verhältnis der Dinge, nicht auf die Dinge selbst.«137

136 Zitat in Conrads 1994, S. 169. 137 Arnheim 1973, S. 14.

218 | F UNKTIONEN UND F ORMEN

Wenn überhaupt auf alle drei Aspekte des Funktionsbegriffs gemeinsam eingegangen wurde, so waren die Ausführungen stets sehr abstrakt. Wir konnten dies bei Schneider in Oppositions 1981 sehen. Vergleichbar war Karin Hirdinas Feststellung aus dem gleichen Jahr, dass eine Funktion bezeichnet werden könne »als Fähigkeit eines Systems (einer Ganzheit) […], bestimmte Verhaltensweisen hervorzubringen, nach außen zu wirken [...]. Funktion ist eine komplexe Beziehungsgröße.«138 Und mit einfacheren Worten nannte Werner Busch 1987 die Funktion eines Gegenstands »die Art seines Wirksamwerdens«139. Keiner dieser Autoren gab unmittelbar praktische Beispiele. Doch zeigen ihre Aussagen, dass noch eine gewisse Erinnerung an die Aspekte des Funktionsbegriffs vorhanden war. Inwieweit diese heute wieder Relevanz finden, wird im letzten Kapitel untersucht.

138 Hirdina 1981, S. 206, 216. 139 Busch 1987, S. 14.

Funktionen und Formen in Architekturen der Informationsgesellschaft

Die vorangegangenen Kapitel haben die Einführung des Funktionsbegriffs in den Architekturdiskurs seit 1750 und bis in die 1980er Jahre untersucht. Man konnte sehen, wie das Verhältnis von Funktion und Form durch die Jahrhunderte hindurch immer neu interpretiert wurde. Dabei wurde unabhängig von den einzelnen Auslegungen ihre gegenseitige Abhängigkeit stets bestätigt: Funktion braucht Form, Form führt immer Funktion mit sich. In den Analysen haben sich zwei Hauptinterpretationen des architektonischen Funktionsbegriffs herausgeschält. Die erste war hauptsächlich bis in die 1920er Jahre verbreitet, die zweite schloss sich daran an und überwiegt bis heute. Beide Interpretationen enthalten in beschränktem Maß die jeweils andere Interpretation in sich. Gemäß der ersten Interpretation bezeichnet Funktion eine aktivische TeileGanzes-Relation. Bis zur Klassischen Moderne konnten wir dieses Verständnis von Funktion an drei Merkmalen erkennen: das Vorhandensein einer aktivischen Idee (Prozesshaftigkeit, Wirkung), das Vorhandensein von aufeinander Bezug nehmenden Elementen (Teilen), und das Vorhandensein einer Teile-Ganzes-Relation (System). Um die Funktionen von Teilen bestimmen zu können, bediente man sich des analytischen Verfahrens der Isolierung der Teile vom Ganzen. In den Architekturschriften der Klassischen Moderne konnte man sehen, dass dieses Verfahren dazu führte, dass dabei der Blick für das Ganze langsam verloren ging – und zwar bis zu dem Grad, etwa in den 1930er Jahren, bei dem der Begriff der Funktion eher Individualisierung und Optimierung einzelner Dinge bedeutete. In der Tat haben das vierte und fünfte Kapitel gezeigt, wie die Idee der Funktion immer weniger mit dem Thema von Ganzheit in Verbindung gebracht wurde und immer mehr mit der Optimierung von Teilen. In der Nachkriegszeit warf man der Klassischen Moderne dann vor, dass die Architekten, deren Aufgabe doch Synthese sei, sich auf Analyse zurückgezogen und diese als Entwerfen missverstanden hätten. Die Bedeutung von Funktion hatte sich absurderweise in ihr Gegenteil verkehrt: statt Ausgleich zwi-

220 | F UNKTIONEN UND F ORMEN

schen Teilen und Ganzem nur noch Fragmentierung. Man erkannte die negativen Folgen dieser Fragmentierung, die nun selbst mit dem Begriff des Funktionalismus belegt wurden. Funktionalismus hat in der Architektur seitdem eine latente Negativkonotation. Mit der vereinzelten Optimierung der Teile und Vernachlässigung der Frage, was eine Ganzheit ist, wurde gleichzeitig auch die Vorstellung des Aktiven unverständlich. Denn die einem Teil inhärente Aktion (Funktion) konnte sich immer nur auf die Herstellung eines Ganzen oder eines Systems beziehen. Wie aber sollte man nun, nachdem man die wechselseitige Gerichtetheit einer Funktion vergessen hatte, ein Ding oder einen Raum aktivisch verstehen, der sich weder bewegte noch auf ein größeres Ganzes bezog? Schon im vierten, aber vor allem im fünften Kapitel, das die Nachkriegszeit bis zur Postmoderne untersuchte, konnte man sehen, wie der Begriff Funktion mehr und mehr mit demjenigen des Zwecks gleichgesetzt wurde. Dies ist die zweite Interpretation von Funktion. Dabei machte man sich in der Architektur den Unterschied zwischen Funktion und Zweck nur selten bewusst. Wie schon im ersten Kapitel gezeigt, sind für den Zweckbegriff die Themen von Teile-GanzesRelationen und Aktivität nicht relevant. Stattdessen geht es um Zweck-MittelRelationen. Bei Zwecken ist es nur wichtig, ob ein Mittel seinen Zweck erfüllt, gleichgültig ob dieses Mittel nun aus Teilen besteht oder nicht. Einige Architekten seit dem Zweiten Weltkrieg verstanden unter Funktion auch so viel wie Programm. Im Begriff des Programms kann man noch den Aspekt des Funktionsbegriffs von Teilen und Ganzem, des Systemischen mitlesen, denn ein Programm muss aus Teilen bestehen, die zusammen ein Ganzes herstellen. Zum Beispiel kann ein Programm Nutzungsvorgaben beinhalten – Essbereich, Schlafbereich, Kochbereich –, die in ihrer Anordnung eine Wohnung herstellen. Neben einem Nutzungsprogramm kann man auch von einem konstruktiven Programm sprechen, in dem zum Beispiel Stützen, Balken, Decken und Fundamente ein konstruktives Gerüst ergeben. In der Regel können nicht alle Programmteile vollständig benannt werden, da es zum Beispiel Programmteile und Funktionen geben kann, die sich erst aus anderen Funktionen ergeben (als einfaches Beispiel könnte die Separierung von Koch- und Essbereichen den Programmpunkt eines Essensaufzugs erforderlich machen). Komplexer wird es, wenn man sagt, dass mit einem Programm eine Anzahl von Zwecken beschrieben wird, die zusammen einen Gesamtzweck, zum Beispiel das Wohnen in einem Gebäude bilden. Hier wird aus einer einfachen Zweck-MittelRelation ein komplexes System aus »Zweckfunktionen«, wie Luhmann sich ausdrückte (siehe erstes Kapitel). Interessant am Vergleich der Begriffe Funktion und Programm ist zudem, dass Programm tendenziell eher ein Ganzes meint, das aus Programmpunkten (Teilen) besteht, während Funktionen sich tendenziell eher auf die Teile beziehen.

F UNKTIONEN UND F ORMEN IN A RCHITEKTUREN DER I NFORMATIONSGESELLSCHAFT

| 221

Dieses Kapitel unternimmt nun den Versuch, das heutige Verständnis der Beziehung von Funktionen und Formen im Architekturdiskurs zu interpretieren. Dabei ist zu sagen, dass sich seit den 1980er Jahren die grundsätzlichen Bedeutungen, die wir mit dem Begriff der Funktion verbinden, zunächst nicht mehr geändert haben. Der Postmoderne folgten einige Jahrzehnte der Neuorientierung, in der keine Architekturströmung bestimmend wurde. Stattdessen waren neue, weltweit relevante Herausforderungen entstanden, die auch in der Architektur bewältigt werden wollten. Als wichtigste wären hier der Übergang von der Industriegesellschaft zur Informationsgesellschaft und der Übergang vom Problem der Umweltverschmutzung zu dem des Klimawandels zu nennen. Damit sehen wir in diesem letzten Kapitel einen nochmaligen Maßstabssprung des Bezugsrahmens, der für die Architektur allgemein und den Funktionsbegriff im Besonderen bedeutsam ist. Wir haben im zweiten Kapitel mit Lodolis Forderung nach Funktion und Repräsentation eines Bauteils begonnen, im dritten Kapitel mit Semper und Bötticher das systemisch-strukturelle Verhältnis von Säule und Tempel vertieft, im vierten Kapitel über die Klassische Moderne die Funktion-Form-Beziehung auf den Zusammenhang von Räumen in Gebäuden erweitert, und sind schließlich im fünften Kapitel bei der Diskussion der Stadtfunktionen in der CIAM angelangt, die auch die Beziehungen zwischen Stadt und Region einschloss. Während sich die Diskussionen innerhalb der CIAM um den adäquaten Ausdruck der Industriegesellschaft und ihrer Stätten für Wohnen und Warenproduktion drehten, hat sich seit den 1980er Jahren die Informationsgesellschaft mit ihren beiden Schwerpunkten der globalisierten Märkte und des globalisierten Umweltproblems herausgebildet. In diesem neuen globalen Kontext hat sich der Architekturdiskurs auf die Frage verlegt, welche Formen und Bedeutungen Architektur innerhalb der sozioökonomischen Vernetzung internationaler Städte und innerhalb der funktionalen Vernetzung des globalen Ökosystems annehmen kann. Sieht man sich die beiden Interpretationen des architektonischen Funktionsbegriffs heute an, muss man feststellen, dass die erste Interpretation (Funktion als aktivische Teile-Ganzes-Relation) mehr oder weniger vergessen, die zweite Interpretation (Funktion als Zweck, Aufgabe oder Programm) im alltäglichen Sprachgebrauch von Architekten aufgegangen ist. Während aber nun die zweite Interpretation im derzeitigen Diskurs nicht mehr thematisiert wird – man ist sich darüber einig, dass der Zusammenhang von Zweck und Form ein wichtiges Architekturthema ist –, gewinnt die erste Interpretation an grundlegender Relevanz, jedoch ohne dass man sie mit dem Namen Funktion belegt. Dabei folgt man einem größeren Diskurs: In vielen Disziplinen gewinnt die Frage nach Aktionen von Teilen und Ganzem neue Bedeutung, zum Beispiel in Bezug auf die Rollen des Einzelnen und der Gesellschaft im Hinblick auf interaktive Informationstechnologien oder den Klimawandel. In diesen Themen geht es zum Beispiel um das Verhältnis des Individuums zu globalen Strukturen oder um die Kreislaufwirtschaft

222 | F UNKTIONEN UND F ORMEN

von Produkten und Substanzen im Ganzen der Ökologie. Ein leitendes Grundmotiv in allen Diskussionen ist die Frage nach dem aktiven Zusammenhang der Dinge, dem Kleinsten mit dem Größten. Manuel Castells, einer der Haupttheoretiker der Informationsgesellschaft, beschrieb diese Tendenzen anhand der globalen Wirtschaft, die er von der internationalen Wirtschaft der Industriegesellschaft abgrenzte: »Mit globaler Wirtschaft meine ich eine Wirtschaft, die als Einheit in Echtzeit und in weltweitem Maßstab funktioniert. Es ist eine Ökonomie, in der Kapitalflüsse, Arbeitsmärkte, Warenmärkte, Informationen, Rohstoffe, Management und Organisation internationalisiert sind und auf dem gesamten Planeten wechselseitig voneinander abhängen. [...] Zentrale Faktoren des Wirtschaftssystems sind durchgängig internationalisiert und in ihrem alltäglichen Funktionieren aufeinander angewiesen. Viele andere jedoch sind aufgespalten und je nach Funktionen, Ländern und Regionen ungleichmäßig strukturiert.«1

Wie sich diese Themen von Vernetzung und Interaktivität kleiner und großer Einheiten in der Architektur zeigen, soll in diesem Kapitel untersucht werden. Neuere Architekturdiskurse betonen die Bedeutung von Prozessen (Aktionen), zum Beispiel in Materie- und Energieströmen; von ständig zunehmender Individualisierung (Teile); und vom Ganzheitsbezug aller Dinge in der größten vorgestellten Ganzheit der Globalisierung. Und während damit die drei Aspekte des Funktionsbegriffs der ersten Interpretation deutlich ablesbar sind, ist es umso merkwürdiger, dass diese Themen bisher nicht mit dem Begriff der Funktion assoziiert werden. Man stellt einerseits die Wichtigkeit von Prozessen und Teile-Ganzes-Relationen heraus, andererseits gebraucht man dazu nicht den Funktionsbegriff. Allenfalls fällt der Begriff des Performativen und so kann man die These aufstellen, dass dieser zum Ersatz des Funktionsbegriffs avancierte. Im Folgenden wird versucht, die drei Aspekte des Funktionsbegriffs an drei Architekturtendenzen nachzuzeichnen. Erstens soll die Frage, welche Rolle einzelne Teile spielen, an der Entwicklung von »informationellen« und »globalen« Städten nachvollzogen werden. Damit sind Städte gemeint, die sich, ausgestattet mit neuesten Informationstechnologien, weltweit vernetzt haben. Die Städte als Teile sind relativ klar definiert, doch versteht man nur bedingt, was eigentlich das Ganze, das Netz bedeutet. Zweitens kann man im Architekturdiskurs der Umweltbewegungen am ehesten die Frage erörtern, was denn das Ganze ist, das in Balance gehalten werden soll und in dem einzelne Teile dem Ganzen nicht unbeschadet widersprechen können. Und drittens soll die Diskussion um Performativität von Architektur verdeutlichen, wie Architekturteile und Architektur als interagierend und prozesshaft verstanden werden. Abgesehen von diesen tendenziellen Ausrich-

1

In Maar/Rötzer 1997, S. 104-5.

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tungen sehen wir aber in allen drei Beispielen jeweils alle drei Aspekte des Funktionsbegriffs. Wenn im Folgenden auf diese drei Architekturthemen näher eingegangen wird, dann um zu zeigen, dass das Konzept der Funktion allen diesen Diskursen gemeinsam ist, in ihnen eine zentrale Stellung innehat, und diese also miteinander verbindet. Mit anderen Worten, es soll hier gezeigt werden, dass eine neuerliche Verarbeitung der ursprünglichen Funktionsidee innerhalb der Architektur bereits in vollem Gang ist, ohne diese jedoch so beim Namen zu nennen. So wird dieses letzte Kapitel auch zum Plädoyer, einerseits sich den ursprünglichen Bedeutungsgehalt der Funktion als aktivische Teile-Ganzes-Relation neu anzueignen und andererseits diesen Bedeutungsgehalt für die heutige Architektur kritisch zu befragen. Die Wichtigkeit der Funktionsidee kann man schon daran feststellen, dass allen diesen Architekturdiskursen fortentwickelte Systemtheorien zugrunde liegen, die Fragen von Komplexität, Selbstorganisation, funktionalen Äquivalenzen und Emergenz behandeln. So wird in der Diskussion um umweltsensitive Architektur gefordert, dass ein Architekt ein »Verständnis für allgemeine Systemtheorie und Funktion« haben und bedenken müsse, dass ein Gebäude nur ein »Schnappschuss in einer Sequenz von Flüssen«2, also Stoff- und Energieflüssen sei. Das Interesse an Systemtheorien in der Architektur hat seine historischen Wurzeln in einem spezifischen Architekturdiskurs aus den 1960er Jahren. Wir werfen daher erst jetzt einen kurzen Blick auf diesen Diskurs, da er für die heutige Entwicklung wesentlich relevanter ist als für die Funktionalismuskritik und Postmodernediskussion, die im letzten Kapitel behandelt wurden. Die Postmoderne hatte einen positiven Anteil daran, dass die Simplifizierungstendenzen aufgedeckt wurden, die das architektonische Funktionsverständnis heimsuchten und die im letzten Kapitel unter Stichworten wie »Charta-von-Athen-Syndrom« und »Monofunktionalismus« benannt wurden. Wie im letzten Kapitel gesehen, hatte zum Beispiel Venturi den Irrweg der Monofunktionalität deutlich angesprochen und eingefordert, Komplexitäten und Widersprüche von Funktionen zu studieren. Zudem fragte er, was als Ganzes zu verstehen sei und regte damit ein Nachdenken über die Offenheit von Ganzheiten und Systemen an. Nach dem Abebben des Interesses an der Postmoderne beschäftigte man sich in Architektur und Städtebau zunächst mit jenen Funktions- und Systemtheorien der 1960er Jahre, die bis dahin in den Hintergrund gedrängt worden waren. Als vielleicht wichtigsten Protagonisten kann man hier Richard Buckminster Fuller (1895-1983) und beispielhaft sein Buch Operating Manual for Spaceship Earth (Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde) von 1969 anführen. Das Buch, gerichtet an Architekten und Planer, enthielt Kapitel über »Allgemeine System-

2

Glyphis 2001, S. 11, 7 (engl.).

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theorie«, »Integrale Funktionen« und »Synergie«. Fuller schlug vor, anstatt kleinere Systeme zu studieren, das Universum als das größte System zugrunde zu legen, um »der Gefahr [zu] entgehen, irgendwelche strategisch entscheidende Variablen zu vergessen«. Allerdings stellte er die Schwierigkeit fest, dass es keine »brauchbare Definition des Universums« gebe, die »wissenschaftlich haltbar und komprehensiv genug wäre, um die nichtsimultanen und sich nur teilweise überlappenden, mikromakro, sich immer und überall transformierenden physischen und metaphysischen, omnikomplementären, aber nichtidentischen Ereignisse zu fassen«3. Fuller verstand Funktion als Relation von Teilen und Ganzem und folgerte daraus, dass das Diskutieren nur einer Funktion vollkommen unsinnig sei, da diese vom synergetischen Verhalten des Ganzen und von anderen Teilen beeinflusst sei. Der Begriff der Synergie war wichtig, weil er dasjenige des Ganzen erklärte, was nicht durch separierte Teile zu erklären war. Der Mensch, so Fuller, zeichne sich dadurch aus, dass er die Energiekreisläufe des Universums verstehe und daher sei die Funktion des Menschen im Universum, dass er »die evolutionär organisierten Umweltereignisse metaphysisch begreifen, voraussehen, abwenden und im richtigen Maß in die Größenordnungen und Frequenzen einführen [kann und darf], die am besten mit den Mustern seiner erfolgreichen und metaphysisch metabolischen Regeneration übereinstimmen«4. Wenn Fuller auf Funktionen zu sprechen kam, ging es ihm um das grundsätzliche »potentielle Funktionieren des Menschen im Universum«5: »Was den Menschen wirklich einmalig macht, ist der Umfang, in dem er seine vielen organischen Funktionen abgesondert, entfaltet, erweitert und verstärkt hat. [...] Er hat seine Funktionen zu einem weltweiten, energetisch vernetzten Komplex von Werkzeugen dezentralisiert, der zusammengenommen das darstellt, was wir als Weltindustrialisierung bezeichnen.«6

Fuller definierte sich selbst als der Industriegesellschaft zugehörig, die zum Kennzeichen hatte, dass sie von einem hierarchischen System ausging, in dem der Mensch die Geschicke des Universums steuern konnte. Fuller glaubte an die »Problemlösungsmacht der allgemeinen Systemtheorie in Verbindung mit Computerstrategie – bekannt unter dem Namen Kybernetik – und Synergetik«7, die

3

Fuller 1998, S. 55.

4

Ebd., S. 109. Vgl. S. 82 »Von diesem Zeitpunkt an, da der Mensch Energiekreisläufe

5

Ebd., S. 95.

verstand, war seine wirklich wichtige Funktion im Universum die Intellektion.« 6

Ebd., S. 101-2.

7

Ebd., S. 78.

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den Menschen zur Lösung zum Beispiel von Umweltproblemen zur Verfügung standen. Auch meinte er diese Ausführungen durchaus im künstlerischen Sinn. Architektur als Kunst war der Ausdruck des Verhältnisses des Menschen zum Rest der Welt und zum Universum. Neben Fuller haben auch andere Architekturtheoretiker die Relevanz von Systemtheorien in der Architektur eingehend besprochen, insbesondere Christopher Alexander (*1936) mit seinen Schriften Notes on the Synthesis of Form von 1964 und A Pattern Language von 1977 (Eine Muster-Sprache 1995). Das August-Heft von 1967 der Zeitschrift Progressive Architecture führte unter dem Titel Performance Design eine umfassende Diskussion zur mathematisierten Systemanalyse im architektonischen Entwerfen. Auch das Buch Unsere Welt – ein vernetztes System von 1978 kann hier angeführt werden, in dem Frederic Vester die Fragen »Was ist ein System?« und »Wie wirken die Dinge aufeinander?« stellte und forderte: »Eine Art zweite Aufklärung ist nötig. Eine Aufklärung, durch die wir auf einer neuen Bewußtseinsstufe uns selbst und unsere künstlichen Systeme endlich als untrennbare Glieder jenes großen Systems der Natur wiedererkennen können und die uns dazu befähigt, unsere Umwelt nach biologischen Gesetzmäßigkeiten zu gestalten. [...] Neben dem simplen UrsacheWirkungs-Denken der Vergangenheit, das sich an getrennten Einzelproblemen orientiert, brauchen wir die Hinwendung zu einem stärkeren Denken in Mustern und dynamischen Strukturen, zu einem Verständnis komplexer Systeme und ihres Verhaltens.«8

Es sind solche Theorien, die Architekten und Theoretiker nach der Postmoderne wieder aufgriffen und weiterentwickelten, um Anschluss an die relevanten Themen der Informationsgesellschaft zu finden.

R AUM

DER

S TRÖME , R AUM

DER

O RTE , G LOBALE S TÄDTE

In den 1990er Jahren, als sich der Architekturdiskurs verstärkt darauf ausrichtete, den Einfluss digitaler Technologien auf die Architektur und die Stadt theoretisch zu verarbeiten, formulierte man als größtes Problem die sich anbahnende Desurbanisierung und Dezentralisierung, die bis zum vermeintlichen Verlust des materiellen Orts reichte. Peter Weibel zum Beispiel folgerte aus der Digitalisierung der Architektur einerseits eine Fortsetzung der »Illusionsarchitektur des Barock«, andererseits hätten die Kommunikationstechnologien »seit mehreren Jahrzehnten den

8

Vester 1983, S. 12.

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physikalischen Ort, das physikalische Hier und Jetzt aufgelöst«9. Christa Maar formulierte ein Szenario, in dem die Stadt »ihre traditionelle Funktion als Knotenpunkt von Verkehr, Wirtschaft, Verwaltung und Kultur« verlieren würde, und für Florian Rötzer war es »nur eine Frage der Zeit, wann die heute noch in der Stadt befindlichen zentralen Funktionen wie Firmenhauptsitze, Verwaltungen, Museen, Universitäten, Einkaufs- und Freizeiteinrichtungen sich ebenfalls dezentralisieren«10. Die dramatischen Folgen der Digitalisierung für die Stadtgestalt wurden hier also mit einem hergebrachten Vokabular zu bewältigen versucht: Funktionsbereiche der Stadt wurden in ihrer Veränderung beschrieben, ihre Digitalisierung untersucht, und schließlich als Konsequenz für die Stadtform die Dezentralisierung gefolgert. Auf der anderen Seite war auch bald erkannt, dass man diese Tendenz der Auflösung der Städte differenzierter betrachten musste. Insbesondere die Funktion des Wohnens war an die materielle Welt gebunden, während die beiden Funktionen Arbeiten und Erholen sich enorm differenzierten und zunehmend ins World Wide Web verlegten, allerdings innerhalb materieller Grenzen. William Mitchell (19442010) hat dies in seinem Buch City of Bits 1995 (deutsch 1996) vorausschauend dargestellt. Darin beschrieb er eine zweifache Welt, eine informationelle und eine örtlich gebundene. Er studierte einzelne Gebäudetypologien, wie Bibliothek, Krankenhaus, Schule, Museum, Theater, Gefängnis, Bank und Shoppingmall, die zu einem gewissen Teil zwar ins Internet verlagert und damit ortsunabhängig würden, deren anderer Teil aber nach wie vor örtlich-gebundene Räume für den Aufenthalt von Menschen benötigte. Fernstudium, -diagnose und -operation, Teleshopping, -banking und -kriege erkannte Mitchell als nur bis zu einem gewissen Grad möglich und effektiv. Eine »völlig entkörperlichte elektronische Existenz [...] stellt eine theoretische Grenze, keinen praktischen Zustand dar«11. Menschen seien mit ihren Körpern gebunden an Ort und Zeit. Sie besetzten sowohl die Hard Cities, also die materiellen Städte, als auch die Soft Cities, »die parallel zu den vertrauten Ansammlungen aus Backstein, Beton und Stahl existieren, diese ergänzen und manchmal mit ihnen konkurrieren«12. Die Optimierung beider Welten sowie ihre Überlagerung müssten also, so Mitchell, im Zentrum des architektonischen Interesses liegen. Beide seien voneinander abhängig. So sei zwar einerseits der große Vorteil der Netzkommunikation ihre Ungebundenheit an Raum und Zeit, ihre

9

Weibel 1996, S. 40, 32. Vgl. S. 32: »Die immateriellen Medien, besonders eben die technischen Tele-Medien, all das, was Telekommunikation heißt, haben primär an der Auflösung des Ortes und der lokalen Präsenz gearbeitet.«

10 In Maar/Rötzer 1997, S. 8, 14. 11 Mitchell 1996, S. 48. 12 Ebd., S. 177.

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»Asynchronie«. Um eine effektive digitale Vernetzung zu erreichen, brauche aber auch das Netz physikalische Strukturen: Datenstränge, Glasfaserkabel, Knotenpunkte. Die digitale Erreichbarkeit – der Datenverkehr – sei abhängig von physisch vorhandenen Infrastrukturen. Mitchell betonte die Wichtigkeit dieser Infrastrukturen, also wer welche Datennetze mit welcher Übertragungsschnelligkeit zur Verfügung hat, indem er feststellte, in der Stadt würden »Computernetzwerke [...] so grundlegend für das urbane Leben wie Straßensysteme«13. Diese Entwicklungen hatten Konsequenzen für die Beziehung von Funktionen und Formen. Die Form dieser Netze, so Mitchell, sei nur insofern wichtig, als sie die Funktion der digitalen Telekommunikation gewährleistet. Für den Nutzer sei die Funktion entscheidend und die tatsächliche Form unbekannt. Mitchell beschrieb diese Form als nicht-geometrisch und »ambient«, nämlich folgendermaßen: »Das Netz negiert die Geometrie. Zwar besitzt es eine klar umrissene Topographie von Rechnerknoten und davon ausstrahlenden Boulevards für Bits, und die Orte der Knoten und Verbindungen lassen sich auf Diagrammen verzeichnen, die den Plänen des Barons Haussmann erstaunlich ähneln, doch es ist in einem grundlegenden und tiefreichenden Sinn antiräumlich. [...] Das Netz ist eine Umwelt – nirgendwo im einzelnen, aber überall zugleich.«14

Das Auseinanderdriften von Funktionen und Formen in der Informationsgesellschaft war damit bereits 1995 klar umrissen. Zwei weitere Autoren, die explizit die Auswirkungen der Informationstechnologien auf die Funktionen und Formen der Stadt untersuchten, waren die Stadtsoziologen Manuel Castells (*1942) und Saskia Sassen (*1949). Beide fokussierten ihre Studien auf zwei Phänomene, zum einen die Herausbildung eines global-vernetzten Städtesystems, zum anderen den inneren Umbau der Städte und Stadtregionen. Castells beschrieb diese Trends in seinem bahnbrechenden Werk The Informational City von 1989. Er zeigte auf, wie die Informationstechnologien ermöglicht hatten, dass die Wirtschaft ihre »Funktionen« differenzierte und an drei verschiedenen Orten lokalisierte: Es gäbe erstens weltweit verstreute, in Niedriglohnländern dezentralisierte Produktionsstätten; zweitens zentralisierte Orte mit Steuerungsfunktionen, die »informationellen Städte«; und drittens Orte in relativer Nähe zu den Steuerungsorten, in denen hochqualifizierte Arbeitskräfte Innovationen entwickelten. Castells stellte fest, dass sich einerseits eine globale, netzwerkartige Dezentralisierung von Wirtschaftsstandorten und andererseits eine lokale, hierarchische Konzentration in wichtigen Stadtregionen ausbildeten. Letztere spaltete sich noch einmal auf in eine Zentralisierung der wichtigsten Steuerungsfunktionen im Stadtkern und eine gleichzeitige Dezen-

13 Ebd., S. 113. 14 Ebd., S. 12.

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tralisierung von Entwicklerfunktionen am Stadtrand. Er nannte diese Phänomene die »Dialektik zwischen Zentralisation und Dezentralisation«15: »Funktionen höherer Ebenen tendieren dazu, an bestimmten privilegierten Standorten konzentriert zu werden, die die obere Schicht der Arbeitskräfte anzieht, während Montagefunktionen, die ungelernte Arbeiter beschäftigen, über mehrere und verschiedene Standorte verstreut sind. Die Hochleistungsfertigung nimmt eine mittlere Stellung ein, ist in frühen Phasen der Industrie allgemein um Innovationsfunktionen herum gelagert und dezentralisiert sich später an bestimmten Standorten mit isolierten Pools von gelernten Facharbeitern, in Gebieten nicht zu weit entfernt von dem Innovationszentrum der Firma.«16

Castells’ Theorien waren aber noch grundsätzlicherer Natur. Seine Hauptthese war, dass sich ein »Raum der Ströme [space of flows]« entwickelt habe, das heißt ein Raum, in dem ständig Informations-, Kapital-, Technologie-, Bild- und Zeichenströme, Material- und Energieströme fließen17. Dieser Raum der Ströme »dominiert den historisch konstruierten Raum der Orte [space of places]«18. Castells wies dem Globalen und dem Lokalen jeweils eine der Raumformen zu. Der »Raum der Ströme« gehöre zum Globalen, der »Raum der Orte« zum Lokalen. Im Raum der Ströme vernetzen sich die Kosmopoliten, »für die die Verbindung mit der gesamten Welt funktional, sozial und kulturell zum Alltag gehört«, das Extrem auf der Seite des Raums der Orte ist der »Lokalpatriotismus territorialer Gemeinschaften«19. In den Städten »ist der Raum der Ströme in den Raum der Orte eingefaltet«, sodass Castells die »Informationellen Städte« auch »Cyborg Cities« und »Hybrid Cities«20 nannte. Castells ist für unseren Zusammenhang interessant, weil er die konkurrierenden Logiken des Raums der Ströme und des Raums der Orte anhand der Begriffe »Funktion«, »Form« und »Bedeutung« zu erklären versuchte [Abb. 24]:

15 Castells 1991, S. 126, 171 (engl.). 16 Ebd., S. 77. 17 Castells 2001, S. 467: »Unter Strömen verstehe ich zweckgerichtete, repetitive, programmierbare Sequenzen des Austauschs und der Interaktion zwischen physisch unverbundenen Positionen, die soziale Akteure innerhalb der wirtschaftlichen, politischen und symbolischen Strukturen der Gesellschaft einnehmen.« 18 Castells 1991, S. 6 (engl.). 19 In Maar/Rötzer, S. 114. 20 Castells 2004, S. 86-7 (engl.).

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»Ich denke, die Transformation der Städte im Informationszeitalter kann um drei bipolare Achsen organisiert werden. Die erste bezieht sich auf Funktion, die zweite auf Bedeutung, die dritte auf Form. Funktion Funktional gesprochen ist die Netzwerkgesellschaft um den Gegensatz zwischen dem Globalen und dem Lokalen organisiert. Dominante Prozesse in Wirtschaft, Technik, Medien und Institutionen sind in globalen Netzwerken organisiert. Aber alltägliche Arbeit, Privatleben, kulturelle Identität, politisches Engagement sind wesentlich lokal. [...] Bedeutung Was Bedeutung betrifft ist unsere Gesellschaft charakterisiert von der gegensätzlichen Entwicklung der Individualisierung und Vergemeinschaftung. [...] Trends, die ich bei der Formierung der Netzwerkgesellschaft beobachte, deuten auf die wachsende Spannung und Distanz zwischen Persönlichkeit und Kultur, zwischen Individuen und Gemeinschaften hin. Formen [...] Der Raum der Ströme verknüpft getrennte Orte auf elektronische Weise in einem interaktiven Netzwerk, das Aktivitäten und Menschen in entfernten geographischen Kontexten verbindet. Der Raum der Orte organisiert Erfahrung und Aktivität in örtlichen Grenzen. [...] Unsere Städte sind gleichzeitig aus Strömen und Orten gemacht, sowie aus ihren Beziehungen.«21

Abbildung 24: Manuel Castells versuchte seine Theorie des Raums der Ströme und des Raums der Orte anhand dreier Achsen für Funktionen, Formen und Bedeutung zu erklären.

21 Ebd., S. 85 (engl.).

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Mit der Bedeutungszunahme des Raums des Ströme scheinen Funktionen wichtiger als Formen zu werden. Denn der Raum der Ströme ist tendenziell funktionaler Natur. Er hat sicher eine Form, doch die kennen wir nur unzureichend und sie ist uns auch weniger wichtig als seine Fähigkeit, Informationen, Stoffe oder Energie zu transportieren. Die Form des Raums der Ströme beschrieb Castells als Kombination dreier Ebenen:

»Die erste Ebene, die erste materielle Grundlage des Raumes der Ströme besteht eigentlich aus einem Kreislauf elektronischer Vermittlungen [...]. Deshalb ist das Kommunikationsnetzwerk die grundlegende räumliche Konfiguration: Orte verschwinden nicht, aber ihre Logik und ihre Bedeutung werden im Netzwerk absorbiert. [...]. Die zweite Ebene des Raumes der Ströme ist durch dessen Knoten und Zentren bestimmt. [...] Er beruht auf einem elektronischen Netzwerk, aber dieses Netzwerk verbindet spezifische Orte miteinander, die wohldefinierte soziale, kulturelle, physische und funktionale Charakteristika haben. [...] Sowohl Knoten wie Zentren sind hierarchisch nach ihrem relativen Gewicht innerhalb des Netzwerkes organisiert. [...] Die dritte wichtige Ebene des Raumes der Ströme betrifft die räumliche Organisation der herrschenden Führungseliten (nicht: Klassen), die die direktiven Funktionen ausüben, um die herum dieser Raum aufgebaut ist.«22

Im Gegensatz zu den Formen im Raum der Ströme kennen wir die Formen besonderer Orte sehr gut, sie sind wichtig für unsere eigene Körperlichkeit. »Ein Ort«, so definierte Castells, »zeichnet sich dadurch aus, dass seine Form, seine Funktion und seine Bedeutung innerhalb der Grenzen eines physischen Zusammenhangs eigenständig sind.«23 Im Lauf der Geschichte hätten Orte ihre Funktionen gewechselt und konnten neue Funktionen übernehmen, woraus folge, dass ihre körperlichen Formen dauerhafter und damit wichtiger als ihre Funktionen seien. Natürlich haben auch beide Arten von Räumen »Bedeutung«, denn »Raum ist der Ausdruck der Gesellschaft«24. Eine Gesellschaft und der einzelne Bürger können und müssen sich in beiden Räumen ausdrücken. Die unterschiedlichen Bedeutungen begründen sich aus der »Teilung zwischen funktionalen Strömen und geschichtlich bestimmten Orten als zwei getrennte Sphären der menschlichen Erfahrung. Menschen leben an Orten, Macht herrscht durch Ströme«25. Castells erklärte:

22 Castells 2001, S. 467-70. 23 Ebd., S. 479. 24 Ebd., S. 466. 25 Castells 1991, S. 349 (engl.).

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»Der Raum der Ströme organisiert mittels Telekommunikation und Informationssystemen die Gleichzeitigkeit sozialer Praxis über Entfernungen hinweg. Der Raum der Orte privilegiert die soziale Interaktion und die institutionelle Organisation aufgrund von physischer Nähe. [...] Die meisten der herrschenden Prozesse, in denen sich Macht, Reichtum und Information konzentrieren, sind im Raum der Ströme organisiert. Der größte Teil von menschlicher Erfahrung und Sinn bleibt weiter lokal verankert.«26

Zusammenfassend haben also beide Räume Funktionen, Formen und Bedeutungen. Dabei seien im Raum der Ströme die Funktionen wichtiger als die Formen und im Raum der Orte die Formen permanenter und damit wichtiger als die Funktionen. Das Problem sei nun, so beobachtete Castells, dass der Raum der Orte zunehmend vom Raum der Ströme verdrängt werde. Konzerne und Organisationen aller Art müssen am Raum der Ströme teilhaben, um konkurrenzfähig zu sein. Um den wirtschaftlichen Erfolg einer Stadt zu sichern, so Castells, ergäbe sich die Notwendigkeit, den Raum der Orte, seine »urbanen Funktionen und Formen« dem globalen Raum der Ströme »unterzuordnen«27. Je mehr aber der funktionale Raum der Ströme an Bedeutung gewinnt, je mehr verliert der Raum der Orte. »Die fundamentale Tatsache ist, dass sich soziale Bedeutung aus den Orten und damit aus der Gesellschaft verflüchtigt, und dass sie verwässert und zerstreut wird in der rekonstruierten Logik eines Raums der Ströme, dessen Profil, Ursprung und letzter Zweck unbekannt sind.«28 Die Überlagerung von beiden Räumen ist demnach für Castells das dringlichste Thema politischen und gesellschaftlichen Handelns. Es sei für die Gesellschaft von erheblicher Bedeutung, dass sich die beiden Räume der Ströme und Orte überlagern, ergänzen und gegenseitig unterstützen. Castells empfiehlt als wichtigste Maßnahme gegen ihr Auseinanderdriften die »Verknüpfung der global orientierten ökonomischen Funktionen der Stadt mit der lokal verwurzelten Gesellschaft und Kultur«29. Jeder Einzelne »muss ein Bewusstsein entwickeln für die genaue Rolle seiner ortsgebundenen Aktivitäten im funktionalen Raum der Ströme«30. Auch müssten sich zum Beispiel lokale Regierungen dafür einsetzen, dass »die soziale Kontrolle der Orte über die funktionale Logik des Raums der Ströme«31 gestellt werde. Und ebenso müssten auch Regionalplaner, Architekten und Städtebauer daran mitwirken, die Überlagerung der beiden Sphären zu fördern. Dabei hätten

26 Castells 2002, S. 135. 27 Castells 2004, S. 86 (engl.). 28 Castells 1991, S. 349 (engl.). 29 In Maar/Rötzer 1997, S. 114. 30 Castells 1991, S. 351 (engl.). 31 Ebd., S. 351 (engl.).

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sich Planer um Funktionen, Architekten um Bedeutung und Städtebauer um Formen zu kümmern. Ihre Aufgaben seien »das Instandsetzen funktionaler Kommunikation durch Regionalplanung; das Bereitstellen räumlicher Bedeutung mittels einer neuen symbolischen Verdichtung durch innovative Architekturprojekte; und das Wiederherstellen der Stadt in seiner urbanen Form durch städtebaulichen Entwurf, der sich auf Bestandserhaltung, Restaurierung und Neubau des öffentlichen Raums als Inbegriff urbanen Lebens konzentriert«32 .

Für die Planungs- und Funktionsseite hieß dies praktisch, Konnektivität durch eine Vielzahl an Transportangeboten zu gewährleisten, seien es lokale öffentliche Verkehrsmittel, internationale Flughäfen oder globale Datenhighways. Für die Architektur hieß dies, »symbolische Bedeutung in der metropolitanen Region herzustellen, indem sie Orte im Raum der Ströme markiert«33. Und für den Städtebau hieß dies, öffentliche multifunktionale Räume gegen den Trend von Privatisierung zur Verfügung zu stellen und mit Bedeutung anzureichern. Eindringlich appellierte Castells, dass Architekten und Städteplaner sich ihrer Aufgabe »als Bereitsteller von Bedeutung durch die kulturelle Gestaltung von räumlichen Formen«34 bewusst werden müssen. Architekten und Städtebauer müssen sich die Frage stellen, wie Architektur sich verändert, wenn »der Raum der Ströme wirklich die herrschende räumliche Form der Netzwerkgesellschaft ist«35. Hier sah er zwei Möglichkeiten, entweder diesen interpretierend auszudrücken oder ihm zu widersprechen: »Entweder baut die neue Architektur die Paläste der neuen Herren und enthüllt so ihre Ungeschlachtheit, die sonst hinter der Abstraktion des Raumes der Ströme verborgen ist; oder sie schlägt Wurzeln an Orten und damit in Kultur und in Menschen. In beiden Fällen, aber in unterschiedlichen Formen könnten so Architektur und Design die Gräben für den Widerstand graben zur Wahrung des Sinns im Anhäufen von Wissen.«36

Castells diskutierte auch gebaute Beispiele. Interessant für ihn waren insbesondere Transportbauten oder, wie er sie nannte, »Kommunikationsknoten, wo der Raum der Ströme sich vorübergehend materialisiert«. Als solche kontrastierte er Ricardo Bofills Flughafen in Barcelona von 1992 und Rafael Moneos Umbau eines historischen Bahnhofs zum Schnellzugbahnhof in Madrid von 1985. Den Flughafen

32 Castells 2004, S. 89-90 (engl.). 33 Ebd., S. 90 (engl.). 34 Ebd., S. 92 (engl.). 35 Castells 2001, S. 474. 36 Ebd., S. 478-9.

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assoziierte er mit einer »kalten Schönheit«, in der sich die Passagiere im Raum der Ströme allein wiederfänden. Der Bahnhof hingegen sei der »zerbrochene Spiegel eines Segmentes des Raumes der Ströme«37. Castells führte auch Rem Koolhaas’ Kongresszentrum Lille Grand Palais von 1994 an [Abb. 25], weil Koolhaas selbst dieses Projekt als einen »Ausdruck des ›Raumes der Ströme‹«38 betrachtet hätte. Aus allen diesen Beispielen kann man sehen, dass Castells dem Ausdruck von neuzeitlichen Funktionen in Architekturen grundsätzlich kritisch gegenüberstand, wohingegen er eine Architektur, die sich aus der Kultur eines Orts entwickelte, positiver bewertete. Auch Saskia Sassen untersuchte die funktionalen und formalen Veränderungen in Städten und Regionen. Auch sie stellte grundsätzlich fest, dass die Informations-

Abbildung 25: Manuel Castells führte Rem Koolhaas’ Kongresszentrum Lille Grand Palais (1994) als Ausdruck des funktionalen Raums der Ströme an. Das Gebäude, das an Eisenbahnstränge und Stadtautobahnen angelagert ist, verschwindet fast durch sein Camouflage-Dach.

37 Ebd., S. 476-7. 38 Ebd., S. 477.

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technologien keine »absolute Virtualisierung«39 erzeugen werden. »Selbst die fortschrittlichsten Informationsindustrien wie die Finanzwelt bestehen nur teilweise im elektronischen Raum. Es gibt keine rein digitale Wirtschaft und kein vollständig virtuelles Unternehmen.«40 Sassen identifizierte als den wesentlichen Auslöser der Veränderungen in Städten und Regionen die Diversifikation der Arbeitsprozesse – ihre »funktionale Spezialisierung«. Diversifikation ist für sie ein historischer Prozess, der in der Arbeitsteilung in Fabriken des achtzehnten Jahrhunderts seinen Anfang nahm und dessen »zeitgenössisches Pendant in heutiger räumlich und organisatorisch ausgeprägter Fragmentierung des Arbeitsprozesses«41 wiederzufinden sei. Ganz ähnlich wie Castells beobachtete Sassen, dass es einerseits eine globale Streuung der großen Konzerne gäbe, andererseits die Kontrollfunktionen für diese Konzerne, also deren Unternehmenszentralen, sich in bestimmten großen Stadtregionen konzentrierten, die sie Global Cities nannte. Global Cities wären entstanden, weil die Informationstechnologien ein »globales Fließband«42 ermöglicht hätten, das wiederum einer erhöhten Zentralisierung und Komplexität von Management, Kontrolle und Planung bedurfte. Sassen beschrieb, dass einige Branchen der Wirtschaft einem »Druck« oder »Zwang zu räumlicher Konzentration«43 ausgesetzt seien, womit sie die Zusammenballung zu urbanen Orten meinte. Global Cities definierte Sassen folgendermaßen: »Global Cities sind zentrale Standorte für hochentwickelte Dienstleistungen und Telekommunikationseinrichtungen, wie sie für die Durchführung und das Management globaler Wirtschaftsaktivitäten erforderlich sind. In ihnen konzentrieren sich tendenziell auch die Konzernzentralen insbesondere von Unternehmen, die in mehr als einem Land tätig sind. [...] Darüber hinaus erfüllen die Global Cities [...] zwei weitere Funktionen: Erstens fungieren sie als postindustrielle Produktionsstätten der führenden Gewerbezweige unserer Zeit, des Finanz- und spezialisierten Dienstleistungsgewerbes, und zweitens erfüllen sie die Funktion transnationaler Marktplätze, auf denen Unternehmen und Staaten Finanzinstrumente und spezielle Dienstleistungen erwerben können.«44

39 In Maar/Rötzer 1997, S. 119. 40 Ebd., S. 131. 41 Sassen 1991, S. 10. 42 Ebd. 43 In Maar/Rötzer 1997, S.124-5. 44 Sassen 1996, S. 39-40. Vgl. Häußermann in Maar/Rötzer 1997, S. 98: »Und obwohl diese Aktivitäten heute faktisch von jedem Ort der Welt aus betrieben werden könnten, konzentrieren sie sich in bestimmten Städten, die dadurch das Label ›Global Cities‹ erhalten. Der Grund dafür scheint ein ganz traditioneller zu sein: die Verfügbarkeit über

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Damit gehe, so Sassen, die »Herausbildung eines transnationalen Städtesystems« einher, in dem die Global Cities als »globale Knotenpunkte fungieren« und »miteinander verwobene Schauplätze von transnationalen Prozessen«45 seien. Sassens Grundaussage war, dass für die Global Cities ihre globale Vernetzung wichtiger sei, als ihre Verbindung und Vernetzung in ihrem Staat. Sie folgerte daraus eine Schwächung der Nationalstaaten und eine Stärkung der Städte ähnlich dem Prinzip der historischen Hansestädte46. Innerhalb der Global Cities erkannte Sassen weitreichende Transformierungsprozesse. Zum einen würden sich dort mehr und mehr »Global-City-Funktionen«47 ansiedeln. Darunter verstand sie neben den Steuerzentralen von Großkonzernen eine Vielzahl von spezialisierten Firmen im Bereich von »finanziellen, rechtlichen und allgemeinen Managementaufgaben: Innovation, Entwicklung, Design, Verwaltung, Personalwirtschaft, Produktionstechnologie, Wartung, Transport, Kommunikation, Großhandel, Werbung, Gebäudereinigung, Sicherheitsdienst und Lagerhaltung«48. Mit diesen Funktionsveränderungen ändere sich auch die Stadtgestalt durch Zusammenballung bestimmter Gebäudetypen: »Die sprunghaft gestiegene Verdichtung von Bürogebäuden in den Geschäftsbezirken dieser Städte in den 80er Jahren ist der räumliche Ausdruck dieser Logik.«49 Neben diesen Bürokomplexen für internationale Institutionen, Verbände, Investitions-, Versicherungs- und Immobiliengesellschaften, internationale Buchhaltungs- Rechtsberatungs-, Computerservice- und Werbefirmen konzentrieren sich in den Global Cities Tagungseinrichtungen, Hotel- und Restaurantketten, Flughäfen, internationale Tourismuszentralen und hochrangige Museen. Solche Orte sähen zum Beispiel folgendermaßen aus: »Die Hyperräume der internationalen Wirtschaft, angefangen von den Bürotürmen der Konzerne über die Tagungshotels bis zu den Weltflughäfen, sind territorial übergreifende Räume und bilden eine neue Geographie gebauter Zentralität. Obwohl transterritorial, sind sie doch Orte. [...] Orte brauchen wir auch, um die neue Art der Repräsentation von Macht erfassen zu können.«50

eine entsprechende materielle und organisatorische Infrastruktur, also die altbekannten ›Agglomerationsvorteile‹.« 45 Sassen 1996, S. 74, 77, 71. 46 Vgl. Sassen 1991, S. 166-7. 47 Sassen 1996, S. 106. 48 Ebd., S. 79. 49 In Maar/Rötzer 1997, S. 123. 50 Ebd., S. 118-9.

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Sassens Beschreibung der Städte ist eine gute Erläuterung von Castells’ Theorie, dass der funktionale Raum der Ströme sich des Raums der Orte bemächtige. Dazu gehört auch die zunehmende Gentrifizierung, die Sassen in den Geschäftszentren identifizierte und damit begründete, dass die oben benannten Funktionsbereiche von Beschäftigten entweder aus dem Hoch- oder dem Niedriglohnsektor besetzt würden, jedoch weniger von einer Mittelklasse. Somit zeigte sich für Sassen gerade in den Global Cities die zunehmende Zweiteilung der Gesellschaft mit Hoch- und Niedriglöhnen, die eine völlig andere Tendenz darstellt als diejenigen der Nachkriegszeit, als die Industrialisierung eine starke Mittelklasse erzeugte. Eine weitere Beobachtung von Sassen bezüglich der Veränderung der »städtischen Form«51 dieser Global Cities war die Erweiterung der Stadt hin zu »Agglomerationen«, die man auch schon bei Castells antreffen konnte. Das Geschäftszentrum bleibe einerseits »eine Schlüsselform von Zentralität«, weite sich aber andererseits aus »zu einer metropolitanen Region in Form eines Netzes mit Knotenpunkten intensiver geschäftlicher Aktivitäten«52. Der Vorteil dieser Randgebiete sei, dass einerseits günstige Mieten und günstiges Bauland, andererseits eine dichte und leistungsstarke Infrastruktur einschließlich Datennetzen zur Verfügung stünden. Sassen hob hervor, dass sich diese Entwicklung neuer urbaner Randgebiete »erheblich von der Suburbanisierung durch Wohnbebauung oder Metropolitanisierung unterscheidet«53. Zusammenfassend kann man bei Castells, Sassen und vielen anderen Autoren erkennen, dass sich aufgrund der enormen weltweiten Umschichtungsprozesse eine neue Interpretation von Funktionen und Formen der Stadt herausgebildet hat. Dabei liegt die Ausrichtung auf differenzierten lokalen und globalen Wirkungsgefügen, die sich ihre Formen schaffen. Während Sassen diese funktionalen Wirkungsgefüge und ihre formalen Auswirkungen detailliert beschrieb, ging Castells noch einen Schritt weiter, denn er rief zum Widerstand auf, die Städte nicht den Mechanismen des Raums der Ströme zu überlassen. Seine These war, dass die bewusste Schaffung städtischer Orte – materieller Formen – dazu eingesetzt werden kann und muss, der Verselbständigung dieser globalen Wirkungsgefüge ein Gegengewicht entgegenzustellen. Anders gesagt forderte Castells, mit materialisierter, gebauter Gesellschaftsform der Funktionalisierung der Gesellschaft entgegenzutreten. Denn für das soziale Miteinander müsse Bedeutung in städtischen Bauformen realisiert werden, wohingegen die Bedeutung der Vernetzung in den Funktionen läge. Castells ging es um einen Ausgleich zwischen auseinanderdriftenden Funktionen und Formen.

51 Sassen 1996, S. 105. 52 In Maar/Rötzer 1997, S. 119. 53 Sassen 1996, S. 131.

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A RCHITEKTURDISKURS

DER

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U MWELTBEWEGUNGEN

Auch der Architekturdiskurs der Umweltbewegungen ist mit der Entwicklung der Globalisierung und den Räumen der Ströme und Orte eng verknüpft. Den Umweltbewegungen liegen die unterschiedlichsten Motivationen und Zielrichtungen zugrunde und ihre Zusammenschlüsse reichen von Naturfreunde- und regionalen Interessensgruppen bis zu weltweit vernetzten Bewegungen, deren Interesse zum Beispiel der globale Klimawandel oder der Ökotourismus ist. Gerade die neueren Gruppierungen, die sich seit den 1960er Jahren entwickelten, lassen wesentliche Merkmale der Informationsgesellschaft in »Form einer dezentralisierten, vielgestaltigen, netzwerkorientierten, allgegenwärtigen sozialen Bewegung«54 erkennen. Castells hat dargestellt, dass die Umweltbewegungen die einzigen Gruppierungen sind, die ihr Handeln als lokal und global motiviert begründen können, also den Zusammenhang des Lokalen und Globalen als Orientierungshilfe für jedes Handeln verstehen. Während im Raum der Ströme die Machtlosigkeit des Einzelnen vorherrsche, sei es den Umweltbewegungen gelungen, das Bewusstsein für die globale Wirkung des singulären, lokalen Handelns zu schärfen. Die Umweltbewegungen waren spätestens seit dem neunzehnten Jahrhundert dem Denken in Systemen verpflichtet. Selbst in einer so romantisch-idealistischen Vorstellung von Natur, wie Louis Sullivan sie ausdrückte, kann man diese Einbettung in eine systemische Ganzheit deutlich erkennen. Heutige Umweltverständnisse sind wissenschaftlicher und erklären die Natur als Ökosysteme mit Energie- und Stoffkreisläufen. Kreisläufe sind gedachte Einheiten, in denen Materialien oder Energien von einem zum nächsten Ort strömen und dabei immer wieder von Neuem Prozesse durchlaufen ohne zu degenerieren. Produkte der Industriegesellschaft unterliegen bisher nicht diesen Kreisläufen, sie werden nach ihrem Gebrauch weggeworfen oder entsorgt. Dies gilt auch für die Architektur. Es ist daher eine gängige Forderung der Umweltbewegungen, dass man die für Gebäude benötigten Materialien und Energien reduzieren, beziehungsweise den Verbrauch fossiler Energien durch erneuerbare Energien ersetzen müsse. Zusätzlich zielen die heutigen Umweltbewegungen in der Architektur darauf ab, nicht nur Energie, sondern alle Baustoffe und Bauprozesse als Teile von globalen Kreisläufen zu interpretieren. Dieses Denken fußt darauf, dass Materie- und Energieströme als äquivalent betrachtet werden. Man kann diese Sichtweise der Äquivalenz von Materie und Energie geradezu als ein Merkmal des umweltgerechten und integrativen Bauens betrachten, sichtbar zum Beispiel am Interesse an der Bilan-

54 Castells 2002, S. 123.

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zierung von grauer Energie, also jener Energie, die für die Gewinnung, Verarbeitung und den Transport eines Bauprodukts investiert wird55. Ein Beispiel für solches Denken ist die Europäische Charta für Solarenergie von 1996, die von Architekten und Theoretikern wie Ralph Erskine, Norman Foster, Herman Hertzberger, Thomas Herzog, Juhani Pallasmaa und Renzo Piano unterzeichnet wurde und forderte, dass »Städte, Bauten und ihre Teile [...] als komplexes System von Stoff- und Energieflüssen interpretiert werden«56. Ein weiteres Beispiel ist die Organisation Second Nature, die 2001 auf ihrer Konferenz in Racine verlangte, endlich ein »Gebäude als Schnappschuss in einer Sequenz von Flüssen« zu verstehen. Dazu sei erforderlich, dass der Architekt etwas von »allgemeiner Systemtheorie und Funktion« verstehe57. Der Funktionsbegriff als Wirkung von Teilen in Ganzheiten ist in diesem Denken von Kreisläufen essentiell. Man muss nur die drei Aspekte des Funktionsbegriffs befragen, um dies zu verstehen, nämlich: Was betrachten die Befürworter umweltverantwortlicher Architektur als Ganzheit, was als Teile und was als aktivwirkend? Den letzten Aspekt haben wir bereits erkannt, es geht um Materie- und Energieströme. Da diese Ströme auf dem gesamten Planeten stattfinden, folgt daraus, dass in diesem Denken das Ganze der zu erhaltende Planet ist. Und wie im Zitat aus der Europäische Charta für Solarenergie ersichtlich, sind Bauteile, Gebäude und Städte die zusammenwirkenden Teile oder Subsysteme. Es ist wichtig festzuhalten, dass Gebäude hier nicht als singuläre Ganzheiten betrachtet werden. Gebäude sind Teile – in Form von Materie und Energie – die im Stoffkreislauf der Erde aufgehen. Dabei sollen Gebäude als Teile die Ganzheit der Umwelt so wenig wie möglich durcheinanderbringen und im besten Fall sogar die Ganzheit unterstützen. In dieser Sichtweise steht nicht im Vordergrund, dass Gebäude künstlerische und bedeutungsvolle Ganzheiten sein sollen. Architekten der Umweltbewegungen stehen damit vor der Aufgabe, ihre technische Sichtweise mit ihren künstlerischen Ansprüchen zur Deckung zu bringen. Die Herangehensweise an Architektur als funktionale Energie- und Materiekreisläufe kann man beispielhaft anhand zweier Autoren – Michael Braungart (*1958) und William McDonough (*1951) – darstellen. McDonough veröffentlichte 1992 die Hannover Principles, die der Expo 2000 mit ihrem Motto »Humanität, Natur und Technologie« zugrunde gelegt wurden. Die Hannover

55 Vgl. Herzog 2007, S. 34-6: »Bei der Verwendung von Materialien, Konstruktionen, Produktionstechnologien, Transport, Montage- und Demontage von Bauteilen müssen daher auch Energieinhalte und Stoffkreisläufe berücksichtigt werden. [...] Städte sind gebaute Ressourcen von hohem Primärenergiegehalt.« 56 Herzog 2007, S. 32. 57 Glyphis 2001, S. 7, 11 (engl.).

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Principles beinhalteten neun Prinzipien, in denen zwar der Begriff Funktion nicht vorkommt, allerdings die verwandte Terminologie von System, integraler Beziehung, Wechselbeziehung, Interaktion und Lebenszyklen von Produkten und Prozessen. Man konnte in jedem Prinzip das Thema der aufeinanderwirkenden Teile im Weltganzen lesen: »1. 2.

Bestehe darauf, dass die Rechte der Menschen und der Natur koexistieren [...]. Erkenne wechselseitige Abhängigkeiten. Die Elemente menschlichen Schaffens interagieren mit und hängen ab von der natürlichen Welt, mit weitreichenden und vielfältigen Auswirkungen in jedem Maßstab. Erweitere Entwurfsüberlegungen, um sogar entfernte Effekte zu erkennen.

3.

Respektiere Beziehungen zwischen Geist und Materie [...].

4.

Akzeptiere Verantwortung für die Konsequenzen von Entwurfsentscheidungen [...].

5.

Schaffe sichere Objekte mit Langzeitwert. Belaste nicht zukünftige Generationen mit Wartungsarbeiten oder Verwaltung potentieller Gefahr aufgrund von nachlässiger Herstellung von Produkten, Prozessen oder Standards.

6.

Eliminiere das Konzept des Abfalls. Evaluiere und optimiere den vollen Lebenszyklus von Produkten und Prozessen, um den Stand natürlicher Systeme zu erreichen, in denen es keinen Abfall gibt.

7.

Vertraue auf natürliche Energieflüsse [...].

8.

Verstehe die Grenzen des Entwurfs [...].

9.

Suche nach ständiger Verbesserung, indem Du Wissen teilst […] und erneuere die integrale Beziehung zwischen natürlichen Prozessen und menschlicher Aktivität.«58

Eine erste wichtige Feststellung ist hier, um welche Einheit es geht oder was hier als Ganzes betrachtet wird. Dabei machte McDonough deutlich, dass umweltverantwortliche Architektur keine Trennung zwischen menschlichen Erzeugnissen auf der einen Seite und der Natur auf der anderen Seite kennen dürfe, sondern beide eine Einheit bilden müssen. Zu dieser Einheit gehöre auch zu erkennen, welche Einflüsse gebaute Strukturen auf die Atmosphäre haben, »einschließlich jenen von Ozonabbau und globaler Erwärmung«59. McDonough ging es darum, »sich die Idee einer globalen Ökologie zu eigen zu machen«60 und forderte damit, dass Architektur Teil der Globalisierung sein müsse, da lokale Architektur sich immer auch auf die globale Umwelt auswirke. Auch Baumaterialien sollten in ihrer »Wirkung [...] innerhalb eines globalen und lokalen Kontexts« betrachtet werden und sich dem

58 McDonough 1992, S. 5 (engl.). 59 Ebd., S. 8 (engl.). 60 Ebd., S. 3 (engl.).

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»natürlichen Energiefluss«61 unterwerfen. Bauen hat aber nicht nur eine globale Wirkung, sondern umgekehrt wirkt sich das globale Ökosystem auch auf einzelne lokale Orte aus. Dementsprechend müsse man aufhören, »geschlossene Systeme autonom und losgelöst vom Rest der suburbanen Zersiedelung«62 zu entwerfen. Stattdessen forderte McDonough im neunten Prinzip die Rückbesinnung auf die »integrale Beziehung zwischen natürlichen Prozessen und menschlicher Aktivität«. In den Hannover Principles waren somit alle Funktionsaspekte vorhanden, auch wenn die Autoren diese nicht so nannten. Man muss noch anfügen, dass es hier nicht nur um eine technische Sichtweise von Architektur ging. Vielmehr kann man McDonough unterstellen, dass er eine Sublimierung dieses technischen Verständnisses erhoffte, in der sich der Architekt bewusst werde und künstlerisch ausdrücke, dass Menschen Teile vom Ganzen sind. Der Architekt müsse von Neuem die Überlegenheit des »organischen Funktionalismus« anerkennen, den Menschen und seine Technik »von der materiellen bis zur spirituellen Seite«63 als Teil der Naturkreisläufe interpretieren und daraus Architektur schaffen: »Das Umdenken hin zum Natürlichen in der Technologie beginnt, wenn wir Maschinen nicht als hochragende Errungenschaft der erfinderischen Menschenheit sehen, sondern als ›lahme Nachahmungen lebender Organismen‹. Was ist ein Flugzeug neben einem Adler, ein Radio neben einer Stimme? Unsere stolzesten technischen Errungenschaften nähern sich nur dem organischen Funktionalismus innerhalb der Natur an.«64

Im Jahr 2002 veröffentlichten Braungart und McDonough das Buch Cradle to Cradle (Einfach intelligent produzieren 2003). Darin vertraten sie die Ansicht, dass die drei Hauptstrategien der Umweltbewegungen – Reduce, Reuse, Recycle – nicht dazu führen würden, dass die Ausbeutung und Verschmutzung des Planeten aufgehalten, sondern nur verlangsamt werde. Öko-Effizienz sei nur ein Prinzip, wie man Schaden verkleinere oder verzögere, aber nicht wie man Positives für die Umwelt tue: »Sich bei der Rettung der Umwelt auf die Öko-Effizienz zu verlassen, wird tatsächlich das Gegenteil bewirken, denn dieses Konzept bietet der Industrie die Möglichkeit, alles zu zerstören – leise, beharrlich und vollständig.«65 Stattdessen forderten Braungart und McDonough ein völlig neues Prinzip, nämlich alle Produkte derart zu produzieren, dass sämtliche ihrer Teile nach ihrem Gebrauch

61 Ebd., S. 7, 5 (engl.). 62 Ebd., S. 32 (engl.). 63 Ebd., S. 31, 43 (engl.). 64 Ebd., S. 44 (engl.). 65 Braungart/McDonough 2003, S. 86.

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wieder vollständig in den Stoff- und Energiekreislauf zurückgeführt werden können und dabei nicht an Wertigkeit verlieren: »Der Schlüssel liegt darin, nicht die Betriebe und Systeme kleiner zu machen, wie die Fürsprecher der Effizienz es fordern, sondern sie so zu planen und zu entwickeln, dass sie sich in einer Weise vergrößern und verbessern, die dem Rest der Welt wieder neue Stoffe und Vorräte liefert und sie nährt.«66

Als Grundprinzip müsse man dabei zwei Kreisläufe unterscheiden, einen biologischen und einen technischen. Produkte müssen in biologische und technische Stoffe getrennt werden können, denn Nichttrennbarkeit dieser Stoffe führe automatisch zu einem Verlust an Wertigkeit (Downgrading) der Materialien:

»Produkte können entweder aus Materialien bestehen, die biologisch bzw. physikalisch abbaubar sind und so zu Nahrung für biologische Kreisläufe werden, oder aus technischen Materialien, die in geschlossenen technischen Kreisläufen bleiben, in denen sie fortwährend als wertvolle Nährstoffe für die Industrie kreisen. Damit diese beiden Metabolismen intakt, produktiv und nutzbringend bleiben, muss die Kontamination des einen durch den anderen unbedingt vermieden werden.«67

Die biologischen Kreisläufe machen es vor: »Die wichtigsten Nährstoffe der Erde – Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff – durchlaufen einen Kreislauf und werden immer wieder verwendet.«68 Man ist hier unmittelbar an Konrad von Meyenburgs Satz – »aus C, O, H, N erbaut sich das leben mit sonnenkraft«69 – erinnert, der dann von Hannes Meyer 1928/29 aufgenommen wurde und den Walter Gropius so unrühmlich abqualifizierte (siehe viertes Kapitel). In den technischen Kreisläufen dürfe man nur die sogenannten technischen Nährstoffe »in ihrer hohen Qualität innerhalb eines geschlossenen industriellen Kreislaufs weiterzirkulieren lassen«70. Überall müsse man sich die Natur zum Vorbild nehmen, in der es keinen Abfall gebe und alles zu Nahrung werde. Des Weiteren setzten sich Braungart und McDonough für Diversität ein: »Je mehr Vielfalt es gibt, desto mehr produktive Funktionen – produktiv für das Ökosystem, für

66 Ebd., S. 106. 67 Ebd., S. 136. 68 Ebd., S. 123. 69 Meyenburg1927b, S. 3. 70 Braungart/McDonough 2003, S. 142. Weiter heißt es: »Ein technischer Nährstoff ist ein Material oder Produkt, das so konstruiert ist, dass es in den technischen Kreislauf zurückkehren kann, in den industriellen Metabolismus, dem es entstammt.«

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den Planeten – werden ausgeführt.«71 Außerdem gehöre neben Diversität auch Redundanz zu einem effektiven System, das heißt die »Fähigkeit, mehr Dinge oder Informationen zu produzieren, als minimal [...] gebraucht werden«72. Diese Sichtweise kulminierte gegen Ende des Buchs in ihrem Vorschlag, das Prinzip »Form folgt Funktion« zu »Form folgt Evolution« zu erweitern. Damit drückten Braungart und McDonough aus, dass ein Ding oder Prozess nicht nur während seiner eigenen Lebensdauer funktionieren, sondern einem zukünftigen Kreislauf für ein neues Produkt als Material wieder zur Verfügung stehen müsse. Es sei zwar gut, wenn Form der Funktion folge, »aber die Möglichkeiten sind größer, wenn die Form der Evolution folgt«73. »Form folgt Evolution« war somit das gleiche wie das »Wiege-zu-Wiege«-Prinzip, das als Titel ihres Buchs zugleich ihr Hauptanliegen darlegte. Braungart und McDonough zeigten eindrücklich, warum und wie Architekturen als Material- und Energieflüsse interpretiert werden sollen. Dabei folgten sie einer überwiegend technischen Sichtweise auf Architektur, um diese in den Dienst eines moralischen Ziels zu stellen, »der Rettung der Umwelt«74. Architektur interpretierten sie als Subsystem des großen Ganzen der Umwelt. »Gebäude, Systeme, Stadtviertel und selbst ganze Städte können mit den sie umgebenden Ökosystemen so verflochten werden, dass sie sich gegenseitig unterstützen.«75 Die Aufgabe der

Architekten war damit klar umrissen: »Öko-effektive Planer erweitern ihr Blickfeld und haben neben dem vorrangigen Zweck eines Produkts oder Systems auch das Ganze im Auge. Was sind die Ziele und die möglichen Wirkungen, sowohl direkt wie auch in größeren zeitlichen und räumlichen Zusammenhängen? Zu welchem – kulturellen, wirtschaftlichen, ökologischen – Großsystem werden dieses produzierte Ding und dieser Produktionsprozess gehören?«76

Die Textbeispiele von Braungart und McDonough sollen zeigen, dass der Architekturdiskurs der Umweltbewegungen uns wieder die eigentliche Bedeutung des Funktionsbegriffs näherbringt: Gebäude haben Funktionen in unserer Umwelt und Ziel muss es sein, ihre momentan negativen Funktionen (Schädigung des Ökosystems) in positive zu verwandeln.

71 Ebd., S. 157. 72 Ebd., S. 226, Zitat von Stephen Jay Gould. 73 Braungart/McDonough 2003, S. 178. Vgl. S. 136: »Die Evolution, nicht allein die Funktion bestimmt die Form.« 74 Ebd., S. 86. 75 Ebd., S. 115-6. 76 Ebd., S. 109.

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So weit spricht diese Herangehensweise an Architektur das Ethisch-Gute und auch das Wissenschaftlich-Richtige für Mensch und Natur an. Wo bleiben Ästhetik und Repräsentation? Da diese Kategorien hier nur zweitrangig sind, kann man durchaus die Architektur der Umweltbewegungen als neuen Funktionalismus verstehen, für den umweltverantwortliches Funktionieren wichtiger ist als ästhetischer Ausdruck. Hier wiederholt sich die Kritik an einem anti-ästhetischen Funktionalismus, der das Künstlerische und die Komplexität menschlichen Seins vernachlässigt. Auf der anderen Seite geht mit umweltverantwortlicher Architektur auch oft eine akzeptierte technische Ästhetik einher, die aus Doppelfassaden und Photovoltaikdächern besteht und eher als Repräsentation von Umweltverantwortung verstanden werden kann, als dass deren Effektivität tatsächlich nachgeprüft würde. Sie wird so zum Branding von Firmen, zur Ware. Aber ob nun Vernachlässigung der Form oder Formalisierung als Ökostil: Ohne sinnstiftende Sublimierung der Funktionen schrumpft in beiden Fällen die Architektur der Umweltbewegungen zu bloßen technischen und wirtschaftlichen Herausforderungen zusammen. Es bleibt also die Frage, wie das technische Verständnis von Architektur als Teil des Ökosystems und das künstlerische Verständnis von Architektur als menschlicher und gesellschaftlicher Ausdruck zueinander ins Verhältnis gebracht werden können. Braungarts und McDonoughs Cradle-to-Cradle-Ansatz schloss zwar die architektonische Forderung nach Sinnstiftung nicht aus, doch stehen Technik/Natur und Kunst nur nebeneinander, ihre Beziehung ist ungeklärt. Und somit ist auch hier die Frage der Funktion-Form-Beziehung für die Architektur erneut offen. Die Architekturgeschichte hält unzählige Beispiele für das Studium bereit, wie Architekten Natur und Technik interpretierten, um zu architektonisch-künstlerischen Aussagen zu kommen. Insofern könnte hier das Inbeziehungsetzen von technischen und künstlerischen Ansprüchen das eigentliche Thema sein, indem erneut der eine als Sublimierung des anderen betrachtet werden könnte.

P ERFORMATIVITÄT

IN DER

A RCHITEKTUR

Theorien zur Performativität von Architektur speisen sich sowohl aus den Diskursen der Architektur des Informationszeitalters, der Netzwerkgesellschaft und der Digitalisierung als auch der Architektur der Umweltbewegungen. In allgemeinen Architekturdiskussionen hat sich der Begriff High-Performance-Architektur etabliert, doch wird im Folgenden auch der neutralere Begriff der performativen Architektur verwendet, um hier ein zweites Verständnis einzubeziehen, nämlich dasjenige der Performance Art, durch das Architektur auch im Sinn einer Aufführung interpretiert werden kann. Beide Diskurse mögen auf den ersten Blick

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nur wenig miteinander gemeinsam haben. Doch indem beide gemeinsam besprochen werden, wird hier versucht, der im letzten Abschnitt angeklungenen Kritik einer zunehmenden Teilung in technische und künstlerische Architekturverständnisse entgegenzutreten. Während High-Performance-Architektur technisch und Architektur als Performance Art künstlerisch ausgerichtet ist, kann der eher neutrale Begriff der performativen Architektur eine Bandbreite zwischen Leistung und Spiel bezeichnen. In beiden aber spielt Performativität auf eine Architektur an, die aktvisch gedacht wird und daher in die Nähe des Funktionsbegriffs rückt. High-Performance-Architektur ist ohne Digitalisierung nicht denkbar. Eine neue Interpretation, was Gebäude sind, hat sich hier herausgebildet. Mitchell hat dies bereits 1995 in Worte gefasst, als er Architekturen als »Subnetzwerke« von »Binärwelt-Gemeinschaften« beschrieb und das Ineinanderaufgehen von digitalen Geräten und Gebäuden voraussah, indem »Computer nahtlos mit Gebäuden verschmelzen, und Gebäude [...] selber zu Computern werden«77: »Gebäude und Gebäudeteile müssen [...] mit elektronischen Sensoren und Effektoren ausgestattet sein, mit interner Verarbeitungskapazität, komplizierten internen Telekommunikationssystemen, Software und Möglichkeiten, Bits hinein- und hinauszubefördern; [...] Räume und Gebäude werden hinfort als Orte gelten, wo der Körper mit Bits zusammentrifft – wo digitale Information in visuelle, akustische, taktile oder sonstige wahrnehmbare Formen übersetzt wird und umgekehrt körperliche Aktionen erfaßt und in digitale Information verwandelt werden. [...] Gebäude werden schließlich zu Computerschnittstellen und Computerschnittstellen zu Gebäuden [...] und die architektonischen Werke der Binärwelt sind weniger Bauten mit Chips denn Roboter mit Fundamenten«78.

Neu an diesem bereits Wirklichkeit gewordenen Szenario war zum Ersten, dass Bauelemente als steuerbar betrachtet werden, die zentral bewegt werden können, also aktiv werden. Diese Bewegung ist zum Teil visuell wahrnehmbar, zum Beispiel bei gesteuerten Belüftungsklappen in einer Fassade, Verschattungselementen, Lichtreflektorflügeln und ganzen Gebäudeteilen, die sich zur Sonne wenden. Andere Prozesse können weniger in ihrer Aktivität erkannt werden, zum Beispiel Wände, die Strahlungswärme der Sonne aufnehmen oder Schallwellen absorbieren und reflektieren. Solche Bewegungen sind aber messbar und somit im Computer prozessierbar. Dinge, die man messen kann, sind Veränderungen unterworfen – sonst müsste man sie ja nicht messen. Wenn aber Dinge in Veränderung sind, sind sie nicht statisch, auch wenn sie so aussehen. Insgesamt entwickelt sich so ein Verständnis einer Architektur, deren Teile permanent in Bewegung sind.

77 Mitchell 1996, S. 181.

78 Ebd., S. 109-10, 182.

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Neu ist aber auch zum zweiten, dass diese Bewegungen in Form von Messdaten als aufeinander bezogen, als sich gegenseitig beeinflussend verstanden werden. Das Gebäude wird zum sich selbst regelnden System, »indem wir den Sensoren eines kybernetischen Systems unsere Wünsche beibringen«79. High Performance bedeutet, dass einzelne Teile nicht nur optimiert, sondern darüber hinaus in ihrem Zusammenspiel in einem Gebäude koordiniert werden. Auch wenn die High-Performance-Architektur teilweise mit derjenigen der Umweltbewegungen überlappt, gibt es Unterschiede. Während bei letzterer Gebäude eher zu Teilen von Ökosystemen werden, ist in der High-Performance-Architektur das Gebäude selbst das System, zwar eines, das sich mit seiner Umgebung austauscht, aber trotzdem ein klar definiertes Ganzes. Die Motivation, dieses Ganze herzustellen, ist weniger die ästhetische Bedeutungsvermittlung, sondern die Schaffung einer Umgebung, die messbaren Komfort bei gleichzeitigem niedrigem Energieverbrauch erzielt. Gebäudehülle, technische Ausrüstung und Innenräume werden in Bezug auf Kennwerte von Komfort und Energieverbrauch aufeinander abgestimmt. Der Zusammenhang zwischen Funktion und Performanz kann leicht hergestellt werden, denn schon in früheren Architekturschriften findet man eine gewisse Gleichsetzung von beiden Begriffen, wobei Performanz der Erklärung von Funktion diente. Zum Beispiel hatte Lewis Mumford schon 1952 Funktion als performativ bezeichnet; Paolo Soleris setzte in seinem Manifest von 1973 die Beziehung Funktion-Form gleich mit Performanz-Struktur; und Rykwert erklärte 1976 mit Bezug auf Lodoli Funktion als die »Tätigkeit (activity) oder Verrichtung (performance) im allgemeinen oder die besondere Tätigkeit (activity) bestimmter Dinge oder Personen«80. Steven Groak vertrat 1992 in seinem Buch The Idea of Building die Auffassung, dass sich der Begriff der Performance aus dem Begriff der Funktion heraus entwickelt hätte: »Ein Konzept, das sich aus der Funktion herausgebildet hat, um einen wichtigen Platz in der Sprache der Bauindustrie einzunehmen, ist ›Performance‹. [...] Dieser Ansatz ist der Versuch, Gebäude und ihre konstituierenden Teile dahingegen zu definieren, welche Leistung-imGebrauch [performance-in-use] sie über einen Zeitraum erreichen sollen. [...] Zum Beispiel könnte thermische Performance definiert werden mit Bezug auf einen festgesetzten minimalen Energieverlust des gesamten Gebäudes über einen definierten Zeitraum [...]. Die

79 Grassmuck in Maar/Rötzer 1997, S. 39. 80 Mumford 1952, S. 113-5 (engl.); Soleri in Braham/Hale 2008, S. 208; Rykwert 1983, S. 205 (dt.); Rykwert 1976, S. 22 (engl.).

246 | F UNKTIONEN UND F ORMEN Herangehensweise beabsichtigt genau zu definieren, was ein Endprodukt gemäß unserer Forderung tut, in definierbarer und messbarer Hinsicht.«81

In dieser Erläuterung lässt sich das Verständnis von High-Performance-Architektur sehr gut ablesen. Es geht um technische und berechenbare Effizienz eines Gebäudes. Gebäudeteile und Gebäude werden dabei als aktiv etwas leistend interpretiert. Groak sprach auch vom »Verhalten der Gebäude [behaviour of buildings]«82. Dabei stand er dieser Sichtweise durchaus kritisch gegenüber, denn er erkannte, dass hier nur das optimiert werden kann, was auch messbar war und zweitens, dass man zwar einzelne technische Parameter messen kann, aber die Frage offen bleibt, »wie wir die ›Performance eines gesamten Gebäudes‹ definieren und messen«83. Seit der Jahrtausendwende hat der Diskurs um Performativität in der Architektur immer mehr zugenommen [Abb. 26]. Interessanterweise geht dabei oft eine Abgrenzung dem Funktionalismus gegenüber einher. Zum Beispiel war für Eran Neuman das Verständnis von »Form als Folge der Funktion [...] mechanistisch«, weil es »sich hauptsächlich auf utilitaristische Aspekte der Form stützte und nicht notwendigerweise mit der Komplexität der Form als kulturelles, soziales und politisches Produkt befasste«84. Die neue, performative Architektur stelle, so Neuman, einen Gegensatz zur funktionalistischen Auffassung der Klassischen Moderne dar:

Abbildung 26: Beispiele von Veröffentlichungen zur Performativität in der Architektur 2005, 2008 und 2011.

81 Groak 1992, S. 140 (engl.). 82 Ebd., S. 2, 4 (engl.). 83 Ebd., S. 142 (engl.). 84 Grobman/Neuman 2012, S. 4 (engl.).

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»Im Kontrast zu den Konzepten der Moderne, in denen die architektonische Funktion begrenzt war und hauptsächlich als Nützlichkeitswert wahrgenommen wurde, versuchen die technologisch-performativen Konzeptionen heute zusätzliche Dimensionen architektonischer Funktionen einzubinden, zum Beispiel Symbolhaftigkeit und diagrammatische Funktion (eine Aktion in einem offenen Entstehungsprozess).«85

Auch Michael Hensel und Achim Menges grenzten sich in dem Heft Form Follows Performance der Zeitschrift Arch+ aus dem Jahr 2008 vom Funktionalismus ab, indem sie diesen als Monofunktionalismus definierten und damit gleichzeitig erklärten, wie sie sich die Weiterentwicklung oder Korrektur vom Funktionalismus hin zu performativer Architektur vorstellten: »In der Architektur führte die Industrialisierung und Massenfertigung von Gleichteilen jedoch dazu, dass Bauteile und Konstruktionssysteme jeweils nur eine zugeordnete Hauptfunktion haben, z.B. primäres Tragwerk, sekundäres Tragwerk, Klimahülle, Sonnenschutz und so weiter. Die Formfindung multifunktionaler Elemente erfordert also ein grundlegendes Umdenken in der Architektur.«86

Im »ideologisch verklärten Funktionalismus des 20. Jahrhunderts«, so setzten Hensel und Menges fort, hätte die entwerferische Herangehensweise an ein Projekt darauf abgezielt, »die Effizienz eines Systems für determinierte Anforderungen zu steigern«. Wie schon Braungart und McDonough vor ihnen setzten sie dem Postulat der »System-Effizienz« dasjenige der »System-Effektivität« entgegen, das darauf abziele, »räumliche, statische und klimatische Bedingungen in Wechselwirkung mit der Umwelt zu schaffen. Im Vordergrund steht nicht mehr die Funktionalität einer reduzierten Konstruktion, sondern die integrale Leistungs- und Anpassungsfähigkeit eines differenzierten Systems.«87 Auch hier wurde also Funktionalismus als reduktiv, verarmt und antikomplex interpretiert – ein Erklärungsmuster, dem wir schon öfter begegnet sind. Performative Architektur wird dabei zum Gegenbild von Funktionalismus, »eine Architektur der Wechselwirkungen aus Form, Material, Struktur und Umwelt«88. Hinzu kommt, dass Hensel und Menges Materialien und Systeme aktiv deuteten, und dies meinten sie keineswegs metaphorisch: »Jedes Materialsystem steht in Wechselwirkung mit seiner Umwelt. Die Interaktion des materiellen Gefüges des Systems mit dieser spezifischen (Makro-)Situation aus Raum, Kraft,

85 Ebd., S. 34 (engl.). 86 Hensel/Menges 2008, S. 28. 87 Ebd., S. 23. 88 Ebd., S. 17.

248 | F UNKTIONEN UND F ORMEN Klima, Licht, Schall etc., in die es eingebettet ist, bewirkt lokale Veränderungen der (Mikro-) Gegebenheiten innerhalb und jenseits der physischen Grenzen des Systems. Diese Modulation der Umwelt bezeichnen wir als die performativen Effekte des Materialsystems.«89

Dieser Gedanke einer inneren Aktivität, die sich die Form schafft, steht in deutlicher Parallele zur Klassischen Moderne. In beiden Verständnissen soll die Form Resultat aus Prozessen sein, von Innen heraus entstehen. Diese erneuerte Sehnsucht nach Autopoiesis, der Selbstschaffung der Form, findet sich gerade bei Autoren, die das Performative zelebrieren, wie Hensel und Menges. Ihr Ziel ist, Materialien darauf zu untersuchen, wie sie sich in unterschiedlichen Umgebungen verändern, wie sich verschiedene »Verhaltensmuster« eines Systems »in einer spezifischen Situation unter einer Vielzahl von Einflüssen«90 herausbilden und wie man diese nutzbar machen kann. Eine damit zusammenhängende Parallele zur Moderne ist, dass sowohl bei Funktion als auch bei Performance das Wirken von Teilen zu einem Ganzen (in einem Kontext) so weit in den Vordergrund rückt, dass es dabei nur indirekt um eine generelle Zwecklichkeit für Nutzer geht. Der Nutzer wird Teil eines Gesamtsystems, er ist also dem Produkt als Parameter zugeordnet, anstatt dass ihm das Produkt als Mittel zur Verfügung steht. Nutzer, Betrachter oder auch Zuhörer sollen das Gebäude in erster Linie als Interaktion von Teilen und Ganzem wahrnehmen. Der Diskurs um performative Architektur ist getragen von einer gleichzeitigen Kritik an formalistischer Architektur. Performative Architekturen, so Hensel und Menges, mögen kompliziert aussehen, doch sie »grenzen sich deutlich von den entworfenen, komplizierten Konstruktionen zeitgenössischer Architektur ab«. Während sich jene einer »zum Selbstzweck erhöhten Diffizilität« unterwerfen würden, beruhe ihre eigene Herangehensweise »auf der Instrumentalisierung von Selbstbildungsprozessen«91. Mit ihrem Ansatz, so die Autoren, »wird die Dominanz des visuell Erfass- und Darstellbaren als Hauptentwurfsgegenstand grundsätzlich hinterfragt, da Thermodynamik, Akustik, Belichtung, Kraftfluss etc. nicht mehr nachgestellt, sondern gleichgestellt sind«92. Ähnlich wie in den Postulaten der Moderne kann man hier eine Missachtung jener formalen Interessen erkennen, die allein aus dem Ausdruckswillen des Menschen kommen. Man sieht in den Zitaten eine wiedergekehrte Primatdiskussion von Funktion über Form. Dabei wird die Form durchweg technisch begründet, während ästhetische Gründe nicht weiter interessieren.

89 Ebd., S. 34. 90 Ebd. 91 Ebd., S. 32. 92 Ebd., S. 34.

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Zu dieser Kritik an performativer Architektur kam auch David Leatherbarrow in seinem Aufsatz Architecture’s Unscripted Performance von 2005. Er beschrieb hier seine Beobachtung, dass sich die gegenwärtige Architekturtheorie und -praxis umorientiere, weg davon »was ein Gebäude ist« und hin zu »was ein Gebäude tut«, um dann von dem zweiten Ansatz wieder auf den ersten zu schließen93. Doch dies dürfe nicht ausschließlich technisch betrachtet werden: »Vielleicht wird die Beachtung der Performanz zu einem neuen Verständnis beitragen, wie Gebäude vorgestellt, gemacht und erfahren werden. Aber dieses neue Verständnis wird nicht ausschließlich aus der Entwicklung und Einsetzung neuer Technologien resultieren. Die fortgesetzte Hingabe zu einer technischen Interpretation von Performanz wird zu nichts anderem führen als zu einer unkritischen Wiederaneignung funktionalistischen Denkens im alten Stil – ein Denken, das sowohl verkürzt als auch unangemessen ist, weil es nur das würdigt, was es voraussehen kann.«94

In den Veröffentlichungen der letzten Jahre konnte man eine weitere grundsätzliche Interpretation von Performativität in der Architektur erkennen, die auf ältere Traditionen basiert und dazu dienen kann, dieser Gefahr der einseitigen technischen Auslegung des Performanzbegriffs zu begegnen. In einer direkten Auslegung geht es um Architektur, die Raum für eine Aufführung oder Performance bietet, also Theater, Happening oder Event gestattet. Dieser Raum kann, je nach szenographischer Interpretation, Hintergrund einer Aufführung oder Mitakteur sein und kann, wie zum Beispiel Bernard Tschumi formulierte, auf die »Beziehung der Bewegung des Körpers und des Raums als Kunstpraxis«95 abzielen. Auf diese Auslegung aufbauend kann Architektur auch selbst als Event oder Performance Art interpretiert werden, also als »kommunikatives sinnliches Ausstellen, Hervorheben, das Präsentieren von Haltungen, Seinsweisen, und zwar als Tätigkeit, in der Bewegung, ob nun mit dem Zentrum lebendiger Körper oder [...] von Materialien, Zeichen, Linien, Farben, der audiovisuell mediatisierten Bewegung«96. In der Performance Art sind die Performanz und ihre Form nicht voneinander zu trennen, sie sind ein und dasselbe. Übertragen hieße performative Architektur also, dass ein Gebäude selbst eine Geschichte aufführt. Die beiden Bedeutungen – die technische und die theatralische – müssen sich nicht ausschließen, im Gegenteil kann in ihrer Überlagerung ein Ansatz zur Sublimierung des Technischen liegen. Darauf haben zum Beispiel Eran Neuman und

93 Leatherbarrow 2005, S. 7 (engl.). 94 Ebd. (engl.). 95 Tschumi 2008, S. 58 (engl.). 96 Fiebach 2002, S. 754.

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Yasha Grobman hingewiesen, als sie die Performanz »zwischen die funktionalistische und bildbasierte Herangehensweise an Formfindung und -konzeption« ansiedelten: »Form ist in diesem Fall animiert, agierend und interagierend mit den umgebenden Objekten/Formen und dem menschlichen Subjekt und schafft Möglichkeiten für das Auftauchen neuer Realitäten«97. Auch Antoine Picon führte die beiden Interpretation der Performanz – als High-Performance-Architektur und als Aufführung – zusammen. Er beschrieb das Phänomen des »zeitgenössischen Performalismus« als Ausloten der Architektur, »ein Event zu werden und an einer Welt teilzuhaben, die immer öfter im Sinn von Ereignissen anstatt als Sammlung von Objekten und Verbindungen definiert wird«98. Je nach der oben beschriebenen Auslegung sind die Akteure entweder die Menschen in den Architekturen, die Architekturen selbst, oder Teile und Komponenten der Architekturen. Auf diese Weise kann man mit der Doppelbedeutung von Performance spielen und im Werk sowohl Funktionen wie Repräsentationen entwerfen. Bauelemente würden demnach nicht nur als technisch-aktiv verstanden, sondern sie würden damit gleichzeitig eine Geschichte erzählen. Insgesamt kann man somit die Ansicht vertreten, dass Performanz nur ein neues Wort für Funktion bedeutet. Beide Begriffe bezeichnen aktivische Teile-GanzesBeziehungen. Wie aber kommt es dann, dass alle hier vorgestellten Theoretiker so vehement versuchten, die Begriffe der Funktion und des Funktionalismus abzulegen und durch Performanz und performative Architektur zu ersetzen? Der wichtigste Grund dafür mag sein, dass der Funktionalismus des zwanzigsten Jahrhunderts den Funktionsbegriff derart umgedeutet hat, dass den Architekten die eigentliche Bedeutung abhanden gekommen ist. Mit dem Begriff Funktion scheint man nur noch Determinismus, Nutzungsorientierung und Reduzierung von Komplexität zu assozieren. Wer weiß noch, dass er eine aktivische Relation zwischen Teilen und Ganzheiten zum Inhalt hat?

C OMPUTERSIMULATIONEN Wir haben gesehen, dass heutige Architekturdiskurse den Anspruch erheben, Entwurfsaufgaben komplexer untersuchen und bewältigen zu können. Mit dem Hinweis auf Komplexität grenzen sie sich vom geschichtlichen Funktionalismus ab. Man sieht sich nun in der Lage, eine »Vielzahl von Einflussgrößen als generative Parameter« zu berücksichtigen, die wiederum eine »flexible Hierarchie und

97 Grobman/Neuman 2012, S. 4 (engl.). 98 Ebd., S. 15 (engl.).

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evolvierende Gewichtung«99 erfahren müssen. Konstruktives Zusammenwirken von Bauteilen, Wärmedurchgang, Belichtung, Belüftung, Feuchteveränderungen, klimatische Veränderungen und andere Dynamiken, die sich auf Architektur beziehen, können nun – der Theorie nach – gemeinsam untersucht werden. Für solche komplexen Operationen müssen Computerprogramme eingesetzt werden, die »zur Integration vielfältiger Aspekte, nicht für die Optimierung weniger bevorzugter Anforderungen«100 dienen sollen. Computersimulationen sind für unser Thema von besonderem Interesse, denn sie berechnen und visualisieren nicht nur einzelne Aktionen, sondern komplexe Prozesse und Zusammenhänge. Der Computer als Werkzeug im Entwurfsprozess hat damit im letzten Jahrzehnt eine Veränderung erfahren. Neben seiner Nutzung für zwei- und dreidimensionale Visualisierung von Entwürfen werden Simulationen eingesetzt »im Sinne einer dynamischen Modellbildung als analytisches Erkenntnisinstrument«101. Das heißt, dass es bei der Nutzung von Computern nun nicht mehr nur darum geht, geometrische Informationen zu einem 3d-Modell zusammenzufügen, sondern diese Informationen mit anderen Gebäudedaten anzureichern und auf diese Weise mehr über die Komplexität des Gebäudeverhaltens herauszufinden. Das Gebäudemodell wird genutzt, um verschiedene Systemaspekte des Gebäudes in ihren aufeinander bezogenen dynamischen Prozessen zu simulieren, zum Beispiel das statische Verhalten, der Energiehaushalt, Reaktionen auf die Windbelastung, den Verlauf des Tageslichteinfalls, Luftströme, Bauablauf und Evakuierungsszenarien. Nur in Computersimulationen ist es möglich, die Komplexität einer Vielzahl von gleichzeitig ablaufenden Aktionen und Reaktionen (Rückkoppelungen) in einem Gebäude zu untersuchen. Indem diese Simulationen als »Methode zur Vorhersage von Systemverhalten«102 dienen, wird komplexe Performativität Teil des Entwurfsprozesses. Architektur wird auch hier auf der Grundlage von Systemtheorien erörtert, die die Wirkungen und Gegenwirkungen von Komponenten und Systemen zum Thema haben. Die programmierten Daten beschreiben nicht nur das System selbst, also zum Beispiel ein Gebäude, sondern über die Systemgrenzen hinaus relevante Daten des Kontexts, mit dem das System in Beziehung tritt, zum Beispiel Klimadaten. Es wird eine Vielzahl von Prozessen programmiert und deren Gewichtung in verschiedenen Szenarien untersucht, die zu verschiedenen Resultaten führen können. Indem Computersimulationen Hypothesen kreieren, sind sie entwerferische Operationen. Sie schaffen neue Realitäten. Dies hat schon Gerard Raulet 1988 voraus-

99

Hensel/Menges 2008, S. 23.

100 Ebd. 101 Gleiniger in Gleiniger/Vrachliotis 2008, S. 43. 102 Nils Röller in Gleiniger/Vrachliotis 2008, S. 52.

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gesehen, als er sagte, man »verkennt die heutige Tragweite der Simulation, wenn man sie wie im Falle der Flugsimulatoren mit Nachahmung verwechselt. In Wirklichkeit ahmt sie nichts mehr nach, sie schafft völlig Neues.«103 Gabriele Gramelsberger hat dies weiter ausgeführt: »Alle Anweisungen einer wissenschaftlichen Simulation basieren auf Theorien. In diesem Sinne entfalten Simulationen ein komplexes, epistemisches Gewebe von Hypothesen der verschiedensten Theorien und Disziplinen. Insofern sind sie nicht nur multidisziplinäre, sondern synthetische Erkenntnisinstrumente. [...] Visualisierungen von Simulationsresultaten sind daher Bilder von mathematisierten Theorien und nicht von der Wirklichkeit.«104

Es ist dieses Schaffen neuer Wirklichkeit, durch das Computersimulationen im Entwerfen und auch in der Herangehensweise an Funktionen zu neuen Ansätzen führen. Denn man kann damit an eine über Jahrzehnte gepflegte Kritik am Herangehen an Funktionen in der Architektur anknüpfen. Diese Kritik war, dass Architekten nur in der Lage sind, Funktionen zu analysieren, diese aber nicht reintegrieren können zu einem Werk. Nun aber erscheint ein Werkzeug, mit dem man die Synthese der Funktionen in Entwurfshypothesen vorantreiben kann. Da Entwerfen die ureigenste Aufgabe der Architekten ist, verstehen sie »die generative statt rein analytische Einbindung von Computersimulationen«105 als das eigentliche Potential. Dabei gebraucht man aber auch hier nicht mehr den Funktionsbegriff, sondern neue Begriffe, mit denen man zeigen will, dass das Entwerfen über ein simplifizierendes, deterministisches Funktionsdenken hinausgekommen ist. Unter Bezug auf den Theoretiker Tomás Maldonado stellte zum Beispiel Georg Vrachliotis fest: »An die Stelle des Funktionsbegriffs ist der Verhaltensbegriff, an die Stelle des objekthaften Organbegriffs der Netzwerkbegriff getreten und an die Stelle des Linearen das Nicht-Lineare.«106 Man sieht in diesem Zitat sehr gut, dass Funktion als beschränkte deterministische Operation verstanden wird, die nun durch Anreicherung von Komplexität überwunden werden kann. Dazu muss man aber anmerken, dass mathematische Funktionen eben nur selten linear sind. Zudem bilden sie nach wie vor die Grundlage von Computeroperationen, auch von Simulationen. Denn wenn man keine kausalen Zusammenhänge zwischen einzelnen Daten programmiert, kann ein Computerprogramm auch nichts errechnen. Es ist also nicht so, dass Computersimulationen Determiniertheiten vernachlässigen, aber sie erlauben eine Vielzahl von Differenzialrechnungen neben- und übereinanderlaufen

103 Raulet 1988, S. 171. 104 In Gleiniger/Vrachliotis 2008, S. 88. 105 Hensel/Menges 2008, S. 34. 106 In Gleiniger/Vrachliotis 2008, S. 75.

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zu lassen, diese verschieden zu gewichten und dann zu sehen, wie sich diese zueinander verhalten. Neu ist also nur die Komplexitätsstufe, nicht aber, dass der Funktionsbegriff obsolet geworden ist. Funktionen und Komplexität haben sich noch nie ausgeschlossen. In der Geschichte der Funktionen war gerade das Gegenteil der Fall, man war nicht an einzelnen Kausalzusammenhängen interessiert, sondern an den vielen Variablen in Systemen. Schon Luhmann betonte 1962, dass Funktionen in einem System nicht einfache Ursache-Wirkung-Beziehungen seien. Das eigentlich Wichtige am Funktionsbegriff sei die Variable: »Der funktionalistischen Analyse geht es nicht um die Feststellung des Seins in Form von Wesenskonstanten, sondern um die Variation von Variablen im Rahmen komplexer Systeme.«107 Und dies sei auch der Unterschied zwischen einer funktionalistischen Analyse und »kausalwissenschaftlichen Regeln«: »Die funktionalistische Aussage betrifft nicht eine Beziehung von Ursache und Wirkung, sondern ein Verhältnis mehrerer Ursachen zueinander bzw. mehrerer Wirkungen zueinander, also die Feststellung funktionaler Äquivalenzen.«108 Was Computersimulationen also ermöglichen, ist, Komplexitäten besser in die Analyse und Synthese einzubeziehen. Computersimulationen erlauben kompliziertere Rechenweisen und somit erhöhte Komplexität. Indem also viele Zusammenhänge vieler Variablen als Funktionen programmiert werden, erhofft man sich, dass neue, unerwartete Verhaltensweisen von Systemen erkennbar werden, die aus einzelnen Operationen nicht erklärt werden können. Nicht vorhersagbare, unerwartet auftauchende Systemverhalten – Emergenzen – sollen so provoziert werden. Es sind diese Themen, die Vrachliotis veranlassten, Computersimulation zur Kulturtechnik zu erklären: »Computersimulation, mittlerweile als eigenständige Kulturtechnik etabliert, verändert zunehmend unseren Umgang mit der Welt. Die numerische Simulation zukünftiger Klimaszenarien, neuer Molekülstrukturen, aber auch optimierter Gebäudeformen, Verhaltensweisen komplexer Tragwerke oder Prozesse nichtlinearer Strömungsmechanismen sind Belege für den tief greifenden Wandel, den die Nutzung von Computersimulationen zur Folge hat.«109

Für unseren Zusammenhang ergeben sich aus der Diskussion über Computersimulationen mehrere interessante Schlussfolgerungen. Erstens geht es hier ganz grundsätzlich um Funktionen: Man legt zugrunde, dass Gebäude Systeme sind, die aus Teilen bestehen, die aufeinander wirken. Es werden Wirkungsweisen von Bauteilen oder Gebäuden programmiert und ihr Zusammenspielen im Ganzen analy-

107 Luhmann 1962, S. 625. 108 Ebd., S. 629. 109 In Gleiniger/Vrachliotis 2008, S. 63.

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siert. Zweitens erlauben Computersimulationen ein Wechselspiel von Analyse und Synthese, von Differenzieren und Integrieren. Dies bedeutet eine grundsätzliche Veränderung im Umgang mit Funktionen, zum Beispiel gegenüber den Möglichkeiten der CIAM, die auf Analyse von Funktionen beschränkt waren. Drittens sind Computersimulationen keine realen Gebäude. Damit ist gesagt, dass die Funktionen, Aktivitäten oder Verhaltensweisen von Bauteilen und Gebäuden zwar im Computer sichtbar gemacht werden können, in der realen Welt aber nach wie vor nur beschränkt wahrnehmbar sind. In beiden Sphären – im Computer und in der physischen Welt – gibt es Formen und Funktionen, aber mit unterschiedlichen Gewichtungen. In der Computerumgebung verstehen wir eher die Funktionen, in der physischen Umgebung eher die Formen. Prozesse in realen Gebäuden lassen sich nach wie vor nur schlecht wahrnehmen. Kann man Performativität nicht im Gebäude selbst erfassen, so doch in Computersimulationen. Diese liefern sozusagen den Beweis, dass Performativität stattfindet. Und viertens bleibt für die Architektur die Einschränkung bestehen, dass nur die Funktionen, die explizit genannt oder programmiert werden, auch Berücksichtigung finden. Nur jene Daten, die man in eine Computersimulation einspeist, werden auch von dem Programm erkannt. Sie sind bisher beschränkt auf technische Parameter. Die Komplexität mag sich erhöht haben und weiter erhöhen, doch werden architektonische Funktionen nie vollständig erfassbar sein.

N EUBEWERTUNG

ARCHITEKTONISCHER

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Betrachtet man Sassens global-vernetzte Städte, Castells’ Raum der Ströme, den Architekturdiskurs der Umweltbewegungen mit seinem Fokus auf Material- und Energiekreisläufe, die Frage nach Performativität in der Architektur und ihre Untersuchung in Computersimulationen, so ist allen diesen Diskursen das Interesse gemeinsam, Architektur als aktivisch zu begreifen. Man versucht, Teile und Ganzheiten zu definieren, geschlossene und offene Systeme zu erklären, Vernetzungen und Hierarchien zu studieren und vor allem Dinge als Prozesse zu diskutieren, die strömen und dadurch aufeinander wirken. Der Begriff der Funktion, der eigentlich zum Inhalt hat, diese aktive Teile-Ganzes-Relation zu bezeichnen, scheint für diese neuen Diskurse zwar theoretisch noch zu passen, praktisch aber taucht er nur selten auf. Andere Begriffe scheinen ihn zu ersetzen: Performanz, Verhalten, Ströme. Diese neuen Begriffe betonen den aktivischen Aspekt mehr als es der Funktionsbegriff tat. Es scheint als würde die Dynamisierung der Architektur sich in diesen neuen Begriffen ausdrücken wollen. Ungeachtet dieser neuen Begriffe geht es aber um die gleichen Fragen, die wir als die drei Aspekte des Funktionsbegriffs ausgemacht haben: erstens um welches Ganze geht es bei einer bestimmten

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Architekturaufgabe, zweitens welche Teile sind wichtig, und drittens wie wirken Teile und Ganzes zusammen, um ein Werk herzustellen? Diese Fragen ziehen, wie wir gesehen haben, andere Fragen nach sich. Zum Beispiel ist die Frage, in welcher Umgebung ein Ganzes steht, für Gebäude, Städte und Regionen relevant um zu verstehen, wie ein Ganzes von außen beinflusst wird. Zudem muss man akzeptieren, dass man nicht alle Teile und schon gar nicht alle mannigfaltigen Wirkungsweisen dieser Teile kennen kann. Auch wenn wir also den Funktionsbegriff für die Architektur in Frage stellen, bleibt sein Inhalt nach wie vor zentral. In den verschiedenen Kapiteln konnten wir das Drängen, Architektur als aktiv zu verstehen, immer wieder antreffen, zum Beispiel in der Diskussion der »statischen Dynamis« von Baustrukturen bei Karl Bötticher Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. In der Architektur mag dieses Verständnis von Funktion als innere Aktivität im Laufe der Geschichte abhanden gekommen sein und so mag man nun in den neuen Begrifflichkeiten diese Idee besser erkennen. Dabei sollte man aber nicht vergessen, dass auch immer wieder versucht wurde, diese inneren aktiven Wirkungsgefüge in der Architektur darzustellen, in Bauteilformen (Lodoli), in Ornamenten (Semper, Bötticher), in der Sichtbarmachung einzelner Teilaufgaben von Bauteilen oder Räumen (Klassische Moderne), in der Zergliederung ganzer Städte (CIAM), im Kollidierenlassen von widersprüchlichen Funktionen (Venturi), in Ströme repräsentierenden Formen (Toyo Itos Sendai Mediatheque) oder in Displays, die Performativität von Bauteilen aufzeichnen. Oft stellte sich dabei das Problem, dass die innere Bewegung gewissermaßen für den Menschen nicht sichtbar war, der Architekt sie aber zeigen wollte. Auch haben wir gesehen, dass Architekten fasziniert davon waren, dass sich das Konzept der Funktion auf alle Maßstäbe anwenden ließ, von der Materialentwicklung (Kohäsion bei Memmo, heute in Nanostrukturen) bis zum Universum (Buckminster Fuller). Nur wegen dieser Allgemeingültigkeit konnte Louis Sullivan daraus sein allumfassendes Prinzip machen. Nur deswegen mag es heute – zwischen Bits und globalen Netzwerken – noch aktuell sein. Wir haben auch Irrwege gesehen, insbesondere als sich der Diskurs der Funktion-Form-Beziehung zum Funktionalismus ausweitete, also etwa seit den 1920er und bis zu den 1960er Jahren. Wie jeder Ismus hat der Funktionalismus ein Extrem zum Inhalt, hier die Behauptung der Vorherrschaft von Funktion über Form. Man bezeichnete damit jene Architektur, die eine Bauaufgabe in einzelne Subaufgaben (Funktionen) zerlegte, diesen jeweils eine separate Form zuwies und als Ergebnis eine Ansammlung von Einzelbaukörpern erhielt, die jeweils eine Funktion verkörperten. Elmar Holenstein nannte diese Interpretation des Funktionalismus Monofunktionalismus, eine sinnvolle Präzisierung, die den Irrweg deutlich macht, weil funktionale Einheiten selten mono-, sondern fast immer multidimensional sind. Noch dazu hat man im Funktionalismus allzu oft keinen Unterschied zwischen den Begriffen Zweck und Funktion gemacht. Sicher hat dies

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zu seinem Niedergang beigetragen, denn die Unterscheidung von Kunst und Architektur über den Zweck wird der Architektur nicht gerecht. Die einzelnen Kapitel haben auch gezeigt, dass das Konzept der Funktion in Wellen aufgetreten ist, in denen sich zunächst ein kondensiertes Verständnis zu kultureller Bedeutung aufbaute, auf einem Höhepunkt seiner Kernaussage verlustig ging und somit wieder abflaute, bis dann die Bedeutung des Funktionsbegriffs von Neuem wiederentdeckt wurde. Damit soll gesagt werden, dass nicht etwa das Konzept der Funktion seine Bedeutung eingebüßt hat, sondern das Verständnis und Interesse dafür seitens der Architekten in Schüben vor sich ging. Ob man die heutige Dynamisierung und Funktionalisierung von Architektur als neue Welle betrachten kann, wird sich erst zeigen. Eindeutig ist jedoch, dass unser gesellschaftliches, technisches und künstlerisches Interesse an Systemen und Prozessen zugenommen hat. Während dabei der Funktionsbegriff in allen Wissenschaften weiterentwickelt wurde, lastet ihm im Architekturdiskurs eine reduktive, schematischutilitaristische Bedeutung an. Es scheint einfacher, den Begriff durch neue zu ersetzen, um sich nicht einer Funktionalismus-Diskussion aussetzen zu müssen. Das Aufgeben und Ignorieren des Funktionsbegriffs birgt aber die Gefahr, seine Inhalte zu verlieren. Funktionen und Formen unterliegen auch heute in den unterschiedlichen Diskursen dem Trend, sich voneinander zu entfernen. Dies umso mehr, wie Castells so nachdrücklich gezeigt hat, weil der funktionsorientierte Raum der Netzwerke, in denen Energie, Materie und Informationen fließen, und der formorientierte Raum gebauter Orte unterschiedliche Realitäten sind, die uns zuweilen zu gespaltenen Persönlichkeiten werden lassen, weil wir an beiden teilhaben. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie Architektur sich damit auseinandersetzen kann. Sie kann versuchen, unsichtbare Netzwerke oder dynamische Stoffflüsse darzustellen oder – als Gegenstrategie – ein statisches Am-Ort-Sein zu zelebrieren. Sie kann auch versuchen, in ihren Formen eine Verschmelzung von Dynamik und Statik zu repräsentieren. Im architektonischen Entwerfen kann das Konzept der Funktion heute mehr denn je in seinem Potential zwischen einer differenzierenden und einer integrierenden Betrachtungsweise ausgeschöpft werden. Nachdenken über Funktionen bedeutet Nachdenken über die Verhältnisse von Teilen und Ganzheiten. Dies aber ist das wesentliche, ewige Thema der Architektur, das sie mit der Philosophie, den Wissenschaften und der Kunst teilt. Wie gehören die Dinge zusammen? Wie grenzen sie sich ab als freie Entitäten und wie gliedern sie sich ein in einen großen Wirkungszusammenhang? Was ist das integrale Verhältnis von Mensch, Architektur und Welt?

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L ITERATUR

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Abbildungsquellen

1: Descartes 1686, S. 191. 2: Titelblatt der Zeitschrift Archithese 3 (1973), H. 5. 3: Euler 1748, Deckblatt und S. 3. 4: Memmo 1786, Frontispiz. 5: Galiani 1758, Tafel 4. 6: Autorin. 7: Autorin. 8: Autorin. 9: Rykwert 1983, S. 208; Brusatin 1980, S. 117. 10: Autorin, Bildvorlage: Semper 1863, S. 5. 11: Autorin. 12: Autorin. 13: Semper 1884, S. 264. 14: Semper 1863, S. 80. 15: Autorin 16: Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt am Main. 17: gta Archiv / ETH Zürich (Nachlass Hannes Meyer). 18: Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt am Main. 19: Meyer, Adolf 1925, S. 8. 20: Akademie der Künste, Berlin. 21: Sert 1942, S. 101 (Fairchild Aerial Survey). 22: The Architectural Archives, University of Pennsylvania, Schenkung von Robert Venturi und Denise Scott Brown. 23: Jencks 1977, S. 45. 24: Autorin. 25: Google Earth. 26: Spon Press, Arch+, Routledge.

Index

ABC 132, 160, 167

Darwin, C. 19

Adler, D. 113

Descartes 11, 15

Adorno, T. 209, 212, 214

Edelmann, J. 113

Aktion, Aktivität 12, 14, 28, 37, 53, 79,

Eidlitz, L. 113

96, 111, 114, 191, 218, 222, 248,

Einfühlung 108

253, 255

Eisenman, P. 212

Alberti, L.B. 12, 45

Euler, L. 25, 56

Alexander, C. 225

Eyck, A. van 186

Algarotti, F. 57, 85, 107

fabrica 42

analogia 46, 50

firmitas 211

Analysis 25, 51, 101

Ford, H. 160

Bakema, J. 186

form and function are one 60, 116

Batteux, C. 63

Form folgt Evolution 242

Bauhaus 127, 137

form follows function 41, 109

Behne, A. 145, 162, 167, 172

form follows performance 247

Benninghoff, A. 20, 37

Foucault, M. 19, 52

Bernoulli, J. 25, 45, 56

Francé, H.R. 153, 163

Bequemlichkeit 46, 211

function and environment determine form

Bichat, F.X. 19 bienséance 50

113 Funktionalismus 8, 29, 31, 39, 109, 118

Bötticher, K. 85, 103, 140, 221, 255

Bauwirtschaftsf. 211, 215

Bourgeois, V. 177

Monof. 213, 215, 223, 247, 255

Bundesschule Bernau 129

Naiver F. 209, 211, 215

Candilis, G. 186

Organischer F. 240

Carlo, G. de 186

Plurif. 213

Castells, M. 222, 227, 229

Strukturf. 30

CIAM 176, 216, 221, 223

Gandelsonas, M. 212, 214

Comte, A. 28

Ganzes, Ganzheitsbezug 20, 28, 37, 46,

Cuvier, G. 17, 69, 93, 113

51, 72, 111, 136, 167, 191, 217

278 | F UNKTIONEN UND F ORMEN Gestalt 17, 20, 99, 109, 124, 138, 147, 151, 194

Moholy-Nagy, L. 144, 156, 160 Moser, W. 132, 172

Giedion, S. 177, 182, 189

Mukařovský, J. 213, 215

Globalisierung 222, 237, 239

Netzwerk 229, 230, 252

Greenough, H. 114

Newton, I. 24, 57, 67

Gropius, W. 138, 141, 165, 178, 182, 189

Nützlichkeit 32, 61, 63, 70, 173, 247

Häring, H. 150, 151

Organische, Das 89, 107, 135, 142, 152

High-Performance-Architektur 243

Organische Architektur 116

Hirt, A. 90

Organismus 14, 17, 24, 28, 91, 96, 106,

Holenstein, E. 212, 215, 255 Hydria 97, 83 Informationsgesellschaft 219 Integration, Integrieren 30, 101, 252 Intention 32, 77, 83

113, 131, 135, 138, 146, 154, 170 Ornament 46, 64, 76, 82, 108, 118, 161, 200, 209, 255 Performance, Performanz, Performative Architektur 30, 243, 246, 254

Jacobs, J. 191

Posener, J. 211, 215

Jencks, C. 204, 214

Programm 220

Joedicke, J. 209, 214

Proportion 22, 46, 68, 91, 120, 126, 139

Kernform, Kunstform 88, 104

Prozess 21, 30, 94, 143, 155, 160, 239,

Kettenlinie 53, 70

248, 251

Klee, P. 143

Radcliffe-Brown, A. 29

Klotz, H. 211, 214

ratiocinatio 42

Komposition 112, 120, 122, 123, 133

Raum der Orte, R. der Ströme 228, 231

Koolhaas, R. 233

Repräsentation 39, 200, 211, 236, 243

Krier, L. 206

Root, J. 113

Lamarck, J.-B. de 19

Rossi, A. 188, 211, 215

Laugier, M.-A. 50, 61

Saint-Hilaire, E.G. 19

Le Corbusier 148, 162, 167, 172, 177,

San Francesco della Vigna 41, 53

179, 190, 213

Sassen, S. 227, 234

Leibniz, G.W. 11, 24, 45, 67, 157

Scharoun, H. 148

Lodoli, C. 39, 107, 198, 255

Scott Brown, D. 199, 201

Maschine 15, 24, 134, 147, 152, 160,

Semper, G. 17, 39, 75, 218, 255

166, 170

Sert, J.L. 179, 181, 186

Memmo, A. 67, 107, 114, 255

Smithson, A. und P. 186

Mendelsohn, E. 118, 152

Spencer, H. 28, 113

Mensendieck, B. 153, 165

Stam, M. 132, 135, 168, 177

Merton, R.K. 32

Streiter, R. 106

Meyenburg, K. von 162

Strukturalismus 187, 188

Meyer, H. 120

Sullivan, L. 41, 108, 109, 255

Milizia, F. 62, 85, 107, 114

Symbol 80, 82, 88, 152, 200, 204, 207,

Mitchell, W.J. 226, 244 Mitscherlich, A. 193

232, 247

I NDEX

Synthese 102, 128, 144, 153, 163, 178, 185, 206, 253 System 8, 17, 28, 30, 32, 95, 126, 155, 218, 223, 237, 247, 252 Taine, H. 113 Team 10 (X) 186 Teil-Sein 28, 33, 51, 72, 81 Tektonik 79, 85, 104 Umweltbewegungen 222, 237, 254 Ursache-Wirkung 212, 213, 225 Utilià, Utilitas 61, 70, 72 Van Eyck, A. 183, 187 Venturi, R. 195, 198, 211, 215, 217, 255 Venustas 211 Verhältnismäßigkeit 46 Vester, F. 225 Vico, G. 50 Viollet-le-Duc, E.-E. 75, 113 Vitruv 22, 41, 43, 63, 211 Vogt, A.M. 175, 211, 215 Werkform 104 Wright, F.L. 115 Woods, S. 186 Zweck vs. Funktion 10, 14, 23, 27, 32, 77, 97, 122, 123, 135, 138, 145, 157, 167, 220 Zweckbau 36, 145, 151, 162, 171 Zweckmäßigkeit 33, 36, 124, 160, 167, 209

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