Peinlichkeit: Formen und Funktionen eines kommunikativ konstruierten Phänomens [1. Aufl.] 9783839431450

Embarrassment is classically reduced either to its visible, superficial level, and viewed as faux pas; or conceived emot

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German Pages 268 Year 2015

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Inhalt
1. Einleitung
1.1 Alltagsweltliche und wissenschaftliche Ausgangslage
1.2 Problemstellung
1.3 Eine kommunikationswissenschaftliche Betrachtungsweise und ihre Vor-Urteile
1.4 Zielsetzung und Leitfragen
1.5 Methodische Vorgehensweise und Aufbau der Untersuchung
2. Begriffe und Merkmale von Peinlichkeit
2.1 „Peinlichkeit“ als Bezeichnung
2.2 Peinlichkeit als sozialer Organisationsmechanismus
2.3 Peinlichkeit als Emotion der Selbstbewertung
2.4 Peinlichkeit als emotionaler Reaktionsmechanismus
2.5 Kommunikationswissenschaftliches Zwischenfazit
3. Peinlichkeit als kommunikative Erfahrung
3.1 Peinlichkeit als Exponierung des Selbst
3.2 Peinlichkeit als defizitäres öffentliches Selbstbild
3.3 Peinlichkeit als Exponierungsbeobachtung
3.4 Zusammenfassung
4. Peinlichkeit als kommunikatives Ereignis
4.1 Ausdruck und Anschlusshandlung als kommunikative Ereignisdimensionen
4.2 Kommunikative Ausdrucksmerkmale von Peinlichkeit
4.3 Lachen – Grenzphänomen zwischen Ausdruck und Handlung
4.4 Anschlusshandlungen peinlichkeitsempfindender Kommunikationsakteure
5. Ritualisierte Peinlichkeit
5.1 Ritualhandlungen
5.2 Merkmale ritualisierter Peinlichkeit
5.3 Das Ritual des Junggesellenabschieds
5.4 Ritualisierte Peinlichkeit beim modernen Junggesellenabschied
6. Abschließende Bemerkungen
7. Literaturverzeichnis
8. Anhang
8.1 Hintergrund und Rahmen der explorativen Feldstudie
8.2 Kurzbeschreibungen der begleiteten Feiern
8.3 Interviews
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Peinlichkeit: Formen und Funktionen eines kommunikativ konstruierten Phänomens [1. Aufl.]
 9783839431450

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Julia Döring Peinlichkeit

Kulturen der Gesellschaft | Band 19

Julia Döring, Kommunikationswissenschaftlerin, promovierte bei Prof. em. Dr. H. Walter Schmitz am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Duisburg-Essen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind kommunikationstheoretische Grundlagen der Gesprächsführung, Kommunikation und Emotion sowie nachhaltige Organisationsentwicklung und Führung.

Julia Döring

Peinlichkeit Formen und Funktionen eines kommunikativ konstruierten Phänomens

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Julia Döring, Köln Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3145-6 PDF-ISBN 978-3-8394-3145-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1. Einleitung | 9

1.1 Alltagsweltliche und wissenschaftliche Ausgangslage | 9 1.2 Problemstellung | 13 1.3 Eine kommunikationswissenschaftliche Betrachtungsweise und ihre Vor-Urteile | 14 1.4 Zielsetzung und Leitfragen | 16 1.5 Methodische Vorgehensweise und Aufbau der Untersuchung | 17 2. Begriffe und Merkmale von Peinlichkeit | 21

2.1 „Peinlichkeit“ als Bezeichnung | 23 2.2 Peinlichkeit als sozialer Organisationsmechanismus | 28 2.3 Peinlichkeit als Emotion der Selbstbewertung | 31 2.4 Peinlichkeit als emotionaler Reaktionsmechanismus | 52 2.5 Kommunikationswissenschaftliches Zwischenfazit | 57 3. Peinlichkeit als kommunikative Erfahrung | 59 3.1 Peinlichkeit als Exponierung des Selbst | 60 3.2 Peinlichkeit als defizitäres öffentliches Selbstbild | 82 3.3 Peinlichkeit als Exponierungsbeobachtung | 93 3.4 Zusammenfassung | 104 4. Peinlichkeit als kommunikatives Ereignis | 109

4.1 Ausdruck und Anschlusshandlung als kommunikative Ereignisdimensionen | 113 4.2 Kommunikative Ausdrucksmerkmale von Peinlichkeit | 117 4.3 Lachen – Grenzphänomen zwischen Ausdruck und Handlung | 130 4.4 Anschlusshandlungen peinlichkeitsempfindender Kommunikationsakteure | 138 5. Ritualisierte Peinlichkeit | 171

5.1 Ritualhandlungen | 172 5.2 Merkmale ritualisierter Peinlichkeit | 179 5.3 Das Ritual des Junggesellenabschieds | 184 5.4 Ritualisierte Peinlichkeit beim modernen Junggesellenabschied | 187 6. Abschließende Bemerkungen | 227

7. Literaturverzeichnis | 231 8. Anhang | 245

8.1 Hintergrund und Rahmen der explorativen Feldstudie | 245 8.2 Kurzbeschreibungen der begleiteten Feiern | 248 8.3 Interviews | 256

1. Einleitung „Nicht mehr, wer die strenge Sitte verfehlt, gilt als peinlich. Immer öfter ist das Gegenteil der Fall.“ HECHT 2009: 50

1.1 ALLTAGSWELTLICHE AUSGANGSLAGE

UND WISSENSCHAFTLICHE

Der häufigen und anscheinend intuitiven alltagssprachlichen Verwendung des Ausdruckes „peinlich“, welche in öffentlichen Kontexten vor allem im Zusammenhang mit konkreten Peinlichkeitszuweisungen an Dritte beobachtet werden kann1, stehen Unsicherheit und Dissens gegenüber, was im Allgemeinen als „peinlich“ oder „Peinlichkeit“ zu bezeichnen sei. Dies liegt offensichtlich am dynamischen und mannigfaltigen Charakter der mit diesem Wort bezeichneten Phänomene: Zwar hängen Peinlichkeiten erfahrungsgemäß immer „irgendwie“ mit der Verletzung so-

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So konstatiert Gumbrecht beispielsweise: „Interessanter finde ich den Eindruck […], dass das Wort ‚peinlich‘ in Deutschland vor allem im Kontext von Peinlichkeitszuweisungen an andere verwendet wird. Statt die Möglichkeit des Auslösens von Peinlichkeit zu antizipieren und zu vermeiden, […] versäumt man es nicht nur, den anderen Peinlichkeit zu ersparen, sondern rammt Gründe für Peinlichkeit in ihr Selbstbild ein.“ (Gumbrecht 2012: 2) In medialen Debatten über Verhaltensweisen von Personen des öffentlichen Lebens, z.B. Politikern wie Karl-Theodor zu Guttenberg oder Christian Wulff, geht es nicht selten darum, ob und inwiefern deren Verhalten nicht nur falsch oder moralisch verwerflich, sondern schlichtweg „peinlich“ sei. So titelten Zeitungen über die Wulff-Affäre „Wenn einem nichts peinlich ist“ (vgl. Stern Online 2012) oder „Kollektives Fremdschämen: Warum Wulffs Auftritte so peinlich sind.“ (vgl. Focus Online 2012), bei Artikeln über zu Guttenbergs Plagiats-Affäre fanden sich Überschriften wie „Peinlich, peinlicher, Guttenberg“ (vgl. Financial Times Deutschland Online 2011) oder „Guttenberg-Affäre: Ein Skandal – oder einfach nur peinlich?“ (vgl. Wochenblatt Online 2011).

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zialer Erwartungshaltung oder Norm(alität) im Bereich des Konventionellen zusammen, doch aufgrund von Perspektivendivergenzen bezüglich ihrer generellen oder situativen Gültigkeit ist oft unklar, was wann für wen zu einer Peinlichkeit wird. Ein Mangel an übergeordneten und zentralen Deutungshoheiten, die über Comment, Etikette und Benehmen bestimmen, führt dazu, „dass es ‚unsere Maßstäbe‘ nicht mehr in derselben Weise gibt wie ehedem. Sich im Internet exhibitionistisch darzustellen oder an Stränden nackt auszuziehen, im Fernsehen Liebeserklärungen zu machen oder Ehekrisen auszubreiten, in der U-Bahn mit kurzen Hosen oder tiefem Dekolleté aufzutreten – das kann dem einen peinlich vorkommen, dem andern normal oder gar amüsant.“ (Greiner 2011: 1)

Zu solchen Perspektivendivergenzen treten soziale und situative Rollenverschiedenheiten des Individuums hinzu: „Ein Bauarbeiter kann vorübergehenden Damen nachpfeifen; in der Oper wird dasselbe Verhalten als peinlich beobachtet, aber auch als Ausdruck für unverhohlene Männlichkeit; die Dame, die dieses Verhalten lautstark würdigt, gleitet selbst in die Zone der Peinlichkeitsbeobachtung. Ein Philosoph, der in einem Gespräch sich nicht erinnert, wer ‚Sein und Zeit’ geschrieben hat, produziert eine Peinlichkeit im Rahmen seiner Sozialkontexte; beim Friseur tritt die Frage nicht auf, und wenn: so wäre auch das peinlich.“ (Fuchs 2008: 212)

Entsprechend schwierig ist es, in jeder Situation antizipieren zu können, welche Gesten und Äußerungen von anderen als passend, mutig oder sympathisch beurteilt und welche als unangemessen, geschmacklos und peinlich empfunden werden. Von Moos stellt fest, dass „es im heutigen Alltagshandeln schwieriger denn je geworden ist, Fehltritte zu vermeiden. In unserer komplexen, pluralistischen, weltweit uniform werdenden Gesellschaft verkehren wir in den verschiedensten, sich überlagernden Beziehungen, Rollen und Situationen miteinander und können nie sicher wissen, wem wir wodurch ‚zu nahe treten‘, weil wir die anderen, auch wenn wir sie in einer einzigen Funktion ansprechen, selten so gut kennen, dass wir alle privaten, beruflichen, schichtenspezifischen, altersmäßigen, religiösen, politischen u.a. Lebensbereiche, in denen sie sich sonst noch aufhalten, bei der Kommunikation mitberücksichtigen können. So kommt es immer häufiger vor, dass wir im Hause des Gehenkten vom Strick reden, weil wir einfach nichts vom Hängen gehört haben. Die Unsicherheit wächst noch dadurch, dass eine Menge traditioneller Anstandsregeln nur noch situativ gelten und nicht automatisch routinemäßig angewandt werden können.“ (von Moos 2001b: 73)

Die Pluralisierung von Verhaltenscodes, eine teilweise unüberschaubare Rollenvielfalt und ein fluktuierendes Regelwerk für das jeweils „richtige“ Benehmen stel-

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len also soziale Orientierungs- und Handlungsanforderungen an das moderne Individuum, die nicht bloß gesellschaftliche Regelinternalisierungen, sondern ein ausgeprägtes Kommunikationsgeschick erfordern. Entsprechend kann Peinlichkeit nicht systematisch zurückgeführt werden auf die Abweichung von allgemeingültigen Benimmregeln, vielmehr benötigt man für gelungene Selbstdarstellungen ein Höchstmaß an kommunikativer Flexibilität, das einem solche Abweichungen situativ ermöglicht.2 Für die Vielzahl uneindeutiger Situationskontexte und Rollenerwartungen braucht man Gesten und Antworten, die gezielt gewisse Interpretationsspielräume zulassen, zugleich jedoch kommunikativ anschlussfähig bleiben, sodass man überzeugend wirkt, ohne dabei allzu (selbst)überzeugt zu klingen.3 Dabei gilt es, das eigene Auftreten möglichst nonchalant an die jeweils aktuellen Umstände und Trends anzupassen, denn nichts ist peinlicher, als sich mit dem bereits Überholten, dem „Mega-Outen“ – ob Kleidungsmode, gesellschaftlicher Diskurs, technische Ausrüstung, Musik oder Freizeittrend – zu brüsten und öffentlichen Beifall dafür zu erwarten. „Wollen wir uns also nicht dauernd blamieren, müssen die Ansprüche, die diese komplexen Situationen an uns stellen, permanent abgestimmt, gewartet und modernisiert werden wie ein großes Uhrwerk. Die Freiheit der Möglichkeiten wirkt dabei auf manche ängstliche Menschenseele keineswegs selbstbewusstseinsfördernd.“ (Briegleb 2009: 14) Die Gratwanderung zwischen „total cool“ und „mega peinlich“ kann dabei bekanntermaßen ein äußerst schmaler Balanceakt sein, was ironischerweise bei den vermeintlich so gut kontrollier- und manipulierbaren virtuellen Selbstinszenierungen (Facebook, Twitter und Co.) besonders augenfällig wird: Dort wird die Flüchtigkeit situativen Verhaltens zu einem gezielt produzierten (und damit potentiell viel peinlicheren), manifesten und nicht selten unbeschränkt zugänglichen Bild, für das kritische Beobachter stets Peinlichkeitsgründe finden.

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Hier handelt es sich um „Strukturprobleme“ im luhmannschen Sinne, die bei der Generalisierung von Verhaltenserwartungen auftreten: „Das Bestreben, Komplexität zu erfassen, führt zur Spezifizierung der generalisierten Sinnstrukturen, und daraus ergeben sich systemimmanente Widersprüche – so zwischen Personen, die sich individualisieren, zwischen Rollen, Programmen, Werten und auch innerhalb des jeweils identifizierten Erwartungskontextes. Mit steigender Komplexität muß die Toleranz für solche Widersprüche wachsen, wirksamere Routinen der Konfliktlösung müssen institutionalisiert und Sinnfixierungen müssen entscheidbar, also variabel generalisiert werden.“ (Luhmann 1970: 121f.)

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Denn Peinlichkeit scheint sich immer dann zu potenzieren, wenn augenfällig wird, dass derjenige, welcher stilistisch versagt, höchst ambitioniert und überzeugt auftritt (vgl. Hecht 2009).

12 | P EINLICHKEIT – FORMEN UND F UNKTIONEN „Nahezu unmöglich und vor allem furchtbar anstrengend ist es geworden, im weit und subtil verästelten analog-virtuellen Netzwerk stets die Balance aus lässigem Understatement, hübscher Ironie und gleichzeitiger Selbstvermarktung zu pflegen. Die Codes sind unendlich: Mit dem neuesten Smartphone prahlen? Peinlich! Immer noch keines haben? Peinlich! Zuckersüße Pärchenfotos auf Facebook veröffentlichen? Peinlich! Das eigene Mittagessen abfotografieren, den Stolz über den neuen Job allzu offensichtlich zeigen? Zu viele Freunde haben? Zu wenige? Peinlich, peinlich! Musik hochladen, die alle schon kennen? Musik hochladen, die nie irgendwer kennt? PEINLICH!“ (Pauer 2011: 2)

Der weit verbreitete Anspruch, sich möglichst individuell, selbstbestimmt und schamfrei4 zu zeigen, führt darüber hinaus dazu, dass nicht nur der augenfällige Regelverstoß gegen öffentliche Verhaltensstandards, sondern dessen genaues Gegenteil – das betont korrekte und angepasste Verhalten – als peinlich empfunden werden kann. „Inmitten von lässig, locker, cool wird auf einmal als peinlich erlebt, was zu ernsthaft, steif oder ungestylt daherkommt. Bis in die 1950er Jahre war der Rumtreiber, der ‚Gammler‘ – später der Hippie – der guten Gesellschaft höchstpeinlich. Seit den 1970er Jahren ist es eher umgekehrt: Jetzt ist der Spießer peinlich […]. Wo vorher noch alles, was von der Norm abwich, zu Peinlichkeitsattacken führte, wird plötzlich die Bügelfalte, der ondulierte Haarsprayhelm, das Akkurate – generell: das Konforme zum Objekt des Peinlichen.“5 (Hecht 2009: 50)

Kann Peinlichkeit aber nicht auf den offensichtlichen Fauxpas, das zufällige Missgeschick oder die unbedachte Taktlosigkeit reduziert werden, muss über eine andere, erweiterte Bedeutung des Peinlichen nachgedacht werden, die nicht zuletzt – oder vielmehr gerade – auch Sonderformen und -bedeutungen des Peinlichen, d.h. untypische Peinlichkeitsphänomene, erfassen und erklären können muss.6

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„Schamfrei“ meint hier nicht „schamlos“, sondern die Neigung, sich als „nicht beschämbar“, als erhaben über jegliche Beschämungen zu inszenieren, die als besonders typisch für das moderne Individuum angesehen werden kann (vgl. Kölling 2004: 51).

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So sind z.B. an die Stelle von als „altmodisch“ entwerteten Zurückhaltungs- und Selbstbeschränkungsnormen in vielen Bereichen, etwa Ritualen der Unternehmenskultur, in den letzten Jahren vermehrt entgegengesetzte Offenheits- und Spontaneitätszwänge getreten (vgl. Rehberg 2001: 443).

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So wird Peinliches etwa in manchen rituellen Kontexten, z.B. modernen Junggesellenabschieden, Spielen wie „Flaschendrehen“ und „Wahrheit oder Pflicht“ oder der Eingliederung ins Militär, ganz gezielt herbeigeführt und scheint weder ein unerwartetes noch situativ unangemessenes Ereignis darzustellen (vgl. Miller 1996; Braithwaite 1995).

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1.2 P ROBLEMSTELLUNG „Die Schwierigkeit, der man sich stellt, wenn man ‚Peinlichkeit‘ beobachten will, ist der ‚Allerweltscharakter‘ des Phänomens. Die entsprechende Emotion ist vielen Menschen im Binnenkontakt wohl vertraut. Sie ist ersichtlich via Sozialisation erlernt und würde ohne die Referenz auf ‚Kommunikation‘ keinen Sinn machen.“ FUCHS 2008: 209

Um Näheres und Allgemeingültiges über das aussagen zu können, was jedem persönlich nur allzu gut vertraut ist, da er es intuitiv7 erkennt, während er es als situativen psycho-physischen Zustand im Alltag immer wieder selbst erleidet, muss der Wissenschaftler gerade dieses „Situativ-Intuitive“ hinterfragen, künstlich zerlegen und in abstrakten Begriffen wiedergeben. Dies ist jedoch kein leichtes Unterfangen: Neben der Schwierigkeit, sich diesbezüglich von der eigenen „individuellen Welttheorie“ (vgl. Ungeheuer 1987) im Sinne subjektiver Meinung und Ansicht darüber, was aus welchen Gründen peinlich sei, so gut es geht zu distanzieren, geben auch erste Überlegungen zu allgemeinen Peinlichkeitsinhalten wenige Ansatzpunkte: Da sich Peinlichkeit in höchst divergenten soziokulturellen Sinnsphären konstituiert und als konkretes Ereignis stets situativ manifestiert, ist sie als kommunikatives Phänomen nicht nur sehr flüchtig, sondern zugleich äußerst inhalts- bzw. formflexibel, weshalb sowohl zu strenge Sitte als auch Sittenwidrigkeit, Rebellentum als auch Konformismus Objekte des Peinlichen bilden können. Eine Erfassung all jener Erscheinungen, die der Peinlichkeitsbegriff umfasst, d.h. die Bestimmung seiner begrifflichen Extension, ist also nicht ohne Weiteres möglich. Daher möchte ich mich maßgeblich einer näheren Bestimmung der Intension des Peinlichkeitsbegriffes widmen und nach seiner allgemeinen Tiefenstruktur fragen, welche sich selbstverständlich davon, wie Peinlichkeit real erscheint, unterscheidet. Doch auch dabei wird man ohne ein erstes Verständnis darüber, welche grundlegenden Wirklichkeitsaspekte mit „Peinlichkeit“ gemeint sind, welche Art von Phänomenen unter ihren auch noch so vorläufigen Begriff fallen, nicht weit vorankommen können.

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Schließlich wissen wir im Alltagsleben ganz genau, was uns peinlich ist und was nicht. Wir müssen nicht darüber nachdenken, ob und inwiefern bestimmte Kriterien auf ein Ereignis zutreffen, um festzustellen, ob es uns peinlich ist.

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Das heißt, es muss zuerst bestimmt werden, auf welchen Phänomenbereich der Peinlichkeitsbegriff im Folgenden bezogen wird: Auf Unlust-Gefühle, Interaktionsstörungen, sprachliche Bewertungen oder soziale Ordnungsmechanismen? Dabei hat sich ein erstes Vor-Urteil über die Beschaffenheit des Untersuchungsgegenstandes bereits eingeschlichen – die Behauptung, Peinlichkeit sei ein kommunikatives Phänomen – ohne diese als solche explizit kenntlich gemacht oder näher begründet zu haben. Nun könnte man sich fragen, warum Peinlichkeit zwangsläufig etwas Kommunikatives sein sollte, scheint doch gerade das Peinlichkeitsgefühl ein außerordentlich individuell-innerliches Erlebnis zu sein. Damit ist bereits eine zweite Fragestellung tangiert, welche sich maßgeblich auf die Bestimmung des zu untersuchenden Phänomenbereiches auswirkt und in der Wahl der Betrachtungsperspektive, die man auf diesen einnimmt, besteht. Durch sie werden wesentliche Vor-Urteile über die Beschaffenheit des Untersuchungsgegenstandes festgelegt.

1.3 E INE KOMMUNIKATIONSWISSENSCHAFTLICHE B ETRACHTUNGSWEISE UND IHRE V OR -U RTEILE In der vorliegenden Untersuchung wird eine kommunikationswissenschaftliche Perspektive auf Peinlichkeit eingenommen, welche nach kommunikationstheoretischen Grundlagen und Konsequenzen von Peinlichkeit als einem Phänomen fragt, das sowohl zwischen Menschen bzw. durch Zwischenmenschlichkeit entsteht, als auch dort seine typische Wirksamkeit entfaltet, d.h. einen genuin kommunikativen Charakter besitzt.8 Unter „Kommunikation“ werden dabei nicht allein sprachliche Handlungen verstanden, vielmehr wird der Kommunikationsbegriff von Gerold Ungeheuer (vgl. Ungeheuer 1987) zugrunde gelegt, welcher Kommunikationsprozesse als vermittelte Sozialhandlungen betrachtet, in denen Sprache, nonverbale Zeichen und sozi-

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Dies bedeutet freilich nicht, dass Peinlichkeit nur als ein solches kommunikatives Phänomen fruchtbar untersucht und erfasst werden könnte. So können sich psychologische Studien berechtigterweise darauf beschränken, Peinlichkeit als rein subjektives Gefühlsphänomen mit einer individualpsychologisch bedingten Verursachung und einer innerpsychischen Wirksamkeit zu untersuchen, so wie die Medizin Peinlichkeitsphänomene als primär physiologische Vorgänge zu beschreiben vermag. Dennoch werden auch solche Betrachtungsperspektiven ohne eine grundlegende Berücksichtigung des kommunikativen Charakters von Peinlichkeitsphänomenen (in irgendeiner Form) wohl nur zu bedingt gültigen bzw. zutreffenden Beschreibungen und Einsichten bezüglich eines Peinlichkeitsbegriffes gelangen.

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operzeptiver Kontakt9 Medien der Verständigung und Handlungssteuerung darstellen. Als Kommunikationswissenschaftlerin möchte ich Peinlichkeit im Folgenden sowohl als kommunikative Erfahrung (im Sinne von Peinlichkeit als einer kommunikativen Emotion) als auch als kommunikatives Ereignis (im Sinne der kommunikativen Wirksamkeit dieser Emotion auf die von ihr betroffenen Kommunikationsakteure) betrachten und untersuchen. Die beiden Ausdrücke „Erfahrung“ und „Ereignis“ dürfen insoweit nicht missverstanden werden, als eine Peinlichkeitserfahrung kein Ereignis sei oder das situative Peinlichkeitsereignis nicht die Erfahrung des betroffenen Kommunikationsakteurs inkludieren würde. Sie dienen lediglich dazu, die beiden grundlegenden Phänomenbereiche von Peinlichkeit analytisch voneinander zu unterscheiden: So bezieht sich die Ebene der Peinlichkeitserfahrung vorrangig auf die Innen-Seite menschlichen Erlebens und ist anderen nicht unmittelbar zugänglich, die Ebene des Peinlichkeitsereignisses bezieht sich hingegen vorrangig auf die beobachtbare Außen-Seite. Peinlichkeit wird somit einerseits als kommunikatives Ereignis begriffen, das in interaktiven Situationen zwischen Menschen entsteht und typische kommunikative Ausdrucksformen, z.B. Erröten oder Wegblicken, und Handlungsfolgen, z.B. Rechtfertigungen, Entschuldigungen oder Ablenkungsmanöver, besitzt. Insofern ist sie mehr als bloßes Gefühl. Andererseits scheint es folgerichtig, die notwendige Grundlage aller empirischen Peinlichkeitsphänomene in einem solchen Gefühl zu verankern, ist die Peinlichkeitsemotion doch zwingend erforderlich, damit so etwas wie eine „peinliche“ Situation empirisch überhaupt vorliegt: Wenn niemand eine Situation als peinlich empfindet, ist es wenig sinnvoll, sie aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive als ein Peinlichkeitsphänomen zu klassifizieren.10 Dem Einwand, dass ein Peinlichkeitsbegriff, der innere Erfahrungsphänomene des Individuums als begriffliche Basis betrachte, das charakteristisch Peinliche der äußeren Situationsumstände ignoriere, aus der das Peinlichkeitsgefühl doch erst als Reaktion hervorgehe, ist zu entgegnen, dass ja nicht irgendwelche äußeren Umstände oder Ereignisse notwendigerweise Peinlichkeitsgefühle verursachen, sondern

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Unter sozioperzeptivem Kontakt versteht Ungeheuer die zwischenmenschliche Wahrnehmung der ganzen Person, die auch dort Verständigung sichern kann, wo Sprache an ihre Grenzen kommt.

10 Natürlich können Außenstehende, z.B. Beobachter oder Journalisten, bestimmte Situationen sprachlich berechtigterweise als „peinlich“ oder „Peinlichkeit“ bezeichnen, ohne dass die Situationsbeteiligten sie als peinlich empfanden oder die Außenstehenden selbst Peinlichkeitsgefühle hätten. Dies ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass die alltagssprachliche Verwendung von Ausdrücken nicht immer den strengen Regeln der wissenschaftlichen Redeweise genügt.

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erst deren jeweilige Empfindung.11 Diese Empfindung kann als eine kommunikative Erfahrung mit einer bestimmten begrifflichen Struktur betrachtet werden. Hier möchte ich herausarbeiten, wie Individuen die ihren Peinlichkeitsempfindungen zugrunde liegenden konstitutiven Erfahrungsstrukturen konzipieren würden, wenn sie es könnten und dazu veranlasst würden. Die spezifische Erlebnisphänomenologie von Peinlichkeit tritt bei einer solchen Betrachtungsweise in den Hintergrund. Die kommunikative Ereignisebene von Peinlichkeit als situative Wirksamkeit dieser Empfindung beim betroffenen Kommunikationsakteur umfasst Ausdrucks-, Reaktions- und Handlungsformen, die charakteristischerweise aus seiner inneren Peinlichkeitsempfindung hervorgehen und sich als sicht- und deutbare kommunikative Zeichen manifestieren. Angelehnt an diese Vor-Urteile werden bei der begrifflichen Analyse von Peinlichkeit sowohl kommunikative als auch extrakommunikative Betrachtungsweisen (vgl. Ungeheuer 1972) Anwendung finden, um Peinlichkeitsphänomene zum einen aus der Innenperspektive peinlichkeitsempfindender Akteure, zum anderen aus der Außenperspektive der kommunikativen Wirkungsweise solcher Empfindungen bei betroffenen Akteuren beleuchten zu können.

1.4 Z IELSETZUNG

UND

L EITFRAGEN

Das Ziel der Untersuchung besteht darin, eine kommunikationswissenschaftliche Begrifflichkeit für Peinlichkeitsphänomene zu entwickeln, die mit den oben getroffenen kommunikationswissenschaftlichen Vor-Urteilen über den empirischen Phänomenbereich, den der Peinlichkeitsbegriff umfassen soll, verbunden ist. Ein zusätzliches Interesse gilt dabei Phänomenen ritualisierter Peinlichkeit, deren besondere Konstitutionsmerkmale und Bedeutungsmöglichkeiten paradigmatisch anhand der ritualisierten Bloßstellungen bei modernen Junggesellenabschieden in den Blick genommen werden sollen. Da Peinlichkeit im simmelschen Sinne nicht als subjektiver Reflex auf gesellschaftliche Wirklichkeit begriffen wird, sondern als eine fundamentale Aneignungsweise dieser Wirklichkeit, als die Art und Weise, in der Individuen ihre Erlebnisse mit Bedeutung ausstatten, wird die Begriffsentwicklung mehr beanspruchen als eine bloße Betrachtung und Analyse peinlicher Situationen. Sie wird Annahmen und Schlussfolgerungen über die kommunikative Konstruktion sozialer Wirklich-

11 Nur so lässt sich z.B. plausibilisieren, weshalb ein Missgeschick vor manchen Personen zu einer peinlichen Situation führt, vor anderen wiederum als ein amüsantes Ereignis empfunden wird oder gelehrte Zerstreutheit nicht unbedingt als peinlicher Fauxpas gewertet wird, sondern als positives soziales Distinktionsmittel fungieren kann (vgl. Algazi 2001).

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keit und sozialer Identität, die Darstellung dieser Identität sowie diesbezüglicher Ideale und Normen erfordern. Schwerpunktmäßig wird die Untersuchung jedoch durch drei übergeordnete Leitfragen bestimmt und strukturiert, die sich wie folgt formulieren lassen: •

Welche konstitutiven Strukturmerkmale besitzt Peinlichkeit als kommunikative Erfahrung?



Welche charakteristischen Reaktionen und Anschlussstrategien peinlichkeitsempfindender Kommunikationsakteure prägen die kommunikative Ereignisseite von Peinlichkeit?



Was kann unter „ritualisierter Peinlichkeit“ verstanden werden? Inwiefern ist sie Bestandteil des modernen Junggesellenabschieds als Übergangsritual und welche besonderen Bedeutungen und Funktionen könnte sie in diesem Kontext besitzen?

1.5 M ETHODISCHE V ORGEHENSWEISE UND AUFBAU DER U NTERSUCHUNG Um mich der begrifflichen Struktur von Peinlichkeitserfahrungen zu nähern, möchte ich in einem ersten Schritt bestehende Peinlichkeitsbegriffe und -betrachtungen analysieren, um zu überprüfen, welche Merkmale für den hier gesuchten Begriff gelten können und welche einer kritischen Prüfung nicht standhalten. Für eine entsprechende Überprüfung werde ich auch eigene Beispielszenarien, Erlebnisberichte sowie literarische Beschreibungen von „Peinlichkeiten“ bzw. „peinlichen“ Situationen heranziehen, anhand derer ich aufzeige, inwiefern bestimmte Begriffsmerkmale als konkrete Peinlichkeitsfälle auf sie zutreffen. Eine solche Prüfungsmethode impliziert allerdings, dass die herangezogenen Beispiele Peinlichkeitsphänomene im hier gesuchten Sinne beschreiben. Angesichts der hohen sprachlich-kommunikativen Frequenz des Ausdruckes „peinlich“ im Alltag, der in den letzten Jahrzehnten inflationär als Bewertungsvokabel Verwendung zu finden scheint, ist es jedoch fragwürdig, ob dieser stets das hier relevante Phänomen einer Peinlichkeitserfahrung bezeichnet. Zwar wählen wir mit intuitiver Sicherheit den Ausdruck „peinlich“, um unsere persönliche Empfindung von Situationen zu charakterisieren, die uns in einer spezifischen Weise unangenehm sind, doch weist der Alltagsgebrauch von Sprachausdrücken oftmals nur unscharfe oder widersprüchliche Begriffsstrukturen auf und kann sehr unterschiedliche Phänomene be-

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zeichnen, wie die Vielzahl an Divergenzen zwischen Alltagssprache und streng wissenschaftlicher Redeweise zeigt.12 Sicherlich ist es trotzdem sinnvoll, dass „a theorist’s concepts of ‚anger‘, ‚embarrassment‘, ‚pride‘ and so on must be based on those employed by some cultural group through their use of their local vocabulary of emotion words. […] But how is it that displays of embarrassment and the conditions under which they occur can diverge from what ordinary folk would understand by ‚embarrassment‘? It is because the words that we use for emotions do not usually figure in displays of emotions.“ (Harré/Parrott 1996a: 42)

Aus diesem Grund möchte ich zuerst sprachliche Bedeutungsdimensionen der Peinlichkeitsvokabel in den Blick nehmen und aufzeigen, in welchen Verwendungskontexten sie das hier zu beschreibende Phänomen bezeichnet. Eine kurze sprachlich-semantische Betrachtung von „Peinlichkeit“, bei der alltagssprachliche Zuteilungsweisen des Peinlichkeitslabels auf ihre Operationalisierbarkeit bezüglich der Prüfung von Peinlichkeitsbegriffen untersucht werden, eröffnet das dieser Einleitung folgende zweite Kapitel, in dem klassische Begriffe und Merkmale von Peinlichkeit beleuchtet werden. Das Kapitel dient sowohl dazu, erste wesentliche Eigenschaften von Peinlichkeit herauszustellen, als auch dazu, Grenzen im Hinblick auf den Erklärungswert und die Geltungsbereiche der jeweiligen Beschreibungsansätze aufzuzeigen. Darauf aufbauend folgt in Kapitel 3 die Entwicklung einer kommunikationswissenschaftlichen Begrifflichkeit, bei der vor allem anhand ontogenetischer und sozialanthropologischer Betrachtungen konstitutive Erfahrungsstrukturen von Peinlichkeit nachgezeichnet sowie drei grundlegende Formen der Peinlichkeitserfahrung unterschieden und charakterisiert werden. Im entsprechenden Argumentationsgang werden bestehende Forschungsergebnisse und Überlegungen zum Untersuchungsgegenstand so miteinander verbunden und ausdifferenziert, dass ein neues Begriffs-

12 So ist z.B. die alltagssprachliche Bedeutung von Ausdrücken wie „Verhalten“ oder „Symbol“ nicht gleichbedeutend mit ihrer streng wissenschaftlichen Bedeutung. Bei der Bezeichnung emotionaler Erfahrungen ist das Verhältnis zwischen Wissenschafts- und Alltagssprache zwar nochmals ein anderes, in welchem die Bedeutungen grundlegend viel näher beieinanderliegen, doch zeigt sich auch hier, dass Verwendungsweisen von Emotionsvokabeln nicht immer diejenigen Phänomene meinen, die man in wissenschaftlicher Redeweise mit ihnen bezeichnet. So wird z.B. die Schamvokabel im Alltag meist nicht dazu verwendet, um auf tatsächliche Schamerfahrungen hinzuweisen, die als sprachliche Eingeständnisse höchst selten vorkommen (vgl. Neckel 1991: 107). Vielmehr handelt es sich in vielen Fällen von Schambekenntnissen um mehr oder weniger versteckte Anklagen oder Beschuldigungen anderer (vgl. Landweer 1999: 51).

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inventar emergiert, welches die Möglichkeit eröffnet, divergente Peinlichkeitsformen erfassen und ihre verschiedenen Ursachen, Bezugspunkte und Funktionen näher bestimmen zu können. Durch die analytische Unterscheidung von innerer Erfahrung und äußerem Ereignis wird dabei der kategorialen Differenz zwischen Innen- und Außenperspektive menschlicher Erlebnisse Rechnung getragen, welche nicht selten vernachlässigt wird, da gerade das besondere Zusammenspiel bzw. die spezifischen Wechselwirkungen von Innen und Außen bei Peinlichkeit dazu verleiten, entsprechende Grenzen zu vernachlässigen und die Emotion mit ihrer kommunikativen Wirksamkeit gleichzusetzen. Im vierten Kapitel wird die begriffliche Fassung von Peinlichkeitsphänomenen um die Ereignisseite erweitert. Hier möchte ich das Kontinuum von Peinlichkeitsreaktionen und -anschlussstrategien als kommunikative Wirksamkeiten situativer Peinlichkeitserfahrungen von betroffenen Interaktionsakteuren kommunikationstheoretisch kategorisieren sowie ihre grundlegenden kommunikativen Bedeutungen und Funktionen herausstellen. Die kommunikative Außenseite der Peinlichkeit kann allerdings nur in Form typischer Merkmale erfasst werden, da sie außer der ihr zugrunde liegenden Peinlichkeitserfahrung keine notwendigen Bestimmungsbedingungen enthält. Im darauf folgenden fünften Kapitel werden besondere Bedeutungs- und Funktionsmöglichkeiten der ritualisierten Herbeiführung von Peinlichkeit paradigmatisch anhand des Übergangsrituals moderner Junggesellenabschiedsfeiern aufgezeigt. Dabei gilt es, zuerst zu bestimmen, was genau unter „ritualisierter Peinlichkeit“ verstanden werden kann und inwiefern diese von dem bereits entwickelten Peinlichkeitsbegriff divergiert.13 Bei der anschließenden Untersuchung moderner Junggesellenabschiede dienen mir neben den empirischen Daten einer eigenen explorativen Feldstudie14 wissenschaftliche und öffentlich-mediale Beschreibungen

13 Um zu einem entsprechenden Verständnis zu gelangen, werden zunächst wesentliche Eigenschaften von Ritualen skizziert, um dann zu verdeutlichen, in welchen handlungstheoretischen Aspekten sich Ritualhandlungen von nicht-ritualisierten Handlungen unterscheiden, damit die Herbeiführung von Peinlichkeit als Ritualhandlung von absichtlich herbeigeführten Bloßstellungen im Alltag unterschieden werden kann. Auf der Grundlage dieser Überlegungen werden wesentliche begriffliche Merkmale von Peinlichkeitsherbeiführungen als Ritualhandlungen herausgestellt, die als Überprüfungskriterien für die Frage, inwiefern ritualisierte Peinlichkeit als Ritualbestandteil bei modernen Junggesellenabschiedsfeiern nachzuweisen ist, herangezogen werden. 14 Hier fanden sowohl eine teilnehmende Beobachtung von vier modernen Junggesellenabschiedsfeiern, welche ich zu Teilen mit der Videokamera filmen konnte, als auch nachgehende Interviews mit den ehemaligen JunggesellInnen statt, bei denen diese zu ihrer

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der Feiern dazu, ihre zentralen Plan- und Vollzugsmerkmale sowie diesbezügliche, als peinlich geltende Ritualbestandteile herauszustellen. Um erklären zu können, wie sich gemeinhin Peinliches im rituellen Rahmen der Feiern von einer Unlust- in eine Lusterfahrung verwandeln kann, werden theoriegeleitete Hypothesen zur „Entpeinlichung“ von Peinlichkeit formuliert, die anschließend mit den empirischen Daten der Feldstudie verglichen werden, was eine erste Bestätigung bzw. zumindest Plausibilisierung der Annahmen erlaubt. In den abschließenden Bemerkungen werden die Ergebnisse der Untersuchung zusammenfassend reflektiert und ihre Anschlussfähigkeit für weiterführende Forschungen skizziert.

persönlichen Erlebnisweise und Bewertung der Feier befragt wurden. Die Interviews wurden mit einem Tonbandgerät aufgezeichnet und anschließend transkribiert.

2. Begriffe und Merkmale von Peinlichkeit

Im Gegensatz zu Scham, die als wissenschaftliches Sujet gemeinhin große interdisziplinäre Beachtung und Anerkennung erfährt, wird Peinlichkeit oft als deren milde und gehaltlosere Form charakterisiert und eher stiefmütterlich behandelt. Peinlichkeit hat nie die Dignität eines großen theatralisierbaren Unlustgefühls erreicht – sie ist unangenehm, aber nicht tragisch (vgl. Pontzen 2005a: 193), mehr flüchtiger Augenblick als nachhaltiger Zustand, mehr banale Störung als schicksalhafte Verfehlung. Sie ist „zu alltäglich und trivial, um wahrhaft bedeutend zu scheinen. Selbst dem mit ihr verbundenen, für den Leidenden bis zum autodestruktiven Verlangen reichenden Schmerz haftet etwas Lächerlich-Läppisches, letztlich Klägliches an, angesichts der Disproportion von banalem Anlass und psychischer Folgequal.“ (Pontzen 2008: 237) Dennoch kann jeder peinliche Moment den Blick öffnen für die Konstruktion unserer sozialen Wirklichkeit mit den ihr eigenen Konventionen, Idealen, Verhaltenserwartungen und den jeweiligen historischen, kulturellen und situativen Konfigurationen, denen diese unterworfen sind: Weil das, was als peinlich gilt, zugleich den Status quo des „normalen“, geordneten Verhaltens markiert, legen wissenschaftliche Untersuchungen zu diesem Phänomen die unsichtbaren Strukturen, Bedingungen und Grundsätze frei, nach denen alltägliche Sozialhandlungen intuitiv vollzogen werden (vgl. Gross/Stone 1976: 277). Nun verbinden sich bei Peinlichkeit emotionale, soziale, physische und kommunikative Elemente zu einem so vielschichtigen und komplexen Phänomen, dass es maßgeblich an der jeweiligen Betrachtungsperspektive wissenschaftlicher Theorien liegt, welche Strukturmerkmale für Peinlichkeitsphänomene als konstitutiv oder relevant angesehen werden: Während Soziologie und Interaktionsforschung gemeinhin die extrakommunikative Bedeutung von Peinlichkeit fokussieren, Peinlichkeit im situativen Rollenfehler oder in dramaturgischen Störungen innerhalb sozialer Interaktionen verankern (vgl. Goffman 1986; Gross/Stone 1976), interessieren sich Sozial- und Emotionspsychologie primär für die situative Verursachung von Peinlichkeitsgefühlen bzw. deren allgemeines Emotionskonzept (vgl. Miller 1996; Edelmann 1985; Modigliani 1971;

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Roos 1988a/1988b/2009). Systemtheoretisch wird Peinlichkeit als Gefahr des Verlusts oder der Beeinträchtigung sozialer Adressabilität verstanden (vgl. Fuchs 2008), in der Literaturwissenschaft stehen ihre unterschiedlichen Funktionen als Topos literarischer Darstellungen im Betrachtungsfokus (vgl. Verweyen 2009; Miller 1993). Als manifeste Form sozialer Angst bzw. Exklusionsfurcht kann Peinlichkeit als empirischer Indikator15 genutzt werden, der z.B. im Hinblick auf Konsumverhalten (vgl. Dahl et al. 2001), Hilfsbereitschaft (vgl. Edelmann 1984) oder öffentliche Meinungsbildungsprozesse (vgl. Hallemann 1990) soziale Ängste und Hemmschwellen sichtbar machen kann. In den letzten Jahren lässt sich darüber hinaus ein vermehrtes Interesse an Peinlichkeit in ihrer Bedeutung und Funktion als medialer Bloßstellung und deren voyeuristisches Goutieren (vgl. Henning 2001; Fuchs 2008; Pontzen 2005a, 2005b), an der Interkulturalität von Peinlichkeit (vgl. Moosmüller 1999; Edelmann et al. 1989; Imahori/Cupach 1994; Harré/Parrott 1996) sowie ihren geschichtlichen Konfigurationsprozessen (vgl. von Moos 2001; Nolde 2009) konstatieren. Für die Zielsetzung dieser Untersuchung erscheinen vor allem emotions- und sozialpsychologische sowie interaktionstheoretische Peinlichkeitsbetrachtungen interessant, da sie die Begriffsebenen von Emotion und kommunikativer Manifestation dieser Emotion in besonderer Weise berücksichtigen. Bevor entsprechende Peinlichkeitsbegriffe jedoch näher in den Blick genommen werden, gilt es, anhand der Alltagssemantik von „Peinlichkeit“ kurz aufzuzeigen, inwiefern Fallbeispiele, die alltagssprachlich mit dem Peinlichkeitslabel belegt werden bzw. werden können, zur Überprüfung der Geltungsbereiche dieser wissenschaftlichen Begriffe herangezogen werden dürfen.

15 Im Gegensatz zu anderen Aspekten, die das Individuum bei seinen sozialen Handlungen beeinflussen (unbewusste Ängste, irrationale Impulse, latente Wünsche etc.), sind Peinlichkeitsvermeidung bzw. die Angst vor peinlicher Bloßstellung oder Blamage handlungssteuernde Faktoren, die den jeweiligen Individuen gemeinhin recht bewusst sind und für den Forscher daher vergleichsweise gut zugänglich erscheinen.

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2.1 „P EINLICHKEIT “

ALS

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B EZEICHNUNG „Aber trotz ihrer tiefen Verankerung im Allgemeinhumanen scheint die Peinlichkeit, vom linguistischen Standpunkt aus, ein speziell neudeutsches Phänomen zu sein. Weder alte noch neue Sprachen haben offenbar eine besondere Vokabel für das spezifisch Peinliche (obwohl sie natürlich sehr wohl im Stande sind, die Sache unter wechselnden Bezeichnungen auszudrücken) […].“ STROH 2005: 5

2.1.1 Die „peinliche“ Befragung Die Ausdrücke „Peinlichkeit“ und „peinlich“ bezogen sich ursprünglich ausschließlich auf rein körperliche Pein, Qual, Not oder Schmerzen. Der „peinlichen Strafe“ oder „peinlichen Befragung“ als folternder mittelalterlicher Strafpraktik, welche „nach einem Ritual quälender Genauigkeit verlief, das zuvor bis ins Detail festgelegt wurde“ (Neckel 1991: 110), verdankt „Peinlichkeit“ vermutlich auch ihre bis heute erhalten gebliebene, bei der jungen Generation jedoch zunehmend in Vergessenheit geratene Bedeutung als „pedantische, übertriebene Sorgfalt und Genauigkeit“ (Grimm 1854: Bd. 13, Sp. 1529 ff.). Der uns heutzutage geläufige Bedeutungsschwerpunkt von „peinlich“ als psychisch peinigend infolge von Blamage, Bloßstellung oder Ähnlichem ist in Grimms Wörterbuch von 1854 noch gar nicht verzeichnet (vgl. ebd.). Zum einen hat das Wort also einen grundlegenden Bedeutungswandel erfahren, da es heutzutage auf ein vollkommen anderes empirisches Phänomen referiert. Zum anderen lassen sich bei näherem Hinsehen durchaus einige begriffliche Strukturparallelen konstatieren: So teilt die heutige „Peinlichkeit“ mit derjenigen der mittelalterlichen Folter gewissermaßen den Faktor einer öffentlichen Sanktionierung der eigenen Person bei gleichzeitiger Handlungsunfähigkeit (vgl. Neckel 1991: 111), welche sich bei der peinlichen Strafe in physischer Außeneinwirkung (des Fesselns oder Ähnlichem) sowie dem bewussten Exponieren der Bestrafung vor der Schaulust Dritter manifestiert, sich bei peinlicher Betroffenheit bekanntermaßen selbstsanktionierend einstellt und in Form von hemmenden Verlegenheitsreaktionen (kognitive Black-outs, plötzliches Erstarren, Herumstammeln, Stottern etc.) vor anderen zu Tage tritt. Bei der „modernen“ Peinlichkeit kommt es zu einer „Verstümmelung der Willkürhandlung“ (Higuti 1925: 384), also keiner physisch, sondern psychisch bedingten Verstümmelung, einem psychisch bedingten Defekt, der einen daran hindert, sich so zu verhalten, wie man eigentlich möchte. Der für strategi-

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sches Handeln notwendigen Selbstdistanz ist man zumindest für den Augenblick beraubt. Plessner formuliert dies sehr treffend, wenn er über den Zustand der Verlegenheit in peinlichen Situationen sagt: „Man weiß sich nicht zu benehmen, findet kein Verhältnis zur Situation und befindet sich in einem Zustande der unfreiwilligen Isolierung. Man möchte den richtigen Ansatzpunkt finden, sieht sich aber gehemmt.“ (Plessner 1941: 124) 2.1.2 „Peinlichkeit“ modern Obwohl sich „peinlich“ laut Duden auf „ein Gefühl der Verlegenheit, des Unbehagens, der Beschämung“ (Duden Online 2013) bezieht, mutet einer alltagsweltlichen Peinlichkeitsbekundung oft mehr von einem ästhetischen Geschmacks- und Werturteil an. Der Ausruf „Wie peinlich!“ will meist nicht – zumindest nicht nur – über einen emotionalen Zustand des Sprechers informieren, sondern vielmehr als klassifizierende Bewertung bzw. Verurteilung des jeweiligen Peinlichkeitsobjektes verstanden werden. Im Fall des modernen Peinlichkeitslabels wird besonders offenkundig, wie eng Emotion und Kognition bereits auf der sprachlichen Ebene miteinander verbunden sein können: „Peinlich“ ist eine zugleich deskriptive („Die Umarmung von ihm zur Begrüßung war mir sehr peinlich.“), normative („Die Werbekampagne für die ARD-Themenwoche der Toleranz ist einfach nur peinlich.“) als auch expressive („Oh Gott, das ist mir jetzt aber peinlich!“) Vokabel, die sowohl als Ausruf emotionaler Betroffenheit gilt als auch gleichzeitig schon die entsprechende Emotion selbst benennt. Dem entsprechend dient das Peinlichkeitslabel alltagssprachlich zum einen dazu, eine Emotion zu bezeichnen – in deskriptiven oder expressiven Kontexten –, zum anderen wird es hingegen als rein normative Bewertungsvokabel verwendet. Das bedeutet freilich nicht, dass eine Analyse der Verwendung von „Peinlichkeit“ als normativer Bewertungsvokabel keinen Aufschluss über begriffliche Strukturelemente von Peinlichkeitsemotionen verschaffen könnte: So informiert sie zwar nicht darüber, was faktisch als peinlich empfunden wird oder wurde, wohl aber darüber, was gemäß einem für Peinlichkeitsempfindungen charakteristischen Bewertungsschema dem Sprecher selbst peinlich wäre bzw. anderen peinlich sein sollte (vgl. Hallemann 1990: 221). Eine solche Verwendungsweise findet man daher auch häufig in empirischen Kontexten, in denen Beobachter Negativ-Urteile über ein bestimmtes soziales Ereignis bzw. bestimmte fremde Verhaltensweisen fällen16 oder

16 In solchen Kontexten wird die Peinlichkeitsvokabel verwendet, um zu verdeutlichen, dass eine Fassade entlarvt worden ist, gegen bestimmte Rollenerwartungen, die Etikette und Konventionen verstoßen wurde etc. Ob dies tatsächlich irgendwem peinlich war, spielt hier keine oder eine bloß untergeordnete Rolle.

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aber andere Personen/Dinge generell negativ attribuieren17, und nicht in solchen, in welchen Aussagen über tatsächliche Gefühlszustände getroffen werden. Expressive Peinlichkeitsbekundungen à la „Das ist mir jetzt aber peinlich!“ scheinen im Regelfall ebenfalls kein Ausdruck tatsächlicher Peinlichkeitsempfindungen zu sein. Vielmehr sind sie floskelhafte bzw. ritualisierte Selbstdarstellungsstrategien, um sich z.B. als besonders bescheidene oder rücksichtsvolle Person zu inszenieren18 oder die Taktlosigkeiten anderen anzuklagen. Wenn etwa die Gastgeberin mit leidvoller Miene zu ihren Gästen sagt: „Jetzt haben wir gar nichts zum Anbieten für euch im Haus, das ist mir aber peinlich.“ ist dies vermutlich weniger authentische Gefühlsbeschreibung als vielmehr strategische Selbstdarstellung. In der Erlebnissequenz von peinlichen Situationen kommt das Peinlichkeitslabel daher höchst selten vor, was wohl daran liegt, dass dort bewertendes Subjekt und bewertetes Objekt gemeinhin zusammenfallen. Sprachliche Peinlichkeitsbekundungen erfordern ein Maß an Selbstdistanzierung, das durch die emotionale Peinlichkeitsbetroffenheit meist kurzfristig eingebüßt wird und erst wieder zurückgewonnen werden muss. Darüber hinaus widersprechen sie dem charakteristischen Impuls, die eigene Betroffenheit zu überspielen und einen möglichst überlegenen und „coolen“ Eindruck zu wahren. In seiner deskriptiven Verwendungsweise hingegen bezeichnet das Peinlichkeitslabel tatsächlich diejenigen Phänomene, die hier einer „Peinlichkeitserfahrung“ subsumiert werden. Zwar werden persönliche Peinlichkeitsanekdoten u. Ä. ebenfalls gern zu Selbstdarstellungszwecken verwendet, z.B., um den witzigen Entertainer zu geben oder die Beziehung zu den Hörern zu intimisieren. Doch führen solche Zwecke weniger zu der Behauptung, dass einem Erfahrungen „peinlich“ gewesen seien, die bei einem gar keine Peinlichkeitsgefühle ausgelöst haben, sondern eher dazu, überzogene und ausgeschmückte Schilderungen der jeweiligen Situation vorzunehmen.

17 Pauschale Peinlichkeitsbewertungen dienen dazu, Personen oder von Personen gemachte (Lieder, Veranstaltungsreihen, Produkte etc.) bzw. ihnen zugehörige/zuschreibbare Dinge (Kleidung, Geschenke, Mobiltelefone, Einrichtung, Autos etc.) grundlegend herabzusetzen, da bereits ihr bloßes bzw. charakteristisches Sosein im Hinblick auf die ihnen zugeordnete Funktion „lächerlich“, „unpassend“ oder „inakzeptabel“ erscheint. Pontzen spricht hier von einer „Ontologisierung“ des Peinlichen im deutschen Sprachgebrauch, bei der „immer häufiger Gegenstände (‚peinliche Hose‘) das Attribut ‚peinlich‘ erhalten“ (Pontzen 2008: 239). 18 Für den englischen Ausdruck „embarrassment“ scheint dasselbe zu gelten, denn „[t]hose who say things like ‚I’m very embarrassed‘ are usually using the expression as a ritual opening for presenting an apology“ (Harré/Parrott 1996a: 42).

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Sicherlich sprechen wir nicht immer, wenn wir ein peinliches Erlebnis beschreiben, explizit von einer „Peinlichkeit“ oder einer „peinlichen Situation“ – Peinlichkeitserfahrungen können auch auf andere sprachliche Weise nicht weniger trefflich beschrieben werden. Doch sofern sich solche Beschreibungen zugleich mit intuitiver Sicherheit als „peinlich“/„Peinlichkeit“ in ihrer Bezugsdimension als Erfahrungsbeschreibung bezeichnen lassen, können auch diese als Peinlichkeitsphänomen klassifiziert werden. Wissenschaftliche Peinlichkeitsbegriffe lassen sich folglich anhand von Erlebnisberichten, Beispielszenarien und literarischen Beschreibungen emotionaler Erfahrungen, die als „peinlich“ oder „Peinlichkeit“ bezeichnet werden (können), auf ihre Gültigkeit und Kohärenz hin prüfen. Dass literarische Beschreibungen – so wie entworfene Beispielszenarien ja auch – nicht unbedingt auf empirischen Peinlichkeitsphänomenen basieren, beeinträchtigt keineswegs ihre diesbezügliche Strukturgleichheit, denn auch die Fiktion orientiert sich an der bekannten Lebenswelt (vgl. Zumsteg 2008: 41). Mit ihrem Stoff „verfährt die literarische Imagination des Peinlichen nach dem Konzept einer in der ästhetischen Tradition als ‚kombinatorisch‘ begriffenen, tendenziell reproduktiven Einbildungskraft; sie montiert Vorhandenes, Erlebtes, Gesehenes oder extrapoliert es, etwa auf neue technische Modalitäten oder andere kulturelle Zusammenhänge. Sie kreiert aber nichts völlig Neues, nie Dagewesenes im Sinne einer im strengen Sinne ‚schöpferischen‘ Einbildungskraft der inventio. Pointiert: Eine peinliche Szene kann nicht völlig neu erfunden werden, sie muss StrukturMerkmale des Bekannten und als peinlich Konnotierten und Konditionierten enthalten […].“ (Pontzen 2008: 244f.)

Das bedeutet nicht, dass alltagsweltliche Peinlichkeitsbeschreibungen sich ohne Weiteres als Grundlage für die Entwicklung eines wissenschaftlichen Peinlichkeitsbegriffs eignen – vielmehr geht es darum, sich bei der Entwicklung des Begriffs daran zu orientieren, welche Alltagserlebnisse mit dem Ausdruck „Peinlichkeit“ bezeichnet werden können, ohne aus den Augen zu verlieren, dass solche sprachliche Verwendungsregeln offen für wissenschaftliche Modifikationen bleiben müssen. Da ein wesentlicher Teil der wissenschaftlichen Peinlichkeitsforschung in englischer Sprache verfasst ist, möchte ich an dieser Stelle darauf hinweisen, dass die semantischen Differenzen zwischen „Peinlichkeit“ und „embarrassment“, die unter anderem auch von Zumsteg herausgestellt werden (vgl. Zumsteg 2008: 38f.), zwar keinen Anlass geben, von unterschiedlichen Erfahrungsstrukturen auszugehen,

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wohl aber, deren begriffliche Zuordnungen zu bestimmten Emotionsclustern, die für emotionale Phänomene bezeichnend sind, nicht miteinander gleichzusetzen.19 Weil „embarrassment“ zudem zwei Bedeutungen im Deutschen hat und sowohl „Peinlichkeit“ als auch „Verlegenheit“ meint20, können Konzepte aus diesem Sprachraum ohnehin nicht unhinterfragt auf einen Peinlichkeitsbegriff übertragen werden. Im Folgenden soll eine Darstellung der klassischen Betrachtung von Peinlichkeit gemäß dem rollentheoretischen Paradigma Goffmans dazu dienen, grundlegende Merkmale und soziale Funktionen von Peinlichkeit (als „embarrassment“) herauszustellen, zugleich aber Beschränkungen des Erklärungswertes des dramaturgischen Ansatzes aufzuzeigen.

19 So gab es z.B. beträchtliche Schwierigkeiten, als man Reaktionen auf „Embarrassment“ in den U.S.A. und in Japan miteinander vergleichen wollte – die Wissenschaftler standen vor dem Problem, den amerikanischen Fragebogen ins Japanische übersetzen zu müssen: „However, the pilot study revealed that the Japanese translations for the word embarrassment (Touwaku), embarrassed, and embarrassing were confusing to the Japanese pilot subjects. […] This pilot study provided an intriguing finding, suggesting that Japanese may be more sensitive to face and face loss and as a result use a wider range of terms to describe varying characteristics of face threat.“ (Imahori/Cupach 1994: 197 f.) 20 Neckel dazu: „Da das englische Wort für Peinlichkeit (‚painfulness‘) noch stark von der alten Bedeutung körperlicher Schmerzen geprägt ist, tritt in der englischen Literatur an dessen Stelle ‚embarrassment‘, das im Deutschen mit ‚Verlegenheit‘ übersetzt wird (To ‚embarrass‘ bedeutet wörtlich ‚behindern‘). Das englische ‚embarrassment‘ umfasst aber den Bedeutungsgehalt der (modernen) deutschen ‚Peinlichkeit‘ mit, wie einerseits der Alltagsgebrauch in der englischen Sprache beweist, in dem eindeutig ‚peinliche‘ Vorfälle ‚embarrassing’ genannt werden, andererseits der Inhalt der entsprechenden Literatur demonstriert, die unter dem Begriff ‚embarrassment‘ sowohl Zustände der Verlegenheit […] wie der Peinlichkeit […] verhandelt […].“ (Neckel 1991: 266) Wissenschaftliche Betrachtungen zu „embarrassment“ beziehen sich also stets auf beide Begriffe – den der Peinlichkeit und den der Verlegenheit. Ich werde „embarrassment“ im weiteren Verlauf der Untersuchung der Einfachheit halber grundsätzlich mit „Peinlichkeit“ übersetzen, jedoch mit dem Verständnis, dass darunter auch Zustände der Verlegenheit fallen.

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2.2 P EINLICHKEIT ALS SOZIALER O RGANISATIONSMECHANISMUS „Sobald Normen im Spiele sind, führt ihre Verletzung leicht zu unkontrollierbaren kleinen Schuld-, Scham- oder Verlegenheitsreaktionen, und zwar auch dann noch, wenn sich der Betreffende schon lange nicht mehr in entscheidenden Situationen an die Norm gebunden fühlt.“ GOFFMAN 1981: 43

Nach Goffman stellt Peinlichkeit eine „bedauerliche Abweichung von der Normalität“ (Goffman 1986: 106) dar, die durch misslungene Selbstdarstellungen oder dramaturgische Störungen in sozialen Interaktionen evoziert wird.21 Als situative Erwartungsenttäuschung bringt sie die etablierte soziale Ordnung aus dem Gleichgewicht und fordert die Interaktionskompetenz der Situationsteilnehmer deshalb in besonderem Maße: Die Interaktanten müssen all ihre Interaktionsressourcen mobilisieren, um die Ordnung auf irgendeine Art weiter aufrechtzuerhalten, gefasst zu bleiben bzw. zurück „ins Spiel“ zu gelangen. Vorbereitete Reaktionen sind nun deplatziert, sie müssen unterdrückt werden, und die Interaktion muss neu entworfen werden (vgl. ebd. 116). Die soziale Funktion von Peinlichkeit sieht Goffman in der Bestätigung organisatorischer Prinzipien und sozialer Strukturen. Das Individuum verliert dabei zwar an Haltung, opfert situativ gar seine Identität, aber dies ist weniger „irrationaler Impuls, der das sozial vorgegebene Verhalten durchbricht, als vielmehr Teil dieses geordneten Verhaltens selbst“ (ebd. 122). Als unwillkürliche Bestätigung der Gültigkeit sozialer Standards fungiert das situative Niederschlagen peinlicher Betroffenheit daher als unmittelbarer Indikator für Rollen- und Regelkenntnisse und ist nicht als ein Indiz für das Versagen sozialer Ordnung, sondern als Teil des Ordnungssystems selbst zu verstehen, als ritueller Aspekt des korrektiven Verhaltens (vgl. Goffman 1982: 165f.). Peinlichkeit ist für Goffman nicht im Individuum, sondern im sozialen Rollensystem verankert, in dem man notwendigerweise stets mit mehreren Ausprägungen seines Selbst vorhanden ist.

21 Oder wie es Schudson in seiner Interpretation der goffmanschen Betrachtungen ausdrückt: „Two kinds of things hamper people’s moving or acting and so cause embarrassment or obstruction: inconsistency of character and discontinuity of interaction. To maintain a consistent character, people learn to fulfill roles and to enact them with poise. To maintain continuity of interaction people learn to follow rules und to observe them with tact.“ (Schudson 1984: 636)

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Der unwillkürliche Peinlichkeitsausdruck, vor allem das Erröten, wird dabei zum öffentlichen Geständnis verfehlter Rollenansprüche, welches den Betroffenen zwar an Haltung verlieren lässt, ihm aber zugleich äußerst positive Rolleneigenschaften bestätigt. „Wird jemandem ein Kompliment gemacht, und er errötet darüber aus Bescheidenheit, so wird er zwar seinen Ruf, gelassen zu sein, verlieren, dafür aber einen viel wichtigeren bestätigen, nämlich den, bescheiden zu sein.“ (Goffman 1986: 118) Als sichtbare Selbstsanktionierung machen Peinlichkeitssignale und Verlegenheitszustände nicht selten äußere Sanktionierungen, z.B. Tadel oder Zurechtweisungen, überflüssig.22 So spiegeln „[d]ie widersprüchlichen Signale des peinlich Berührten […] seine inkonsistente Lage: Einerseits hat er scheinbar etwas getan, das aus der Sicht der tatsächlichen oder vermeintlichen öffentlichen Meinung als verwerflich anzusehen ist, andererseits legt er öffentlich errötend ein Bekenntnis zu eben diesen Verhaltensregeln, gegen die er gerade verstoßen hat, ab.“ (Hallemann 1990: 54)

Die goffmansche Betrachtungsweise von Peinlichkeit wurde in der Folge auch von Gross/Stone in ihrem Aufsatz „Verlegenheit und die Analyse der Voraussetzungen des Rollenhandelns“23 (Gross/Stone 1976) aufgenommen und weitergeführt. Da Peinlichkeit es dem Betroffenen unmöglich macht, sein Rollenspiel unbeirrt weiter fortzusetzen, betrachten die Autoren Peinlichkeit als Indikator für die grundlegenden Bedingungen erfolgreichen Rollenhandelns. Diese Indikatorfunktion nutzten sie und untersuchten 1000 erinnerte Fälle peinlicher Situationen von Probanden. Dabei konnten sie zeigen, dass Peinlichkeit immer dann entsteht, wenn sich eine zentrale Annahme auf unerwartete oder uneingeschränkte Weise für mindestens einen Beteiligten in der Interaktion als falsch erweist. Ihre Untersuchung ergab, dass die entsprechenden Annahmen sich auf drei verschiedene Dimensionen beziehen, welche zugleich als Voraussetzungsebenen für erfolgreiches Rollenhandeln betrachtet werden können: Identität (hierzu gehören Nebenrollen, Reserve-Identitäten, abgelegte Identitäten), Gleichgewicht (dieses betrifft Räume, Ausstattung, Requisiten, Kleidung und Körper) und Vertrauen in die etablierte Identität und das etablierte Gleichgewicht (rollenkonforme Verhaltensnormen). Mit dieser Klassifikation kann dann aufgezeigt werden, ob eine peinliche Situation einem Rollenwiderspruch geschuldet ist und somit die Identität betrifft (z.B. die Begegnung zweier Ge-

22 So konnte z.B. empirisch nachgewiesen werden, dass Mütter ihre Kinder weniger hart bestrafen, wenn diese verlegen auf ihr „Vergehen“ reagieren, statt es einfach zu ignorieren (vgl. Henning 2001: 111). 23 Der Originaltitel lautet „Embarrassment and the Analysis of Role Requirements“ (Gross/Stone 1964).

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schäftspartner in der Praxis eines Psychotherapeuten), sie sich auf das dramaturgische Gleichgewicht bezieht (z.B. lange Fahrstuhlfahrten mit flüchtigen Bekannten oder Arbeitskollegen, die unsicher sind, wie sie die Fahrt kommunikativ gestalten sollen) oder aber sich durch einen Widerspruch mit den jeweiligen Rollenerwartungen konstituiert (etwa, wenn man beim Einkauf an der Kasse feststellt, dass man seine Geldbörse vergessen hat). Goffman und Gross/Stone liefern mit ihrer dramaturgischen Betrachtungsperspektive einen fruchtbaren Ansatz zur Analyse und Erklärung der in der sozialen Organisation verankerten Peinlichkeitsursachen, zugleich verengen sie die Darstellung des Peinlichkeitsgefühls auf dessen strategischen Wert. Sie unterscheiden nicht näher, wie sich Peinlichkeitsgefühle von anderen Emotionen, z.B. Scham oder Schuld, differenzieren lassen und wann sich welche emotionale Reaktion aktiviert. Mit ihrem Ansatz lassen sich situative Bedingungen und Funktionen von Peinlichkeit als Interaktionsereignis plausibilisieren und klassifizieren, nicht jedoch die ihr zugrunde liegenden Ursachen. Warum die vergessene Geldbörse nicht unbedingt eine peinliche Situation evoziert oder eine unwillkürliche Taktlosigkeit bisweilen eine so große Feindseligkeit zur Folge hat, dass es nicht zu einer peinlichen Situation, sondern einer hitzigen Auseinandersetzung kommt, kann nicht hinreichend erklärt werden. Der spezifisch emotionale Charakter von Peinlichkeitsphänomenen, der sie von anderen „nicht-peinlichen“ Situationen, in denen ebenfalls Rollenwidersprüche oder dramaturgische Störungen vorliegen können, unterscheidet, bleibt im Dunkeln. Die folgenden emotionspsychologischen Betrachtungen von Peinlichkeit sollen dazu beitragen, der Struktur des Peinlichkeitsgefühls näherzukommen und sie von verwandten emotionalen Erfahrungen abzugrenzen.

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2.3 P EINLICHKEIT

ALS

E MOTION

DER

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S ELBSTBEWERTUNG

„Die Objekte der Emotionen haben keine emotionale Qualität an sich, sie erhalten diese erst in einem interpretativen Prozeß der Einschätzung. Einschätzungen sind zentrale Komponenten emotionaler Reaktionen, also mehr als nur eine Vorbedingung von Emotionen.“ ROOS 1988A: 27

2.3.1 Zum Emotionsbegriff24 Die Frage, worauf genau sich Emotionswörter beziehen, wird in der Emotionsforschung recht divergent beantwortet, da kein Konsens darüber herrscht, welchen ontologischen Status Emotionen besitzen bzw. ob sie überhaupt als Entitäten im eigentlichen Sinne gelten können. „Psychologists have always had to struggle against a persistent illusion that in much studies as those of the emotions there is something there, the emotion, of which the emotion word is a mere representation. This ontological illusion, that there is an abstract and detachable ‚it‘ upon which research can be directed, probably lies behind the defectiveness of much emotion research. In many cases the only ‚it‘ is some physiological state which is the basis of some felt perturbation. Swayed by the ontological illusion, it is easy to slip into thinking that that state is the emotion. But in the case of the emotions, what is there is the ordering, selecting and interpreting work upon which our acts of management of fragments of life depend. We can do only what our linguistic resources and repertoire of social practice permit or enable us to do.“ (Harré 1986: 4)

Wie Harré es zutreffend auf den Punkt bringt, ist es fatal, physiologische Entitäten bestimmter emotionaler Zustände mit den Emotionen selbst gleichzusetzen. Denn was es de facto gibt, was wir in unserer emotionalen Lebenswelt „vorfinden“, sind ja keine Entitäten, sondern verliebte Menschen, ärgerliche Ereignisse, dramatische Szenen, eifersüchtige Ehepartner, peinliche Erlebnisse, besorgte Eltern und dergleichen, also eine konkrete Welt von Kontexten, Aktivitäten und Situationsdeutungen, ein dynamisches Prozessgeschehen von Sinn- und Relevanzzuschreibungen. Mit einer solchen Perspektive werden Emotionen nicht als vom Betroffenen losgelöste Reaktionen oder physiologische Zustände begriffen, sondern als ihm eigene

24 Ausdrücke wie „Gefühl“, „Emotion“, „emotionaler Zustand“ oder „Empfindung“ werden im Folgenden synonym verwendet.

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Beurteilungen, die ein Erlebnis gemäß spezifischer Wert- und Relevanzmaßstäbe, welche sich vor allem kommunikativ konstituieren, mit einer bestimmten Bedeutung ausstatten. Dies deckt sich mit der Auffassung, dass Emotionen trotz ihrer „NichtRationalität“ als besondere Formen von Werturteilen verstanden werden können, die bestimmten Personen und Dingen, die sich der Kontrolle des Urteilenden entziehen, eine große Wichtigkeit zuschreiben (vgl. Nussbaum 2000: 145). Der Peinlichkeitsemotion kommt kein ontologischer Status im eigentlichen Sinne zu, sie inkludiert zwar in besonderer Weise spezifische Gesichtsausdrücke oder körperliche Reaktionen, ist jedoch keineswegs mit ihnen gleichzusetzen. Erröten kann beispielsweise zu Recht als Peinlichkeitssignal mit bestimmten kommunikativen Funktionen betrachtet werden, doch das Peinlichkeitsgefühl selbst konstituiert sich durch davon unabhängige intuitive Situationsbewertungen, die für das Emotionskonzept „Peinlichkeit“ charakteristisch sind, sich aber in vielerlei Hinsichten voneinander unterscheiden können.25 Möchte man die für bestimmte Emotionswörter spezifischen Emotionsbegriffe herausschälen, gilt es daher weniger, nach Kontextgleichheiten einander ähnelnder Situationen zu suchen, die das entsprechende Gefühl auslösen, sondern Strukturgleichheiten zu finden, die dazu führen, ganz unterschiedliche Erfahrungen und Kontexte ein und demselben Emotionslabel zu subsumieren. Demgemäß ist es für das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Untersuchung sinnvoll, die Frage „Was heißt es, wenn Betroffene Erlebnisse als ‚peinlich‘ bezeichnen?“ zu konkretisieren und zu fragen: „Welche spezifischen Erfahrungsstrukturen veranlassen Betroffene dazu, Erlebnisse als ‚peinlich‘ zu bezeichnen?“ Die Peinlichkeitserfahrung wird aus dieser Perspektive nicht als ein Widerfahrnis verstanden, das dem Betroffenen „passiert“ oder „zustößt“, wenngleich genau dies der alltagsweltlichen Erfahrung von Peinlichkeitsgefühlen entspricht, sondern

25 Brugmans stellte bereits im Jahr 1919 in einem Aufsatz, in dem er sich mit dem Gemütszustand der Verlegenheit beschäftigte, fest, dass Verlegenheit keine eineindeutige Entität sei, sondern je nach Kontext und Situation ganz unterschiedliche Bedeutungen haben könne: „Die Verlegenheit einem Publikum gegenüber ist anders als die, welche man in der Gegenwart einer Person erlebt. Die Franzosen haben für die erstere einen spezifischen Namen: le trac. In der Verlegenheit von jemand, der ausrutscht, wird noch Angst nachklingen, während weiter Furcht vor dem Lächerlichen ein integrierender Teil ist. Die Scheu, womit eine tiefgekühlte Affektion ausgesprochen wird, enthält hingegen durchaus keine Furcht vor körperlichen Schmerzen, selten Furcht vor dem Lächerlichen, aber wohl hauptsächlich das Gefühl der Scham, indem man sich psychisch eine Blöße gibt.“ (Brugmans 1919: 225)

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als komplexes, kulturell-individuell geprägtes Bewertungsschema, das erst erlernt und herausgebildet wird. „To the extent that such attitudes are socioculturally determined, this introduces the possibility that there is a range of emotion experience which is not naturally pre-existent but which, like intellectual and practical experience, is made available to agents via their acquaintance which cultural systems and the language, social rules and practices involve.“ (Armon-Jones 1986: 81f.)

Konstituieren sich Emotionen erst durch solche sozial-kommunikativen Kontexte und Bedeutungszusammenhänge, spielen sprachliche Bezeichnungen von Emotionen und das Sprechen über Emotionen eine wichtige Rolle in diesem Prozess. „If indeed, such research shows that differences in knowledge (this situation means ‚anger‘, this ‚euphoria‘) are crucial in determining which emotions are experienced, then emotion talk, providing the linguistic distinctions, lies at the heart of the matter. Of an extent, these distinctions are the differences in experience.“ (Heelas 1996: 173) Das Verhältnis von sprachlichen Bezeichnungen und den entsprechenden emotionalen Phänomenen, auf die sich diese beziehen, ist also kein voneinander unabhängiges: Das Bezeichnete verhält sich nicht, wie etwa Untersuchungsgegenstände der Naturwissenschaften, vollkommen indifferent gegenüber dem sprachlichen Klassifikationssystem, sondern konstituiert und formt sich zumindest zu Teilen gemeinsam mit diesen Kategorien. Dies ist ein wesentlicher Unterschied, denn „[i]n den meisten Fällen beeinflusst das, was wir über eine Sache sagen, diese Sache nicht. Anders verhält es sich, wenn wir uns selbst zu erkennen und zu verstehen versuchen, indem wir das Erleben in Worte fassen.“ (Bieri 2011: 18) 2.3.2 Strukturmerkmale selbst-bewusster Emotionen Peinlichkeit kann als emotionale Erfahrung eines betroffenen Individuums26 betrachtet werden, der spezifische kognitive Strukturmerkmale der Bewertung zugrunde liegen, die sich von anderen Emotionen unterscheiden. In diesem Zusammenhang ist es von besonderer Relevanz herauszuarbeiten, inwiefern sich Peinlichkeitsgefühle von Verlegenheits-, Scham-, Stolz- und Schuldgefühlen differenzieren lassen. Diese Gefühle ähneln sich insofern, als sie alle Emotionen sind, die auf die Wahrnehmung des Selbst referieren und das Bewusstsein fremder Reaktionen auf

26 Der Einfachheit halber wird im Folgenden auch vom „Betroffenen“ gesprochen. Gemeint ist damit diejenige Person, die Peinlichkeitsgefühle oder andere Gefühle empfindet, also von einer Emotion „betroffen“ ist.

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dieses Selbst mit einbeziehen (vgl. Roos 2009), sie sind „selbst-bewusste“ Emotionen (sog. „self-conscious emotions“, vgl. Tangney/Tracey 2012). Im Unterschied zu anderen Emotionen ist der Betroffene bei selbst-bewussten Emotionen nicht nur Ausgangspunkt des Gefühls, sondern zugleich auch dessen unmittelbarer Bezugspunkt, er ist das Zielobjekt des Gefühls. Selbst-bewusste Emotionen involvieren auf kritische Art und Weise stets die eigenen Gedanken, Gefühle, Absichten und Verhaltensweisen, d.h., sie treten im Zusammenhang mit der Bewertung des eigenen Verhaltens aufgrund internalisierter Standards auf (vgl. Roos 2009). Insofern sind selbst-bewusste Emotionen in hohem Maße selbstwertrelevant, sie veranlassen die Menschen „to work hard in achievement and task domains […] and to behave in moral, socially appropriate ways in their social interactions and intimate relationships“ (Tangney/Tracy 2012: 447). Selbst-bewusste Emotionen erscheinen realiter oft in unterschiedlicher Intensität miteinander vermischt, sodass eine strenge Separierung nur analytisch erfolgen kann: So können Betroffene Stolz dabei empfinden, auf einer Bühne zu stehen und geehrt zu werden, zugleich kann ihnen das Ganze aber auch peinlich sein, da sie die Lobrede reichlich übertrieben finden. In das Peinlichkeitsgefühl, eine Verabredung vergessen zu haben, kann sich das Empfinden von Schuld mischen, dass man jemanden warten ließ. Die Peinlichkeit einer schlechten Darbietung vor Publikum kann von der Scham, versagt zu haben, begleitet werden. Während Schuld, Scham und Stolz als unterschiedliche Gefühle mit einer jeweils eigenständigen Struktur betrachtet werden, existiert die Auffassung, Peinlichkeitsgefühle seien lediglich eine mildere Form von Schamgefühlen (vgl. Dreitzel 1983) und Verlegenheit eine milde Form der Peinlichkeit. Diese Annahme hängt vermutlich damit zusammen, dass sowohl die Phänomenologie dieser drei Gefühle als auch ihre situativen Auslöser einander sehr gleichen können und wir Scham typischerweise als unangenehmer erleben als Peinlichkeit und Peinlichkeit beeinträchtigender als Verlegenheit. Dennoch machen sich einige Wissenschaftler für eine Differenzierung der entsprechenden Emotionsbegriffe stark. So etwa Pernlochner-Kügler: „Ich verstehe die Gefühle Scham, Peinlichkeit und Verlegenheit als unterschiedliche Gefühle und glaube nicht, dass das wesentliche Unterscheidungsmerkmal in der Intensität der Gefühle liegt. Ich behaupte sogar, dass Peinlichkeit gefühlsmäßig ebenso stark sein kann wie Scham. Die Schwierigkeit in der Abgrenzung dieser drei Gefühle liegt meiner Meinung nach darin, dass die Leiblichkeit dieser Gefühle fast identisch ist: In allen drei Situationen möchte man weglaufen oder versinken, wegschauen, weil man den Blick des anderen nicht aushält. In allen drei Situationen kann man erröten. Eine weitere Schwierigkeit der Abgrenzung liegt darin, dass alle drei Gefühle gemeinsam auftreten können und aufgrund ihrer Ähnlichkeit als ein Gefühl wahrgenommen werden, so dass eine Abgrenzung oft nur analytisch möglich wird […].“ (Pernlochner-Kügler 2004: 37)

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Auch ich möchte eine analytische Separierung von Scham, Peinlichkeit und Verlegenheit vornehmen und damit beginnen, Peinlichkeit und Scham in wesentlichen Merkmalen voneinander abzugrenzen. Peinlichkeit und Scham „‚Und ich werde von Tag zu Tag fetter!‘ fuhr Mrs. Buccleton fort. ‚Auch in diesem Monat habe ich wieder ein paar Kilo zugenommen. Meine Kleider passen mir nicht mehr. Besser gesagt: Ich passe nicht mehr in meine Kleider. Aber mittlerweile schäme ich mich ja, zum Schneider zu gehen. Ich schäme mich, überhaupt irgendwohin zu gehen. Ich schäme mich vor meinem eigenen Spiegelbild. Und vor allem schäm ich mich, jetzt hier vor Ihnen zu liegen, Herr Professor!‘ […] ‚Sie schämen sich also‘, sagte er. ‚Wofür schämen Sie sich?‘ ‚Für alles. Für meine Beine. Für meinen Nacken. Für meine Schweißflecken unter den Achseln. Für mein Gesicht. Für mein ganzes Auftreten. Sogar zuhause, alleine unter meiner Bettdecke, schäme ich mich. Ich schäme mich für alles, was ich tue, habe und bin.‘“ (Seethaler 2013: 116ff.)

Diese Szene aus Seethalers Roman „Der Trafikant“ (ebd. 2013), in dem eine besonders leibesfüllige Patientin ihrem Tiefenpsychologen Prof. Dr. Freud ihre Scham über ihren Körper anvertraut, ist insofern interessant, als sie veranschaulicht, dass Schamgefühle sowohl in der Öffentlichkeit als auch im Privaten auftreten können – ja sogar, wenn man sich vollkommen alleine und für sich selbst unsichtbar unter einer Bettdecke befindet. Schämt man sich wie Mrs. Buccleton für alles, was man tut, hat und ist, scheint keine Öffentlichkeit notwendig zu sein, um das Gefühl von Scham zu erregen. Hat Scham also eher damit zu tun, was wir von uns selbst halten, wohingegen Peinlichkeit sich mehr auf das Bild, das wir vor anderen abgeben, bezieht? Hallemann schlägt folgende Unterscheidung von Peinlichkeit und Scham vor, die dazu dienen kann, beide Emotionen voneinander zu differenzieren: „Bei der Scham werden Normen verletzt, mit denen das ‚Ich‘ sich bis ins letzte identifiziert, bei der Peinlichkeit bloß Anstandsregeln, denen sich das ‚Selbst‘ wohl oder übel unterordnet. Deshalb ist auch die Öffentlichkeitskomponente bei der Peinlichkeit viel stärker als bei der Scham: Wer sich schämt, fühlt sich als schlechter Mensch, er ist deprimiert und niedergeschlagen, wer peinlich berührt ist, fürchtet, daß er in den Augen der anderen ein schlechtes Beispiel abgegeben haben könnte, er fühlt sich lächerlich (foolish), entblößt, zur Schau gestellt und vereinzelt.“ (Hallemann 1990: 26f.)

Bei Schamgefühlen ist der Bezug zu unserem individuellen Selbst als „Ich“ mit seinen zentralen Werten also enger als bei Peinlichkeitsgefühlen. Zugleich macht Hallemanns Unterscheidung plausibel, weshalb wir uns vor uns selbst schämen, aber

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nicht in gleicher Weise vor uns selbst peinlich berührt sein können: Peinlichkeit kann man zwar auch im Privaten empfinden, jedoch bezieht sie sich stets auf eine (vorgestellte) Öffentlichkeit. Dass Peinlichkeit diese Öffentlichkeitskomponente besitzt, lässt sich durch die Notwendigkeit der Bezugnahme auf sie aufzeigen: Bei Peinlichkeitsgefühlen im Privaten rekonstruiert man entweder andere Meinungen oder Fremdeindrücke (z.B., wenn man im Nachgang eines Gespräches erfährt, dass man etwas Unpassendes zu seinem Gesprächspartner gesagt hat27) oder man nimmt sie vorweg (z.B., wenn man versehentlich eine private E-Mail an den Firmenverteiler verschickt hat). Das heißt, dass Peinlichkeitsempfindungen zwar an Öffentlichkeit gebunden sind, diese Öffentlichkeit aber nicht als reale, sondern „nur noch als Bewußtseinszustand definiert zu werden braucht: Wer mitten in einer geselligen Runde selbstversunken seinen Gedanken nachgeht, entwickelt privates Selbst-Bewußtsein, wer, bevor er sich mit einem Geschäftspartner treffen will, allein zuhause in den Spiegel schaut, ob die Krawatte auch richtig sitzt, ist in diesem Moment auf sein öffentliches Selbst fixiert […].“ (Hallemann 1990: 11)

Für kritische Selbstbewertungen des öffentlichen Selbst sind demzufolge nicht objektive Situationsumstände ausschlaggebend, sondern die Frage, auf welche spezifischen Komponenten des Selbstbildes man fokussiert ist und aus welcher spezifischen Perspektive man diese bewertet. Dies möchte ich anhand Kerstin Kempkers Kurzgeschichte „Der Himmel kann bleiben“ (Kempker 2005) beispielhaft veranschaulichen: Wilfried wurde in seiner Firma kürzlich zum Leiter befördert und lädt seine neuen Arbeitskollegen aus diesem Anlass zu einem „kleinen Imbiss“ zu sich ein. Am Morgen des Besuchstages stellt er sich nun vor, wie seine Gäste sein Zuhause wohl wahrnehmen und bewerten werden, was dazu führt, dass lieb gewordene Einrichtungsstücke, ja sogar seine geschätzte Frau, urplötzlich zu Objekten der Peinlichkeit werden.

27 Ein entsprechendes Erlebnis schildert die Autorin und Filmemacherin Doris Dörrie: Bei der Verleihung des Bundesfilmpreises 1995 unterhält sie sich mit einem Herrn. „Sehr fachmännisch hat er über meinen Film gesprochen. Ich habe mir den Kopf zermartert, wer er sein könnte. Er sah aus wie ein Filmproduzent, ein stattlicher älterer Herr. Aber ich bin einfach nicht drauf gekommen, wer er war. Da habe ich ihn gefragt: ‚Welchen Film produzieren Sie denn gerade?‘ Er hat ein bisschen gestutzt und dann gesagt: ‚Ja, ich wäre auch ganz gerne Filmproduzent. Die Welt des Films würde mir gefallen.’ Später stellte sich heraus, es war Roman Herzog. Als ich das erfuhr, war mir das irrsinnig peinlich.“ (Dörrie in Schnippenkoetter 2004: 43)

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„Die Küche, in der sie seit mehr als zwanzig Jahren morgens gemeinsam frühstücken, sein liebster Ort im Haus ist an diesem Morgen zu eng für ihn. Schrömmelig, kleinkariert, Wilfried öffnet das Fenster. Er sucht nach dem passenden Wort, nach einer Erklärung für Marga, die ihr Brötchen kauend – kaut sie immer mit halb geöffnetem Mund? – interessiert seinen Bewegungen folgt. Marga, möchte er ihr zurufen, das Ganze ist doch eine Zumutung. Die halbe Firma kommt, um mir zu gratulieren, auch die von ganz oben, und ich führe sie in diese fettige, vollgepfropfte Küche und stelle ihnen ein Pferd vor. Gut, die Küche kann außen vor bleiben, ich führe sie ins Wohnzimmer. Wilfried tritt ins kombinierte Wohn-Esszimmer, akzeptiert den Kronleuchter, warum nicht, Anrichte und Esstisch muss man abräumen, weg mit den Staubfängern, dann geht das, muss ja. Die Polstergarnitur […], diese gemütliche Sitzecke, die zum Versinken in verblichene Blumen einlädt, lässt Wilfried an Friedhof und Schlafzimmer denken. Es ist etwas Unanständiges, zutiefst Intimes, was sich da vor ihm nackt, zerknautscht und schmuddelig ausbreitet und hinunterwabert auf den Teppichboden. Schwarze Punkte tanzen vor Wilfrieds Augen, die Ruhe suchen und sich schließen wollen. Er schafft es gerade noch auf die Terrasse […]. Ich mach mich doch nicht zum Narren. Wilfried denkt sich stark und schlüpft in die Haut seines Chefs, nickt dem Baldeneysee gnädig zu, plustert sich ein wenig auf, wirft den Kopf in den Nacken und fällt auf seinem Weg in die Küche knappe Urteile über das Lächerliche auf seiner Strecke. […] Er wagt einen zweiten Blick auf die gemütliche Sitzecke, über die er sich noch nie Gedanken gemacht hat, die jetzt aber so schmierig und abgeranzt vor ihm liegt, dass er sich nicht vorstellen kann, sich jemals wieder hineinzusetzen. […] Er sinkt in den Sessel, Kapitulation. Das ist nackig ausziehen, vorsingen, vortanzen, ein Gedicht aufsagen und öffentliche Beichte in einem. Kleiner Imbiss, dass ich nicht lache, die wollen mich fertig machen, die wollen sich amüsieren auf meine Kosten, Pferdewitze, Sofaschweinereien.“ (Kempker 2005: 254ff.)

Hier sind es allein die inneren Vorwegnahmen fremder Bewertungen noch abwesender Dritter über persönliche Einrichtungsgegenstände und das Benehmen seiner Ehefrau, die bei Wilfried Gefühle von Peinlichkeit, Ohnmacht und Verzweiflung auslösen. Die ungewohnte Betrachtungsweise eigener Selbstbildaspekte aus der Perspektive derer „von ganz oben“ führt bei ihm unweigerlich dazu, diese auch nach den vermeintlichen Kriterien derer „von ganz oben“ zu bewerten – die gemütliche Sofaecke assoziiert er mit Friedhof und Schlafzimmer, die geliebte Ehefrau mit einem tölpelhaften Pferd. Das Eindringen der Arbeitswelt in seine bis dato davon getrennte Sphäre des Häuslichen, die scheinbare Unvereinbarkeit von beruflichen Rollenerwartungen und Privatleben, empfindet Wilfried als öffentliche Bloßstellung, bei der er sich „nackig ausziehen, vorsingen, vortanzen, ein Gedicht aufsagen und öffentliche Beichte“ (ebd. 255) ablegen muss. Scham empfindet Wilfried für seine Frau und sein Zuhause jedoch nicht – sie sind ihm in der Außendarstellung vor einem spezifischen Publikum peinlich, doch verletzen sie keine Werte oder Normen, mit denen sein privates Selbst sich vollends identifiziert. Vielmehr geht es

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um die Frage seiner Außenwirkung, des Bildes, das er vor anderen abgeben möchte.28 Dass man sich schämt, involviert zwar ebenfalls häufig eine Bezugnahme zur Öffentlichkeit, setzt diese jedoch nicht notwendigerweise voraus – Scham erfordert lediglich eine Referenz zum internalisierten Anderen. Aspekte der eigenen Persönlichkeit werden mit internalisierten Werten und Idealen verglichen. Negative Diskrepanzen können Schamgefühle aktivieren. Schamphänomene lassen sich von Peinlichkeitsphänomenen also dadurch abgrenzen, dass die Öffentlichkeitskomponente für erstere keine notwendige Bedingung darstellt. Daher kann man sich auch für Dinge schämen, bei denen man davon überzeugt ist, dass keiner je etwas von ihnen erfahren wird, denn „schämen können wir uns […] auch alleine, wenn andere gar nichts von unserem Versagen wissen – die Scham ist ausschließlich eine Frage der Selbstbewertung“ (Saehrendt 2012: 43). Bei Peinlichkeit hingegen kommen in irgendeiner Weise immer situative Komponenten hinzu, die die Außenperspektive betreffen. Dementsprechend empfindet Scham, „wer gegen eine Norm verstößt, die er innerlich akzeptiert. Der Verstoß beschädigt das Bild, das er von sich selber hat. Das plötzliche Gewahrwerden dieser Beschädigung unterliegt, wenn sie einmal eingetreten ist, nicht mehr seiner Kontrolle. Es überläuft ihn heiß, er möchte im Boden versinken, und das geschieht ganz unabhängig davon, ob es Zeugen gibt. Man kann sich fürchterlich eines Fehltritts schämen, den niemand bemerkt. Peinlichkeit hingegen braucht Zeugen. Dass ich völlig verkatert bin, kann meine Scham erregen (wenn ich mich an die zurückliegende besoffene Tölpelei erinnere), es wird aber erst dann peinlich, wenn mich der Nachbar aus dem Bett klingelt und meinen Zustand erblickt.“ (Greiner 2011: 3)

Scham resultiert aus einer Beschädigung des Selbstbildes, sie entsteht, weil gegen internalisierte Normen verstoßen wurde. Doch auch bei Peinlichkeitsgefühlen kommt es zu einer Beschädigung des Selbstbildes. Hier kann das Bild, welches man von sich selbst als individueller Persönlichkeit hat („core self“), vom Selbstbild, das man bei der situativen Darstellung vor anderen entwirft („presented self“) differenziert werden (vgl. Modigliani 1968; Lewis 1995). Scham bezieht sich grundlegend

28 So sagt er zu seiner Frau Marga: „Und es muss wirken wie ein Klacks. Weißt du, alles muss ganz normal aussehen, bloß nicht angestrengt, locker. Locker ist ein Muss! Blitzblanke Gläser, die geschliffenen, klar, aber nicht in Reih und Glied. Das Silber von Mutter, raus aus dem Samtfutteral und einfach in die Besteckschublade. Keine Tischdecke, zumindest nicht weiß, verstehst du das Prinzip? Irgendwie Alltag, ganz normal, nur halt gehobener. […] Es ist ein Test. Klar, dass die nur jemand zum Leiter machen, der sich auf diesem Parkett auch zu bewegen weiß.“ (Kempker 2005: 256)

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auf das „core self“, Peinlichkeit auf das „presented self“ – Wilfried schämt sich nicht für sein Privatleben, vielmehr widerspricht es seinen situativen Selbstdarstellungsansprüchen vor einem spezifischen Beobachterkreis. Daher hat Scham auch weniger damit zu tun, vor anderen einen schlechten Eindruck zu machen, als vielmehr damit, den Wert seiner Persönlichkeit herabgesetzt zu sehen. Ob aus externer Perspektive ein moralisches Vergehen oder ein bloßer Konventionsbruch vorliegt, spielt dabei keine Rolle; entscheidend ist, welcher innere Bezug sich beim Betroffenen aktiviert. „Peinlichkeit beschädigt die situative Fremddarstellung, Scham das normative Selbstbild. Peinlichkeit stellt sich auf die Verletzung konventioneller Normen ein, Schamgefühle betreffen die Verletzung konventioneller Normen zwar auch, allerdings nur dann, wenn in ihnen wertgebundene, evaluative Elemente enthalten sind. Peinlich sein oder verlegen machen kann auch die positive Hervorhebung der eigenen Person […], schämen tut man sich in der Regel darüber nur, wenn die positive Hervorhebung auf Täuschung beruht, damit also wieder das normative Selbstbild berührt wird.“ (Neckel 1991: 108)

Es kommt also darauf an, ob wir etwas eher als Verletzung normativer Selbstansprüche oder eher als Verletzung situativer Rollenansprüche bewerten. Beides kann in peinlichen Situationen durchaus zusammenfallen, wenn das gezeigte Verhalten sowohl situative Ansprüche der Selbstdarstellung als auch normative Ansprüche der Persönlichkeit verletzt. Die Struktur der Schamemotion lässt sich entsprechend diesen Betrachtungen beschreiben als eine Betonung des Ichs bei gleichzeitiger Herabsetzung gegenüber einem normativen Ich-Ideal. Diese Idee findet sich bereits bei Simmel: „Will man das besonders Peinigende des Schamgefühls in abstrakten Begriffen auseinanderlegen, so scheint es in dem Hin- und Hergerissenwerden zwischen der Exaggeration des Ich, dadurch, daß es ein Aufmerksamkeitszentrum ist, und der Herabsetzung zu bestehen, die es in seinem gleichzeitigen Manko gegenüber der vollständigen und normativen Idee seiner selbst fühlt.“ (Simmel 1983:142)

Bei Schamgefühlen kommt es zu einer negativen Diskrepanz zwischen aktuellem Selbst und persönlichem Selbstideal. Dass die von Simmel beschriebene Exaggeration des Ichs auch in der Aufmerksamkeit des internalisierten Anderen, d. h. der eigenen bestehen kann, wird an späterer Stelle seiner Überlegungen deutlich: „Das äußere Vehikel bleibt immer die Aufmerksamkeit anderer, die freilich durch eine Spaltung unser selbst in ein beobachtendes und beobachtetes Teil-Ich ersetzt werden kann. Indem unsere Seele die mit nichts vergleichbare, ihr ganzes Wesen bestimmende Fähigkeit hat, sich selbst gegenüberzutreten, sich selbst zum Objekt zu werden, kann sie in sich selbst Verhält-

40 | P EINLICHKEIT – FORMEN UND F UNKTIONEN nisse darstellen, die zwischen den Wesen außer ihr und ihr selbst als einem Ganzen bestehen. In unzähligen Beziehungen sondern wir gleichsam einen Teil unser ab, der das Urteil, das Gefühl, den Willen anderer uns gegenüber vertritt. Wie wir uns überhaupt beobachten, beurteilen, verurteilen, wie Dritte es tun, so verpflanzt sich auf jene zugespitzte Aufmerksamkeit anderer, an die sich das Schamgefühl knüpft, in uns selbst hinein. Wie vermittels einer parlamentarischen Repräsentation der sozialen Gruppe in uns selbst, empfinden wir uns selbst gegenüber so, wie wir von vornherein nur anderen gegenüber empfinden. Daher können wir die innere Lage, die sonst durch die Aufmerksamkeit anderer in uns zustande kommt, rein immanent zum Anklingen bringen und uns so vor uns selbst schämen.“ (Ebd. 145)

Simmel erläutert in dieser Hinsicht sehr plastisch, inwiefern es nicht äußere Situations- oder Handlungsmerkmale sind, die zu Schamgefühlen führen, sondern die subjektiven Bezüge, die betroffene Individuen zu sich selbst herstellen: „Deshalb scheint auch ganz im allgemeinen Scham nur dann einzutreten, wenn die irgendwie herabsetzende oder peinliche Situation den ganzen Menschen und nicht nur ein lokalisiertes Interesse betrifft: Ein Loch im Ärmel wird ein Knabe etwa aus Furcht vor Strafe und der proletarische Anwärter auf eine Anstellung aus Besorgnis, daraufhin zurückgewiesen zu werden, verbergen; beiden ist das Loch aus jenen Gründen sehr unangenehm, aber sie schämen sich dessen nicht eigentlich. Wohl aber tut dies ein heruntergekommener Mann, der mit einem Loch im Ärmel einem ehemaligen Bekannten begegnet. Denn er empfindet jetzt seine ganze Persönlichkeit mit allem Inhalt, den die Vergangenheit ihr gegeben hat, in die Aufmerksamkeit des Begegnenden gerückt und zugleich, dass sein momentanes Ich gegen diese Vorstellung gehalten, verringert und herabgesetzt ist.“ (Ebd. 143)

Simmels Beispiel lässt sich dabei leicht auf unsere heutige Zeit übertragen: So ließe sich „modern gesprochen“ sagen, dass ein Billiganzug von der Stange seinem Träger in einem Vorstellungsgespräch bei einem Designerlabel-Unternehmen vielleicht peinlich sein könnte, derselbe sich für diesen Anzug in einer anderen Situation, etwa bei einem Klassentreffen, bei dem all seine ehemaligen Klassenkameraden in eleganten Maßanzügen erscheinen, zudem auch schämen könnte. Voraussetzung dafür ist freilich, dass er seinen Anzug als zu ihm gehörendes Zeichen von etwas ansieht, das in Diskrepanz zu seinem Ich-Ideal steht. Orientiert man sich bei diesen Emotionsbeschreibungen am Begriff des dramaturgischen Handelns, lässt sich die Unterscheidung von Peinlichkeit und Scham durch die Differenzierung zweier Selbstdarstellungshaltungen – Expression der eigenen Innenwelt vs. Manipulation der Außenwelt – nachzeichnen: „Dramaturgisches Handeln ist […] grundsätzlich auf die authentische Darstellung der eigenen Subjektivität vor anderen orientiert und kann im Falle seines Scheiterns als Zurückweisung eben dieser authentischen Subjektivität erlebt werden. Da ein Akteur in der Expression seiner

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Innenwelt Ansprüche auf Anerkennung seiner Identität anderen gegenüber gleich mitformuliert, legt eine Mißachtung hier die Voraussetzung zur Scham. Nimmt ein Akteur von vorneherein die Haltung der ‚aufrichtigen Kommunikation seiner Absichten, Wünsche, Stimmungen‘ jedoch gar nicht erst ein, tritt in seiner dramaturgischen Orientierung nicht die Expression seiner Innenwelt, sondern die Manipulation der Außenwelt in den Vordergrund […] Innerhalb des dramaturgischen Handelns basiert Scham auf der Missachtung expressiver Subjektivität, Peinlichkeit auf der Entdeckung und Verwerfung einer inadäquaten Expressivität. Beides muss nicht, kann aber in peinlichen Situationen zusammenfallen […].“ (Neckel 1991: 115)

Diese Differenzierung macht deutlich, weshalb gerade Personen des öffentlichen Lebens, deren zugeschriebene Rolle nur allzu oft die künstliche Unterdrückung der eigenen Innenwelt zugunsten einer wirksamen, rollengerechten Selbstinszenierung erfordert (den „Bluff“), so gefährdet für Peinlichkeit sind. Denn „[w]er zum ‚Bluffen‘ gezwungen ist, riskiert immer schon, von der Peinlichkeit einer Entdeckung eingeholt zu werden. Ob er sich dessen auch schämt, hängt von dem Ausmaß ab, in dem ihm die verlangte Ausübung seiner Berufsrolle Teil seiner Selbstidentifikation geworden ist oder aber seinem normativen Selbstbild gerade widerspricht.“ (Ebd. 117) Dass Scham entgegen verbreiteten Ansichten allerdings nicht unbedingt etwas mit moralischen Verstößen zu tun haben muss (vgl. Landweer 1999), wird bereits dadurch deutlich, dass man sich, wie im Beispiel der beleibten Patientin Mrs. Buccleton, auch für außermoralische Fehler und Mängel schämen kann. Gerade körperliche „Mankos“ sind heutzutage nicht selten Objekte der Scham, da Individuen in besonderer Weise dazu neigen, wertgebundene, normative Selbstansprüche an ihr körperliches Erscheinungsbild zu stellen.29

29 Hecht konstatiert in diesem Zusammenhang: „Zur intakten Kleidung muss der intakte Körper hinzukommen: Früher kümmerte man sich mehr um die Fassade, dem Körper dahinter wurde nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt. Im Bürgertum des 19. und 20. Jahrhunderts war ein nicht standesgemäßer Auf- beziehungsweise Anzug peinlich. Der Körper, der darin steckte, war noch nicht Objekt der sozialen Scham.“ (Hecht 2009: 50) In unserer modernen und vermeintlich „schamlosen“ Gesellschaft scheinen sich hingegen erschreckend viele, vor allem junge Menschen ihrer körperlichen Erscheinung im Hinblick auf gesellschaftlich verbreitete Ideale makelloser Körper zu schämen. Dementsprechend ist die Frage, wie man sich in der Öffentlichkeit zu kleiden hat, oft weniger bedeutend als die, ob man eine bestimmte Kleidung mit seiner Figur tragen kann. Denn während makellose Körper sich relativ bedenkenlos in freizügiger Weise exponieren können, gilt es, das Unschöne, die Makel und Problemzonen geschickt zu kaschieren und zu verstecken. Entsprechende Gegentrends (dass z.B. gerade Übergewichtige sich beson-

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Wie diese Unterscheidungsmerkmale von „Peinlichkeit“ und „Scham“ analytisch angewendet werden können und inwiefern der bisher skizzierte Peinlichkeitsbegriff noch zu konkretisieren ist, soll anhand eines Beispiels verdeutlicht werden: Um ihre Unterscheidung von „Peinlichkeit“ und „Scham“ zu plausibilisieren, analysiert Pernlochner-Kügler den Fall einer klassisch peinlichen Situation: Einem Lehrer entweicht vor seiner Klasse ein lautstarker Furz. Die Schüler kichern verlegen, der Lehrer errötet – doch was ist hier wem peinlich und wer schämt sich gar? „Im Beispiel, in dem ein Lehrer versehentlich furzt, sieht man, dass der Lehrer sich schämt und dass ihm die Situation peinlich ist. ‚Gefühlsmäßig‘ wird er die beiden Phänomene ‚Peinlichkeit‘ und ‚Scham‘ nicht trennen können – er hat ein Gefühl. […] Analytisch kann man jedoch sagen, dass Peinlichkeit ein Gefühl ist, das sich auf die Situation – das Äußere bezieht: ‚Das (die Situation, das Geschehen, der Furz in der Öffentlichkeit) ist mir aber peinlich!‘ Scham hingegen bezeichnet das Gefühl jener Person, welche die peinliche Situation ausgelöst hat. Mit anderen Worten: Aus der Perspektive der sich schämenden Person kann man sagen: ‚Ich schäme mich und diese Situation ist mir jetzt peinlich.‘ Dem Lehrer, der einen fahren lässt, ist die Situation peinlich (Außenperspektive), und er schämt sich als ganze Person (Innenperspektive). Scham ist also ein Gefühl, das sich auf die auslösende Person (rück)bezieht: Im Satz ‚Ich schäme mich‘‚ schaut das ‚Mich‘ dieses ‚Ich‘ an. Das ‚Ich-mich‘ drückt Selbstreflexion aus. Das Gefühl der Peinlichkeit bezieht sich hingegen auf die äußeren Umstände, auf die Situation. Peinlich kann nur eine Situation sein. Die auslösende Person ist nicht peinlich, sie schämt sich. Aber sie hat trotzdem nur ein Gefühl. […] Bezeichnend für eine peinliche Situation ist der Umstand, dass die Situation nicht nur für die sich schämende Person sehr unangenehm ist, sondern auch für den oder die anderen, welche involviert sind. Der Furz ist nicht nur dem Lehrer peinlich, sondern auch der Klasse. Die Klasse schämt sich aber nicht. Sie ist in der peinlichen Situation – nimmt aber die Außenperspektive ein, weil sie die Situation nicht verursacht hat. […] Das Gefühl der Peinlichkeit kann also ohne Schamgefühl auftreten, wenn man selbst nicht der Auslöser der Situation ist. Scham und Peinlichkeit sind demnach zwei unterschiedliche Gefühle.“ (Pernlochner-Kügler 2004: 37f.)

Hier wird abermals deutlich, dass die innere Bezugnahme des Betroffenen das maßgebliche Kriterium für die Unterscheidung von Peinlichkeit und Scham darstellt und sich Scham auf die ganze Person bezieht, Peinlichkeit durch ihre Öffentlichkeitskomponente hingegen mehr darauf, wie man anderen situativ erscheint.

ders körperbetont oder freizügig kleiden) widerlegen diesen Bewertungsmaßstab nicht, sondern bestätigen ihn vielmehr, wenn man sie als Ausdruck eines Selbstbildes versteht, das sich zur Gruppe derjenigen zählt oder zumindest zählen möchte, die ihre Körper stolz „zeigen können“ und „nicht verstecken müssen“.

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Bezeichnend ist in diesem Fall, dass auch die Schüler peinlich berührt sind, obgleich sie sich doch keine Gedanken darüber machen müssen, wie sie gerade auf andere wirken. Das Beispiel zeigt, dass Peinlichkeitsgefühle keineswegs nur denjenigen befallen, dem etwas Ungewolltes passiert ist, sondern zugleich jene, die notgedrungen zu den Zeugen eines solchen Vorfalles werden – auch ihnen kann die Situation peinlich sein. Ein Konzept von Peinlichkeitsgefühlen darf sich also nicht darauf beschränken, sie als Mangel oder Beschädigung der situativen Eigendarstellung zu verstehen, sondern muss auch jene Fälle erfassen können, in denen Peinlichkeitsgefühle beim Betroffenen durch fremde Fauxpas, Taktlosigkeiten etc. entstehen. Solche Peinlichkeitsgefühle kann die Betrachtung von Peinlichkeit als Emotion, die stets in einer negativen Bewertung der persönlichen situativen Selbstdarstellung besteht, jedoch nicht erfassen. Hier gilt es folglich, den Begriffskreis zu erweitern. Zugleich ist Pernlochner-Küglers Beispiel deshalb interessant, weil sie in ihrer Analyse eine Behauptung mit weit reichenden Konsequenzen vornimmt: Sie schlussfolgert, dass man bei Scham im Gegensatz zu Peinlichkeit stets selbst der Auslöser der unangenehmen Situation sei („Scham ist also ein Gefühl, das sich auf die auslösende Person (rück)bezieht […] Das Gefühl der Peinlichkeit kann also ohne Schamgefühl auftreten, wenn man selbst nicht der Auslöser der Situation ist.“, ebd. 38). Diese Behauptung trifft meines Erachtens nicht unbedingt zu. Entscheidend für das Gefühl der Scham ist, ob und nicht wie es zu einer negativen Diskrepanz zwischen Ich und Ich-Ideal kommt. Der Lehrer im obigen Beispiel schämt sich ja nicht deshalb, weil er die peinliche Situation auslöst, sondern weil der Auslöser einen von ihm subjektiv schambelegten Sachverhalt betrifft, der nicht nur seine Erscheinung, sondern für den Moment seine ganze Person erfasst (etwa als defizitäres Individuum, das höchst intime Körperfunktionen nicht unter Kontrolle hat und öffentlich exponiert). So wäre durchaus denkbar, dass sich ein anderer Lehrer in der gleichen Situation nicht schämen würde, sondern nur peinlich berührt oder verlegen wäre. Nehmen wir an, der Lehrer hätte nicht gefurzt, sondern ihm wäre ein anderes Versehen passiert und er hätte einen Schüler beim falschen Namen genannt – z.B. einen Jungen mit Mädchennamen angesprochen. Dies hätte ebenfalls zu einer peinlichen Situation führen können. Dass der Lehrer sich als Auslöser dieser Situation zwangsweise auch schämen würde, erscheint mir unwahrscheinlich. Er könnte sich für sein Versehen natürlich sehr wohl unter bestimmten Voraussetzungen schämen, die allerdings nichts damit zu tun haben, dass er die peinliche Situation auslöst, sondern vielmehr damit, dass er seinen Versprecher irgendwie als Ausdruck seines defizitären Selbst ansähe, etwa als Zeichen seiner fortschreitenden Zerstreutheit. Dass es in diesem Zusammenhang nicht darauf ankommt, wer eine unangenehme Situation auslöst, zeigt sich auch daran, dass ein Schüler, der sich vor seiner Klasse durch eine Äußerung seines Lehrers bloßgestellt fühlt, etwa durch eine ab-

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wertende Bemerkung über seine Eltern, nicht nur peinlich berührt darüber sein, sondern sich dessen auch schämen könnte, ohne dass er selbst die peinliche Situation ausgelöst hätte. Weiterhin müssen Schamgefühle in interaktiven Kontexten nicht zwangsläufig eine „peinliche Situation“ im Sinne Pernlochner-Küglers auslösen, nach der für eine solche der Umstand bezeichnend ist, „dass die Situation nicht nur für die sich schämende Person sehr unangenehm ist, sondern auch für den oder die anderen, welche involviert sind“ (ebd. 38). Vielmehr können Schamphänomene auch rein innere Verletzungen darstellen, wie Friedmann es in seiner Kurzgeschichte „Vaterscham“ (Friedmann 2005) nahelegt: „Ich schämte mich, sehr sogar, alle Jahre wieder schämte ich mich, ein wiederkehrendes Ritual des Schämens am Anfang eines neuen Schuljahres. Vermutlich schämte sich außer mir niemand in der Klasse. Ich weiß es nicht, weil ich niemals mit jemandem darüber gesprochen habe. In meinen Augen hatten die anderen keinen Grund sich zu schämen. Die Tätigkeiten ihrer großen Väter konnten sie schamlos aussprechen. Ich schämte mich für meinen kleinen Vater, schämte mich für seinen Beruf, den ich gezwungen war zu nennen, alle Jahre wieder, laut vor der Klasse, damit der Klassenlehrer ihn ins Klassenbuch eintragen konnte.“ (Ebd. 76)

Hier ist die Situation allenfalls dem Schüler selbst peinlich, der sich dafür schämt, den Beruf seines Vaters (als Werkzeugmacher) laut nennen zu müssen, doch nicht den anderen Situationsbeteiligten, für die ja gar kein Anlass besteht, peinlich berührt oder verlegen auf diese Berufsnennung zu reagieren. „Scham“ und „Peinlichkeit“ lassen sich nicht primär, wie Pernlochner-Kügler behauptet, im Hinblick darauf unterscheiden, wer Auslöser und wer nur Zuschauer der unangenehmen Situation ist. Vielmehr ist Peinlichkeit und Scham gemeinsam, „dass sie auf Normverstöße reagieren, die eigene sein können, aber nicht müssen. Da einem aber eigene Normverstöße auch bloß peinlich sein können, anstatt Scham auszulösen, kann das Gefühl der Peinlichkeit nicht als Komplementärreaktion auf die Scham anderer aufgefasst werden. Dafür, dass eine Situation als peinlich empfunden wird, ist es verhältnismäßig zweitrangig, ob man selbst oder jemand anderes die Peinlichkeit ausgelöst hat oder ob überhaupt jemandem die Verantwortung dafür zugeschrieben werden kann, wie etwa bei einer ‚unverschuldeten‘ Verspätung.“ (Landweer 2001: 290)

„Scham“ und „Schamhaftigkeit“ An dieser Stelle ist eine weitere Differenzierung des Schambegriffes sinnvoll, denn das Wort „Scham(gefühl)“ hat im Deutschen eine grundlegend doppelte Bedeu-

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tung30: So sprechen wir sowohl von „Scham“, wenn wir das menschliche Schamgefühl als innere Hemmung, bestimmte Werte des Selbst zu verletzen, meinen, als auch von „Scham“ als einem konkreten Gefühl, das sich auf eine solche Verletzung hin einstellt.31 Der Schambegriff besitzt folglich zwei komplementäre Seiten: Scham bewahrt den Menschen einerseits davor, bestimmte Tabus zu brechen und Grenzen zu überschreiten, aktiviert sich andererseits, wenn genau das geschieht. Auch Neckel stößt bei seiner soziologischen Schamanalyse auf diese Dichotomie des Schambegriffes: „‚Scham‘ hat im Sprachgebrauch eine mehrfache Bedeutung, was auch darin zum Ausdruck kommt, daß ‚Scham‘ und ‚Schande‘ eng verwandt sind. Das althochdeutsche ‚scama‘, dessen Herkunft etymologisch ungeklärt ist, bedeutete ursprünglich Beschämung und Schande, meinte aber auch: das Schamgefühl. Die Differenz zwischen beidem schlägt sich auch in anderen Sprachen in zwei voneinander getrennten Begriffen nieder. Das Französische z.B. kennt ‚pudeur‘ und ‚honte‘, die Griechen unterschieden ‚aidos‘ und ‚aischyne‘.“ (Neckel 1991: 18)

Im Deutschen treffen wir dieselben Unterscheidungen zwar begrifflich, bezeichnen aber alltagssprachlich beide Bedeutungsmöglichkeiten mit „Scham“ oder „Schamgefühl“, sodass z.B. Sätze wie „Das Gefühl der Peinlichkeit kann also ohne Schamgefühl auftreten […].“ (Pernlochner-Kügler 2004: 38) eine doppelte Bedeutung bekommen. Zwar ist meist dem jeweiligen Kontext zu entnehmen, auf welchen Begriff jeweils referiert wird, doch empfiehlt es sich, mögliche Unklarheiten zu vermeiden, indem man die jeweilige Bedeutung durch verschiedene sprachliche Bezeichnungen ersichtlich macht. In der wissenschaftlichen Literatur wird z.B. von „behütender Scham“ im Sinne von „pudeur“ und „verbergender Scham“ im Sinne von „honte“ gesprochen (vgl. Straus 1960), um die begrifflichen Unterscheidungen auch sprachlich zu verdeutlichen. Im Folgenden möchte ich „Schamhaftigkeit“ als die Hemmung, bestimmte Werte und Tabus zu verletzen, von „Scham“ als einem der Gefühle, das sich aktiviert, wenn eine solche Verletzung eintritt, differenzieren.

30 Der Duden unterscheidet sogar vier Bedeutungen von „Scham“: Neben den beiden Bedeutungen „Schamgefühl“ (Duden Online 2013) und „durch das Bewusstsein (besonders in moralischer Hinsicht) versagt zu haben, durch das Gefühl, sich eine Blöße gegeben zu haben, ausgelöste quälende Empfindung“ (ebd.) werden noch „(selten) Schamröte“ (ebd.) sowie „(gehoben verhüllend) Schamgegend“ (ebd.) aufgeführt. 31 Schon Simmel beklagt sich darüber, dass „die Erscheinungsweisen, die unsere Redeweise in den Bereich des Schamgefühls einstellt, […] so mannigfaltige und gegeneinander fremde [sind], daß man ihr Zusammengehören nur in der Gleichheit der sprachlichen Bezeichnung suchen möchte“ (Simmel 1983: 140).

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Peinlichkeit und Verlegenheit Orientiert man sich an den Definitionsmerkmalen der Lexika, referiert „Peinlichkeit“ auf das Peinlichkeitsgefühl bzw. die Situation, in der es auftritt, „Verlegenheit“ hingegen auf den besonderen inneren und äußeren Zustand bzw. die Lage des von einer peinlichen oder unangenehmen Situation Betroffenen. Während „Peinlichkeit“ sowohl als „das Gefühl, dass einem etwas peinlich ist“ (The Free Dictionary Online 2013), als auch als „eine Situation, die einem peinlich ist“ (ebd.), beschrieben wird, wird „Verlegenheit“ als „das Gefühl, dass man sich unsicher und hilflos fühlt, weil einem etwas sehr peinlich ist“ (ebd.) sowie als „eine Lage, die schwierig und unangenehm ist“ (ebd.) definiert. „Verlegenheit“ bezieht sich also mehr auf eine Störung und Hemmung des Verhaltens, sie ist eine „durch Befangenheit, Verwirrung verursachte Unsicherheit, durch die man nicht weiß, wie man sich verhalten soll“ (Duden Online 2013), während „Peinlichkeit“ eher bestimmte Situationsumstände und das Gefühl, das diese auslösen, bezeichnet. Auch Neckel erinnert an das Sprachverständnis, um zu verdeutlichen, dass „Peinlichkeit“ und „Verlegenheit“ unterschiedliche Phänomene bezeichnen, für die wir unterschiedliche Begriffe besitzen, wenngleich diese eng beieinander liegen (vgl. Neckel 1991: 107). Kann „Verlegenheit“ vielleicht als das Resultat von „Peinlichkeit“ angesehen werden, als Reaktion auf eine peinliche Situation, die den Betroffenen in eine unangenehme Lage bringt, die sich vor allem durch Verhaltensunsicherheit charakterisieren lässt? Diese Frage muss vorerst unbeantwortet bleiben, da noch zu wenig Klarheit darüber gewonnen werden konnte, was der Peinlichkeitsbegriff selbst beinhaltet, um bereits an dieser Stelle eine eindeutige Differenzierung von dem ihm ähnlichen Verlegenheitsbegriff vorzunehmen32. Die verschiedenen Definitionsmerkmale sollen zunächst als Indiz dafür gelten, von zwei unterschiedlichen Begriffen sprechen zu können, deren Verhältnis zueinander noch näher geklärt werden muss. Peinlichkeit und Schuld In Situationen, in denen uns Peinlichkeit widerfährt, fühlen wir uns manchmal zugleich auch schuldig – etwa, wenn wir eine schon lang getroffene Verabredung mit einem Bekannten vergessen haben, welcher zum vereinbarten Termin vergeblich auf uns warten musste. In solchen Fällen ist uns das Vergessen des gemeinsamen Termins peinlich, zugleich fühlen wir uns schuldig bei der Vorstellung, dass der

32 Diese Schwierigkeit hängt nicht zuletzt mit dem geschichtlichen Bedeutungswandel von „Peinlichkeit“ zusammen, die in ihrem heutigen Bedeutungsschwerpunkt das beinhaltet, was früher als „Verlegenheit“ bezeichnet wurde (vgl. Brugmans 1919; Hellpach 1913; Higuti 1925).

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andere sich z.B. den ganzen Tag freigehalten und zwei Stunden auf uns gewartet hat. Bei Peinlichkeits- und Schamgefühlen liegt der Fokus auf einer Bewertung des Selbst („Ich habe ihn vergessen.“), bei Schuld hingegen auf der Bewertung der Handlungen und Taten des Selbst („Ich habe ihn vergessen.“) bzw. auf den Konsequenzen dieser Aktivitäten (vgl. Lewis 1971). Während sich die Peinlichkeitsgefühle im Beispiel primär darauf beziehen, wie man selbst dasteht („Was muss der andere jetzt von mir denken?“), referieren die Schuldgefühle auf die Konsequenzen der eigenen Handlung bzw. Handlungsunterlassung für den anderen („Der Arme! Er hat dort wegen mir vergeblich warten müssen!“). Schuldgefühle stellen sich nur dann ein, wenn der Betroffene davon ausgeht, dass sein Handeln negative Folgen für andere hat oder zumindest haben könnte, die er aufrichtig anerkennt und die Bedauern oder Mitgefühl in ihm auslösen. Bei Peinlichkeit spielen negative Konsequenzen nur insofern eine Rolle, als man sie für sich selbst (sein Image) befürchtet. Die für die Intensität von Schuldgefühlen maßgeblichen Fragen sind, wer die Opfer des eigenen Tuns sind und wie groß der Schaden ist, der ihnen zugefügt wurde. Elementar bei Schuld ist die unabhängig von den tatsächlichen Handlungsumständen oder -möglichkeiten existierende „Gewissheit/Überzeugung, dass man hätte anders handeln ‚müssen‘“ (Roos 2009: 655), da sich die Handlungsergebnisse in Widerspruch zu den eigenen moralischen Sollwerten befinden (vgl. ebd.). Intentionalitäts- und Verantwortungsgrade in Bezug auf das eigene Handeln beeinflussen die Intensität von Schuldgefühlen und sind vor allem in strafrechtlichen und moralisch-öffentlichen Diskursen über „Schuldfragen“ maßgebliche Kriterien, sie führen beim betroffenen Akteur allerdings nicht zu einer Transformation von Peinlichkeit in Schuld. Für das mit Liebe ausgesuchte Geschenk, das beim Beschenkten nur Irritation und Befremden hervorruft, für die mit tiefer Überzeugung ausgesprochene, jedoch leider falsche Antwort, für die vermeintlich lustige Geburtstagsrede, über die niemand lacht, werden sich Betroffene nur dann schuldig fühlen, wenn sie davon ausgehen, zugleich auch andere dadurch in eine schlechte oder unangenehme Lage gebracht zu haben. „Verantwortlichkeit und Intentionalität tragen nicht zu einem ‚Wandel‘ von Peinlichkeit in Schuld bei, sondern beeinflussen vielmehr das Ausmaß der Peinlichkeitszuschreibung; und zwar sind planmäßig herbeigeführte bzw. absichtliche Verhaltensereignisse peinlicher als Widerfahrnisse oder Versehen.“ (Roos 1988a: 142) Die Zuschreibung von Verantwortlichkeit und Intentionalität führt dazu, dass ein öffentliches Versagen, Misslingen oder Scheitern nicht als Missgeschick oder Malheur erscheint, das jeden hätte treffen können, sondern als selbstverschuldeter

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Fehler33, durch den gewissermaßen das Zufallselement des Peinlichen eliminiert wird: Die Annahme, dass „so etwas doch jedem mal passieren könne“, wandelt sich zur Gewissheit, dass es eben nicht jedem passieren könnte, sodass das Verhalten stärker der Person und weniger der Situation zugeschrieben wird. Da die Unterscheidung von Schuld und Peinlichkeit von der Bewertung der jeweiligen Art des Normverstoßes (moralisch/außermoralisch) sowie der Klassifikation der Konsequenzen dieses Verstoßes (negative Folgen für andere/negative Folgen für Betroffenen selbst) abhängt, ist sie grundsätzlich kulturell variabel. Das lässt sich etwa daran ablesen, „dass Gesellschaften ohne Zentralinstanz zwischen schuldhaften (moralisch-ethischen) Verfehlungen und ‚unbeabsichtigten‘ Verstößen nicht unterschieden […]. Dann kann die Gefährlichkeit von Verbrechen und Fehltritt eine ähnliche sein, denn es handelt sich um magische Verfehlungen, also um eine wirklich substantielle und nicht nur ‚symbolische‘ Ordnungszerstörung.“ (Rehberg 2001: 433)

Was also im Einzelnen von Gesellschaften, Gruppen und Handlungsakteuren als moralisch-schuldhaftes Fehlverhalten oder als bloß peinlicher Fauxpas gewertet wird und inwiefern ein Regelverstoß als „negativ für andere“ angesehen wird (z.B. als Ehrverletzung, Familienschande, Götterbeleidigung etc.), ist keine feststehende objektive Unterscheidung, sondern richtet sich nach den jeweils vorherrschenden sozialen Deutungsmustern. So zeigen interkulturelle Studien beispielsweise, dass „the Ifaluk do not distinguish manners from morality, and that is reflected in their indigenous emotion clusters. Shame does not exist as a distinctive emotion, and whatever we comprehend under the concept is parcelled out into an anger cluster song and a fear cluster metagu [Herv. i.O.].“ (Harré 1990: 203) Peinlichkeit und Stolz Stolz teilt mit Peinlichkeits- und Schamgefühlen den Selbstbezug und die Selbstwertrelevanz, wird ansonsten jedoch als Komplementäremotion begriffen, da sie nicht in einer negativen Diskrepanz, sondern in einer positiven Deckungsgleichheit

33 Aus diesem Grunde ist es auch in der Regel besonders peinlich, wenn einem zwei Mal innerhalb kurzer Zeit dasselbe Missgeschick, z.B. das versehentliche Umstoßen eines Weinglases im Restaurant, passiert: Wird das erste Mal gemeinhin als rein zufälliges Missgeschick, das höflich übergangen wird, bewertet, setzt sich der Betroffene beim zweiten Mal bereits dem Verdacht des Makels aus, etwa, unvorsichtig oder tollpatschig zu sein. Der Betroffene muss dieses Urteil selbst nicht für zutreffend halten, es genügt seine Wahrnehmung, anderen einen solchen Eindruck zu vermitteln, um seine Peinlichkeitsgefühle zu intensivieren.

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mit den eigenen Idealen und Selbstansprüchen besteht. Der Öffentlichkeitsfaktor ist so wie bei Scham nicht erforderlich, wirkt sich aber verstärkend auf die Gefühlsintensität von Stolz aus. So kann man Stolz darüber empfinden, erfolgreich ein Möbelstück zusammengebaut zu haben, nicht mehr zu rauchen oder eine bestimmte Sportübung geschafft zu haben, auch wenn es hierfür keine Zeugen gibt oder geben wird, denn, „[d]ie Emotion Stolz resultiert aus Situationen der Zufriedenheit mit vollbrachten Handlungen. Sie entspringt der (subjektiven) Gewissheit, etwas Besonderes, Anerkennenswertes oder Zukunftsträchtiges für sich oder andere geleistet oder zumindest daran mitgewirkt zu haben. Stolz gilt als die selbstreflektive Reaktion auf einen Gewinn, eine vollbrachte Leistung, ein erreichtes Ziel […].“ (Roos 2009: 651)

Stolz empfinden wir aber nicht nur über Erfolge, die wir selbst vollbracht haben. Wir können auch stolz auf die Leistungen anderer sein, z.B. auf die guten Schulnoten der Tochter, den hohen Sieg der Lieblingssportmannschaft oder die Karriere des Partners, wenn wir davon ausgehen, auf irgendeine Art und Weise mit zum Erfolg beigetragen zu haben bzw. an ihm beteiligt gewesen zu sein oder uns der jeweiligen Person/Gruppe zugehörig oder verbunden fühlen. „Ein Gefühl des Stolzes auf andere, wie z.B. einen Freund, die Familie, Arbeitsgruppe oder Sportmannschaft stellt sich ein, wenn diese Menschen, denen man sich nah oder zugehörig fühlt, Erfolg haben. In der Regel basiert diese Form des Stolzes aber auf dem Gefühl, auch selbst etwas zu einem positiven Resultat beigetragen zu haben, und sei es durch das unterstützende, engagierte Anfeuern der bevorzugten Sportmannschaft.“ (Ebd. 651)

2.3.3 Peinlichkeit und Überraschung Da Peinlichkeitsgefühle sich typischerweise unerwartet einstellen, gibt es die Auffassung, Überraschung stelle ein zentrales Merkmal von Peinlichkeitsgefühlen dar. In der Tat scheinen klassisch peinliche Situationen durch ein solches Überraschungsmoment gekennzeichnet zu sein. So sind ein plötzliches Missgeschick, eine unerwartete fremde Taktlosigkeit, das jähe Gewahrwerden eigener Unzulänglichkeiten für den, der peinlich berührt darauf reagiert, überraschende Ereignisse, die er weder geplant noch antizipiert hat. Dennoch ist Überraschung ein nur begleitendes Merkmal vieler Peinlichkeitsphänomene und keine begriffsnotwendige Konstante, so wie es Harré auch für „embarrassment“ herausstellt: „Edelmann and Hampson (1979) placed great weight on the element of surprise in the genesis of embarrassment. It is the sudden exposure that embarrasses. To whom, though, is the sur-

50 | P EINLICHKEIT – FORMEN UND F UNKTIONEN prise germane – the person embarrassed, or the others, whose regard and attention, actual or potential, are the bothersome things? One way to tackle this is to consider surprise as relative to the degree of expectation of an event. It is the unexpected, rather than the merely sudden, that occasions surprise. Indeed, something that creeps on the audience quite slowly may be quite surprising. But not all surprises are embarrassing, as has been pointed out in criticism of Edelmann and Hampson. If the others are surprised by what one does or exposes, it is surely because they do not expect it. But what are they not likely to expect? Surely whatever violates the conventions appropriate to that kind of situation. It is not surprising to see someone take off his trousers in the changing room of a gym, so it is not an occasion for the kind of astonished regard that breeds embarrassment either in actor or audience. […] Surprise, then, is relevant only as a reflection that violations of current conventions on which both embarrassment and shame depend are unexpected.“ (Harré 1990: 190f.)

Das Überraschungsmoment in peinlichen Situationen bezieht sich grundlegend auf das Unerwartete, das bei Peinlichkeitsgefühlen oft eine begleitende und verstärkende Rolle spielt, aber keinen integralen Bestandteil darstellt. Manchmal weiß man bereits im Vorfeld, dass einem bestimmte Situationen peinlich sein werden, z.B., wenn man sich vornimmt, anderen etwas sehr Intimes oder Enttäuschendes zu offenbaren (etwa sich zu „outen“). Hier könnte man argumentieren, dass solche Offenbarungen zumindest für die anderen Situationsbeteiligten unerwartet seien. In anderen Fällen jedoch, z.B. bei einem unangenehmen Arzt- oder Krankenbesuch, von dem man weiß, dass dieser einem peinlich sein wird, stellen weder Überraschung noch unerwartete Ereignisse notwendige Bedingung für das Entstehen von Peinlichkeitsgefühlen dar. Dass gerade auch Antizipier- und Vorhersehbares sozialer Situationsabläufe als peinlich empfunden werden kann, zeigt folgender Erlebnisbericht des 52-jährigen Gerhard über seine alljährliche Geburtstagszeremonie für ihn im Büro: „Und wenn der Tag da ist, läuft er immer wieder gleich ab. In der Frühstückspause um 10 Uhr trifft man sich in seinem Büro, stößt mit Sekt an, und die versammelte Mannschaft begutachtet die alljährliche Platte mit Käse- und Wurstbrötchen. War ihm die Zeremonie bis dahin schon unangenehm, wird ihm die Übergabe des Geschenkes nun richtig peinlich: Die Dame vom Empfang überreicht ihm freudestrahlend ein liebevoll verpacktes Präsent, das er dann vor aller Augen auspacken muß. Die Kollegen schauen neugierig auf seine Reaktionen, obwohl jedes Jahr das gleiche geschieht.“ (Artel/Derksen 1999: 105f.)

2.3.4 Zusammenfassung Die vorangegangenen Betrachtungen dienten dazu, das Peinlichkeitsgefühl von ähnlichen Emotionen, vor allem von Scham, zu unterscheiden und erste charak-

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teristische Begriffsmerkmale herauszustellen: Peinlichkeit kann als selbst-bewusste Emotion betrachtet werden, die sich aktiviert, wenn Ansprüche an die öffentliche Selbstdarstellung des Betroffenen verletzt werden. Im Gegensatz zu Scham bezieht sich Peinlichkeit allerdings nicht auf eine Verletzung normativer Selbstideale der individuellen Persönlichkeit, sondern des vor anderen dargestellten öffentlichen Selbst. Das Selbst kann insofern auch Verhaltensweisen anderer Personen inkludieren, als der Betroffene sich für sie verantwortlich oder ihnen zugehörig fühlt (wie z.B. Ehefrau Marga bei Wilfried), mit ihnen nach der Terminologie Goffmans also ein gemeinsames „Ensemble“ bildet. Oft ist das Peinlichkeitsgefühl unerwartet, doch sind Überraschung bzw. unerwartete Ereignisse keine notwendigen Merkmale von Peinlichkeitsgefühlen. Mit diesen Überlegungen lässt sich allerdings noch keine überzeugende Begriffsbasis für Peinlichkeitsgefühle formulieren, da sich zeigte, dass nicht alle Peinlichkeitsphänomene auf selbstbilddiskrepanten Selbstdarstellungen basieren. Der Lehrerfurz ist den Schülern ja nicht deshalb peinlich, weil der Lehrer ein Teil ihres öffentlichen Selbstbildes wäre bzw. sie mit ihm gemeinsam ein Ensemble vor anderen bildeten. Vielmehr scheinen die Peinlichkeitsgefühle der Schüler darin begründet, dass sich Peinlichkeit über den eigenen Handlungsraum hinaus auf das Fehlverhalten anderer erstreckt (vgl. Pontzen 2005b: 37). Auch empirische Befragungen zeigen, dass Peinlichkeitsempfindungen nicht unbedingt etwas mit Verfehlungen der eigenen Selbstdarstellungen zu tun haben. So wird die Situation, im Zug eine Toilettentür zu öffnen, hinter der schon jemand sitzt, der vergessen hat, abzuschließen, von 55 Prozent der Befragten einer Studie als peinlich eingeschätzt, bei Freunden oder Bekannten in ein Zimmer zu treten, in dem sich gerade jemand umzieht, bewerten 50 Prozent der Befragten als peinlich (vgl. Institut für Demoskopie 1983). Darüber hinaus kommt es auch in Situationen, in denen niemand etwas falsch macht, zu Peinlichkeitsgefühlen, z.B., „wenn man mit Oma oder Schwiegermutter einen Film sieht, in dem plötzlich eine Sexszene vorkommt. Hektisch umschalten oder hoffen, dass es schnell vorbeigeht? Oder möglichst gleichgültig tun?“ (Saehrendt 2012: 23) Auch Kontexte, in denen Exponierungen grundlegend positiver Natur sind, können als peinlich empfunden werden. Um dieses Gefühl zu rationalisieren, führen Betroffene zwar gern irgendwelche Begründungen und Argumente für ein „angebliches“ Fehlverhalten an. Dass diese Argumente jedoch oftmals nur Scheinargumente sind, zeigt bereits eine etwas genauere Analyse der jeweiligen Situation. „Um unser Gefühl zu rationalisieren, suchen wir im Nachhinein nach einem Anlass für eine negative Selbsteinschätzung. Ein Beispiel für eine solche Verlegenheit [...] ist es, wenn jemand an seinem Geburtstag von seinen Kollegen durch ein Ständchen überrascht wird, obwohl eigentlich ein Übereinkommen galt, Geburtstage nicht zu feiern. Dieses ‚Geburtstags-

52 | P EINLICHKEIT – FORMEN UND F UNKTIONEN kind‘ wird höchstwahrscheinlich Verlegenheit empfinden und auf die Frage, warum es ihm peinlich sei, antworten, das habe es doch gar nicht gewusst, es habe ja auch gar keinen Kuchen oder Sekt dabei, andernfalls habe es sich doch ein bisschen schick gemacht usw. Es fällt nicht schwer, sich in diese Lage zu versetzen und weitere Gründe zu nennen, warum das alles peinlich wäre – aber im Grunde ist bei all diesen nachträglichen Begründungen nichts dabei, was sich der Jubilar ernsthaft vorwerfen könnte. Er hat sich an die Konvention gehalten, hat sich nicht danebenbenommen, nichts Dummes gesagt oder getan und auch niemanden verletzt oder beleidigt. Allen rationalen Argumenten zum Trotz wird eine solche Situation häufig als peinlich eingeschätzt.“ (Verweyen 2009: 31)

In dieser Situation gibt es augenscheinlich keinen logischen Grund für eine negative Einschätzung des öffentlichen Selbstbildes. Dass dem Jubilar das Geburtstagsständchen trotzdem peinlich ist, könnte vielmehr daran liegen, dass er nicht darauf eingestellt war und nun nicht weiß, wie er sich verhalten soll, oder dass es als übertriebene Ehrerbietung seine Bescheidenheit verletzt. Haben Peinlichkeitsgefühle also doch mehr mit dramaturgischen Rollenstörungen als interaktiven Verhaltensunsicherheiten oder mit rein subjektiven Wertverletzungen zu tun als gedacht? Beides soll im Folgenden anhand der Betrachtung von zwei sozialpsychologischen Peinlichkeitsmodellen näher untersucht werden.

2.4 P EINLICHKEIT ALS EMOTIONALER R EAKTIONSMECHANISMUS Sozialpsychologische Erklärungs- und Klassifikationsansätze von Peinlichkeit beschäftigen sich schwerpunktmäßig mit der Frage, welche spezifischen situativen Ursachen im Sinne sozialpsychologischer Faktoren dazu führen, mit Peinlichkeitsgefühlen zu reagieren. Das „Social Evaluation Model“ verankert Peinlichkeitsgefühle in unerwünschten Fremdbewertungen bzw. der Angst vor ihnen (vgl. Manstead/Semin 1981), das „Situational Self-Esteem-Model“ im Verlust der situativen Selbstsicherheit (vgl. Modigliani 1971), das „Dramaturgic Model“ in Verhaltensunsicherheiten (vgl. Silver et al. 1987) und das „Personal Standard Model“ in einer situativen Verletzung individueller Verhaltensstandards (vgl. Babcock 1988). Ich möchte im Folgenden das „Dramaturgic Model“ sowie das „Personal Standard Model“ näher beleuchten.34

34 Näher auf die beiden anderen Ansätze einzugehen, erscheint mir an dieser Stelle nicht notwendig. So ist schnell ersichtlich, dass bereits beschriebene Peinlichkeiten (der den Schülern peinliche Lehrerfurz, die Geburtstagsüberraschung im Büro, das Öffnen der nicht verschlossenen Toilettentür usw.) den Betroffenen nicht deshalb peinlich sind, weil

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2.4.1 „The Dramaturgic Model“ – Goffman revisited Das dramaturgische Erklärungsmodell (vgl. Silver et al. 1987) übernimmt die goffmansche Betrachtungsweise von Peinlichkeit als dramaturgischer Störung, erweitert diese aber und grenzt sich von anderen Ansätzen, die eng an Goffman anschließen, ab: So schließen Silver et al. aus, dass die Ursache von Peinlichkeit in der Diskreditierung des projizierten Selbst als Verlust von Achtung (der eigenen Selbstachtung oder der perzipierten Anerkennung durch andere oder beidem) bestünde. Dies begründen sie damit, dass entsprechende Ansätze weder die Peinlichkeitsgefühle positiver sozialer Exponierungen noch die Peinlichkeitsgefühle, die durch fremdes Fehlverhalten hervorgerufen werden, erklären könnten. Die eigentliche Ursache von Peinlichkeit liege vielmehr darin, seine situative Rollendarstellung nicht weiter wie geplant fortführen zu können. Peinlichkeit entstehe stets aus einer schlechten Rollendarstellung, wobei sie betonen, dass „a bad performance of a character is not the same as the performance of a bad character. On this account embarrassment results from a bad performance. A botched portrayal can be due to an actor’s inadequacies, to someone else’s forgetting lines, or to an act of nature, say, lightning striking at an inopportune moment.“ (Ebd. 47f.) Das zentrale Begriffsmerkmal von Peinlichkeitsgefühlen liege daher in der Verhaltensverunsicherung, die eigene geplante Rollendarstellung souverän weiterführen zu können. So ließe sich etwa im Alltag beobachten, dass man Peinlichkeit oft allein dadurch verhindern könne, dass Zurückweisungen oder Diskreditierungen durch offensichtliche Vorwände, Höflichkeitsfloskeln oder Ausreden kommunikativ wieder aufgefangen würden: „Sometimes just pretending that a joke is funny is all that is needed to save the situation – if everyone laughs ‚spontaneously‘ embarrassment might be dispelled. Pretexts often work as well as the real thing […].“ (Ebd. 50) In der Tat ist es für Peinlichkeit charakteristisch, dass sie durch solche Maßnahmen verhindert werden kann. Doch können Verwirrung und Hilflosigkeit infolge der Wahrnehmung einer ungeschickten oder misslungenen Darstellung der eigenen Rolle („flustering caused by the perception of a fumbled or botched performance“, ebd. 48) als entscheidendes Peinlichkeitsmerkmal angesehen werden? Bezeichnen sie nicht vielmehr Zustände der Verlegenheit als „embarrassment“, die klassischerweise auf Peinlichkeitsgefühle in interaktiven Kontexten folgen? Das Gefühl der Peinlichkeit, das einen Redner nach einem gelungenen öffentlichen Vortrag überfällt, wenn er vor dem Spiegel im Waschraum feststellen muss, dass der Reißverschluss seiner Anzughose geöffnet war und ungewollte Einblicke

ihr situatives Selbstwertgefühl leidet oder sie fürchten, von anderen nun in unerwünschter Weise bewertet zu werden.

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auf seine Unterwäsche freigab, lässt sich ebenso wenig durch diesen Ansatz erklären wie die Peinlichkeitsgefühle beim Lesen einer E-Mail oder eines Briefes, in dem ein Bekannter gesteht, er habe heimlich das Tagebuch des Betroffenen gelesen. Kurzum: Alle Peinlichkeitsphänomene, bei denen Öffentlichkeit nur durch den Bewusstseinszustand des Betroffenen aktiviert wird, können mithilfe des dramaturgischen Erklärungsansatzes nicht sinnvoll erklärt werden. Darüber hinaus scheint die dramaturgische Komponente auch bei Peinlichkeitserlebnissen, die unmittelbar an Öffentlichkeit gebunden sind, kein notwendiges Kriterium zu sein. So berichtet die 2001 verstorbene SPD-Politikerin Regine Hildebrandt von einer „doppelten Peinlichkeit“ als Schulmädchen, die mit Unsicherheiten bei der eigenen Rollendarstellung nichts zu tun hatte: „Schon einmal, in früheren Jahren, war mir meine Unpünktlichkeit doppelt peinlich. […] Ich war eine gewissenhafte Schülerin, die nie unentschuldigt gefehlt hat, die immer alle Schularbeiten gemacht und auch nicht geschummelt hat. Aber eines Tages habe ich verschlafen. Es war mir so peinlich, dass ich mich nicht getraut habe, es zuzugeben. Und jetzt kommt die doppelte Peinlichkeit: Ich bin auf dem Schulweg zwei Ecken weitergegangen und schnell in eine Polyklinik rein – und gleich wieder raus gegangen. Als ich in die Schule kam, habe ich gesagt: Tut mir Leid, ich war noch in der Polyklinik. Diese Raffiniertheit der Lüge ist mir heute noch viel peinlicher als die Verspätung selbst.“ (Hildebrandt in Schnippenkoetter 2004: 88f.)

Die Peinlichkeitsgefühle wegen des Verschlafens und der Lüge wegen haben in diesem Fall nichts mit einer mangelhaften Rollendarstellung als „bad performance“ zu tun, ganz im Gegenteil: Um ihre öffentliche Selbstdarstellung als gewissenhafte Schülerin nicht zu gefährden, zugleich aber nichts Unwahres erzählen zu müssen, greift sie zu einem Trick, der sie davor bewahrt, in Hilflosigkeit oder Erklärungsnot zu geraten. Gleichwohl ist ihr dies Verhalten peinlich, da es zu einer negativen Diskrepanz zwischen öffentlich gezeigtem Selbst und den Ansprüchen an dieses öffentliche Selbst führt. Das dramaturgische Modell kann also auch in dieser Variante keine überzeugende begriffliche Basis für das Peinlichkeitsgefühl bieten. 2.4.2 „The Personal Standard Model“ Gemäß diesem Erklärungsmodell bildet eine Inkongruenz mit persönlichen Verhaltensstandards die eigentliche Ursache von Peinlichkeit (vgl. Babcock 1988): „Embarrassment ensues when an individual finds herself acting in a way that is inconsistent with her persona [Herv. i.O.] or conception of herself. Embarrassment reflects a concern with upholding certain personal standards, not merely a concern over what others will think or over what to do next.“ (Ebd. 459)

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Persönliche Standards versteht Babcock dabei als „set of underlying beliefs, values, attitudes, concerns, and abilities that the individual deems most important to his conception of himself“ (ebd. 1988: 461). Dabei meint „persona“ keinen „ultimate standard or universal ideal. Rather, the persona is a model for how to enact a particular character. […] In contrast, the standard relevant to shame is an ideal that prescribes what, in general, it is to be a worthy person.“ (Ebd. 464f.) Mit diesem Erklärungsansatz ließe sich begründen, warum uns bisweilen eigene Verhaltensweisen peinlich sind, die den übrigen Situationsteilnehmern völlig angemessen erscheinen. Zu solchen Dissonanzen kommt es z.B. bekanntermaßen bei Auslandsaufenthalten oder dem Kontakt zu anderen Kulturkreisen, wo eine Angleichung an fremde Sitten und Konventionen um des Taktes willen (weil man einen höflichen Eindruck machen möchte) zugleich eine Verletzung unserer eigenen internalisierten Verhaltensstandards darstellen kann. So gibt es etwa in Schweden „a tradition of communal sauna bathing, where mixed-sex groups of people are used to seeing each other naked. A visitor from England, invited to such an event, might well regard it as contrary to his internalized rules of etiquette to reveal his body to a group of strangers, and correspondingly, no doubt, would feel highly embarrassed. He may, in fact, contravene etiquette regardless of whether he participates in the sauna, or declines Swedish hospitality by refusing. He might, in other words, face what he perceives as conflicting demands of etiquette: to honour his hosts, and to refrain from exposing his body. Correspondingly, he might plausibly suffer embarrassment whatever he decides to do in this situation.“ (Purshouse 2001: 527)

Dass auch einem deutschen Gast sowohl die Teilnahme am gemeinsamen Nacktsaunieren als auch die Ablehnung der Einladung peinlich sein könnte, liegt auf der Hand. Babcocks Betrachtungsansatz verdeutlicht, dass die öffentliche Selbstdarstellung sich keineswegs nur daran orientiert, wie man anderen situativ erscheinen möchte, sondern zugleich auch persönliche Standards einer adäquaten öffentlichen Selbstdarstellung umfasst, die im Widerspruch dazu stehen können. Ein Dilemma, das nicht immer gelöst, sondern manchmal nur überwunden werden kann, indem der Betroffene abwägt, welches für ihn das geringere Übel ist. Allerdings erachtet Babcock – im Gegensatz zum bereits entwickelten Verständnis – den Öffentlichkeitsfaktor nicht als notwendige Begriffskomponente: „Thus, even though embarrassment may seem as if it requires an audience, it is essentially a private matter. […] However, one could deviate from one’s persona in

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the absence of a real or imagined audience and experience embarrassment.“35 (Babcock 1988: 462) Hieraus resultiert die Schwierigkeit, zu erklären, warum Inkongruenzen mit persönlichen Verhaltensstandards, die durch Öffentlichkeit peinlich werden, nicht auch in privaten Kontexten als peinlich empfunden werden. Babcock argumentiert, dass Verletzungen persönlicher Standards in der öffentlichen Sphäre häufiger peinlich seien als im Privaten, da es den Betroffenen hier leichter gelinge, ihr Verhalten als nicht so auffällig zu erleben bzw. als irgendwie kongruent mit der eigenen „persona“ zu interpretieren. Diese Erklärung erscheint allerdings wenig überzeugend, vergegenwärtigt man sich, dass demnach ein privates Missgeschick, etwa, alleine zu Hause zu stolpern, im Gegensatz zu einem solchen in der Öffentlichkeit nur deshalb nicht zwangsläufig peinlich wäre, weil eine derartige Standardverletzung im Privaten als nicht so auffällig erlebt würde und sich leichter vor sich selbst rechtfertigen und erklären lassen würde. Natürlich können Verletzungen persönlicher Standards auch ohne gedankliches Involvieren des Gesehen- oder Öffentlichwerdens durch andere Personen zu negativen Emotionen führen, doch werden dies keine Gefühle der Peinlichkeit sein. Man kann sich über sich selbst ärgern, sich dumm, inkompetent oder armselig fühlen, sich vor sich selbst schämen oder ekeln, doch Peinlichkeit wird sich erst einstellen, wenn man auf sein öffentliches Selbst als Erscheinung vor anderen Bezug nimmt. Dies ist eine zentrale Eingrenzung, welche weiter beibehalten werden soll, da der Peinlichkeitsbegriff ansonsten in seiner Geltungssphäre allzu unspezifisch werden und sich zu einem genuin privaten Phänomen stilisieren würde, das sich nicht nur im Privaten generieren könnte, sondern auch dort seine notwendigen Bezugspunkte hätte. Dies aber scheint der allgemeinen Emotionsstruktur nicht gerecht zu werden. Darüber hinaus kann in einigen interaktiven Kontexten gerade die Orientierung an eigenen Standards zugunsten einer situativen Anerkennung fremder Standards aufgegeben werden. So kann ein Geisteswissenschaftler „selbst gänzlich unsportlich sein und Sport für eine kulturell desaströse Einrichtung halten, und trotzdem kann ihm sein sportliches Unvermögen peinlich sein, wenn er als Einzelner zu-

35 Als Begründung dafür, dass die Öffentlichkeitskomponente keine notwendige Bedingung für das Peinlichkeitsgefühl sei, gibt Babcock folgendes Beispiel, in dem jemand Peinlichkeitsgefühle in einem privaten Kontext aufgrund einer Verletzung eines persönlichen Standards empfindet: „For example, an individual who defines himself in terms of his intelligence, confidence and independence may be embarrassed by his inability to finish his Calculus problem set and by the fact that he looked up the answers in the back of the book, even though he knows and believes no one will ever know.“ (Ebd. 472) Ein solcher Kontext ruft nach den hier entwickelten Begriffen allenfalls Scham, jedoch keine Peinlichkeitsgefühle hervor.

B EGRIFFE UND M ERKMALE VON P EINLICHKEIT

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fällig unter eine Gruppe sportlicher ausländischer Kollegen gerät, für die es selbstverständlich ist, eine gute Kondition zu haben. […] In dieser Situation kann das, was der Unsportliche bis dahin für seine Privatsache hielt – seine Handlungsmaxime des Unterlassens von Sport also –, durch die Blicke und/oder Thematisierungen der anderen in ein Licht gerückt werden, in dem er sein Ressentiment gegen Sport aufgibt und die Maximen der anderen mindestens situativ für ihn zu Normen werden, an denen er sich misst. […] Manchmal kann sogar eine Handlung, die zunächst in keinerlei normativem Kontext steht, erst durch die Blicke der anderen eine normative Bedeutung erhalten.“ (Landweer 1999: 72f.)

Hier zu argumentieren, eine solch situative Orientierung an fremden Standards sei insofern Teil eigener Standards, als die fremden Standards zumindest situativ zu den eigenen würden oder eine situative Anerkennung fremder Standards ja wiederum auf bestimmten eigenen Standards basierte, deren Verletzung es eben zu verhindern gelte, erscheint mir gemäß dem occamschen Rasiermesserprinzip nicht besonders überzeugend. Denn wozu die Ursache von Peinlichkeitsgefühlen in einer Verletzung persönlicher Standards, die auch im Privaten gelten, verankern, wenn diese sich so radikal und situativ durch die Erwartungen, Standards und Aufmerksamkeit anderer modifizieren können, dass es hier vieler weiterer Zusatzannahmen bedürfte? Der Öffentlichkeitsfaktor sollte als konstitutives Begriffsmerkmal in jedem Falle Berücksichtigung bei der Betrachtung von Peinlichkeit finden.

2.5 K OMMUNIKATIONSWISSENSCHAFTLICHES Z WISCHENFAZIT Die Frage, welche konstitutive Erfahrungsstruktur Peinlichkeitsphänomenen zugrunde liegt, ließ sich bislang nur teilweise beantworten, da je nach Kontext unterschiedliche Ursachen für das Peinlichkeitsgefühl ausschlaggebend zu sein scheinen. Es zeigte sich zwar, dass Diskrepanzen zwischen Idealen und Standards des öffentlichen Selbst und der tatsächlichen Selbstdarstellung wesentliche Bestandteile von Peinlichkeitsemotionen sind, doch muss dies eingeschränkt werden für Situationen, in denen die Peinlichkeit sich aufgrund der eigenen Verhaltensabwertung konstituiert. Es wurde an verschiedenen Stellen deutlich, dass darüber hinaus auch positive Hervorhebungen oder fremdes Fehlverhalten Peinlichkeitsgefühle auslösen können. Der für alle Peinlichkeitsemotionen notwendige Öffentlichkeitsfaktor wurde nicht als reale Öffentlichkeit, sondern als Bewusstseinszustand definiert, was das Peinlichkeitsgefühl zwar von realen kommunikativen Kontexten entbinden kann, seine innere Konstruktion jedoch umso kommunikativer erscheinen lässt: So referieren Peinlichkeitsgefühle auch im Privaten stets auf Erwartungen oder Maßstäbe, die sich auf das Bild beziehen, das man vor anderen abgibt.

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Um die begriffliche Basis von Peinlichkeit als kommunikativer Erfahrung weiter herausarbeiten zu können, möchte ich nun erfahrungstheoretische Voraussetzungen und Bedingungen von Peinlichkeitsgefühlen in den Fokus rücken – gaben doch Betrachtung und Analyse konkreter Peinlichkeitsbegriffe und -merkmale den Blick auf die darunter liegende Tiefenstruktur von Peinlichkeitserfahrungen nur bedingt frei.

3. Peinlichkeit als kommunikative Erfahrung „Wie ein Scharnier verbindet das Peinlichkeitsempfinden das Selbst mit der Gesellschaft.“ SAEHRENDT 2012: 43

Um die begriffliche Basis von Peinlichkeitserfahrungen freizulegen, lassen sich auf den ersten Blick mindestens drei verschiedene Möglichkeiten heranziehen: So kann man erstens aus empirischen Studien und Untersuchungen der ontogenetischen Entwicklung des Peinlichkeitsgefühls Rückschlüsse auf notwendige kognitive Voraussetzungen und Bedingungen der Emotion ziehen. Zweitens lassen sich mit sozialanthropologischen Überlegungen zur Disposition des Menschen als gesellschaftlichem Wesen, das sich durch soziale Gefühle wie Scham, Peinlichkeit und Verlegenheit auszeichnet, anthropologische Voraussetzungen und Bedingungen der Peinlichkeitserfahrung als menschlicher Eigenschaft herausstellen. Aus einer phylogenetischen Betrachtung des gesellschaftlichen Zivilisationsprozesses36 können drittens historisch-kulturelle Voraussetzungen und Bedingungen von Entwicklungstendenzen des Peinlichkeitsgefühls nachgezeichnet werden. Beschreibungen der Entwicklung gesellschaftlicher Normstrukturen und Selbstsanktionierungsmechanismen legen allerdings eher Konstituenten und Variablen äußerer Peinlichkeitsbedingungen (als Peinlichkeitsanlässe) bzw. die Herausbildungen spezifischer Peinlichkeitsinhalte frei, weniger Voraussetzungen und Bedingungen der Peinlichkeitserfahrung selbst. Daher möchte ich mich auf die ersten beiden Betrachtungsmöglichkeiten fokussieren. Das bedeutet, dass mir sowohl Untersuchungen zur Entwicklung von Peinlichkeitsgefühlen beim Kind als auch anthropologische Betrachtungen zum Wesen der Schamhaftigkeit als Basis des folgenden Argumentationsganges dienen. Dieser

36 Wie sie z.B. von Elias (vgl. Elias 1966) beschrieben und in aller Ausführlichkeit von Duerr (vgl. Duerr 1988) kritisiert und in vielen Aspekten überzeugend widerlegt worden ist.

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verbindet bestehende Forschungsergebnisse und Überlegungen zum Untersuchungsgegenstand so miteinander, dass ein neues Begriffsinventar entsteht.

3.1 P EINLICHKEIT

ALS

E XPONIERUNG

DES

S ELBST

3.1.1 Selbstobjektivierung als Peinlichkeitsvoraussetzung In den emotionspsychologischen Ausführungen wurde bereits dargelegt, dass Peinlichkeitsgefühle als selbst-bewusste Emotionen verstanden werden können, die die Referenznahme zum eigenen Selbst erfordern. Geht man davon aus, dass Gefühle an kognitive Prozesse gebunden sind, bilden sie sich gemeinsam mit den entsprechenden Strukturen heraus und treten dementsprechend beim Kleinkind entweder früher oder später auf. Im Gegensatz zu Basisemotionen wie Angst oder Ekel, deren Bezugspunkte äußere Ereignisse darstellen37, sind selbst-bewusste Emotionen an kognitiv komplexere Voraussetzungen gebunden, sie setzen die Fähigkeit der Selbstobjektivierung des Betroffenen voraus, welche wiederum unmittelbar mit der Entwicklung von Selbstbewusstsein einhergeht: „Self-consciousness is a cognitive capacy; it reflects the ability of the child to refer to itself. The self becomes an object to itself.“ (Lewis 1995: 213) Gefühlszustände wie Angst oder Freude involvieren das Selbst lediglich als Aktivität des Individuums und beziehen sich auf äußere Ereignisse, Personen oder Objekte, im Falle selbst-bewusster Emotionen hingegen bildet das empfindende Individuum zugleich auch das Zielobjekt der jeweiligen Emotion. Diese Unterscheidung lässt sich z.B. durch einen Vergleich von Freude mit Stolz veranschaulichen: „In the example of joy, the self finds itself before something to be celebrated. In contrast, the ‚self-conscious‘ emotions involve a structure in which the self stands before itself as if the self were an exterior event, object or person. When a person takes joy in him- or herself, joy is transformed into the ‚self-conscious‘ emotion of pride, in which the self celebrates itself.“ (Robbins/Parlaveccio 2006: 326)

Bei selbst-bewussten Emotionen betrachtet sich der Betroffene also von außen, er tritt sich selbst gegenüber, als sei er ein äußeres Objekt oder eine andere Person.

37 Der Fall, in dem sich z.B. jemand vor sich selbst, d.h. vor seiner eigenen Person ekelt, transformiert das Gefühl des Ekels zugleich in eine Sphäre der Selbstbewertung, sodass es sich um eine selbst-bewusste Emotion handelt, z.B. die der Scham.

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„Lassen sich Lustgefühle wie Glück erst im Nachhinein als solche erkennen und sind im Moment des Erlebens gerade nicht in selbst-reflexiver Weise bewusst, so ist die Empfindung von Peinlichkeit (wie auch von Scham) unweigerlich mit dem selbstreflexiven Bewusstsein verbunden und per se sentimentalistisch: Wer peinlich berührt ist, erlebt sich als peinlich Berührten und reagiert mit gesteigerter Selbstaufmerksamkeit.“ (Pontzen 2005b: 48)

Sind selbst-bewusste Emotionen notwendigerweise an die Entwicklung von Selbstbewusstsein im Sinne der Fähigkeit der Selbstobjektivierung gebunden, kann eine nähere Betrachtung entsprechender kognitiver Entwicklungsprozesse beim Kleinkind fruchtbare Hinweise über Konstituenten der jeweiligen Emotionen geben. „Embarrassment, shame, and guilt are therefore presumed to appear on the scene with the genesis of self-consciousness. Developmental research supports the thesis that embarrassment is a self-conscious emotion that emerges with the ontogenesis of the self.“ (Robbins/Parlaveccio 2006: 325) Dass Kinder anfangen, Selbstbewusstsein zu entwickeln, wird empirisch gemeinhin aus der Tatsache erschlossen, dass sie ihr Spiegelbild erkennen können, d.h. dazu fähig sind, sich zum eigenen Beobachtungsobjekt zu machen. Ein solcher Zustand bewusster Selbstbeobachtung wird in der Psychologie als „objektive“ Selbstaufmerksamkeit bezeichnet und von Zuständen „subjektiver“ Selbstaufmerksamkeit differenziert (vgl. Duval/Wicklund 1972). Bei der subjektiven Selbstaufmerksamkeit richtet man die Aufmerksamkeit von sich selbst weg, man empfindet sich als Quelle von Aktivitäten und Wahrnehmungen und nimmt auf diese Weise eine reine Akteurperspektive ein. Macht man hingegen sich selbst zum eigenen Beobachtungsobjekt, kommt es zu einem grundlegenden Wechsel der Betrachtungsperspektive: Das eigene Selbst ist nun nicht mehr nur die Quelle der Wahrnehmungen, sondern zugleich auch das Ziel – der Beobachter wird zum eigenen Beobachtungsobjekt. Der Wechsel von subjektiver zu objektiver Selbstaufmerksamkeit „bedeutet einfach, daß jemand das Selbst genau wie jedes beliebige andere Objekt zum Gegenstand seiner Aufmerksamkeit macht. […] Sehr allgemein gesagt wird selbstzentrierte Aufmerksamkeit durch jeden Reiz ausgelöst, der jemanden dazu anregt, die Aufmerksamkeit auf sein Selbst zu richten. Spiegel gehören zum Beispiel dazu […].“ (West/Wicklund 1985: 186f.)

Die Fähigkeit, sich selbst im Spiegel zu erkennen, kann bei Kleinkindern durch folgenden „Trick“ nachgewiesen werden: „The technique used to index self-consciousness or objective self-awareness was originally developed with chimpanzees (see Gallup, 1970). It involves marking a child’s nose with rouge and then placing the child in front of a mirror. When infants are placed in front of the

62 | P EINLICHKEIT – FORMEN UND F UNKTIONEN mirror, they show a variety of behaviours. Before 15-18 months, infants do not use the mirror to find and touch the spot on their nose. They look behind the mirror or they look and touch the image in the mirror as they were interacting with another child. From 15-24 months of age on, they touch their faces (the mark on their noses) when placed in front of a mirror.“ (Lewis 1995: 206)

Dass Kleinkinder ab einem Alter von 15-24 Monaten ihre eigene Nase berühren, wenn sie im Spiegel sehen, dass diese rot angemalt ist, anstatt das eigene Spiegelbild lediglich als ein fremdes Objekt zu betrachten, fungiert also als empirischer Nachweis, dass sie sich selbst erkennen und zum eigenen Beobachtungsobjekt machen können. Diese Fähigkeit des Kleinkindes ist „das Wissen um die eigene Außenseite, aber auch das Wissen, dass man gesehen und wahrgenommen wird. Das Kleinkind kann sich erst in dem Moment seiner Außenseite bewusst sein, wenn es sein Spiegelbild zu erkennen vermag.“ (Neitzel 2013: 1) Ein solcher Entwicklungsschritt ist allerdings nicht so zu verstehen, dass das Kleinkind dabei aus seiner Subjektperspektive herausträte und diese nun um die Objektperspektive erweitern würde, denn das hieße, dass es bereits eigene Subjektivität entwickelt hätte. Doch gerade die Entwicklung der eigenen subjektiven Perspektive als individueller, von anderen geschiedenen Wahrnehmung ist ja an eine Trennung von Subjektivem und Objektivem gebunden, d.h. an die Unterscheidung von Innen- und Außenseite der eigenen Person, die es für das Kleinkind in seinem bisherigen „perspektivlosen“ Zustand, in dem es sich selbst als mit der Welt „verschmolzen“ erlebte, noch gar nicht gegeben hat. Hinsichtlich objektiver Selbstaufmerksamkeit lassen sich nun weiterhin Zustände objektiver öffentlicher Selbstaufmerksamkeit von objektiver privater Selbstaufmerksamkeit unterscheiden (vgl. Roos 1988a). Bei der öffentlichen Selbstaufmerksamkeit wird die sinnlich wahrnehmbare Außenseite des Selbst beobachtet, bei der privaten Selbstaufmerksamkeit die subjektive Innenseite des Selbst. „Während sich öffentliche Selbstaufmerksamkeit auf die äußere Erscheinung und/oder das Verhalten, die der Fremdbeobachtung direkt zugänglich sind, bezieht, betrifft die private Selbstaufmerksamkeit mentale bzw. intra-psychische Zustände wie Gefühle, Stimmungen, Motive, Phantasien, Einstellungen und Selbstreflexionen.“ (Ebd. 71) Diese unterschiedlichen Bezüge öffentlicher und privater Selbstaufmerksamkeit dürfen jedoch nicht mit den situativen Kontexten verwechselt werden, in denen sie sich aktivieren. So kann sich öffentliche Selbstaufmerksamkeit in privaten Situationen aktivieren, etwa, wenn man allein vor dem Spiegel steht und seine Kleidung für eine Feier richtet, so wie sich private Selbstaufmerksamkeit in sozialen Situationen aktivieren kann, z.B., wenn man inmitten einer Konferenz durch einen bestimmten Gegenstand an die Vergangenheit erinnert wird und ein früheres Erlebnis Revue passieren lässt. Zustände objektiver Selbstaufmerksamkeit können sich dementsprechend in öffentlichen und privaten Kontexten aktivieren und haben entweder

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die Außenseite des Selbst, welche auch von anderen wahrnehmbar ist, oder aber die Innenseite des Selbst, die nur der Wahrnehmung des Betroffenen zugänglich ist, zum Beobachtungsobjekt. Kleinkinder, die ihre eigene Außenseite im Spiegel erkennen und beobachten, befinden sich folglich im Zustand objektiver öffentlicher Selbstaufmerksamkeit. 3.1.2 Die Fähigkeit der Selbstobjektivierung und Exponierungserfahrungen Lewis hat zur objektiven Selbstaufmerksamkeit von Kleinkindern verschiedene Studien durchgeführt, da ihn interessierte, welche weiteren kognitiven Fähigkeiten mit diesem wichtigen Entwicklungsschritt verknüpft sind (vgl. Lewis et al. 1989; Lewis 1995). Die Studien ergaben z.B., dass 20 Prozent der Kinder über 15 Monaten, die sich ohne Rouge auf ihrer Nase im Spiegel erkannten und beobachteten, „coy or silly behavior“ zeigten, also Reaktionen, die klassischerweise auf Empfindungen von Verlegenheit, Scham und Peinlichkeit hinweisen (vgl. Lewis 1995). In einer anderen Versuchsreihe mit Kleinkindern im Alter von 15-24 Monaten konnten Lewis und seine Kollegen zudem aufzeigen, dass Exponierungssituationen bei Kleinkindern, die sich bereits im Spiegel erkennen konnten, typische Peinlichkeitssignale („smiling“, „gaze aversion“, „nervous hand movements“) zur Folge hatten, während dies bei jenen, die diese Fähigkeit noch nicht besaßen38, nicht der Fall war (vgl. Lewis et al. 1989). Dabei gingen sie so vor, dass sie nach dem Selbsterkennungstest das Verhalten derselben Kinder in vier anderen Situationen aufzeichneten: In einem ersten Szenario wurden sie vor dem Spiegel von mehreren Erwachsenen genau dabei beobachtet, wie sie ihr eigenes Spiegelbild betrachteten. Im zweiten Szenario wurden ihnen vier bis fünf Komplimente gemacht, z.B., dass sie sehr schlau seien, schöne Haare oder tolle Kleidung hätten. Im dritten und vierten Szenario sollten die Kinder dann einen Tanz aufführen – einmal vor ihren Müttern und einmal vor dem Versuchsleiter. Die Ergebnisse zeigten, dass ausschließlich jene Kinder, die sich zuvor bereits im Spiegel erkannt hatten, mit den oben aufgeführten Verhaltensweisen reagierten. Lewis schlussfolgert daraus, dass Peinlichkeit (als

38 Diese Ergebnisse sind auch mit Darwins Beobachtungen vereinbar, dass Kinder erst ab einem bestimmten Entwicklungsstadium, für das die Fähigkeit der Selbstaufmerksamkeit erforderlich ist, erröten: „Kinder erröten in einem sehr frühen Alter nicht, auch zeigen sie andere Zeichen der Selbstaufmerksamkeit nicht, welche allgemein das Erröten begleiten, und es ist einer ihrer Hauptreize, daß sie nicht darüber nachdenken, was andere von ihnen denken. In diesem frühen Alter können sie einen Fremden mit einem festen Blicke und nicht blinkenden Augen wie einen unbelebten Gegenstand anstarren in einer Weise, welche wir älteren Personen nicht nachahmen können.“ (Darwin 2000: 363 f.)

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„embarrassment“) durch die Fähigkeit objektiver Selbstaufmerksamkeit bedingt ist und in ihrer frühesten Form durch eine Exponierung des Selbst vor anderen verursacht wird. Er nennt diese Form der Peinlichkeit „embarrassment elicited by exposure“ (vgl. Lewis 1995). Der mögliche Einwand, dass bei den Versuchssituationen nicht nur bloße Exponierung, sondern zugleich die situative Verletzung von Selbstwerten eine Rolle spiele (etwa durch die Komplimente, da Kindern im Allgemeinen beigebracht werde, bescheiden zu sein), lässt sich dadurch entkräften, dass Kinder im Alter von 15 bis 24 Monaten noch nicht über die diesbezüglichen notwendigen kognitiven Fähigkeiten, z.B. der Rollenübernahme, verfügen. Sie haben entsprechende soziale Standards und Regelkenntnisse, die zwischen den Bedürfnissen des Individuums einerseits und den sozialen Erwartungen andererseits vermitteln, noch nicht internalisiert. In ihrem frühkindlichen Zustand können sie das eigene Verhalten nicht in entsprechender Weise hinsichtlich Sollen oder Nicht-Sollen bewerten. Das Kleinkind, das sich beobachtet wähnt und durch Hervorhebung seines Selbst zusätzlich exponiert wird, weiß noch nichts darüber, ob diese Hervorhebungen sozial angemessen oder wünschenswert sind. Es handelt sich bei diesem frühkindlichen Exponierungsphänomen vor anderen, das auch von Simmel beobachtet wird, also noch nicht „um ein Werturteil, um das Gegenhalten gegen eine Norm, […] sondern um ein rein dynamisches Verhältnis […]: Die Seele kann die andringenden Vorstellungen und Gefühle, die durch die Zumutungen oder die Aufmerksamkeit anderer in ihr angeregt werden nicht bewältigen, d.h. nicht unter dem zentralen Bewußtsein des Ich organisieren; daher die Verwirrung, die hier nur aus einem Mangel an Kraft oder innerer Organisationsfähigkeit entspringt.“ (Simmel 1983: 145)

Simmel spricht auch von einer „Rudimentärerscheinung der Scham“ (ebd.), die als „Herabdrückung des Ichbewusstseins vermittels einer Betonung, der es sich nicht gewachsen fühlt“ (ebd.), verstanden werden kann, die jedoch nichts mit negativen Selbstbewertungen zu tun hat. Aus philosophischer Perspektive können solche Exponierungserfahrungen auch als schmerzliche Erkenntnis, nicht das Zentrum der Welt, sondern lediglich ein Weltobjekt zu sein, betrachtet werden. So beschreibt Sartre das Wesen der menschlichen Scham (wobei er nicht näher zwischen „Peinlichkeit“ und „Scham“ differenziert) als das Wissen, nicht „dieser oder jener tadelnswerte Gegenstand zu sein, sondern überhaupt ein Gegenstand zu sein, das heißt, mich in jenem degradierten, abhängigen und starr gewordenen Gegenstand, der ich für Andere geworden bin, wiederzuerkennen. Die Scham ist das Gefühl des Sündenfalles, nicht deshalb, weil ich diesen oder jenen Fehler begangen hätte, sondern einfach des-

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halb, weil ich in die Welt ‚gefallen‘ bin, mitten in die Dinge hinein, und weil ich der Vermittlung des Anderen bedarf, um zu sein, was ich bin. Die Schamhaftigkeit und im Besonderen die Furcht, im Zustande der Nacktheit überrascht zu werden, sind nur eine besondere symbolhafte Spezifikation der ursprünglichen Scham: der Leib versinnbildlicht unsere schutzlose Objektheit.“ (Sartre 1962: 381)

Für Zweijährige bedeutet dies natürlich nicht, existenzialistisch über ihren Objektstatus zu sinnieren, sondern besteht in der rudimentären Erfahrung, nicht nur Weltbeobachter, sondern selbst Beobachtungsobjekt zu sein: „Das Subjekt, eben noch ganz von seiner Handlung absorbiert, wähnt sich plötzlich beobachtet und ist sich mit einem Male seiner selbst vollkommen gewärtig, weil es sich in der Wahrnehmung eines Anderen befindlich weiß.“ (Neckel 1991: 29) Übertragen auf die Situation, in der sich Kinder zum ersten Mal selbst im Spiegel erkennen, vermutet Miller sogar: „Perhaps, then, the emergence of self-consciousness (of which a toddler is always reminded by his or her reflection) causes discomfort as the youngster faces the portentous insight of his or her individuality and separateness. This is less silly than it sounds. There are real burdens to selfhood […] and after 2 years of symbiotic unity with Mom and Dad, the siblings, and one’s favorite stuffed animal, it must be a dramatic change to look in a mirror and have the first rudimentary grasp of the implications of the reflected image.“ (Miller 1996: 76)

Nun ist es müßig, darüber zu spekulieren, was genau in solchen Momenten in den Kleinkindern vorgeht, können sie ja noch nicht sprachlich mitteilen, was sie empfinden. Wissenschaftler sind also auf Vermutungen und Hypothesen angewiesen, auf plausible Rückschlüsse, die aus dem beobachtbaren Verhalten der Kinder in bestimmten Situationen unter bestimmten Umständen gezogen werden, aber nicht unwiderlegbar bewiesen werden können. Daher lässt sich zu Recht einwenden, dass die oben beschriebenen Studien kein Beweis dafür seien, dass Selbstexponierungen von Kleinkindern die gleichen Emotionen aktivieren würden wie Selbstexponierungen von Erwachsenen. Dies ist zwar richtig, doch sind solche phänomenologischen Fragen von untergeordneter Relevanz, da ja wesentliche Strukturmerkmale des Peinlichkeitsgefühls, nicht seine spezifische Erlebnisqualität, aufgezeigt werden sollen. Und möchte man nicht so weit gehen, zu behaupten, es gäbe so viele unterschiedliche Emotionen wie es Erfahrungssituationen gibt, muss man stets einzelne nuancierende Eigenheiten zugunsten einer feststehenden Kategorisierung vernachlässigen.39

39 So sind die Freude oder die Wut eines dreijährigen Deutschen nicht „identisch“ mit der Wut und der Freude einer achtjährigen Chinesin oder eines achtzigjährigen Indonesiers.

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Im Gegensatz zu Kleinkindern kommt es bei Erwachsenen in Exponierungssituationen, die als peinlich empfunden werden (z.B. Hervorhebung der eigenen Person durch Auffälligkeit oder ein hohes Maß an Fremdbeobachtung), meist unwillkürlich auch zu einer kritischen Bewertung der Exponierung, sodass der Eindruck entsteht, die Peinlichkeitsgefühle wären auf Fehler, Mängel oder unsouveräne Darstellungen zurückzuführen: Der innere Rationalisierungsdrang führt unweigerlich dazu, Gründe für eine negative Selbsteinschätzung zu finden. „Take for example, walking into a room before the speaker has started to talk. It is possible to arrive on time only to find people already seated. When you are walking into the room, eyes turn towards you and you may experience embarrassment. One could say that there is a negative self-evaluation: ‚I should have been earlier. I should not have made noise (I did not make noise).‘ I believe, however, that the experience of embarrassment in this case may not be elicited by negative self-evaluation, but simply by public exposure.“ 40 (Lewis 2000: 631)

Dieses Beispiel lässt sich ohne Weiteres auf „Peinlichkeit“ übertragen – im beschriebenen Kontext können die eigene „Auffälligkeit“ und die Fremdbeobachtung

Dennoch werden sich spezifische begriffliche Strukturgleichheiten finden lassen, die für die jeweilige emotionale Erfahrung charakteristisch sind. Abweichungen und Unterschiede emotionaler Erfahrungen sind in dieser Hinsicht also nicht als Gegenbeweise zu verstehen, vielmehr veranlassen sie dazu, den jeweiligen Gemeinsamkeiten noch größere Bedeutung bei der Begriffsbestimmung beizumessen. 40 Die Peinlichkeit einer solchen Exponierung deckt sich insofern mit der empirischen Peinlichkeitsforschung, als bei einer Klassifikation unterschiedlicher Peinlichkeitsdimensionen, die auf empirischen Studien beruhen, neben „Inkompetenz“ (z.B. Missgeschicke), „Unschicklichkeit“ (z.B. Taktlosigkeiten) und „Isolation“ (z.B. Bloßstellungen durch andere) auch die Peinlichkeitsdimension der bloßen „Auffälligkeit“ aufgeführt wird (vgl. Hallemann 1986). Lewis führt, um empirisch nachzuweisen, dass Peinlichkeit auch bei Erwachsenen durch pure Exponierungssituationen verursacht werden können, in seinen Universitätsveranstaltungen Versuche mit Studierenden durch: Er informiert sie während seiner Vorlesung darüber, dass er nun zufällig auf jemanden des Kurses zeigen wird. „I further inform the audience that my pointing will have no evaluative component, that it will be random, and that it will be not related to anything about the person. Moreover, I inform them that I will close my eyes when pointing. Following these instructions, I point to someone in the room. From the reports of those who are the targets, the pointing invariably elicits embarrassment.“ (Lewis 1995: 211 f.) Auch hier erscheint es nachvollziehbar, dass es den Betroffenen peinlich sein kann, auf diese Weise in der Aufmerksamkeit anderer hervorgehoben zu werden.

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ausreichen, um bei nicht wenigen Hereinkommenden Peinlichkeitsgefühle zu aktivieren. Peinlichkeitsverursachende Selbstexponierungen sind bei Erwachsenen jedoch keineswegs auf Exponierungen der Außenseite unseres Selbst beschränkt, sondern umfassen auch innere Selbstaspekte: So kann das Durchschauen, Erraten oder Erkennen innerer Zustände (Gefühle, Gedanken, Wünsche etc.) durch andere ebenfalls als peinlich empfunden werden. In diesen Fällen entstehen Peinlichkeitsemotionen durch die Enttarnung von etwas als privat Empfundenem, von Selbstaspekten, die man glaubte in sicherer – weil subjektiv-innerer – Reserve zu wissen. Die „enttarnten“ Aspekte selbst müssen vom Betroffenen nicht negativ bewertet werden, vielmehr ist es die Enttarnung sui generis, welche eine peinliche Empfindung hervorrufen kann. So kann es z.B. Frauen peinlich sein, wenn andere intuitiv erkennen, dass sie in anderen Umständen sind, obgleich dies äußerlich noch gar nicht sichtbar ist. Ebenso kann es uns peinlich sein, wenn andere unsere unausgesprochenen Anliegen, Gefühle oder Wünsche (die selbst nichts sind, das uns peinlich wäre) intuitiv erkennen und uns dies wissen lassen, wie es z.B. manchmal bei Gesprächen mit Beratern, Ärzten oder anderen Personen mit sehr guter Menschenkenntnis der Fall ist. Auch Plessner sieht in der reinen Exponierung physischer oder psychischer Selbstaspekte zwei grundlegende Ursachen peinlicher Empfindungen: „Sich beobachtet und als Figur genommen glauben, ist aber nur eine Quelle der Verlegenheit. Intensiver wirkt das sich durchschaut und erkannt Wähnen. [...] Der Verlegene wähnt sich in jedem Fall objektiviert und gewissermassen ‚ausgezogen‘.“ (Plessner 1941: 124) Peinlichkeit ist also nicht unbedingt auf eine negative Bewertung des öffentlich gezeigten Selbst zurückzuführen, vielmehr ist davon auszugehen, dass das Peinlichkeitsgefühl, welches „resulting from compliments, from being looked at, and from being pointed out has more to do with the exposure of the self than with evaluation.“ (Lewis 2000: 631) Daher bedarf das Selbst des Exponierungsschutzes in der öffentlichen Sphäre: Hier ist es die Schamhaftigkeit, welche uns davor bewahrt, anderen „zu viel“ von uns zu zeigen. 3.1.3 Schamhaftigkeit als Exponierungshemmung Peinliche Exponierungen des Selbst können als ein Eindringen in die Sphäre der eigenen Persönlichkeit verstanden werden. Sie sind Verletzungen der persönlichen Schamhaftigkeit als der Hemmung, Selbstaspekte vor anderen enthüllt bzw. hervorgehoben zu sehen. Insofern kann man hier zwar von einer Norm sprechen, welche verletzt wird, nur handelt es sich dabei nicht um eine spezifische, internalisierte

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Norm als kulturell codierter Verhaltensmaßstab, sondern um eine conditio humana als sozialanthropologische Grundkonstante, auf welcher gewissermaßen erst alle weiteren Verhaltensnormen aufbauen können. Simmel spricht hier auch von der Norm der Persönlichkeit: „Jede Persönlichkeit ist von einer gewissen Sphäre von Reserve und Unnahbarkeit umgeben, deren Grenzen freilich nach den kulturellen und individuellen Umständen außerordentlich wechseln, in die jedes Eindringen aber – gleichviel ob damit ein objektives Gebot verletzt wird oder nicht – als ein Riß zwischen der Norm der Persönlichkeit und ihrer momentanen Verfassung empfunden wird.“ (Simmel 1983: 142)

Schamhaftigkeit als Hemmung, unser Selbst vor anderen zu exponieren „[...] bewahrt uns Simmel zufolge davor, das Innerste unseres Wesens nach außen zu wenden, weil es sich wie ein ‚ethisch-ästhetischer‘ Schutzmantel um das höchst eigene Individualitätsgefühl legt und vermeiden will, daß es beschädigt wird oder sich ‚nach außen‘ verliert“ (Neckel 1991: 85). Entsprechende, die Schamhaftigkeit verletzende Peinlichkeitserfahrungen referieren darauf, einen persönlichen Aspekt des eigenen Selbst vor anderen exponiert und zugleich objektiviert zu sehen, nicht darauf, dass das Offenbarte zugleich als etwas „Unangemessenes“ oder „Mangelhaftes“ bewertet werden müsste.41 Da Bewertungen jedoch für uns eine elementare Rolle bei der Selbstreflexion einnehmen, werden entsprechende Peinlichkeitserfahrungen von uns gemeinhin mit einem Verhaltensfehler oder Konventionsbruch begründet. „Because adults utilize evaluation in all of their actions, the belief that embarrassment has to be related to some failure of the self is widespread.“ (Lewis 1995: 214) Auch Brugmans konstatiert: „Wohl wird man oft, après coup, den Verlegenheitszustand für sich zu rechtfertigen suchen. Dann findet man Gründe und daß diese immer und ohne Ausnahme Scheingründe sind, ist wohl etwas stark ausgedrückt. Sie sind es aber meistens.“ (Brugmans 1919: 209) Diese sowohl alltagsweltliche wie auch wissenschaftliche Tendenz

41 Daher konstatiert Plessner – so wie Sartre bei seiner Schamanalyse –, dass es vorrangig der Akt fremder Objektivierung und nicht jener eines spezifischen Bewertungsinhaltes ist, der dem Menschen widerstrebt. „Es kommt hier gar nicht darauf an, was man von uns sagt, als dass man von uns sagt. Ob Lob oder Tadel – im tiefsten muß sich die unendliche Seele aufbäumen gegen das verendlichende Bild im Bewusstsein eines Urteils. In der Gegenrichtung dazu liegt aber ebensowenig ihr Heil. Denn unter nichts leidet die Seele so wie unter dem Nichtbeachtetsein, dem ebenso von ihrer Natur herausgeforderten Schicksal.“ (Plessner 1972: 58)

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„to claim that the emotion [embarrassment, J.D.] is typically formed about a perceived breach of etiquette can be explained on grounds that many such breaches are either identical with, or causes of, interpersonal exposures. There are various reasons for this. First, the prescriptions of many rules of etiquette bear specifically on questions of what sorts of exposures are permissible between certain individuals, such that some actions that are deemed contrary to etiquette are precisely those in which certain exposures take place. […] Admittedly, not all rules of etiquette whose breach is embarrassing specifically concern questions of what sorts of exposure are socially permitted.“ (Purshouse 2001: 536)

Buss vermutet, dass bereits in der Erziehung ein so großer Wert auf Fehlervermeidungen und Fehlerkorrigierungen in Bezug auf das öffentliche Selbst des Kindes gelegt wird, dass bei ihm nach und nach eine automatische Verknüpfung von öffentlicher Selbstaufmerksamkeit und selbstkritischer Bewertung in Beobachtungssituationen entstehe: „Presumably, when children are taught to become aware of themselves as social objects, their parents and other caretakers tend mainly to correct mistakes. Thus public-self-awareness can easily become associated with critism. When people stare at us, we wonder what we have done wrong to become so conspicuous.“ (Buss 1980: 42) So lernen Kinder auf explizite oder implizite Weise, dass Anschauen zugleich Urteilen bedeutet. Schamhaftigkeit als „Norm der Persönlichkeit“ entsteht allerdings nicht erst innerhalb solcher sozio-kultureller Internalisierungsprozesse, sondern ist bereits in der Innen-Außen-Dichotomie des Selbst verankert, mit der eine unauflösliche Polarität von Zeigen und Verbergen in der sozialen Sphäre einhergeht. Plessner spricht der menschlichen Seele, welche er als Kern unseres Selbst betrachtet, eine grundlegende Zweideutigkeit zu, da wir in unserer Individualität einerseits immer ein- und derselbe sind und auch sein wollen, uns aber andererseits intuitiv gegen Verdinglichungen durch andere, die uns durch ihre Beobachtungen und Urteile festlegen und objektivieren, wehren: „Sie [die Seele, J.D.] ist Werden und Sein in einem, weil sie zugleich die Genesis von beiden ist. Darum erträgt die Seele, die seelenhafte Individualität, keine endgültige Beurteilung, sondern wehrt sich gegen jede Festlegung und Formulierung ihres individuellen Wesens. Darum aber fordert sie ebensosehr das Urteil heraus und bedarf des Gesehenwerdens vom eigenen wie vom fremden Bewusstsein, da ihr keine andere Möglichkeit der Erlösung aus der Zweideutigkeit gegeben ist. Der doppeldeutige Charakter des Psychischen drängt zur Fixierung hin und zugleich von der Fixierung fort. Wir wollen uns sehen und gesehen werden, wie wir sind, und wir wollen ebenso uns verhüllen und ungekannt bleiben, denn hinter jeder Bestimmtheit unseres Seins schlummern die unsagbaren Möglichkeiten des Andersseins. Aus tiefer ontologischer Zweideutigkeit resultieren mit eherner Notwendigkeit die beiden Grundkräfte seelischen Lebens: der Drang nach Offenbarung, die Geltungsbedürftigkeit, und der Drang nach Verhaltung, die Schamhaftigkeit.“ (Plessner 1972: 57ff.)

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Offenbarungsdrang auf der einen und Schamhaftigkeit auf der anderen Seite können als die beiden grundlegenden Spannungsfelder des sozialen Selbst betrachtet werden. Zeigen, wer er ist, was er denkt und was er fühlt, und dies zugleich verhüllen, ist bereits in der Subjekt-Objekt-Spaltung des Menschen angelegt. Zwar möchten wir als Persönlichkeit wahrgenommen und beachtet werden, doch zugleich ist dies ein Risiko für uns, denn alles, was von unserer Persönlichkeit die Beachtung anderer findet, wird zu einem Beobachtungs- und Beurteilungsobjekt, d.h. zu einem manifesten Bild. Und mit „diesem Bild sind wir nicht wir selbst, sondern ein Bild in einem Medium. Wir machen ein Schauspiel aus uns, stehen wie auf einer Bühne. Materiell gibt es diese Bühne nicht; sie ist eine imaginäre Vorrichtung zwischen uns und den Blickenden. Die Bühnen-Metapher verführt zu der Vorstellung, wir spielten wie auf einem Theater. Sie ist insofern irreführend, als wir für den Blick nichts anderes als ein Bild sind. Man trifft diesen Sachverhalt besser, wenn man wie Lacan sagt, zwischen uns und den Blickenden sei ein ‚Schirm‘ aufgespannt, auf dem wir uns, indem wir uns aufführen, abbilden. […] Der Schirm zeigt und verbirgt zugleich. Einerseits ist er die Projektionsfläche von Bildern, andererseits ist er wie ein Schleier vor die Dinge gezogen, ein Spiel des Erscheinen-Lassens und Verbergens. […] Im sozialen Handeln machen wir Bilder aus uns; das Prinzip ihres Funktionierens liegt darin, daß die Beobachter immer hinter sie zu sehen meinen.“ (Gebauer/Wulf 1998: 266ff.)

3.1.4 Formen des Ausgleichs zwischen Exponierungshemmung und Offenbarungsdrang Aus der ambivalenten Struktur unseres Daseins resultiert für uns die notwendige Konsequenz, unsere Persönlichkeit, d.h. sowohl unsere individuelle Körperlichkeit als auch unseren individuellen Charakter (der sich natürlich gleichsam im physischen Leib „manifestiert“42) vor Blicken und Beurteilungen anderer zu schützen. Unsere Schamhaftigkeit veranlasst uns dazu, unser individuelles Selbst auf mannigfaltige Arten und Weisen zu verhüllen und zu verbergen, wenn wir uns in öffentliche Beobachtungssphären begeben: Überindividuelle Verhaltensmaßstäbe inner-

42 Plessner hierzu: „Die Formen der Keuschheit mögen wechseln und gewiß ist Nacktheit an sich noch nichts Anstößiges. Doch ist der Mensch ohne Keuschheitssphäre überhaupt kein Mensch, denn in ihrer Existenz und wie auch immer gearteten Ausprägung findet die seelische Welt gleichsam ihre Vertretung und Darstellung wie im Gesicht gewissermaßen die ganze Persönlichkeit nochmals zum Ausdruck gebracht ist.“ (Plessner 1972: 62f.) So wird der menschliche Körper in der öffentlich sichtbaren Sphäre unwillkürlich zum Ausdruck seines innerlichen Selbst, er verhüllt insofern nicht, prägt vielmehr das Unsichtbare in Gesicht, Haltung, Figur und Gesten praktisch aus (vgl. ebd. 67f.).

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halb einer Gruppe oder Kultur, die bestimmen, vor wem und wo man sich wie zu zeigen und zu verhalten hat, ermöglichen es uns, als Person mit anderen Personen zu interagieren, ohne dass sich unsere jeweiligen Individualitäten dabei „zu nahe“ kommen. Plessner wählt für diese Schutzfunktion öffentlichen Rollenverhaltens die Metapher der Rüstung: „Das Individuum muß zuerst sich eine Form geben, in der es unangreifbar wird, eine Rüstung gleichsam, mit der es den Kampfplatz der Öffentlichkeit betritt. Auf solche Art sichtbar geworden, verlangt es entsprechende Beziehung zu anderen, Antwort von anderen. Der Mensch in der Rüstung will fechten. Eine Form, die unangreifbar macht, hat stets zwei Seiten, sie schützt nach innen und sie wirkt nach außen. Das kann sie aber nur, wenn sie definitiv verhüllt. Ohne irreale Kompensation einer Form in die Öffentlichkeit zu gehen, ist ein zu großes Wagnis. Mit dieser irrealen Kompensation manifestiert sich jedoch der Mensch, er verzichtet auf sein Beachtet- und Geachtetwerden als Individualität, um wenigstens in einem stellvertretenden Sinne, in einer besonderen Funktion, repräsentativ zu wirken und geachtet zu sein. Kann der Mensch es nicht wagen, einfach und offen das zu sein, was er ist, so bleibt ihm nur der Weg, etwas zu sein und in einer Rolle zu erscheinen. Er muß spielen, etwas vorstellen, als irgendeiner auftreten, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und sich die Achtung der anderen zu erzwingen. Die ursprüngliche Tendenz auf Respektierung und inneres Verständnis der eigenen Persönlichkeit wird infolgedessen nicht befriedigt. Ihre notgedrungene Ableitung und Transformierung in eine irreale Sphäre von Bedeutungen und Geltungen entspricht einem Kompromiß zwischen Gegensätzen, die unversöhnlich einander auszuschließen trachten, einer Scheinlösung auf ganz anderer Ebene als in der die Gegensätze liegen. Der Mensch verallgemeinert und objektiviert sich durch eine Maske, hinter der er bis zu einem gewissen Grade unsichtbar wird, ohne doch völlig als Person zu verschwinden.“ (Plessner 1972: 75)

Die auf diese Weise vorgenommene öffentliche Vertretung der Individualität ermöglicht es, sich anderen zu zeigen, ohne dabei zu viel von seinem individuellen Selbst exponieren zu müssen. Dennoch bleibt dieses Selbst bekanntermaßen verletzbar: Das Tragen einer schützenden „Rüstung“ oder „Maske“ – die öffentliche Fassade – birgt stets das Risiko, dass das Dahinterliegende, das individuell Private, entlarvt wird oder zum Vorschein kommt und Situationen der Peinlichkeit entstehen. „Territorien des Privaten schützen zwar einerseits vor dem ständigen Zugriff von Kontrollinstanzen, machen aber andererseits ‚peinliche Entdeckungen‘ und ‚Entlarvungen‘ erst möglich. Wo es keine Privatheit gibt, gibt es auch keine Peinlichkeit durch das Eindringen anderer in dieses ‚Informationsreservat‘.“ (Hallemann 1986: 259) Entsprechende Fassaden, die vor Eindringung schützen und Intim-Privates verbergen, gibt es in menschlichen Gesellschaften überall und zu jeder Zeit. Plastisch ausgedrückt: „Ein noch so dünner Lendenschurz, mag er auch nur aus einer Schnur

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bestehen, kann, wenn er verrutscht, genauso große Schamgefühle auslösen wie ein Riss in der Ganzkörper-Burka einer pakistanischen Frau auf dem Weg zum Marktplatz. Oder eine gut sichtbare Arschfalte in einer Kölner Straßenbahn.“ (Batarilo 2013: 100) Die Willkürlichkeit im Sinne von Substituierbarkeit spezifischer Konventionsinhalte und Anstandsregeln darf daher keineswegs mit einer Willkürlichkeit der diesen Regeln zugrunde liegenden Schutzfunktion verwechselt werden. Denn der Mensch benötigt Mittel, Formen und Wege, sich in der öffentlichen Sphäre zu bewegen und in Kontakt zu anderen zu treten, ohne sich selbst zu sehr durch individuelle Befindlichkeiten und Offenbarungsimpulse zu exponieren. Hier unterscheidet Plessner Diplomatie, Zeremoniell, Prestige und Takt, die als Ausgleiche zwischen Verhüllungs- und Offenbarungsdrang in der öffentlichen Gemeinschaftssphäre fungieren (vgl. Plessner 1972: 72ff.). Diplomatie versteht er als die Kunst, die in Interaktionen wirksamen Machtmechanismen von Drohung und Unterlegenheit, Stärke und Schwäche wegzudeuten, indem man sie als gerechten oder vernünftigen Ausgleich erscheinen lässt. Das Zeremoniell hingegen ist dazu da, „übernommen und angewandt zu werden in dem stillschweigenden Bewußtsein seines Spielcharakters. Ihm ordnet sich die Individualität ein und unter, ein Allgemeines verbindet eine unbestimmte Fülle von Personen, die in gewissen Bedeutungsverhältnissen entweder zueinander oder zu dritten treten, zu einheitlichem Verhalten von objektiv geregeltem Gepräge.“ (Ebd. 78) Das Zeremoniell schützt damit den einzelnen vor allem davor, seinem individuellen Selbstbehauptungsstreben zu sehr nachzugeben. Da es ihm aber zugleich Entfaltungsmöglichkeiten seiner Individualität für ein einzigartiges Ansehen verweigert, muss er sich darum bemühen, sich ein Ansehen zu verschaffen, das seiner Individualität zumindest in gewissem Maße Rechnung trägt. Er muss in seiner Erscheinung und Darstellung als konstante Linie bzw. Macht über die bloße Rollenfunktionalität hinausreichen, was ihm dadurch gelingt, dass er seiner Rolle individuelle Züge einverleibt. Grundlegendes Ziel ist eine individuelle Unangreifbarkeit als Prestige (im Gegensatz zur formal-abstrakten Unangreifbarkeit des Zeremoniells), denn nur hier „erfüllt sich die tiefste Sehnsucht jeder Seele, unangreifbar greifbar und faßlich zu werden, in der einzigartigen Form ihrer Unendlichkeit zu überzeugender Erscheinung zu kommen“ (ebd. 82). Takt versteht Plessner als die erworbene Fähigkeit der Wahrnehmung situativer Verschiedenheiten (Wo geht Geselligkeit in Geschäftlichkeit über? Wo beginnt Vertrautheit, sodass es erlaubt ist, sich zu entspannen?) sowie die daraus folgende Bereitschaft, andere nach ihrem Maßstab und nicht nach dem eigenen zu messen, d.h., eine Schonung der fremden Individualität aus Fremdachtung vorzunehmen (vgl. ebd. 98f.). Dabei ist Höflichkeit die kommunikative Ausdrucksform des inneren Taktgefühls, denn sie erzeugt eine Distanz zu anderen, ohne sie schroff oder kalt fernzuhalten. Diplomatie und Takt gleichen sich Plessner zufolge in ihrem Si-

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tuationscharakter, Diplomatie spielt sich jedoch auf der Ebene der Funktionen der Menschen ab, Takt auf der Ebene der natürlichen Personen. Während es in diplomatischen Zusammenhängen stets in irgendeiner Form um Sieg und Niederlage geht, hat Takt das Ziel, das Gleichgewicht als Balance oder Ausgleich zwischen den Menschen aufrechtzuerhalten. Plessners Betrachtung sozialer Konventionalität betont eine in Bezug auf Peinlichkeit oft vernachlässigte Perspektive: Sie veranschaulicht, inwiefern Etikette und außermoralische Normen nicht nur das Gleichgewicht und die Einheit gesellschaftlicher Gruppen bzw. die Ehre und den Status derjenigen Personen, vor denen entsprechende Normen gelten und angewandt werden, schützen, sondern auch das Regel anwendende Individuum selbst: nicht, weil eine erfolgreiche Regelbefolgung es bloß vor sozialer Exklusion (als Isolation von der Gemeinschaft) bewahrt, sondern zugleich vor zu großer Sichtbarkeit und Preisgabe seines individuellen Selbst schützt. Indem Distanz zum anderen geschaffen wird, wird zwar Intimität verhindert, zugleich jedoch eine Sphäre öffentlicher Gemeinschaft gestiftet. Daher ist das jeweilige Ausmaß gegenseitiger Nähe und Vertrautheit in der Beziehung zu anderen stets entscheidend für die Frage, ob etwas Bestimmtes voreinander als peinlich empfunden wird oder nicht. Denn „[k]ulturelle Identitäten werden bestimmt durch das Empfinden von Nähe und Ferne zu den Anderen, durch Vorstellungen von Intimität und Fremdheit. Einmal betrifft das den Körper: die Art, wie Nacktheit, erotische Anziehung und ein körperlicher Makel erlebt werden; was als dezent, schamlos und obszön gilt. Doch das ist nur ein kleiner Teil des Themas. Es geht insgesamt um den Unterschied zwischen Privatem und Öffentlichem – darum, was nur wenige angeht, und was jeder sehen und wissen darf. Es gibt keine seelische Identität, die ohne Geheimnisse und ohne den Schutz durch eine soziale Fassade auskommt.“ (Bieri 2011: 71)

Entsprechende Intimitätsgrenzen des Selbst können sich durch die Nähe in Partnerschaft43, Familie oder unter engen Freunden fast vollständig auflösen.

43 Ein schönes Beispiel für eine solche Auflösung innerhalb einer Beziehung findet sich in Kunderas Roman „Der Scherz“ (Kundera 1989), in dem beschrieben wird, wie sich der Protagonist Ludvik in die unscheinbare Lucie verliebt und ihr Gedichte vorträgt – ein Akt, der ihm vor jedem anderen Menschen höchst peinlich wäre: „Niemand vorher und niemand nachher habe ich je Verse vorgetragen; ich habe eine gut funktionierende Schamsicherung in meinem Inneren, die mich daran hindert, mich anderen Menschen gegenüber zu stark zu öffnen; anderen meine Gefühle zu offenbaren; das Vorlesen von Versen kommt mir so vor, als spräche ich nicht nur über meine Gefühle, sondern als spräche ich auch noch auf einem Bein stehend; die gewisse Unnatürlichkeit, die den Prinzipien von Rhythmus und Reim innewohnt, würde mich in Verlegenheit bringen, wenn ich mich

74 | P EINLICHKEIT – FORMEN UND F UNKTIONEN „Liebe ist ein Zustand, der genau durch das Fehlen dieser Schranken gekennzeichnet ist, und die Praxis der Liebe, das ‚Lieben‘, besteht gerade darin, jene Diskrepanz zwischen dem intimen, ‚geheimen‘ Persönlichkeitskern und seiner äußeren Darstellung abzubauen, von denen das Schamgefühl lebt. […] Untereinander plötzlich in Dingen schamhaft zu sein, die im Verlaufe einer Beziehung doch schon abgetragen waren, indiziert den Verfall von Intimität ebenso wie der völlige Wegfall aller Schamgrenzen die Auflösung von Intimität in Banalität vermuten lässt.“ (Neckel 1991: 93ff.)

3.1.5 Die Peinlichkeit gewollter und positiver Selbstexponierungen Bei Selbstexponierungen, die als Verletzungen unserer Schamhaftigkeit zu Peinlichkeitserfahrungen führen, muss es sich keineswegs zwangsläufig um ungewollte oder ungeplante Exponierungen handeln. Zwar geschehen peinlichkeitsauslösende Exponierungen stets gegen einen inneren Widerstand der uns schützenden Schamhaftigkeit, doch wird dieser in manchen Fällen ganz bewusst von uns überwunden, z.B., um bestimmte Gefühle oder Motive, die wir bisher hinter seiner Fassade verborgen hielten, vor anderen zu „offenbaren“. Auch Purshouse stellt fest, dass der Exponierte „could be ambivalent to the exposure, and still be embarrassed; in other words, he could both desire and be averse to it simultaneously. This is borne out by the fact that some people voluntarily enter situations they know will embarrass them. I might, for instance, choose to declare my love for someone whilst being embarrassed about doing so. The emotion suggests I have some [Herv. i.O.] aversion to my beloved acquiring this knowledge, though my choice of action indicates a countervailing desire that she should possess it.“ (Purshouse 2001: 531)

Eine ambivalente Haltung gegenüber der eigenen Exponierung führt auch dazu, in manchen Situationen Stolz- und Peinlichkeitsemotionen zugleich zu empfinden: Jemand kann z.B. stolz darauf sein, dass ein von ihm geschriebenes Liebesgedicht einen Preis gewonnen hat und bei einer Feier, auf welcher er einer der Ehrengäste ist, von einem renommierten Schriftsteller vorgetragen wird. Zugleich kann ihm der öffentliche Vortrag seines Liebesgedichtes auch peinlich sein, da intime Gefühle von ihm darin zum Ausdruck gebracht werden. Er kann Stolz über die öffentliche

ihnen anders hingäbe als in Abgeschiedenheit. Lucie verfügt aber über die wundersame Macht (niemand anders nach ihr hat sie je besessen), diese Sicherung zu beherrschen und die Last der Schüchternheit von mir zu nehmen. Ich konnte mir ihr gegenüber alles erlauben: sogar Aufrichtigkeit, sogar Gefühle, sogar Pathos.“ (Ebd. 88f.)

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Anerkennung seiner Leistungen empfinden und zugleich Peinlichkeit über die seine Schamhaftigkeit verletzende Exponierung, die damit einhergeht. Das in solchen Zusammenhängen gern angeführte Bescheidenheitsargument, Peinlichkeit resultiere bei positiven Exponierungen ja nicht aus der reinen Exponierung, sondern vielmehr aus einer negativen Diskrepanz zu persönlichen „Bescheidenheitsstandards“, lässt sich ohne Weiteres mit den obigen Betrachtungen vereinbaren: Begreift man „Bescheidenheit“ nicht nur als (erstrebenswerten) Verhaltensmaßstab bei der öffentlichen Selbstdarstellung, sondern auch als allgemeine Disposition der Zurückhaltung vor anderen, ist diese begrifflich durchaus der Schamhaftigkeit als Drang nach sozialer Verhaltung subsumierbar. Zwar bezog sich „Bescheidenheit“ ursprünglich auf die lateinische Wortgruppe „peritia, scientia, discretio“ (zu Deutsch: Erfahrenheit, Einsicht, Verstand) und bezeichnete eher eine Tätigkeit der persönlichen Vernunft, die sich vor allem auf das intellektuelle Unterscheidungsvermögen und die persönliche Mäßigung als Beschränkung bezog (vgl. Grimm 1854: Bd. 1, Sp. 1557ff.). Doch später wurde „Bescheidenheit“ um die Bedeutung von „modestia“ und „moderatio“ erweitert, die die reine Verstandestätigkeit um die der Gesinnung ergänzte, denn „der kluge, vorsichtige ist zugleich zurückhaltend“ (ebd.). Insofern bezieht sich der Bescheidenheitsbegriff sowohl auf Standards und Ansprüche des öffentlichen Selbstbildes hinsichtlich spezifischer Genügsamkeits- und Mäßigungsnormen als auch auf eine generelle Zurückhaltung des Selbst vor anderen als das „masz, das dem menschen sein verkehr mit andern auflegt“ (ebd.). Jemand, dem eine öffentliche Ehrungszeremonie ein wenig peinlich ist, lässt sich dementsprechend sowohl als „bescheiden“ im ersteren Sinne bezeichnen (wenn die Ehrung als Lobpreisung seiner Person seine öffentlichen Selbstbildstandards verletzt) als auch als „bescheiden“ im letzteren Sinne (wenn die Ehrung als Exponierung seines Selbst seine Schamhaftigkeit verletzt). 3.1.6 Begriffliche Grenzen zwischen Verlegenheit und Peinlichkeit Man mag nun einwenden, es sei zwar plausibel, dass schamhaftigkeitsverletzende Selbstexponierungen zu Emotionen führten, die dem Betroffenen irgendwie unangenehm seien oder ihn in Verlegenheit brächten, doch dass sie spezifisch „peinlich“ seien, gehe aus den vorangestellten Betrachtungen nicht hervor – bezieht sich „embarrassment of exposure“ doch sowohl auf den Bedeutungsgehalt der „Verlegenheit“ als auch der „Peinlichkeit“. Zudem erfolgten die von Lewis gezogenen Rückschlüsse bei seinen empirischen Untersuchungen mit Kleinkindern ja anhand äußerer Reaktionen, die ebenso auf rudimentäre Erfahrungen von Schamemotionen hinweisen könnten.

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Dass Selbstexponierungen ein Gefühl von Scham evozieren, impliziert allerdings, dass sie vom Betroffenen zugleich als Verfehlungen eines Selbstideals bewertet werden, denn die Schamemotion setzt, wie bereits dargelegt wurde, ein Idealbild bzw. eine Idealvorstellung des eigenen Selbst voraus, gegen das die Person beschämend abfallen kann. Das bedeutet zwar nicht, dass Kinder erst dann zu Schamemotionen fähig wären, wenn sie ein komplexes „Ich-Ideal“ herausgebildet hätten, allerdings erfordern auch frühe Schamemotionen als schmerzliche Erfahrungen eines „absoluten Liebesunwertes“ (vgl. Wurmser 2008), die Verhaltensweisen und Gesten anderer als Ablehnungen seines Selbst zu deuten. Ein solcher Erfahrungskontext scheint in den Studien von Lewis jedoch nicht gegeben zu sein. Doch wie lässt sich nun ausschließen, dass „embarrassment of exposure“ primär auf Verlegenheitszuständen basiert? Zwar zeigten die Beispiele, dass Selbstexponierungen als peinlich empfunden werden können, indes ließe sich den jeweils Betroffenen gemäß einer intuitiven Sprachverwendung in allen Fällen wohl auch ein Zustand der „Verlegenheit“ zuschreiben. Zur Tatsache, dass es im Englischen mit „embarrassment“ nur einen Ausdruck für „Peinlichkeit“ und „Verlegenheit“ gibt, kommt hinzu, dass „Peinlichkeit“ im Deutschen in ihrem heutigen Bedeutungsschwerpunkt ein so junger Ausdruck ist, dass in etwas älteren Texten meist von „Verlegenheit“ und nicht von „Peinlichkeit“ gesprochen wird, wenngleich offensichtlich auch Peinlichkeitsphänomene (mit)gemeint sind (vgl. Goffman 1986, Gross/Stone 1976; Hellpach 1913, Brugmans 1919, Plessner 1941/1972). Auch im heutigen Sprachgebrauch umfasst „Verlegenheit“ noch zu großen Teilen die Bedeutung von „Peinlichkeit“. Der Duden bezeichnet sie als „durch Befangenheit, Verwirrung verursachte Unsicherheit, durch die man nicht weiß, wie man sich verhalten soll“ (Duden Online 2013), wohingegen das Free Dictionary sie als „Gefühl, dass man sich unsicher und hilflos fühlt, weil einem etwas sehr peinlich ist“ (The Free Dictionary Online 2013) definiert.44 Ob dem Zustand der Verlegenheit notwendigerweise eine Peinlichkeitserfahrung vorausgehen muss, ist aufgrund solcher Definitionsdivergenzen also nicht klar ersichtlich. Zumindest bildet Verlegenheit wohl insofern einen charakteristischen Bestandteil peinlicher Situationen,

44 In einem zweiten Bedeutungsschwerpunkt bezeichnet „Verlegenheit“ darüber hinaus auch eine „Unannehmlichkeit (als Befindlichkeit)“ (The Free Dictionary Online 2013) bzw. eine „unangenehme, schwierige Lage“ (Duden Online 2013). Hier meint sie einen prekären oder schwierigen sozialen Umstand, eine unangenehme Lebenslage, die erst einmal nichts mit Verlegenheitsgefühlen als situativen Verhaltensunsicherheiten zu tun haben muss. So kann man davon sprechen, sich in einer „finanziellen Verlegenheit“ zu befinden, ohne dass man darüber „verlegen“ sein müsste. Beiden Bedeutungsdimensionen ist allerdings gemein, dass von einer Verlegenheit Betroffene in gewisser Hinsicht sozial handlungsunfähig sind und nicht so können, wie sie eigentlich möchten oder sollten.

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als auf etwas Peinliches immer dann verlegen reagiert wird, wenn es den Betroffenen zugleich verunsichert oder ihn hilflos macht. „Verlegenheit“ kann also als ein typischer Folgezustand des peinlich Berührten – als Konsequenz von Peinlichkeitserfahrungen – begriffen werden. Dennoch ist dies noch zu kurz gegriffen, denn bei näherem Hinsehen zeigen sich weitere begriffliche Strukturdifferenzen: Da sich „Verlegenheit“ immer auf einen Zustand bezieht, der sich durch Hilflosigkeit bzw. Unsicherheit im Verhalten anderen gegenüber auszeichnet, ist ihr Erscheinen im Gegensatz zu Peinlichkeitserfahrungen zwingend auf die Gegenwart anderer Personen angewiesen. Verlegen ist man, wenn man beobachtet wird (bzw. denkt, dass man beobachtet wird), Verlegenheitszustände treten nicht auf, wenn man sich vollkommen allein und ungestört wähnt.45 „Was wir allein als echte Verlegenheit bezeichnen dürfen, tritt immer erst mit dem Moment des persönlichen Gegenübers ins Leben. Verlegenheit ist mehr als eine eminente, sie ist eine exklusiv sozial-psychische Gemütsbewegung. Indem sie nicht bloß die Existenz, sondern Anwesenheit einer zweiten menschlichen Person voraussetzt, ist sie (wenn man dies sprachlich gestatten will) die sozialpsychischste aller Gemütsbewegungen überhaupt.“ (Hellpach 1913: 3)

Peinlichkeitsgefühle kann man hingegen auch im Privaten empfinden. Die bisher entwickelte begriffliche Basis verankert Peinlichkeit zwar in einer Exponierung vor anderen, doch wird im weiteren Verlauf der Untersuchung noch aufgezeigt, wie sich diese Basis ontogenetisch um eine Evaluationskomponente, die sich auch im Privaten aktivieren kann, erweitert. Wir müssen hier zur begrifflichen Unterscheidung von „Peinlichkeit“ und „Verlegenheit“ schon vorgreifen, wobei die Tatsache, dass sich Peinlichkeitsgefühle auch in privaten Kontexten einstellen können, bereits an früheren Textstellen verdeutlicht worden ist. So kann man Peinlichkeit empfinden, wenn man plötzlich bemerkt, dass man eine Verabredung mit einem Bekannten vergessen hat, den man zuvor bereits zwei Mal versetzt hat. Verlegen

45 Diese Unterscheidung spiegelt sich nicht zuletzt auch im alltäglichen Sprachgebrauch wider. Sätze wie „Da war…/wurde ich…/Das machte mich verlegen./Ich fühlte Verlegenheit.“ passen nur zu sozialen Situationen, Sätze wie „Das war mir peinlich./Da empfand ich Peinlichkeit.“ können auch auf private Situationen referieren. So ließe sich sinnvoll sagen: „Da fiel mir plötzlich ein, als ich allein vor dem Fernseher saß, dass ich doch eine Verabredung hatte und mein Bekannter jetzt bestimmt schon seit einer halben Stunde auf mich wartete. Das war mir total peinlich.“ Aber zu sagen: „Da fiel mir plötzlich ein, als ich allein vor dem Fernseher saß, dass ich doch eine Verabredung hatte und mein Bekannter jetzt bestimmt schon seit einer halben Stunde auf mich wartete. Da wurde ich total verlegen.“ erscheint sprachlich hingegen unpassend bzw. wenig sinnvoll.

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wird man hingegen erst dann sein, wenn es zur realen Begegnung oder zum Telefonat mit dem anderen kommt. Auch beim Referenten, der nach seinem Vortrag den offenen Hosenlatz vor dem Toilettenspiegel entdeckt, stellt sich Peinlichkeit und keine Verlegenheit ein. Peinlichkeitserfahrungen sind folglich nicht zwingend an Verlegenheit gebunden, doch setzen Verlegenheitszustände stets Peinlichkeitserfahrungen voraus? Ich gehe davon aus, dass Verlegenheit auch ohne Peinlichkeit entstehen kann, eine Ansicht, die auch Pernlochner-Kügler vertritt: „Am besten kann man Verlegenheit beschreiben als ein Gefühl, das dann auftritt, wenn man sich unsicher ist. […] Verlegenheit ist also die Konsequenz aus peinlichen Situationen, kann aber auch ohne Peinlichkeits- und Schamgefühle auftreten.“ (Pernlochner-Kügler 2004: 41) Nun ist Verlegenheit jedoch kein reines Gefühl der Unsicherheit oder Hilflosigkeit in öffentlichen Kontexten, wie etwa die Unsicherheit, sich nicht zwischen zwei Angeboten eines Verkäufers entscheiden zu können, oder die Hilflosigkeit eines Schülers, der der Lösung einer Aufgabe bei einer schriftlichen Prüfung nicht näherkommt. Sie ist bekanntermaßen eine besondere Unsicherheit, eine spezifische Hilflosigkeit im zwischenmenschlichen Kontakt. Während die Unsicherheit für den zwischen zwei Angeboten Hin-und-her-Schwankenden und die Hilflosigkeit des Schülers nicht deren Aufmerksamkeitsfokus bilden, sind es bei der Verlegenheit gerade diese Unsicherheit oder Hilflosigkeit gegenüber anderen, die zum eigenen Beobachtungsinhalt werden. Derjenige, der verlegen wird, wechselt von der Akteurperspektive der Beobachtung in die Selbstbeobachtung des eigenen hilflosen oder unsicheren Zustandes vor anderen – so gehen ihm die natürliche Selbstdistanz und damit das für die intendierte Selbstdarstellung notwendige Denk- und Handlungsvermögen kurzfristig verloren. „Unsicherheit steigert sich zur Verlegenheit, wenn das Wissen oder vermeintliche Wissen darum das zur Erfüllung des jeweils erforderten Benehmens richtige Verhältnis des Menschen zu seinem Körper unterbindet. Er findet dann keine Worte, stottert, stolpert oder steht wie angewurzelt.“ (Plessner 1941: 124) Verlegenheit setzt demnach wie auch Peinlichkeit einen Zustand objektiver Selbstaufmerksamkeit voraus, hat jedoch zugleich einen anderen begrifflichen Bezugspunkt: So können Komplimente ihrem Empfänger peinlich sein und ihn zugleich in Verlegenheit bringen. Peinlich sind sie ihm, weil sie ihn exponieren oder persönliche Standards verletzen. Die Verlegenheit über ein Kompliment basiert jedoch nicht auf Exponierung oder Anspruchsverletzung, sondern auf der Hilflosig-

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keit bzw. Unsicherheit, auf die unangenehme, ungewohnte oder schwierige Situation möglichst angemessen reagieren zu können.46 Verlegenheit bezieht sich also weniger auf bereits Geschehenes als vielmehr auf Zukünftiges, sie ist eine Blockade des kommunikativen Anschlussvermögens: Man will die passende Reaktion zeigen oder Antwort geben, ist aber um sie „verlegen“. Aus diesem Grunde kann schon die Furcht vor einer peinlichen Exponierung verlegenheitserzeugend wirken, was oft dazu führt, dass die Situation in der weiteren Folge tatsächlich peinlich wird, da bereits die Exponierung der eigenen Verlegenheit bekanntermaßen häufig als peinlich empfunden wird. Kommunikative Kontexte können also bisweilen verlegenheitsspezifische Zustände erzeugen, ohne dass einer der Kommunikationsteilnehmer (bereits) peinlich berührt sein müsste: Wenn etwa ein Arbeitskollege oder Bekannter erzählt, am Wochenende sei ein Familienmitglied verstorben, entsteht bei seinem Gegenüber häufig Verlegenheit. Diese resultiert aus der schlichten Tatsache, nicht zu wissen, wie man auf eine solche Information am besten reagieren soll und sich bei dieser Unsicherheit als auf sich selbst zurückgeworfen zu erleben. Kommt die Information zudem ganz überraschend, etwa auf die harmlose Frage „Na, wie geht es Ihnen, hatten Sie ein schönes Wochenende?“, ist die Verlegenheit natürlich umso größer, da man völlig unvorbereitet von der Erfordernis, einen angemessenen Anschluss zu produzieren, getroffen wird. Peinlich muss einem die Situation nicht unbedingt sein, vielmehr gilt es, Peinlichkeit in der Folge zu vermeiden, z.B. nun nichts zu entgegnen oder zu tun, das das Gegenüber als unangemessen empfinden könnte. Dass sich Peinlichkeit ihrerseits in interaktiven Kontexten auch ohne Verlegenheit aktivieren kann, zeigte bereits das Beispiel der gewissenhaften Schülerin, welcher ja gerade die kommunikative Raffinesse ihrer Entschuldigung sehr peinlich ist, die sie davor bewahrt, beim Zuspätkommen in Verlegenheit zu geraten. Aus diesen Unterscheidungsmerkmalen lassen sich folgende begriffliche Strukturdifferenzen gewinnen: Peinlichkeitsphänomene sind durch Zustände objektiver Selbstaufmerksamkeit bedingt und aktivieren sich bei öffentlicher Selbstaufmerksamkeit in öffentlichen und privaten Kontexten. Verlegenheit ist ebenfalls durch objektive Selbstaufmerksamkeit bedingt, aktiviert sich jedoch nur bei öffentlicher Selbstaufmerksamkeit in öffentlichen Kontexten. Sie tritt zwar typischerweise in peinlichen Situationen auf, kann sich aber auch unabhängig von Peinlichkeitserfahrungen einstellen. Häufig wird Verlegenheit als peinlich empfunden, man kann sich sogar für sie schämen, sie

46 Dass Komplimente als klassische „Verlegenheitserzeuger“ durchaus auch Peinlichkeit ohne Verlegenheit auslösen, verdeutlichen Fälle, in denen der Betroffene sie in einer privaten Situation erhält, etwa alleine einen Brief, eine SMS oder E-Mail liest.

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kann jedoch weder mit Peinlichkeit noch mit Scham gleichgesetzt oder als ihre rein mildere Variante charakterisiert werden. „Der Verlegene schämt sich allenfalls seiner Verlegenheit, die eine zu starke Ichbindung, Minderwertigkeitsbewusstsein, Ambition und Eitelkeit verrät. Aber die Verlegenheit hat als solche mit Scham nichts zu tun. Sie entspringt u.U. ausgeprägter Schamhaftigkeit und Empfindlichkeit, ist aber mit dem sich Schämen nicht zu verwechseln. Man schämt sich aus irgend einem Grunde, einer Sache, eines Negativums, und dieses Bewusstsein ist nicht an Gemeinschaft gebunden. Verlegenheit dagegen ist das Unvermögen, mit einer Lage, die durch irgend ein Zusammensein bestimmt wird, fertig zu werden. Im Unterschied zur einfachen Desorientiertheit aber überblickt man die Lage nur allzu gut, d.h. glaubt sie zu überblicken und wird sich auf diese Weise eines Missverhältnisses zwischen Überblick bzw. Verständnis für die Anforderungen der Situation und dem Unvermögen, ihnen zu entsprechen, bewusst.“ (Plessner 1941: 124f.)

Natürlich gehen die Gefühlsnuancen von Peinlichkeit und Verlegenheit in der kommunikativen Wirklichkeit in unterschiedlichsten Formen fließend ineinander über und werden nicht als voneinander getrennte Zustände erlebt. Aus Unsicherheit kann unmerklich Verlegenheit resultieren, deren Exponierung dann zu Peinlichkeit führen kann, wie etwa in folgendem Situationskontext: „Jeder kennt die Situation, dass man im Lift einen Nachbarn, Vorgesetzten oder Kollegen trifft, mit dem man eher wenig zu tun hat und man weiß nicht recht, wie man die gemeinsame Liftfahrt gestalten soll: Man will irgendwas sagen, weiß aber nicht was. Zu schweigen ist auch unangebracht, das sieht nach Ignoranz aus. Den anderen anschauen, ohne ein Gespräch aufzunehmen, ist auch nicht angebracht. Diese Unsicherheit im Verhalten drückt sich bei beiden dann meist als Verlegenheitsgefühl aus. Keiner schämt sich. Die Situation ist vorerst auch nicht peinlich, sie kann in Konsequenz aber peinlich werden, wenn gewisse Verhaltensmerkmale der Verlegenheit gezeigt werden, wie zu Boden schauen und dem Blick auszuweichen.“ (Pernlochner-Kügler 2004: 40f.)

Eine Verhaltensunsicherheit und -hilflosigkeit im hier beschriebenen begrifflichen Sinne von „Verlegenheit“ bereits bei den ca. zweijährigen Kleinkindern zu postulieren, welche Lewis in seiner Untersuchung beobachtete, erscheint nun wenig sinnvoll. Zum einen ist ihr Verhalten grundlegend als Folge der Hervorhebung ihrer Person durch die Aufmerksamkeit anderer zu betrachten. Zum anderen würde es, wenn es auf einer situativen Verunsicherung vor anderen hinsichtlich des Anschlussverhaltens basierte, voraussetzen, die Kinder hätten bereits Verhaltensnormen und -strategien der Selbstdarstellung internalisiert und wären nun in ihrer diesbezüglichen Selektions- und Darstellungsleistung verunsichert. „Embarrassment elicited by exposure“ kann daher als Peinlichkeitserfahrung im Sinne einer

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schamhaftigkeitsverletzenden Exponierung des Selbst verstanden werden, die sich begrifflich von Emotionen der „Scham“ und „Verlegenheit“ unterscheiden lässt. 3.1.7 Zusammenfassung Die zentrale Voraussetzung von Peinlichkeitserfahrungen besteht in der Fähigkeit der Selbstobjektivierung. Die ersten rudimentären Erscheinungsformen solcher Erfahrungen im Sozialisationsprozess können in Selbstexponierungen verankert werden, die die Schamhaftigkeit als Verhaltungs- und Verhüllungsdrang verletzen. Entsprechende Exponierungserfahrungen bei Erwachsenen können sich sowohl auf innere als auch äußere Selbstaspekte beziehen. Dass sie begrifflich als „Peinlichkeit“ klassifiziert werden können, wenngleich sie nicht unbedingt auf das referieren, was gemeinhin mit einer „peinlichen Situation“ assoziiert wird, liegt zum einen daran, dass sie als eine allgemeine Basisstruktur von Peinlichkeitserfahrungen zur Erklärung und Analyse konkreter peinlicher Situationen, in denen klassischerweise irgendetwas „schief geht“, nur bedingt geeignet sind. Zum anderen liegt es an der bereits erwähnten Tatsache, dass peinliche Exponierungserfahrungen von uns in der Regel immer schon mit einer Unangemessenheit oder Fehlerhaftigkeit der Exponierung begründet werden: Einerseits, weil wir unser Verhalten beständig bewerten und ein Unlustgefühl wie Peinlichkeit entsprechend als Folge eines Defizits oder Fehlers zu rationalisieren versuchen, andererseits vermutlich auch darum, weil ein Eingeständnis situativer Darstellungsmängel weniger persönlich und selbstbildbedrohend – und somit weniger peinlich oder beschämend – ist als das Offenlegen und Reflektieren persönlicher Schamhaftigkeit.47 Die Abgrenzung von „Peinlichkeit“ und „Verlegenheit“ verdeutlichte außerdem, inwiefern Verlegenheitszustände und -reaktionen zwar typische Folgewirkungen von Peinlichkeitserfahrungen in interaktiven Kontexten sind, aber auch ohne Peinlichkeit auftreten können. Die Betrachtungen veranschaulichten nicht zuletzt, inwieweit peinliche Exponierungserfahrungen trotz ihrer „Subjektivität“ in höchstem Maße kommunikativer Natur sind: So entstehen sie nicht nur im kommunikativen Kontakt zu anderen, sie haben auch genau dort ihre Erscheinungssphäre. Die notwendigen Strukturmerkmale von Peinlichkeit als Selbstexponierung können nun abschließend wie folgt aufgelistet werden:

47 So ist es für viele Personen heutzutage erträglicher und leichter mit persönlichen Selbstbildidealen zu vereinbaren, die eigenen Peinlichkeitsgefühle auf situative Fehldarstellungen oder äußere Auslöser zu schieben, als sich einzugestehen, eine besonders schamhafte Person zu sein. Eine ausgeprägte Schamhaftigkeit steht dem kulturellen Selbstideal der „Coolness“ (als moderne Variante der Contenance) fast schon konträr gegenüber.

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1. 2.

3.

Der Betroffene befindet sich im Zustand objektiver öffentlicher Selbstaufmerksamkeit in einem öffentlichen Kontext. Er hat das Empfinden, dass Selbstaspekte, d.h. Gedanken, Gefühle, Einstellungen, Körper, bestimmte Körperteile etc., exponierte Beobachtungsobjekte vor anderen sind. Diese Exponierung kann gegen seinen Willen oder unbeabsichtigt geschehen, jedoch auch bewusst und geplant erfolgen. Die Exponierung vor anderen verletzt seine subjektive Schamhaftigkeit als Drang nach Verhaltung und Verhüllung seines Selbst vor anderen.

Die chronologische Reihenfolge von 1 und 2 kann situativ variieren, je nachdem, ob der Zustand objektiver Selbstaufmerksamkeit erst durch die Wahrnehmung einer Exponierung vor anderen ausgelöst wird oder nicht.

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ALS DEFIZITÄRES ÖFFENTLICHES S ELBSTBILD

Peinlichkeitsgefühle, die in einer negativen Bewertung des öffentlichen Selbstbildes bestehen, nennt Lewis „embarrassment of evaluation“ (vgl. Lewis 1995). Sie lassen sich dem bereits umrissenen Verständnis von Peinlichkeit als selbst-bewusster Emotion öffentlicher Selbstbilddiskrepanz zuordnen und sollen nun eingehender betrachtet werden. 3.2.1 Zur ontogenetischen Entwicklung evaluativer Peinlichkeitsgefühle Evaluative Peinlichkeitsgefühle setzen voraus, dass das Kind die Perspektive der anderen in sein eigenes Handeln mit einbeziehen kann. Die egozentrische Sichtweise, mit der Kleinkinder sich noch nicht in andere hineinversetzen und das eigene Tun mit Maßstäben bewerten können, die von ihren eigenen Bedürfnissen und Wünschen divergieren, hält etwa bis zum fünften Lebensjahr an (vgl. Mead 1968). In der Entwicklungszeit davor erkennen Kinder zwar nach und nach an den Reaktionen ihres sozialen Umfeldes, dass manche Verhaltensweisen gut und andere schlecht sind – z.B., dass man der Mutter mit einem selbst gemalten Bild eine Freude bereitet oder dass man Ärger bekommen kann, wenn man seine Geschwister schlägt – sie wissen aber noch nicht, dass und inwiefern die eigene Betrachtungsperspektive von der Sichtweise anderer divergiert.

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„Die Folge dieser egozentrischen Sichtweise ist, daß sich Kinder manchmal so verhalten, daß ihr Verhalten den Erwachsenen peinlich wird, die ja für sie Verantwortung tragen. Jeder kennt die manchmal so höllenpeinlichen Geschichten, die Kinder auf ihrer jeweiligen Entwicklungsstufe ganz unbefangen erzählen. […] Die Vorwürfe der Eltern später dann wird es nicht verstehen. […] Schließlich hat es doch nur Gutes im Sinn gehabt.“ (Artel/Derksen 1999: 64)

Bevor sich Peinlichkeitsgefühle beim Kind quasi-automatisch infolge eigener negativer Verhaltensbewertungen einstellen, sind es die positiven und negativen Reaktionen seiner Kommunikations- und Beziehungspartner, die ihm Bedeutung und Auswirkung seines Handelns verdeutlichen und es auch für die Fremdbeobachtung seiner wahrnehmbaren Außenseite zunehmend sensibilisieren. „Children are taught that others are observing them, scrutinizing their appearance, manners, and other social behavior. After several years of such training, children develop the requisite social awareness and may be as aware of their own observable aspects as are those around them.“ (Buss 1980: 41) Kurz nach Beendigung des zweiten Lebensjahres beginnen die meisten Kinder zu begreifen, dass bestimmtes Verhalten von ihnen Gelächter oder Ärger zur Folge hat. Ein frühes Verhalten, das auf diese Weise reguliert wird, ist die Selbstkontrolle über die eigenen Ausscheidungen. Sobald Kinder „trocken“ sind, riskieren sie zugleich, bei entsprechenden Kontrollverlusten ausgelacht oder ausgeschimpft zu werden. Dementsprechend sind sie sehr darum bemüht, solche „Unfälle“ zu vermeiden. Dennoch können sie in diesem Alter nicht verstehen, wie ihr Verhalten aus fremder Perspektive wahrgenommen und bewertet wird. Das hektische Ausziehen ihrer nassen Hose auf der Toilette im Kaufhaus, begleitet vom genervten Verhalten der Mutter und dem abrupten Aufbruch nach Hause, obwohl man doch eigentlich noch ein Eis kaufen wollte, reichen jedoch aus, um dem Kind zu vermitteln, dass es nicht gut und richtig war, was es getan hat. Das schadenfrohe Gelächter des älteren Bruders, als ihm zu Hause berichtet wird, was geschehen ist, trägt seinen notwendigen Rest dazu bei. Auf diese und ähnliche Weise lernen Kinder, wie ihre öffentlichen Verhaltensweisen bewertet werden. Dass vor allem das Auslachen in höchstem Maße sanktionierend und somit regulativ auf das eigene Verhalten wirkt, wird bereits von Bergson in seiner Theorie des Lachens formuliert (vgl. Bergson 2011), welche nach Titze „implizit die sozial nützlichen Effekte hämischer Schadenfreude thematisiert. Danach erfüllt ein schadenfreudiges Lachen eine disziplinarische - und damit sozial regulative Funktion. Bergson (1921: 131) sah im (Aus-)Lachen ein ‚Erziehungsmittel‘, das diejenigen straft, die sich als komische Außenseiter nicht in das Regelsystem der Gesellschaft fügen: ‚Das Lachen ist nun einmal ein Erziehungsmittel. Ist Demütigung sein Zweck, so muss es der Person, der

84 | P EINLICHKEIT – FORMEN UND F UNKTIONEN es gilt, eine peinliche Empfindung verursachen. Dadurch rächt sich die Gesellschaft für die Freiheiten, die man sich gegen sie herausgenommnen hat.‘ […] Als Folge dieser peinlichen ‚sozialen Feuertaufe‘ müssten die Verlachten eher motiviert sein, ihr komisches Anderssein, ihre soziale Devianz zu korrigieren und sich an die normativen Erwartungen der Gesellschaft anzupassen. Billig (2005, 117/201) beschreibt, welche Bedeutung dieses disziplinarische Lachen schon in der Eltern-Kind-Beziehung hat: ‚Erwachsene können Kindern beibringen, sich an erwünschte soziale Regeln anzupassen, indem sie diese verlachen. Dies ist ein höchst wirksames Erziehungsmittel [...]‘.“ (Titze 2009: 24f.)

Darüber hinaus werden Kinder auch mit dem expliziten Appell „Schäm dich!“/„Du solltest dich schämen!“ oder der rhetorisch-erzieherischen Frage „Was sollen denn die Leute von dir denken?“ auf Verhaltensfehler aufmerksam gemacht. Bei jüngeren Kindern stellen sich durch einen solchen Tadel oder andere von außen kommende Zurechtweisungen dann Gefühle negativer Selbsteinschätzung ein, die sich sonst nicht aktiviert hätten. „Insbesondere bei Kindern, die sich im elterlichen Tadel meist erst des negativen Wertes ihrer Handlung bewusst werden – nicht also bloß erwischt werden wie etwa der erwachsene Dieb – und sich darin selbst erst kennen lernen oder zu lernen meinen, fließt leicht beides zusammen, und sie ‚schämen sich‘ nun – getadelt – ihrer Ungezogenheit.“ (Scheler in Rutishauser 1969: 83)

Erst wenn es die Fähigkeit der Rollenübernahme entwickelt hat, kann ein Kind sein eigenes Verhalten an den Erwartungen anderer orientieren und äußere „Hinweise“ entbehren stückweise ihrer Notwendigkeit. Der entsprechende kognitive Entwicklungsschritt kann empirisch z.B. durch folgenden Versuch nachgewiesen werden: „Given the choice of silk stockings or a toy truck as gift for their mothers, 3-years-olds pick the truck, assuming that Mom wants the same thing as they do. About half of the 5-year-old children will pick the stockings, and all 6-year-olds do (Flavell, Botkin, Fry, Wright & Jarvis 1968), but it clearly takes years for a child to recognize that others’ perspectives may differ from his or her own.“ (Miller 1996: 83)

Neben expliziten Lernsituationen, die sich durch unmittelbares Sanktionieren oder Belohnen eines bestimmten Verhaltens auszeichnen, eignet sich das Kind eine Vielzahl sozialer Standards und Werte auch indirekt an: indem es andere nachahmt, beobachtet, sich mit bestimmten Menschen identifiziert usw. Andere sind also unmittelbar oder mittelbar „influential in the development of this value structure, much as Mead would suggest that socialisation experience is crucial in the development of the generalised other. In this sense, personal standards are reflections [Herv. i.O.] of societal or universal values.“ (Gibbons 1990: 122)

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Soziale Verhaltensstandards und -werte werden für das Kind im Sozialisationsprozess mehr und mehr zum Dreh- und Angelpunkt seiner tagtäglichen Verhaltensorientierung und -bewertung: Eigene Handlungen bzw. Handlungspläne werden immer beständiger und automatisierter anhand internalisierter Standards gemessen und entsprechend beurteilt. Evaluative Peinlichkeitsgefühle lassen sich in dieser Hinsicht durchaus beschreiben als „verinnerlichte Fremdzwänge, die zunächst von außen und mittels Gewalt an die Individuen herangetragen werden, um schließlich über die fortwährende ‚Konditionierung‘ durch Erziehung und Verflechtungsdruck als Selbstzwänge im Affekthaushalt der Subjekte aufgebaut zu werden, wo sie nunmehr in Gestalt eines entsprechenden Ich-Ideals als natürliche Eigenschaft der Person erscheinen“ (Neckel 1991: 136).

Ist das Kind irgendwann nicht mehr vollständig auf kommunikative Rückmeldungen zu seinem öffentlichen Verhalten angewiesen, da es grundlegende Normen und Maßstäbe bereits internalisiert hat, entwickelt sich damit zugleich die Möglichkeit, dass seine eigene Selbstbewertung von äußeren Fremdbewertungen divergieren kann oder auf Selbstaspekte referiert, die von anderen gar nicht beobachtet werden (können). Bei Erwachsenen zeigt sich dies etwa in Peinlichkeitsempfindungen beim Erzählen einer Notlüge, bei der ja nichts exponiert, sondern vielmehr etwas verborgen wird. Basiert evaluative Peinlichkeit auch in solchen Fällen auf einer Selbstexponierung? 3.2.2 Evaluative Peinlichkeit und Selbstexponierung Zwar gehen Peinlichkeitsphänomene negativer Selbstbildbewertungen über eine reine Verletzung der Exponierungshemmung hinaus, dennoch könnte „Selbstexponierung“ ein notwendiges Merkmal aller Peinlichkeitsphänomene sein. Das Beispiel des Engländers, der zum schwedischen Saunieren eingeladen wird, scheint dies plausibel zu machen: Er exponiert seinen nackten Körper, und das ist ihm peinlich aufgrund des Widerspruches seiner aktualen öffentlichen Selbstdarstellung mit persönlichen Ansprüchen an sein öffentliches Selbstbild. Die ebenfalls peinlichkeitserzeugende Verweigerung der Einladung hingegen wäre eine Exponierung von Unhöflichkeit vor anderen. Nun geht es in manchen Fällen gerade um das Nicht-Exponieren bzw. um das Unterlassen einer Handlung im Sinne des NichtTuns, das Peinlichkeit evoziert. Beispielsweise kann jemand Peinlichkeit empfinden, wenn er es unterlässt, einer älteren und behinderten Person in der Bahn den eigenen Sitzplatz anzubieten, sofern dies seinen Ansprüchen an sein öffentliches Selbst (z.B. hilfsbereit und zuvorkommend sein) widerspricht. Hierfür lassen sich

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leicht verschiedene Gründe finden. So kann er selbst müde sein und noch eine lange Bahnfahrt vor sich haben, sodass er sich entscheidet, seinem Ruhebedürfnis nachzugehen und im Gegenzug ein wenig Selbstbilddiskrepanz in Kauf zu nehmen. Vielleicht unterlässt er es aber auch aus der Sorge heraus, eine entsprechende Interaktion mit der unbekannten und nicht einschätzbaren Person könnte für ihn in der Außendarstellung ebenfalls peinlich werden. Müsste er diese Person doch vor allen anderen Fahrgästen ansprechen – wobei es ungewiss wäre, wie sie reagierte und ob sie ihn überhaupt verstünde. Die Gestaltung der Interaktion könnte für ihn problematisch und ggf. unangenehm werden. Ein solches Risiko – das einer Selbstexponierung mit ungewissem Ausgang – ist er vielleicht nicht bereit einzugehen. Der Schriftsteller Joseph von Westphalen berichtet ebenfalls von einer persönlichen Peinlichkeitserfahrung, die auf einer Exponierungs-Unterlassung beruht: „Noch peinlicher, als etwas zu tun, kann es sein, etwas nicht zu tun. Zum Beispiel habe ich einmal unterlassen – und das ist jetzt kein Witz – Helmut Kohl zu ohrfeigen. Wir trafen uns, ich glaube es war 1987, auf der Buchmesse an einem Stand. Er blätterte in einem Text von mir, in dem ich satirisch fantasiere, dass man Helmut Kohl eigentlich den Kopf abschlagen müsse oder irgendetwas Furchtbares. Der eher versponnene Text heißt ‚Warum ich Terrorist geworden bin‘. Ich stand neben ihm und dachte, jetzt müsste ich ihm konsequenterweise wenigstens eine schmieren – tat es aber nicht. Das war mir peinlich. Ich hätte ziemliches Aufsehen erregt. Das wäre auch peinlich gewesen. Aber noch peinlicher war mir, dass ich es nicht getan habe. Ich fand mich feige. Die Figur in meinem Text war wieder einmal heldenhafter als ich selbst. Es ist mir peinlich, wenn ich als Autor hinter meinen Figuren zurückstehe.“ (Westphalen in Schnippenkoetter 2004: 215)

Eine solche als peinlich empfundene Exponierungsvermeidung stellt offensichtlich keine Exponierungserfahrung im oben entwickelten Sinne dar. Sie ist zwar immer noch mit der öffentlichen Selbstdarstellung verbunden, doch ihr Quell- und Bezugspunkt ist nicht in einer Exponierung verankert. Es wird zwar weiterhin das tatsächlich gezeigte Verhalten beurteilt, doch kann dieses auch in einer Verschleierung oder Unterlassung von etwas bestehen. Dass sich evaluative Peinlichkeitsgefühle von öffentlichen Exponierungserfahrungen lösen können, liegt grundlegend daran, dass wir den Eindruck, den wir anderen situativ abgeben, von dem Bild, das wir dabei von uns selbst haben, unterscheiden.

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3.2.3 Das Bild, das wir anderen abgeben, und das Bild, das wir selbst von uns haben Fremdbewertungen unseres Verhaltens und der Eindruck, den wir vor anderen zu machen glauben, spielen eine maßgebliche Rolle dabei, ob uns etwas peinlich ist oder nicht. Doch durch die Entwicklung eines individuellen Norm- und Regelsystems sind situative Eigenbewertungen nicht unbedingt kongruent mit situativen Fremdbewertungen. Entsprechend ist „[t]he evaluation of the self through the gaze of the other [...] not yet an evaluation that one is ready to take up as one’s own evaluation of one’s self. In early childhood, the child who has not yet developed a sense of his or her own identity cannot yet take on that evaluation as his or her own. In adulthood, embarrassment may characterize those experiences by which one perceives one’s self evaluated by others, but one does not identify or claim those evaluations of oneself for oneself.“ (Robbins/Parlaveccio 2006: 326)

Peinlichkeitserfahrungen, die aus negativen Bewertungen resultieren, setzen voraus, dass dem Betroffenen seine Selbstdarstellung in irgendeiner Weise mangelhaft, unangemessen, defizitär oder unsouverän erscheint. Der bisherige Peinlichkeitsbegriff führte ein solches Defizit auf die Diskrepanz zwischen dem Selbstbild als „presented self“ und dem diesbezüglichen Ideal zurück. Scham hingegen wurde in der Diskrepanz von Selbstbild als „core self“ zu entsprechenden Idealen verankert. Nach den aufgeführten Überlegungen und Beispielen muss diese Bestimmung jedoch in zwei Aspekten erweitert bzw. präzisiert werden. Der erste Aspekt betrifft die Bezeichnung „Selbstbild“. Der Ausdruck „Selbstbild“ kann in Bezug auf die eigene Selbstdarstellung zwei unterschiedliche Bedeutungen haben: So kann er zum einen das öffentliche Selbstbild bezeichnen, das man von sich selbst hat. Zum anderen kann er auch das öffentliche Selbstbild bezeichnen, welches man von sich selbst entwirft, um sich situativ vor anderen zu präsentieren (vgl. Verweyen 2009: 46). Diese zusätzliche Unterscheidung scheint insofern sinnvoll, als Ansprüche und Standards des öffentlichen Selbstbildes von Ansprüchen an die situative Präsentation desselben divergieren können. Der Engländer, der in Schweden zum gemeinsamen Saunieren eingeladen wird, muss überlegen, ob er die Saunaeinladung ablehnt (eine solche Ablehnung würde das Bild, das er vor anderen abgeben möchte, verletzen) oder aber am gemeinsamen Saunabesuch teilnehmen soll (dies würde wiederum persönliche Standards seines öffentlichen Selbstbildes verletzen). Beide Verletzungen sind ihm peinlich. Öffentliches Verhalten kann sowohl dem Bild widersprechen, das man situativ vor anderen erzeugen möchte, als auch dem Bild, das man selbst von sich in Bezug auf Selbstdarstellungsansprüche und -standards hat. So beschreibt Walter Kempowski eine

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Peinlichkeit, bei der er sogar explizit darauf hinweist, dass diese sein persönliches öffentliches Selbst nicht verletzt: „In Oldenburg schmilzt mir das Publikum zusammen. Es sind nur noch neunzehn Hörer. Mir ist es egal, aber den Übriggebliebenen gegenüber ist mir das peinlich. […] Mit den Übriggebliebenen, den Eisernen, sitze ich nach der Vorlesung in der ‚Bierschwemme‘ und trinke Bier, das ich eigentlich gar nicht mag: Damit sie mich bloß nicht im Stich lassen.“ (Kempowski 2006: 211)

Das Wegbleiben der Zuhörer ist Kempowski nicht deshalb peinlich, weil es persönliche Ansprüche seines öffentlichen Selbst, z.B. ein guter oder beliebter Redner zu sein, verletzt, sondern weil es Ansprüche an die situative Darstellung dieses Selbst gegenüber den übrig gebliebenen Zuhörern verletzt: Ihr Kommen wird durch das Wegbleiben der Masse zu einer Handlung umgedeutet, die die Teilnahme an seiner Vorlesung – und nicht das Fortbleiben – als eine fragwürdige Abweichung erscheinen lässt. Dass seine Hörer zu einem kläglichen Rest „zusammengeschmolzen“ sind, ist ihm als verantwortlichem Veranstalter daher vor ihnen als den „Übriggebliebenen“ peinlich. Diese Dichotomie des öffentlichen Selbstbildbegriffes beruht darauf, dass das öffentliche Selbstbild ja nichts ist, das stets völlig neu und frei gemäß spezifisch situativer Einzelkontexte und Rollenerwartungen entworfen würde, sondern etwas, das darüber hinaus auch in mehr oder weniger festen Ansprüchen und Standards, an denen man sich bei der öffentlichen Selbstpräsentation orientiert, besteht. Bei der für Peinlichkeit notwendigen Selbstbeobachtung von außen bewertet der Betroffene sein Bild dementsprechend nicht nur anhand seiner Einschätzung der situativen Erwartungen, Standards und Ansprüche von anderen und des Eindrucks, den er auf sie machen möchte, sondern zugleich anhand seiner eigenen Maßstäbe. So kann es jemandem beispielsweise sehr peinlich sein, um eine Gehaltserhöhung zu bitten. Selbst wenn er weiß, dass sein Vorgesetzter diese Bitte völlig legitim und angemessen fände, kann sie persönliche Ansprüche an seine öffentliche Selbstdarstellung verletzen, etwa jenen, nicht „bedürftig“ oder „fordernd“ aufzutreten. Diese Unterscheidung tangiert die Abgrenzung zum Schambegriff übrigens in keiner Weise: Scham entsteht, wenn es zu negativen Diskrepanzen zwischen Standards und Ansprüchen kommt, mit denen der Betroffene seine ganze Persönlichkeit identifiziert und anhand derer er sich als individueller Mensch bewertet – bei Scham wird nicht nur die eigene Erscheinung oder Darstellung abgewertet, sondern der Wert der ganzen Person herabgesetzt.48

48 Die Diskrepanzerfahrung der Schamemotion kann sowohl in einem Auseinanderklaffen von Anspruch und öffentlicher Verfehlung desselben bestehen (so kann sich jemand da-

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Der zweite Aspekt betrifft die Bezeichnung „Selbstbildideal“. Zu sagen, Peinlichkeit manifestiere sich in einer Diskrepanz von öffentlichem Selbstbild und Selbstbildideal, erweckt den Eindruck, man könne in normalen bzw. „nichtpeinlichen“ Situationen dieses Ideal tatsächlich handelnd verwirklichen bzw. umgekehrt wäre jedes Erlebnis peinlich, bei dem man seinem Ideal nicht gerecht würde. Dies ist jedoch offensichtlich nicht der Fall, da es ja gerade das Charakteristische an Idealen als normativen Ansprüchen ist, ihnen im Alltag nur mehr oder weniger nahe zu kommen. So kann eine Person über körperliche Attraktivität, Belesenheit und Beliebtheit als internalisierte Selbstideale verfügen, doch nicht jede Situation, in der sie sich nicht explizit attraktiv, intelligent oder beliebt fühlt, wird zu Peinlichkeit führen. Vielmehr werden dies Situationen sein, in denen sie sich explizit unattraktiv, dumm oder unbeliebt vorkommt. Es ist also nicht die reine Diskrepanz zwischen Ist-Zustand und Ideal, sondern die Wahrnehmung des Individuums, ein Ideal als konkreten Selbstanspruch explizit verfehlt zu haben (leider gibt es zu „Ideal“ kein Antonym als passenden Ausdruck für diese Wahrnehmung). In Anlehnung an rollentheoretische Betrachtungen erscheint es mir sinnvoll, evaluative Peinlichkeitsgefühle als Diskrepanzen des öffentlichen Selbstbildes im Hinblick auf „Standards“ (als das, was man als „üblich“, „normal“ oder „angemessen“ für seine situative Darstellung empfindet) und „Ansprüche“ (als das, was man zusätzlich von seiner situativen Darstellung erwartet) als die beiden zentralen, an die Selbstdarstellung gestellten Forderungen zu bezeichnen. Die beiden Forderungen lehnen sich an die doppelte Struktur von Rollen als Selbstdarstellungen an. Diese sind „zum einen kognitive Interpretationsschemata (‚Es ist damit zu rechnen, dass…‘), bei denen es um das ‚Lesen‘ oder Verstehen einer Situation geht. Zum anderen sind sie normative Forderungen (‚Du sollst oder musst dich so verhalten, dass…‘). Die Rolle ist einerseits das bloß Faktische, Übliche, Normale (Ist-Beschreibung) und andererseits das ‚Billige‘, Geforderte, Gesollte, (Appell, Imperativ).“ (Neuberger 2002: 314)

3.2.4 Selbstbildstandards und -ansprüche Das komplexe und dynamische Geflecht von Standards und Ansprüchen auf unterschiedlichen Bewusstheitsebenen und von unterschiedlichen Relevanzen bildet sich gemeinsam mit der Entwicklung von Ich und Über-Ich/Ich-Ideal schrittweise beim Kind heraus und ist kein in sich abgeschlossenes System, sondern kann sich durch

für schämen, in der Öffentlichkeit betteln zu gehen) als auch – im Gegensatz zu Peinlichkeit – aus einer Diskrepanz von rein privaten Ereignissen und diesbezüglichen Selbstansprüchen hervorgehen (jemand kann sich etwa dafür schämen, heimlich das Tagebuch eines Freundes gelesen oder „verbotene“ Gedanken oder Gefühle zu haben).

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Erfahrungen beständig modifizieren und weiter ausdifferenzieren. Welchen Ansprüchen und Standards welche Gültigkeit und Relevanz zukommt, ist daher äußerst individuell und dem betroffenen Individuum selbst meist nur zu geringen Teilen bewusst. Dennoch lassen sich diesbezüglich aus analytischer Perspektive einige generelle Differenzierungen vornehmen. Das Kind lernt im Sozialisationsprozess, dass in unterschiedlichen Interaktionssituationen sehr divergente Erwartungen und Standards gelten können, es also einerseits eine kommunikative Flexibilität an den Tag legen muss, sich in verschiedenen und manchmal auch widersprüchlichen Rollen erfolgreich beweisen und darstellen muss, obgleich es andererseits innerlich stets dieselbe Person bleibt, die sich nicht durch unterschiedliche Selbstdarstellungen immer wieder völlig neu in der Öffentlichkeit erschaffen kann. Es lernt, dass bestimmte Rollenerwartungen und Standards zwar nur situativ gelten können, ihre Verletzung und Überschreitung jedoch nicht nur Folgen für die Situation haben, sondern für die ganze Person, indem sie sich sowohl als innere Erfahrungen in das Selbst einschreiben als auch als Fremdeindrücke an seinem öffentlichen Ruf haften bleiben. Die situative Darstellung gegenüber anderen, vor denen man einen bestimmten Eindruck machen möchte, lässt sich also nicht vollständig davon abkoppeln, was man über sich selbst denkt und in welche Historie und Zukunft man den konkreten Situationskontext und die Beziehung zu den Beteiligten einbettet (Ausnahmen bestätigen hier wohl die Regel). Im Kontinuum des erlernten Sets von Standards und Erwartungen im Gemeinschaftsleben gibt es einerseits solche, die eine relativ feste Gültigkeit für das Individuum erlangen und zu mehr oder weniger universellen Beurteilungsmaßstäben seines Selbstwertes werden. Hierzu zählen gewusste moralische Normen, aber auch ästhetische Ideale und kulturell äußerst variable Idealvorstellungen darüber, worin der generelle Wert einer Person verankert ist. „Although the way in which this ideal is defined may vary across cultures, it is treated as if it were the ultimate standard, in some objective sense of what it is to be a worthy person. So for example, Thrane (1979) claims that, at least in our culture, shame is often focused on violations of commitment, self-control, strength of character, and one’s sense of autonomy. Presumably, these are crucial aspects of our conception of what it is to be a worthy person.“ (Babcock 1988: 465)

Aus einer Verletzung solcher Normen und Ideale resultieren Gefühle der Scham, die für den Betroffenen in einer zumindest situativen Herabsetzung seines ganzen Persönlichkeitswertes bestehen. Andererseits internalisiert das Individuum Standards und Selbstansprüche, die es hin und wieder bewusst überschreitet, da es ihre Gültigkeit nur bedingt akzeptiert oder gelernt hat, dass ihre Befolgung nur um seiner selbst willen erwartet wird. Dies sind Konventionen, Regeln der Etikette und der Selbstdarstellung vor anderen,

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die vorgeben, wie man sich bestimmten Personen gegenüber verhalten und zeigen sollte, was in welcher Situation geboten ist, welchen Eindruck man auf andere machen sollte etc. Ein solches Regelsystem „is a model that provides constraints on the many possible actions the individual could choose, but it does not have the additional motivational force of being a higher and universal ideal after which she strives“ (ebd. 465). Die Differenzierung dieser beiden Regelbezugssysteme ist selbstverständlich analytischer Natur und entsprechende Grenzen sind unscharf oder können fließend sein. Je nach Situation und Beziehung zu den Kommunikationspartnern können Standards, die in dem einen Kontext nur auf die situativ gebotene Selbstdarstellung bezogen werden und bei Verletzung zu Peinlichkeit führen, in einem anderen Kontext als Verletzung gewertet werden, die Scham provoziert, da sie auf den generellen Wert der Person bezogen wird. Viele Standards und Ansprüche, die soziale Verhaltens- und Handlungsprozesse maßgeblich beeinflussen und steuern, „existieren“ nicht dadurch, dass sie einen realen Status im Sinne bestimmter Regeln hätten, die allgemeingültig formulierbar – oder überhaupt sinnvoll zu versprachlichen – wären, sondern dadurch, dass sich in einer Situation performativ an ihnen orientiert wird. Eine entsprechende „Normbefolgung“ hat also, wie es Landweer formuliert, „keinen ontologischen Status in der Form von Ideen und deren sprachlicher Artikulation, sondern sie existiert nur performativ, indem Personen faktisch ihr alltägliches Verhalten an ihr orientieren, im Handeln nach der Regel und im Bemerken von deren Übertretung. […] Epistemologisch gehe ich deshalb nicht davon aus, daß im Normalfall Normen als generelle Imperative gewusst werden und man das Handeln dann danach ausrichtet, sondern alles Handeln als Folge von Selektionsleistungen orientiert sich implizit [Herv. i.O.] an gestalthaften Normen, die meistens erst an Unterbrechungen überhaupt deutlich werden.“ (Landweer 1999: 80)

Neben den mehr oder weniger feststehenden Inhalten vieler moralischer Normen („Man soll nicht stehlen.“) oder gesellschaftlicher Konventionen („Beim Vorstellungsgespräch muss man pünktlich sein.“) erfolgt die situative Verhaltensorientierung und -bewertung auch anhand diffuser Idealvorstellungen, Wunschbilder oder Ansprüche, die eher bildhaft existieren und als Handlungsimperative wenig sinnvoll sind (z.B.: „Erscheine dem Bekannten witzig und zufrieden, aber so, dass es ungezwungen und authentisch wirkt!“). Sie können erst situativ generierte An-

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sprüche an die eigene Selbstdarstellung sein, die in ihrer Vielzahl nicht vorhersehbar sind oder gar aufgelistet werden könnten.49 Hinzu kommt, dass Selbstbildaspekte keineswegs nur auf die eigene Erscheinung und Darstellung beschränkt sind, sondern auf alle möglichen Aspekte referieren können, die der Betroffene seinem Selbstbild in irgendeiner Form zuschreibt oder von denen er den Eindruck hat, dass sie ihm von anderen zugerechnet werden50. Aus letzterem Grund können sich Peinlichkeitsgefühle auch dann einstellen, wenn man fälschlicherweise für einen Normverstoß verantwortlich wirkt. Folgendes Beispiel mag dies verdeutlichen: „Ich ging in einen Musikladen, um mir eine CD zu kaufen. Als ich wieder herausging, habe ich die CD aus der Tüte genommen, um sie mir anzuschauen, wie man das halt so macht. Als ich an der Sicherheitsschranke vorbeikam, muss ich irgendwie den Alarm ausgelöst haben und bin dadurch so erschrocken, dass mir meine Tasche aus der Hand fiel, und zwar durch den Schrankenbereich nach draußen auf den Gehsteig, was die Sache natürlich noch viel verdächtiger aussehen ließ. Während ich hastig meine sieben Sachen zusammenkramte, kam auch schon ein Mann vom Sicherheitsdienst und zog mich unter den Augen der Schaulustigen in den Laden zurück, wo ich nachweisen musste, dass ich die CD bezahlt hatte. Obwohl ich gar nichts Verbotenes getan hatte, kam ich mir vor wie ein Verbrecher, nur weil mich die Leute zwangsläufig dafür hielten. In ihren Augen muss ich wie ein trotteliger kleiner Dieb ausgesehen haben, der selbst zum Fliehen zu blöd ist. Und so habe ich mich dann auch gefühlt.“ (Bell in Schnippenkoetter 2004: 24)

Der Betroffene betrachtet sich selbst aus der Außenperspektive, in welcher er wie ein trotteliger Dieb erscheint, was unweigerlich dazu führt, dass er sich situativ auch so fühlt. Es ist weniger die Angst vor negativer Fremdbewertung, die in diesem Fall zur Peinlichkeit führt, als vielmehr die Tatsache, dass der Betroffene das Bild eines tollpatschigen Diebes abgibt, das neben dem Normverstoß des Diebstahls durch Ungeschicklichkeit in den Bereich des Lächerlichen rückt und daher doppelt peinlich wirkt. Die situativen Beobachter spielen in diesem Beispiel nur insofern eine ursächliche Rolle, als sie eine spezifische Betrachtungs- und Bewertungsweise beim Betroffenen aktivieren. „Das Bewußtsein des in einer bestimmten Weise Gesehenwerdens (erste Perspektive) führt also zu einer Art Triangulation oder Beobachtung zweiter Ordnung: Man setzt sich ins Verhältnis zu der Art, wie man an-

49 Aus diesem Grund könnte auch kein situativer Verhaltenskatalog geschrieben werden, dessen erfolgreiche Befolgung Peinlichkeit mit absoluter Sicherheit verhindern würde. 50 Dazu gehören die eigene Arbeit bzw. Arbeitsleistungen oder -produkte, Personen, denen man sich zugehörig oder für die man sich verantwortlich fühlt, aktuelle oder frühere Besitztümer, vergangene Leistungen und vergangenes Verhalten etc.

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deren erscheint.“ (Landweer 1999: 109) Die Beobachter sind hier ein Mittel zu einer bestimmten Selbstbeobachtung, die zu einer selbstkritischen Bewertung führt (vgl. ebd.). Insofern sind evaluative Peinlichkeitsemotionen auch weniger als Reaktionen auf öffentliche Verunglimpfungen, Normabweichungen, Kritisierungen, Missgeschicke oder Kontrollverluste zu begreifen, sondern als Ausdruck einer unwillkürlich-selbstkritischen Bewertung der öffentlichen Selbstdarstellung. Denn „[d]a es beim Fühlen eines Gefühls immer nur um die Subjektperspektive geht, zählt für die Beschreibung des Gefühls nicht, was die Absichten des anderen sind, oder das, was als objektive Situation bezeichnet werden kann, sondern nur das, was für die Wahrnehmung des Subjekts evident ist“ (Landweer 2001: 293). Dass diese Wahrnehmung sich bei Peinlichkeitsgefühlen außenperspektivisch an der Gretchenfrage, wie man anderen wohl erscheinen oder auf sie wirken könnte, orientiert, ist bezeichnend für ihren kommunikativen Charakter. Diese Wirkungsfrage transformiert sich bei Peinlichkeiten, die auf Verletzungen persönlicher Ansprüche und Standards beruhen, denen das Selbst keine situative Gültigkeit oder Sichtbarkeit zuschreibt, in eine Frage des reinen Gesehenwerdens: Es genügt das Bewusstsein, sich anderen in selbstbilddiskrepanter Weise zu zeigen, um sich ins Verhältnis dazu zu setzen, wie man ihnen, würden sie die eigenen Maßstäbe kennen und anlegen, erscheinen würde. Die Struktur evaluativer Peinlichkeitserfahrungen lässt sich abschließend wie folgt zusammenfassen: 1. 2.

3.

Der Betroffene befindet sich im Zustand öffentlicher Selbstaufmerksamkeit in einem öffentlichen oder privaten Kontext. Er setzt Aspekte seiner aktualen Selbstdarstellung in ein Verhältnis zu Ansprüchen und Standards des Bildes, das er anderen abgeben möchte, oder Ansprüchen und Standards, die er selbst daran stellt. Er konstatiert eine negative Diskrepanz von aktualer Selbstdarstellung und seinen öffentlichen Selbstbildstandards und -ansprüchen. Dieses Defizit bezieht sich nicht auf höhere oder universelle Ideale seines Persönlichkeitswertes, sondern auf geltungsflexible Erwartungen, die er an die öffentliche Darstellung der eigenen Person richtet.

3.3 P EINLICHKEIT

ALS

E XPONIERUNGSBEOBACHTUNG

Bekanntermaßen werden nicht nur Defizite der eigenen Selbstdarstellung als peinlich empfunden. Der neudeutsche Ausdruck „Fremdscham“ dient dazu, Peinlichkeitsgefühle, die durch Verhaltensweisen anderer verursacht werden, zu be-

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zeichnen. Laut Duden ist „Fremdscham“ das „Gefühl, sich für einen anderen schämen zu müssen; in Bezug auf das Verhalten eines anderen empfundene Peinlichkeit“ (Duden Online 2013). Dass es sich um ein vergleichsweise junges Wort handelt, das erst seit 2009 im Duden verzeichnet ist, muss nicht heißen, dass es ein gänzlich neues Gefühl bezeichnet. Vielmehr könnte es auf einen Quantitäts- oder Relevanzanstieg entsprechender Phänomene hindeuten, welcher z.B. mit den inflationären Zurschaustellungen und Inszenierungen von Peinlichkeiten in den Massenmedien oder stärker voneinander divergierenden Verhaltensmaßstäben im sozialen Alltag, die vermehrt Anlässe der Fremdscham schaffen, zusammenhängen könnte. Bereits Scheler denkt über das Phänomen der Fremdscham nach, ohne bereits einen spezifischen Sprachausdruck dafür zur Hand gehabt zu haben: „Wenn ich die subjektive Scham eine Art Selbstgefühle, und zwar ein individuelles Selbstschutzgefühl nannte, so war damit keineswegs gesagt, daß sie darum immer nur auf das individuelle Selbst des Sichschämenden bezogen sei. Denn so ursprünglich wie wir uns ‚vor‘ einem anderen oder vor uns selbst schämen können, genau so ursprünglich können wir uns ‚für‘ einen anderen schämen, z.B. uns selbst gegenüber, wobei das, worüber Scham gefühlt wird, sein Verhalten gegen Dritte oder uns selbst ist.“ (Scheler in Rutishauser 1969: 81)

Aus einer analytischen Perspektive, die die Erfahrungsstrukturen von Peinlichkeitsgefühlen, die durch fremdes Verhalten entstehen, offenlegen möchte, lassen sich mindestens zwei verschiedene Ursachen von Fremdscham unterscheiden: Die erste Ursache kann dem evaluativen Peinlichkeitsbegriff subsumiert werden. Sie lässt sich darin verankern, dass sich (vermeintlich) Nahestehende oder Identifikationspersonen im Beisein des Betroffenen vor Dritten in unangemessener Weise exponieren: Hier entspringt das Peinlichkeitsgefühl der Tatsache, dass der Betroffene sich ihnen in irgendeiner Weise zugehörig bzw. sich für sie verantwortlich fühlt oder annimmt, dass er Dritten so erscheint: Ihr Verhalten wird als Verunglimpfung der Standards und Ansprüche an die eigene Außendarstellung empfunden. Dies kann z.B. der Fall sein, wenn die eigenen Kinder im Supermarkt eine öffentliche Szene machen, weil man den Kauf eines Spielzeugs verweigert, man bei der Geburtstagsfeier seines neuen Vorgesetzten einen höflichen Eindruck machen möchte, der Ehepartner sich jedoch völlig taktlos verhält, man in der Bahn neben einem soeben erwischten Schwarzfahrer sitzt, mit dem man zuvor in eine nette Unterhaltung vertieft war, oder man den Eindruck hat, dass der nervige kleine Bruder, den man unwillig ins Kino begleitet, von der angesagten Schulclique für den neuen Freund gehalten wird. Nach Goffmans Terminologie kann man hier vom „Ensemble“ sprechen, das man gemeinsam formt und das Teil des Bildes ist, das man vor anderen abgibt. Objektive äußere Grenzen zwischen Exponierungsrezipient und Exponierungsobjekt

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lösen sich dabei im inneren Empfinden (zu Teilen) auf. Betroffene, die eigentlich reine Exponierungsrezipienten sind, machen sich unwillkürlich selbst zum (Teil)Objekt der beobachteten Exponierung. Dass diese Peinlichkeit nicht unbedingt auf einer persönlich zugeschriebenen Identifikation oder Verantwortung beruhen muss, sondern auch aus dem Gefühl resultieren kann, dass andere eine Zugehörigkeit von außen zuschreiben oder zuschreiben könnten, wird nicht zuletzt am klassischen Beispiel des deutschen Touristen, dem im Ausland das Verhalten der eigenen Landsleute peinlich ist, deutlich. Dieses Peinlichkeitsgefühl kann alleinig dem Gedanken entspringen, dass man von anderen mit diesen Personen assoziiert wird51. „Denn das gibt es ja auch, Peinlichkeit ausgelöst vom Benehmen derer, mit denen Sie assoziiert werden – weil Sie mit ihnen im selben Chor singen, im selben Land Steuern zahlen, oder genetisch verwandt sind (‚blutsverwandt‘ also). Es hilft nicht, wenn man für das peinlichkeitsauslösende Verhalten solcher Freunde, Mitbürger oder Verwandten keine Verantwortung trägt. Denn die Objektivität der Peinlichkeit ergibt sich aus der Vorstellung von AußenBlicken, auf die wir keinen Einfluss haben.“ (Gumbrecht 2012: 2)

Als eine analytische Unterscheidung ist die Differenzierung von Exponierungsobjekt und Exponierungsrezipient, welche auch Purshouse in Bezug auf Peinlichkeitsphänomene trifft (vgl. Purshouse 2001), natürlich eine Kategorisierung, die empirisch weder eindeutig noch einseitig sein muss. In Situationen, in denen verschiedene Ebenen und Formen einer Exponierung situativ involviert sind, gehen Rezipient und Objekt nicht selten fließend ineinander über oder fallen zusammen. Es gibt also „embarrassing situations where it is less clear who is the recipient and who the exposee, and some, indeed, where exposure may be a two-way process. Suppose I declare my love for someone for the first time. This could conceivably be embarrassing, both for me and for my beloved. It is possible, moreover, that both of us might construe ourselves either as exposees,

51 Batarilo geht sogar noch einen Schritt weiter. Er geht davon aus, dass nicht selten durch die Verletzung persönlicher Peinlichkeitsgrenzen überhaupt erst ein Raum von Zugehörigkeit gestiftet werde, d.h., dass, so lange sich andere Deutsche nicht peinlich im Ausland aufführten, auch keine Zugehörigkeit zu ihnen empfunden würde, und erst durch peinliche Grenzüberschreitungen diese ungewollte Nähe entstünde. „Scham ist so gut darin, uns zur Identifikation mit der Person zu bringen, die im Mittelpunkt der Peinlichkeit steht, dass das Gefühl der Gemeinsamkeit in einem bestimmten Maß erst von der Scham geschaffen wird. Um im Beispiel zu bleiben: Wir fühlen uns vielleicht nie so sehr als Deutsche wie in dem Moment, in dem wir uns für andere Deutsche schämen.“ (Batarilo 2013: 184)

96 | P EINLICHKEIT – FORMEN UND F UNKTIONEN recipients of the other’s exposure, or both. I expose something highly significant about my emotions to my beloved; in this sense, I am the exposee and she is the recipient. But my action also suggests that she, and in particular her perceived virtues, have long been objects of my attention; hence, she might also view herself as exposed to my [Herv. i.O.] consideration and appraisal.“ (Ebd. 2001: 531)

Fremdscham aufgrund der Zuschreibung einer persönlichen „Involviertheit“, die Aspekte eigener Selbstbildstandards oder -ansprüche verletzt, ist dem Erfahrungsschema evaluativer Peinlichkeitsemotionen subsumierbar, da dieses auf einer Subjektperspektive beruht, in welcher sich äußere Grenzen von Exponierungsrezipient und -objekt verkehren oder uneindeutig werden können. Die zweite Ursache der Fremdscham scheint in der puren Beobachtung eines anderen zu bestehen, welcher sich ohne jeglichen persönlich oder äußerlich zuschreibbaren Bezug zum Selbstbild des Betroffenen exponiert. Hier nimmt der peinlich Berührte die Rolle des reinen Exponierungsrezipienten ein. Eine solche Peinlichkeitsempfindung „is evoked even without any connection between the observer and the protagonist’s predicament and without any responsibility of the observer for the protagonist’s situation“ (Krach et al. 2011: 1). Das bedeutet, dass Betroffene „could be mere observers [Herv. i.O.] of others’ actions but be embarrassed by them nonetheless. Simply witnessing another person’s embarrassing predicament was sometimes enough to cause personal discomfort, even when one was just a bystander. The embarrassed target could be […] just a stranger.“ (Miller 1996: 33) Während sich die Fremdscham, die durch fremdes Verhalten entsteht, welches das eigene öffentliche Selbstbild mit einbezieht, dadurch plausibilisieren lässt, dass sich Betroffene zu Teilobjekten der Exponierung machen, liegt die Ursache von Fremdscham, die durch bloße Beobachtung aktiviert wird, nicht in gleicher Weise auf der Hand. Betrachten wir eine typische Situation, in der fremdes Verhalten beim Beobachter Peinlichkeit auslöst: „Ich muss gestehen, dass ich mich gelegentlich für andere schäme. Deshalb erzähle ich eine Geschichte, die mich zwar nicht selbst betrifft, die aber eben richtig peinlich war. Es war bei einer Nominierungsfeier zum Bundesfilmpreis. Der Kultusminister Naumann hielt eine wirklich witzige Rede. Es war überhaupt eine tolle Stimmung, fern der häufig so provinziellen Art. Der Abend hatte ein gutes Niveau, die Atmosphäre war gelassen und entspannt. […] [Doch] [d]ie Veranstalter konnten nicht genug kriegen und mussten Programm machen. Sie hatten Comedy-Stars eingeladen, die Witz unter Niveau machten, schlicht unter der Gürtellinie. Es war mir so peinlich, dass ich in meinem Stuhl versinken wollte.“ (Kleinert in Schnippenkoetter 2004: 104f.)

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Warum ist dem Betroffenen das Verhalten eines Fremden, das ihn weder exponiert noch diskreditiert, so peinlich? Tatsache ist: Die Darstellungen auf der Bühne scheinen seinen persönlichen Ansprüchen und Erwartungen an die Programmgestaltung der Feier nicht gerecht zu werden. Seine Peinlichkeitsgefühle manifestieren sich also als ein persönliches negatives Werturteil über die Darstellung anderer (deren Auftritte er anhand seiner eigenen Standards und Erwartungen beurteilt), das jedoch kein rein rationales Urteil ist, sondern ihn in besonderer Weise emotional affiziert. Greiner argumentiert hier, dass die grundlegende Voraussetzung des „Fremdschämens“ nicht in erster Linie davon abhängt, ob und wie stark man sich mit anderen identifiziert oder für sie verantwortlich fühlt, sondern primär davon, wie stark man sich mit dem jeweils verletzten Wert selbst identifiziert: „Kann ich mich für einen anderen schämen? Doch nur, wenn es eben kein fremder Mensch ist, sondern ein mir nahestehender, mit dem ich mich identifiziere. Wer sich aber dieses Video mit Monica Lierhaus [hier wird auf den Heiratsantrag referiert, den die Moderatorin Monica Lierhaus ihrem Freund nach ihrer Genesung live im Fernsehen gemacht wurde, J.D.] ansieht, wird ganz unabhängig davon, ob er sie je im Fernsehen wahrgenommen hat, eine Art Scham, eine Fremdscham empfinden, bei der es sich in Wahrheit um ein starkes Peinlichkeitsgefühl handelt. Dieses Gefühl entsteht immer dann, wenn wir Zeuge eines nach unseren Maßstäben unpassenden Verhaltens werden. Das kann ein umgestoßenes Rotweinglas sein, eine taktlose Bemerkung, die falsche Kleidung oder eben das Enthüllen privater oder gar intimer Dinge am öffentlichen Ort. […] Je weniger sich die Akteure selber schämen, umso mehr ‚fremdschämen‘ sich jene oft unfreiwilligen Zeugen, die noch Schamempfindlichkeit besitzen.“ (Greiner 2011: 1)

Allein durch Zeugenschaft können also Peinlichkeitsgefühle evoziert werden, wenn grundlegende Verhaltensansprüche und -standards, die Beobachter dem jeweils beobachteten Kontext zuschreiben, explizit von den Akteuren verletzt werden. Diesen Mechanismus machen sich in den letzten Jahrzehnten das Fernsehen und Internet vermehrt zunutze und zeigen dem beobachtenden Zuschauer inflationär Akteure, die sich in Castingshows, Alltags-Dokumentationen oder anderen „Reality-Formaten“ entblößen, blamieren und lächerlich machen, häufig ohne sich ihrer peinlichkeitserzeugenden Wirkung überhaupt bewusst zu sein. Während nicht wenige Personen es ablehnen, sich solch bewusste Fremdexponierungen im Fernsehen anzusehen, sind andere geradezu fasziniert davon und verfolgen entsprechende

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Sendungen mit großer Sensations- und Schaulust52, ein Phänomen, das sich keineswegs nur auf die deutsche Gesellschaft beschränkt: „Worldwide millions of people gather in groups to watch television shows such as ‚Pop Idol‘ (United Kingdom), ‚America’s Next Top Model‘ (United States), ‚Deutschland sucht den Superstar‘ (Germany), ‚Nouvelle Star‘ (France), or ‚Super Girl‘ (China) and collectively enjoy witnessing plights or mishaps happening to the candidates, and perceive ‚vicarious embarrassment‘, ‚Fremdscham‘, or ‚embarrassment-by-proxy‘. The appeal of observing others’ plights exploited via television or internet seems to be present regardless of whether the person in focus realizes the mishap (e.g., tripping, as ‚America’s Next Top Model‘) or not (e.g., singing with a bad voice, as a German ‚Superstar‘). Although the effect of laughing about others’ misfortunes has always been picked up in theater plays and comedy movies (e.g., early slapstick comedians such as Charlie Chaplin, Buster Keaton, or Laurel & Hardy exactly utilized this type of humor), today’s media increasingly focuses on these everyday situations not only to laugh about but to feel with and for others to the entertainment of millions of spectators.“ 53 (Krach et al. 2011: 8)

Diese von den Sendern funktionalisierte Fremdscham des Zuschauers ereilt diesen nicht unbedingt überraschend oder unerwartet. Vielmehr sind die meisten Peinlichkeiten höchst vorhersehbar, weshalb entsprechende Sendungen von vielen Personen überhaupt erst gezielt verfolgt werden: Sie fiebern den Momenten des erwartbaren Scheiterns und Entblößens bereits schaulustig entgegen. Andere wiederum verurteilen solche Sendungen und ihre Zuschauer in höchstem Maße. Empfindet ein Zuschauer mediale Bloßstellungsformate als abstoßende und niveaulose Entwürdigungen, werden sie bei ihm tendenziell nur Unlustgefühle der Peinlichkeit aktivieren. Diese Emotionen „signalisieren dem peinlich Berührten eine Verletzung von Regeln, die gewissermaßen seinen inneren Frieden bedroht und zu einer negativen Einstellung gegenüber dem ihm peinlichen Medieninhalt führt. Diese Funktion bzw. dieser Nutzen der Einstellung muss den Einstellungshaltern nicht unbedingt bewusst sein.“ (Henning 2001: 13)

52 Hier „scheint sich – in Analogie zur Ekellust – eine Art ‚Peinlichkeitslust‘ in der (westlichen) Gesellschaft installiert zu haben, und es stellt sich daher die Frage, wie diese Entwicklung zu deuten ist“ (Zumsteg 2008: 39). 53 Dass dieser Mechanismus der Fremdscham vereinzelt bereits in prä-massen-medialen Zeiten erfolgreich funktionalisiert wurde, zeigt auch die Erzählung „Mario und der Zauberer“ von Thomas Mann (vgl. Mann 2002): Hypnotisierte Opfer des Magiers werden den Zuschauern auf ungehörige und schamlose Weise vorgeführt, die sich dem peinlichen Spektakel gerade deswegen nicht zu entziehen vermögen.

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Treten zum Peinlichkeitsgefühl jedoch Häme und Spott über die Fehlbarkeit, Dummheit oder Ungeschicktheit der Exponierten, kann der Zuschauer sich durch seine Fremdscham auch in der eigenen Souveränität bestätigt fühlen. In seinem Lachen über andere drückt sich dann nicht nur Vergnügen über Komisches aus, sondern zugleich ein Erhaben- und Überlegenheitsgefühl über das reale (und nicht wie in Theater oder Filmen nur gespielte!) Scheitern anderer Menschen. Dabei wird die unangenehme Verletzung der eigenen Maßstäbe und Ansprüche, die für Peinlichkeit als Unlustgefühl charakteristisch ist, durch zeitgleiche Bestätigungen des eigenen Selbstwertes – man grenzt sich nach oben hin ab – zu einer Art Lustgefühl umfunktioniert. „In diesem Sinne ist auch die TV-Fremdscham erstmal ein Paradox. […] Wir schämen uns fast körperlich schmerzhaft. Wir winden uns. Alles zieht sich zusammen. Wir drehen den Kandidaten innerlich den Hals um. Jeder physische Tod wäre besser für sie als das, was sie da in aller Öffentlichkeit mit sich machen lassen. Wir werden regelrecht wütend. Doch dann wandelt sich das Gefühl. Statt Schmerz fühlen wir –Aufatmen: Kontrolle. Uns geht es gut. Keiner schaut uns an. Noch dazu können wir den Fernseher ausstellen. Erleichterung macht sich breit.“ (Batarilo 2013: 188)

Die Fremdscham wird hier zu einem Gefühl von Schadenfreude54 und persönlicher Überlegenheit umcodiert, das sich in einem ausgrenzenden Auslachen „ausagiert“ (vgl. Pontzen 2005b: 50). Die in schadenfrohem Fremdschämen enthaltene Versicherung, dass man selbst nicht Opfer der Bloßstellung ist, sondern diese vielmehr kontrolliert betrachten kann, verwandelt den für Peinlichkeit typischen Kontrollverlust in ein Gefühl der Erhabenheit und stabilisiert das eigene Selbstwertgefühl (vgl. Hilgers 1997: 95). „Genau deshalb gehören die geplanten Fremdscham-Events55 für viele junge Leute mittlerweile zum humoristischen Highlight der Woche, zu einer der schönsten Beschäftigungen mit

54 Dabei ist es natürlich nur eine dem Gefühl der Schadenfreude verwandte Emotion, denn „[d]ie Schadenfreude zieht eine eindeutige Grenze zwischen dem, der lacht, und dem, der ausgelacht wird. Fremdschämen hingegen ist ein vielschichtiges Gefühl, genauso wie Peinlichkeit und Scham.“ (Batarilo 2013: 14) 55 Solche Fremdschämphänomene zeigen auch, dass der Vorwurf, sowohl den Beobachtern als auch den sich Exponierenden sei jegliches Peinlichkeitsempfinden abhanden gekommen, unberechtigt ist. Vielmehr weisen sie auf einen unterschiedlichen Umgang mit Peinlichkeit und deren divergente moralische Bewertung hin: „Eben die vermeintliche Schamlosigkeit, mit der Menschen sich in Dschungelcamps und Anbrüll-Talkshows, BigBrother-Containern und Castingshows produzieren, lässt doch weitere Rückschlüsse über

100 | P EINLICHKEIT – FORMEN UND F UNKTIONEN den besten Freunden. ‚So sind wir nicht‘, bedeuten nämlich die gemeinsam ausgestreckten Zeigefinger auf den Fernseher. Und bündeln damit die gemeinschaftsgenerierende Erfahrung, sich in Sachen Peinlichkeit wieder einmal kollektiv nach unten abgegrenzt zu haben. Beruhigt geht man nach diesen Abenden nach Hause und verlängert die fröhliche Dosis Fremdscham noch Tage später dadurch, sich die besten, also peinlichsten Clips in Endlosschleife bei YouTube anzuschauen.“ (Pauer 2011: 2)

Sich als Exponierungsrezipient für andere „fremdzuschämen“, beinhaltet also stets eine evaluative Komponente dahingehend, dass die Peinlichkeit auslösende Fremdexponierung als in irgendeiner Weise defizitär oder unangemessen bewertet wird. Dabei stellen sich entsprechende Peinlichkeitsgefühle keineswegs nur dann ein, wenn der Beobachter sie stellvertretend für andere, die kein „Schamgefühl“ zu besitzen scheinen, empfindet. Er kann ebenso Peinlichkeit mit anderen mitfühlen. Denn derjenige, der durch sein Erröten, Stottern und befangenes Verhalten die persönliche Schamhaftigkeit oder peinliche Betroffenheit als innere Befindlichkeit exponiert, kann ebenso wie derjenige, der stilistisch versagt oder sich taktlos bzw. unverschämt verhält, Peinlichkeitsgefühle bei Beobachtern evozieren: Während ein Mangel an situativer Anpassung oder Reserviertheit für den Beobachter ein Indikator für die soziale Inkompetenz des Verursachers im Sinne eines fehlenden Bewusstseins spezifischer Verhaltensmaßstäbe und -werte ist, sind zu große Schamhaftigkeit und Gehemmtheit ein Indikator mangelnder sozialer Kontrollfähigkeiten und situativer Selbstsicherheit. So ist es „ambiguous, in that although it [embarrasssment, J.D.] serves to display sensitivity, it also contradicts such desirable impressions as that one is cool, sophisticated, and experienced“ (Harré 1990: 191). Ein besonders schamhafter und entsprechend in der Öffentlichkeit gehemmter Mensch leidet im Gegensatz zum wenig Schamhaften an einem Zuviel von Selbstbeherrschung und öffentlicher Selbstaufmerksamkeit und verliert gerade deshalb die Kontrolle über sich: Ihm geht die natürliche Selbstdistanz verloren. Hier zeigt sich abermals, dass Peinlichkeit einen grundlegenden doppelten Charakter besitzt. Zum

ihre Schamängste zu. Das System dieser Shows ist ja gerade darauf aufgebaut, dass Menschen unfreiwillig etwas Peinliches von ihrem Inneren zeige, das den Zuschauern zur Schadenfreude dient. [...] Die Kritiker ebenso wie diejenigen, die sich daran ergötzen, registrieren das große Schamspektakel als solches, bewerten es nur unterschiedlich. Und die veritable Stumpfheit oder naive Unerfahrenheit der Personen, die sich in diesen Formaten vorführen lassen, qualifiziert sie auch nicht automatisch als schamlose Menschen. Vielmehr wirken gerade die Castingshows eher wie moderne Prostitution. Für den Lohn von Applaus und Kurzzeitruhm zahlen die meisten dieser Teilnehmer relativ kühl und ausgebufft den Preis ihrer öffentlichen Entblödung. Aber auch eine Hure kann über das Lob ihrer Arbeit erröten.“ (Briegleb 2009: 69)

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einen kann sie sich auf Verletzungen sozialer Verhaltensstandards und -ansprüche beziehen (ein Redner hält einen niveaulosen Vortrag), zum anderen auf eine Verletzung der Schamhaftigkeit selbst (der Redner ist beim Vortragen gehemmt und schamhaft). Diese zweifache Indikatorfunktion konstatiert auch Pontzen: „Einerseits funktioniert Peinlichkeit als Indikator sozialer Kompetenz, indem die Fähigkeit zu diesem Gefühl von der Kenntnis bestimmter sozialer Regeln und Ansprüche zeugt, ein übersteigertes Gefühl für Peinlichkeit aber umgekehrt auf Unsicherheit im Hinblick auf den eigenen Status hinweist.“ (Pontzen 2005a: 191) So kann man als Rezipient nicht nur Peinlichkeit über einen besonders niveaulosen Vortrag, sondern ebenso Peinlichkeit über eine anspruchsvolle und originelle Rede, die jedoch befangen und verlegen präsentiert wird, empfinden: „Take the tradition of bridegrooms and ‚best-men‘ making speeches at weddings. An inexperienced speaker, placed in this situation, might well be embarrassed at his faltering attempts at giving a public address, and he may also invoke embarrassment in the guests who are compelled to listen to him. Neither party, however, is likely to construe the speech as contrary to etiquette, when seemingly the only reason why they have to endure such a ceremony at all is that etiquette demands it.“ (Purshouse 2001: 528)

Entsprechende Peinlichkeitsgefühle sind „auf Grund der Tatsache möglich, dass wir als Beobachter erkennen können, ob ein Mensch peinlich berührt ist oder nicht – und dann dementsprechend mitfühlen können.“ (Henning 2001: 113) Peinlichkeitsfreie Exponierungen hingegen lösen Peinlichkeitsgefühle beim Beobachten aus, „ohne dass der Beobachtete Peinlichkeitsgefühle erlebt – die wir aber erleben würden, wenn wir nicht beobachten, sondern beobachtet werden.“ (Ebd.) Stellvertretende Peinlichkeit kann also unter diesem Aspekt von mitfühlender56 Peinlichkeit unterschieden werden, wenngleich man als Beobachter dem Exponierenden gegenüber in einer konkreten Situation natürlich auch gemischte Gefühle haben kann. So zeigen sich andere ja oft nicht einfach „völlig schamlos“ oder „völlig schamhaft“, sondern lassen nicht selten beides in unterschiedlicher Intensität, Dimension oder chronologischer Abfolge erkennen. Doch inwiefern grenzt sich die Fremdscham als stellvertretender oder mitfühlender „Beobachterschmerz“, der die eigene Exponierung und Selbstevaluation nicht tangiert, von rein rationalen Fremdbewertungen ab?

56 Dieser Mechanismus des Mitfühlens als Form der Empathie ist natürlich nicht allein dem Gefühl der Peinlichkeit vorbehalten. Auch Trauer kann bei Fremden empathisches Mitgefühl auslösen, wenn sie sich vom emotionalen Zustand des Trauernden affizieren lassen. Doch scheint der emotionale Übertragungsmechanismus im Vergleich dazu bei Peinlichkeit besonders unwillkürlich, schnell und vehement zu erfolgen.

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Die bisher vorliegende marginale Forschung zur Peinlichkeit qua Beobachtung verankert sie vor allem in der jeweiligen Empathiefähigkeit des Betroffenen (vgl. Henning 2001; Krach et al. 2001; Miller 1987; Miller 1996; Marcus et al. 1996; Purshouse 2011). So konnte eine empirische Studie einen signifikanten Zusammenhang zwischen der Ausprägung der persönlichen, selbsteingeschätzten Empathiefähigkeit und der Anfälligkeit für Peinlichkeitsgefühle als Beobachterschmerz finden (vgl. Krach et al. 2011). In einem anderen Experiment konnte Miller zeigen, dass die Peinlichkeitsgefühle bei Beobachtern immer dann intensiver waren, wenn sie angehalten wurden, sich vorzustellen, wie beobachtete, peinlich berührte Personen sich gerade selbst fühlten (vgl. Miller 1987). Purshouse schlägt vor, zwischen zwei Formen der Empathie zu unterscheiden – je nachdem, ob das Peinlichkeitsgefühl durch mitfühlende oder stellvertretende Peinlichkeit verursacht wird. „The first involves imaginatively recreating the mental state which one perceives occurring in another person. It is possible, for instance, that someone who witnesses another agent’s social failure may recreate this agent’s embarrassment, imagining how he, the agent, must construe the circumstances in which he finds himself. This would explain how such a witness might be embarrassed, with embarrassment being understood as essentially a construal of oneself [Herv. i.O.] as failing to respond effectively to one’s social environment. This explanation cannot, however, account for instances where a witness of a socially inept action is embarrassed, but the agent himself clearly is not. […] There is, however, another possible sort of empathy, which involves a subject imagining himself in a similar external situation to someone else, whilst retaining his own background set of beliefs, desires and dispositions of thought.“ (Purshouse 2001: 526)

Dabei sind beide Arten des Beobachterschmerzes, sowohl stellvertretende als auch mitfühlende Peinlichkeit, unmittelbar an eine situative Rollenübernahme gebunden: Man versetzt sich sozusagen unwillkürlich in den anderen hinein und fühlt entweder mit diesem mit oder fühlt, was man selbst empfinden würde, wenn man sich so verhielte. Insofern setzt Peinlichkeit als Beobachterschmerz immer auch eine „stellvertretende Leidensbereitschaft voraus. Sich für andere zu schämen und in diesem Gefühl Zugehörigkeit zu und Abgrenzung von ihnen zu vereinen, charakterisiert ein spezifisches Verhältnis von ungewollter Nähe und teilnehmender Distanz – ein uneindeutiges Verhältnis, wie es vielfach zwischen dem Individuum und einer Gruppe existiert, der der einzelne nicht zugeordnet werden will und gleichwohl in unabhängiger Weise, qua Geburt und Herkunft, angehört, wie der Familie oder eben ‚seinem‘ Volk.“ (Pontzen 2005b: 41)

Vielleicht genügt bisweilen sogar die bloße Zugehörigkeit zum „Menschsein“, die eine ungewollte Nähe zum sich exponierenden Anderen herstellen kann, sodass uns sein Verhalten peinlich berührt.

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Zu großen Teilen offen bleibt, warum dieser Mechanismus sich bei anderen Emotionen nicht oder zumindest nicht in der gleichen Weise und Intensität aktiviert. Diesbezüglich lassen sich nur hypothetische Vermutungen über die soziale Funktion und Bedeutung von Peinlichkeit als Beobachterschmerz anstellen: Möglicherweise liegt es an der zentralen Funktion des Peinlichkeitsgefühls für das Gemeinschaftsleben, dass es nicht eine bloße Selbstsanktionierung für eigene Exponierungen oder Selbstbilddiskrepanzen ist, sondern auch fremde Verletzungen mit einbezieht. Denn durch den mitfühlenden Peinlichkeitsschmerz anderer wird der peinlich Berührte in gewissem Maße vor Sanktionierungen durch sie bewahrt. Im unwillkürlichen Nachspüren seines Leidens sind sie mit ihm verbunden, ihre Impulse, ihn zusätzlich abzustrafen, verringern sich, wohingegen sich jene, ihm aus der für ihn unangenehmen Lage herauszuhelfen, verstärken. Weil man unwillkürlich aufgefordert ist „zur Solidarität, wenn man andere in peinlicher Lage sieht und mitfühlt, ist dieses Gefühl ein so wertvoller Schutz der Humanität“ (Hilgers 1997: 95). Reines Mitleid mit anderen wirkt sich zwar grundlegend ebenfalls sanktionsmildernd aus und fordert zur Unterstützung auf, doch gefährdet es die Dignität des anderen nicht nur situativ, sondern dauerhaft: Verhaltensweisen, die anderen peinlich sind, wirken paradoxerweise weniger statusgefährdend als jene, die nur (noch) Mitleid erzeugen. Mitleid impliziert immer auch die Annahme, dass der andere in seinen bemitleidenswerten Verhaltensweisen oder -mustern „gefangen“ ist, dass man aufgrund bestimmter Umstände gar keine alternativen Verhaltenserwartungen oder -anforderungen an ihn stellen kann: So wird mit Kranken, Süchtigen, Gestörten, kleinen Kindern, Hungernden in Afrika etc. Mitleid empfunden, weil man an sie nicht den Anspruch stellen kann, sich selbst aus ihrer bemitleidenswerten Lage zu befreien. Würden wir einzig Mitleid mit sich exponierenden Personen empfinden, stünden diese als Mitleidsopfer bereits an der Grenze einer herabsetzenden Stigmatisierung, die auch nach der Situation an ihnen haften bliebe. Insofern besitzen mitfühlende Peinlichkeitsgefühle durchaus eine positive Funktion für die Exponierten, da ihre Peinlichkeitssignale, die ja zugleich als öffentliche Formulierung eigener Rollenansprüche und -standards verstanden werden können, bei mitfühlenden Beobachtern dazu führen, ihnen empathisch begegnen zu können, ohne sie dabei herabsetzen zu müssen. Auch stellvertretende Peinlichkeit könnte eine wichtige soziale Funktion besitzen, wenn man sie als quasi-automatische Distanzierung von Personen, die sich nicht gemäß den eigenen sozialen Standards und Erwartungen verhalten, begreift. Im entsprechenden Beobachterschmerz ist man dem anderen zwar als Mensch verbunden, doch als Individuum grenzt man sich in seiner eigenen sozialen oder kulturellen Identität mit aller Härte von ihm ab. Als manifeste Unlustgefühle fungieren sie als Indikator, ob und in welcher Weise andere unsere Standards und Erwartungen teilen oder nicht. Eine solch schützende „Distanzfunktion“ relativiert sich freilich in Zeiten der grenz-, kultur- und schichtübergreifenden Kommunikation und

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Zusammenarbeit. Hier können entsprechende Emotionen auch zu einem Hindernis werden, das gegenseitige Annäherungen erschwert. Rollentheoretisch betrachtet haben die Verursacher von Peinlichkeitsgefühlen noch alle Chancen auf Reintegration, sofern sie sich weiterhin bzw. dauerhaft „peinlich“ benehmen. Denn solange fremdes Verhalten als peinlich empfunden wird, ist es noch nicht zu einer negativen Neubestimmung von Rollenzuschreibungen gekommen. So wird z.B. das Verhalten von betrunkenen Personen zunächst „als peinlich, dann als schuldhaft und schließlich als krankhaft definiert. Eine peinliche Situation kann niemals lange andauern, ohne daß es zu solchen Neubestimmungen kommt – einerseits, weil das Gefühl der Peinlichkeit so unangenehm ist, daß es nur kurzfristig ertragen wird, andererseits, weil ein dauerhafter Kontrollverlust so bedrohlich wirkt, daß er besonderer Erklärungen und besonderer Rollenzuschreibungen bedarf.“ (Dreitzel 1983: 151)

Insofern ist es nicht unbedingt ein Triumph für das Selbst, wenn sein normabweichendes Verhalten bzw. die Freiheiten, die es sich gegenüber anderen herausnimmt, von diesen nur achselzuckend hingenommen oder als rollenkonform betrachtet werden, statt peinliche Betroffenheit oder Entrüstung zu erzeugen.

3.4 Z USAMMENFASSUNG In diesem Kapitel wurden Voraussetzungen und Bedingungen von Peinlichkeitserfahrungen näher beleuchtet und analysiert. Es zeigte sich, dass hinsichtlich der Begriffsstruktur drei Grundformen von Peinlichkeit unterschieden werden können, die sich ontogenetisch jedoch nicht unabhängig voneinander entwickeln, sondern aufeinander aufbauen und auf der Fähigkeit objektiver Selbstaufmerksamkeit basieren: Peinlichkeit als Selbstexponierung, Peinlichkeit als defizitäres öffentliches Selbstbild und Peinlichkeit als Exponierungsbeobachtung. Peinlichkeit als Exponierungserfahrung aktiviert sich, wenn eine öffentliche Exponierung die Schamhaftigkeit des Betroffenen verletzt. Diese Peinlichkeit basiert nicht auf Verletzungen spezifischer Standards oder Erwartungen des öffentlichen Selbstbildes, sondern auf der ihnen ontologisch vorausgehenden und sie bedingenden Exponierungshemmung menschlicher Schamhaftigkeit.57

57 Man könnte hier auch von „sozialer Ängstlichkeit“, „Schüchternheit“ oder „Bescheidenheit“ sprechen, doch solche Bezeichnungen werden oft im Zusammenhang mit Störungsbildern, etwa Sozialphobie verwendet, oder als persönliche Eigenschaften bzw. Charakterzüge erachtet, die manche Menschen besitzen und manche nicht. Schamhaftigkeit jedoch ist – unabhängig davon, wie stark sie beim Einzelnen ausprägt ist und worauf sie

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Aus ihr entwickelt sich in späteren Lebensjahren die Diskrepanzerfahrung, dass das Gezeigte, das zum Bild gewordene Selbst, sozial mangel- oder fehlerhaft, d.h. defizitär sein kann, sodass es situativ zu einem Missverhältnis von öffentlichem IstSelbst und Soll-Selbst kommt. Dabei können auch fremde Verhaltensweisen zu Teilen des öffentlichen Soll-Selbst werden, sofern sich Betroffene als Exponierungsrezipienten zugleich als Objekte oder Teilobjekte der Exponierung fühlen. Da das Peinlichkeitsempfinden, das die eigene Darstellung betrifft, sowohl in einer Exponierungserfahrung eigener Selbstaspekte vor anderen als auch in einer negativen Eigenbewertung des öffentlichen Selbstbildes bestehen kann, besitzt es eine grundlegende zweifache Funktion: „Es bewahrt uns einerseits davor, dass andere Einblicke in unsere innere Welt, unsere verborgenen Wünsche, Sehnsüchte und Ängste erhalten, andererseits warnt es vor der Zerstörung eines Regelwerks, das mithilfe von Takt, Diskretion, Bescheidenheit und sexueller Zurückhaltung gegenseitigen Respekt und persönliche Integrität der Mitglieder einer Gemeinschaft sichert.“ (Saehrendt 2012: 54)

Klassischerweise fällt empirisch beides zusammen, da eine entsprechendes Regelwerk primär aus Standards und Ansprüchen darüber besteht, was vor wem exponiert werden darf und was nicht. Als Beobachterschmerz stellen sich Peinlichkeitsgefühle zum einen stellvertretend (wenn den Exponierenden ihr Verhalten nicht unangenehm zu sein scheint), zum anderen mitfühlend (wenn das Gegenteil der Fall ist) ein. Dabei kann Peinlichkeit als Beobachterschmerz sowohl in realen interaktiven Kontexten (man ist Interaktionspartner oder Beobachter einer Situation) als auch durch die rein mediale Beobachtung von Exponierungssituationen im Fernsehen oder Internet evoziert werden. Im Vergleich zu bestehenden Peinlichkeitsbetrachtungen und -begriffen, die mir zur Orientierung dienten, weist das hier entwickelte Begriffsinventar einige mir nicht unbedeutend erscheinende Besonderheiten auf: So entfernte sich die Begriffsentwicklung bewusst vom kommunikations- bzw. interaktionstheoretisch verbreiteten Peinlichkeitsverständnis nach goffmanschem Paradigma, das Peinlichkeit auf den sichtbaren interaktiven Fehltritt reduziert, und fokussierte stattdessen die innere Peinlichkeitserfahrung als notwendige Basis jedes Peinlichkeitsphänomens. Da jedoch in der hier eingeflossenen einschlägigen Forschungsliteratur Peinlichkeitsgefühle entweder in Merkmalen verankert werden, die nicht auf alle Peinlichkeitsphä-

sich bezieht – eine grundlegende Eigenschaft aller Menschen, die die Fähigkeit zur objektiven Selbstaufmerksamkeit besitzen.

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nomene zutreffen58, oder aber nur eingeschränkt als Bestandteil von bzw. in Abgrenzung zu anderen Untersuchungsgegenständen (z.B. Scham) betrachtet werden59, wurde eine eigene Begrifflichkeit erarbeitet, welche verschiedene Betrachtungsansätze miteinander verbindet und ausdifferenziert. Dabei wurde durch die Verankerung der Peinlichkeitserfahrung in einer die Schamhaftigkeit verletzenden Selbstexponierung, die sich von Scham unterscheidet, ein Zugang zur Tiefenstruktur von Peinlichkeit als conditio humana geschaffen. Zwar führt, wie nachgezeichnet wurde, die angloamerikanische Forschung Peinlichkeit (als „embarrassment“)

58 So kommt Roos zu dem – nicht wenige Peinlichkeitsphänomene ausschließenden – Ergebnis, dass die „Situationsparameter bzw. -facetten ‚Selbstbilddiskrepanz‘ und ‚Öffentlichkeit‘ als allgemeine Strukturmerkmale peinlicher Situationen betrachtet werden [können]. Sie sind (begriffs-)notwendige Bedingungen für die Fremd- und Selbstzuschreibung von Peinlichkeit.“ (Roos 1988a: 130) Dreitzel vertritt ebenfalls ein Peinlichkeitsverständnis, das manche Peinlichkeitsform unberücksichtigt lässt, wenn er zusammenfasst, dass der „Auslöser für das Gefühl der Peinlichkeit […] in jedem Fall ein unwillkürlicher Akt der Verletzung kultureller Standards und Erwartungen [ist]. […] Peinlichkeitsgefühle […] treten nur auf bei etwas, das mir gegen meinen Willen passiert oder zugemutet wird.“ (Dreitzel 1983: 150) Hallemann, der sich für die Peinlichkeitsempfindung im Kontext der sozialpsychologischen Theorie öffentlicher Meinung interessiert, resümiert, dass das Gefühl der Peinlichkeit entsteht, wenn der Betroffene den Eindruck hat, „gegen eine Konvention oder Etikettenregel verstoßen zu haben, oder aufgrund von Isolationsdrohungen befürchtet, andere könnten ihn nicht für fähig halten, eine etikettenkonforme Selbstdarstellung zu liefern“ (Hallemann 1990: 93). Entsprechend gelten ihm Peinlichkeiten fernab des Fauxpas weniger als Verletzung von Schamhaftigkeit als vielmehr als Isolationsfurcht in Bezug auf eine bedrohlich wirkende und konformitätserzeugende Öffentlichkeit. 59 Während Landweer (1999), Neckel (1991) und Pernlochner-Kügler (2004) sich mit dem Schambegriff beschäftigen und Peinlichkeit daher nur am Rande in ihrer Abgrenzung zu Scham betrachten, interessiert sich Verweyen für Peinlichkeit als Bestandteil des Blamagebegriffs (vgl. Verweyen 2009) und von Moos widmet sich ihr im Hinblick auf den Fehltrittbegriff (vgl. von Moos 2001). Pontzen (2005a, 2005b, 2008) beschäftigt sich zwar explizit und ausführlich mit Peinlichkeit als Untersuchungsgegenstand, als Literaturwissenschaftlerin analysiert sie allerdings primär deren Funktionalisierung und formalästhetische Gestaltung in literarischen Werken, operiert daher mit einem Peinlichkeitsbegriff, der wirkungsästhetische Aspekte des Peinlichen fokussiert. Plessner (1972), Hellpach (1913) und Brugmans (1919) binden Peinlichkeit, da sie den Verlegenheitszustand und Verlegenheitsreaktionen beschreiben, an reale Öffentlichkeit, Simmel (1983), Scheler (Scheler in Rutishauser 1969) und Sartre (1962) hingegen interessieren sich für das Schamgefühl im Allgemeinen.

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dort, wo sie sie erfahrungstheoretisch betrachtet, zu Teilen ebenfalls auf Selbstexponierung zurück (vgl. Holland 1994, Lewis 1995, Purshouse 2001, Robbins/Parlaveccio 2006), doch entbehren die entsprechenden Betrachtungen sowohl einer eindeutigen bzw. überzeugenden Abgrenzung zum Schambegriff sowie einer Abgrenzungsmöglichkeit zum Verlegenheitsbegriff als auch einer strukturellen Erklärung peinlichkeitserzeugender Selbstexponierungen, welche es erlaubt, diese von subjektiv-situativen Akteurperspektiven zu lösen und in der Struktur der menschlichen Daseinsform zu verorten60. Diese Lücke versuchte ich zu schließen, indem ich sozialanthropologische Überlegungen zur exponierungshemmenden Schamhaftigkeit in die Untersuchung integrierte. Darüber hinaus erweiterte ich die begriffliche Basis von Peinlichkeit als Selbstexponierung um die beiden Peinlichkeitsformen der Selbstbilddiskrepanz und der Exponierungsbeobachtung. Diese Dreiheit ist insofern neu, als die vorliegende Forschung sich entweder auf eine einzelne Peinlichkeitsform (vgl. z.B. Silver et al. 1987; Edelmann 1985; Manstead/Semin 1981; Modigliani 1971; Babcock 1988) oder eine grundlegende Begriffszweiheit – bei Lewis die von Selbstexponierung und Selbstbilddiskrepanz (vgl. Lewis 1995), bei Purshouse jene von Exponierungsbeobachter und -rezipient61 (vgl. Purshouse 2001) – stützt. Aus einer Verbindung der analytischen Unterscheidungen von Selbstexponierung/Selbstbilddiskrepanz und von Exponierungsobjekt/Exponierungsbeobachter sowie der Ergänzung um zusätzliche Betrachtungen zur Dichotomie des öffentlichen Selbstbildes (vgl. 3.2.3) und verschiedene Formen von Selbstbilddiskrepanzen (vgl. 3.2.4) emergierte ein neues Begriffsinventar. Dieses bietet nicht nur eine Grundlage für die Erfassung sehr unterschiedlicher Peinlichkeitsphänomene, sondern grenzt sich auch explizit vom Scham- und Verlegenheitsbegriff ab. Gerade in der Unterscheidung von Verlegenheit und Peinlichkeit (vgl. 3.1.6) sehe ich eine neuartige Differenzierung, welche bisher entweder gar nicht, nur andeutungsweise (vgl. Pernlochner-Kügler 2004; Neckel 1991; Plessner 1972) oder rein quantitativ (vgl. Dreitzel 1983) getroffen wird.

60 Dass Selbstexponierungen „unwanted“ seien (vgl. Robbins/Parlaveccio 2006: 341) oder das betroffene Subjekt ihnen „averse“ gegenüberstehe (vgl. Purshouse 2001: 532), ist empirisch zwar vollkommen korrekt, doch beschreibt dies nur subjektiv-situative, nicht strukturelle Ursachen solcher Aversionen. 61 Andere Forschungsansätze zu Peinlichkeit als einem durch fremdes Verhalten aktivierten Gefühl analysieren entsprechende Phänomene teilweise zwar ebenfalls umfassend, doch fehlt ihnen entweder ein gesättigter begrifflicher Unterbau (vgl. Krach et al. 2011) oder aber sie betrachten nur spezifische Formen dieser Gefühle (z.B. TV-Peinlichkeit [vgl. Henning 2001] oder „empathic embarrassment“, d.h. mitfühlende Peinlichkeit [vgl. Miller 1987]).

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Fruchtbar erscheinen mir die einzelnen begrifflichen Abgrenzungen nicht zuletzt deshalb, weil sich in ihnen die verschiedenen strukturellen Ursachen und Bezugspunkte einander ähnelnder emotionaler Erfahrungen widerspiegeln. Zwar können die jeweiligen Erlebnisqualitäten der Gefühle für betroffene Akteure bisweilen nahezu identisch sein, doch spielen die herausgestellten Strukturunterschiede für das wissenschaftliche Herausarbeiten ihrer jeweiligen kommunikativen und soziokulturellen Bedeutungs- und Funktionsmöglichkeiten eine wesentliche Rolle. Die unten stehende Abbildung, die an eine grafische Darstellung der Entwicklung von „embarrassment“ von Lewis angelehnt ist (vgl. Lewis 1995: 207), diese jedoch modifiziert und um Peinlichkeit als Exponierungsbeobachtung erweitert, zeigt die Ontogenese der beschriebenen Peinlichkeitsformen noch einmal skizzenhaft auf. Abbildung 1: Ontogenese von Peinlichkeit Primäre Emotionen Freude, Angst, Ärger Ekel, Überraschung

Kognitive Fähigkeit Objektive öffentliche Selbstaufmerksamkeit

Kognitive Fähigkeit Perspektivenübernahme, Internalisierung sozialer Standards und Erwartungen

Schamhaftigkeit Peinlichkeit als Exponierungserfahrung

Selbst-bewusste evaluative Emotionen Peinlichkeit als negative Diskrepanzerfahrung

Empathische Emotionen Peinlichkeit als Exponierungsbeobachtung (stellvertretend oder mitfühlend)

4. Peinlichkeit als kommunikatives Ereignis „So, in the end, embarrassment has to do not only with what has been done or not done in itself, but also in how what is done or not done about what has been done or not done provides evidence for assessments of character.“ HARRÉ/PARROTT 1996A: 51

Im Hinblick auf die beobachtbare kommunikative Ereignisebene manifestiert sich Peinlichkeit in Ausdrucksbewegungen, Verhaltensweisen und Handlungsanschlüssen, die typisch für peinlich Berührte sind. Insofern lässt sich die situative Außenseite von Peinlichkeit nicht durch Beschreibungen peinlichkeitsauslösender Ereignisse charakterisieren, sondern durch Beschreibungen der besonderen kommunikativen Wirksamkeit, die situativ von diesen Ereignissen ausgeht. Zwar setzen wir alltagsweltlich oftmals auslösendes Ereignis mit peinlicher Wirksamkeit gleich (etwa: sichtbare Schweißflecken auf dem Hemd beim Bewerbungsgespräch = peinliche Situation), doch schieben wir dabei immer schon unsere quasi-automatische Deutung des Situationskontextes sowie die damit verbundene Vorstellung der kommunikativen Wirksamkeit einer entsprechenden Situationsinterpretation zwischen Auslöser und Ergebnis. Denn genauso, wie das Peinlichkeitsgefühl als subjektive Erfahrung nicht durch objektive Ereignisse verursacht wird, ist auch für die peinliche Situation als kommunikative Außenseite dieser Erfahrung nicht das auslösende Ereignis wesentlich, sondern die kommunikative Wirkung, die die jeweilige Interpretation dieses Ereignisses zur Folge hat. Im Alltag benötigen wir freilich meist keine expliziten Beschreibungen dieser Wirkungsweise, da die Nennung des Auslösers und einige Angaben zum situativen Kontext bzw. zu Betroffenen genügen, um beim Hörer oder Leser das nötige Wissen und intuitive Vorstellungen darüber hervorzurufen, was der Auslöser in der jeweiligen Situation bedeutete und bewirkte. Löst man sich jedoch von den konkreten Situationsbeschreibungen und sucht nach allgemeinen, beobachtbaren Merkmalen peinlicher Situationen, wird

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schnell deutlich, dass diese in den charakteristischen kommunikativen Wirkungsweisen von Peinlichkeitsauslösern bestehen, nicht in den Auslösern selbst. Daher sollen im Folgenden nicht typische Peinlichkeitsauslöser betrachtet werden (siehe hierzu Gross/Stone 1976; Hallemann 1986; Borg et al. 1986), sondern typische kommunikative Wirksamkeitsformen. Natürlich hängen diese im konkreten Fall stets irgendwie mit dem jeweils auslösenden Ereignis zusammen, bei welchem man z.B. „Inkompetenz“, „Unschicklichkeit“ (Unhöflichkeiten und Taktlosigkeiten), „Isolation“ und „Auffälligkeit“ voneinander differenzieren kann (vgl. Hallemann 1986), doch sind solche Unterscheidungen ja nicht dem Geschehen selbst zu entnehmen: Ob das Rülpsen des alten Herrn am Nebentisch eine Taktlosigkeit, einen Kontrollverlust, einen Witz oder eine absichtliche Provokation darstellt, kann aus einer rein extrakommunikativen Beobachtungsperspektive nicht entschieden werden. Aus diesem Grund erschöpfen sich die Fragen bzw. Fragebögen empirischer Untersuchungen zu peinlichen Situationen, sofern sie differenziert erfolgen, auch nicht in reinen Ereignisbeschreibungen (etwa: „Sie verschütten auf einer Feier Ihr Getränk über Ihre Kleidung.“), sondern erweitern diese um Ausführungen zu den persönlichen Ansprüchen und Erwartungen in dem jeweiligen Zusammenhang, den spezifischen Rollenbeziehungen sowie Beschreibungen der Reaktionen von anderen.62 Obwohl Peinlichkeitsemotionen auch in privaten Kontexten auftreten können, entfalten sie ihre typische Dynamik erst in interaktiven Kontexten, da hier die Öffentlichkeitskomponente nicht nur virtuell, sondern realiter gegeben ist. Im Gegensatz zum Peinlichkeitsgefühl, das Betroffene allein oder als „unbeteiligte“63 Beobachter in der Öffentlichkeit verspüren können, ist man in interaktiven Peinlich-

62 Um abzufragen, was Probanden peinlich ist, werden daher meist längere Beschreibungspassagen von Situationen konstruiert, z.B.: „You are attending a formal party at your boss’ house. Everyone present is very prominent in your workplace as well as your community. After getting punch, you head for the patio. As you stride toward the group outside, you slam into the sliding glass door that you thought was open, spilling the drink all over you. You hear the muted laughter and a few people ask you if you are all right.“ (Sabini et al. 2001: 114) Zusätzliche Angaben, die einem bestimmten Ereignis erst folgen, wie „people are staring at you“, „most of your classmates smirk one to one another“, „the interviewer […] notices the wet spot with a confused look“, „[h]e gets up, wipes it off, and gives you an annoyed look“ (ebd. 114f.), verdeutlichen zusätzlich die jeweilige Ereignisrahmung durch die anderen Interaktionsteilnehmer. 63 „Unbeteiligt“ meint hier nicht, dass man dem Beobachteten gegenüber unbeteiligt wäre, sondern, dass man kein kommunikativer Teilnehmer der beobachteten Situation ist (man ist unbeteiligt am kommunikativen Geschehen).

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keitskontexten nicht nur Beobachteter, sondern zugleich Akteur: Ein unmittelbarer kommunikativer Umgang mit der Peinlichkeit bzw. eine kommunikative „Bewältigung“ der peinlichen Situation sind hier erforderlich. Das bedeutet für die folgenden Ausführungen, dass diejenigen Peinlichkeitsphänomene, die sich im Privaten oder in einer unbeteiligten Beobachtung einstellen, nicht weiter berücksichtigt werden.64 Dafür wird die begrifflich von Peinlichkeitsgefühl abgegrenzte Verlegenheit als Zustand, welcher typischerweise auf Peinlichkeit in interaktiven Kontexten folgt, als grundlegende Wirkungsform in die Betrachtungen mit einbezogen. Aufgrund der vielfältigen Möglichkeiten, die kommunikative Wirkungsebene von Peinlichkeitsemotionen zu beschreiben und zu analysieren, die von detaillierten Schilderungen und Erklärungen physiologischer Vorgänge über Untersuchungen nonverbaler Ausdrucksmuster bis hin zu Schematisierungs- und Klassifikationsversuchen von situativen Rettungsmaßnahmen und Anschlusshandlungen und deren kulturellen und gruppenspezifischen Unterschieden und Gemeinsamkeiten reichen, seien an dieser Stelle zunächst einige diesbezügliche kommunikationstheoretische Überlegungen angefügt, die das Untersuchungsfeld entsprechend begrenzen. Wer als Kommunikationsbeteiligter Peinlichkeitsgefühle empfindet, möchte zwar einerseits zumeist nichts lieber, als diesen Zustand zu verbergen, andererseits ist aber genau das im Regelfall so gut wie unmöglich für ihn, denn die innere Peinlichkeitsbetroffenheit schlägt sich unwillkürlich äußerlich sichtbar nieder. Insofern transportiert und signalisiert Peinlichkeit eine psycho-physische Anspannung, gibt aber keinen Aufschluss über deren Anlass oder Inhalt (vgl. Pontzen 2005a: 193). Unabhängig davon, wer oder was die Peinlichkeit ausgelöst oder wer zuerst peinlich berührt reagiert hat, bleibt Peinlichkeit darüber hinaus in vielen Fällen nicht auf eine einzelne Person beschränkt, sondern erfasst auch diejenigen, die sich nicht exponiert oder etwas zu Schulden haben kommen lassen (Sharkey spricht hier von der „infectious nature of embarrassment“, vgl. Sharkey 1997: 60). In dieser Hinsicht ist Peinlichkeit „egalitär“ (vgl. Pontzen 2005a: 191) – alle wollen möglichst schnell durch sie hindurch, gleichgültig, ob sie die Peinlichkeit selbst verursacht haben oder nicht, denn im kurzfristigen kollektiven Leiden sind sie gemeinsam gefangen. Was genau dem Betroffenen peinlich ist, kann von außen nur situativ geschlussfolgert oder vermutet werden. Dass ihm etwas peinlich ist, ist jedoch meist klar ersichtlich: „Für Beobachter wird die emotionale Unausgeglichenheit des Peinlich Berührten an verschiedenen Merkmalen deutlich: Erröten, verlegenes Grinsen, unruhige Körper-

64 Ob und in welchem Maße Betroffene z.B. auch in privaten Kontexten mit für Peinlichkeit typischen Ausdrucksmerkmalen, z.B. Erröten, reagieren, kann daher nicht erörtert werden, stellt aber freilich ein empirisches Forschungsdesiderat da, das wertvolle Rückschlüsse über die psycho-physischen Wirkungsmechanismen von Peinlichkeitsemotionen geben würde.

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bewegungen und das Niederschlagen der Augen signalisieren, was im ‚Übeltäter‘ vor sich geht.“ (Hallemann 1986: 250) Verschiedene Ausdrucksbewegungen, die als „typische Peinlichkeitsmerkmale“ identifiziert werden, fungieren hier als indexikalische Zeichen, die auf den emotionalen Zustand ihres Zeichenträgers verweisen und zu kommunikativen Signalen werden, die gemeinsam mit Anschlusshandlungen den weiteren Situationsverlauf bestimmen. Aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive lassen sich nun mindestens drei grundlegende situative Wirkungsdimensionen von Peinlichkeit differenzieren: Die erste Dimension betrifft die persönliche Kontrollfähigkeit als praktische Verarbeitung einer Ordnungsstörung und bezieht sich stets explizit oder implizit auf die grundlegende Kontrollier- und Belastbarkeit der psycho-physischen Konstitution des jeweiligen Betroffenen (vgl. von Moos 2001a: XVI). So können sich Peinlichkeitsgefühle sowohl in einem kurzen, verlegenen Grinsen als auch in anhaltenden nervösen Körperbewegungen ausdrücken. Die zweite Dimension betrifft das strategische „Handling“ der peinlichen Situation, etwa so zu tun, als sei nichts passiert, kurz um Entschuldigung zu bitten, einen auflockernden Witz zu machen oder eine Erklärung zu formulieren. Hier eine Beschreibung und Festlegung dafür vorzunehmen, welche Anschlusshandlung wann gewählt wird, ist aufgrund der Verschiedenheit und Komplexität situativer Kontexte nur ansatzweise oder schematisierend möglich. Auch von Moos, der in einer historiografischen Untersuchung des Fehltrittbegriffs Textbeispiele von Fehltrittsituationen analysiert, stellt fest, dass die kommunikativen Situationskontexte zu unterschiedlich sind, als dass sie erlaubten, Gründe für die Wahl der einen oder der anderen Anschlusshandlung allgemeiner zu bestimmen (vgl. von Moos 2001b: 72). Die dritte Ereignisdimension bezieht sich auf den Verlauf als sequentielle Typik peinlicher Situationen. Solche Verlaufsstrukturen aus extrakommunikativer Perspektive zu klassifizieren ist allerdings nicht ohne Weiteres möglich, geschweige denn eine diesen zugrunde liegende einheitliche Ereignisstruktur herauszuschälen. So stießen Holland und Kipnis bei einer Analyse von berichteten Peinlichkeitserlebnissen, aus denen sie eine begriffliche Ereignissequenz peinlicher Situationen ableiten wollten, auf das Problem, dass sich der Vielzahl unterschiedlicher Peinlichkeitserlebnisse keine einheitliche, auf alle Erlebnisse passende Ereignisstruktur zuordnen ließ (vgl. Holland/Kipnis 1994). Schlussendlich entwickelten sie eine ganz rudimentäre prototypische Ereignissequenz – „presentation, exposure, scrutiny, reaction“ (vgl. ebd.). Doch selbst diese zeigte noch mehrere Variationen: „[W]e found two other possible variations on the prototypic event sequence. In the first, the embarrassed-person-to-be does not immediately recognize that he has been exposed. [...] The second form of this type of embarrassment occurs when the agent knows that she has contra-

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dicted a stance that she has taken, but is not quite sure that she has been exposed before the audience.“ (Ebd. 329f.)

Eine grundlegende Schwierigkeit bestand darüber hinaus darin, ein typisches „Ende“ peinlicher Situationen zu bestimmen: „One problem we had in constructing our event sequence was how to deal with the endings. Many of the stories, like our event sequence, simply went presentation, exposure, scrutiny, reaction, and ended at that. Others, however, went on to describe a conclusion to the episode. In some of these cases, the bad feelings associated with being scrutinized were intensified by the audience’s laughter. Other times, they were mitigated by the audience’s laughing with and consoling the informant. Occasionally, the results of the embarrassing incident were so severe that the informant suffered a permanent loss of status or never returned to that social context again. Other times, the entire incident was ignored and forgotten by the audience in front of whom it occurred. In short, there was no ‚typical‘ ending to the event sequence.“ (Ebd. 328f.)

Typisierungsversuche des Situationsverlaufs scheinen in Anbetracht der situativen und kommunikativen Vielfalt und Komplexität von Peinlichkeitsphänomenen nur bedingt sinnvoll. Daher möchte ich mich auf eine Untersuchung der beiden Dimensionen von typischen Ausdrucksmerkmalen und Anschlusshandlungen beschränken. Als Peinlichkeitsausdruck und Peinlichkeitsauslegung sind sie wesentliche Bestandteile der peinlichen Situation, die sowohl unmittelbar mit der jeweiligen Situationsdeutung zusammenhängen als sie auch steuernd beeinflussen. Reaktionen und Anschlusshandlungen anderer, an peinlichen Situationen beteiligter Akteure, die etwa dem Betroffenen helfen wollen oder ihn auslachen, können im Folgenden nicht näher untersucht werden.

4.1 AUSDRUCK

UND ANSCHLUSSHANDLUNG ALS KOMMUNIKATIVE E REIGNISDIMENSIONEN

Dass die beiden kommunikativen Ereignisdimensionen Ausdruck und Anschlusshandlung analytisch getrennt voneinander betrachtet werden, liegt nicht, wie man vielleicht auf den ersten Blick annehmen könnte, an ihrer chronologischen Reihenfolge (da auf den unmittelbaren Peinlichkeitsausdruck eine Anschlusshandlung folgt), sondern an ihrer unterschiedlichen Wesenhaftigkeit. Der Peinlichkeitsausdruck als unwillkürliche Reaktion auf das Peinlichkeitsempfinden des Betroffenen ist im Gegensatz zu seinen Anschlusshandlungen nur zu geringen Anteilen willentlich zu steuern und zu kontrollieren. So hat man gemeinhin keinen Einfluss da-

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rauf, ob man errötet oder nicht.65 Hier kann also lediglich von kommunikativen „Signalen“, „Ausdrucksbewegungen“ und „Reaktionen“, nicht aber von kommunikativen „Handlungen“ gesprochen werden. Bei Handlungen verfolgt der Betroffene bereits bestimmte Handlungsziele, entscheidet sich z.B. je nach persönlichem Ziel dafür, sich für etwas zu entschuldigen oder einen Witz darüber zu machen. Aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive geht es ja nicht nur um den allgemeinen Steuerungscharakter bzw. die Wirksamkeit kommunikativer Prozesse, sondern auch um die Frage, welche Art von Steuerungsprozessen jeweils vorliegt: intentionale Handlungen oder unwillkürliche bzw. unbewusste Reaktionen. Das für eine Handlung entscheidende Moment liegt dabei in ihrer Absichtlichkeit begründet. Das bedeutet, dass „diese mehr oder minder bewusst, kontrolliert, überlegt und freiwillig vollzogen wird; somit bürgt sie 1.) für ein aktives Moment der Selbstbestimmung (‚Freiheit‘) als Qualität des Intendierens und 2.) für die subjektive Zweckrationalität der Handlung als Qualität der Intentionalität. Man kann erstere als ‚volitive‘, letztere als ‚kognitive‘ Komponente der Absicht bezeichnen. Während die kognitive Komponente einen rationalen Handlungsplan enthält (was man wie und wozu tun will), bezieht sich die volitive Komponente auf die Ausführung der Handlung (dass man all dies tun will bzw. wird). Für die Unterscheidung von Handeln und Verhalten sind v. a. diese beiden Komponenten maßgeblich.“ (Preukschat 2007: 33)

Hier muss allerdings berücksichtigt werden, dass bei peinlicher Betroffenheit innere und äußere Handlungsfähigkeiten beeinträchtigt sind, da in diesem Zustand sowohl das kognitive Vermögen, sinnvolle Handlungspläne zu entwerfen (durch geistige Leere, intellektuelle Black-outs, Gefangenheit in der eigenen Selbstbeobachtung)

65 Ausnahmen bestätigen hier die Regel: Gerade weil das Erröten als unwillkürliche Ausdrucksform gilt, zeigte man sich z.B. bei der höfischen Etikette äußerst affin dafür, dieses Signal persönlicher Schamempfindlichkeit strategisch zu inszenieren. Zum unvermeidbaren Rotwerden kommt der „sozial kodierte Anteil am Erröten; so ist ein ‚heftiges‘ Erröten um die vorvergangene Jahrhundertwende sicher mit einem Seufzer verbunden, die Dame wendet sich ab, zückt ihr Taschentuch und verbirgt ihren Mund. Diese Verhaltensmuster sind gleichermaßen bekannt wie willkürlich. Durch eine solche Inszenierung kann eine Dame die kommunikative Wirkung ihres Errötens unterstützen beziehungsweise hervorrufen – selbst wenn ihr Gesicht de facto gar nicht gerötet hat.“ (Verweyen 2012: 112) Darüber hinaus verschaffte man sich sogar chemische Hilfsmittel: „Zur abgefeimten Maskerade und Schauspielerei der französischen Gesellschaft im 18. Jahrhundert gehörte es auch, sich bei Bedarf ‚verlegen‘ und ‚unschuldig‘ zu inszenieren. Es gab sogar Taschentücher, die chemisch imprägniert waren, sodass sie eine Rötung hervorriefen, wenn man sie ans Gesicht hielt.“ (Saehrendt 2012: 83)

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als auch die Umsetzungsfähigkeit gefasster Pläne (durch Störungen, Hemmungen und Kontrollverluste) in Mitleidenschaft gezogen werden. Insofern unterliegen Handlungsprozesse im peinlich berührten Zustand innerlich bedingten Fähigkeitsund Freiheitseinschränkungen, die nicht selten dazu führen, dass wir unlogische, unpassende oder „kontra-produktive“ Dinge tun und der Situation hilflos gegenüberstehen. Dennoch ist eine Unterscheidung von Reaktion und Handlung auch unter diesen Umständen wesentlich, da die grundsätzliche Verschiedenheit beider Ereignisfelder weiterhin bestehen bleibt. Dass eine solche Differenzierung dabei nicht nur kommunikationstheoretisch, sondern auch alltagsweltlich relevant ist, wird bei Peinlichkeit sogar besonders deutlich, da Peinlichkeitssignale als Ausdrucksverhalten der eigenen Innerlichkeit von Interaktionspartnern anders gedeutet werden als kommunikative Handlungen, die sich bemühen, Äquivalentes symbolisch auszudrücken. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Individuen die von anderen sprachlich kommunizierten Inhalte von den Signalen, die darüber hinaus in ihrem Verhalten mitschwingen, unwillkürlich unterscheiden und in ein anderes Bewertungsschema einordnen: Ob eine Person errötend und stotternd eine Entschuldigung hervorstößt oder nur kurz „Entschuldigung“ sagt, macht einen Bedeutungsunterschied für denjenigen, an den diese Entschuldigung gerichtet ist, und prägt seine Interpretation der Äußerung, seine Reaktion darauf sowie seine Einschätzung der anderen Person erheblich. So büßt die Entschuldigung nicht selten ihre lexikalische Bedeutung ein, wenn sie nicht in der richtigen Art und Weise ausgesprochen wird, und kann vom Hörer gar gegenteilig aufgefasst werden. „If an apology does not look somewhat humiliating to the wronged person or to third parties, then it isn’t one and it would be utterly ineffective in accomplishing the remedial work it is supposed to do. We have all given, witnessed, and received surly apologies that are intended and received as new affronts requiring more apology.“ (Miller 1993: 163) Während eine kommunikative Handlung als bewusster Vollzug spezifischer Handlungspläne ein Ziel verfolgt und als „Fassade“ oder „Eindrucksmanipulation“ nicht unbedingt mit dem einhergehen muss, was der Kommunikationsakteur zugleich denkt und fühlt, sondern auch zur Verschleierung seiner echten Motive, Einstellungen und Gefühle dienen kann, werden nonverbale Reaktionen und Verhaltensweisen gerade als authentischer Ausdruck dieser Einstellungen und Gefühle angesehen. Bei Peinlichkeit sind sie Indikatoren für eine Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit des Betroffenen66 und besitzen daher eine besonders wichtige kommunikative Signalfunktion:

66 Diese beiden, sich manchmal widersprechenden Ebenen von intentionaler Selbstdarstellung und unwillkürlich dabei mitschwingendem Ausdrucksverhalten beschreibt Kundera in seinem Roman „Der Scherz“ anhand Ludvigs Beobachtung eines jungen

116 | P EINLICHKEIT – FORMEN UND F UNKTIONEN „Überlegen wir uns jetzt einmal, wie ein Akteur einem Augenzeugen, d.h. einem Beobachter, erscheinen würde, sollte der Akteur kein Zeichen von Emotionalität erkennen lassen. Das Fehlen jeglicher Emotionalität würde einen Beobachter dazu führen, zu glauben, daß der Akteur entweder regelmäßig die vorgefallene Überschreitung begeht, oder womöglich keinen Respekt für die in der Situation vorhandenen Regeln hat, oder daß ihm einfach die Kompetenz fehlt, diese Regeln zu befolgen. Egal zu welchen dieser drei alternativen Möglichkeiten die Überlegungen des Beobachters führen, in allen drei Fällen wäre er geneigt, negative dispositionelle Schlüsse über den Akteur zu ziehen. Dementsprechend kann man auch sagen, daß das Zeigen von Emotionalität infolge einer sozialen Überschreitung Beobachtern als Indikator dafür dient, daß der Vorfall ein außergewöhnliches Vorkommnis ist, und dadurch negative dispositionale Inferenzen verhindert.“ (Semin/Mervyn 1982: 263)

Um diese Annahme empirisch zu überprüfen, führten Semin/Mervyn ein Experiment durch (vgl. ebd. 1982). Sie filmten einen sehr versierten Schauspieler dabei, wie er in einem Supermarkt etwas umstieß und ließen ihn auf dieses Ereignis unterschiedlich reagieren. Im ersten Fall verhielt er sich sehr gelassen und behob den entstandenen Schaden unbeteiligt, indem er die umgefallenen Artikel ganz ruhig wieder einräumte. In einem zweiten Fall imitierte er typische Verlegenheitsgesten, ging aber einfach weiter, ohne sich um den Schaden zu kümmern. In einem dritten Szenario ging er schlichtweg unbeteiligt weiter, und in einer vierten Szene tat er sehr verlegen und behob zudem den Schaden. Probanden sollten diesem Mann anhand der einzelnen Filmsequenzen nun verschiedene Persönlichkeitsattribute zuschreiben. Es zeigte sich, dass seine Werte für „sympathisch“ durchweg höher waren, wenn er sich peinlich berührt zeigte, als wenn dies nicht der Fall war. Die Werte für „loyal“, „freundlich“ und „sympathisch“ im Szenario, in dem er verlegen tat und sich davonmachte, ohne den Schaden zu beheben, überstiegen sogar jene der ersten Szene, in der er lediglich den Schaden behob. Bei den Attributen „selbstsicher“ und „reif“ hatte er hingegen die höchsten Werte, wenn er sich nicht peinlich

Mannes. Dieser wirkt in Gesicht und Körperbau noch sehr kindlich und versucht, diese Kindlichkeit durch eine coole Fassade in der Öffentlichkeit zu überspielen: „Diese Kindlichkeit kann einen zwanzigjährigen jungen Mann kaum freuen, weil es ihn in diesem Alter disqualifiziert, so daß ihm nichts anderes übrigbleibt, als es mit allen Mitteln zu überspielen […]: durch die Kleider (die Lederjacke des Jungen hatte breite Schultern, war schick und gut geschnitten) sowie durch das Benehmen (der Junge trat selbstbewußt auf, ein bißchen rauh, und gab sich von Zeit zu Zeit betont lässig und gleichgültig). In diesem Überspielen verriet er sich leider ständig selbst: er errötete, beherrschte seine Stimme nicht gut genug, die sich bei der geringsten Aufregung leicht zu überschlagen begann (das hatte ich bereits bei der ersten Begegnung gemerkt), er beherrschte aber auch seine Augen und seine Mimik nicht […].“ (Kundera 1989: 325)

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berührt zeigte und zugleich den Schaden beseitigte.67 Dies bestätigt, dass Peinlichkeitssignale auf einer anderen Ebene steuernd wirken als Anschlusshandlungen. Als quasi-automatische Kontrollmechanismen können Peinlichkeitssignale einer kommunikativen Anschlusshandlung widersprechen, sie verstärken, sie ergänzen, aber niemals synonym mit ihrer kommunikativen Wirkung sein.

4.2

KOMMUNIKATIVE AUSDRUCKSMERKMALE VON P EINLICHKEIT „It may be useful to think of embarrassment not only as a painful personal response to untoward public events but as a vivid interpersonal communication that also informs others of our dismay and chagrin. The emotion itself may exist not only to alert us to the threat of unwanted evaluations, but to provide a reliable public signal of our distress as well.“ MILLER 1996: 134

Dass jemand peinlich betroffen ist, erkennt man als Außenstehender meist intuitiv68, selbst wenn der Betroffene einem anderen Kulturkreis angehört, denn „[e]s gibt Gefühlsäußerungen, etwa den mimischen Ausdruck als Reaktion auf bestimmte Reize, die bei allen Menschen gleich sind. Dazu gehören auch die physiologischen Äuße-

67 Dies deckt sich mit Goffmans Betrachtungen über die Funktion des Errötens, bei der der Errötende zwar seine Souveränität einbüßt, zugleich jedoch den viel wichtigeren Eindruck bestätigt, bescheiden zu sein (vgl. Goffman 1986). 68 Es existieren zwar Bestrebungen und Versuche, die Unterscheidung hinsichtlich der verschiedenen Emotionsstrukturen von Peinlichkeit und Scham auch im Hinblick auf ihre jeweilige Expressivität zu erweitern, doch die meisten Untersuchungen und Beschreibungen weisen darauf hin, dass eine solche Differenzierung begrifflich nicht oder nur geringfügig möglich ist (vgl. Pernlochner-Kügler 2004). Da es mir zudem nicht darum geht, aufzuzeigen, in welcher Hinsicht sich das jeweilige Ausdrucksverhalten von Peinlichkeit und Scham gleicht bzw. unterscheidet, sondern wie eine innere Peinlichkeitserfahrung sich äußerlich manifestieren kann, erscheint die Frage, ob und inwiefern die folgenden Beschreibungen auch für den Schamausdruck zutreffend sind, ohnehin eher als zweitrangig. Weil Verlegenheitsreaktionen bereits begrifflich als eine der klassischen situativen Wirkungsdimensionen von Peinlichkeitsgefühlen bestimmt wurden, gelten die folgenden Ausführungen grundlegend auch für den Verlegenheitsausdruck.

118 | P EINLICHKEIT – FORMEN UND F UNKTIONEN rungsweisen peinlicher Gefühle, die in allen Kulturen ähnlich sind: Erröten, Sprechstörungen, Reduktion oder Vermeidung des Augenkontaktes, motorische Unruhe und Lächeln.“ (Moosmüller 1999: 114)

Von seltenen kulturspezifischen Differenzen abgesehen ist die Körpersprache peinlicher Betroffenheit nahezu universal.69 Bezeichnend für die Signale ist, dass sie besonders schwer verdeckt oder kontrolliert werden können, sodass „even the most stoic people may avert their eyes, shift uncomfortably, and blush involuntary. As a result, an episode of embarrassment may be plainly evident to total strangers. If an audience is close at hand, our sheepish chagrin at some transgression may be unmistakable. Moreover, we may have very little control over our public displays of abashed behavior so that, even if we desperately wish to appear unruffled, our embarrassment may be obvious.“ (Miller 1996: 134)

Obwohl sich Peinlichkeitsbetroffenheit situativ sehr deutlich bemerkbar macht, kann sie auf unterschiedliche Art und Weise zum Ausdruck kommen und wird meist erst durch ihre spezifische Performativität, durch die Kombination bestimmter Ausdrucksbewegungen, für den Beobachter eindeutig identifizierbar.70 Dies liegt daran, dass einzelne Ausdrucksbewegungen isoliert voneinander betrachtet (z.B. Lächeln, nervöse Handbewegungen oder Abwenden des Kopfes) auch andere Ursachen als Peinlichkeitsgefühle haben können. So wird der Kopf beispielsweise abgewendet, wenn man sich vor etwas ekelt oder erschreckt, nervöse Handbewegungen können ein Zeichen von Aufregung oder Nervosität sein usw. Dabei scheint es jedoch eine besondere Ausnahme zu geben: „There are a variety of expressive signals that may reliably inform bystanders that someone is embar-

69 Für Batarilo bestätigen dabei einige Ausnahmephänomene die Regel: „Rot werden die Menschen auf der ganzen Welt, auch wenn man es nicht überall gleich deutlich sieht. Auch die Körpersprache und die Mimik der Scham sind weitgehend universal. Dass man in Südostasien nicht nur den Blick abwendet und sich kleinmacht, sondern sich dabei gelegentlich auch mal demonstrativ auf die Zunge beißt, kann man wohl als Dialektfärbung dieser universalen Sprache betrachten – bzw. als Dialektausdruck, den man eventuell nicht ganz deutlich versteht, der sich aber im Kontext und aufgrund anderer Schamsignale leicht erschließt.“ (Batarilo 2013: 96) 70 So wurde von Keltner eine prototypische Ausdruckssequenz von Peinlichkeit, die die Elemente Blickvermeidung, kontrolliertes Lächeln, Kopfbewegungen und das Anfassen des Gesichtes enthielt, von 92 Prozent aller Beobachter als Ausdruck von Peinlichkeitsempfindungen identifiziert (vgl. Keltner 1995).

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rassed, and foremost among them is the most dramatic, most peculiar, and most uncontrollable of them all: the blush.“ (Miller 1996: 135) 4.2.1 Erröten Erröten gilt als unmittelbarer und unverwechselbarer Ausdruck von Peinlichkeits-, Scham- oder Verlegenheitsempfindungen (vgl. Keltner/Anderson 2000; Miller 1996; Darwin 2000; Harré 1990; Harris 2007). Nicht selten wird es sogar als Synonym für diese Gefühlszustände verwendet, da sein Erscheinen notwendigerweise an diese gebunden zu sein scheint. So impliziert der berühmte Spruch Twains „Man is the only animal that blushes – or needs to.“ (Twain 1897: 238) nicht nur, dass Twain im Erröten einen elementaren und spezifisch menschlichen Wesenszug sieht, dessen Ausbleiben in bestimmten Situationen negative Rückschlüsse auf das Wertesystem des Betreffenden zulässt. Er setzt zugleich voraus, dass der körperliche Prozess des äußeren Errötens unmittelbar mit einem inneren Empfinden einhergeht. Auch Darwin verankert die Ursache des Errötens in einem innerlichen Bewusstseinszustand: „Wir können Lachen durch Kitzeln der Haut, Weinen oder Stirnrunzeln durch einen Schlag, Zittern durch Furcht oder Schmerz verursachen usw.; wir können aber […] ein Erröten durch keine physikalischen Mittel – das heißt durch keine Einwirkung auf den Körper verursachen. Es ist der Geist, welcher affiziert sein muß.“ (Darwin 2000: 347) Menschen können zwar aus unterschiedlichen Gründen rot im Gesicht werden, z.B. während und nach sportlichen Aktivitäten, durch Hitze oder Alkoholkonsum (vgl. Neitzel 2103: 1). Doch kann eine solche Gesichtsrötung von dem sich plötzlich einstellenden und abklingenden Erröten, das sich vor allem im oberen Brustbereich, im Nacken und im Gesicht, inklusive der Ohren, manifestiert, differenziert werden (vgl. Miller 1996: 136) und ist für den Beobachter darüber hinaus meist durch den situativen Kontext, der anderweitige Ursachen des Rotwerdens ausschließt, davon unterscheidbar. Dieser enge Zusammenhang von Erröten und spezifischer Emotionalität könnte darauf zurückgeführt werden, dass es im Gegensatz zu anderen Ausdrucksbewegungen und Reaktionen notwendigerweise von dem Bewusstsein begleitet wird, sich vor anderen exponiert zu fühlen: Die Tatsache, dass auch blinde Personen erröten, sehr kleine Kinder hingegen nicht (vgl. Darwin 2000; Eibl-Eisesfeldt 1997), deutet zumindest darauf hin, dass die Ursache des Errötens in einer von anderen ausgelösten Aufmerksamkeit auf sich selbst besteht (vgl. Darwin 2000). Dass wir im Gesichtsbereich erröten, an anderen Körperstellen jedoch nicht bzw. äußerst selten, führt Darwin darauf zurück, dass das Gesicht von allen Teilen des Körpers am meisten betrachtet und angesehen werde, Ausdruck und Quelle der Stimme, Sitz von Schönheit und Hässlichkeit sei und daher seit jeher einer näheren

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und eingehenderen Selbstbetrachtung unterworfen sei als andere Körperteile (vgl. Darwin 2000: 364). Ekman erweitert diese Annahme um den Hinweis, dass das Gesicht die wichtigste Kennmarke der Person sei, z.B. am häufigsten dazu diene, Menschen voneinander zu unterscheiden, weshalb ihm besondere Aufmerksamkeit in Peinlichkeits- und Schamsituationen als Persönlichkeitsbedrohungen zukomme (vgl. Ekman in ebd. 365). Da das Erröten im kommunikativen Alltag mit höchster Sichtbarkeit verbunden ist (es manifestiert sich im schutzlos exponierten und von Kommunikationspartnern am stärksten visuell fixierten Bereich des Gesichtes), fungiert es nicht nur als ein besonders eindeutiges, sondern zugleich als ein besonders deutliches Signal, das sich kaum verbergen lässt. Es kann für Personen, die häufig und scheinbar grundlos erröten, sogar zu einer Angststörung werden, zu der sog. „Erythrophobie“ 71. Als kommunikatives Signal impliziert das Erröten mehrere „Botschaften“: „Those who are blushing are somehow saying that they know, care about, and fear others’ evaluations and that they share those values deeply; they also communicate their sorrow over any possible faults or inadequacies on their part, thus performing an acknowledgement, a confession, and an apology aimed at inhibiting others’ aggression or avoiding social ostracism.“ (Castelfranchi/Poggi 1990: 240)

So gesehen ist das Erröten ein höchst effizientes Medium der Kommunikation, bei dem der Errötende zugleich Normbrecher, Normsender und Sanktionierender in einer Person ist (vgl. Hallemann 1990), freilich ohne dabei zu offenbaren, auf welchen Normbruch sich sein Erröten bezieht. Zudem ist es „superior to a functionally similar signal as an apology in that its involuntary nature attests to the ashamed person’s sincerity“ (Crozier 1990a: 6). 4.2.2 Wegblicken und Verlegenheitslächeln Neben dem Erröten ist auch die unwillkürliche Vermeidung von Blickkontakt für Peinlichkeitsbetroffene typisch. Diese kann sich im Abwenden des Blicks, im Weg-

71 Bei diesem Leiden erröten die Betroffenen sehr häufig, da allein der innere Zustand objektiver Selbstaufmerksamkeit bei ihnen ausreicht, um rot zu werden. Das wiederum ist ihnen dann nicht selten peinlich, sodass das Erröten sich verstärkt und die Angst vor entsprechenden Situationen dazu führt, noch häufiger und schneller zu erröten. Dieses Phänomen wurde bereits 1913 von Hellpach konstatiert: „Wer öfter an Erröten leidende Frauen gesprochen hat, weiß aus ihrem Munde, daß ihnen am peinlichsten der Gedanke ist, was wohl dieser oder jener Mann, vor dem sie grundlos errötet sind, von ihnen denken werde.“ (Hellpach 1913: 17)

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drehen des ganzen Kopfes, im Bedecken der Augen oder im Schauen nach unten manifestieren (vgl. Harris 2007). Mit einer solchen Reaktion wird vermutlich dem mit Peinlichkeitsgefühlen verbundenen Impuls, sich der Aufmerksamkeit anderer entziehen zu wollen, dem „Verlangen nach Verbergen“ (Darwin 2000: 357) gefolgt.72 „In der peinlichen Situation, in der man sich bloßgestellt hat oder sich so fühlt, möchte man sich zunächst unsichtbar machen, als diejenige Person, die sich daneben benommen hat, verschwinden und jemand anders sein – deshalb die Körpersignale des Duckens, des Wegschauens, des Bedeckens der Augen. Man könnte fast sagen: Symbolisch löscht man sich selbst aus, um dann später die Chance auf einen Neuanfang zu haben.“ (Saehrendt 2012: 53)

Aufgrund der Wechselseitigkeit des Einander-Anblickens bei Kommunikationsprozessen kann das Wegschauen eines peinlich berührten Kommunikationspartners zwei verschiedene Funktionen erfüllen: Zum einen wird die Sichtbarkeit – und damit die Deutbarkeit – des eigenen Blickes für andere verborgen, zum anderen entzieht sich der Betroffene zugleich selbst der in fremden Blicken enthaltenen Aufmerksamkeit und Deutung. Gemäß der kommunikationswissenschaftlichen Klassifikation von Blickfunktionen nach Capellaro (vgl. Capellaro 2004) kann es daher sowohl „psychisch aktiv entlastend“ sein, da es die Informationsaufnahme durch den Ausschluss bestimmter Informationen, die als belastend, angsteinflößend oder bedrohlich empfunden werden, modifiziert, als auch „psychisch passiv entlastend“, da es verhindert, dass das eigene „Innerste“ von anderen gesehen wird73 (vgl. ebd. 2004: 40 ff.). Auch Darwin betrachtet das Abwenden von Gesicht und Blick des peinlich Betroffenen als Folge davon, „daß jeder auf die gegenwärtige Person gerichtete Blick die Überzeugung ihm wieder vor die Seele führt, daß er intensiv betrachtet wird. Und er versucht daher dadurch, daß er die gegenwärtigen Personen

72 Dieser Wunsch äußert sich auch auf der sprachlichen Ebene in besonders charakteristischer Weise, z.B. in Redewendungen wie „im Erdboden versinken wollen“, „unsichtbar sein wollen“, „hoffen, dass die Erde sich auftut und einen verschluckt“, „in ein Mauseloch kriechen wollen“ etc. 73 Im Gegensatz zum psychisch aktiv entlastenden Wegblicken zeichnet sich das psychisch passiv entlastende Wegblicken durch eine Verhinderung der Sichtbarkeit des eigenen Augenausdruckes aus (vgl. Capellaro 2004: 41): Während man der Wahrnehmung fremder Blicke durch reines Wegsehen entgehen kann, muss man, wenn man den eigenen Augenausdruck verbergen will, zudem den Kopf abwenden, nach unten schauen oder die Augen bedecken (z.B. mit den Händen oder durch das Aufsetzen einer dunklen Sonnenbrille).

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und besonders ihre Augen nicht ansieht, momentan dieser peinlichen Überzeugung zu entgehen.“ (Darwin 2000: 366) Dabei ist es jedoch nicht nur der Blick des anderen, durch den der Betroffene sich auf ein bestimmtes Bild festgelegt fühlt. Denn Blicken ist „kein primärer Akt, der aus sich heraus eine solche Bildherstellung bewirkte, sondern er geschieht innerhalb einer sozialen Beziehung, die zwischen mir und dem anderen bereits geknüpft worden ist“ (Gebauer/Wulf: 1998: 265). Zu einem solchen sozialen Festlegungsprozess gehört auch das eigene Erwidern und Zurückblicken als eine Bestätigung des vom anderen gemachten Bildes, bei dem man sich als die bestimmte Person zu erkennen gibt, als die man angeblickt wurde (vgl. ebd.). Hier tendieren peinlich Berührte wohl durch Wegblicken unwillkürlich dazu, diese Bestätigung zu verweigern. Dass die Vermeidung von Blickkontakt in peinlichen Situationen vom Unterbrechen des Blickkontaktes in anderen Bedeutungszusammenhängen, z.B. beim amüsierten Lachen, bei dem Lachende ihren Blick typischerweise ebenfalls abwenden, unterschieden werden kann, lässt sich empirisch nachweisen.74 „When abashment struck, people looked away from others, typically shifting their gaze to the left und then looking down more quickly and for a longer period then they did when they were pleasantly amused. (Curiously, when amused people did look elsewhere, it was more often to the right than to the left.) Embarrassed people also had restless eyes; while they continued to avoid eye contact with others, they shifted their gaze from place to place more frequently than did those who were not embarrassed.“ (Miller 1996: 147)

Aspendorpf (vgl. Aspendorpf 1990) untersuchte anhand von Videoaufnahmen peinlich berührter Probanden deren nonverbale Lächelreaktionen, das, was alltagssprachlich oft als „verlegenes Grinsen“ bezeichnet wird, und fand ebenfalls signifikante Unterschiede in Bezug auf das jeweilige Blickverhalten, welches das Lächeln begleitet. „In fact, in his own investigations, Jens Aspendorpf (1990) has demonstrated that embarrassed smiles can be reliably distinguished from smiles of real mirth by the timing of the gaze aversion that accompanies the smile. When people are embarrassed, they look away from others 1 ½ seconds before their smiles reach their broadest, fullest points. […] In contrast, when people are genuinely amused, they usually look away ½ second after the broadest expanse of their smiles. The two patterns are clearly different, and a mixed message

74 Dass Personen beim Lachen ebenfalls ihren Blick abwenden, könnte daran liegen, dass auch das Lachen eine Reaktion ist, bei der die eigene Fassade durchstoßen wird und jemand ein Stück seines Inneren preisgibt (vgl. Bieri 2011: 71).

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is evident in the embarrassed pattern; as Aspendorpf noted, ‚embarrassed smiles carry the flavour of ambivalence: approach (smiling) and avoidance (gaze aversion) at the same time‘ (1990, p. 1012).“ (Miller 1996: 147 f.)

Die nonverbale Ambivalenz von gleichzeitiger Distanzierung und Annäherung spiegelt die inkonsistente Lage des Peinlichkeitsbetroffenen wider – er schließt sich selbst aus, obwohl er zugleich signalisiert, dass er (wieder) dazugehören möchte. Auch deuten Reaktionen des „verlegenen Grinsens“ auf eine grundlegende Anschlussfähigkeit der Situation hin: So signalisiert das Lächeln, dass es nicht zum Abbruch der Kommunikationsbeziehung oder einem persönlichen Kontrollverlust des Betroffenen gekommen ist, das Abwenden seines Blickes bringt jedoch zugleich den Wunsch nach Exponierungsreduktion, Themenwechsel oder einer Neubestimmung der Situation zum Ausdruck. Das Lächeln von Peinlichkeitsbetroffenen lässt sich zudem auch unabhängig vom begleitenden Blickverhalten von einem amüsierten Lächeln unterscheiden, denn „[v]erlegenes Grinsen sieht anders aus als amüsiertes. Bei Heiterkeit kontrahiert sich außer dem sogenannten großen Jochbeinmuskel – der vom Mundwinkel zum Jochbein zieht – auch der Außenringmuskel, bei verlegenem Lächeln nicht.“ (Harris 2007: 28) Auch kann häufig beobachtet werden, dass Peinlichkeitsbetroffene die unwillkürlich aufkommende Ausdrucksbewegung des Lächelns zu unterdrücken bzw. zu kontrollieren versuchen, indem sie die Lippen schmal aufeinander pressen und die Mundwinkel nach unten ziehen: „[E]mbarrassed people typically began trying to control emerging smiles with cheek and lip movements called smile controls. These were epitomized by attemps to pull down the corners of one’s mouth, and biting or pressing one’s lips together in order to minimize or obscure an imminent smile. Embarrassment was accompanied by quicker smile controls, and a greater number of smile controls, than amusement was.“ (Miller 1996: 147)

Neben dem Erröten sind das Abwenden des Blickes und das Verlegenheitslächeln wohl die elementarsten Merkmale des Peinlichkeitsausdrucks, da in ihnen das Bestreben, den eigenen Zustand zu verhüllen – beim Lächeln verdeckend, beim Wegblicken verbergend – vor anderen unmittelbar zum Ausdruck kommt. Darüber hinaus zählen jedoch auch Beseitigungsbewegungen der Verhüllungsimpulse, motorische und intellektuelle Störungen sowie psycho-physische Reaktionen auf diese Störungen zu typischen Peinlichkeitssignalen. Die beiden unten stehenden Abbildungen zeigen die typischen Ausdrucksbewegungen von Blickverhalten, Kopfabwendung und Lächeln bei Peinlichkeit sowie deren zeitlichen Verlauf nochmals grafisch auf.

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Abbildung 2: Ausdrucksbewegungen bei Peinlichkeit

Quelle: Harris 2007: 27

Abbildung 3: Zeitlicher Verlauf

Quelle: Keltner/Anderson 2000: 189

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4.2.3 Verhüllungsfragmente und motorische Störungen Im peinlich berührten Zustand zeigt man die Tendenz „sich klein zu machen, vielfach auch, sich zu kratzen oder selbst zu berühren“ (Harris 2007: 29). Häufig können dabei Berührungen des Gesichtes mit einer Hand, die meist das Lächeln oder die Augen verdeckt, beobachtet werden. Aber auch nervöse Körperbewegungen wie das Wechseln der Haltung, ein anhaltendes Bewegen der Beine und Füße, das Gestikulieren mit den Händen (vgl. Miller 1996: 148), ein Zucken der Gesichtsmuskeln (vgl. Darwin 2000: 359), das Beißen auf die eigenen Lippen oder ein beständiges An- und Abspannen der Handflächen (vgl. Hellpach 1913) sind typische Ausdrucksbewegungen. Während Gesten des körperlichen Kleinmachens und Bedeckens des Gesichtes noch als Ausdruckselemente eines Verhüllungs- und Verbergungsimpulses angesehen werden können, scheinen die übrigen Bewegungen auf nichts anderes als auf sich selbst zu verweisen, denn „[de]r Körper ist in Alarmzustand, vollführt sinnlose Aktionen und Übersprungshandlungen“ (Saehrendt 2012: 52). Diese können sich in sehr unterschiedlichen Variationen und Ausformungen zeigen, sodass sie trotz ihrer recht klaren Signalfunktion im situativen Gesamtzusammenhang als Einzelbewegung unspezifisch sind.75 Hellpach geht davon aus, dass solch charakteristische, motorische Unruhebewegungen entstehen, weil ursprüngliche Verhüllungstendenzen gehemmt sind, sodass sich deren Impulse in „Verhüllungsfragmenten“ entladen (vgl. Hellpach 1913: 21). So internalisiere man während seiner Sozialisation recht schnell, elementare Bestrebungen der Verhüllung des eigenen Zustandes (Abwenden oder Verdecken des Gesichts, Maskierung durch Lächeln) zu unterdrücken und entwickele im Gegenzug Ersatzbewegungen (vgl. ebd. 22). Diese Entwicklung führt er darauf zurück, dass die ursprünglichen Verhüllungsbewegungen ja gerade dadurch, dass sie stets in spezifischer Weise verdeckten, den eigenen Zustand trotz Verbergungsgestus zugleich unwillkürlich zum Ausdruck brächten, sodass mit der Erfahrung die Einsicht wachse, dass man durch entsprechende Verhüllungsgesten die persönliche Befindlichkeit nicht verbergen könne, sondern vielmehr sehr deutlich exponiere. Dem begegne der erfahrenere Mensch – freilich ohne Beteiligung einer Absicht – auf zwei verschiedene Arten: zum einen, indem er die verratenden Abkehr- und Verhüllungsbewegungen durch zusätzliche Bewegungen oder Gesten entstelle, abschwäche oder abwandle, z.B. durch Zupfen oder Kauen an den Lippen, Kratzen an der

75 Die damit einhergehende grundsätzliche Vertretbarkeit einzelner Ausdrucksbewegungen sieht Plessner unter anderem darin bewiesen, dass man in peinlichen Situationen ebenso gut in Lachen wie in Weinen ausbrechen könne und beides Mal das Richtige träfe (vgl. Plessner 1941: 126).

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Wange oder über das Gesicht Fahren mit einer Hand; zum anderen wirke er ihnen durch neue Bewegungen entgegen, mit denen er ihre Beseitigung anstrebe – dazu zählen z.B. „das Räuspern gegen die Stimmlosigkeit, das scharfe Fixieren eines Ziels gegen das Umherirren oder Niederschlagen der Augen, das Festklammern an Gegenständen, um die motorische Unruhe niederzuhalten“ (ebd. 30). Eine Überlagerung bzw. Beseitigung der Verbergungsimpulse durch solch typische Kontrollbewegungen führt jedoch unweigerlich dazu, dass sie gleichermaßen zu Signalen peinlicher Betroffenheit werden, die sich schon dadurch verraten, dass sie in spezifischer Weise unnatürlich, hölzern, verkrampft, gezwungen oder affektiert wirken. Brugmans dazu: „Diese äußere Affektiertheit ist ein Symptom für eine viel fundamentalere Gezwungenheit. Es besteht beim Zustand der Verlegenheit ein riesiger Unterschied zwischen äußerer Erscheinung und innerer Persönlichkeit. Es liegt auf der Hand: seiner Ungeschicklichkeit, seines Verwirrungszustandes, seiner Apraxie ist der Verlegene sich bewußt, er leidet darunter und er versucht, etwas zu verbergen, wenn es auch nur allein seine Emotion ist, die ihm selbst als nicht motiviert erscheint und deren er sich schämt.“ (Brugmans 1919: 215)

Ausdrucksbewegungen, die Verbergungsimpulse zu verbergen streben, wirken aufgrund ihrer charakteristischen Erscheinungsform also ebenfalls als kommunikative Peinlichkeitssignale, sodass Ausdrucksverschleierungen selbst zur Ausdrucksform des Verlegenheitszustandes werden. „Denn wenn alle Gemütszustände irgendeinen Ausdruck haben, und wenn der Wille der Menschen für jeden solchen Ausdruck Mittel zur Hemmung, Unterdrückung, Verschleierung zur – ‚Beherrschung‘ aufzubringen weiß: so ist die Verlegenheit die einzige Gemütsverfassung, die einen Teil der zur Verhüllung ihres Ausdruckes tauglichen Ausdrucksmittel selber elementar, ohne Willenseingriff, erzeugt, die also ihren Ausdruck zu beseitigen strebt in demselben Augenblick, wo sie ihn hervorbringt.“ (Hellpach 1913: 27)

Neben diesen Ausdrucksformen zeigt sich der desorganisierte Zustand des Betroffenen auch bei routinierten motorischen Vorgängen, etwa beim Sprechen: Hier kommt es häufig zu einer Vermehrung von Sprachfehlern und einem Kontrollverlust über die eigene Stimme (vgl. Edelmann et al. 1989) – der Betroffene stottert, stammelt, krächzt, spricht mit belegter oder zitternder Stimme oder wechselt unwillkürlich in eine unpassende Tonhöhe. Hellpach beobachtet in diesem Zusammenhang vor allem ein „Heiserwerden, Belegtwerden, Tonloswerden der Stimme, womit sich zugleich meistens eine, manchmal recht beträchtliche Erhöhung der Stimmlage (bis zum charakteristischen Umkippen) verbindet. Das Sprechen mit fester, tonvoller und tiefer Stimme gilt uns als der Aus-

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druck der inneren Sicherheit; wer befangen wird, dessen Stimme schnellt in die Höhe, belegt sich, zittert. Sehr heftige und plötzliche Verlegenheit kann sogar ein völliges Versagen der Stimme bewirken; so starke Heiserkeit oder so starkes Zittern, daß das Sprechen oder Singen nur mühsam gelingt, sind nicht selten.“ (Hellpach 1913: 19)

Auch bei anderen Routinetätigkeiten und -bewegungen sind Entgleisungen zu beobachten, z.B. unsichere und ungeschickte Bewegungen beim Gehen, Tanzen, Begrüßen, Ablegen oder Anziehen von Kleidung oder beim Essen. 4.2.4 Reaktionen sekundärer Exponierung Im Peinlichkeitszustand büßt der Betroffene, zumindest kurzfristig, viele seiner allgemeinen Handlungskompetenzen ein. Es kommt zu einem kleinen bis großen Kontrollverlust, bei dem man ganz auf sich selbst zurückgeworfen ist und „eine höchst fatale Pause, einen Abbruch seines Daseins“ (Plessner 1941: 123) erleben kann, weil man „außer Zusammenhang mit seiner Lage“ (ebd. 124) geraten ist. Durch den Zustand der Selbstbeobachtung erlebt man dies besonders intensiv, „[d]enn der nach innen gerichtete Blick lässt die eigene Befindlichkeit als enorm wichtig erscheinen und wirkt so wie ein Hindernis, die Außenwelt objektiv wahrzunehmen oder gar mit anderen in Verbindung zu treten“ (Saehrendt 2012: 257). Die eigenen Verlegenheitsgesten bilden dabei nicht selten eine zusätzliche Quelle kritischer Selbstbeobachtung, sodass es zu Phänomenen „sekundärer Exponierung“ kommen kann: Dabei wird die eigene Befindlichkeit, die unwillkürlich nach außen dringt, für den Betroffenen zur erneuten Peinlichkeitsquelle, auf die er wiederum mit weiteren Peinlichkeitssignalen reagiert, deren Wahrnehmung seine Befindlichkeit abermals verstärkt: „If people do realize that they are blushing, other processes may come into play. First, because they fear that their blushing is making them more conspicuous, people can be embarrassed by their blushing as well as by the event that originally caused the blush; as a result, being even more embarrassed, they may blush even harder.“ (Miller 1996: 137) Auf diese Weise „entstehen die Zustände der sekundären Verlegenheit, einer Verlegenheit, die durch das Auftreten des Verlegenheitsausdruckes hervorgerufen wird“ (Hellpach 1913: 50). Darwin weist darauf hin, dass bereits der Wunsch, das eigene Erröten zu unterdrücken, mit einer Erhöhung der Selbstaufmerksamkeit verbunden sei und die faktische Neigung zum Erröten weiter erhöhen würde (vgl. Darwin 2000: 347). So kommt es zwischen innerer Befindlichkeit und deren äußerlicher Wirksamkeit zu ungewollten Verstärkungseffekten, welche besonders typisch für die unkontrollierbare Dynamik von Peinlichkeitsphänomenen sind: Erröten und andere Peinlichkeitssignale intensivieren Exponierungs- und Diskrepanzgefühle

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oftmals, was sich wiederum in weiteren äußerlichen Signalen niederschlägt, die das Peinlichkeitsgefühl verstärken.76 4.2.5 Intellektuelles Versagen und körperliche Ausnahmezustände Manchmal wirkt die innere Befindlichkeit so stark auf Betroffene, dass ihre Versuche, wieder die Kontrolle über sich zu gewinnen, aufgrund der Gefangenheit in der eigenen Selbstbeobachtung nicht gelingen wollen. Sie „verlieren ihre Geistesgegenwart und bringen eigentümliche, unpassende Bemerkungen hervor. Sie sind häufig sehr zerstreut […].“ (Darwin 2000: 359) Ein lähmender Spannungszustand (geistige Leere, körperliche Starre, völlige Verkrampfung der Muskeln, Zittern, Schweißausbruch) oder ein unkontrolliertes Entladen dieser Spannung (hysterische Lach- oder Weinkrämpfe) sind hier zu beobachten, als Extremreaktion in seltenen Fällen auch ein völliger Zusammenbruch (Ohnmacht). Hellpach konstatiert, dass manche Personen dabei so stark von der Lähmung des eigenen Denkvermögens betroffen sind, dass sie „eine völlige geistige Leere verspüren, keinen einfachsten Gedanken fassen können, alles vergessen haben, worüber sie sonst geistig verfügen, sowohl inhaltlich als auch formal, dialektisch; es fällt ihnen nicht das Mindeste ein. Da nun die Verlegenheit sehr oft gerade ein Reden fordert, sei es dort, wo sie eine Rechtfertigung nahelegt, [...] so wird das faktische Reden häufig ein sehr getreues Abbild des Denkzustandes sein. Es wird rasch etwas Verworrenes, Unpassendes, Widersinniges hervorgestoßen; das Gefühl der Sinnlosigkeit wirkt außer der Verlegenheit als neue Störung. Ein völlig hilfloses Gestammel ist der Effekt.“ (Hellpach 1913: 24f.)

Vor allem Situationen, in denen der Betroffene sich großem Erwartungsdruck ausgesetzt fühlt, können solche „Black-outs“ hervorrufen, da sich hier zur Exponierung die Empfindung, eigene und/oder fremde Erwartungshaltungen nicht erfüllen zu können, hinzugesellt. Wie dies in Ausnahmefällen sowohl zu einem Stillstand des Denkens als auch extremen Spannungszustand des Körpers führen kann, weiß der Journalist Axel Hacke aus eigener Erfahrung zu berichten:

76 Miller verdeutlicht dies plastisch: „Nancy becomes embarrassed when her stomach gurgles loudly in class, and then realizes, ‚Oh no! My face is turning red and everyone is laughing! Now I’m embarrassed for being embarrassed!‘ Her problem continues: ‚Oh no! I can’t stop turning red! I think I’m embarrassed about being embarrassed for being embarrassed! ‘ The punchline, as she sinks in her chair, is ‚I wonder if the Guinness Book of World Records has a category for this…‘“ (Miller 1996: 138)

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„Unvergessen im Familienkreis und einfach gnadenlos blamabel war mein Auftritt auf dem 70. Geburtstag meiner Mutter. Als ältester Sohn fiel mir – mein Vater war Jahre zuvor gestorben – die Aufgabe zu, eine Rede zu halten. Da mir normalerweise so etwas nicht sehr schwer fällt und ich überdies in den Wochen zuvor kein bisschen Zeit hatte, mich vorzubereiten, gedachte ich, aus dem Stegreif zu sprechen, ein Vorhaben, das mich nicht weiter nervös machte – bis zu genau jenem Moment, in dem ich mich erhob. Ich stand vor hundert Onkels, Tanten, Cousins, Cousinen, die meisten mit Berufen in der Art: Lateinlehrer, Rechtsanwalt, Apotheker, Arzt. Alle sahen mich an. Ich spürte von links den irgendwie starr-angstvollen Blick meiner Mutter. Der älteste aller Onkels rief: ‚Ruhe, das Familienoberhaupt spricht.‘ Man wartete auf etwas Geistreiches, Warmherziges, Witziges. Und – mir fiel nichts ein. Ich war vollständig blockiert. Mir wurde schlagartig klar, dass ich die Sache zu leicht genommen hatte, dass ich dem Leistungsdruck nicht standhalten würde, dass mich diese Zusammenballung familiärer Energie lähmte wie ein Elektroschock. Ich bekam einen einzigen Schweißausbruch. Sämtliche Poren öffneten sich. Aus mir schoss Wasser wie aus einem Sprinkler. Binnen einer Minute sah ich aus wie einer, der im dunklen Anzug in den Monsun gekommen war. In meiner Verlegenheit las ich aus der 70 Jahre alten Zeitung vor, die ich meiner Mutter schenken wollte und die glücklicherweise auf dem Tisch lag. Ich zerrte mein Taschentuch aus der Hosentasche, meine Mutter reichte mir von links ein Spitzentuch, meine Frau gab mir von rechts eine Packung Tempos, alles zu wenig, zu wenig, zu wenig. Man hätte mehrere Strandlaken gebraucht, mich zu entfeuchten. Keine Ahnung, was ich geredet habe. Ich sackte irgendwann auf meinen Stuhl zurück, verzweifelt, gebrochen, nass.“ (Hacke in Schnippenkoetter 2004: 71f.)

In dieser Begebenheit wird der situative Prozesscharakter von Peinlichkeit, bei dem sich innere und äußere Elemente unmittelbar ineinander verschränken, besonders anschaulich beschrieben. Der Kontrollverlust folgt hier nicht als kausale Konsequenz auf ein als peinlich empfundenes Ereignis (auf die Blamage vor den Gästen), sondern besteht mehr oder weniger genau darin: Die Standards des eigenen öffentlichen Selbstbildes des Betroffenen („Da mir normalerweise so etwas nicht sehr schwer fällt.“), die vom ihm konstruierte situative Erwartungshaltung der anderen Geburtstagsgäste („Man wartete auf etwas Geistreiches, Warmherziges, Witziges.“) sowie die zusätzliche Exponierung („Ich stand vor hundert Onkels, Tanten, Cousins […]. Alle sahen mich an.“) bei gleichzeitiger Realisierung, dass er sowohl den situativen Ansprüchen anderer als auch seinen persönlichen Standards nicht gerecht werden wird, führen zu einem so starken Verlegenheitszustand, dass die befürchteten Diskrepanzen in der Folge auch tatsächlich eintreten und er sich blamiert. Kommunikationstheoretisch könnte man in solchen Kontexten gewissermaßen von einer intrapersonellen „Interpunktion von Ereignisfolgen“ sprechen (vgl. Watzlawick et al. 1996), bei welcher der kausale Zusammenhang von innerer Selbstbewertung und tatsächlicher äußerer Verhaltensentsprechung aufgrund der Zukunftsgerichtetheit menschlichen Denkens und Handelns nicht eindeutig bestimmbar ist: Die

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Frage, ob eine als peinlich antizipierte Selbstbilddiskrepanz/Exponierung den Verlegenheitszustand hervorbringt oder umgekehrt dieser erst auf eine tatsächliche Exponierung/Selbstbilddiskrepanz folgt, lässt sich im konkreten Prozessgeschehen, in welchem bereits die Exponierung von Verlegenheit als peinlich empfunden werden kann, oft nicht klar beantworten. Insofern kann „Peinlichkeit“ sowohl als Ursache als auch Ergebnis der mit ihr bezeichneten Phänomene verstanden werden.

4.3 L ACHEN – G RENZPHÄNOMEN AUSDRUCK UND H ANDLUNG

ZWISCHEN

Durch seine grundlegende Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit ist Lachen ein äußerst multidimensionales Phänomen mit höchst divergenten kommunikativen Bedeutungen und Funktionen (vgl. Titze 2009) und wird im Gegensatz zu den oben beschriebenen Ausdrucksbewegungen und Reaktionen viel häufiger auch bewusst hervorgebracht, um eine bestimmte Wirkung zu erzeugen. Die Frage, ob unser Lachen grundsätzlich ein völlig unwillkürlicher Akt oder eine teils intentionale Handlungsform ist, lässt sich daher wohl nicht eindeutig beantworten, bewegt es sich doch „– ähnlich wie Weinen – im Zwischenbereich des körperlichen Ausdrucks zwischen rein vegetativer Reaktion und bewusstem Entscheidungshandeln“ (Giesen 2010: 10). Insofern markieren die folgenden Überlegungen zum Lachen einen Graubereich zwischen Reaktion und Handlung. Im Gegensatz zum nonverbalen Ausdruck des Lächelns oder verlegenen Grinsens ist das Lachen ein performativer, krampfartig- leiblicher Akt, der den Körper mit einbezieht.77 Die spezifische Bedeutung eines „Lachens (als Auslachen, humorvolles Lachen, peinlich berührtes Lachen, zynisches Lachen...) [können wir im Alltag sowie in der Wissenschaft, J.D.] nur dann adäquat interpretieren, wenn wir die Art (Lautstärke, Tonhöhenverlauf, Lachpartikeln etc.) und Platzierung des Lachens mitberücksichtigen“ (Günthner 1993:45). Zwar können im Zusammenhang mit peinlichen Situationen alle möglichen Lachvarianten auftreten, das charakteristische Ausdrucksphänomen peinlicher Betroffenheit ist jedoch offenkundig das „peinlich berührte Lachen“. Dieses kann nun kaum näher gefasst werden, ohne es zugleich als gekünstelte Variante oder „Sonderform“ des echten Lachens als Ausdruck von Heiterkeit zu verstehen. Da auch das heitere Lachen eine besonders enge Verbindung zu Peinlichkeitsphänomenen

77 Giesen sieht Performativität als den zentralen Bestandteil des Lachens an, wobei er die Grundlage dieser Performativität in der Körperlichkeit des Lachens verankert; weitere zentrale Bestandteile sind für ihn Ereignishaftigkeit, Publikumsbezug, Iterativität und Plötzlichkeit (vgl. Giesen 2010: 13).

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besitzt und in einigen Fällen nicht nur Beobachter, sondern auch Betroffene mit einem herzhaften Lachen auf „harmlose“ Peinlichkeiten reagieren, scheinen diesbezüglich ein paar grundlegende Bemerkungen sinnvoll. Ähnlich wie Peinlichkeitsphänomene, die einen Grenzbereich oder ein Umkippen der etablierten Ordnung darstellen, kann auch das Lachen als ein Außerkrafttreten der bestehenden Ordnung verstanden werden. Es öffnet „den Zugang zu einem Grenzbereich zwischen dem ernsten, voraussehbaren sinnvollen Verfolgen der Spielregeln einerseits und dem Abstürzen der Sozialität in unberechenbare und Angst erregende Absurdität andererseits“ (Giesen 2010: 3). Dabei hat es grundsätzlich sowohl transgressive als auch limitative Funktionen. Als Transgression markiert es eine Grenzüberschreitung nach außen hin, als Limitation dient es zugleich der Grenzfixierung. Insofern informiert es sowohl über die Verletzung bestimmter Regeln, Normen oder Erwartungen als auch über deren jeweilige Gültigkeit bzw. Anerkennung. Anders als das hysterische oder verzweifelte Lachen, das als „tragisch“ bezeichnet werden kann, besitzt das Lachen über das Komische78 als Ausdruck von Heiterkeit und Vergnügen eine besonders enge Verbindung zur persönlichen Schamhaftigkeit. „Man kann fast alle Varianten des Humors betrachten, der Ausgangspunkt des Lachens ist eine Situation von Schamerfahrung, die mit einer überraschenden Wendung gleichzeitig bekannt und ihrer negativen Wirkung beraubt wird. […] Denn wenn man sich beobachtet, bemerkt man vermutlich, dass man über Themen, zu denen man keine schamhafte Verwandtschaft spürt, auch nicht lachen kann. Dort, wo man mitlacht, beteiligt man sich am gesellschaftlichen Diskussionsprozess über angemessenes Verhalten – und damit dient der Humor dem viel edleren Ernst.“ (Briegleb 2009: 139 ff.)

Auch Pontzen sieht im Verfehlen des Selbstverständlichen als dem peinlichen Scheitern an der Norm(-alität) zugleich die grundsätzliche Basis des Komischen (vgl. Pontzen 2008: 244). Umso verwunderlicher erscheint es in diesem Zusammenhang, dass selbst Analysten wie Goffman dazu tendierten, das Verhältnis von La-

78 Natürlich gibt es Grenzformen des Lachens, die sowohl tragische als auch komische Elemente beinhalten und nicht eindeutig klassifiziert werden können: Gerade weil das Lachen selbst eine Grenzerscheinung, eine „Zwischenlage“ (vgl. Giesen 2010) oder „Krisenantwort“ (vgl. Plessner 1941) darstellt, tritt es in Grenzsituationen auf, in denen die äußeren Umstände uns „überfordern“ und sehr widersprüchlich, ambivalent oder uneindeutig auf unsere innere Befindlichkeit wirken.

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chen bzw. Komik und Peinlichkeit fast völlig außer Acht zu lassen (vgl. Billig 2001: 23).79 Da das Lachen in einen unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang mit der Komik bzw. Komödie, dem Humor, dem Lächerlichen und Peinlichen gesetzt wird, bildet es automatisch den Gegenpol zum Schmerzhaft-Leidvollen des Tragödien-, Schicksals- und Katastrophenhaften, für das Schuld- und Schamkonflikte bezeichnend sind. Zwar thematisieren sowohl Tragödie als auch Komödie fehlerhafte Handlungen und Widersprüche des Menschen, doch dürfen die Normbrüche der Komödie im Gegensatz zu denen der Tragödie keinen tiefen Schmerz auslösen. Obwohl das Lachen über Komisches grundlegend ein erfreuliches Geschehen darstellt, besitzt es die Kehrseite, sich auf peinliche Weise gegen denjenigen richten zu können, auf den es sich bezieht. Daher ist es zwar „eine erfreuliche Erregung des Geistes; aber das Objekt des Lachens oder Spotts zu sein, ist allgemein unangenehm und etwas, das Menschen aus ihrem natürlichen Bedürfnis nach Ansehen

79 Bereits ein kurzer Blick in verschiedene Theorien des Lachens und der Komik bestätigt die enge Verbindung von Lachen mit wesentlichen Elementen der Peinlichkeit: So sieht Kant im Lachen einen Affekt, der aus Erwartungsenttäuschungen entsteht (vgl. Kant in Bachmeier 2010: 24ff.), Jünger akzentuiert die Regelwidrigkeit des Komischen (vgl. Jünger in ebd. 104f.), Schelling begreift das Komische als eine Umkehrung von Gegensatzverhältnissen, welche in ihrer höchsten Form die Umkehrung von Subjekt (Freiheit) und Objekt (Notwendigkeit) betrifft (vgl. Schelling in ebd. 39f.), Hartmann versteht Komik als eine Aufhebung von Täuschungen, wenn diese als Blendwerk, Humbug o.Ä. entlarvt werden (vgl. Hartmann in ebd. 115), Schopenhauer definiert das Lächerliche als plötzlich hervortretende Inkongruenz (vgl. Schopenhauer in ebd. 44f.), wobei er zugleich darauf hinweist, dass die Begriffe, „deren hervortretende Inkongruenz zur Anschauung uns zum Lachen bewegt, […] nun entweder die eines Anderen, oder unsere eigenen […]“ sind (ebd. 45), was Vischer durch die Feststellung, dass das Lachen über sich selbst als eine innere Stärke, mit der allgemeinen menschlichen Schwäche umzugehen, angesehen werden könne, erweitert (vgl. Vischer in ebd. 51). Zugleich sieht Vischer im Komischen den Abbruch ohne Ergebnis und vergleicht es mit dem Fehlhieb eines Fechters und einem Instrument, dem plötzlich der Ton versagt (vgl. ebd. 57). Freud, der den Lustmechanismus des Lachens in der Ersparung eines psychischen Aufwandes verankert, weist auf den situativen Charakter des Komischen hin (vgl. Freud in ebd. 96), der unmittelbar mit der Möglichkeit verbunden ist, „eine Person nach Belieben komisch zu machen, indem man sie in Situationen versetzt, in denen ihrem Tun diese Bedingungen des Komischen anhängen. […] Wie selbstverständlich, können diese Techniken in den Dienst feindseliger und aggressiver Tendenzen treten. Man kann eine Person komisch machen, um sie verächtlich werden zu lassen, um ihr den Anspruch auf Würde und Autorität zu nehmen.“ (Ebd.)

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sorgfältig vermeiden“ (Hutcheson in Bachmeier 2010: 22). Eine solche Unterscheidung von Lachsubjekt und -objekt ist im kommunikativen Alltag jedoch nicht durchweg möglich, da sich diese Grenzen nicht zuletzt beim gemeinsamen Lachen, z.B. über ein harmloses Missgeschick, auflösen können. Als kommunikatives Ausdrucksphänomen gibt das Lachen als solches – wie auch das Erröten – keine Auskunft über seinen jeweiligen Bezugspunkt und seine Ursache und kann dementsprechend unterschiedlich interpretiert werden: Es kann als eine Situationsauslegung begriffen werden, die ein Ereignis als komischen bzw. harmlosen Unernst rahmt, es kann aber auch als Selbsterhebung des Lachenden über die Makel, Schwächen oder Inkompetenzen des Verlachten gedeutet werden, der so abgestraft und vorgeführt wird. Im letzteren Fall wird das Lachen zur Herabsetzung, die dem Verlachten grundlegende Rechte der persönlichen Selbstbehauptung – den Anspruch darauf, ernst genommen und geachtet zu werden – verweigert. So wird es zum wirksamen Medium, um „das Unangepasste, Unangemessene der Peinlichkeit vorzuführen, auszustellen, abzustrafen. […] Wenn wir so lachen, reduzieren wir die Situation auf die Regel, der sie nicht genügt. Die Welt teilt sich in Lachende und Ausgelachte, Beschämende und Beschämte.“ (Batarilo 2013: 210) Da der Verlachte selbst dann, wenn er seine Lage gar nicht komisch findet und durch das Lachen anderer peinlich getroffen wird, bemüht ist, Souveränität und Selbstdistanz zu zeigen, reagiert er nicht selten mit einer vorgetäuschten Lachreaktion. Er schließt sich „dem Lachen an und tut damit so, als wenn er nicht Objekt des Spottes, sondern Mitglied der Lachgemeinschaft sei. Wem diese Selbstüberwindung nicht gelingt und wer dieses verachtende Lachen ernst nimmt, der kann nicht mit ernster Kommunikation auf diese exkludierende Verachtung seiner Person reagieren: Er wird im wörtlichen Sinne nicht mehr ernst genommen, die Voraussetzungen der Teilnahme an ernster Rede sind nicht mehr gegeben, die elementare Anerkennung von Personalität ist eingeschränkt. Ist dem Verlachten so der Zugang zu ernster Kommunikation verschlossen, so liegt es nahe, dass er entweder die Flucht ergreift oder mit Gewalt antwortet.“ (Giesen 2010: 9)

Ein im peinlichen Zustand vorgetäuschtes Lachen kann als Maskierung der inneren Getroffenheit verstanden werden, als Abwehr der persönlichen Verletzung. Es will der inneren Befindlichkeit zum Trotz anzeigen, dass keine Selbstbedrohung vorliegt. 4.3.1 Peinlich berührtes Lachen als Maskierung Bedeutsam in Bezug auf die unterschiedlichen kommunikativen Bedeutungen und Funktionen von heiterem Lachen und peinlich berührtem Lachen ist die Tatsache,

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dass sowohl Betroffene als auch Beobachter sie in der Regel intuitiv voneinander unterscheiden können. Während ein herzhaftes Lachen Selbstdistanz und Souveränität anzeigt, wirkt das peinlich berührte Lachen als gescheiterter Versuch, solche Souveränität und Heiterkeit zu simulieren, um den eigenen Zustand zu verdecken, der dadurch aber umso mehr zu Tage tritt.80 Das Lachen erscheint uns dann als gequälter Ausdruck des Bemühens, mit aller Macht ein Selbstbewusstsein vorzutäuschen, das offensichtlich im Moment stark beeinträchtigt ist. So klingt peinlich berührtes Lachen gepresst, schrill, mechanisch, heiser, zu laut, zu lang, zu betont etc. Kurzum: Es ist – so wie andere Bewegungen und Reaktionen des Betroffenen im Verlegenheitszustand – der natürlichen Anmut unbewussten Seins beraubt. In Richard Yates Kurzgeschichte „Verliebte Lügner“ (Yates 2009) wird ein solches Lachen geschildert. Colby, die Hauptfigur der Geschichte, ein junger und sexuell unerfahrener Mann, möchte vor einem Mädchen besonders „cool“ wirken, wird aber gerade in dessen Anwesenheit von einer Bekannten darauf angesprochen, noch Jungfrau zu sein. Diese Exponierung seiner sexuellen Unerfahrenheit ist ihm höchst peinlich, sodass er, um die Bemerkung als absurd zurückzuweisen, versucht, seinen Verlegenheitszustand durch Lachen zu kaschieren: „Es gibt mehrere Möglichkeiten, Verlegenheit zu überspielen. Colby hätte den errötenden Kopf senken können, oder er hätte sich eine Zigarette zwischen die Lippen stecken, sie anzünden, blinzeln, mit noch zusammengekniffenen Augen zu der Frau sagen können: ‚Wie kommst du denn da drauf?‘, aber stattdessen brach er in Lachen aus. Und er lachte viel länger, als nötig gewesen wäre, um darauf hinzuweisen, daß sie eine groteske Vermutung geäußert hatte; er saß hilflos lachend auf seinem Stuhl; er konnte nicht aufhören.“ (Ebd. 196f.)

Durch die übertriebene Lautstärke und Länge des absichtlich hervorgebrachten Lachens sowie Colbys Unvermögen, es zu beenden, kommt es zu einer kontextuellen Überbetonung der angeblichen Lächerlichkeit, die ihn wiederum dem Verdacht aussetzt, die Äußerung gerade wegen ihres Wahrheitsgehaltes, von dem er unvorbereitet getroffen wurde, mit aller Kraft als lächerlich markieren zu wollen.

80 Entsprechend wird in der Ratgeberliteratur gewarnt: „[D]as Lachen sollte möglichst natürlich klingen und nicht aufgesetzt wirken. Die anderen merken sofort, wenn ein Lachen nicht ‚echt‘ ist, denn die Art des Lachens zeigt immer an, wie man sich fühlt. Durch ein spitzes oder viel zu überdrehtes Lachen gibt man den anderen ungewollt zu verstehen, daß das eigene Lachen nur aufgesetzt ist und man überhaupt nicht so souverän mit dem Mißgeschick umgeht, wie man gerne vorgeben möchte.“ (Artel/Derksen 1999: 171) Wie es gelingen soll, ein eigentlich aufgesetztes Lachen im Peinlichkeitszustand natürlich klingen zu lassen, wird allerdings nicht verraten.

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Nicht selten kann ein peinlich berührtes Lachen als „künstliche Lachentgleisung“ auch zu einem neuen Peinlichkeitsanlass werden und die eigene Befindlichkeit intensivieren. Einen entsprechenden Prozess beschreibt Daniel Kehlmann in seinem Roman „F“ (Kehlmann 2013). Der Protagonist möchte ein Mädchen aus seiner Klasse um ein Rendezvous bitten: „Lisa ging in meine Klasse und saß schräg vor mir. Wenn sie kurze Ärmel trug, sah ich ihre Sommersprossen, und wenn die Sonne im Fenster stand, spielte das Licht auf ihrem glatten brauen Haar. Fünf Tage hatte ich gebraucht, um mir die richtigen Worte zurechtzulegen. ‚Wollen wir ins Theater gehen? Wer hat Angst vor Virgina Woolf?‘ ‚Wer hat…was?‘ Nicht, dass ich gern ins Theater gegangen wäre. Ich fand es langweilig, immer war es stickig, und man verstand die Leute auf der Bühne schlecht. Aber jemand hatte mir gesagt, dass Lisa sich dafür interessierte. ‚So heißt das Stück.‘ Sie betrachtete mich freundlich. Ich hatte nicht gestottert, und es fühlte sich auch nicht so an, als ob ich rot geworden wäre. ‚Welches Stück?‘ ‚Im …Theater.‘ ‚Was ist das für ein Stück?‘ ‚Wenn wir es sehen, wissen wir es.‘ Sie lachte. Es lief gut. Vor Erleichterung lachte ich auch. Sie wurde ernst. Tatsächlich war etwas nicht richtig gewesen an meinem Lachen: ein wenig zu laut und zu hoch, ich war nervös. Schnell versuchte ich, es zu korrigieren und so zu lachen, wie es sich gehörte, doch ich hatte auf einmal vergessen, wie das ging. Als ich merkte, wie seltsam ich klang, wurde ich nun doch rot: Meine Haut prickelte heiß. Um über den Moment hinwegzukommen, lachte ich noch einmal, aber diesmal klang es sogar schlimmer, und plötzlich sah ich mich vor Lisa stehen und sie anstarren und immer noch lachen und mich dabei beobachten, wie ich lachend vor ihr stand und starrte und lachte. Die Röte brannte auf meiner Haut. Heute gehe es leider nicht, sagte Lisa. ‚Aber gerade hast du – .‘ Leider, sagte sie. Es sei ihr eben eingefallen. Keine Zeit. ‚Schade‘, sagte ich heiser. ‚Und morgen?‘ Sie schwieg eine Sekunde. Leider, sagte sie dann. Auch morgen nicht.“ (Ebd. 65ff.)

Das nervöse Lachen, in dem sich die Anspannung, trotz innerer Aufgeregtheit und Unsicherheit erfolgreich eine coole Fassade bewahrt zu haben (und nicht in Verlegenheit geraten zu sein), affekthaft entlädt, klingt anders als ein vergnügtes Lachen aus Heiterkeit. So wird es für den Betroffenen zum Anlass, es durch ein erneutes Lachen korrigieren zu wollen, welches jedoch noch seltsamer klingt und ihm peinlich ist. Um diesen Zustand zu maskieren und über ihn hinwegzukommen, lacht er ein drittes Mal. Doch gefangen in der eigenen selbstkritischen Beobachtung („und plötzlich sah ich mich vor Lisa stehen und sie anstarren und immer noch lachen und mich dabei beobachten, wie ich lachend vor ihr stand und starrte und lachte“; ebd. 66) ist ihm ein natürlich anmutendes, der Situation angemessenes Lachen gänzlich unmöglich geworden. Hier zeigt sich abermals, wie sich Peinlichkeit als situatives Prozessgeschehen konstituiert und nicht unbedingt durch einen einzigen plötzlichen Auslöser entsteht, sondern sich auch durch schrittweises Entgleiten von Selbstkon-

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trolle und Selbstdistanz und aus den unerwünschten inneren und äußeren Wirkungen, die dies nach sich zieht, entwickeln kann. 4.3.2 Heiteres Lachen als Relativierung Das heitere Lachen ist im Gegensatz zum peinlich berührten Lachen als einem grundsätzlich durch andere Gebärden vertretbaren Peinlichkeitsausdruck eine unwillkürliche Antwort auf eine situative Grenzlage, die nicht durch andere Ausdrucksgebärden vertreten werden kann. Dass Peinlichkeitsphänomene ihre Beobachter zum Lachen veranlassen81 und Betroffene ihre Peinlichkeit durch Lachen zu überspielen suchen, ist nach den Ausführungen leicht zu begreifen, doch den eigenen Fehler oder Makel als komisch verlachen zu können, erscheint widersprüchlich. Ist die peinliche Betroffenheit sehr intensiv, ist es höchst unwahrscheinlich, dass Betroffene mit einem herzhaften Lachen darauf reagieren, „[d]enn im Lachen drückt sich allemal eine Distanz zu sich selbst aus, die gerade im Peinlichkeitsgefühl stark gemindert ist“ (Dreitzel 1983: 152). Hobbes, der Lachen als einen Akt der Selbstaffirmation beschreibt, in dem der Lachende sich über den Verlachten erhebt, gibt sogar zu bedenken, dass das Verlachte stets etwas Fremdes sein muss und selbst die Fehler von Freunden und Verwandten nicht zum Lachen veranlassten, da sie nicht als fremde empfunden würden (vgl. Hobbes in Bachmeier 2010: 16f.). Dennoch ist es durchaus möglich, sich von der Komik des eigenen „Deplatziert-Seins“ packen zu lassen (vgl. Plessner 1941: 123), d.h. die eigene Grenzlage mit einem Grenzausdruck zu beantworten.

81 Das Lachen als emotionale Reaktion auf Peinlichkeitsbeobachtungen zu verstehen, steht nicht im Widerspruch zu den Beschreibungen stellvertretender und mitfühlender Peinlichkeit als Peinlichkeitsbeobachtungen. Ob Ereignisse ihren Beobachter eher zu Gefühlen der Fremdscham als zum Lachen veranlassen (oder zu einer Mischform beider Gefühlsvarianten), hängt wesentlich von den Einstellungen und der Einschätzung des Beobachters ab, weniger vom Charakter des Ereignisses selbst. Was man lustig oder eben auch „nicht witzig“ findet, „wie überhaupt die Art des Lachens, und […] der Anlaß dazu, sehr charakteristisch für die Person ist“ (Schopenhauer in Bachmeier 2010: 47), ist genauso wie das Peinliche individuell und sozio-kulturell geprägt, insofern ist das Lachen eine vom konkreten Anlass relativ ungeprägte Reaktion (vgl. Iser in Bachmeier 2010: 119). Weil aber gerade einige Grundformen des Peinlichen, z.B. körperliche Missgeschicke oder offensichtliche Verwechslungen, aufgrund ihrer unmittelbaren Referenz auf allgemein-menschliche Fehler und Schwächen quasi-universellen Charakter besitzen, können sie wunderbar als sprach-, alters-, schichten- und kulturübergreifende Elemente des Komischen fungieren.

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Klassischerweise sind es kleinere Missgeschicke, über die wir in der Regel trotz Peinlichkeitsgefühlen auch lachen können. Auf diese Weise können wir unseren Fehler in der Regelbefolgung verharmlosen und eine Elastizität der Kommunikation ermöglichen, die einen etwaigen drohenden Konflikt verhindern kann (vgl. Giesen 2010: 7). Dabei kann das Lachen, ähnlich wie auch Erröten, eine entschuldigende Signalfunktion besitzen. Indem man auflacht, zeigt man nämlich „nicht nur an, dass man sich des Fehlers oder der Peinlichkeit bewusst ist, sondern man bittet auch gleichzeitig die Zuhörer, dem eigenen Vorschlag, den Fehler als komisch zu rahmen, zuzustimmen und damit von weiteren diesbezüglichen Erörterungen abzusehen. Die Subversivität des Lachens wird hier nicht eingesetzt, um die Geltung der alltäglichen sozialen Ordnung zu suspendieren, sondern um die Tatsächlichkeit von Verstößen gegen sie zu kaschieren.“82 (Giesen 2010: 7)

Auf diese Weise kann die Störung und Desorganisation, die Peinlichkeit mit sich bringt, wieder aufgelöst werden. Der heiter Lachende relativiert das peinliche Ereignis seiner Ernsthaftigkeit, anstatt seinen Fauxpas zu erklären oder zu ignorieren. Vielmehr bestätigt sein Lachen explizit das Vorhandensein einer Grenzüberschreitung, durchbricht aber zugleich den Widerstand, den diese situativ ausübt. „Die Ablösung, die im Lachen sich zeigt – im Lachen quittiert der Mensch die jeweilige Situation, d.h. bestätigt sie und er durchbricht sie –, geschieht gegen einen Widerstand. Nur dieser Widerstand erklärt die Spannung, die sich im Lachen löst, und er wiederum ist auf die Bindung bezogen, welche die Situation auf den Menschen ausübt. Sie hält ihn fest und verwehrt ihm zugleich jede Möglichkeit der Anknüpfung. Bestimmungen wie Ambivalenz, Mehrdeutigkeit, Mehrsinnigkeit, Sinnüberkreuzung sind auf diesen Antagonismus zwischen Bindung und Unbeantwortbarkeit bezogen.“ (Plessner 1941: 128)

Das Lachen über die eigene Fehlbarkeit verkehrt dabei die klassische SubjektObjekt-Beziehung: Die Selbstbeobachtung des peinlich berührten Subjektes wird zur reinen Objektbeobachtung, bei der der Lachende den Fehler oder Makel zwar affirmativ bestätigt, zugleich jedoch als einen Widerspruch deklariert, der sein persönliches Selbstbild doch nicht wirklich betrifft oder gefährdet.

82 Dabei ist es für eine Kaschierung von Normbrüchen von grundlegender Bedeutung, welche Intensität und Dauer das Lachen der anderen, sofern sie der Situationsrahmung des Betroffenen folgen, hat. Ein kurzes Einstimmen ermöglicht die Kaschierung, ein lautes und lang anhaltendes Lachen der anderen hingegen „würde den Fehler von der Ebene der Hintergrundwahrnehmung auf die Ebene der Themen verlagern und damit der Kommunikation eine andere Wendung geben“ (Giesen 2010: 7).

138 | P EINLICHKEIT – FORMEN UND F UNKTIONEN „Selbst dann, wenn wir uns selber, unsere Lage, unser Sein und Tun komisch und witzig finden, rücken wir von uns innerlich ab und geraten zu uns in gegenständliche Distanz. In Situationen der Komik und des Witzes sind wir Zuschauer und Hörer, gegebenenfalls unser selbst. Wir können also beteiligt sein (als Objekte) und sind doch unbeteiligt, nur Auge und Verstand (als Subjekte), vorausgesetzt, wir haben Humor.“ (Ebd. 129)

Das herzhafte Lachen als Reaktion auf die eigene Peinlichkeit wirkt auf andere gemeinhin deswegen so souverän, weil es ihnen glaubwürdig anzeigt, dass der Betroffene erhaben über den peinlichen Vorfall ist: Indem er seine eigene Fehlbarkeit oder Unzulänglichkeit nicht negiert oder zu rechtfertigen sucht, sondern mit seinem Lachen anerkennt, dass es absolute Unfehlbarkeit im Bereich des Menschlichen gar nicht geben kann und der Zufall auch das Erhabenste klein und lächerlich erscheinen lässt (vgl. Vischer in Bachmeier 2010: 50f.), wirkt er umso überlegener. Die Botschaft eines solchen Lachens ist dann gewissermaßen: „[L]ache nur über mich, ich weiß, daß kein menschliches Ding vollkommen ist, und ich lache selbst mit.“ (Ebd. 50f.) Durch heiteres Lachen können wir also nicht nur Ambivalenzen und Widersprüche auf der kommunikativen Oberflächenebene beseitigen, sondern zugleich unsere Makel und Fehlbarkeiten mit Erhabenheit quittieren. Dass uns dies viel seltener gelingt als wir es uns wünschen würden, ist bezeichnend für Peinlichkeit.

4.4 ANSCHLUSSHANDLUNGEN PEINLICHKEITSEMPFINDENDER K OMMUNIKATIONSAKTEURE Die folgende Betrachtung situativer Anschlusshandlungen bezieht sich nicht auf eine Beschreibung tatsächlich ablaufender Handlungsprozesse während peinlicher Situationen, sondern auf die Klassifikation unterschiedlicher Handlungsansätze und -strategien von Peinlichkeitsbetroffenen83, die aufzeigen soll, wie Betroffene mit

83 Im Gegensatz zum Peinlichkeitsgefühl, das nicht notwendigerweise an ein Empfinden von Verantwortlichkeit für den Peinlichkeitsauslöser gebunden ist, spielt diese für die Wahl kommunikativer Anschlusshandlungen natürlich eine wichtige Rolle. Daher werden bei den meisten Beschreibungen kommunikativer Strategien im Umgang mit peinlichen Situationen nur solche Verhaltens- und Handlungsformen in den Blick genommen, die diejenige Person unternimmt, die eine „Regelverletzung“ selbst verschuldet bzw. hervorgebracht hat. Dies impliziert jedoch zugleich die Annahme, peinliche Situationen seien einzelne, personell zuschreibbare Ereignisse, verschuldet durch eine bestimmte Person, welche nun zusehen muss, wie sie diese Verletzung situativ am besten „managt“. Bei ei-

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Peinlichkeit als emotionalem und interaktivem Störungsfaktor kommunikativ verfahren. Die Reaktionen und Anschlusshandlungen anderer Interaktionsteilnehmer spielen zwar ebenfalls eine wesentliche Rolle für den weiteren Situations- und Emotionsverlauf, können im Rahmen dieser Untersuchung allerdings nur am Rande berücksichtigt werden, da es hier um die Frage geht, welche situative Wirksamkeit Peinlichkeitsgefühle bei von ihnen betroffenen Personen entfalten (vgl. 1.3). Die folgenden Beschreibungen erheben weder Anspruch auf Vollständigkeit noch auf klassifikatorische Eindeutigkeit, vielmehr verstehen sie sich als anschlussund modifikationsfähige Überlegungen. Sie sind ein Versuch, aus der Vielfalt kommunikativer Formen des Umgangs mit Peinlichkeit charakteristische Handlungsweisen herauszufiltern und diese verschiedenen Strategietypen zu subsumieren, die man empirisch wohl meist als Kombinationen mehrerer Strategieelemente finden wird, welche aufeinander folgen, sich gegenseitig ergänzen, verstärken, abschwächen oder auch widersprechen können.84 Ganz grundsätzlich lassen sich zwei Umgangsformen mit Peinlichkeit voneinander unterscheiden: „The first [method, J.D.] is simply to avoid the state of self-focus. This can be accomplished by distracting attention, leaving the situation, taking up some other task, and so forth, anything that will divert attention from the self will suffice. The second method is more complex, but more interesting from a theoretical standpoint – that is, to change one’s behaviour somehow in order to bring it more in line with the ideal or standard, in other words, to reduce the ‚real/ideal discrepancy‘.“ (Gibbons 1990: 121)

Die Überwindung von Peinlichkeit wird also durch eine Beseitigung derjenigen Faktoren erstrebt, welche ihrerseits konstitutiv für das Peinlichkeitsgefühl sind: Während man einer Exponierung zu entgehen sucht, indem man etwa die Aufmerksamkeit vom Selbst weg lenkt oder die Flucht ergreift, erfordert eine Reduzierung von Selbstbilddiskrepanzen meist komplexere Kommunikationsstrategien, die mit

ner solchen Gleichsetzung von Peinlichkeitsbetroffenem und Peinlichkeitsschuldigem wird vernachlässigt, dass nur die peinliche Emotion personell zuschreibbar ist, wohingegen die peinliche Situation (die wie bei der goffmanschen Fahrstuhlgemeinschaft sogar institutionell „eingebaut“ sein kann) oft nicht auf einen „Übeltäter“ reduziert werden kann. 84 So kann in einer peinlichen Situation z.B. eine Erklärung für ein Missgeschick formuliert werden („Ich habe das Glas nicht gesehen.“), die durch eine aggressive Beschuldigung anderer (z.B. das Verfluchen des „Trottels“, der sein Glas so gedankenlos dort abgestellt hat) ergänzt und von korrektiven Maßnahmen (dem Zusammenkehren der Scherben) begleitet wird.

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einer zunächst höheren Aufmerksamkeit auf das Selbst, das nun darum bestrebt ist, eine andere Seite von sich zu präsentieren, einhergehen. Miller unterscheidet acht verschiedene Handlungsanschlüsse peinlich berührter Personen: Flucht, Ignorieren, Humor, Erklärung, bei welcher er Ausreden („excuses“) von Rechtfertigungen („justifications“) unterscheidet, Entschuldigung, Entschädigung, Aggression und Einverständnis („compliance“) (vgl. Miller 1996: 164ff.). Bei meinen eigenen Systematisierungsbemühungen habe ich mich zwar an dieser Klassifizierung orientiert, doch da meine Leitfrage eher „Auf welche spezifischen Weisen verfahren Peinlichkeitsbetroffene handelnd mit Peinlichkeit?“ als „Zu welcher allgemeinen Handlungsform zählen Folgehandlungen Peinlichkeitsbetroffener?“ lautete, ergab sich ein etwas abweichendes Klassifikationssystem. Herauskristallisiert haben sich dabei fünf übergeordnete Strategieformen: Entziehung, Verleugnung, Relativierung, Korrektive (in Anlehnung an Goffmans Terminologie; vgl. Goffman 1982) und Maskierung. Bei der näheren Beschreibung werden diese in weitere Untertypen differenziert. Darüber hinaus möchte ich Affirmation als Metaebene situativer Peinlichkeitsakzeptanz betrachten, da diese im Zuge der grundlegenden Aversion gegen Peinlichkeit erklärungsbedürftig erscheint. Affirmative Umgangsweisen werden zwar als „compliance“ auch von Miller (vgl. Miller 1996: 169) und Braithwaite (vgl. Braithwaite 1995) skizziert, doch reihen diese sie als eine kommunikative Handlungsstrategie neben die anderen Strategien ein, ohne näher zu berücksichtigen, dass sie mehr Haltung als Handlung ist. 4.4.1 Entziehung Peinlichkeit entzieht man sich durch ein Verlassen des situativen Gesprächs- oder Handlungsortes, da es an diesem Ort entweder nichts mehr zu retten gibt, d.h. aus der eigenen Sicht kein kommunikativer Anschluss die Situationsordnung wieder herzustellen vermag, oder aber in einem Verlassen die einzige Möglichkeit gesehen wird, doch noch etwas zu retten (z.B., sich selbst oder anderen eine noch schlimmere Peinlichkeit zu ersparen). Ein solcher Rückzug ist grundlegend nicht gleichzusetzen mit kapitulierender Flucht als feigem Davonlaufen, sondern zunächst einmal nur das Eingeständnis, dass in der Situation durch weitere Selbstdarstellungsmaßnahmen nichts mehr gewonnen werden kann bzw. dies dem Betroffenen zumindest situativ als unmöglich erscheint. Entziehungen unterscheiden sich vor allem hinsichtlich ihrer jeweiligen Zeitlichkeit und Auffälligkeit, d.h. der Frage, wie abrupt und gekonnt man sich zurückzieht. Hier lassen sich zwei Extreme beobachten85: Der plötzliche und manifeste

85 Wie unterschiedlich Rückzugsstrategien im Einzelnen sein können, mögen folgende Beschreibungen von Peinlichkeitsbetroffenen ansatzweise aufzeigen: „Ich verließ die Ver-

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Kommunikationsabbruch als Flucht und der unauffälligere Kommunikationsentzug als Davonstehlen (der leise Abgang, das heimliche „Verdrücken“). Beide möchte ich kurz skizzieren. Entziehung durch Flucht Situationsflucht ist das Eingeständnis, dass keine erfolgreiche oder rettende Bewältigung der Situation möglich erscheint. Erinnert man sich an eigene peinliche Situationen (z.B. aus der Kindheit), wird man feststellen, dass man immer dann davongelaufen ist, wenn „one’s embarrassment was intense, one’s expectations of successfully coping with the circumstances in some other manner were low, and the possibility of escaping others’ surveillance was high“ (Miller 1996: 164). Das Fliehen als unmittelbarer leiblicher Situationsentzug kommt zwar dem Wunsch nach Exponierungsentzug nach, steht dem Ideal eines kontrollierten und souveränen öffentlichen Selbst, das mit einer schwierigen Situation umgehen bzw. diese zumindest auszuhalten vermag, in der Regel jedoch konträr gegenüber. Fluchtartig das Feld zu räumen wird für denjenigen, welcher – um mit Plessner zu sprechen – in Rüstung in die Öffentlichkeit tritt, um sein Ansehen dort nach den gesellschaftlichen Regeln zu behaupten und zu verteidigen, zur offenen Kapitulation vor diesem Anspruch. Aus diesem Grund wird eine Flucht für den Betroffenen meist zu einem neuen Peinlichkeitsanlass, der manche gar dazu veranlasst, den entsprechenden Ort des Geschehens bzw. die dort anwesenden Personen zukünftig zu meiden. Zugleich kann eine Flucht das Exponieren weiterer Peinlichkeiten, z.B. öffentliches Weinen, verhindern. Eine entsprechende „Fluchtbeschreibung“ findet sich in Fühmanns Erzählung „Das Judenauto“ (Fühmann o. J.): Der Protagonist, ein junger Schüler, prahlt in der Klasse vor seinem Lehrer, wie er auf einem Feldweg vor einem „Judenauto“ erfolgreich geflohen sei, in dem vier „schwarze Männer“ mit einem blutigen Messer gesessen hätten, von denen einer befohlen habe, ihn zu fangen. Während des Erzählens richten sich seine Gedanken besonders auf eine seiner Schulkameradinnen, in die er heimlich verliebt ist. Sie scheint seinen Worten aufmerksam zu lauschen, und er glaubt, mit seiner Geschich-

anstaltung ungebührlich bald nach dem Abendessen, das ich im Bewusstsein der allgemeinen Ächtung noch hinuntergewürgt hatte.“ (Oswald in Schnippenkoetter 2004: 142); „Den restlichen Abend habe ich mit viel Sekt in einer Ecke verbracht.“ (Özdemir in ebd. 137), „Ich schulterte meine Kameratasche unter dem Getose des begeisterten Publikums, um mich mit roten Ohren aus dem Saal zu schleichen. Die Nacht draußen sollte mich verschlucken [...].“ (Rakete in ebd. 152); „Ich bin wie eine Marionette aufgestanden und gesenkten Hauptes aus dem Raum gegangen, was eigentlich nicht meine Art ist.“ (Sägebrecht in ebd. 165)

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te einen heldenhaften Eindruck auf sie machen zu können. Doch genau jenes Mädchen fängt nach Beendigung seiner Erzählung ebenfalls an, vor der Klasse zu sprechen und berichtet, „daß gestern ihr Onkel mit zwei Freunden zu Besuch gekommen sei; sie seien zur gleichen Zeit, da ich das Judenauto gesehen haben wollte, den gleichen Feldweg hinabgefahren, und ihr Onkel habe einen Jungen, der am Wiesenrand gestanden habe, nach dem Weg gefragt, und der Junge sei schreiend davongelaufen, und sie strich die Zunge über ihr dünnen Lippen und sagte ganz langsam, der Junge am Weg habe genau solche grünen Lederhosen getragen wie ich, und dabei sah sie mich freundlich lächelnd an, und alle, so fühlte ich, sahen mich an, und ich fühlte ihre Blicke böse wie Wespen schwirren, Wespenschwärme über Thymianbüschen, und das Mädchen lächelte mit jener ruhigen Grausamkeit, deren nur Kinder fähig sind. Als dann eine Stimme aus mir herausbrüllte, die blöde Gans spinne ja, ja, es sei das Judenauto gewesen: gelb, ganz gelb und vier schwarze Juden drin mit blutigen Messern, da hörte ich wie aus einer anderen Welt durch mein Brüllen ihre ruhige Stimme sagen, sie habe mich ja selbst vor dem Auto davonlaufen sehen. Sie sagte es ganz ruhig und ich hörte, wie mein Brüllen jählings abbrach; ich schloß die Augen, es war totenstill, da plötzlich hörte ich ein Lachen, ein spitzes, kicherndes Mädchenlachen wie Grillengezirp schrill, und dann toste eine brüllende Woge durch den Raum und spülte mich fort. Ich stürzte aus der Klasse hinaus und rannte aufs Klosett und schloß hinter mir zu; Tränen schossen mir aus den Augen; ich stand eine Weile betäubt im beizenden Chlorgeruch und hatte keine Gedanken und starrte die schwarzgeteerte stinkende Wand an […].“ (Ebd. 502f.)

Diese Flucht als plötzliches Davonstürzen inmitten einer Unterrichtssituation wirkt zwar unsouverän, da sie zum Eingeständnis wird, der Verlachung nicht standhalten zu können, verhindert jedoch zugleich die öffentliche Exponierung der tiefen emotionalen Getroffenheit des Schülers, welche sich erst in der Abgeschiedenheit der Schultoilette vollends entlädt: „[U]nd auch mit mir hatten sie [die Juden, J.D.] einen hundsgemeinen Trick gemacht, um mich vor der Klasse zu blamieren. Ich knirschte mit den Zähnen: Sie waren Schuld! Heulend sprach ich ihre Namen aus; ich schlug die Fäuste vor die Augen und stand im schwarzgeteerten, chlordünstenden Knabenklosett und schrie ihre Namen: ‚Juden!‘ […] und ich stand heulend in der Klosettzelle und schrie, und dann erbrach ich mich.“ (Ebd. 503)

Entziehung durch Davonstehlen Eine ähnliche peinliche Erfahrung, die aus Verlachung resultiert und mit heimlicher Liebe zu tun hat, muss auch Thomas Manns Figur Tonio Kröger aus der gleichnamigen Novelle (Mann 1966) während einer Tanzstunde erleben. Krögers Gedanken sind während des Tanzens vor allem bei der hübschen und ebenfalls anwesenden Inge, deren Herz der ungelenke und träumerische Kröger gern erobern würde.

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„Tonio Kröger und seine Dame waren dran. ‚Compliment!‘ Und Tonio Kröger verbeugte sich. ‚Moulinet des dames!‘ Und Tonio Kröger, mit gesenktem Kopfe und finsteren Brauen, legte seine Hand auf die vier Hände der vier Damen, auf die Inge Holms, und tanzte ‚moulinet‘. Ringsrum entstand ein Kichern und Lachen. Herr Knaak fiel in Ballettpose, welche ein stilisiertes Entsetzen ausdrückte. ‚Oh weh!‘ rief er. Halt, halt! Kröger ist unter die Damen geraten! En arrière, Fräulein Kröger, zurück fi donc! Alle haben es verstanden, nur Sie nicht. Husch! Fort! Zurück mit Ihnen!‘ Und er zog ein gelbseidenes Taschentuch und scheuchte Tonio Kröger damit an seinen Platz zurück. Alles lachte, die Jungen, die Mädchen und die Damen jenseits der Portieren, denn Herr Knaak hatte etwas gar zu Drolliges aus dem Zwischenfall gemacht, und man amüsierte sich wie im Theater. Nur Herr Heinzelmann wartete mit trockener Geschäftsmiene auf das Zeichen zum Weiterspielen, denn er war abgehärtet gegen Herrn Knaaks Wirkungen. Dann ward die Quadrille fortgesetzt. Und dann war Pause. Das Folgmädchen klirrte mit einem Teebrett voll Weingeleegläsern zur Tür herein, und die Köchin folgte mit einer Ladung Plumcake in ihrem Kielwasser. Aber Tonio Kröger stahl sich fort, ging heimlich auf den Korridor hinaus und stellte sich dort, die Hände auf dem Rücken, vor ein Fenster mit herabgelassener Jalousie, ohne zu bedenken, daß man durch die Jalousie gar nichts sehen konnte, und daß es also lächerlich sei, davorzustehen und zu tun, als blicke man hinaus. Er blickte in sich hinein, wo so viel Gram und Sehnsucht war. Warum, warum war er hier?“ (Ebd. 19f.)

Dem exponierten Kröger, der sich fühlt, als habe man aus seinem Missgeschick eine Komödienszene gemacht, gelingt es nicht, sich der Lachgemeinschaft anzuschließen. Dabei sind ihm sein Fauxpas und das Gelächter darüber nicht nur höchst peinlich, sondern die Situation wird für ihn zugleich zur traumatischen Bestätigung innerster Ängste und Selbstzweifel, zur nachhaltig beschämenden Erniedrigung, sich vor seiner Angebeteten lächerlich gemacht zu haben.86 Trotzdem kann er sich noch so weit selbst disziplinieren, der fortgesetzten Situationsordnung – welche glücklicherweise keine weiteren Kommunikationsleistungen von ihm erfordert – bis zur Pause standzuhalten, und sich erst dann davonzuschleichen. Dass er immer noch benommen von der Blamage ist, zeigt sich am

86 Dies wird an späterer Stelle der Novelle nochmals sehr deutlich. Kröger, nunmehr ein erwachsener Mann und erfolgreicher Poet, wird unwillkürlich an seine Blamage beim Tanzunterricht erinnert: „Eine schreckliche Erinnerung machte Tonio Kröger erröten. Man tanzte Quadrille. [...] Lachtest du, blonde Inge, lachtest du mich aus, als ich moulinet tanzte und mich so jämmerlich blamierte? Und würdest du auch heute noch lachen, nun da ich doch so etwas wie ein berühmter Mann geworden bin? Ja, das würdest du und würdest dreimal recht daran tun! Und wenn ich, ich ganz alleine, die neun Symphonien, ‚Die Welt als Wille und Vorstellung‘ und ‚Das jüngste Gericht‘ vollbracht hätte, – du würdest ewig recht haben, zu lachen...“ (Ebd. 76)

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Zustand seiner Desorganisation („ohne zu bedenken, dass man durch die Jalousie gar nichts sehen konnte“) und objektiven Selbstbeobachtung („Er blickte in sich hinein, wo so viel Gram und Sehnsucht war. Warum, warum war er hier?“). 4.4.2 Verleugnung Mit Verleugnungen möchten Betroffene verhindern, dass Peinlichkeiten die kommunikative Oberflächenstruktur tangieren, dass ihnen noch weitere Aufmerksamkeit zukommt oder sie gar zum Thema gemacht werden. Zu diesem Zwecke werden Handlungsanschlüsse ergriffen, die das peinliche Ereignis (zu welchem nicht zuletzt auch die eigene Peinlichkeitsbetroffenheit zählt) überspielen, von ihm ablenken, es ignorieren oder hinwegdeuten. Verleugnung durch Überspielen und Ablenken Das schnelle Wechseln des Gesprächsthemas, eifriges Tippen auf dem Mobiltelefon, intensives Wühlen in der Tasche oder konzentriertes Blättern in irgendwelchen Unterlagen werden dazu genutzt, so zu tun, als sei nichts Ungewöhnliches vorgefallen, sich dabei neu zu sortieren und über den peinlichen Moment hinwegzukommen. Peinliches wird durch Überspielungs- oder Ablenkungsmaßnahmen bewusst übergangen, damit die jeweilige Störung nicht noch durch weitere Aufmerksamkeit oder Thematisierung vergrößert wird. Dazu zählen etwa „das angestrengte Nachzudenkenscheinen mit höchst intensiver Denkmimik bei oft völliger Denkleere; [...] ein etwas zerstreutes Lächeln; Reinigungsbewegungen an der Kleidung des anderen; intensiv ehrerbietiges oder freundschaftliches Grüßen einer dritten Persönlichkeit; Wiederanzünden einer noch nicht ausgegangenen Zigarre [heutzutage: Zigarette, J.D.] und vielerlei ähnliches mehr“ (Hellpach 1913: 31).

Andere Handlungsmaßnahmen „mit gleicher Funktion sind: Brilleputzen, umständlich auf die Uhr sehen, nachdenklich die Maniküre überprüfen [...], sich die Schuhe zubinden, den Sitz der Krawatte prüfen oder den Lippenstift nachziehen, [...] am Glas nippen, [...] dringende Termine in den Kalender eintragen und dann angestrengt nachdenken, was man sonst noch mit einer Uhr [heutzutage: Smartphone, J.D.] machen kann. Kurz: Man unternimmt alles, um einen abgelenkten Eindruck zu machen. Damit ist man für alle Eventualitäten gut vorbereitet.“ (Verweyen 2012: 110)

Hier spricht Verweyen einen zusätzlichen Nutzen dieser Strategien an – ist die Situationsdefinition durch Peinlichkeit uneindeutig geworden, könnten Neudeutungen gewagt sein und auf Ablehnung stoßen oder zu einer noch größeren Situations-

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störung führen. Einfach nur stillsitzend und die anderen anblickend abzuwarten, was diese nun sagen oder tun werden, erscheint jedoch oft unangemessen und fällt peinlich Berührten darüber hinaus äußerst schwer, sodass die Vortäuschung kurzfristiger Beschäftigtheit hier zum rettenden Ausweg werden kann. Dass Überspielungen, die die eigene Peinlichkeitsbetroffenheit verbergen sollen, diese noch stärker zu Tage treten lassen, wenn sie allzu übertrieben oder künstlich wirken, schildert Batarilo anhand eines persönlichen Erlebnisses: „Vor kurzem war ich beim Hautarzt, zu einer Vorsorgeuntersuchung. Ich war zum ersten Mal dort. Als ich das Sprechzimmer betrat, sah ich, dass der Arzt im Rollstuhl saß. Gerne wäre ich jemand gewesen, der das als völlig natürlich empfindet. Aber allein dieser Wunsch verfrachtete mich schon in die Gruppe derjenigen, die einen kurzen Moment Überraschung empfinden. Der mir natürlich peinlich war. Den ich dann mit noch viel peinlicherer aufgesetzter Unbefangenheit überspielte. Ich tanzte dem Arzt im Rollstuhl quasi meine Muttermale entgegen.“ (Batarilo 2013: 36)

Neben solchen Überspielungsversuchen können auch gezielte Ablenkungsmanöver dazu dienen, die Aufmerksamkeit anderer vom jeweils peinlichen Situationsaspekt, z.B. dem unordentlichen Schreibtisch, der unangenehmen Frage, dem Fleck auf der Bluse oder dem Verhalten Dritter, wegzulenken. Entsprechendes beschreibt Alice Munro in ihrer Kurzgeschichte „Rotes Kleid – 1946“ (Munro 2012), in der ein Mädchen eine Freundin mit zu sich nach Hause bringt, vor der ihr die Erscheinung und das Verhalten ihrer Mutter höchst peinlich sind: „Ich musste das Kleid anprobieren. Manchmal kam Lonnie nach der Schule mit zu mir nach Hause, saß auf dem Sofa und sah zu. Mir war peinlich, wie meine Mutter um mich herumkroch, mit knackenden Knien und schwerem Atem. Sie sprach halblaut mit sich selbst. Zuhause trug sie kein Korsett und auch keine langen Strümpfe, sondern Schuhe mit Keilabsätzen und Söckchen; auf ihren Beinen zeichneten sich Klumpen blaugrüner Venen ab. Ich fand es schamlos, wie sie dahockte, sogar unanständig; ich versuchte, mich mit Lonnie zu unterhalten, um deren Aufmerksamkeit so weit wie möglich von meiner Mutter abzulenken.“ (Ebd. 254f.)

Die nachlässige und unästhetische Erscheinung der Mutter empfindet das Mädchen vor ihrer Freundin als peinlich, da deren Anwesenheit öffentliche Selbstdarstellungsansprüche aktiviert, welche im häuslich-privaten Geschehen normalerweise keine Gültigkeit besitzen: Die Exponierung der Mutter, die in der familiären Intimität ansonsten unproblematisch wäre, wird durch das Beisein der Freundin in eine öffentliche Sphäre gerückt, in der die Betroffene strengere Ansprüche an Selbstkontrolle und Erscheinung der Mutter stellt. Zugleich kann sie im beschriebenen Situationskontext, in dem sie zum Abmessen und Abstecken des Kleides ja stillstehen

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und die Mutter die entsprechenden Tätigkeiten verrichten lassen muss, die unangenehme Exponierungsbeobachtung, zu deren Teilobjekt sie sich konstituiert, nicht so einfach verhindern. Durch eine gezielte Aufmerksamkeitssteuerung ihrer Freundin bemüht sie sich daher, das Verhalten ihrer Mutter in die situative Hintergrundebene treten zu lassen. Verleugnung durch Ignorieren Manchmal beinhalten Verleugnungen auch ein gänzliches Ignorieren der Peinlichkeit. Die entsprechende Strategie besteht dann einfach darin, ursprüngliche Handlungen möglichst unbeirrt weiter fortzusetzen. Gemäß eines „Man-tut-so-als-ob“ kann dadurch situativ ein „wunderbarer Konsens darüber [entstehen], dass einfach nichts geschehen sei. – Der ganze Vorfall wird kollektiv geleugnet und bleibt folgenlos.“ (Verweyen 2012: 11) Folgenlos bleibt er zumindest in der Situation, Imageschäden können hier trotz wechselseitigen Ignorierens natürlich nicht ausgeschlossen werden. Auch Dreitzel betont im Hinblick auf eine Wiederherstellung gewohnter Kontroll- und Kompetenzerwartungen in peinlichen Situationen: „Oft genug ist dabei das So-tun als sei nichts geschehen, ein Überhören, Übersehen und schließlich Übergehen des peinlichen Akts das sicherste Mittel, dieses Ziel zu erreichen. So kann es vorkommen, daß eine vom Urheber der Peinlichkeit vorgebrachte Entschuldigung bereits zuviel ist, weil sie die Peinlichkeit selbst ja zwangsläufig thematisiert.“ (Dreitzel 1983: 149)

Ein solches Ignorieren von Peinlichkeit ist vor allem in besonders institutionalisierten und ritualisierten Kommunikationszusammenhängen zu beobachten. Denn hier ist es sehr wichtig, dass Abläufe und Regeln mit vorgeschriebenem Inhalt und in vorgeschriebener Form weiter fortgesetzt werden. Jede nonverbale oder sprachliche Abweichung von dieser festgelegten Ordnung würde eine zusätzliche Störung bedeuten, Erklärungsversuche oder Entschuldigungen die Rückkehr zur „Tagesordnung“ unnötig erschweren. Freilich können auch hier Betroffene ein Bedürfnis nach Entlastung der eigenen Selbstdiskrepanz verspüren, weshalb sie zuweilen dazu neigen, den eigenen Fauxpas auch in höchst institutionalisierten Kontexten zum Thema zu machen, womit sie allerdings meist einen neuen Fauxpas anderer Art begehen. Je höher der Grad an Institutionalisierung der Situation ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass ein peinlicher Verstoß, der gegen die symbolische Ordnung des Rituals, die Etikette oder Konvention verstößt, verleugnet wird, indem man ihn ignoriert (vgl. von Moos 2001b: 71f.). „Dies gilt besonders in klar strukturierten Situationen, z.B. im Konzertsaal oder bei Kontakten mit Massenmedien, wo es schwierig wird, korrektive Rituale einzusetzen.“ (Hallemann 1986: 254)

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Eine entsprechende Erfahrung wird von der Schauspielerin Esther Schweins geschildert: „Anfang der neunziger Jahre besuchte ich die Schauspielschule in Bochum und hatte kaum Geld, meine Miete zu bezahlen. Da bekam ich ein Angebot für einen Werbefilm. […] Allerdings war es damals noch verpönt, Werbung zu machen. Unter Schauspielschülern galt es als ungeheure Schmiere, überhaupt etwas vor der Kamera zu machen, geschweige denn in einer Werbefilmproduktion. Ich erkundigte mich bei der Schuldirektion, ob ich das machen dürfe. Man lehnte ab. Ich hatte das Geld aber so dringend nötig, dass ich beschloss, mich darüber hinwegzusetzen. Ich meldete mich krank, fand mich an einem Montagmorgen im Studio ein und ließ mich in ein grässliches Kostüm stecken: Hawaiihemd und Bermudashorts. Als ‚charmante Claudia‘ hielt ich das ‚laserscharfe Messerset‘ in die Kamera. Irgendwann schaute ich mich im Studio um, und wer saß auf dem Regiestuhl: mein Dozent von der Schauspielschule. Ich hätte mich gerne in Luft aufgelöst, aber es blieb mir nichts anderes übrig, als den Quatsch unter den Augen meines Lehrers weiterzumachen.“ (Schweins in Schnippenkoetter 2004: 186f.)

Aufgrund der Institutionalisierung des situativen Geschehens – die Schauspielschülerin steht ja nicht nur im metaphorischen Sinn auf der Bühne und spielt eine Rolle – sowie der damit zusammenhängenden Exponierung der Betroffenen vor der Kamera und dem Film-Team sieht sie keine andere Möglichkeit, als die Peinlichkeit mit aller Kraft zu ignorieren. In diesem Kontext würden sowohl ein Exponierungsentzug als auch Reduzierungsmaßnahmen der Selbstbilddiskrepanz ihre Peinlichkeitsempfindung, die auf einer rein inneren Diskrepanzerfahrung und keiner äußerlich manifesten Störung beruht, unnötig zu Tage treten lassen. Verleugnung durch Hinwegdeuten Interessanterweise erfolgt im obigen Beispiel der Schauspielschülerin im Situationsnachgang eine Umdeutungsmaßnahme der peinlichen Begebenheit durch ihren bei der Aufzeichnung anwesenden Dozenten. Da die Situation auch für ihn peinlich war, sieht er sich dazu veranlasst, die Peinlichkeit hinwegzudeuten: „Erst am nächsten Tag fing die Geschichte an, sich für mich zu drehen. Mir ging auf, dass die Begegnung für meinen Dozenten mindestens so peinlich gewesen sein musste wie für mich. Drei Tage später hing eine Annonce am schwarzen Brett der Schule. Darin machte er darauf aufmerksam, dass es einen lukrativen Nebenverdienst für Schauspielschüler bei besagter Werbefilmproduktion gebe. Wir haben nie darüber gesprochen, aber von dem Moment an musste ich nicht mehr um meinen Ruf und meinen Studienplatz bangen. Und er war auch rehabilitiert.“ (Ebd. 187)

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Durch den öffentlichen Aushang des Gesuchs werden sowohl die Tätigkeit des Dozenten als Fernseh-Regisseur als auch die Tätigkeit der Schülerin als Darstellerin bei der Werbefilmproduktion als rollenkonforme Handlungen deklariert. Die Annonce – durch die Autorität des Dozenten inhaltlich legitimiert und durch den Aushang in der Schauspielschule öffentlich geltend gemacht – fungiert dabei als normative Deutungsmacht darüber, welche Verhaltensstandards für Mitglieder der Schauspielschule gültig und legitim sind. Auf diese Weise werden die Teilnahme der Schülerin und des Dozenten an der Werbefilmproduktion von einer verpönten (und für die Schülerin ja sogar offiziell verbotenen) Niveaulosigkeit in eine ihrem Metier durchaus angemessene Verdienstmöglichkeit umcodiert. Nun ist diese Umdeutung eine Maßnahme, die der peinlichen Situation nicht unmittelbar als ein Handlungsanschluss folgt, sondern ein späteres taktisches Manöver darstellt – womöglich das Ergebnis tagelanger Überlegungsanstrengungen des Dozenten –, um das eigene Image zu wahren, ohne zugeben zu müssen, dass es überhaupt bedroht gewesen sein könnte. Ein Beispiel für einen situativen Hinwegdeutungsversuch findet sich in Tschechows Erzählung „Teure Stunden“ (Tschechow 2010). Die Figur Worotow nimmt Französischunterricht bei einer jungen Lehrerin, entscheidet sich aber nach kurzer Zeit, ihr zu kündigen: „In den folgenden Tagen überzeugte er sich, daß seine Lehrerin nett, ernst und pünktlich, doch sehr ungebildet war und es gar nicht verstand, einen Erwachsenen zu unterrichten; darum entschloß er sich, um keine Zeit zu verlieren, sich von ihr zu trennen und einen anderen Lehrer zu nehmen. Als sie zum siebenten Male kam, holte er aus der Tasche ein Kuvert mit sieben Rubeln und begann, es in der Hand haltend, sehr verlegen: ‚Entschuldigen Sie, Alice Ossipowna, ich muß Ihnen sagen, daß ich …leider genötigt bin ….‘ Als die Französin das Kuvert sah, verstand sie sofort, um was es sich handelte; durch ihr Gesicht ging zum erstenmal seit Beginn des Unterrichts ein Zittern, und der kühle, geschäftliche Ausdruck verschwand. Sie errötete leicht, senkte die Augen und fing an, nervös an ihrem dünnen goldenen Kettchen zu nesteln. Als Worotow ihre Erregung merkte, begriff er, was für sie ein Rubel bedeutete und wie schwer es ihr fiel, diese Verdienstmöglichkeit zu verlieren. ‚Ich muß Ihnen sagen…‘ murmelte er in noch größerer Verlegenheit; in seiner Brust krampfte sich etwas zusammen, er steckte das Kuvert schnell in die Tasche und fuhr fort: ‚Entschuldigen Sie, ich … ich muß Sie für zehn Minuten verlassen ...‘ Er tat so, als hätte er gar nicht die Absicht gehabt, ihr zu kündigen, sondern wollte sie nur um Erlaubnis bitten, sie für eine Weile allein zu lassen. Er ging ins Nebenzimmer und blieb dort zehn Minuten. Als er zurückkam, fühlte er sich in noch größerer Verlegenheit als vorhin: er sagte sich, daß sie sein Verschwinden für die kurze Zeit irgendwie falsch auffassen könnte, und das war ihm peinlich. Der Unterricht wurde fortgesetzt.“ (Ebd. 67f.)

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Worotow hält seine Lehrerin zwar für fachlich inkompetent, doch da sie sich zugleich immer sehr höflich und korrekt verhält, wird die Umsetzung seines Vorhabens, ihr zu kündigen, zu einer unangenehmen Angelegenheit für ihn. Die Situation, ihr die schlechte Nachricht ins Gesicht sagen zu müssen, ist für Worotow bereits verlegenheitserzeugend, das Bewusstsein, für diese Nachricht verantwortlich zu sein, da ein von ihm persönlich gefasster Beschluss mitgeteilt wird, ist ihm zudem peinlich87. Die junge, nette und pflichtschuldige Dame durch eine solche Abweisung unverhofft vor den Kopf zu stoßen, widerspricht Worotows öffentlichem Selbstbild. So heißt es etwa an späterer Textstelle: „Er fragte sich immer: wie er ihr Zutrauen einflößen und sie näher kennen lernen könnte, um ihr dann zu helfen und zu erklären, wie schlecht die Ärmste unterrichtete.“ (Ebd. 68) Daher spürt er auch eine hemmende Verlegenheit, die Kündigung vor ihr auszusprechen, muss er doch davon ausgehen, dass er sie damit unvermeidlich treffen und verletzen wird. Die Lehrerin, die direkt erkennt, welche Zielsetzung dem Gespräch zugrunde liegt, nimmt die noch unausgesprochene Kündigung vorweg und reagiert darauf: Ihre Betroffenheit, die in Form von Erröten, Abwenden des Blickes, einem leichten Zittern und nervösen Selbstberührungen zum Ausdruck gelangt, ohne dass der eigentliche Peinlichkeitsgrund – die Kündigung – bereits die sprachliche Kommunikationsebene tangiert hätte, macht die Situation für beide peinlich und löst bei Worotow zusätzliche Hemmungen aus: Er begreift die Reaktion der Lehrerin als Zeichen dafür, dass die Kündigung sie viel härter treffen wird, als er erwartet hätte (sogar ihr „geschäftiger“ Ausdruck, den er stets als Zeichen ihrer Stärke und Unterkühltheit begriff, verschwindet plötzlich). Aufgrund dieser Wahrnehmung erweitert sich Worotows Bewertung seines Handlungsvorhabens um die Schuldkomponente, die Lehrerin durch die Kündigung nicht nur in ihrem Selbstbild zu verletzen, sondern sie zudem in finanzielle „Verlegenheiten“ zu stürzen. Unter diesen Bedingungen kann er sich nicht mehr zur Kündigung überwinden und entschließt sich, seine Handlungsplanumsetzung in letzter Sekunde abzubrechen und den Gesprächsbeginn umzudeuten: Er tut so, als wollte er sie von Anfang an nur um die Erlaubnis bitten, sie kurz alleine zu lassen. Dies ist zwar unglaubwürdig, doch ermöglicht es ihm, der Lehrerin die degradierende und für ihn ebenfalls sehr peinliche Situation zu ersparen, sein Kündigungsvorhaben laut auszusprechen. Dem

87 Auf die Peinlichkeit, anderen zu kündigen, weist auch Hellpach hin: „Der ‚Bote‘ in den Situationen 3 [Überbringung einer Kündigung oder Nichtversetzung des eigenen Kindes in der Schule, J.D.] hat immer das drückende Gefühl, der Unglücksbringer zu sein, sowenig er am mißlichen Inhalt seiner Botschaft Mitschuld tragen mag; trägt er die – etwa bei der Kündigung – teilt er einen eigenen, dem anderen nachteiligen Beschluß mit, so ist jenes Gefühl erst recht legitimiert. Ein solches Bewußtsein ist ‚peinlich‘.“ (Hellpach 1913: 8)

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Umstand, dass sein Verschwinden eine erneute Peinlichkeit erzeugt, da es ungewollte Deutungsspielräume eröffnet, kann Worotow verständlicherweise nicht durch eine Erklärung der tatsächlichen Motive begegnen. 4.4.3 Relativierung Bei relativierenden Handlungsanschlüssen wird die selbstbildgefährdende Bedeutung bzw. situative Bedrohung des peinlichen Ereignisses vom Betroffenen als so manifest angesehen, dass er sie durch gezielte Handlungsmaßnahmen in ein neues Bezugsschema zu setzen versucht. Relativierung durch humorvolle Äußerungen Der kommunikative Vorteil einer humorvollen Anschlusshandlung – sofern man einen entsprechenden Spruch oder Witz parat hat – besteht wie beim Lachen darin, dass man durch die ausgedrückte eigene Selbstdistanz souverän wirken und die Peinlichkeit in eine neue Bezugsdimension stellen kann. Denn „[m]it Hilfe entsprechender ‚Sprüche‘ […] wird kommunikativ angezeigt, dass ein ‚MetaDiskurs‘ vorliegt. Aus dieser Perspektive heraus kann das verbal Ausgedrückte in seiner Aussage relativiert werden bzw. – wie im Falle der Ironie – in seinem Sinngehalt verkehrt werden. Dadurch wird ein anderes Bezugssystem aktiviert. So kann es zu einer paradoxen Grenzüberschreitung zwischen der Welt des rationalen Ernstes und des komischen Unernstes kommen.“ (Titze 2009: 24f.)

Daher besitzen humorvolle Umgangsweisen mit peinlichen Situationen stets die Ambivalenz, die situative Ordnung umzustoßen und zugleich zu schützen. Gerade durch das Umstoßen des Verstoßes kann die Ordnung wieder hergestellt werden – bringt das humorvolle Relativieren des Ereignisses als komischer Unernst doch zum Ausdruck, dass die Ordnung gar nicht ernsthaft gefährdet war. Während man durch verleugnendes Hinwegdeuten versucht, eine ernsthafte Bemerkung, die auf betretenes Schweigen stößt, als Scherz zu deklarieren, versucht man beim relativierenden Umdeuten durch Humor der allgemeinen Betretenheit, welche auf diese Bemerkung folgt, mit einem lustigen Spruch zu begegnen. Eine Relativierung durch humorvolle Sprüche wird – wie die Relativierung durch Lachen – nur dort gelingen, wo sie gemeinschaftlich vollzogen wird, d.h., wo sich auch die anderen Situationsteilnehmer einer solchen Deutung, die als eine Einladung verstanden werden kann, das Peinliche als komischen Unernst zu rahmen, anschließen. Mit humorvollen Äußerungen lädt der Betroffene die anderen Interaktionsteilnehmer ein „to treat the story as one where laughter is appropriate“ (Billig 2001: 36).

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Da der relativierende Charakter des Humors bereits in den Ausführungen zum vergnügten Lachen herausgestellt worden ist, möchte ich an dieser Stelle auf seine besondere Variante als Ironie eingehen. Folgender Fall humorvoller Selbstironie mag ihre relativierende Funktion in einer peinlichen Situation veranschaulichen: „Eine wahre Begebenheit, bei der ich selbst zugegen war: Die internationale Vertriebs- und Marketingkonferenz ist im vollen Gange. Einer der teuer bezahlten Berater des Consultingunternehmens ist mitten in seiner Präsentation. Seine beiden Kollegen sitzen rechts von ihm, am Ende der in U-Form aufgestellten Tische. Der ältere davon kippelt geistesabwesend auf den hinteren Stuhlbeinen. Plötzlich fällt er mit Karacho hintüber [sic]. Alle anwesenden Manager reißen den Kopf herum. Es herrscht erschrockene Stille. Als sie sehen, dass der Berater wie ein kleiner Schuljunge vom Stuhl gefallen ist, explodiert der Raum in schallendes Gelächter. […] Dieser Unternehmensberater ist aufgestanden, hat sich, während das Gelächter über ihn hinwegdonnerte, langsam und demonstrativ die Kleidung abgeklopft. Als sich der Raum neugierig etwas beruhigte, sagte er trocken: ‚Das kann ich zweimal hintereinander – ohne mir dabei wehzutun!‘ Was für eine coole Reaktion! Sofort ging das kollektive Lachen wieder los, aber jetzt lachte der ganze Raum anerkennend mit dem Berater. Souveräner hätte er diese wirklich peinliche Situation nicht lösen können!“ (Härter 2013: 7f.)

Die Situationsbeschreibung erfolgt zwar aus der Außenperspektive eines Beobachters, doch ist anzunehmen, dass dem Betroffenen selbst die Situation zumindest ein wenig peinlich war. Diese Peinlichkeit kann er jedoch überwinden, indem er das laute Gelächter, das ein unmittelbares Sich-Mitteilen ohnehin kurzfristig verunmöglicht, für sich nutzt, um über den peinlichen Moment hinwegzukommen und sich neu zu sortieren: Die Selbstberührungen der Ordnungsbewegungen des demonstrativen und langsamen Abklopfens der Kleidung deuten darauf hin, dass er einen Augenblick benötigt, um den Schrecken und die kurzfristig eingebüßte Selbstdistanz zu überwinden, bevor er sich der äußeren Kommunikationssituation wieder zuwenden kann. Dabei gelingt es ihm, das peinliche Missgeschick, das ihn als erfahrenen Berater wie einen „Schuljungen“ aussehen lässt, durch eine selbstironische Bemerkung zu relativieren. Mit der Äußerung „Das kann ich zweimal hintereinander – ohne mir dabei wehzutun!“ schließt er humorvoll an seinen Rollenfehler an. Die Trockenheit des Kommentars transformiert die Bedeutung der „SchuljungenAngeberei“ in die Sphäre der Simulationsironie: Der Sprechende teilt eine Meinung oder eine Erwartung mit, ohne diese selbst zu meinen oder zu vertreten – der ironische Ton, der kommunikative Kontext bringen seine eigentliche Einstellung gegenüber dem Äußerungsinhalt jedoch deutlich zum Ausdruck (vgl. Schmitz 1991: 192). „Daher gehört ebenfalls notwendig zur Ironie, daß die genannte Bedeutung prinzi-

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piell erkennbar ein Echo88 eines Gedankens (Gefühls etc.) sein muß, den entweder der Sprecher selbst gehabt oder ausgedrückt hat (Selbstironie) oder ein anderer als der Sprecher gehabt hat, haben könnte oder geäußert hat.“ (Ebd. 193) Das Erkennen der eigentlichen Bedeutung wird dadurch erreicht, dass ironische Äußerungen einem Schema folgen, das von den Hörern als „hohles Schema“ und damit als Scheinurteil entlarvt werden kann, wozu meist schon das auffällige Fehlen einer gewissen emotionalen Involviertheit des Sprechers genügt (vgl. Preukschat 2007: 316) – die eben jene allbekannte „Trockenheit“ ironischer Kommentare ausmacht. Weitere Mittel, um das hohle Schema eindeutig als ein solches wirken zu lassen sind Aufbauschung, Verzerrung, Darstellung in übertriebener Größe oder eine Verstärkung der Hohlheit durch Handbewegung, Körperspannung und unglaubwürdiges Lächeln (vgl. ebd.). Weil der Ironiker so tut, als habe das Ironisierte (bei der Selbstironie ist er dies selbst) eine bestimmte Norm erfüllt, greift er beim Ironisieren die echte Überzeugung des jeweils Ironisierten auf, „d.h. dessen ‚erfülltes Schema‘; indem er gleichzeitig dies nicht ‚meint‘, sondern nur erkennbar [Herv. i.O.] zum Schein tut, stellt er diese Überzeugung gleichzeitig als ‚hohl‘ dar“ (ebd. 324). Auf diese Weise wird ein Äußerungsinhalt gezielt herabgesetzt, bespöttelt, für unsinnig erklärt oder verunglimpft, wobei diese Absicht im Sinne des gleichgültigen Dahinsagens dissimuliert werden muss. Dieser Wirkungszusammenhang der Ironie führt dazu, dass „der Hörer dem Sprecher eigene Meinungen, Gedanken etc. als (zusätzlichen) Meinungsinhalt zuschreibt, die dem Sinn der sprachlichen Äußerung entgegengesetzt sind“ (Schmitz 1991: 192). So wird der Sinngehalt der Äußerung des Beraters durch Selbstironie verkehrt – er legt den anderen mit seiner Äußerung dar, dass er eben kein angeberischer Tölpel, sondern ein erfahrener und souveräner Berater ist. Er führt sein Aus-der-Rolle-Fallen auf ironischer Ebene fort, indem er das abgegebene Bild mit einer passenden Prahlerei quittiert, die aber erkennbar „hohl“ gemeint ist, und macht sich so gleichermaßen zum Objekt und Subjekt des Spottens. Zugleich bringt er auf der Inhaltsebene durch seine Bemerkung zum Ausdruck, dass er die Lachreaktionen der anderen keineswegs als herabsetzend oder unangemessen empfindet, da sein Sturz weder selbstbildgefährdend noch tragisch ist („ohne mir dabei wehzutun“ bekommt hier eine doppelte Bedeutung). Das Anbieten

88 Mit „Echo“ ist das in den Akt des Ironisierens eingebaute Moment der Distanznahme gemeint, das unter anderem als ‚Indirektheit‘, ‚Nicht-Gemeintsein‘, ‚Echohaftigkeit‘ des Gesagten bezeichnet wird, und das sowohl die Distanz des Sprechers zum ironisierten Gegenstand (qua simulatio) als auch zum Akt der Kommunikation selbst (qua dissimulatio) beinhaltet (vgl. Preukschat 2007: 389).

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einer Fortsetzung („Das kann ich zweimal hintereinander“) verstärkt diese Rahmung. Im obigen Beispiel handelt es sich um Ironie mit hohem Evidenzgrad, d.h. um rhetorische Ironie, die als Ironie verstanden werden will, um eine „simulatio“. Preukschat bezeichnet diese Form der Ironie gemäß Jancke als eine Mischung aus „Offenbarungsironie“ und „Versteckironie“, bei der den Hörern durch das Verbergen von etwas zugleich etwas anderes offenbar werden soll, indem ein erkennbar zum Schein vollzogener Akt vollzogen wird (vgl. Preukschat 2007: 316). Dabei steht die Versteckironie jedoch stets im Dienste der Offenbarungsironie und hat die Aufgabe, „bestimmte subjektive Überzeugungen und Empfindungen des Ironikers zu dissimulieren, um nicht den Anschein der Objektivität des ironisch Gesagten zu gefährden“ (ebd. 316). Daher lässt sich der Mehrwert der Ironie in solchen Fällen auch nicht in kommunikativen Rückzugsmöglichkeiten verankern, verfolgt der Sprecher doch die Absicht, dem Hörer durch seine Äußerung etwas Versteckes offenbar werden zu lassen, was er dann nicht in glaubwürdiger Weise einfach wieder zurücknehmen kann (vgl. ebd. 308). Von solchen Ironisierungsmaßnahmen, die von anderen als Ironie begriffen werden sollen, lässt sich die Ironie mit geringem Evidenzgrad, die „reine Versteckironie“ bzw. „dissimulatio“, ein absichtliches Nichtgesehen-sein-Wollen, differenzieren. Diese dient dazu, das Verborgene des echten Gefühlsstroms verborgen zu halten und das Nicht-so-Gemeintsein zu verstecken, ist also weniger Relativierungs- als vielmehr Maskierungsmaßname. Relativierung durch Erklärung Durch das Mitteilen zusätzlicher Informationen kann Peinlichkeit in ein neues Deutungsschema gesetzt werden, das bei Erklärungen im Gegensatz zu humorvollen Anschlüssen allerdings weiterhin der Welt des rationalen Ernstes angehört. Im Vergleich zu Entschuldigungen, die sowohl die Verantwortlichkeit für den jeweiligen „Verstoß“ als auch dessen Schwere in voller Gänze anerkennen, dienen Erklärungen gerade dazu, diese beiden Bedeutungsdimensionen zu relativieren. Dabei können Erklärungen als Verantwortungsrelativierungen von Erklärungen als Ereignisrelativierungen unterschieden werden. Für Verantwortungsrelativierungen ist bezeichnend, dass man „try to shift some of the blame for an unwanted predicament someplace else, reducing their apparent responsibility for the embarrassing events. There are two general ways to do this. People can claim that the event were unintended and/or uncontrollable […] or that extenuating circumstances were at fault […].“ (Miller 1996: 167) Jedoch hat der Versuch der Klärung, der Enthüllung und der Rückführung auf die sachlichen Grundlagen auch seine Risiken, denn er kann zu immer neuen Fragwürdigkeiten und Klärungsbedürftigkeiten führen (vgl. Giesen 2010: 16).

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Bei Ereignisrelativierungen erkennt der Betroffene seine Verantwortlichkeit für das Ereignis an, „but assert it’s not so bad, downplaying the negative ramifications of the event“ (Miller 1996: 167). Je nachdem, welche Bedeutung die anderen dem Ereignis situativ beimessen, kann auch diese Strategie zu neuen Peinlichkeiten führen. So wird eine Blamage für den Gastronomen Michael Käfer erst dadurch richtig peinlich, dass er versucht, sich mit einer Ereignisrelativierung herauszureden. „Vor vielen Jahren war ich bei einer Sektprobe mit zwanzig hochkarätigen Winzern und Weinkönigen. Wir sollten als Fachleute Sekt kosten. Die Flaschen waren verhüllt, sodass man die Marken nicht erkennen konnte. Die Platzpunkte gingen von eins bis zwölf. Als die Hülle meiner Nummer eins abgezogen wurde, wollte ich auf der Stelle sterben. Es war der billigste Sekt von allen, irgendein schrecklicher Faber-Castell. Ich war der einzige, der komplett danebengegriffen hatte. Die anderen hatten völlig andere Bewertungen. Es waren ausgezeichnete Jahrgangssekte dabei. Alle haben mich sehr merkwürdig angeschaut. Das Schlimmste war, dass ich dann auch noch versucht habe, mich rauszureden, er schmecke doch eigentlich ganz gut und man gebe immer zu viel auf Marken.“ (Käfer in Schnippenkoetter 2004: 96f.)

Die Erklärungen bezüglich seiner Fehleinschätzungen, die dazu dienen sollen, seinen Missgriff zu relativieren, diskreditieren Käfer in der Situation nur noch stärker, da er sich dadurch als schlechter Verlierer zeigt, der – indem er die Qualität von Marken in Frage stellt – das anzweifelt, wofür er als Geschäftsführer eines renommierten Feinkost-Hauses ja selbst mit seinem Namen steht. Erklärungen, bei denen die persönliche Verantwortlichkeit übernommen, zugleich aber versucht wird, den Normverstoß zu relativieren, scheinen im Alltag interessanterweise weniger erfolgsversprechend zu sein als Erklärungen, bei welchen die Verantwortlichkeit für ein Ereignis zu Teilen negiert wird. „Ducking some of the blame with a good excuse typically makes a better impression on an audience than taking the blame and trying to justify one’s actions to others.“ (Miller 1996: 167) Sich selbst zum naiven, hilflosen oder zufälligen Opfer der situativen Umstände zu stilisieren, statt öffentlich in Frage zu stellen, ob und inwiefern überhaupt eine wirkliche Regelverletzung vorliege, hat wohl deshalb den größeren Darstellungserfolg, weil es nicht verlangt, die Gültigkeit sozialer Ordnungsmaßstäbe selbst zu hinterfragen. Der Verbrecher, der behauptet, er sei zu seinem Vergehen angestiftet worden, in der Situation unzurechnungsfähig gewesen usw., wird gemeinhin mehr Verständnis erhalten als jener, der behauptet, das Vergehen selbst wäre doch gar nicht so schlimm, viele andere täten es schließlich auch, es sei ja niemand ernsthaft zu Schaden gekommen etc. Bei peinlichen Situationen scheint Ähnliches zu gelten – so ist die allgemeine Bereitschaft, Erklärungen zu akzeptieren, die die Gültigkeit sozialer Regeln, Erwartungen und Normen in Frage stellen, die man selbst für verbindlich hält, ungleich geringer als jene, Verschiebungsversuche von Verant-

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wortlichkeit gelten zu lassen: Erstere rüttelt an den Fundamenten der Werte und Normen sozialen Zusammenlebens, wohingegen letztere angesichts übermächtiger Institutionen und undurchschaubarer Handlungsketten zunehmend an Überzeugungskraft gewinnt (vgl. Dreitzel 1983: 154). Relativierung durch hohe Normkonformität Eine weitere Relativierungsstrategie sind Manöver der eigenen Selbstaufwertung, bei denen man unmittelbar nach der Peinlichkeit durch sein Verhalten zum Ausdruck bringt, dass der Normbruch eine absolute Ausnahme war. Dies realisieren Betroffene, indem sie Dinge tun oder sagen, die eine besonders große Konformität mit jenen Selbstbildstandards und -ansprüchen zeigen sollen, die zuvor verletzt worden sind. Die falsche Antwort oder ein intellektueller Fehler werden dann z.B. situativ durch ausschweifende Expertenberichte oder besonders intellektuelle Kommentare, das Stolpern durch betont lässiges und aufrechtes Gehen nach dem Sturz relativiert. Solche Handlungsstrategien dienen dazu, den anderen zu zeigen, „daß die einem wegen des Mißgeschicks zugeschriebenen Eigenschaften voreilig oder einfach falsch sind“ (Artel/Derksen 1999: 166). Entsprechendes Benehmen zielt also darauf ab, dass andere ihren möglicherweise schlechten Eindruck vom Betroffenen eigeninitiativ umdeuten sollen, indem für sie offensichtlich wird, dass er nicht der ist, für den sie ihn kurz gehalten haben. 4.4.4 Korrektive Korrektive Handlungen sind Entschuldigungsmaßnahmen, bei denen man – im Gegensatz zu Erklärungen – die volle Verantwortung für sein Verhalten übernimmt, zugleich jedoch zu erkennen gibt, dass man es bedauert. Zu einer vollständigen Entschuldigung gehören dabei „verschiedene Momente: man zeigt sich verwirrt und bekümmert; man gibt zu verstehen, daß man weiß, welches Verhalten von einem erwartet wurde, und daß man die Anwendung negativer Sanktionen für notwendig hält; man verurteilt und verwirft in seinen sprachlichen Äußerungen die falsche Verhaltensweise bei gleichzeitiger Verurteilung des Selbst, das sich so verhielt; man nimmt Partei für die richtige Verhaltensform und verkündigt, man werde sich von nun an an diese halten; man tut Buße und leistet freiwillig Entschädigung.“ (Goffman 1982: 162)

Dabei haben Entschuldigungen neben der Funktion, durch Selbstverurteilung und Reue öffentlich darzulegen, dass ein bestimmtes Verhalten keineswegs den persönlichen Selbstbildstandards und -erwartungen entspricht, noch einen weiteren wesentlichen Nutzen:

156 | P EINLICHKEIT – FORMEN UND F UNKTIONEN „Die Bereitschaft des Missetäters, Selbstkritik zu üben, hat bestimmte, nicht ohne weiteres deutliche Vorteile. Würden andere ihm gegenüber tun, was er bereitwillig selber tut, sähe er sich möglicherweise gezwungen, darin eine Beleidigung zu sehen und Vergeltungsaktionen zu unternehmen, um seinen moralischen Wert und seine Autonomie zu wahren.“ (Ebd.)

Indem man selbst das eigene Verhalten verwirft, schützt man sich zugleich in vielen Fällen davor, dass andere sich gezwungen sehen, entsprechende Sanktionierungsmaßnahmen vorzunehmen, die als Angriff oder Beleidigung das öffentliche Selbstbild zusätzlich gefährden könnten. Zugleich käme man durch eine solche Fremdsanktionierung in die missliche Lage, darauf nun souverän reagieren zu müssen: Hat man sich selbst taktlos oder undiplomatisch verhalten und wird nun dafür gerügt, erscheinen weder eine Verteidigung des eigenen Verhaltens noch ein Gegenangriff angemessen. Doch die Alternative, die fremde Kritik oder Belehrung demütig hinzunehmen, scheint oft ebenso wenig angebracht, da dies wiederum zu unterwürfig wirken könnte. Neben sprachlichen Entschuldigungen, die Goffman als den rituellen Teil von Korrektiven betrachtet, gehören zu korrektiven Handlungen auch Maßnahmen restitutiver Art, welche die von der Regelverletzung betroffene Personen (materiell) entschädigen (vgl. ebd. 165). Hierzu zählen z.B. das Aufwischen eines verschütteten Getränks in einer fremden Wohnung, die Übernahme von Reinigungskosten für den verschmutzten Teppich oder dessen Ersetzen durch einen neuen. Restitutive Korrektive können mit Relativierungsmaßnahmen durch hohe Normkonformität zusammenfallen, sofern die entsprechende öffentliche Selbstaufwertung mit Ehrerbietung gegenüber einer anderen Person verbunden ist, deren Ansehen zuvor gekränkt wurde (z.B. sich betont höflich gegenüber jemandem verhalten, zu dem man zuvor taktlos gewesen ist). In vielen Fällen werden rituelle von restitutiven Korrektiven begleitet. Der Schriftsteller und Zeichner Robert Gernhardt berichtet von einer peinlichen Erfahrung, welcher er mit korrektiven Maßnahmen begegnet: „Ein peinliches Ereignis, an das ich mich mittlerweile sogar ganz gerne erinnere, weil es so etwas wie eine Pointe hat, ist mir vor Jahren in Frankfurt widerfahren. […] Eines Abends setzte ich mich, von einer Lesereise zurückgekehrt, in ein Taxi und sagte dem Taxifahrer – womöglich etwas nuschelig: Neuhausstraße. Wie die Dinge lagen, hatte der Taxifahrer offenbar Neuhofstraße verstanden. Er setzte sich in Bewegung und nach und nach nahm ich wahr, dass wir in die falsche Richtung fuhren. Der Tag war anstrengend gewesen für mich, und ich begann mich zu erregen. Ich fragte, wohin er fahre, das sei doch die falsche Richtung. Er erwiderte, ich hätte doch Neuhofstraße gesagt. Er war ein ausländischer Mitbürger, konnte sich grammatikalisch nicht ganz richtig artikulieren. Ich wurde noch erregter, meinte: Ich habe ja wohl ganz klar und deutlich Neuhausstraße gesagt, und ich erwarte, wenn ich Neuhausstraße sage, auch in die Neuhausstraße gefahren zu werden. Da sagte er auf einmal etwas, was

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mich vollkommen beschämte: Er sagte zu mir: ‚Was rege Sie sich auf, Chef? Lebe is kurz. Stelle wir Uhr ab. Fahre wir Neuhausstraße. Schluss mit Streitmache. Friede is besser‘ oder so etwas geradezu Biblisches. Den Rest der Fahrt war ich damit beschäftigt, mich zu entschuldigen. Die Fahrt währte noch eine ganze Strecke. Ich fand gar nicht so viele Worte, wie ich brauchte, um mich über die volle Distanz hinweg zu entschuldigen. Angekommen, gab ich ihm ein sehr gutes Trinkgeld.“ (Gernhardt in Schnippenkoetter 2004: 67f.)

Interessanterweise ist es in der beschriebenen Situation gerade das freundliche Verhalten eines anderen als Reaktion auf das eigene, das dem Fahrgast peinlich ist, ja ihn sogar beschämt. Sein persönlicher Situationsentwurf, der auf der diskriminierenden Fremdannahme beruht, dem anderen sei als Ausländer, der kein gutes Deutsch spreche, fraglos die Schuld am Missverständnis zuzuschreiben, führt zusammen mit seiner gereizten Stimmungslage dazu, den Fahrer wie einen dummen Diener zu maßregeln. Doch der Fahrer offenbart durch seine großmütige Entgegnung, dass er keinesfalls diesem negativen Fremdbild entspricht. Sein über alle Befindlichkeiten erhabener und großzügiger Lösungsvorschlag lässt die Aufgebrachtheit des Fahrgastes völlig fehl am Platz und kleinlich erscheinen. Die Widerlegung seiner situativen Fremdannahmen ist ihm insofern peinlich, als sie ihm eigene Selbstbilddiskrepanzen, etwa unangemessene Unfreundlichkeit auf der institutionellen sowie diskriminierendes Vorurteilsdenken auf der persönlichen Ebene, unmittelbar vor Augen führt. Korrektive Handlungen mehrmaligen Entschuldigens sowie ein hohes Trinkgeld sollen anzeigen, dass er sein Fehlverhalten in voller Gänze anerkennt, selber verwirft und sein Charakter nicht dem Bild entspricht, das er zuvor abgegeben hat. Im kommunikativen Alltag vermischen sich korrektive Handlungsmaßnahmen meist mit Erklärungen: Eine Bitte um Entschuldigung geht dann z.B. mit der Erklärung einher, dass das Verhalten keine Absicht gewesen sei, man sich unter normalen Umständen nicht so verhalten würde, von falschen Voraussetzungen ausgegangen sei etc. Die Kombination von Korrektiven und Erklärungen scheint mir ein für peinliche Situationen besonders charakteristischer Anschluss zu sein: In ihrer kommunikativen Verschmelzung entwerten sich zwar beide Strategien zu Teilen, doch genau darin spiegelt sich das verbreitete Bestreben des Betroffenen wider, dem peinlichen Ereignis eine doppelte bzw. mehrschichtige Bedeutung zu geben: Er möchte sein Verhalten zu Teilen entschuldigen, aber zugleich mit Erklärungen seine Schuld – und damit die Bedeutung der Entschuldigung – zu Teilen relativieren. Er leistet Buße, gibt aber auch zu erkennen, dass das Verhalten, für das Buße geleistet wird, nicht wirklich etwas mit ihm zu tun hat. Auf diese Weise versucht er, die Peinlichkeitsbedeutung kommunikativ dort zu verankern, wo sie situativ so oft entspringt: irgendwo zwischen Schuld und Zufall, zwischen persönlicher Verantwortung und Nicht-Zurechenbarkeit, zwischen Tätertum und Opferrolle.

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4.4.5 Maskierung Manchmal begegnen Betroffene peinlichen Selbstbilddiskrepanzen, indem sie das jeweils innere Defiziterlebnis durch Maskierungsmaßnahmen zu widerlegen suchen. Im Gegensatz zu Relativierungen oder Korrektiven, bei denen sie ein von sich abgegebenes Bild zurechtrücken, indem sie es in ein neues Bezugsschema stellen, wodurch sie Bedrohungen oder Verletzungen des Selbstbildes öffentlich anerkennen, sollen Maskierungen eine Verletzung des Selbstbildes mit aller Kraft widerlegen. Dabei werden Verletzungen nicht wie bei Verleugnungen schlichtweg verdeckt, überspielt oder ignoriert, sondern durch Selbstbehauptung abgewehrt. „Lächerlichkeit, Blamage und Gesichtsverlust können zu höchst traumatischen Selbstwerteinbußen im Sinne der Zerstörung des Ich-Ideals […] führen […], sie können aber auch durch Umdeutung zu Überkompensation in Trotz, Rebellion und Selbstbehauptung zwingen.“ (von Moos 2001a: XVII) Um sich entsprechend zu behaupten, wechselt der Betroffene in eine Haltung bzw. Selbstdarstellung, die seinem momentanen inneren Zustand konträr gegenübersteht, um „sich keine Blöße zu geben, seine Gefühle zu bemänteln und sich falscher Scham zu entziehen“ (Brugmans 1919: 216). Empirisch liegen Maskierungs- und Verleugnungsstrategien oft eng beieinander und lassen sich wohl nicht immer eindeutig unterscheiden. Dennoch veranlassen die Verschiedenheiten zwischen Maßnahmen einer Verbergung von Peinlichkeit und solchen ihrer Abwehr dazu, sie als zwei Strategietypen voneinander zu differenzieren. Bei Maskierungsstrategien lassen sich verschiedenste Dimensionen von „Sprüngen ins Gegenteil“ der inneren Verletzung finden. Indem der Peinlichkeitsbetroffene „sich überlegen, steif, unnahbar, arrogant, hochmütig, mokant, zynisch, schnoddrig gibt, rückt er in eine sozialpsychisch aktive Rolle ein und drängt den anderen in die Passivität, intendiert er sozialphysische Trennung, aber nicht in Gestalt seines Rückzuges, sondern des Rückzugs des anderen“ (Hellpach 1913: 33). So versucht der Gedemütigte durch Zynismus sein Selbst zu behaupten, der Unterlegene möchte durch Fremdabwertung überlegen erscheinen, der Bloßgestellte springt, um seinen Verbergungsdrang zu verbergen, in die nächste Selbstexponierung, der Festgelegte bzw. Erkannte entzieht sich seiner Festlegung durch mehrdeutiges oder rätselhaftes Verhalten usw. Im Folgenden möchte ich grundlegende Maskierungsakte der Peinlichkeit näher beschreiben. Maskierung durch Hochmut, Exponierung, Unverschämtheit, Angriff und Zynismus Vor allem in Kontexten, in denen Peinlichkeit durch Kritik, Beleidigungen oder Spott anderer ausgelöst wird, tendieren Betroffene dazu, ihr peinliches Getroffensein nach außen hin zu widerlegen, indem sie in das genaue Gegenteil ihrer inneren

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Verletzungserfahrung springen, um andere über ihr Getroffensein zu täuschen. Daraus resultiert beim Betroffenen klassischerweise eine Überkompensation als übersteigerter Ausgleich des jeweiligen Mangels. Er „versucht zu kompensieren und pflegt sich dabei mit Recht in entgegengesetzter Richtung zu bewegen. […] [D]er Verlegene wird arrogant, er erheuchelt kühle Gleichgültigkeit und übertriebene Sachlichkeit, wodurch mehr eine pedante als eine stolze Haltung nachgeahmt wird.“ (Brugmans 1919: 216) Eine weitere Maskierung von Peinlichkeit besteht darin, ins Gegenteil des Verbergungs- und Verhaltungsdranges zu springen: Indem er sich unverschämt, roh oder taktlos verhält, muss der Betroffene zwar mit negativen Gegenmaßnahmen und Fremdbewertungen rechnen, gerät jedoch – so denkt er – keinesfalls in den Verdacht eigener Schamhaftigkeit oder Selbstbilddiskrepanz. Ein entsprechender „Bluff“ dient in vielen Fällen nicht nur dazu, das Bild vor anderen zu manipulieren, sondern wird zugleich auch zur eigenen Selbsttäuschung, vor allem dort, wo Peinlichkeit an der Schamgrenze steht und zur existentiellen Selbstbedrohung wird.89 „Statt nämlich seinen Makel und sich selbst zu verbergen, verbirgt er nun seine Scham, ja seinen Verbergungsgestus. Er springt in eine, der Scham direkt entgegengesetzte Attitüde, z.B. in die der ‚Wurschtigkeit‘ oder der Unverschämtheit; er reißt sich gewissermaßen, um sein sich-Schämen zu verstecken, das Hemd vom Leibe, womit er oft nicht nur denjenigen täuschen will, vor dem er sich schämt, sondern auch sich selbst […] In anderen Worten: Um seine Verbergungslust zu verbergen, entschließt sich der Verschämte, sich in die Ebene der

89 Entsprechendes findet man auch in Form permanenter Exponierungen, welche sich im Aussehen oder in bestimmten Verhaltenscodes niederschlagen. Saehrendt weist darauf hin, dass das persönliche Äußere in manchen jugendlichen Subkulturen zur Abwehr der eigenen Schamhaftigkeit andere absichtlich schockieren soll. „Die eigene Hässlichkeit, Anzüglichkeit und Obszönität beschämen nun die anderen, und zwingen die Betrachter zum peinlich berührten Wegschauen – ein Pflock, der durch das Ohr getrieben wurde, eine Tätowierung mitten im Gesicht, ein kahl geschorener Schädel. Provozierende Schamlosigkeit und auftrumpfende Trotzigkeit können somit auch Reaktionen auf eine übergroße Schamanfälligkeit sein.“ (Saehrendt 2012. 250) Dieser Zusammenhang wird freilich von den meisten Beobachtern, die sich kopfschüttelnd fragen, ob denjenigen, die „so herumlaufen“, denn ihre Schamhaftigkeit vollkommen abhanden gekommen sei, meist nicht bemerkt, da Schamhaftigkeit sich hier durch ihr Gegenteil maskiert: „Die perfekte Maske der Scham, ihr Königsweg, ist natürlich die Schamlosigkeit. […] Schämen Sie sich für Ihren Körper? Tätowieren Sie sich bis unter die Achseln und ziehen Sie bei jeder Gelegenheit das Hemd aus. Ab 15 Grad geht nackte Haut im Park. Ziehen Sie die Blicke, die Sie fürchten, einfach selbst auf sich. Schon haben Sie den Eindruck, die Dinge zu kontrollieren.“ (Batarilo 2013: 69)

160 | P EINLICHKEIT – FORMEN UND F UNKTIONEN normalsten Sichtbarkeit zurückzubegeben. ‚Wer sich‘, so kalkuliert er, ‚nicht verbirgt, wer sichtbar bleibt, der ist ja der Scham (und damit des Makels) nicht verdächtig.‘“ (Anders 1987: 29)

Gegenangriffe wie Beleidigungen und Beschuldigungen, in manchen Fällen auch körperliche Gewalt, sind eine weitere Maskierungsmaßnahme, vor allem dann, wenn die Peinlichkeit aus Sicht des Betroffenen durch andere verschuldet worden ist (vgl. Miller 1996: 168). Solche Fremdabwertungen sind zwar Selbstbehauptungsmaßnahmen, doch haben sie nicht selten einen gegenteiligen Effekt, da sie von anderen meist als (zusätzlicher) Kontrollverlust interpretiert werden, der einer coolen oder überlegenen Reaktion konträr gegenübersteht. So exponiert der Betroffene durch einen aggressiven Angriff auch immer die Schwere seines Getroffenseins, welche so intensiv sein muss, dass sie nicht mit Contenance zu überwinden ist. „Wiggo“, der Protagonist in Uwe Tellkamps Roman „Der Eisvogel“ (Tellkamp 2008) ist ein hochintelligenter, gebildeter und sehr stolzer junger Mann, der seinen Unterhalt allerdings vorübergehend als einfacher Laborgehilfe bestreiten muss. Ohne sich vorher anzukündigen, besucht ihn ein Freund an dieser Arbeitsstelle und löst so eine peinliche, für Wiggo an der Grenze zur Beschämung stehende Situation aus, bei der er seine Peinlichkeitsbetroffenheit durch vulgäre Beschimpfungen zu maskieren versucht. „Ich sah die Milchglastür und dann den Schatten dahinter, die Klinke wurde heruntergedrückt, die Tür öffnete sich. Wiggo stand mit dem Rücken zu mir; er trug einen Laborkittel und in den Händen ein Tablett mit Petrischalen und Glaskolben. Er hatte die Tür geöffnet und wartete jetzt. Eine Frau stand vor ihm und gab ihm Anweisungen, in ziemlich schroffem Ton; er verdeckte sie halb. Wenn Sie damit fertig sind, gehen Sie hinüber ins Zoologische Institut, waren Sie dort schon einmal? Finden Sie das? Und holen die Proben aus dem Brutschrank zwo. Arbeitsgruppe Schmitt. Mit Doppel-t. Das steht auch draußen dran am Brutschrank. Wiggo stand sehr aufrecht, den Ellenbogen auf der Klinke. Ich wollte dem Impuls folgen, der mein erster gewesen war, als ich ihn hatte die Milchglastür öffnen sehen: zu gehen; ihn und damit auch mich gar nicht erst in die Situation kommen zu lassen, die für ihn nur eine im höchsten Maß peinliche sein mußte; aber es war zu spät zum Umkehren. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis er sich umgedreht und mich dann gesehen haben würde. Der Flur war zu lang, als daß ich hätte Wiggos Blick noch ausweichen können, und außerdem hatte mich die Frau schon gesehen. Zu wem möchten Sie bitte? Hier ist normalerweise Zutritt verboten, haben Sie das Biohazard-Schild nicht gesehen an dem Durchgang vorn? Ich konnte mich an einen solchen Durchgang und ein entsprechendes Schild nicht erinnern – Nein, entschuldigen Sie. Ich möchte zu Herrn Ritter, sagte ich und nickte in Wiggos Richtung, der sich umgedreht hatte und mich erstarrt, beinahe entsetzt, ansah, als hätte ich eine unverbrüchliche, unausgesprochene Übereinkunft mit meinem Erscheinen an diesem Ort gebrochen. Die Frau runzelte die Stirn. […] Es gibt keinen Herrn Ritter, sagte sie. Wer soll das sein, bitte? Ich kenne kei-

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nen Wissenschaftler oder Laboranten dieses Namens. Da muß es sich wohl um einen Irrtum handeln. Ich schüttelte den Kopf und machte eine Geste zu Wiggo hin, der das Tablett mit den Glaskolben und Petrischalen wie einen Schutzschild vor seiner Brust hielt und errötet war. Die Frau stutzte kurz, nickte, sagte knapp: Ach so. Wiggo senkte den Blick. Ein Muskel in seinem Gesicht zuckte, dann hob er den Kopf, streckte verletzt und zugleich stolz das Kinn hervor, mied meinen Blick. Dann wiederholte die Frau, sie konnte dabei nicht sehen, daß er die Augen zusammenkniff: Also denken Sie bitte daran. Zoologisches Institut. Brutschrank zwo. Römisch zwo. Arbeitsgruppe Schmitt, - Mit Doppel-t, schon verstanden, Frau Professor, preßte Wiggo hervor und ging, während sie noch sprach, auf mich zu, mich dabei mit einer knappen und befehlenden Kopfwendung bedenkend. – Habe ich dir nicht gesagt, daß ich nicht möchte, daß du mich an meiner Arbeitsstelle besuchst? fuhr Wiggo mich an, sichtlich wütend und erregt. Dieses blödsinnige Weibsstück, die traut mir wahrscheinlich nur das Hirn einer Blindschleiche zu, die redet mit mir wie mit einem Irren, murmelte er haßerfüllt, während wir den Flur zum Fahrstuhl vorliefen. Biohazard, pah, wo soll das denn hier sein, diese Mikrobiologen pfriemeln doch bloß an ein paar Hefepilzen herum, aber wahrscheinlich denkt sie, daß wir Mutanten mit diesem Wort eh nix anfangen können, Professorin, pah, die hat ’ne feuchte Wohnung und bestimmt ’ne Backpflaume als Möse, die Alte braucht’s mal wieder! stieß er hervor, es schien ihm gleichgültig zu sein, was ich davon hielt. […] Wiggo fluchte weiter. Mich überlief es heiß und kalt, zumal ich spürte, daß er nicht nur gegen diese Professorin, sondern auch gegen mich tobte, dagegen, daß ich ihn hier, in einer für ihn demütigenden Situation, angetroffen hatte […]. In diesem Moment wußte ich, daß er mich dafür hassen würde. Er würde nicht diese Professorin hassen, die ihn so gedemütigt hatte, jedenfalls nicht ausschließlich, sondern mich – weil ich ihn in dieser Situation gesehen hatte.“ (Ebd. 177ff.)

Persönliche Selbstbildstandards und -ansprüche Wiggos stehen seiner beruflichen Rolle als Laborassistent, der einfache Hilfsarbeiten ausführen und sich von einer Frau herumkommandieren lassen muss, diametral gegenüber. Verstärkt wird diese Selbstbilddiskrepanz durch den herrischen und herablassenden Ton der Professorin, die ihn sowohl seinen in ihren Augen niedrigeren Status spüren lässt, als auch ihre Überzeugung, dass damit zugleich ein niedrigerer Intellekt einhergeht. Diese Herabsetzung kumuliert situativ in ihrer Verleugnung seines Personenstatus’, als sie seinem Freund antwortet, dass sie keinen Herrn Ritter kenne. Damit spricht sie ihm ungewollt seinen Subjektstatus ab und verweigert das Mindestmaß an Wertschätzung gegenüber einer anderen Person. Die zusätzliche Erklärung, sie kenne keinen Wissenschaftler oder Laboranten dieses Namens, bringt ihre grundlegende Haltung zu Statusniedrigen – und damit zu Wiggo – zum Ausdruck. Denn indem sie kategorisch auszuschließen scheint, dass mit „Herrn Ritter“ eventuell auch ein Hilfslaborant gemeint sein könnte, verweist sie Wiggos Anwesenheit gänzlich in den Bereich objekthafter Nichtigkeit. Ihre Äußerung, dass ein „Irrtum“ vorliegen müsse, ist daher auch nur in bestimmter Hinsicht unzutreffend, denn einen „Herrn Ritter“ gibt es in ihrer Welt tatsächlich nicht, sondern nur einen namenlosen Labor-

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gehilfen. Insofern ist ihre falsche Behauptung zugleich die Formulierung einer für Wiggo schmerzhaften Wahrheit, die ihm vor seinem Freund, der zum Zeugen der degradierenden Situation wird, höchst peinlich ist. Mit seiner Anwesenheit auf Wiggos Arbeitsstelle hat dieser eine Norm verletzt, die erst im Moment ihrer Überschreitung Gültigkeit für ihn erlangte („als hätte ich eine unverbrüchliche, unausgesprochene Übereinkunft mit meinem Erscheinen an diesem Ort gebrochen.“). Durch seine Zeugenschaft hat er die Situation für Wiggo von einer privaten in eine öffentliche Demütigung verwandelt, die peinlich ist, weil sie bei ihm eine öffentliche Selbstwahrnehmung aktiviert, bei der er sich selbst von außen betrachtet und ins Verhältnis zu der Art setzt, wie er seinem Freund erscheint. Dabei wird die Diskrepanz zwischen beruflicher Rolle und Selbstbildansprüchen, die sich sonst verdrängen lässt, zu einem manifesten Bild, mit dem Wiggo durch das Erscheinen seines Freundes zwangsweise konfrontiert wird. Die Peinlichkeit zeigt sich bei Wiggo zuerst in typischen Signalen: in einem entsetzten und erstarrten Gesichtsausdruck, gefolgt von Erröten, Abwehrgesten („das Tablett mit den Glaskolben und Petrischalen wie einen Schutzschild vor seiner Brust hielt“) und Senken des Blickes. Dann macht er sich allerdings dazu bereit, eine gegenteilige Haltung einzunehmen („dann hob er den Kopf, streckte verletzt und zugleich stolz das Kinn hervor“), und versucht, seine Getroffenheit zu verbergen, indem er zum Angriff übergeht. Er maßregelt seinen Freund und beleidigt die abwesende Professorin sowie ihren Beruf auf zynisch-vulgäre Weise. Sein Zynismus ist Ausdruck des Versuches, sich trotz innerer Resignation vor der erkannten Demütigung noch selbst behaupten zu können. Dann, im weiteren Verlauf der Situation, gewinnt Wiggo zunehmend seine Selbstdistanz zurück, ihm gelingt sogar eine nachträgliche Umdeutung der Situation: „Ich konnte sehen, wie er sich allmählich wieder in den Griff bekam. Ja, sagte er, du hast recht. Das betrifft nicht mich. Sondern den kleinen, imbezillen Laborgehilfen, der mit mir rein zufällig Aussehen und Namen teilt. Du hast recht. Es hat nichts mit mir zu tun, nicht wirklich. Er lachte kurz und haßerfüllt, dieses hohe unterdrückte Lachen hallte schauerlich im leeren, halbdunkel liegenden Vestibül […].“ (Ebd. 180)

Hier zeigt sich besonders deutlich, wie Betroffene durch Rollendistanzierungen zurückfinden können zu einem sachlichen und weniger emotionalen Verhältnis gegenüber dem Situationsgeschehen. In diesem Falle deutet Wiggos hasserfülltes Lachen allerdings an, dass er das Erlebnis nicht als harmlosen Situationsirrturm zu relativieren vermag – vielmehr verlacht er zynisch die Verhältnisse, die ihn dazu zwingen, die Demütigung ertragen zu müssen.

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Maskierung durch Undurchschaubarkeit In peinlichen Situationen sehen Betroffene sich oft auf ein bewertbares Bild festgelegt oder wähnen sich in ihrem inneren Wesen erkannt. Möchten sie diesem Festgelegt- oder Erkanntwerden äußerlich entgegenwirken, können sie dies durch eine besonders geschickte Verwendung der „Versteckironie“ als dissimulatio erreichen. Um sich nicht auf ein bestimmtes (Selbst-)Urteil festzulegen, kann eine ironische Äußerung getroffen werden, die gar nicht darauf abzielt, von anderen unmissverständlich als Ironie begriffen zu werden. Sie zielt vielmehr „auf Herstellung und Erhaltung eines Mißverständnisses bis zur eventuellen Änderung der Situation, und ihr liegt die Annahme zugrunde, daß die Kundgabe der eigenen Absichten, Meinungen etc. eben nicht zur Erreichung des Handlungszieles führen würde, sondern die Gegenpartei nur mit Informationen versähe, die zum Nachteil des Sprechers werden könnten“ (Schmitz 1991: 197).

Das Scheinschema der Ironie wird hier nicht durch das bloße Verbergen des eigentlich Gemeinten vor Entlarvung geschützt, sondern durch ein Auffüllen desselben in Richtung größere Ähnlichkeit mit dem erfüllten Schema (vgl. Preukschat 2007: 318). Mit einer solchen Form der Ironie werden die anderen Situationsteilnehmer (vorübergehend) gezielt im Unklaren bzw. in der Schwebe darüber gehalten, wie die eigenen Äußerungen zu verstehen seien. Der Betroffene verweigert durch gezielte Mehrdeutigkeiten, sich zum situativen Geschehen klar zu positionieren und einen bestimmten Eindruck zu bestätigen oder zu widerlegen. Die Verwendung von Ironie mit geringem Evidenzgrad hat einen nicht unerheblichen Vorteil für Betroffene, denn „[m]it der richtigen Betonung hält man sich alle Möglichkeiten offen. Meint man das jetzt so oder nicht? Man muss es nicht einmal selbst wissen. Falls Widerspruch aufflackert, kann man flugs rückwirkend, zack, alle Verantwortungsseile kappen. War nicht so gemeint, klar.“ (Batarilo 2013: 138) Nicht selten dient Versteckironie neben der Vermeidung einer klaren Positionierung zu einem unangenehmen Thema auch der Verdeckung der eigenen Befindlichkeit. Werden Äußerungen wie „Das ist jetzt natürlich ein schwerer Schlag für mich.“ in bestimmter Weise geäußert, bleibt es für andere undurchsichtig, ob der Betroffene sich tatsächlich getroffen fühlt oder nicht. Reagiert dieser auf den Vorwurf, er möge sich doch bitte klarer ausdrücken, zudem mit einer erneuten Verwendung von Versteckironie, bewegt er sich bereits am Rande der Rätselhaftigkeit: Was er wirklich meint, kann durch die Mehrdeutigkeit seiner Äußerung sowie die Mehrdeutigkeit der darauf folgenden Äußerung über diese Mehrdeutigkeit nicht mehr bestimmt werden. Auf diese Weise kann man sich fast jedem Eingeständnis und Festgelegtsein vor anderen entziehen, verzichtet jedoch zugleich auch auf Selbstoffenbarung und deren öffentliche Anerkennung und

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Wertschätzung. „Das Tragende ist hier der Genuss an der eigenen Freiheit. Die allerdings kein Sicheinlassen auf bestehende Verhältnisse erlaubt und somit auch auf einer Abstraktion von eigenen Bedürfnissen beruht.“ (Preukschat 2007: 307) Insofern stellt die Verwendung von Versteckironie in peinlichen Situationen zwar eine äußerst wirksame Methode dar, jedes Getroffen- und Festgelegtsein öffentlich abzuwehren (vgl. Batarilo 2013: 140), nimmt einem aber gleichzeitig die Möglichkeit der Überwindung von Offenbarungs- und Affirmationsängsten und damit jede Chance auf Würdigung subjektiver Meinung und Individualität. Die eigene Rollendarstellung wird zu einem stets mehr- bzw. doppeldeutigen Maskierungsakt, bei dem, wird er virtuos gespielt, peinliche Fehler und Fauxpas vom Betroffenen direkt widerlegt werden, indem er nahezulegen scheint, dass er die Maske, die gerade verrutscht ist, gar nicht ernsthaft aufgesetzt habe, wobei auch diese Nahelegung durch eine bestimmte Betonung oder einen Äußerungsinhalt doppeldeutig wirkt. Eine weitere Strategie der Undurchschaubarkeit, die ich abschließend erwähnen möchte, besteht im absichtlichen Dumm- oder Verrücktstellen. Hier nehmen Betroffene es in Kauf, für beschränkt oder unzurechnungsfähig gehalten zu werden, um sich der Situation nicht stellen zu müssen. Sie geben dann absichtlich vollkommen unpassende oder unzusammenhängende Dinge von sich oder verhalten sich gezielt seltsam, um andere zu verwirren und ihnen so zu signalisieren, dass keine als selbstverständlich geltenden Verhaltenserwartungen oder -anforderungen an sie gestellt werden können. Zwar werden sie so für geistig zurückgeblieben oder gestört gehalten, doch zugleich erspart ihnen dies eine unangenehme Konfrontation, in der sie sich selbst erklären, verantworten, verteidigen usw. müssten. Manche Personen wenden diese Strategie regelmäßig in peinlichen Situationen an, sofern die anderen Situationsbeteiligten sie nicht kennen und wiedersehen werden.90 4.4.6 Affirmation Ein auf den ersten Blick seltsamer Umgang mit Peinlichkeit besteht darin, sie nicht als eine mit aller Kraft zu verleugnende, zu relativierende, zu korrigierende oder zu maskierende Störung zu behandeln, sondern als angemessenen oder erwünschten Situationsbestandteil. Ein solches Einverständnis kann als „Affirmation“ bezeichnet werden. Zwar sind Affirmationen grundlegend metakommunikativ, da sie keine

90 Ein mir berichteter Fall ist etwa folgender: Ein älterer Herr betritt eine Damenboutique und fragt dort nach der Herrenabteilung, worauf die verdutzte Verkäuferin entgegnet, dass dies ein Damengeschäft sei. Dieser Irrtum ist dem Mann sehr peinlich. Er reagiert mit seltsamem Gefasel und tut so, als sei er geistig „zurückgeblieben“, sodass die Verkäuferin sich rasch abwendet und er das Geschäft unbehelligt verlassen kann.

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spezifische kommunikative Strategie, sondern die Einstellung bzw. Haltung des Kommunikationsakteurs zu einem bestimmten Ereignis betreffen, doch sind sie in diesem Zusammenhang insofern interessant, als sie der typischen Aversion gegenüber Peinlichkeitserfahrungen geradezu konträr gegenüberstehen. Es ist wesentliche Voraussetzung affirmativer Umgangsweisen mit Peinlichkeit, dass diese ein vom Betroffenen akzeptiertes (von lat. „accipere“ für „gutheißen“, „annehmen“, „billigen“) kommunikatives Ereignis darstellt. Meines Erachtens kann sie nur dann empirisch akzeptiert sein, wenn sie in irgendeiner Weise einen Bestandteil sozialer Ordnung (als dem situativ Gebotenen und Erwarteten) bildet. Als ein solcher muss sie jedoch gezielt hervorgebracht werden. Aus kommunikationstheoretischer Perspektive stellt sich hier die Frage, auf welche Art dies geschieht und welche sozialen Bedeutungs- und Funktionszusammenhänge damit einhergehen können. Intentionale Peinlichkeitsherbeiführung Obwohl Peinlichkeit klassischerweise aus unerwarteten oder unerwünschten Ereignissen resultiert, kann gerade dieses Unerwartete oder Unerwünschte ganz bewusst herbeigeführt werden, „indem jemand einen anderen absichtlich in eine peinliche Lage bringt oder einen Sachverhalt so darstellt, daß er peinlich wirkt“ (Hallemann 1986: 249). Beispiele dafür sind Spott, Scherze und Streiche, das gezielte Zerstören von trügerischen Fassaden und öffentliche Degradierungsmaßnahmen (vgl. Gross/Stone 1976: 297). Solche Handlungsformen absichtsvoller Bloßstellungen durch andere als „intentional embarrassment“ (vgl. Sharkey 1991) oder „strategic embarrassment“ (vgl. Bradford/Petronio 1998) lassen sich von absichtlichen Selbstbloßstellungen als „intentional self-embarrassment“ (vgl. Sharkey 2004 et al.) unterscheiden. Letztere liegen laut Sharkey dann vor, wenn „an individual intentionally discomforts himself or herself by violating his or her presented self“ (ebd. 385). Denn im Abwägen verschiedener Handlungsziele kann die absichtliche Selbstbloßstellung (durch das Ansprechen oder Exponieren selbstbilddiskrepanter oder schamhaftigkeitsverletzender Selbstaspekte) zu einem Übel werden, das man bewusst in Kauf nimmt und einkalkuliert. „The loss of dignity, face, poise, control, and so on may be a small price to pay if one’s ultimate goal is solidarity, attention, winning, protecting another’s face, protecting one’s self against more devastating embarrassments, and so on.“ (Ebd. 394) In einer empirischen Studie konnte Sharkey die Handlungsziele, welche Betroffene durch strategische Selbstbloßstellungen zu erreichen suchten, fünf unterschiedlichen Zielkategorien zuordnen: Solidarität/Sozialisation, Eindrucksmanagement, Erlangen von Aufmerksamkeit, Genugtuung sowie Austesten der Situation bzw. fremden Verhaltens (vgl. Sharkey 2004 et al.). So kann die eigene Bloßstellung z.B. bewusst herbeigeführt werden, um im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses zu stehen (Erlangen von Aufmerksamkeit) oder weil man noch schlimmeren

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Blamagen oder Beschämungen entgegen wirken will (Eindrucksmanagement). In solchen und ähnlichen Kontexten ist es streng genommen nicht sinnvoll, von einer Affirmation der Peinlichkeit zu sprechen. Ihre „Akzeptanz“ bezieht sich hier ja nicht darauf, dass die peinliche Selbstbloßstellung als solche situativ erwünscht und angemessen wäre, sondern darauf, dass Betroffene sie als eine notwendige oder besonders effektive Strategie für die Erreichung weiterer Handlungsziele bewusst in Kauf nehmen. Die zweite Form intentionaler Peinlichkeit, die Situationen betrifft, in denen Betroffene von anderen absichtlich in eine peinliche Lage gebracht werden, kann handlungstheoretisch aufgefasst werden als „deliberate […] or intentional […] use of planned communication tactics […] and strategies […] as a means of triggering embarrassment in another person“ (Bradford/Petronio 1998: 103). Dafür bedarf es des jeweiligen Wissens, welche Exponierungen und Bewertungen von anderen überhaupt als peinlich empfunden werden und durch welche konkreten Kommunikationsmaßnahmen diese inneren Bewertungen im spezifischen Kontext herbeigeführt werden können. Braithwaite unterscheidet gemäß einer Kategorisierung von Sharkey (vgl. Sharkey 1991) sechs grundlegende Strategietypen, die dazu dienen, Peinlichkeit bei anderen herbeizuführen: „(1) causing a person to look unpoised (causing another to appear awkward) (2) criticism (discrediting or finding fault with a person and/or their behavior in public) (3) violations of privacy (revealing information that should be kept private), (4) teasing (making fun of someone or doing practical jokes), (5) association (connecting the embarrassed person with someone or something that has been discredited), and (6) recognition/praise (making a person feel conspicuous through public recognition)“ (Braithwaite 1995: 147).

Diese Strategien ordnet Sharkey verschiedenen übergeordneten Handlungszielen zu: Neben Abstrafung („to negatively sanction others’ behavior“), Diskreditierung („to discredit others“), Machtgenerierung bzw. -erhaltung („to establish or maintain power in relationships“) und persönlicher Unterhaltung („to achieve selfsatisfaction [e.g., intentionally walking in on someone using the rest room just to see how she or he would react]”) nennt er auch Solidarisierung und Sozialisierung („to show solidarity and socialize people into society or groups [e.g., initiation pranks to welcome a new member, sending a strip-o-gram, or teasing someone to show friendship]“) als Handlungszielklasse (vgl. Sharkey 2004 et al.: 381). Als Solidaritäts- oder Initiationsmaßnahmen können peinlichkeitserzeugende Fremdbloßstellungen also auch der Pflege des sozialen Zusammenhalts und der Festigung zwischenmenschlicher Bindungen dienen. Sind sie darüber hinaus fester Bestandteil ritueller Handlungsvollzüge, bilden sie einen sozial akzeptierten Bestandteil der situativen Ordnung, denn das „social requirement of these events is our own embarrassment by others“ (Bradford/Petronio 1998: 118). In rituellen Kontexten „such as

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birthday and bachelor and bachelorette parties, all attendees expect that the ‚celebrity‘ will be the target of many embarrassments throughout the celebration“ (Sharkey 1997: 63). Doch was genau bedeutet eine solche Akzeptanz von Peinlichkeit in ritualisierten Kontexten für den Peinlichkeitsbegriff? Ritualisierte Peinlichkeitsherbeiführung In rituellen Kontexten können Exponierungs- und Diskreditierungsmaßnahmen, die von anderen oder dem Betroffenen selbst (durch die rituelle Auferlegung bestimmter Handlungen) herbeigeführt werden und als peinlich gelten, bereits in der situativen Ordnung verankert sein. So ist Peinliches z.B. in Spielen wie „Wahrheit oder Pflicht“ und „Flaschendrehen“91 oder in die Eingliederung ins Militär fest eingebettet. Solche Verbindungen von Ritual und Peinlichkeit sind interessant, da Rituale und Peinlichkeiten begrifflich geradezu Entgegengesetztes bezeichnen: Während Peinlichkeit aus extrakommunikativer Perspektive als Störung, Verletzung und Irri-

91 Beim Spiel „Wahrheit oder Pflicht“ gibt es die Wahl, „entweder auf eine Frage, meist nach peinlichen Dingen, wirklich die Wahrheit zu antworten, oder, wenn das nicht möglich ist, eine von den anderen Mitspielern vorgeschlagene – meist sehr kompromittierende – Aufgabe (Pflicht) zu erledigen“ (Nössler 2005: 83). „Flaschendrehen“ folgt einem ähnlichen Grundprinzip: Die Spieler sitzen im Kreis, in dessen Mitte eine auf dem Boden liegende Flasche gedreht wird. Derjenige, auf den der Hals der Flasche beim Stillstand zeigt, muss in der Regel entweder eine peinliche Frage beantworten oder eine peinliche Aufgabe erfüllen. Beide Spiele werden vor allem während der Entwicklungsjahre oder bei Übergangsritualen wie Geburtstagen gespielt und würden ihren Sinn und Reiz verlieren, wenn jede Aufgabe mit höchster Gelassenheit und Routine gemeistert werden würde: Es ist essentieller Bestandteil des Spiels, sich vor anderen peinlich zu exponieren und Grenzen der Schamhaftigkeit zu überwinden. Ritualisierte Peinlichkeitsherbeiführungen finden sich jedoch keineswegs nur in Ritualen der westlichen Gesellschaft: So kriechen etwa beim indischen Bitt-Ritual des „Dharna“-Sitzens die statusniedrigeren Bittenden an die Türschwelle statushöherer potentieller Gönner und inszenieren ein peinliches Spektakel von Selbsterniedrigung, bei dem sie „debase themselves in an exaggerated display, indeed a parody, of humiliation by tearing hair, befouling themselves, wailing, and begging. […] [They] play the fool by violating the norms of decorous public comportment.“ (Miller 1993: 162) Und bei den Baschkiren beobachtete van Gennep z.B. folgendes Hochzeitsbrauchtum: Der Bräutigam muss mit dem Fuß einen roten Faden zerreißen, den zwei Frauen über die Türschwelle halten. „Sieht er den Faden nicht und fällt hin, wird er zum Gespött aller Anwesenden. […] Die Braut zieht dem Bräutigam die Stiefel aus, und er versucht, sie zu küssen, wird aber von ihr zurückgestoßen.“ (van Gennep 2005: 119)

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tation der sozialen Ordnung betrachtet werden kann, ist das Ritual die soziale Ordnung schlechthin.92 Gross/Stone vermuten, dass Peinlichkeit in rituellen Kontexten dazu dient, die Einsozialisierung in eine neue Gruppe oder in einen neuen Status zu erleichtern: „Es ist gut möglich, daß jeder Schritt in eine etablierte soziale Welt – jeder größere rite de passage – durch bewußt herbeigeführte, in Verlegenheit bringende Prüfungen von Gleichgewicht, Identität und Kenntnis des Selbst erleichtert wird.“ (Gross/Stone 1976: 299) Viele zeitgemäße Übergangsrituale enthalten entsprechende Elemente der Bloßstellung, des Lächerlich-Machens, In-Verlegenheit-Bringens und Austestens. Diese sieht Braithwaite unter anderem beim „phenomenon of hosting surprise parties or showers, giving ‚gag gifts‘ to others, honoring an individual with a ‚roast‘ (making them the butt of humorous stories and jokes), or putting candles on an birthday cake that repeatedly re-light after they are blown out“ (Braithwaite 1995: 146). Braithwaite, die sich in einer Feldstudie mit dem Phänomenen ritualisierter Peinlichkeit („ritualized embarrassment“) bei amerikanischen „wedding showers“ und „baby showers“ (vgl. ebd. 1995), Geschenkfeiern für werdende Bräute bzw. Mütter, beschäftigt, legt ihren Betrachtungen allerdings keine spezifische Begriffsbestimmung zugrunde, was genau unter „ritualized embarrassment“ zu verstehen sei. Vielmehr interessiert sie sich für die verschiedenen Herbeiführungsstrategien von Peinlichkeit sowie die Anschlusshandlungen der davon betroffenen Ritualteilnehmer. Dabei gelingt es ihr zu zeigen, dass auf den Feiern unter anderem bestimmte Frage-Spiele dazu dienten, die werdenden Väter in ihrem Wissen über Kleinkinder oder die zukünftige Ehefrau zu prüfen, wobei „the female hosts intentionally put males in the position of demonstrating their lack of knowledge about their role as husband or father. At several showers, games seemed to be designed to embarrass the men. For example, at one shower, the hosts interviewed the bride before the shower, getting her answers to questions, such as what she wore on the couple’s first date and the date of her birth. The groom was then asked to answer the questions in front of all the guests. The assumption, of course, was that he would get many of the questions about

92 Dies wird bereits durch die etymologische Herkunft des Wortes deutlich: „Die Wörter Ritual und Ritus leiten sich aus der indogermanischen Wurzel rta (= angemessen, richtig, zugehörig) ab. Die Hindu-Tradition bezeichnet mit rta die Opferstätten, also den Sitz der Ordnung selbst. Darin wurzelt auch die Bedeutung des lat. ritus. Was rituell geschieht, ist rechtmäßig und damit gültig im Sinne des sakralen Gesetzes, irritum bezeichnet das Gegenteil, das Unrechtmäßige und Nicht-Gültige. Etymologische Parallelen finden sich auch im Wort rtam (Brauch, Ordnung, Recht) und im iranischen artha. Der Ritus (= das Ritual) symbolisiert somit das Gültige und Unantastbare und verwirklicht es.“ (Ulbrich 1990: 32)

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his fiancee wrong, being embarrassed as he demonstrated his lack of knowledge about her. When asked what she wore on their first date, the groom replied, ‚I know she had clothes on.‘ When he guessed the clothing wrong, the guests laughed and cheered. After he missed several other questions, he blushed, laughed, and said, ‚You guys are terrible!‘ The host replied, ‚Just because you are so forgetful!‘ She turned and announced to the guests, ‚Out of ten questions Ken got roughly 4.5!‘“ (Braithwaite 1995: 151)

Diese und ähnliche Formen der Bloßstellung und des Spottens wurden von den betroffenen Männern allerdings nicht als unangemessen oder unverschämt empfunden, was Braithwaite darauf zurückführt, dass „embarrassing acts may not be perceived as negative by a recipient when the context [Herv. i.O.] dictates the appropriateness of embarrassment“ (ebd. 155). Eine solch positive Auslegung intentionaler Peinlichkeit führt Sharkey darauf zurück, dass, „because participants expect embarrassment in this type of situation and because all come to such an occasion with an understanding that embarrassments will occur ‚in-good-fun‘ (i.e., they are socially appropriate), men and women interpret embarrassment positively and respond in positive ways to the embarrassment“ (Sharkey 1997: 81). Bei Ritualvollzügen, die Peinlichkeitsherbeiführungen beinhalten, antizipieren Betroffene also nicht nur aufgrund der ihnen bekannten Ritualordnung, dass sie bloßgestellt oder lächerlich gemacht werden bzw. sich selbst bloßstellen müssen, sondern akzeptieren mit ihrer Ritualteilnahme entsprechende Selbstkompromittierungen und messen diesen gemeinhin keine negative Bedeutung bei. Besonders bei größeren Statuswechseln scheinen Peinlichkeitsherbeiführungen eine signifikante Rolle zu spielen. Miller schlägt sogar vor, dass „[p]ractices such as hazing – some would inlcude the tenure process – and other forms of testing prior to final integration into some group can be seen as humiliation rituals“ (Miller 1993: 164). Ein in diesem Zusammenhang hervorstechendes Ritual unserer Gesellschaft und Zeit ist die moderne Junggesellenabschiedsfeier: Während es früher üblich war, dass die Frau vor der Hochzeit ein Kaffeekränzchen veranstaltete und der Mann einen außerhäuslichen Abschiedsumtrunk mit anderen Männern beging (vgl. Südkurier Online 2009: 2), ziehen heutzutage meist beide Geschlechter getrennt voneinander verkleidet durch die Öffentlichkeit, wo sie Aufgaben absolvieren müssen, die als peinlich gelten. Dabei unterwerfen sie sich akzeptierend der eigenen Bloßstellung, wie nachstehende Beschreibung eines Junggesellenabschieds in einem Zeitungsbericht verdeutlichen mag: Der Junggeselle Philipp hat die Aufgabe bekommen, mit einem Warnmantel bekleidet fremde Frauen in der Innenstadt dazu zu animieren, auf dem Mantel aufgemalte Herzen auszuschneiden. „Philipp sieht so aus, als wäre er jetzt gerne woanders. Der dunkelhaarige 26-Jährige lacht nicht so laut wie seine Freunde, als die junge Frau sich mit der kleinen Nagelschere an ihm zu schaffen macht. Sie schneidet eines der aufgemalten roten Herzen aus Philipps neongelbem

170 | P EINLICHKEIT – FORMEN UND F UNKTIONEN Warnmantel, darunter wird ein Stück seiner muskulösen Schulter sichtbar. ‚Am Anfang war es mir extrem peinlich, inzwischen habe ich mich fast schon daran gewöhnt‘, seufzt er und hält der Frau den lilafarbenen Plastikkorb entgegen, damit sie sich etwas aussuchen kann. BHs in Leopardenmuster, kleine Schnapsflaschen und Kondome stehen zur Auswahl. Dann zieht er den Reißverschluss auf, damit sie auf seiner Brust unterschreiben kann. Drunter trägt er nur einen Tanga.“ (Badische Zeitung Online 2009: 1)

Für den Junggesellen gibt es in dieser Situation nichts zu erklären, zu verbergen oder zu entschuldigen. Es ist ihm zwar peinlich, sich so in der Öffentlichkeit zu zeigen, als zugehöriger Pflichtbestandteil ist sein Verhalten jedoch in gewisser Hinsicht „normal“, d.h. nichts, was er umdeuten oder korrigieren müsste, sondern etwas, dem er sich akzeptierend unterwirft. Das vielfach vernachlässigte, jedoch wesentliche Element des Akzeptierens als innere und äußere Handlung bei Ritualen (vgl. Knuf/Schmitz 1980: 6) tritt hier besonders deutlich hervor, da gerade Peinlichkeiten etwas sind, denen wir im Alltag alles andere als affirmativ begegnen. Das Ritual hingegen scheint besondere Handlungsbedingungen und -voraussetzungen zu schaffen, die eine situative Erlaubnis, Erwartung und Akzeptanz von absichtlichen Bloßstellungen ermöglichen. Doch was genau kann unter „ritualisierter Peinlichkeit“93 verstanden werden und inwiefern verändern sich durch Ritualisierung Erlebnisweisen, Bedeutungen und Funktionen von Peinlichkeit?

93 Zwar wird der Ausdruck „ritualized embarrassment“ im Sinne von „ritualisierter Peinlichkeit“/„ritualisierter Verlegenheit“ bereits von einigen wenigen Forschern verwendet (vgl. Braithwaite 1995; Montemurro/McClure 2005), ohne dass diese jedoch explizieren würden, was genau darunter zu verstehen sei und inwiefern entsprechende Ritualphänomene im Einzelnen von alltäglichen Peinlichkeits- und Verlegenheitsphänomenen abgegrenzt werden können.

5. Ritualisierte Peinlichkeit

Ritualisierte Peinlichkeitsherbeiführungen sind zu unterscheiden von nur absichtlich herbeigeführter Peinlichkeit während eines Ritualvollzuges, z.B. einer gemeinsamen Bloßstellung eines unliebsamen Verwandten auf einer Hochzeitsfeier, die als Rache für einen vorausgegangenen Streit gedacht ist. Ritualisierte Peinlichkeit, so wurde bereits deutlich, ist ein dem jeweiligen ritualisierten Kontext nach sozial erwartetes und akzeptiertes Handlungsereignis. Diese Kontextualisierung betrifft dabei wesentlich den besonderen Rahmen von Ritualen, der die Ritualteilnehmer aus alltäglichen bzw. nicht-ritualisierten Deutungs- und Bewertungsmustern heraustreten lässt und andere Beurteilungsmaßstäbe und Erwartungshorizonte hinsichtlich kommunikativer Handlungsvollzüge konstituiert. Um genauer bestimmen zu können, auf welche Weise solche Verschiebungen von Handlungserwartungen und -bewertungsmaßstäben in Ritualen entstehen, muss ersichtlich gemacht werden, inwiefern sich Ritualhandlungen von anderen Handlungen unterscheiden lassen und welche für diese Untersuchung relevanten Konsequenzen sich daraus ergeben. Eine Differenzierung von Ritualhandlungen und Handlungen, die keine Rituale sind, hängt maßgeblich von der Frage ab, was eine „normale“ Handlung zu einer Ritualhandlung macht, d.h., was es bedeutet, dass eine Handlung „ritualisiert“ ist. Der Komplexität, Ambivalenz und Weite des empirischen Feldes von Ritualhandlungen, das von höchst religiösen Zeremonien bis hin zu alltäglichen Interaktionsritualen reicht, ist jedoch nicht ohne Weiteres mit einem umfassenden und zugleich differenzierten Ritualbegriff zu begegnen. Nicht selten wird bezweifelt, dass eine allgemeine theoretische Begriffsbildung der besonderen Pragmatik ritueller Handlungsvollzüge überhaupt gerecht werden kann (vgl. Kreinath 2005) bzw. eine analytisch-epistemologische Unterscheidung von „Ritual“ und „Nicht-Ritual“ als Moduswechsel im Handeln angesichts der Tatsache, dass rituelle Rahmungen als dynamische Prozesse betrachtet werden können, die kontextuell selbst an die Praxis des Rahmens gebunden sind, berechtigt sei (vgl. Handelman 2004). Zudem streiten funktionalistische, ethologisch-psychologische bzw. soziobiologische, so-

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ziologische und formalistische Ritualtheorien weiterhin über die grundlegende Sinnhaftigkeit von Ritualvollzügen. Im Hinblick auf die komplexen Anforderungen an eine umfassende und differenzierte Ritualtheorie wird hier nicht der Anspruch erhoben, mit einem allgemeingültigen Ritualbegriff operieren zu können oder nachzuweisen, worin der grundlegende Sinn von Ritualen bzw. Ritualisierung besteht. Vielmehr sollen einige – mir in Abgrenzung zu nicht-ritualisierten Handlungen und im Hinblick auf das Erkenntnisinteresse dieser Untersuchung wesentlich erscheinende – handlungstheoretische Merkmale von Ritualhandlungen94 skizziert, ihre Konsequenzen für Handlungsakteure betrachtet und im Hinblick auf Übergangsrituale und das Ritual des Junggesellenabschiedes weiter spezifiziert werden. Grundsätzliche Fragen nach dem „Wesen“ des Rituals, dem Ursprung oder der Genese von Ritualisierung können dabei ebenso wenig diskutiert werden wie die Frage, ob und inwiefern Rituale sinnhaft oder sinnlos seien. Vielmehr wird postuliert, dass Ritualhandlungen genau wie andere Handlungen soziale Bedeutungen und Funktionen besitzen, d.h. sinnhafte soziale Phänomene sind, deren Sinn sich aufgrund von Verschiebungen der Handlungsvoraussetzungen und -vollzugsweisen jedoch auf einer anderen Ebene konstituiert und entsprechend anders zu deuten bzw. zu analysieren ist. Ich gehe davon aus, dass Rituale als sinngebende Momente dazu beitragen, soziale Veränderungen zu bewältigen und die Einsicht in die Notwendigkeit, gewisse Werte zu bejahen, fördern (vgl. Caduff/Pfaff-Czarnecka 1999a: 8). Dabei liegt gerade in der Tatsache, dass sie von verschiedenen sozialen Subjekten und Akteuren unterschiedlich interpretiert werden können, ohne dadurch ihre grundsätzliche Wirksamkeit einzubüßen, ihre soziale Wirksamkeit und Bedeutung begründet (vgl. Gebauer/Wulf 1998: 134).

5.1 R ITUALHANDLUNGEN In Wissenschaft und Forschung wurden lange Zeit nur solche Handlungsformen als „Rituale“ bezeichnet, die einen exklusiven magischen oder religiösen Bezug aufwiesen, was eine explizite oder implizite Differenzierung von „Ritualen“ und „Alltagshandlungen“ beinhaltete. Erst seit den 1960er Jahren wurden verstärkt forma-

94 In dieser Untersuchung wird nicht näher zwischen einer „Ritualhandlung“ und „ritualisierter“ bzw. „ritueller“ Handlung differenziert, sondern die Ausdrücke werden synonym verwendet. Wenngleich Differenzierungen zwischen dem jeweiligen Grad und Ursprung von Ritualisierung, die durch entsprechende Ausdrücke bezeichnet werden können, ritualtheoretisch relevant sind, erscheinen sie mir im Hinblick auf das Untersuchungsinteresse nicht erforderlich.

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lisierte und symbolische Elemente in Alltagshandlungen (Interaktionsrituale) in den Ritualbegriff miteinbezogen. Man erkannte zunehmend, dass wesentliche Ritualelemente nicht primär deren magisch-religiöse Bezüge sind, sondern bestimmte handlungstheoretische Voraussetzungen und Vollzugskriterien (vgl. Knuf/Schmitz 1980). Diese Dimensionen – Voraussetzungen als Handlungspläne und Vollzugskriterien als formale und modale Handlungsausführungen – werden im Folgenden näher betrachtet. Darüber hinaus soll in aller Kürze auf die semiotische „Lesbarkeit“ von Ritualen als besonderen Zeichenprozessen eingegangen werden, da in der Untersuchung der Junggesellenabschiedsfeier auch Überlegungen zu Bedeutungen und Funktionen spezifischer Ritualinhalte herangezogen werden, um aufzuzeigen, inwiefern während des Ritualvollzuges Vorstellungen, Werte und Ideale kultureller Selbst-, Rollen- und Glaubensaspekte symbolisch zum Ausdruck gebracht werden. 5.1.1 Rituale als institutionalisierte Handlungspläne Zu den handlungstheoretischen Voraussetzungen von Ritualen gehört wesentlich, dass der Handlungsplan zur Durchführung der Handlung in hohem Maße extern determiniert, d.h. institutionalisiert, ist (vgl. Knuf/Schmitz 1980). Die interne Determination der Konstruktion eines Rituals als Plan und Institution ist dem Ritualvollzug als extern determinierter Handlungsrealisierung daher stets vorgelagert (vgl. ebd. 44f.). Gemäß Knuf/Schmitz verstehe ich unter „Institutionalisierung“, dass ein Handlungsplan nicht nur ein individuell-kognitives Objekt einer Person oder ein mündlich bzw. schriftlich kommuniziertes geteiltes kognitives Objekt mehrerer Personen darstellt, sondern darüber hinaus auch ein soziales Objekt ist. Ein Handlungsplan ist dann soziales Objekt, wenn er von einer Gruppe oder Instanz, die die Macht dazu hat, für verbindlich erklärt bzw. gehalten und entsprechend sanktioniert wird. Wird er zudem zu einer organisatorischen Existenz weitergegeben (Behörden, Banken, Kirchen) ist er auch organisatorisches Objekt. Handlungspläne als kognitive Objekte sind also immer dann Institutionen, wenn sie zugleich soziale bzw. organisatorische Objekte darstellen. Rituale sind demzufolge zumindest als soziale Handlungspläne zu betrachten (vgl. ebd. 41f.), die als Institutionen stets mehrmaligen Vollzug der Pläne vorsehen. 5.1.2 Rituale als performative Vollzüge sozialer Handlungspläne Die empirische Existenz eines Rituals erschöpft sich nicht in einem sozialen Handlungsplan, sondern setzt voraus, dass die zur Durchführung eines Rituals vorliegenden Handlungspläne performativ vollzogen werden. Diese Vollzüge zeichnen sich aus durch einen hohen Grad an Rigidität bzw. Detailliertheit hinsichtlich der genauen Reihenfolge und der jeweiligen Ausführungsart von Handlungsaktivitäten und

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Äußerungen, sie besitzen eine festgeschriebene interne Ordnung, aufgrund ihrer vorgegebenen Existenzweise als Institutionen auch eine Organisation (vgl. ebd. 51). Ritualvollzüge können als stereotype und repetitive Handlungen bezeichnet werden, die vergleichsweise leicht nachzuahmen sind. Aufgrund ihrer festgeschriebenen Ordnung kann man Ritualhandlungen nicht einfach willkürlich abändern, um ein Handlungsziel besser, effektiver oder effizienter zu erreichen, denn Ritualhandlungen sind keine zweckrationalen Handlungen, die aufgrund der Zuschreibung intentionaler Zustände der Handlungsakteure verstehbar sind. Im Gegensatz zu diskursiven Äußerungen, welche prinzipiell hinterfragbar und weiter explizierbar sind und bei denen auch Gelingensprobleme thematisierbar sind, zeichnen sich Ritualvollzüge durch ein hohes gemeinsames Vorverständnis der Situation aus (vgl. ebd. 77), bei dem die Handlungen nicht hinterfragt oder begründet werden. Gerade weil funktionale und praktische Zwecke eines Handlungsinhaltes durch die festgeschriebene Ordnung und Ausführungsart von Ritualhandlungen in den Hintergrund treten, kann das Ritual zugleich etwas zur Erscheinung bringen, das auf andere Weise nicht zum Vorschein gebracht werden könnte. Trotz seiner hohen externen Determination wird ein Ritualplan beim jeweiligen Vollzug stets unter Berücksichtigung der konkret vorliegenden Handlungsbedingungen interpretiert und kann deshalb, zumindest in gewissem Maße, modifiziert werden (wobei auch solche Spielräume meist rituell vorgeschrieben sind). Ritualvollzüge sind daher „nur ‚nahezu vollständig extern determiniert‘, da jeder Ritualverwirklichung Einschätzungen und Entscheidungen der handelnden Individuen vorausgehen müssen, die die jeweils konkrete Interpretation des Rituals als Plan unter Bezugnahme auf andere, variable situative Handlungsbedingungen (von der jeweiligen Witterung bis zu spezifischen individuellen oder sozialen Zwecken, die aktuell mit dem Ritualvollzug erreicht werden sollen) betreffen“ (Schmitz 1991: 199f.).

Insofern können Ritualvollzüge einerseits als sozial festgelegte und vor-bestimmte Handlungsvollzüge angesehen werden, die, da sie den jeweils konkreten Bedingungen unterliegen, andererseits auch Möglichkeiten eröffnen, rituelle Muster zu verändern, auf alternative Weise zu interpretieren und neue Elemente hinzuzufügen: „Da Menschen das jeweilige rituelle Handlungsmuster immer ihren individuellen Möglichkeiten entsprechend reproduzieren und dabei auch eigene Ideen und spontane Einfälle zur Modifikation des Verhaltens einfließen lassen können, liegt im mimetischen Charakter rituellen Handelns der Grund für kreative Neuformungen von rituellen Mustern [...]. Bei dieser Perspektive verschiebt sich auch die Bestimmung des Rituals als eines vorwiegend technischen magischen Verfahrens hin zur Betonung des performativen Charakters rituellen Han-

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delns: In Ritualen führen sich Menschen voreinander auf und bringen dadurch die soziale Welt mit ihrer symbolischen Ordnung handelnd hervor […].“ (Mattig 2009: 35)

Ritualvollzüge größerer Statuswechsel sind zudem meist „liminal“ (vgl. Michaels 1999: 34). Das Merkmal der Liminalität bezieht sich auf die „nichtalltäglichen, reversiven, paradoxen, teilweise absurden und spielerischen“ (Michaels 1998: 11) Elemente von Ritualvollzügen, die besonders in lebenszyklischen Grenzsituationen inszeniert werden. 5.1.3 Modale Handlungsaspekte von Ritualen Ritualhandlungen unterscheiden sich von rein institutionalisierten Kommunikationshandlungen als Vollzügen sozialer Handlungspläne und von Routinehandlungen, welche ebenfalls stereotyp, repetitiv etc. sein können, auch durch spezifische Handlungsmodalitäten. Ob z.B. die Handlung „Wasser ausgießen“ vollzogen wird, um eine Statue nur zu reinigen, oder aber, um sie zu weihen, ist nicht alleinig aufgrund äußerlicher, formaler Kriterien zu entscheiden (vgl. Michaels 1999: 36). Hinsichtlich modaler Handlungskriterien als innerer, motivbezogener Vollzugskriterien differenziert Michaels zwischen den drei Ritualaspekten „Communitas“, „Individualitas“ und „Religio“, welche sich hinsichtlich ihres jeweiligen Bezuges und ihrer Funktionen unterscheiden lassen. „Unter ‚Communitas‘ verstehe ich – anders als Turner, von dem auch dieser Begriff stammt – alle eher auf die Gemeinschaft bezogenen Funktionen eines Rituals: Solidarität, Hierarchie, Kontrolle oder Normierung. ‚Individualitas‘ bezeichnet eher auf den einzelnen bezogene Handlungsaspekte wie Angstlinderung, Erfahrungen oder Spielfreude, Lust und Unlust. ‚Religio‘ umfasst die transzendierenden, auf eine jenseitige, höhere, geheiligte Welt (vita perennis) [Herv. i.O.] bezogenen Intentionen […]. Mit Religio95 erhalten alltägliche Handlungen Erhabenheit, wird das Unveränderliche, Nichtindividuelle, Nichtalltägliche Ereignis.“ (Michaels 1998: 11)

95 Für Michaels stellt Religio das Bewusstsein dar, „dass die Handlungen gemacht werden, weil ihnen ein transzendentaler Wert zugemessen wird. In den meisten Fällen liegt dann ein theistischer, dämonistischer oder auch dynamistischer Glaube an überirdische Wesen beziehungsweise Mächte zugrunde. Aber es reicht auch der Glaube an irgendeine Art von Überhöhung, etwa die Gesellschaft oder das Geld. Es ist nicht nötig, dass jeder Ritualteilnehmer diesen Glauben haben muss, sondern nur, dass Religio im Handlungskomplex nachweisbar sein muss [...].“ (Michaels 1998: 11f.)

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Vor allem Religio als Bewusstsein oder Intention, eine Handlung zu überhöhen bzw. ihr einen transzendentalen oder außeralltäglichen Wert beizumessen, z.B. den Kuss bei der Hochzeitszeremonie als magischen Kuss zu begreifen, der die Liebe und Bindung zum Partner auf besondere Weise besiegelt, ist hinsichtlich der inneren Erlebnisweise eines Ritualvollzuges von großer Bedeutung. 5.1.4 Ritualhandlungen als Zeichenprozesse Rituale können als Zeichenprozesse eigener Art begriffen werden (vgl. Leach 1976; Geertz 1966; Turner 1989a, 1989b), da ihre Bedeutung anders als bei diskursiven Äußerungen nicht ihrem semantisch-propositionalen Gehalt zu entnehmen ist. Die besondere Semiotik von Ritualvollzügen wird zeichentheoretisch meist in Analogie zur Sprache als semiotischem System betrachtet und analysiert (vgl. Kreinath 2005). Diese Anlehnung erfolgt zwar nicht unbedingt direkt, doch auch Vergleiche mit den performativen Künsten, dem Tanz oder Theater beruhen meist indirekt auf einer Gleichsetzung mit dem Sprachsystem, da auch letztere Handlungsformen prinzipiell nach Maßgabe linguistischer Zeichenbegriffe96 analysiert werden (vgl. ebd. 59). In diesem Zusammenhang möchte ich auf zwei mir wesentlich erscheinende Aspekte der Zeichenhaftigkeit von Ritualvollzügen hinweisen: ihren symbolischen Charakter, durch den soziale Wirklichkeit zum Ausdruck gebracht wird, und ihre Indexikalität als aktiver Bezug von Zeichenträger und Kontext. Während strukturalistische Ansätze Ritualsequenzen in Analogie zur sprachlichen Grammatik eine syntagmatische Struktur zusprechen, da postuliert wird, dass das rituelle Zeichen an sich, analog zum Buchstaben des Alphabets, nichts bedeutet, sondern nur durch seine jeweilige Position, die es im Unterschied zu anderen Zeichen beim Ritualvollzug erhält, verstehbar ist (vgl. Leach 1976), betrachten Vertreter der symbolischen Ethnologie Rituale als Symbolsysteme bzw. symbolische Handlungen (vgl. Turner 1989a, 1989b). Die Symbole („Symbol“ im begrifflichen Sinne von de Saussure; nach Peirce im Sinne von „Ikon“) von Ritualhandlungen unterscheiden sich dabei insofern von sprachlichen Zeichen, als das Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem bei der Sprache grundlegend auf Konventionen beruht, bei Symbolen dagegen auf Ähnlichkeiten, die durch Prozesse von Analogiebildungen und Assoziationen hervorgebracht werden (vgl. Kreinath 2005: 73). Symbole können in Ritualhandlungen auf vielfältige Weisen miteinander kom-

96 Dass diese Annahme insofern durchaus problematisiert werden kann, als sie Ähnlichkeiten zwischen Sprache und Ritual bereits auf theoretischer Ebene voraussetzungslos fixiert und so mögliche Differenzen nicht in den Blick zu nehmen vermag, kann hier nicht weiter berücksichtigt werden.

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biniert werden und nicht nur unterschiedliche Themen ansprechen, sondern gleiche Themen auch mit einer Vielzahl von Symbolen ausdrücken. Deren jeweilige Bedeutungen lassen sich nur im Kontext ihres situativen Gebrauches erkennen. „Symbole sind demnach kontextabhängig, variabel und manipulierbar. Sie bergen durch ihre Dynamik ein kreatives Potential, das sich in der Performanz eines Rituals nie vollständig ausschöpfen oder verwirklichen lässt.“ (Ebd. 75) Sie fordern entsprechend zu unterschiedlichen Deutungen auf und repräsentieren in Form von Objekten, Aktivitäten, Gesten oder Kleidungsstücken, die Ritualbestandteile sind, divergierende und ambivalente Gefühle, Zustände, Ideologien etc., die sowohl einen bestimmten Glauben über soziale Institutionen und soziale Rollen als auch Veränderungen dieses Glaubens ausdrücken. In der liminalen Phase ritueller Prozesse kommt Symbolen ein besonders kreatives Potential zu, da hier nicht nur auf die Wirklichkeit sozialer Beziehungen reagiert wird, sondern soziale Beziehungen als dynamische Prozesse neu konfiguriert werden. Mit Turner lassen sich „exegetische“ von „operationalen“ Symbolbedeutungen unterscheiden (vgl. Turner 1967): Während exegetische Bedeutungen die Auslegungen der Ritualteilnehmer betreffen, beziehen sich operationale Bedeutungen auf die Deutung durch den (ethnologischen) Beobachter. Zudem unterscheidet Turner „dominante“ von „instrumentellen“ Symbolen (vgl. ebd.). Dominante Symbole sieht er als weitgehend autonom sowie beständig in ihren Bedeutungen und Funktionen für das Ritual an, sie stehen im Mittelpunkt des rituellen Geschehens und beziehen sich auf grundlegende Werte, Glaubenssätze und Zwecke einer Gesellschaft. Instrumentelle Symbole hingegen dienen beim Ritualvollzug lediglich unterstützend dazu, bestimmte Ziele zu erreichen, ihr Sinn lässt sich daher nur durch den Ritualkontext und ihr Verhältnis zu anderen Symbolen näher bestimmen. Die Indexikalität von Ritualvollzügen betrifft die aktive zeitliche und örtliche Bezogenheit von Ritualteilnehmern als Zeichenträgern auf den jeweiligen Ritualkontext, bei dem der Zustand, der bezeichnet wird, von ihnen demonstrierend hervorgebracht wird. So wird in Ritualvollzügen nicht nur symbolisch etwas ausgedrückt, z.B. Aufnahme, Trennung, Unterwerfung oder Ehrerbietung, sondern zugleich praktiziert. Sowohl Ritualteilnahme als auch die Vollzugshandlungen des Rituals verweisen auf die jeweiligen Zustände, Positionen oder den sozialen Status der Ritualteilnehmer. Knuf/Schmitz betonen in diesem Zusammenhang, dass sie als indexikalische Zeichen für das Akzeptieren des Rituals und der in seinem Vollzug kommunizierten Inhalte verstanden werden können (vgl. Knuf/Schmitz 1980: 54): „Das zu diesen Inhalten gehörende Akzeptieren des Rituals ist bezüglich aller anderer Inhalte ritualisierter Kommunikation metakommunikativ, da das Akzeptieren des Rituals durch einen Teilnehmer seine Haltung gegenüber dem Ritual und dessen Inhalten betrifft.“ (Ebd. 60f.) Am Ritualvollzug teilnehmende Personen charakterisieren sich dementsprechend im Gegensatz zu Beobachtern oder nur anwe-

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senden anderen dadurch, dass sie eine spezifische Beziehung zum Ritual und seinem Vollzug sowie zu den anderen Ritualteilnehmern haben (vgl. ebd. 59). Zusammenfassend können Rituale verstanden werden als mentale Handlungspläne, die zugleich mindestens soziale Objekte sind und performativ vollzogen werden. Als Ausführungen extern determinierter Handlungspläne stellen Ritualvollzüge keine spezifische Handlungsklasse oder besonderen Handlungstypen dar, sondern eine besondere Ebene kommunikativen Handelns, das als symbolisches Handeln verstanden werden kann, welches in formalen Prozeduren zum Ausdruck kommt, unmittelbar an die jeweilige Pragmatik des rituellen Kontextes gebunden ist und auf Zustände oder soziale Positionen der Ritualteilnehmer verweist. Die Haltung oder die Intentionen, die Ritualteilnehmer als Religio hinsichtlich des Ritualvollzuges einnehmen können, zeichnet eine Vielzahl an Ritualen zudem als außeralltägliche Ereignisse aus, denen ein transzendentaler Wert in Bezug auf das Individuum, eine Gruppe oder den Zustand der Welt zugeschrieben wird. Gesellschaftsübergreifend dienen Rituale dazu, relative Statuspositionen zu etablieren, zu bekräftigen, zum Ausdruck zu bringen, Statuswandel zu explorieren, zu vollziehen oder zu bestätigen (vgl. ebd. 62). 5.1.5 Bedeutungsverschiebungen von Handlungen durch Ritualisierung Im Hinblick auf das Untersuchungsinteresse sind vor allem die Elemente der Handlungsvorschreibung durch die externe Determination des Handlungsvollzugs qua Ritualplan sowie Religio als Handlungsüberhöhung von Bedeutung, da durch sie die Beziehungen des Handlungsakteurs zu seinem Handlungsvollzug maßgeblich verschoben werden. „Ritualisiertes Handeln ist zunächst ‚nicht-intentional‘. Obwohl Menschen, die rituelle Handlungen ausführen, dabei doch Intentionen haben (solche Handlungen können also nicht als unbewusst betrachtet werden), hängt die Identität ritualisierter Handlungen nicht – wie dies für normale Handlungen der Fall ist – von der Intention des Akteurs ab.“ (Humphrey/Laidlaw 1998: 135)

Die normale Beziehung von Handlungssinn und zugrundeliegender Intentionalität erfährt durch Ritualisierung also eine Transformation, die die Haltung der Handlungsakteure zu ihren Handlungen verändert. „Die rituelle Einstellung distanziert Akteure und Teilnehmer derart von der Handlung, dass sie diese nicht als ihre eigene anerkennen […]. Die rituelle Einstellung bedeutet nicht, unbewusst etwas zu tun. Sie ist vielmehr eine eigenartige Nicht-Intentionalität, die als Verzicht auf

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eigene Handlungsbestimmung erfahren wird. In diesem Zusammenhang spricht Rappaport von Handlungen, die die Akteure nicht selber ‚codiert‘ haben. Er postuliert eine besondere ‚rituelle Akzeptanz‘, durch die die Akteure gleichsam in bestimmten Handlungsmustern ‚aufgehoben‘ werden.“ (Belliger/Krieger 1998a: 24)

Dies hat unmittelbare Konsequenzen für die Handlungsbewertung, da sowohl Handlungsinhalte als auch -verantwortlichkeiten bei Ritualhandlungen nicht dem Handelnden als Individuum, sondern dem Ritual als Institution zugeschrieben werden. Das bedeutet, „daß die Teilnehmer an adäquaten Ritualvollzügen nicht selbst verantwortlich gemacht werden können für das Gesagte oder Getane. Vielmehr wird die Verantwortung dafür auf das Ritual qua Institution abgeschoben, die (anonyme) Institution liefert die Erklärungen für Form und Inhalte der Handlungen.“ (Knuf/Schmitz 1980: 63) Bei größeren Statuswechseln führt in vielen Fällen zudem eine außeralltägliche Einstellung der Ritualteilnehmer zum Ritualvollzug zu einer Überhöhung der Ritualhandlungen, die sie aus dem Feld der Alltagserfahrungen heraushebt und als besondere, tiefgreifende und entpragmatisierte Ereignisse markiert, welche weniger anhand alltäglicher Erwartungen und Standards bewertet werden, als vielmehr anhand des transzendentalen Werts, der ihnen jeweils beigemessen wird. Diese Verschiebungen von Handlungsintentionalitäten (Verzicht auf Handlungsbestimmung), -zuschreibbarkeiten (keine Verantwortlichkeit, kein Bezug der Handlung zum individuellen Selbst) und -bedeutungen (Außeralltäglichkeit) haben für emotionale Handlungsbewertungen nicht unwesentliche Folgen. Vor allem in Bezug auf Peinlichkeitsgefühle kann vermutet werden, dass Rituale, deren Pläne Peinlichkeitsherbeiführungen implizieren, nicht im gleichen Maße – bzw. nicht in gleicher Weise – peinlichkeitserzeugend wirken wie sonstige Bloßstellungen. Was kann nun unter Berücksichtigung dieser Ritualmerkmale unter „ritualisierter Peinlichkeit“ verstanden werden?

5.2 M ERKMALE

RITUALISIERTER

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„Ritualisierte Peinlichkeit“ lässt sich gemäß den oben skizzierten handlungstheoretischen Ritualeigenschaften als Bestandteil eines Handlungsplans verstehen, welcher die Herbeiführung von Peinlichkeit impliziert und durch den Vollzug des Rituals performativ umgesetzt wird. Als peinlichkeitsherbeiführend können Handlungsplanbestandteile dann gelten, wenn sie sich einer oder mehrerer der sechs verschiedenen Strategietypen intentionaler Peinlichkeitsherbeiführung (vgl. Sharkey 1991, Braithwaite 1995) zuordnen lassen, diese jedoch um die Bedingung erwei-

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tern, dass entsprechende Handlungen sowohl von anderen Ritualteilnehmern als auch vom Betroffenen selbst performativ vollzogen werden können. Im Gegensatz zur rein intentionalen Peinlichkeitsherbeiführung, welche ja ebenfalls Bestandteil eines über-individuellen Handlungsplanes mehrerer Personen sein kann (z.B. den unliebsamen Verwandten auf einer Feier zu blamieren), ist ritualisierte Peinlichkeitsherbeiführung als Plan nicht nur Teil eines gemeinsam erdachten einmaligen Handlungsplanes, den bestimmte Personen durch interne Abmachungen untereinander vereinbaren. Vielmehr ist sie Bestandteil eines Handlungsplans als sozialem Objekt, der Gültigkeit für den jeweiligen Kontext beansprucht, für verbindlich erklärt wird und mehrmaligen Vollzug vorsieht. Damit werden die durch den Plan vorgeschriebenen Handlungsmaßnahmen zugleich zu legitimen und kontextkonformen Handlungen in Bezug auf die jeweilige gesellschaftliche Gruppe. Während Peinlichkeitsherbeiführungen bei Initiationsriten wie der Eingliederung in die Armee oder in Studentenverbindungen als „rituals of humiliation“ (vgl. Miller 1993) offenbar notwendige Handlungsplanbestandteile sind, existieren sie darüber hinaus auch als nur typische oder mögliche Planbestandteile, die in konkrete Ritualvollzüge von Statuswechseln integriert sein können. Hier scheinen sie in der Regel eine im Vergleich zu obigen Eingliederungsritualen „gemäßigtere“ bzw. „harmlose“ Variante des Spottes und der Bloßstellung darzustellen (z.B. in Form der Frage-Spiele auf den „wedding showers“ oder den allbekannten „Geburtstagsspäßen“, bei denen das Geburtstagskind durch Scherz-Kerzen, Scherz-Geschenke97 oder selbst geschriebene Lieder und Reden „auf den Arm genommen“ und verspottet wird). Da Handlungsvollzüge ritualisierter Peinlichkeit nicht auf rein individuellen Handlungsplänen und -zielen der Ritualteilnehmer fußen, sondern allenfalls individuelle Modifizierungen, Ausgestaltungsarten und Interpretationen eines sozialen Handlungsplanes darstellen, können sie in manchen Fällen durchaus unreflektiert als vorgegebene Handlungsmuster vollzogen und nachgeahmt werden – so z.B. bei

97 Dabei wird die potentielle Peinlichkeit des Geschenkauspackens (alle Anwesenden beobachten das Auspacken und erwarten gespannt die Reaktion auf die jeweilige Überraschung) bewusst herausgefordert und auf die Spitze getrieben. Der Beschenkte erhält Präsente, die ganz offensichtlich unpassend (da für Frauen statt für Männer oder für Kinder statt für Erwachsene) oder auch „verrucht“ (Artikel aus dem Erotikbereich) sind. Da ein Geschenk auch immer etwas darüber aussagt, wie man den anderen einschätzt und was man für ihn als angemessen und passend erachtet, sind Scherzgeschenke besonders gut dafür geeignet, den Beschenkten durch die Assoziationen, die mit dem Präsent einhergehen, in Verlegenheit zu bringen. Dass dies nur bei Statuswechseln geschieht (und nicht bei anderen Anlässen des Schenkens, z.B. Weihnachten), muss bezeichnend für die Funktion ritualisierter Peinlichkeit sein.

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manchen Kindern, die Flaschendrehen spielen und anscheinend intuitiv der Regel folgen, sich peinliche Aufgaben zu überlegen, ohne sich dieses Handlungszieles notwendigerweise bewusst zu sein98. Aufgrund der Formalisierung und externen Determinierung von Ritualen sind entsprechende Handlungen darüber hinaus keine beliebigen Formen der Peinlichkeitsherbeiführung, sondern folgen bestimmten standardisierten bzw. festgelegten Formen, symbolischen Bezügen und Abläufen, die für das jeweilige Ritual charakteristisch sind. Diese können unterschiedlich rigide sein, müssen aber so weit festgelegt sein, dass sie im jeweiligen Ritualkontext für die Ritualteilnehmer als überindividuelles und zum Ritual gehörendes Ereignis zu identifizieren sind (was empirisch meist daran abzulesen ist, dass ein affirmativer und kein aversiver Umgang mit den peinlichkeitsherbeiführenden Handlungsereignissen erfolgt). Als symbolische Handlung bringt ritualisierte Peinlichkeit soziale Wirklichkeitsaspekte indirekt durch Prozesse der Ähnlichkeits- und Analogiebildung zum Ausdruck, wobei sie die Wirklichkeit durch Übertreibung oder Verkehrung typischerweise zugleich komisch und lächerlich wirken lässt, sodass die soziale Ordnung nicht nur symbolisch verfügbar gemacht wird, sondern darüber hinaus auch verspottet werden kann. Die Indexikalität ritualisierter Peinlichkeit zeigt sich darin, dass beim Ritualvollzug nicht nur etwas symbolisch dargestellt und etwa durch Verzerrung lächerlich gemacht wird (wie z.B. Karikatur-Figuren auf Karnevalswagen), sondern dass es innerhalb des rituellen Kontextes von den Zeichenträgern selbst performativ vollzogen wird und auf ihren eigenen sozialen Zustand oder ihre eigene Rolle verweist. Die Ritualteilnehmer werden also selbst zu Objekten des Komischen oder Lächerlichen. „Ritualisierte Peinlichkeit“ kann gemäß den obigen Ausführungen begrifflich weder eine ritualisierte Emotion (als rituell vorgeschriebenen Emotionsausdruck) noch eine Emotion im Ritual meinen, vielmehr bezieht sie sich entsprechend dem Ritualplan auf die rituelle Gestaltung bzw. Manipulation der Außenwelt dahingehend, dass diese bestimmte innere Zustände und Emotionen aktiviert. Will man den Zusammenhang zwischen emotionaler Erfahrung und äußerem Ereignis her-

98 Es existiert vermutlich eine Art „implizites Wissen“ im Hinblick auf Ritualvollzüge, das von Lawson/McClauey als „tacit knowlegde“ bezeichnet wird: „Although this knowledge for some individuals may prove to be exclusively tacit, they demonstrate their knowledge, nonetheless, through their intuitions about the form of rituals and their successful participation in them. Participants in rituals who are unable to formulate explicitly even a single rule that governs their ritual system still have many, if not most, of the requisite intuitions about ritual form. (Similarly, many native speakers cannot state even a single rule of their grammars).“ (Lawson/McCauley 2002: 77)

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stellen, muss man auch hier in Rechnung stellen, dass ein Peinlichkeitserlebnis immer eine „innenorientierte Sinngebung“ ist, Ritualisierungen hingegen als Herbeiführungsformen dieses Erlebnisses äußerliche Inszenierungsversuche dieses inneren Ereignisses sind (vgl. Kemper 2001:187). In Bezug auf ihren rituellen Anlass bzw. ihr Ziel im Rahmen des Rituals kann ritualisierte Peinlichkeit von Degradierungsritualen, deren Handlungsvollzüge sich durchaus auch den Strategiedimensionen von Peinlichkeitsherbeiführung zuordnen lassen, unterschieden werden. Zwar gelten sowohl für Degradierungszeremonien als auch Peinlichkeitsrituale ähnliche Bedingungen, um wirksam zu sein.99 Doch während ritualisierte Peinlichkeit zum Ziel hat, den Betroffenen „to […] socialize […] into society or groups“ (Sharkey 2004 et al.: 381), haben Degradierungsrituale das Ziel, ihn öffentlich zu sanktionieren und zu entehren. Miller unterscheidet in diesem Zusammenhang die „rituals of initiation“ als „rituals of humiliation“ auf der einen von den „shaming rituals“ auf der anderen Seite (vgl. Miller 1993: 162). Dabei sagt diese Unterscheidung nicht unbedingt etwas darüber aus, wie Betroffene die Ritualvollzüge tatsächlich erleben: „The designation of these two types of rituals as either humiliating or shaming makes no certain claim about the feeling of the person performing or subjected to the ritual. The shame and humiliation in the classification adopt the point of view of the observer [...] and describe the quasi-juridical state of the person performing the ritual.“ (Miller 1993: 164)

Die Unterscheidung zwischen beiden Ritualtypen entlehnt Miller der grundlegenden Ordnung der Ritualhandlungen, die bei Beschämungsritualen eine tragische, bei Peinlichkeitsritualen eine komisch-erheiternde Dramaturgie besitzen. „The humiliation of initiation rituals borrows from the world of comic ordering, the shaming rituals form the tragic ordering. The initiation ritual conceives of humiliation as a test, a rite, prior to and indeed allowing for the attainment of honor as a group member of good standing.“ (Ebd. 164) Zwar können auch Degradierungsrituale komödienhafte Elemente besitzen, wie sich etwa bei der mittelalterlichen Strafpraktik zeigt100, dennoch bleiben sie perfor-

99 Nach Garfinkels Analyse gehören zu den Bedingungen erfolgreicher Degradierungszeremonien unter anderem das Hervortreten aus dem Alltagscharakter in eine „außergewöhnliche“ Rolle, die Typisierung von Ereignis und Betroffenem, die Zugehörigkeit des Ereignis- und Rollentypus zu einer Einheit sowie das „Fremdmachen“ und „NachAußen-Stellen“ des Betroffenen (vgl. Garfinkel 2007). 100 Die mittelalterliche Strafpraktik zeigte bekanntermaßen einen großen Einfallsreichtum dabei, Degradierungsrituale zu belustigenden Schauspielen oder Volksfesten zu machen:

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mative Vollzüge tragisch-ernsthafter Herabsetzungen und Bestrafungen. Degradierungsrituale setzen Betroffene nachhaltig herab, ritualisierte Peinlichkeit hingegen ist eine performative Darstellung bzw. Inszenierung öffentlicher Bloßstellung, bei der Betroffene nur situativ herabsetzt werden, um sie danach heraufzusetzen bzw. in einen neuen wertigen Status zu überführen. Es liegt nahe zu vermuten, dass ritualisierte Peinlichkeitsherbeiführungen grundlegend instrumentelle Symbole der Unterstützung bestimmter Ritualziele sind, wohingegen bloßstellende und herabsetzende Handlungen von Degradierungsritualen dominante Ritualsymbole bilden, die im Zentrum des Ritualvollzugs stehen. Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass „ritualisierte Peinlichkeit“ dann Bestandteil eines bestimmten Rituals ist, wenn folgende Handlungsmerkmale gegeben sind: 1.

2.

3.

Die Handlungen dienen dazu, den Betroffenen nur situativ bloßzustellen/herabzusetzen. Sie haben Prüfungs- oder Spielcharakter und sind keine statusherabsetzenden Sanktionen. Klassischerweise sind sie instrumentelle Symbole von Übergangsritualen, die den Betroffenen in einen neuen Status überführen. Die Handlungen lassen sich einer bzw. mehreren der aufgeführten Strategiedimensionen intentionaler Peinlichkeitsherbeiführung subsumieren. Sie gelten den Ritualteilnehmern als zum Ritual dazugehörige (notwendige oder zumindest typische) Ritualbestandteile. (Wie entsprechende Handlungsvollzüge vom betroffenen Ritualteilnehmer emotional empfunden werden, ist nur aus seiner subjektiven Perspektive heraus zu beantworten.) Die konkreten Peinlichkeitsherbeiführungen folgen stereotypen Mustern bzw. repetitiven Abläufen, die für das jeweilige Ritual bezeichnend sind. Sie bringen Aspekte der sozialen Wirklichkeit der Ritualteilnehmer in übertriebenen oder verkehrenden Formen zum Ausdruck, die komisch oder lächerlich wirken. Dabei weisen sie indexi-

Delinquenten mussten etwa öffentlich eine Karre mit Mist durch die Gassen schieben, wurden rückwärts auf einem Esel sitzend durch die Stadt geführt, mussten einen Stein am Hals (‚Lästerstein‘) durch die Straßen tragen, wurden in einem Schandkorb in Wasser oder Unrat getaucht oder zum ‚Schandflöte‘ spielen verurteilt – dabei wurden die Finger so schmerzhaft in Metallzwingen der ‚Flöte‘ eingespannt, dass die sich windenden Delinquenten den Eindruck eines Musikers in ekstatischem Spiel erweckten, was sie dem Spott der Zuschauer aussetzte. (vgl. Batarilo 2013: 111f.) Hier ist der etymologische Zusammenhang von moderner „Peinlichkeit“ und „peinlicher Strafe“ noch unmittelbar nachzuspüren.

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kalisch auf die sozialen Rollen bzw. Zustände der Ritualteilnehmer als Zeichenträgern hin. Im Folgenden möchte ich ritualisierte Peinlichkeit als konkretes empirisches Phänomen anhand der modernen Junggesellenabschiedsfeier näher untersuchen und aufzeigen, inwiefern bei diesem Ritual ritualisierte Peinlichkeit einerseits sowie Peinlichkeitserfahrungen (als subjektive Erlebnisformen) andererseits nachweisbar sind. Darüber hinaus möchte ich Überlegungen zur besonderen Rolle und Funktion ritualisierter Peinlichkeit im rituellen Kontext des Junggesellenabschieds formulieren. Begreift man Ritualhandlungen als symbolische Handlungen, können die Verbindungen zwischen einzelnen Handlungen innerhalb eines Ritualvollzugs sowie ihre Bedeutung ohne das Wissen, welche sozialen Wirklichkeitsaspekte sie performativ zum Ausdruck bringen bzw. „einkleiden“, nicht sinnvoll gedeutet werden. Daher erfolgen zuerst einige Abgrenzungen hinsichtlich des Ritualanlasses und -typs des modernen Junggesellenabschieds, bevor er in seinem typischen Vollzug näher beschrieben wird. Obgleich es dabei primär darum geht, diejenigen Handlungsaspekte herauszustellen und zu untersuchen, die als peinlich gelten, werden zugleich grundlegende Annahmen zu Ritualbedeutungen und -funktionen erfolgen, da sich operationale Bedeutungen einzelner Ritualaspekte, vor allem, wenn es sich um instrumentelle Symbole handelt, nur im Hinblick auf den gesamten rituellen Kontext sinnvoll interpretieren lassen.

5.3

D AS R ITUAL

DES

J UNGGESELLENABSCHIEDS

Da sowohl Begrüßungs- und Verabschiedungsformen als auch eine ganze Hochzeitszeremonie als ritualisierte Kommunikationshandlungen angesehen werden können, empfiehlt es sich, eine Ein- bzw. Abgrenzung des jeweiligen Ritualanlasses und -typs vorzunehmen. Eindeutige und allgemein anerkannte Klassifikationen existieren hier allerdings nicht, denn „bisher hat noch niemand eine allgemein befriedigende Einteilung geschaffen. Es gibt einige grobe Unterschiede, die gebräuchlich sind: Übergangsrituale/Jahreszeiten-Rituale, Identifikationsrituale/Rebellionsrituale, religiöse Rituale/profane (oder säkulare) Rituale. Auch diese minimale Kategorisierung ist verwirrend und problematisch. Diese Begriffe werden teils unterschiedlich verwendet, teils willkürlich gesetzt, zumal ein gegebenes Ritual möglicherweise den Kriterien verschiedener Typen entspricht. Die Unterscheidung wird dann aber ganz hinfällig, wenn die Daten interkulturell und interreligiös sind.“ (Grimes 1998: 119)

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Aus diesem Grund werde ich mich darauf beschränken, den Junggesellenabschied als Übergangsritual zu klassifizieren, das in Form einer Feier vollzogen wird. 5.3.1 Der Junggesellenabschied als Übergangsritual Übergangsrituale überführen das Individuum von einer genau definierten Situation in eine andere, ebenso definierte Situation, sie gestalten die Überschreitung einer örtlichen, zeitlichen oder statusmäßigen Grenze, die das Individuum „überquert“. Dabei lassen sich Übergangsrituale in die drei Phasen „rites de séparation“, „rites de marge“ und „rites d’agrégation“ unterteilen (vgl. van Gennep 2005). Ethnologisch interessant ist vor allem die mittlere Phase, die van Gennep auch „liminale Phase“ oder „Schwellenphase“ nennt (vgl. ebd.), in ihr „durchläuft das rituelle Subjekt eine Zeit oder einen Bereich der Ambiguität, eine Art sozialen Zwischenstadiums, das wenige Merkmale (wenn auch manchmal außerordentlich bedeutsame) der vorangegangenen oder der folgenden profanen sozialen Positionen oder kulturellen Daseinsformen aufweist“ (Turner 1989b: 35). Der Junggesellenabschied als „Vorhochzeitsbrauch“, der in der Zeit zwischen dem Status des Junggesellendaseins und dem des Verheiratetseins vollzogen wird, kann als ein Übergangsritual klassifiziert werden. Aufgrund seines Namens erweckt er den Eindruck, vorrangig rite de séparation zu sein, bei dem die baldig Verheirateten rituell von der Gruppe anderer Junggesellen geschieden werden und die Loslösung aus einem klar fixierten Zustand zum Ausdruck gebracht wird. In seiner rituellen Praxis ist der Junggesellenabschied aber vor allem ein Ritual der Schwellenphase, in dem Ambiguitäten, Momente des Unbestimmten, nicht Klassifizierbaren, zum Ausdruck kommen, die für das Zwischenstadium des Subjektes bezeichnend sind. Dieser Charakter des Zwischenstadiums zeigt sich beim Junggesellenabschied bereits auf der sprachlichen Ebene: So wird das rituelle Subjekt sowohl „Junggeselle“ bzw. „Junggesellin“ als auch „Braut“ und „Bräutigam“ genannt, da beides gleichermaßen zuzutreffen scheint. Es ist charakteristisch für Rituale der Schwellenphase, mit Elementen des Vertrauten zu spielen und diese zu verfremden, wobei alte und neue Selbstaspekte verkehrt und miteinander vermischt werden, sodass aus unvorhergesehenen Kombinationen des Vertrauten etwas Neues entsteht (vgl. ebd. 40). Im Schwellendasein herrscht eine Anti-Struktur, die sich auf die Auflösung der normativen Sozialstruktur, ihres Rollensystems sowie ihrer Rechte und Pflichten bezieht und die den Ritualteilnehmern gestattet, „unordentlich“ zu sein, da sie entweder ein Übermaß an Ordnung besitzen und nun „Dampf ablassen“ wollen oder durch das Unordentlichsein etwas lernen sollen (vgl. ebd. 40f.). Infolgedessen zeichnen sich Rituale der Schwellenphase auch durch einen verhältnismäßig geringen Ritualisierungsgrad aus.

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Eine Studie von Tye und Powers über den kanadischen Junggesellinnenabschied, der dem deutschen sehr ähnlich ist, rekonstruierte anhand von Erlebnisberichten der Teilnehmerinnen, inwiefern bei diesen Feiern symbolisch zum Ausdruck kommt, dass „in the threshold between statuses, while the intiate is in a liminal state, that is ‚betwixt and between‘, the world can turn ‚insight out‘“ (Tye/Powers 1998: 552). Turner konstatiert z.B. im Noviziat als einer Schwellenphase „unendlich viele Formen des Durcheinanders, der Paradoxie, der Aufhebung des Normensystems, der Übertreibung normalen Verhaltens bis hin zur Karikatur oder des Spottens über die Ordnung. Die Novizen befinden sich gleichzeitig innerhalb wie außerhalb des Bereichs des Vertrauten. Über eines muß man sich jedoch im klaren sein – alle diese Handlungen und Symbole sind Pflicht. Selbst das Überschreiten der Regeln ist während der Initiation vorgeschrieben.“ (Turner 1989b: 66)

Im Hinblick auf diesen Pflichtcharakter unterscheidet er liminale von liminoiden Ritualen: Während sich liminoide Rituale durch Freiwilligkeit kennzeichnen, sind liminale Rituale Verpflichtungen. Der deutsche Karneval ist z.B. ein liminoides Ritual, bei dem man nach Belieben mitmachen, aktiv auftreten oder auch nur zuschauen kann. Der Beamteneid hingegen ist ein liminales Ritual für jeden, der in den staatlichen Dienst aufgenommen werden möchte. „Liminoide Phänomene sind also durch Freiwilligkeit, liminale durch Pflicht gekennzeichnet. Das eine ist Spiel, Unterhaltung, das andere eine tief ernste, selbst furchterregende Sache.“ (Ebd.) Der Junggesellenabschied ist in dieser Hinsicht grundlegend liminoid: Um heiraten zu können, ist man nicht verpflichtet, vorher einen Junggesellenabschied zu begehen. Für die JunggesellInnen selbst hat die Feier jedoch auch liminale Elemente, die – wurde einmal entschieden, einen Abschied zu feiern – durchaus Pflichtcharakter besitzen. 5.3.2 Der Junggesellenabschied als Feier Der Junggesellenabschied ist in seiner grundlegenden rituellen Ausdrucksform eine Feier. Bei Feiern oder Festen kommen bestimmte Personengruppen aus einem besonderen Anlass zusammen, um diesen in Geselligkeit und spezifischer Stimmungslage als bedeutsames Ereignis aus dem Strom des sozialen Alltagsgeschehens herauszuheben. Feiern bieten im Gegensatz zu anderen Ritualtypen vergleichsweise viel Freiraum für Kreativität, sind dabei jedoch umrahmt und choreographiert und ebenso wie das Spiel gewissen und ritualspezifischen Regeln unterworfen (vgl.

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Grimes 1998: 131). Feiern sind „Makroriten“101, die stattfinden als „individuelle Ereignisse unabhängig von der Ausführung irgendwelcher institutionalisierter Rollenerwartungen (Interaktionsrituale) oder besonderer Sprachkenntnisse (linguistische Riten). Der Makroritus ist also eine unabhängige Zeremonie, die mit der Gemeinschaft als korporatives Ganzes zu tun hat.“ (Bergesen 1998: 63) Die wesentliche Funktion von Makroriten besteht darin, kollektive Identitäten als bestimmte Grenzen in der Gesellschaft zu bestimmen. Feiern sind vielfarbig und vielgestaltig, bieten Raum für Spontaneität und individuelle Ausgestaltungen, akzentuieren die dramatische und expressive Seite des rituellen Geschehens und können als ritualisierte Spiele verstanden werden, die Gefühl und Ausdruck formalisieren und Fragen von Kontinuität, Authentizität und Ursprung ausblenden (vgl. Gebauer/Wulf 1998: 136). Als Ritualvollzüge geben Feiern den teilnehmenden Personen in besonderem Maße die Möglichkeit, traditionelle und bestehende Verhaltensmuster selbst neu auszugestalten, zu verändern und an individuelle Umstände anzupassen.

5.4 R ITUALISIERTE P EINLICHKEIT BEIM MODERNEN J UNGGESELLENABSCHIED Da der deutsche Junggesellenabschied in seiner heutigen Form bis auf die Ausnahme einer empirischen Befragung von Graf (vgl. Graf 2012) kaum in den Fokus wissenschaftlicher Betrachtungen und Untersuchungen gelangt ist, dienen mir zur Erfassung seiner wesentlichen Vollzugsmerkmale zum einen alltagsweltliche Beschreibungen wie journalistische Zeitungsberichte, Artikel, Ratgeber zu den Feiern und diesbezügliche persönliche Alltagsbeobachtungen. Zum anderen werden diese Beschreibungen mit den Eindrücken und Daten, die ich im Rahmen einer explorativen Feldstudie als teilnehmende Beobachterin von vier Junggesellenabschieden (drei weibliche und ein männlicher) sowie in vier Nachgesprächen102 mit den ehemaligen JunggesellInnen sammeln konnte, ergänzt und erweitert. Kurze Ablaufbe-

101 „Im Vergleich mit den Verpflichtungen von Benehmen und Ehrerbietung bilden Makroriten eher eine Welt für sich, denn auf der tiefer liegenden Stufe der Interaktionsriten ist rituelles Handeln mit institutionalisierten Rollendefinitionen verschmolzen. Diese stellen ihrerseits eine differenziertere soziale Praxis dar, wenn sie mit dem alltäglichen Fluss des codierten Sprechens verglichen werden, denn linguistische Riten sind der psychischen Subjektivität am nächsten und damit am wenigsten vom Bewusstsein getrennt.“ (Bergesen 1998: 67f.) 102 Die Transkripte sind in einem ausgelagerten Anhang als PDF-Datei unter folgendem Link online verfügbar: http://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-3145-6/peinlichkeit.

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schreibungen der Feiern sowie die transkribierten Interviews finden sich im Anhang. Anhand dieser Daten sollen diejenigen Vollzugsmerkmale herausgestellt und analysiert werden, die als peinlich gelten, um zu prüfen, inwiefern diese begrifflich als ritualisierte Peinlichkeit im oben beschriebenen Sinne klassifiziert werden können, bevor anschließend einige Überlegungen zu exegetischen und operationalen Bedeutungen des Ritualvollzugs und Funktionsmöglichkeiten in Bezug auf das Individuum (Individualitas) und die Gruppe (Communitas) formuliert werden. Darauf aufbauend möchte ich verschiedene Hypothesen aufstellen, die plausibilisieren, auf welche Weise gemeinhin Peinliches innerhalb des Ritualvollzugs zu großen Teilen „entpeinlicht“ und auf der Erfahrungsebene von einer schmerzlichen Unlust zur vergnüglichen Lust werden kann. Diese Hypothesen werden anschließend mit den empirischen Daten, die im Rahmen der Nachgespräche gesammelt werden konnten, verglichen. Abschließend möchte ich Vermutungen zur rituellen Rolle und Funktion ritualisierter Peinlichkeit innerhalb des spezifischen rituellen Kontextes formulieren. 5.4.1 Charakteristische formale und inhaltliche Ritualmerkmale Im Gegensatz zum traditionellen Polterabend, der gemeinsam mit der Familie und den Freunden von Braut und Bräutigam gefeiert wird, und anderen regionalspezifischen Vorhochzeitsbräuchen, z.B. der „Letsch“ (vgl. Graf 2012), stellt der Junggesellenabschied in seiner heutigen Form ein relativ neues Phänomen dar103, das den Polterabend, vor allem bei der jüngeren Generation, zunehmend ablöst. „Für viele junge Brautpaare gehört der Junggesellen- und Junggesellinnenabschied inzwischen selbstverständlich zum Programm vor der Hochzeit. Gleichzeitig verschwindet die Tradition des Polterabends, bei dem Dorfgemeinschaft und Jugendfreunde vor der Hochzeit mit Scherben böse Geister vertreiben sollen.“ (Süddeutsche Zeitung Online 2009: 1f.)

103 Längst haben diese Feiern das Interesse der Medien und der Industrie geweckt: „Junggesellenabschiede boomen“ (vgl. Südkurier Online 2009), „Akademikerinnen haben das Ritual des Junggesellinnenabschieds für sich entdeckt“ (vgl. Taz.de 2005) oder „Wie peinlich muss ein Junggesellenabschied sein?“ (vgl. Passauer Neue Presse Online 2009) titeln die Zeitungen. Journalisten suchen nach Gründen für die inflationäre Verbreitung dieser Feiern, wohingegen die Industrie versucht, ihren neuen Absatzmarkt durch das Angebot entsprechender Produkte, die von grotesken Kostümen über einheitliche Gruppen-T-Shirts bis zum voll ausgerüsteten Bauchladen für den Straßenverkauf reichen, stetig weiter auszubauen.

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Dass der Bräutigam vor seiner Hochzeit einen Abschied vom Junggesellendasein zelebriert, indem er mit anderen männlichen Familienmitgliedern und Freunden einen „Abschiedsumtrunk“ (Südkurier Online 2009: 2) in örtlichen Kneipen veranstaltet, gibt es historisch gesehen in Deutschland zwar schon länger, doch für die Braut war es bis in die 50er und 60er Jahre in ländlichen Regionen allenfalls üblich, vor ihrer Hochzeit ein Kaffeekränzchen mit anderen Damen zu veranstalten.104 Auch zeichneten sich entsprechende Kneipenbesuche der Männer bis vor wenigen Jahrzehnten noch nicht durch die Kostümierungen und Aufgaben aus, welche für einen modernen Junggesellenabschied, im Folgenden auch kurz „JGA“ genannt, charakteristisch sind. In einer empirischen Untersuchung im Rheinland konnte Graf folgende Merkmale eines typisch modernen JGA, der in dieser Form seit ca. Mitte der 1990er Jahre in Deutschland gefeiert wird105, aufzeigen: „Beim aktuellen JunggesellInnenabschied sind die Gäste in männlich und weiblich gemäß ihrer Zugehörigkeit zu Bräutigam und Braut getrennt, es kommen zumeist nur ‚enge Freunde‘, keine Verwandten, Nachbarn etc. Die Feier organisiert man auch nicht selbst, auch nicht die Eltern; sie wird vom Trauzeugen oder der Gruppe gemeinsam für einen organisiert, in den meisten Fällen als Überraschung. Der Ort der Feier ist fast nie der Herkunftsort, es wird absichtlich eine größere Stadt besucht bzw. sich dort getroffen. Da die Gäste oftmals aus ganz unterschiedlichen Lebenskontexten von Braut oder Bräutigam stammen, kennen sie sich zum Teil vor der Feier nicht alle untereinander. […] Die Gruppe macht sich jedoch häufig nach außen als Einheit kenntlich, z.B. durch einheitliche T-Shirts. […] Stereotyp betrachtet muss der Junggeselle/die Junggesellin häufig Spiele mit Passanten machen, etwas verkaufen oder wird mehr oder weniger auffällig verkleidet. In vielen Fällen wird Alkohol getrunken, die Feier kann sich über einen ganzen Tag hinziehen und endet oftmals in Kneipen, Discotheken, seltener in einem Stripclub. Dies wird von den Befragten zumindest unter der aktuell als ‚klassische Form der Feier‘ beurteilten Variante verstanden.“ (Graf 2012: 21f.)

104 Graf verweist hier auf eine Befragung zu Vorhochzeitsbräuchen aus dem Rheinland im Jahr 1960: „Ein Gewährsmann berichtet aus Herzogenrath für das Jahr 1960, dass es üblich war, einen ‚gemütlichen Trinkabend mit den Schwägern in verschiedenen Lokalen des Heimatortes‘ zu machen (m, Herzogenrath-Kohlscheid). In dieser Art finden sich einige Hinweise, beispielsweise auch die Nennung eines äquivalenten Kaffeetrinkens der Braut mit ihren Freundinnen.“ (Graf 2012: 21) 105 So verweist Graf darauf, dass in einem 1996 erschienenen Sonderheft zum Thema „Hochzeit im Wandel“ noch keine Rede von der Feier eines JunggesellInnenabschieds im heutigen Sinne war und schlussfolgert, dass sich die heutigen Feiern mit Kneipentour, Motto-T-Shirt, Spielen und Verkauf erst seit Mitte/Ende der 1990er Jahre in größerem Stil verbreitet haben (vgl. Graf 2012: 18).

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Auch die vier von mir begleiteten Feiern zeigten diese typischen formalen und inhaltlichen Merkmale des spezifischen Teilnehmerkreises, der Organisation durch die Gruppe, die eine Überraschung für die JunggesellInnen darstellte, der Verkleidung und erkennbaren Einheitlichkeit der Gruppe, der öffentlichen Spiele mit Passanten, des Alkoholkonsums sowie der Kneipen- und Diskothekenbesuche größerer Städte (zwei Mal war dies auch die Herkunftsstadt); bei zwei Feiern waren zudem StripperInnen Bestandteil des Ablaufes. Die einzelnen Ablaufbeschreibungen der vier Feiern sowie die transkribierten Gespräche finden sich im Anhang in Kapitel 8. Dass es sich bei einer solchen Form der Junggesellenabschiedsfeier keineswegs um eine nur regional- oder landesspezifische Entwicklungsform handelt, zeigen mediale Berichte aus den unterschiedlichsten Regionen Deutschlands zu diesem Phänomen106 sowie Reportagen und Studien zum Junggesellenabschied aus anderen westlichen Ländern wie Großbritannien, Kanada und den U.S.A.107 Vieles deutet darauf hin, dass der deutsche Junggesellenabschied eine Adaption der Abschiedsfeier aus dem englischsprachigen Raum darstellt (vgl. Südkurier Online 2009; Taz.de 2005), die durch mediale Vorbilder, nicht zuletzt auch Hollywood (vgl. Welt Online 2013: 1), beeinflusst worden ist, da ansonsten kaum historische Vorlagen für das Ritual in der oben beschriebenen Form existieren. Trotzdem kann er kaum als bloßes Importphänomen betrachtet werden, sondern allenfalls als eine kulturspezifische Interpretation übernommener Vorlagen, die sich jedoch durch eigene Gestaltungsspielräume, Funktions-, Form- und Trägerschaftskontinuitäten auszeichnet.

106 So werden auch „so genannte ‚Szene‘-Bezirke wie Prenzlauer Berg in Berlin, Spielplatz jener Generation der heute um die Dreißigjährigen, ‚die nicht erwachsen werden wollen‘, […] von diesen vermeintlich provinziellen Ritualen längst nicht mehr verschont“ (Taz.de 2005: 2). 107 Montemurro/McClure beschreiben den amerikanischen Junggesellinnenabschied, die sog. „bachelorette party“, als „characterized by ritualized embarrassment of the bride and by sexualized games, both of which are made easier by heavy alcohol consumption“ (Montemurro/McClure 2005: 279), wobei das vorrangige Ziel dabei sei, „to make a fool out of her“ (ebd. 283). Dabei werde erwartet, dass die Junggesellinnen „being a good sport about being dressed up in a veil or completing dares like asking random men for their boxer shorts“ (ebd. 284). Eldridge/Roberts sprechen von der „hen party“ oder auch „hen night“, dem britischen Pendant, als „a night of drunken excess and embarrassing misdemeanours“ (Eldridge/Roberts 2008: 323), welche „entails a list of embarrassments form regrettable drunken rants with strangers, to, seemingly worse of all, the expectation that ‚good feminists will don bunny ears for the night and get leery‘“ (ebd. 323). Auch Tye/Powers, die kanadische Jungesellinnenabschiede untersuchten, stellten fest, dass „just like the groom at the bachelor party, the bride is expected to be ‚good sport‘ about the humiliation and sexual banter“ (Tye/Powers 1998: 554).

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5.4.2 Exegetische Bedeutung des Ritualvollzugs Grundlegend gilt der Junggesellenabschied, wie schon sein Name sagt, als ein Abschied von der „Freiheit“ des Junggesellendaseins der in Kürze verheirateten Person (vgl. Passauer Neue Presse Online 2009: 1). Diese darf bzw. soll noch einmal vor ihrer Hochzeit gemeinsam mit ihrem gleichgeschlechtlichen Freundeskreis ausgelassen feiern. Der Abschied wird als eine Möglichkeit gesehen, es ein letztes Mal vor der Ehe „krachen zu lassen“ (vgl. Süddeutsche Zeitung Online 2009), über die Stränge zu schlagen und Tabus zu brechen, denn die Ehe gilt vielen immer noch als „Spaßbremse“, weshalb auf den JGA gerade solche Dinge erlaubt bzw. vorgeschrieben werden, die den gesellschaftlichen Erwartungen und Standards im Hinblick auf das zukünftige Eheleben entgegenstehen. Diese Auslegungsweise wurde auch von den im Nachgang an ihre Abschiedsfeier befragten ehemaligen JunggesellInnen geteilt: So betrachtet Michaela den JGA als ursprüngliche „Männerdomäne“ (Michaela 151), die sich die Frauen im Zuge der Emanzipation bei den Männern abgeschaut hätten und bei der es darum gehe, noch einmal Spaß zu haben, bevor man nach der Hochzeit „spießig“ werde (ebd. 157), es sei „ein letztes Aufatmen, bevor man an Heim und Herd gekettet wird“ (ebd. 159f.). Heutzutage mache man es jedoch hauptsächlich, „weil es jeder macht, weil es Spaß macht, weil man einen Grund hat, um noch einmal richtig feiern zu gehen. Weil man die Ehe damit eigentlich schon einläutet, so der erste Schritt zur Hochzeitsfeier, gehört ja zur Hochzeitsfeier so schon quasi dazu.“ (Ebd. 164f.) Sie betrachtet den JGA als einen Anlass, „mal wieder richtig einen drauf zu machen, so richtig feiern zu gehen, die Nacht durchzumachen, mit ein paar Mädels Spaß zu haben und so“ (ebd. 144), und begründet ihre Entscheidung, selbst einen JGA zu veranstalten, damit, dass sie sich überlegt habe, dass das Ganze „ganz lustig“ (ebd. 132) werden könnte. Marina sieht den JGA als eine Art Abschied von den eigenen Freundinnen an, mit denen man vorher oft und lange ausgegangen sei (vgl. Marina 170f.). Heutzutage überwiege allerdings der Gedanke, noch mal richtig zu feiern, „so wie so eine eigene Party zu machen, jetzt nicht so als Abschied, sondern einfach nur noch mal derbe so zu feiern, so als Vorfreude auch auf die Hochzeit“ (ebd. 172f.). Thomas sieht die Bedeutung des JGA darin, „nochmal die Sau raus zu lassen..wie man so sagt ‚Der letzte Tag in Freiheit‘ und so was, ne? Ich denke mal, das hat einen traditionellen Zweck deswegen, ne? Ja, es ist halt wirklich einfach nochmal die Sau rauslassen, ne? Ich will jetzt nicht sagen kurz vorm Ende, weil dann kriege ich gleich Ärger oder so. Weil ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, ja?“ (Thomas 138ff.)

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Eva ergänzt: „[E]s ist ja nicht einfach nur feiern gehen, das ist ja auch, du musst dich zum Deppen machen, weil die anderen das halt ausnutzen […] Da musst du dich echt zum Äffchen machen und dann mit so einem… Bauchladen dann dein Zeug da verkaufen oder so was, ne?“ (Eva 147ff.) Simone betrachtet die Feier als einen Anlass, noch mal richtig „ausgelassen“ zu feiern (Simone 126f.), gibt aber auch zu bedenken, dass die Feiern grundsätzlich ein „tierisches Sich-zum-Affenmachen“ (ebd. 131f.) seien. Hier zeichnet sich bereits ein ambivalentes Bild der Feiern hinsichtlich der Bewertung dazugehöriger Handlungsvollzüge ab: Obwohl bestimmte Bestandteile der Feier durchaus kritisch gesehen werden und als peinlich gelten, wird der JGA zugleich im positiven Sinne als vergnüglicher Spaß und enthemmtes Feiern mit den besten Freunden angesehen.108 5.4.3 Ritualisierte Peinlichkeit als Ritualbestandteil Zu einem typischen JGA gehört, dass man als JunggesellIn „verschiedene Aufgaben ausführ[t], die auf den ersten Blick ziemlich peinlich sind“ (Damm 2009: 65), bei denen man sich „optisch, meist auch verbal zum Vollidioten macht. Machen muss.“ (Bayerischer Rundfunk Online 2009: 1) „Peinlichkeitsaufgaben, die entfernt an einen Kindergeburtstag erinnern“ (Badische Zeitung Online 2009: 4) sowie „Stripper, Alkoholexzesse und grenzwertige Verkleidungen sind an der Tagesordnung“ (BR Online 2009: 2) und sorgen dafür, dass man sich „öffentlich zum Deppen“ (Taz.de 2005: 2) macht. Die Feier wird von manchen Personen ganz offen abgelehnt, da das dazugehörige Verhalten „für peinlich gehalten wird. Was gemeinhin darunter verstanden wird, erläutert diese Befragte: ‚Die Junggesellenabschiede, die man häufig auf der Straße mitbekommt mit Bauchladen, peinlichen T-Shirts oder Verkleidungen und peinlichen, sexualisierten Aufgaben, sind verpönt, weil eben peinlich und niveau-

108 So heißt es auch in Berichten und Artikeln über JGA-Feiern, sie sollen ein „einmaliger lustiger Abend“ (Passauer Neue Presse Online 2009: 3) werden, erlaubt sei dabei alles, was „Spaß macht, aber eben auch ein wenig über die Stränge schlägt (ebd. 1), es gehe darum, gemeinsam „Spaß zu haben“ (Südkurier Online 2009: 1), die Spiele und Prüfungen seien „‚lustige‘ Möglichkeiten, dem Ledigsein Lebewohl zu sagen“ (ebd. 2). Die typische Stimmung der Gruppe wäre „feucht-fröhlich“ (Süddeutsche Zeitung Online 2009: 1), sie erscheine Beobachtern beinahe „zu gut gelaunt“ (Bayerischer Rundfunk Online 2010: 1), während sie eine „witzige Tradition“ (Einen-trinken.de 2012: 1) vollziehe. „[D]er Spaß steht im Vordergrund“ (Bayerischer Rundfunk Online 2010: 1), denn „Spaß muss sein, vor allem bei einem Junggesellenabschied“ (1001hochzeiten.de 2013: 1), dessen Prüfungen Braut und Bräutigam als „lustigen Witz“ (ebd.) nicht verweigern werden.

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los‘.“ (Graf 2012: 22)109 Nicht wenige Beobachter der Feier fragen sich: „Was bringt Menschen bloß immer wieder dazu, sich öffentlich derart zu blamieren? […] Wenn sie so große Angst davor haben, mit ihrer Hochzeit ihre Freiheit zu verlieren, dass sie kurz vorher noch alle Peinlichkeiten der Welt auf einmal nachholen wollen, sollten sie vielleicht einfach nicht heiraten.“ (Zeitjung.de 2012: 1) Um zu untersuchen, inwiefern „ritualisierte Peinlichkeit“ einen Ritualbestandteil der Feiern bildet, möchte ich drei typische Elemente der Feiern, die mit Peinlichkeitsbewertungen in unmittelbarem Zusammenhang stehen, herausheben und näher beschreiben: die auffällige/lächerliche Kleidung von Braut/Bräutigam und Gruppe, die öffentlichen Exponierungsspiele und der öffentliche Alkoholkonsum.110 Darüber hinaus möchte ich aufzeigen, inwiefern diese Ritualelemente stereotypen bzw. wiederholbaren Mustern folgen, und sie mit den konkreten Handlungsvollzügen der begleiteten vier Feiern vergleichen. Verkleidungen Ritualvollzüge besitzen oft einen durch Zeichen determinierten Anfang als ritualisierte Eröffnung, die die Abgrenzung zwischen Alltags- und Ritualwelt durch das Hervortreten aus dem Alltagscharakter in eine „außergewöhnliche“ Rolle (vgl. Garfinkel 2007) markiert. Beim JGA ist dies der Kleidungswechsel, bei dem die Betroffenen als „Braut“/ „Bräutigam“ bzw. „JunggesellIn“ typisiert werden und auch die begleitende Gruppe sich als Ritualteilnehmer kenntlich macht. Den JunggesellInnen wird ihre Kleidung, welche sie vorher nicht kannten, zu Beginn der Feier von der Gruppe übergeben, danach wird sie unmittelbar angezogen. Meist er-

109 Insgesamt werden die Feiern jedoch durchaus divergent bewertet. So äußerten die von Graf Befragten auch folgende Meinungen: „[…] ‚Meist hart an der Grenze zum Peinlichen, aber immer lustig‘ (m, 22, Bonn). […] Zwei weitere männliche Befragte und eine Frau, die sich den vorgegebenen Antworten enthalten haben, beschreiben den Ruf in eigenen Worten mit: ‚exzessiv, wild, ungehemmt‘ (m, 21, Bonn) und ‚Nochmal mit Freunden über die Stränge schlagen‘ (m, 23, Bonn) und ‚durchwachsen‘ (w, 23, Burscheid).“ (Graf 2012: 22f.) 110 Dass diese drei Aspekte typische Bestandteile nicht nur des Ritualvollzugs, sondern auch des sozialen Handlungsplans darstellen, der dem Vollzug zugrunde liegt, zeigt sich bereits daran, dass sowohl Kleidung/Kostümierung als auch Spiele im Voraus organisiert werden müssen, sie können keine bloß spontanen Handlungsdynamiken während des Ritualvollzugs darstellen. Sie erfordern den Einsatz besonderer Objekte, die gekauft oder gebastelt werden müssen (T-Shirts, Bauchladen, Verkaufsartikel etc.). Alkoholische Getränke werden zwar ebenfalls im Vorfeld besorgt (als Artikel für den Bauchladen oder auch zum gemeinsamen Verzehr), sind darüber hinaus jedoch an den öffentlichen Orten, die aufgesucht werden, ebenso verfügbar.

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halten sie ein T-Shirt mit einem speziellen Aufdruck sowie dazugehörige Accessoires, manchmal auch ein richtiges Kostüm. Die anderen Gruppenmitglieder tragen im Regelfall einheitliche T-Shirts111, hin und wieder auch andere gut sichtbare Erkennungszeichen, z.B. Hüte. Bei den Junggesellinnen sind Kostüme wie Prinzessin, Cowgirl, Krankenschwester, Schönheitskönigin (mit Schärpe), Teufelin, Engel oder Playboybunny (stets besonders „süß“ oder „sexy“), bei den Junggesellen Verkleidungen wie Sträfling, Transsexueller, Ballerina, Hase oder Prinzessin zu beobachten. Nicht selten stellen die „Outfits“ der JunggesellInnen aber keine eindeutig erkennbare Kostümierung dar, sondern muten eher wie karnevaleske Aufmachungen an, bei denen ganz unterschiedliche Elemente miteinander kombiniert werden (bei Männern z.B. Clownperücke mit Federboa und Baströckchen, bei Frauen z.B. Cowboyhut mit Schleier). Tragen die JunggesellInnen T-Shirts, sind Aufdrucke mit Knastsymbolen und Überschriften wie „Game Over“ (bei den Männern), „Jetzt kommt er an die Leine“ (gleichermaßen bei Frauen und Männern), „Sold“ (engl. für „verkauft“, eher bei Männern), „DAS WARS“ (statt „STAR WARS“, bei Männern), „Einbahnstraße Ehe“ (bei Männern), „Ich bin der Depp“ (bei Männern) oder „Germany’s next Topwife“112 (bei Frauen) verbreitet. Der Rest der Gruppe ist laut T-Shirt-Aufdruck z.B. „Security“, „Top-Jury“ oder „Mitläufer“. Häufig gibt es auch ein übergeordnetes Motto der Feier, dem Kleidung, Sprüche und Spiele untergeordnet werden.113

111 Auch hier sind Gegentrends erkennbar, die den Drang nach Individualisierung und Abgrenzung verdeutlichen. So wird in einem Ratgeber-Artikel für den perfekten MännerJGA geschrieben: „Viele finden es lustig, in gleichen T-Shirts rumzulaufen. Ist es aber nicht. Allzu leicht wird man mit dem örtlichen Kegelclub verwechselt. Da ändern auch die lustigen Sprüche auf den Shirts nichts. Trotzdem sollte man nicht auf ein verbindendes Element verzichten. Armbänder, wie sie auf Konzerten oder Clubs ausgegeben werden, reichen vollkommen aus.“ (DerBerater.de 2013: 1) 112 Dies ist eine Anspielung auf das vorrangig von jungen Frauen geschaute Casting-Format „Germany’s next Topmodel“, bei dem Heidi Klum jährlich das „schönste Mädchen Deutschlands“ sucht. 113 So wird in der Planungsgruppe von Michaelas JGA überlegt: „nur was wollen wir denn als motto? sollte ja schon zu ihr passen. also nicht germanys next topwife sondern eher in die richtung: ab morgen habe ich 2 gehälter. sklaverei ganz legal, gute mädchen kommen in den himmel, böse in die ehe, geiz ist geil, ab morgen zahlt mein mann, lets get married mit nem bild wo sie ihn an der leine hält, oder zu dem bild: sie kam sah und siegte,... naja davon gibts ja x im internet. sollen wir das ganze dann noch unter ein motto stellen? also michi als teufelsbraut oder königin, weil er unter ihrer fuchtel steht? der

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Während bei der Kleidung der Männer stereotyp betrachtet Symbole der Unmännlichkeit, des Zwangs, Freiheitsentzugs oder Exitus im Vordergrund stehen, die auf die baldige Hochzeit verweisen, wird die Kleidung der Frau von weiblicher Hypersexualisierung, aber auch von Symbolen der Frauenpower dominiert.114 In ihrer Kleidung sollen die JunggesellInnen nicht ehrwürdig, elegant oder erhaben wirken, sondern witzig, lächerlich und schräg, bei den Frauen darüber hinaus besonders sexy oder niedlich. Auch auf den begleiteten vier Feiern trugen die JunggesellInnen sowie die übrigen Ritualteilnehmer besondere Kleidung, die sie in ihren rituellen Rollen herausstellte und der oben beschriebenen Stereotypik grundlegend subsumierbar ist. Während Marina ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Topwife“, ein Tutu-Röckchen und einen Schleier erhielt, bekam Thomas ein T-Shirt mit dem Spruch „Ich heirate und muss dieses T-Shirt tragen“, darunter war ein trauriger Smiley abgebildet. Simone wurde als „sexy Piratin“ verkleidet, Michaela erhielt neben einem rosa Haarreif mit Schleier und Fühlern einen großen rosa Anstecker in Form eines Venus-Symbols mit der Abbildung einer Frau, die einen auf allen Vieren kriechenden Mann an der Leine führte. Darüber hinaus musste sie eine Netzstrumpfhose über ihrer Hose tragen und im späteren Verlauf der Feier einen weißen Maleranzug anziehen. Beides ließ sie komisch/lächerlich und nicht sexy/niedlich wirken, entspricht also eher der Stereotypik der Männerkleidung. Die begleitenden Gruppenmitglieder trugen alle entweder einheitliche T-Shirts oder Accessoires als Erkennungszeichen. Exponierungsspiele Nachdem die JunggesellInnen verwandelt worden sind, folgt in der Regel der gemeinsame Auszug in die Öffentlichkeit, wo von ihnen auferlegte Aufgaben absolviert werden müssen. Hier handelt es sich um einen zusätzlichen Spielkontext in-

arme daniel, aber an dem abend muss ers ertragen. ziehen wir uns dann alle farblich ähnlich zum thema an? naja irgendwie schreib ich mal, was mir grad alles dazu einfällt. :) merkt ihr es? :D tja dann lasst mal hören :)“ (Planungsgruppe „JGA Michaela“ auf Studi-VZ). 114 Hier besteht bei vielen Gruppen der Wunsch, sich durch besonders originelle, ausgefallene oder auffällige Kleidung von anderen JGA-Gruppen abzuheben, deren erklärtes Ziel dies jedoch ebenfalls ist, sodass eine Art Wettbewerb um die größtmögliche Andersartigkeit zu beobachten ist, welcher natürlich wegen der Stereotypik nur innerhalb des entsprechenden Schemas erfolgen kann – ansonsten würden Außenstehende die Ritualteilnehmer nicht als JGA-Gruppe sowie Braut bzw. Bräutigam nicht als solche identifizieren, worin jedoch ein wesentlicher indexikalischer Aspekt des öffentlichen Ritualvollzugs besteht.

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nerhalb des Ritualkontextes, d.h. um Handlungsvollzüge, welche zwar Bestandteile des Ritualvollzugs sind (so gehört das öffentliche Absolvieren exponierender Prüfungen oder Spiele zum sozialen Handlungsplan des Rituals), zugleich aber nochmals zusätzlichen Regeln unterworfen sind, die weitere Teilpläne, die aus dem allgemeinen sozialen Handlungsplan von den Ritualteilnehmern für dessen konkreten Vollzug abgeleitet werden, erfordern (z.B.: „Der Junggeselle muss drei Frauen mit dem Vornamen seiner Braut finden und mit ihnen ein Foto machen.“). Die Spiele präsentieren sich zwar als zu erfüllende Prüfungen oder Pflichten der JunggesellInnen, d.h., sie werden als liminale Ereignisse gerahmt, besitzen aber zugleich einen grundlegend ludisch-liminoiden Charakter, der individuelle Freiräume und Interpretationsmöglichkeiten der Aufgaben gestattet und es ermöglicht, Spielfreude zu entwickeln. Insofern bewegen sich die Aufgaben in einem uneindeutigen Spannungsfeld von spielerischer Freiheit und auferlegtem Zwang. Einerseits werden sie als Spiele zwanglos um ihrer selbst willen vollzogen, andererseits sind sie darüber hinaus in einen übergeordneten Ablaufplan eingebettet, den es als Pflicht unabhängig von den eigenen Intentionen zu befolgen gilt. Da die jeweiligen Regeln, die für die Spielhandlungen gelten, auf den Rahmen des Spiels beschränkt sind, tragen die entsprechenden Handlungsinhalte grundlegend ambivalente bzw. uneindeutige Züge: Sie stellen etwas dar und machen etwas erfahrbar, was aus dem Alltag verbannt ist, im Spiel dennoch gleichermaßen echt und intensiv erlebt werden kann, aber nicht das bedeutet, was es im Alltag bedeuten würde (vgl. Gebauer/Wulf 1998: 203). Die Spiele auf JGA-Feiern beziehen stets das Gesehenwerden von und die Interaktion mit fremden Menschen ein. Verbreitet bei männlichen JGA-Feiern sind etwa „Spiele, bei denen der Protagonist möglichst viele Unterschriften von Frauen auf seinem Shirt, oder möglichst viele Telefonnummern ergattern muss. [...] Ein wenig schlüpfriger wird es mit Aufgaben, die nicht so einfach zu bewerkstelligen sind, bspw. das Abschneiden von Etiketten aus Frauentangas. Hier ist Mut gefragt, und natürlich Fingerspitzengefühl. [...] Auch peinliche Aufgaben, wie versuchen gegen Bares fremde Schuhe zu putzen, lauthals Wunschlieder der Passanten gegen einen kleinen Obolus zu singen oder rote Rosen an attraktive Frauen zu verteilen, Küsse zu erschleichen und ähnliches bringen besonders mit steigendem Alkoholpegel Freude in die Gesellschaft.“ (Einen-trinken.de 2012: 1)

Darüber hinaus muss der Junggeselle auch mal „Kondome verkaufen […], halbnackt durch den Ort laufen oder Bussis einsammeln von willigen Passanten. Mancherorts hat es sich eingebürgert, den Noch-Junggesellen in eine Sausteige – einen Käfig aus Holz zum Schweinetransport – einzusperren und darin herumzutragen.“ (Passauer Neue Presse 2009: 1)

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Die Frauen erhalten ähnliche Aufgaben: Sie müssen fremde Männer um Fotos, Unterwäscheetiketten und Telefonnummern bitten oder z.B. „zehn Küsse einsammeln, […] [werden] in Männertoiletten an Heizungsrohre gekettet und am Abend folgt, natürlich, der Männerstrip“ (Bayerischer Rundfunk Online 2010: 2). Typische Bestandteile der Aufgaben sind weiterhin der umgehängte Bauchladen, aus dem alkoholische Getränke wie Schnäpse und sexualisierte Artikel wie Tangas, Gleitgel oder Kondome verkauft werden müssen. Auch das Exponieren bestimmter Körperteile, wie bei „Enthaarungsaufgaben“ bei den Männern (sie müssen Frauen finden, die ihnen gegen Geld die Körperteile rasieren bzw. entwachsen), und das Ausschneiden von auf der Kleidung aufgemalten Herzen können beobachtet werden. Stereotyp betrachtet involvieren die Aufgaben stets öffentliche Selbstexponierungen, insbesondere vor dem jeweils anderen Geschlecht, sind meist sexualisiert bzw. beziehen sexualisierte Objekte mit ein und beinhalten den Konsum hochprozentigen Alkohols. Die Exponierungen bestehen sowohl in allgemein als peinlich geltenden Bloßstellungen der eigenen Person, z.B. öffentlichem Singen oder Tanzen, als auch im Animieren/Ansprechen fremder Passanten, etwas zu kaufen bzw. bei Spielen und Aufgaben mitzumachen, die einen Bezug zu erotischen Handlungen oder Flirtaktivitäten aufweisen und entsprechend wechselseitige Exponierungen erfordern (z.B. küssen, eigene oder fremde verdeckte Körperteile exponieren, nach Telefonnummern fragen). Sind gebuchte Stripper oder Stripperinnen Bestandteil der Feier, werden die JunggesellInnen von ihnen in das erotische Exponierungsspektakel des Strippens mit einbezogen, sind also nicht bloß Exponierungsbeobachter wie der Rest der Gruppe, sondern werden durch die Exponierungen gezielt provoziert bzw. sollen diese aktiv unterstützen, was sie typischerweise in Verlegenheit bringt. Die Handlungsvollzüge auf den begleiteten Feiern entsprechen dieser Stereotypik von öffentlicher Exponierung – vor allem gegenüber dem jeweils anderen Geschlecht: Bei Marina und Thomas waren StripperIn Bestandteil der Feier, alle JunggesellInnen mussten in der Öffentlichkeit hochprozentige Alkoholika an Fremde verkaufen, Marina zudem Kondome und Simone Küsschen. Bei Michaela war geplant, dass sie sich Kunststoffbrüste umschnallen sollte, die Männer gegen Bezahlung anfassen dürften, doch entschied sich ihre Freundin während der Feier bewusst dagegen, die Plastikbrüste zum Einsatz zu bringen, da aus ihrer Sicht die Stimmung hierfür nicht locker genug gewesen sei. Thomas hatte darüber hinaus allgemeine Bloßstellungsaufgaben, z.B. leere Pfandflaschen zu erbitten und dann einzutauschen, in Geschäften etwas zu „erschnorren“ und in einem Schnellimbiss zu tanzen.

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Alkoholkonsum Alkoholkonsum und auch -rausch stellen wesentliche Bestandteile der rituellen Praxis dar115, sofern der Genuss entsprechender Getränke nicht durch bestimmte Umstände, z.B. Schwangerschaft, Krankheit oder generelle Abstinenz, versagt ist. Oft ist er in die Aufgaben in Form von Trinkspielen oder auch Trinkprüfungen involviert, zudem gibt es die Tendenz, beim Verkauf von Schnäpsen die Passanten zu animieren, ein zweites Getränk für die JunggesellInnen mitzukaufen, um gemeinsam mit ihnen auf die Hochzeit anzustoßen. Zwar stellt öffentlicher Alkoholkonsum heutzutage keine Normverletzung mehr dar, doch wird er auf den Feiern – zumindest zu deren Beginn – von seiner typischen Zeit- und Örtlichkeit entkoppelt: So wird bereits ab dem frühen Nachmittag begonnen, an öffentlichen Orten wie in Zügen, Bahnen, Einkaufspassagen und Innenstädten Alkohol, meist in harter Form von Schnäpsen, zu konsumieren, bevor später Kneipenmeilen oder Bars aufgesucht werden. Da für viele Personen Alkoholgenuss und auch -rausch zum sozialen Alltag von Club-, Kneipen- und Diskothekenabenden dazugehört, artet der JGA als außeralltägliche Steigerung solch „normaler“ Abende nicht selten in einen Alkoholexzess aus, in regelrechte „Saufgelage“ (Passauer Neue Presse Online 2009: 2), bei denen sowohl JunggesellInnen als auch begleitende Gruppen bereits am frühen Nachmittag in alkoholisiertem Zustand durch die Städte ziehen. Dieser zeichnet sich nicht nur durch eine dem jeweiligen Alkoholpegel entsprechende Beeinträchtigung allgemeiner Denk- und Handlungskompetenzen aus, sodass es zu vermehrten Kontrollverlusten kommt, sondern auch durch einen Hemmungsabbau, welcher dazu führt, dass die JunggesellInnen zu Exponierungen bereit sind, die sie ansonsten ablehnen bzw. nur mit großem Widerwillen ausführen würden. Unangemessene, ungeschickte und tabuisierte Verhaltensweisen werden auf diese Weise sowohl hervorgebracht als auch weiter gefördert. Auch auf den begleiteten Feiern wurde in allen vier Fällen Alkohol konsumiert, wobei Michaela nichts trinken konnte, da sie zu diesem Zeitpunkt schwanger war (ihre Freundinnen nahmen zwar alkoholische Getränke zu sich, allerdings in geringerem Maße als die Teilnehmer der anderen Feiern). Marina, Simone und Thomas hatten bereits vor ihren ersten öffentlichen Aufgaben Schnaps getrunken, zudem waren ihre Aufgaben mit Alkoholkonsum verbunden. Während Marina und Simone bei meiner Begleitung bereits sehr angeheitert, jedoch nicht betrunken schienen, war Thomas nach kurzer Zeit schon so alkoholisiert, dass er sich an die meisten Be-

115 Montemurro/McClure stellen in Bezug auf amerikanische JGA-Feiern von Frauen fest: „One of the goals of bachelorette parties is to get the bride drunk. […] [I]ntoxication is planned and expected.“ (Montemurro/McClure 2005: 283) Auch für die deutschen Feiern von Männern und Frauen gilt Äquivalentes.

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gegnungen, die ihm beim Nachgespräch in den Videoaufnahmen gezeigt wurden, laut eigener Aussage nicht mehr erinnern konnte. Strategiedimensionen der Peinlichkeitsherbeiführung Betrachtet man die beschriebenen drei Ritualmerkmale als absichtliche Herbeiführung von Peinlichkeit, sind sie grundlegend der Strategiedimension (1) („causing a person to look unpoised, which is causing another to appear awkward“) subsumierbar. So wird von den JunggesellInnen verlangt, sich auf komische Weise zu exponieren: Sie müssen in ihrer auffälligen Kleidung Aufgaben erfüllen, die lächerliche, tabuisierte, taktlose oder ungewohnte Selbstdarstellungen erfordern, welche gemeinsam mit ihrem angeheiterten oder angetrunkenen Zustand dazu führen, „to look unpoised“ bzw. „to appear awkward“.116 Zugleich ist es von Bedeutung, dass die Exponierungen als Ereignisse verstanden werden, welche „occur ‚in-good-fun‘“ (Sharkey 1997: 81), da sie ein harmloses „practical joking“, „teasing“, „making fun of another“ darstellen (Strategiedimension (4)), das nicht zum Ziel hat, die JunggesellInnen zu beschämen, zu bestrafen oder zu kritisieren. Dieser Scherzcharakter kommt wesentlich durch den kommunikativen Umgang der Ritualteilnehmer mit den Exponierungen zum Ausdruck: Die Gruppe schreibt den JunggesellInnen nicht nur vor, was sie anzuziehen bzw. zu tun haben, und beobachtet dann kommentarlos die Umsetzung der Aufgaben, sondern neckt die Betroffenen damit, erheitert sich daran und macht Witze darüber, die den Spaßcharakter des Ganzen unterstreichen. Auch die JunggesellInnen selbst machen Späße und spöttische Bemerkungen über ihre Erscheinung und Rolle. Diese Handlungen sind weniger explizit thematisierte bzw. bewusst gewusste Bestandteile des sozialen Handlungsplans der Feier, vielmehr scheinen sie ein intuitives Wissen darüber zu betreffen, wie mit bestimmten Ritualbestandteilen in der rituellen Praxis kommunikativ zu verfahren ist, um die Ritualziele zu erreichen. Einen entsprechend frotzelnden und spottenden Umgang mit der rituellen Rolle der JunggesellInnen konnte ich während der Begleitungen der Feiern immer wieder beobachten. So witzelte eine der Freundinnen von Michaela, während diese eine ihr

116 Da dies Bestandteil des sozialen Handlungsplans ist, können sich die JunggesellInnen nicht – zumindest nicht konsequent – weigern, entsprechende Handlungen auszuführen, ohne dass ihnen Sanktionen drohen. Befragungen in meinem persönlichen Umfeld über Erfahrungen auf Junggesellenabschiedsfeiern konnten dies bestätigen: So führte etwa die Weigerung einer Junggesellin, auf offener Straße Kekse in Phallus-Form an Passanten zu verkaufen, da ihr dies zu peinlich war, zu einer unangenehmen Situation, die der Junggesellin persönlich zugeschrieben wurde. Jedoch war dies für die Betroffene im Hinblick auf die zu erwartende Peinlichkeit beim Keksverkauf offenbar das geringere Übel.

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überreichte Strumpfhose über ihre Hose ziehen musste, etwa zu ihr: „Muss ja scheiße aussehen!“ und eine andere fügte ironisch hinzu: „Das solltest du öfter tragen.“ Als Michaela später einen weißen Maleranzug anziehen sollte, spottete eine Freundin: „Jetzt erkennt man dich endlich! Das ist das Hochzeitskleid.“ Die Gruppe lachte und eine andere Freundin fügte hinzu: „Ja, für mehr hat es noch nicht gereicht.“, worauf erneutes Gelächter folgte. Marina beklagte sich scherzhaft bei einem Passanten, den sie zum Kauf von Wodka animieren wollte: „Sonst läuft hier keiner so bescheuert herum wie ich.“, und Michaela deutete immer wieder auf ihren weißen Maleranzug und sagte in ironischem Ton zu den Leuten, sie mögen ihr bitte etwas abkaufen, damit sie nicht in diesem Outfit heiraten müsse. 5.4.4 Operationale Bedeutungsmöglichkeiten symbolischer Handlungen Folgt man Turners These, dass Ritualteilnehmer durch das „Chaos“ symbolischer Handlungen bei Schwellenphasen von Übergangsritualen Spannungen abbauen oder auch etwas lernen sollen, ist zugleich evident, dass die rituell vorgeschriebene Gegenordnung und Grenzüberschreitung einen spezifischen Bezug zur sozialen Wirklichkeit der Teilnehmer besitzen muss, auch wenn ihnen dieser Bezug wenig oder gar nicht bewusst ist. Beim Ritualvollzug werden also trotz „Anti-Struktur“ „soziale Situationen bzw. soziale Dramen dargestellt, in denen sich wichtige kulturelle Werte zeigen. Ob sie in der rituellen Darstellung den Beteiligten bewusst werden oder nicht, ist von untergeordneter Bedeutung.“ (Gebauer/Wulf 1998: 146) Betrachtet man den JGA als Ritual der Schwellenphase, verweist er in besonders hohem symbolischen Maße auf den ambiguen Zustand der Brautleute, die sich zwischen dem Status „ledig“ und „verheiratet“ befinden: Sie betreten, auffällig (sexualisiert oder komisch) gekleidet, öffentliche Flirtareale (Bars, Diskotheken, Kneipenmeilen, Striplokale) – jedoch weder als Single-Frauen oder Single-Männer, die auf der Suche nach einem Partner sind, noch als Paare bzw. Eheleute, die keinerlei Interesse an Personen des anderen Geschlechts zeigen. Auf diese Weise präsentieren sie sich als „verfügbar“ für das andere Geschlecht, bringen jedoch gleichzeitig unmissverständlich zum Ausdruck, dass sie eben „nicht mehr verfügbar“ sind. Ambiguität und Uneindeutigkeit umgibt ihren Zustand und ihre Handlungen: Sie zeigen typische Verhaltensweisen eines Singles, vollziehen diese jedoch erkennbar nur spielerisch. Ihre öffentlichen Regel- und Tabubrüche können einerseits als auferlegte Pflichten, andererseits als besondere Freiheiten betrachtet werden. Sie nehmen peinliche Normverletzungen der Alltagsregeln vor, zeigen aber zugleich normkonformes Verhalten innerhalb der rituellen Ordnung. Sie sind „Deppen“ und gefeierte „Helden“ des Abends zugleich.

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Während bei der männlichen Kleidung die Tendenz erkennbar ist, durch Symbole von Entmannung und Feminisierung bzw. Tropen, die den Statuswechsel als Ende von Freiheit und Spaß etikettieren, Klischees und latente Befürchtungen in Bezug auf die Ehe zum Ausdruck zu bringen, markieren die Hypersexualisierungen (als super süß/sexy) bzw. Emanzipationskarikaturen (mit Sprüchen wie „Jetzt kommt er an die Leine!“) der Frauen eine uneindeutige Zwischenposition von Weiblichkeit zwischen sexueller Objektheit und einer sich darüber erhebenden selbstbestimmten „Frauenpower“, die bewusst mit diesem Objektstatus spielt. Durch stereotype Symbole weiblicher Geschlechtlichkeit bringen sie zwar ein kulturelles Rollenbild zum Ausdruck, das sie auf ihre Geschlechtlichkeit reduziert, nehmen jedoch durch gezielte Übertreibungen dieser Geschlechtlichkeit und die Kombination mit Hyperemanzipierungen zugleich eine uneindeutige bzw. ironische Distanzhaltung zu ihr ein. In den Interviews mit den Frauen bestätigte sich der Eindruck, dass es für sie vollkommen in Ordnung oder sogar wünschenswert war, auf ihrer Feier auffällig verkleidet zu werden, solange die Kleidung sie besonders sexy bzw. niedlich und nicht hässlich bzw. unattraktiv erscheinen ließ. So äußert Simone, ein witziges Ganzkörperkostüm (bei männlichen Feiern zu beobachten) hätte sie nicht angezogen, sie wolle sich schließlich „wohl fühlen dabei und feiern und mich als Frau dann auch ein bisschen sexy fühlen und nicht im Tierkostüm stecken oder so.“ (Simone 146f.) Daher gefiel es ihr auch, dass in den Diskotheken oft fremde Männer zu ihr kamen, „[…], die mit einem tanzen wollten. Ob es andere Junggesellen waren oder auch nicht, eigentlich war man die ganze Zeit so ganz begehrt und präsent. Das war ganz witzig.“ (Ebd. 357ff.) Auch Marina konnte sich mit der Idee, auf der Abschiedsfeier etwas zu tragen, das sie unattraktiv gemacht hätte, wenig anfreunden, denn so etwas sieht „nicht so besonders hübsch aus so wie ein Tutu-Röckchen oder so was. So ein Tutu-Röckchen ist auch was Niedliches und was Schönes“ (Marina 493f.). Auf die Frage, wie sie auf ein sehr unattraktives Kostüm reagiert hätte, überlegt sie: „Ich meine, ich hätte es, glaube ich, gemacht in der Situation, aber mir wäre es auf jeden Fall total unangenehm gewesen. Weil, da hätte ich mich überhaupt nicht drin wohl gefühlt. Und so war das jetzt genau, das passte.“ (Ebd. 499ff.) Michaela, die, orientiert man sich an der Ritualstereotypik, eher untypische Kleidung bekam, fühlte sich hingegen tatsächlich verunstaltet und war darüber nicht erfreut: „Ich habe mich geärgert, weil ich mir gedacht habe ‚Jetzt hast du heute Morgen extra was Hübsches zum Anziehen aus dem Schrank rausgeholt und jetzt werde ich hier verschandelt mit einer komischen Strumpfhose.‘“ (Michaela 220-223) Als sie später dann noch den weißen Maleranzug über ihre Kleidung ziehen musste (sonst ebenfalls typischerweise von Männern getragen), fand sie sich noch unattraktiver, sie fühlte sich „sehr, sehr unansehnlich“ (ebd. 277), wie „das Michelinmännchen persönlich“ (ebd. 262), „[u]nd ich dachte..(ironisch) ‚Boah, habt ihr mich lieb, macht ihr mich so hässlich.‘ (lacht)“ (ebd. 278).

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5.4.5 Grundlegende Ritualfunktionen für die Ritualteilnehmer Das Chaos der Schwellenphase des Junggesellenabschieds kann vielfältige und divergente Entlastungsfunktionen für Individuum und Gemeinschaft besitzen, weshalb ich mich im Hinblick auf das Untersuchungsinteresse darauf beschränke, einige wenige mir plausibel erscheinende Überlegungen zu grundlegenden Ritualfunktionen eines Junggesellabschieds für die Ritualteilnehmer zu formulieren. Individualitas: Spannungsabbau und Angstlinderung Es liegt nahe zu vermuten, dass die Feier, die in der Schwellenphase vor der Hochzeit stattfindet, für das rituelle Subjekt spannungsabbauend wirkt. Normalerweise findet der JGA genau in der Zeit statt, in der das Paar intensiv mit den Vorbereitungen und Planungen für die Heirat beschäftigt ist. Diese sind oft mit einem enormen Organisationsaufwand und Stress verbunden (vgl. Michaela 51-63; Eva 63-65), zumal heutzutage viele Paare danach streben, das Fest zu einem perfekten Ereignis werden zu lassen. Die Hochzeit wird daher für sie zur wochen- oder monatelangen Projektarbeit, die einen großen Raum in ihrem Alltagsleben einnimmt und in besonderem Maße eine durchdachte, abgestimmte und verantwortungsvolle Planung erfordert. Das nährt bei vielen (unbewusste) Gegenwünsche nach Kontrollverlusten sowie das Bedürfnis „unordentlich“ zu sein. Hier kann es erleichternd wirken, wenn sie „Dampf ablassen“ (vgl. Turner 1989b: 41), da sie so wieder in ein inneres Gleichgewicht zurückfinden können. Kontrollverluste benötigen einen sicheren Rahmen, um ausgelebt werden zu können, damit sie keine unerwünschten oder gefährlichen Folgen haben. Die Abschiedsfeiern schaffen diesen sicheren Rahmen, Kontrolle abzugeben und Spannungen abzubauen: Für die JunggesellInnen ist keinerlei Planung erforderlich, da die gesamte Feier von der Gruppe organisiert wird. Sie selbst müssen vor und am Tag der Feier nichts organisieren, entscheiden oder verantworten, sondern nur das tun, was der Ablaufplan vorschreibt. Affirmativ unterwerfen sie sich den Ritualregeln und -vorschriften, in deren Schutz sie sich „gehen lassen“ können, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Die Verantwortung wird an das Ritual und die begleitende Gruppe abgegeben, die für die Sicherheit der JunggesellInnen zuständig ist (manche bezeichnen sich laut T-Shirt-Aufdruck bereits als „Security“). Darüber hinaus gibt es in der Vor-Hochzeitsphase wenig Raum dafür, Angstgefühle und Unsicherheiten, die mit dem baldigen Statuswechsel und dem darauf folgenden Ehedasein zusammenhängen, zu formulieren. Entsprechende Emotionen (vgl. z.B. Michaela 42-49) werden gemeinhin als unangemessen für öffentliche Diskussionen oder den öffentlichen Ausdruck angesehen und gefährden das Image der „Traumhochzeit“ in besonderem Maße. Zweifel und Unsicherheiten müssen da-

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her in der Regel vom Betroffenen rein innerlich bewältigt werden. Der JGA hingegen kann einen Raum schaffen, in dem Ängste gefahrlos zum symbolischen Ausdruck kommen dürfen, da sie durch ihre rituelle Stereotypik nicht dem betroffenen Individuum zugeschrieben werden und durch offensichtliche Übertreibungen und Ironisierungen als unernste Späße verlacht und banalisiert werden können. Auf diese Weise kann etwas öffentlich ausgedrückt werden, das sonst nicht so ausgedrückt werden könnte. Communitas: Beziehungsbeweis und Fronterfahrung In Bezug auf gruppenstärkende Funktionsmöglichkeiten des JGA möchte ich auf zwei Aspekte hinweisen: die Feier als symbolischer Beziehungsbeweis der bestehenden Freundschaft sowie als erlebnisorientierte Fronterfahrung, die die Beziehung zukünftig stabilisieren soll. Die Gruppe, vor allem Trauzeuge bzw. Trauzeugin, demonstrieren durch die Planung der Feier ihre Kenntnis des Selbst der JunggesellInnen sowie ihre Bereitschaft, Zeit und Mühe in die Vorbereitung zu investieren. Da die Feier eine Überraschung darstellen soll, ist die Planung nahezu vollständig der Gruppe überlassen, die beweisen muss, dass sie in der Lage ist, einen JGA „im Sinne“ der JunggesellInnen zu organisieren und den sozialen Handlungsplan der Feier nach deren Vorstellungen zu interpretieren. Dabei geht es nicht bloß darum, zu antizipieren, was den JunggesellInnen jeweils gemeinhin gefällt oder Freude bereitet, sondern vor allem darum, auszuloten, was sie wohl im spezifisch-einmaligen Kontext eines JGA erwarten und als angemessen empfinden könnten. Die Gruppe trägt die Verantwortung, den Rahmen so zu gestalten, dass evozierte Exponierungen die Betroffenen zwar herausfordern oder auch verunsichern, aber nicht allzu stark verletzen. Insofern ist die Feier auch für diejenigen, die sie organisieren, eine Prüfung, bei der sie unter Beweis stellen müssen, dass sie den JunggesellInnen so nahestehen, dass die für die Feier ausgesuchten Kostüme, Spiele, Bar- und Diskothekenbesuche, etwaige Stripshows etc. von diesen als überraschende, ungewöhnliche oder provozierende Grenzüberschreitungen, jedoch nicht als langweilige oder beschämende Ereignisse empfunden werden. Die Feier kann daher beziehungsstärkend zwischen JunggesellInnen und Gruppe wirken, sofern sie als persönlichkeitsorientierte und mühevolle Ausgestaltung des sozialen Handlungsplanes von den JunggesellInnen interpretiert wird. In den Nachgesprächen fanden sich Hinweise, die die Vermutung bestätigen, dass eine als gelungen erachtete Feier in besonderem Maße der persönlichkeitsorientierten Planung und dem zeitlichen Investment der Gruppe zugeschrieben wird. So erinnert sich Marina freudig: „Also, war das eigentlich total super, ich hätte mir auch gar nicht vorgestellt, dass das alles so klappt und dass die da so viel organisieren und…also hat eigentlich die Erwartungen eigentlich total übertroffen.“ (Marina 217ff.) An anderer Stelle betont sie:

204 | P EINLICHKEIT – FORMEN UND F UNKTIONEN „Aber ich fand es halt trotzdem schön, dass zum Beispiel die Freundinnen aus Hannover und Magdeburg extra angereist sind und dass auch die anderen Mädels alle wirklich dabei sein wollten und haben sich ja auch alle diese T-Shirts so persönlich für mich ausgedacht und hatten selber T-Shirts an, das war auch alles so persönlich, fand ich auch schön. Und auch die Schmetterlinge, die ich gerne mag, im Schleier und solche Sachen, das fand ich halt total schön.“ (Ebd. 239-245)

Auch Simone lobt im Zusammenhang mit der positiven Beschreibung ihrer Feier die gekonnte Organisation durch ihre Trauzeugin (vgl. Simone 186-192). Eine weitere gruppenstärkende Funktion liegt im gemeinsamen Erfahrungsvollzug der JGA-Feier, bei der die öffentlichen Exponierungen nicht nur auf die JunggesellInnen beschränkt sind. Durch die mehr oder weniger auffällige und einheitliche Kleidung wird die Zusammengehörigkeit der Gruppe in der Öffentlichkeit signalisiert, man tritt gewissermaßen als ein gemeinsames Ensemble mit einem Protagonisten auf. Die Gruppenmitglieder beteiligen sich an den Interaktion mit Passanten und unterstützen die JunggesellInnen häufig bei den Spielen und Verkaufsversuchen, in manchen Fällen sind sie sogar in die Aufgaben miteinbezogen (so gab es z.B. bei einem Würfelspiel auf Simones JGA bei einer bestimmten Zahl von allen Gruppenmitgliedern Küsschen für den Mitspieler). Trotz Exponierung der JunggesellInnen tritt die Gruppe also als eine Einheit auf, die sich durch gemeinsames Verhalten und Aussehen öffentlich ein- und abgrenzt. Auch der gemeinsame Alkoholkonsum fungiert dabei gemeinschaftsstiftend, denn er trägt dazu bei, aus dem Alltag herausgehobene soziale Ereignisse zu konstituieren, die eine verdichtete Sphäre von Gemeinschaftlichkeit erfahrbar machen (vgl. Sting 2004: 108). Begreift man zudem den rituellen Kontext der JGA-Feier selbst als außeralltägliche Erfahrungswelt, bei der Normen der Alltagswelt überschritten werden, können diese Überschreitungen zu Grenzerfahrungen werden, die eine „Fronterfahrung“ positiven Inhaltes konstituieren, welche das Gruppenzugehörigkeitsgefühl durch einschneidende Gemeinschaftserlebnisse nachhaltig stärkt. In Form von Fotos, Videos und Geschichten werden diese Erlebnisse zu gemeinsamen Erinnerungen an ein einmaliges Ereignis verdichtet, das auch in der Zukunft gemeinschaftsstiftend wirkt, z.B. durch das Erzählen peinlicher Anekdoten, über die man nur lachen kann, wenn man sie selbst erlebt hat. Da die Erinnerungen nur dem Teilnehmerkreis selbst – nicht dem Partner – zugänglich sind, wird auf den Feiern ein exklusiver Erfahrungsinhalt zwischen JunggesellIn und Freundesgruppe erzeugt, der den Partner für immer von einer besonderen Erinnerung ausschließt, in die sich die Freunde jedoch nachhaltig eingeschlossen haben.

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5.4.6 Ritualisierte Peinlichkeit als Erfahrung Die Frage, ob und inwiefern Phänomene ritualisierter Peinlichkeit auf dem JGA den betroffenen Ritualteilnehmern tatsächlich auch peinlich sind, d.h. als peinlich erlebt und im Nachhinein als „peinliche“ Erfahrung bezeichnet werden, lässt sich nur fallspezifisch aus der konkreten Akteurperspektive heraus beantworten. Daher wurden den ehemaligen JunggesellInnen bei den Nachgesprächen Videoausschnitte ihrer Feiern gezeigt, um die Erinnerung an das entsprechende Erlebnis bei ihnen zu aktivieren und sie dazu zu befragen, wie sie entsprechende Situationen bewertet und sich dabei gefühlt haben. Es zeigte sich, dass nur einige wenige der ihnen vorgespielten Videoausschnitte von den Befragten als peinlich, unangenehm oder verlegenheitserzeugend beschrieben wurden (vgl. Marina 290 ff., Michaela 237). Dies stärkt die Vermutung, dass die jeweiligen Erfahrungskontexte einer besonderen Auslegungsweise unterlagen, die eine Umdeutung und ein Außerkrafttreten eigener Selbstbildansprüche bzw. -standards und Schamhaftigkeitsgrenzen ermöglichte. Einige Ursachen solcher Umdeutungen sollen im Folgenden aufgezeigt werden. Die „Entpeinlichung“ ritualisierter Peinlichkeit Da den Befragten die ihren emotionalen Bedeutungsverschiebungen zugrunde liegenden Ursachen im Kontext einer JGA-Feier vermutlich nicht oder nur zu Teilen bewusst sind und die befragte Personengruppe vergleichsweise klein ist, wurden diese Ursachen nicht unmittelbar aus den Transkriptionsdaten selbst herausgeschält, sondern anhand theoriegeleiteter Überlegungen gewonnen, die natürlich ihrerseits zu Teilen auf empirischen Erfahrungswerten beruhen. Auf Basis der Überlegungen zu den handlungstheoretischen Merkmalen von Ritualhandlungen und den Vollzugsmerkmalen des Junggesellenabschieds sowie persönlicher Erfahrungen bei der teilnehmenden Beobachtung der Feiern ergaben sich für mich unterschiedliche Annahmen zu emotionalen Bedeutungsverschiebungen. Diese werden im Folgenden als theoriegeleitete Hypothesen formuliert, wie gemeinhin Peinlichkeitsherbeiführendes bzw. die als peinlich geltenden Grenzüberschreitungen im rituellen Kontext der Junggesellenabschiedsfeier zu (großen) Teilen umgedeutet und „entpeinlicht“ werden können. Im Anschluss werden sie mit den subjektiven Situationsbeschreibungen und -bewertungen der befragten Ritualteilnehmer verglichen, um aufzuzeigen, inwiefern sie mit ihnen übereinstimmen bzw. vereinbar sind. Ich möchte mich auf sieben verschiedene, mir handlungstheoretisch relevant erscheinende Verschiebungsaspekte der emotionalen Auslegung öffentlicher Exponierungen beschränken, die jedoch weder empirisch klar voneinander getrennt werden können noch beanspruchen, eine erschöpfende Darstellung aller Umwertungsfaktoren zu sein. Gleichwohl nehme ich an, dass sie eine wesentliche Rolle bei der Umfunktionalisierung von Peinlichkeit im rituellen Rahmen eines JGA spielen.

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1. Relativierung der Verantwortlichkeit und Selbstzuschreibung Sowohl die Kleidung als auch die Aufgaben der JunggesellInnen werden von der Gruppe und nicht von ihnen selbst ausgewählt. Ihnen wird vorschreibend erklärt, was sie anzuziehen und zu tun haben und im Regelfall unterwerfen sie sich affirmativ diesen Bestimmungen als auferlegten „Ritualpflichten“. Zwar bringen sie mit ihrer Unterwerfung und Handlungsausführung ihr persönliches Einverständnis mit dem Ritualvollzug zum Ausdruck, doch beruhen die Handlungsinhalte des Vollzugs nicht auf persönlichen Handlungsintentionen, sondern auf extern determinierten Vorschriften (dass diese miteinander übereinstimmen können, ist dabei zweitrangig). Daher ist davon auszugehen, dass das öffentliche Auftreten im Hinblick auf die Kleidung, den Alkoholkonsum und die Aufgaben nicht als „eigenes Tun“ anerkannt wird, sondern als Teil der rituellen Ordnung, der man sich zu unterwerfen hat. Ist dies der Fall, verschieben sich persönliche Handlungsbewertungen und -interpretationen dahingehend, dass die öffentliche Selbstdarstellung im Rahmen einer JGAFeier nicht bzw. nicht primär als individuelle Selbstdarstellung angesehen wird, sondern als Ausführung einer klar festgelegten Rolle, zu der sich das individuelle Selbst in innerer Distanz befindet. In der Konsequenz werden Exponierungen weniger dem eigenen öffentlichen Selbstbild zugeschrieben als vielmehr der übergeordneten Institution. 2. Relativierung der Angst vor unerwünschten Fremdbewertungen Mit Aspekt 1 hängt zugleich zusammen, dass die Handlungsakteure davon ausgehen können, von anderen nicht für ihr Handeln verantwortlich gemacht zu werden, da auch Beobachter und Interaktionspartner ihre Erscheinung und ihr Verhalten nicht ihrem Selbst zuschreiben, sondern als Bestandteil eines aktualen Ritualvollzuges verstehen, bei dem sie eine bestimmte Rolle erfüllen müssen. Hier geht es im Gegensatz zu Aspekt 1 nicht um eine Bewertung des Bildes, das die Handelnden während ihrer Handlungen selbst von sich haben, sondern um eine Bewertung des Bildes, das sie anderen abzugeben glauben. Die Hypothese ist, dass Bedenken der Handlungsakteure, einen schlechten Eindruck zu machen, sich relativieren, da sie davon ausgehen, dass auch öffentliche Bewertungsmaßstäbe in ein anderes Deutungsmuster rücken. Dies setzt freilich voraus, dass die Öffentlichkeit das Verhalten als ritualisiert bzw. als dem entsprechenden Ritual zugehörig rekonstruiert (was z.B. nicht der Fall wäre, wenn eine Gruppe das Ritual in einem Land, in dem es unbekannt ist, vollzöge). Die Vermutung liegt nahe, dass die Gruppen auch deshalb großen Wert darauf legen, öffentlich als JGA-Gruppen erkannt zu werden, weil sie davon ausgehen, dass dies mit Verschiebungen von Fremdbewertungen zu ihren Gunsten und ihrem Schutz einhergeht. Der sozialen Akzeptanz sind dabei allerdings Grenzen gesetzt, denn Ritualisierung schützt vor fremder Handlungsverurteilung

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immer nur in dem Maße, in dem die Ritualregeln von anderen anerkannt und gebilligt werden.117 3. Religio als Überhöhung der Exponierungen Die Außeralltäglichkeit und Einmaligkeit (einen JGA kann man – im Gegensatz zu einer Hochzeit – nur einmal im Leben feiern) der Feier führt gemeinhin dazu, dass die JunggesellInnen sie als ein besonderes Ereignis von besonderem Wert ansehen. Für diese Rahmung sind auch spezifische Bewertungsmodifikationen der Handlungen charakteristisch, da diese in einer bestimmten Stimmung und mit einer spezifischen Haltung vollzogen werden, die außergewöhnlich ist, was auch meinen kann, dass sie „alles, außer gewöhnlich“ ist. Hier ist anzunehmen, dass Religio dazu führen kann, Handlungen, die im Alltag als peinlich oder niveaulos bewertet würden, im Rahmen einer JGA-Feier zur mutigen Heldentat, zum Prestige eines Befreiungsaktes, zur angemessenen Provokation etc. umzudeuten. 4. Spielerischer Spaß der Exponierungen Die öffentlichen Exponierungen zielen nicht nur darauf ab, als Bestandteil des Rituals bzw. als Ritualpflicht identifiziert zu werden, sondern zugleich darauf, als unernste Spiele und Späße begriffen zu werden (im Gegensatz z.B. zu den Ritualhandlungen einer Taufe oder Hochzeitszeremonie). Als solch spaßige Spiele stellen die Aufgaben der JunggesellInnen nicht nur keine zweckrationalen und diskursiven Handlungen dar, sondern mit ihnen wird über die Indexikalität des Ritualvollzuges („Hier wird gerade ein JGA vollzogen und das ist der/die JunggesellIn.“) hinaus kein bewusster Anspruch erhoben, weitere ernsthafte Aussagen über die soziale Wirklichkeit zu treffen oder diese zu verändern. Denn „[i]nnerhalb des Spielrahmens geschieht eine Handlung, die das, was sie darstellt, ist und auch wieder nicht [Herv. i.O.] ist. Ein Kuß im Spiel ist ein Kuß, aber ist doch nur eine Spielhandlung – er ist zum einen eine Handlung der Liebe, zum anderen eine Handlung der NichtLiebe, nämlich als Handlung eines Schauspiels.“ (Gebauer/Wulf 1998: 193) Bei den öffentlichen Aufgaben der JunggesellInnen geht es um das Ausleben von Affekten, um die Erzeugung von Emotionen im Spiel, bei denen das jeweilige

117 Hier ist anzumerken, dass es im Regelfall eine sehr spezifische Öffentlichkeit ist, die aufgesucht wird: Oft sind es die Kneipenmeilen einer fremden größeren Stadt (vgl. Graf 2012), in denen die Ritualteilnehmer zum einen die Personen, denen sie begegnen, ohnehin nicht kennen, sodass Begegnungen mit signifikanten anderen, z.B. Arbeitskollegen oder Nachbarn, verhindert werden und öffentliche „Blamagen“ ihr Image nicht nachhaltig bedrohen. Zum anderen treffen die Gruppen an entsprechenden Örtlichkeiten vermehrt auf junge und feiernde Personen in ausgelassener Stimmung, die eher bereit sind, sich auf die Spiele einzulassen, als dies an anderen öffentlichen Orten der Fall wäre.

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Bedeutungsschema (z.B. Kuss geben, Leute anbetteln, nach der Telefonnummer des anderen fragen) erkennbar ‚hohl‘ ausgedrückt und als Witz ironisch vollzogen werden kann. Als Ausdrucksform der Uneigentlichkeit setzt diese Ironie „Distanz voraus, die Bereitschaft zu Kritik und Selbstkritik, einen spielerischen Umgang mit Wirklichem und Möglichem, Vergangenem und Künftigem – Veränderungsenergien mithin, die sich mit Witz zu paaren verstehen und, nicht zuletzt, mit der Fähigkeit zu lachen“ (Schnell 1989: VII). Die Aufgaben der Feiern stellen somit ironische Spielhandlungen dar, die mit Selbstdistanz und Humor vollzogen werden können, sodass Peinlichkeitserzeugungen tendenziell reduziert oder verhindert werden, da objektive Selbstaufmerksamkeit und kritisch-ernsthafte Selbstbildbezüge sich nicht im gleichen Maße aktivieren wie bei Alltagshandlungen. 5. Bewusstseinsveränderung durch Alkoholkonsum Hier paart sich Ritualisierung mit einer weiteren Dimension von „Nicht-Intentionalität“ bzw. „Nicht-Zuschreibbarkeit“, die bei JGA-Feiern von einer Sektlaune bis hin zum Delirium reichen kann und eine weitere Bewertungsverschiebung der eigenen Handlungen erzeugt: Eine Zunahme von Kontrollverlusten und Hemmungslosigkeiten auf der äußeren Handlungsebene geht einher mit einer Abnahme des inneren Peinlichkeitsempfindens der Handlungsakteure. Ihre peinliche Wirkung auf andere ist den Handelnden dann nicht länger peinlich, da sie sich in einem Zustand befinden, in dem sie peinliche Grenzüberschreitungen nicht mehr oder anders wahrnehmen. Da der Alkoholkonsum zudem für die JunggesellInnen bis auf Ausnahmefälle obligatorisch ist, trägt er nicht nur zu Kontrollverlusten und Enthemmtheit bei, sondern fungiert zugleich im Nachhinein als legitime Entschuldigung für ihr Verhalten – schließlich musste man sich ja betrinken. 6. Erwartbarkeit und Gewöhnung Zwar wissen die JunggesellInnen normalerweise nicht, was genau am Tag der Abschiedsfeier auf sie zukommt, doch sind sie aufgrund des Ritualcharakters eines JGA darauf vorbereitet, mit „typischen“ Verkleidungen und Aufgaben konfrontiert zu werden und können sich dementsprechend innerlich darauf einstellen, d.h., sie werden nicht vollkommen unerwartet in entsprechende Exponierungssituationen gebracht. Auch Miller konstatiert, dass „intended embarrassment of convivial raillery is less painful because we are generally prepared to be embarrassed, if not quite prepared for the particular item that will embarrass us“ (Miller 1993: 159). Die spezifische Erlebnisqualität verschiebt sich also vermutlich bereits dadurch, dass man situativ darauf vorbereitet ist, exponiert und bloßgestellt zu werden, wenngleich nicht unbedingt auf die Art und Weise, die durchaus überraschend erfolgen kann. Darüber hinaus ist anzunehmen, dass sich Betroffene durch die performativen Wiederholungen, die für die Aufgaben bezeichnend sind, nicht jedes

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Mal neu zur Exponierung überwinden müssen, sondern sich in die ungewohnte bzw. ungehörige Rolle „einspielen“ und zunehmend routiniert agieren können, was Peinlichkeitsgefühle reduziert, da sich Selbstbeobachtungszustände, die auf der Ungewohntheit und Unsicherheit im Hinblick auf die öffentliche Selbstdarstellung basieren, nach und nach verringern. 7. Gruppeneffekt Obgleich die JunggesellInnen in besonderer Weise exponiert werden, gibt sich auch die begleitende Freundesgruppe erkennbar als Ritualteilnehmer aus, interagiert mit der Öffentlichkeit, trinkt Alkohol, hilft den JunggesellInnen beim Animieren fremder Personen und ist teilweise auch mit in die Aufgaben involviert. Insofern exponieren sich die Betroffenen nicht alleine in der Öffentlichkeit, sondern lediglich als Protagonisten einer Gruppe, welche als gemeinsames Ensemble auftritt und die JunggesellInnen in der Regel tatkräftig unterstützt. Dies schwächt vermutlich das Peinlichkeitsempfinden, da sich Akteure bei entsprechenden Handlungsvollzügen sowohl weniger auffällig als auch stärker bzw. sicherer fühlen. Empirische Überprüfung der Hypothesen Die empirischen Daten der Interviews stützen grundlegend alle sieben Hypothesen der Bewertungsmodifikationen, geben in manchen Fällen aber auch relativierende, widersprüchliche oder erweiternde Hinweise und markieren damit ein uneindeutiges Handlungsauslegungsschema, das für die Ambiguitäten des Ritualvollzugs einer liminalen Phase charakteristisch ist und gerade durch diese Mehrdeutigkeit und Heterogenität ermöglicht, Erfahrungen zu machen, die sonst nicht so gemacht werden könnten. Während manche Verschiebungen alltäglicher Selbstdarstellungsmaßstäbe und -bewertungskriterien, z.B. durch Alkoholkonsum, von den Befragten bewusst wahrgenommen und entsprechend begründet werden können, werden andere zwar von ihnen konstatiert, können aber nicht sinnvoll erklärt werden (vermutlich, weil rituelle Wirksamkeiten entsprechender Handlungen ja darauf beruhen, unhinterfragt vollzogen zu werden und nicht rationalisierbar zu sein). Im Folgenden sollen die Ergebnisse des Vergleichs der Hypothesen mit den subjektiven Erfahrungsbeschreibungen kurz dargestellt und beispielhaft belegt werden. 1. Relativierung der Verantwortlichkeit und Selbstzuschreibung Die Beschreibungen der Befragten bestätigen, dass die öffentlichen Selbstdarstellungen und Handlungen als extern determinierte Vorgaben ausgelegt werden, denen man sich im Rahmen einer JGA-Feier zu unterwerfen hat. Der extern auferlegte Pflichtcharakter der Handlungen wird bereits daran deutlich, dass die Befragten bei ihren Handlungsbeschreibungen davon sprechen, dies oder jenes tun zu „müssen“ bzw. zu „sollen“ (vgl. Simone 134, 155f., 199, 224, Marina 233, 277, 347, 380, 436; Thomas 254, 280; Eva 303, 305, 317; Michaela 258). Michaela be-

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zeichnet den Ablauf der Feier sogar explizit als „vorgegebene[n] Ablaufplan, an den ich mich zu halten habe, ob ich jetzt möchte oder nicht. […] Ich hatte ein Pensum zu erfüllen, und wenn ich es erfüllt habe, darf ich nach Hause gehen, so in der Art, bin ich mir vorgekommen.“ (349ff.) Simone verankert den größten Unterschied zwischen ihrer JGA-Feier und dem normalen Ausgehen mit Freundinnen darin, dass „zwischendurch immer wieder so…ja, demonstriert wurde, dass ich die Spielchen machen musste“ (Simone 198f.). Dass diese Verschiebung mit einer Modifikation der jeweiligen Situationsauslegung einhergeht, zeigt sich bei Thomas, der eine Situation, in der eine andere Person sichtlich genervt auf ihn reagiert, damit relativiert, dass er ja nur den extern determinierten Vorgaben nachgekommen sei: „Ich denke mal, er war, der Kioskbesitzer, war unter Garantie sichtlich genervt, unter Garantie. Aber war ja egal, ich musste das ja machen, ne?“ (Thomas 278ff.) Auch Marina relativiert ablehnendes Verhalten gegenüber ihren Verkaufsversuchen damit, dass sie diese Ablehnungen nicht auf ihr persönliches Selbst bezieht: „Aber es war jetzt auch nicht so schlimm, dass ich mir gedacht habe ‚Nee, jetzt will hier keiner was kaufen.‘ und war dann deprimiert oder so was, weil ich das eigentlich nicht auf mich persönlich bezogen habe […].“ (Marina 354 ff.) Interessant in Bezug auf die Selbstzuschreibung der Ritualhandlungen ist allerdings eine spürbar ambivalente Haltung der Befragten: So weisen sie zwar immer wieder darauf hin, dass sie bestimmte Aufgaben erledigen mussten, zugleich wird jedoch deutlich, dass sie diese als ein Spiel begreifen, das ihnen Spaß macht und bei dem sie kommunikative Handlungen freiwillig und eigeninitiativ vollziehen (vgl. Marina 372 f., 456 f; Simone 292 f., Thomas 227-232). Dies wird besonders deutlich, wenn Eva auf die Frage, welche konkreten Aufgaben sie auf ihrer Feier zu erfüllen hatte, antwortet: „[I]ch habe jetzt nicht gesagt ‚So, das ist jetzt meine Aufgabe, die muss ich jetzt machen.‘, sondern wir sind durch die Stadt und dann habe ich zum Beispiel eine Gruppe gesehen und bin direkt hin und dann war das erledigt. Also, ich kann mich gar nicht mehr so dran erinnern, was jetzt Rummelei war und was jetzt so eine wirkliche Aufgabe war, weil das einfach so direkt nach und nach dann ablief.“ (Eva 319-323)

Gemäß den persönlichen Handlungszielen und Stimmungen frei mit den auferlegten Pflichten zu verfahren, wie es Eva beschreibt, legt einmal mehr die uneindeutige Handlungsrahmung zwischen Pflicht und Freiheit bzw. Müssen und Wollen des Ritualvollzugs dar. 2. Relativierung der Angst vor unerwünschten Fremdbewertungen Die Hypothese, dass die Akteure davon ausgehen, auch fremde Bewertungsmaßstäbe würden angesichts der Erkennbarkeit des Ritualvollzugs modifiziert, kann

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ebenfalls durch die empirischen Daten gestützt werden. Auf die Frage, ob Marina sich beim Verkaufen nicht blöd vorgekommen oder ihr das Ganze nicht unangenehm gewesen sei, antwortet diese: „Nee, gar nicht. Weil, es war ja offensichtlich, dass das ein Junggesellenabschied ist und ich wollte ja nicht da rumbetteln oder sonst irgendwas.“ (Marina 259f.) Thomas erklärt, dass er sich wenig um seinen Eindruck vor anderen sorgte, weil „viele, die sehen…die kennen das dann halt auch ‚Junggesellenabschied!‘ Du musst dann den Blödsinn machen, trinkst eh, das gehört dazu, ne? Ich denke mal, die sehen das dann auch irgendwo locker. Weil es einfach so ist an dem Tag halt, ne?“ (Thomas 253ff.) Die Frage, ob ihm das Sammeln von Pfandflaschen unangenehm gewesen sei, verneint er und begründet: „Die wissen ja, dass ich kein Gammler bin. Denke ich mal. […] Nö, das fand ich jetzt nicht wirklich schlimm oder peinlich oder so, gar nicht.“ (Ebd. 266 ff.) Dass in diesem Zusammenhang auch das gezielte Aufsuchen einer spezifischen Öffentlichkeit eine Rolle spielt, zeigt sich bei Simone, die betont, es sei für sie wichtig gewesen, dass ihre Feier nicht in ihrem Heimatort stattfand: „Also wenn ich jetzt hier nebenan feiern gehe, jeder zweite, der da rumläuft, den kennt man irgendwie. Sei es Arbeitskollegen oder aus dem Bekanntenkreis …Und das finde ich einfach blöd irgendwie. Man feiert ausgelassener, wenn man weiß, die Leute kennen einen ja sowieso nicht, und wenn ich da rumgröle und mich auf die Tische stelle und mich ausziehe, dann kennt mich keiner. Die werden mich auch nie wieder sehen, da kann man nochmal ganz anders feiern, als man das hier machen würde.“ (Simone 169ff.)

In der Düsseldorfer Altstadt, wo sich zum Zeitpunkt der Feier hauptsächlich andere Kneipenbesucher, feiernde Personen in ausgelassener Stimmung sowie viele weitere JGA-Gruppen aufhielten, erhielt Simone außerdem überwiegend positive Reaktionen, die für ihre Situationsbewertung eine große Rolle spielten: „Wenn man dann schon das Gefühl so zurückkriegt, ‚Seht zu, dass ihr Land gewinnt.‘ und ‚Wir haben da keinen Bock drauf.‘, dann geht natürlich auch die Motivation verloren. Aber das war ja Gott sei Dank nicht so, und die meisten hatten ja Spaß ‚Los, noch ein Spiel, und noch ein Spiel und noch ein Spiel.‘ Von daher war es ganz gut.“ (Ebd. 380-384)

Anderen Personen auf die Nerven gehen zu müssen, wäre „unangenehm gewesen. Dann wäre ich mir irgendwie doof vorgekommen, fehl am Platze. War schon ganz gut, so hatte man reichlich positive Verstärker dabei.“ (Ebd. 387ff.) Michaela hingegen, die in ihrer Heimatstadt Aachen feierte, wo zum Zeitpunkt der Feier hauptsächlich Passanten unterwegs waren und der während meiner Begleitung auch keine weitere JGA-Gruppe begegnete, wurde von den dort vermehrten ablehnenden Reaktionen auch in ihrer Eigenbewertung negativ beeinflusst: „Ich hab mich sehr auf-

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dringlich gefühlt. Und viele Leute haben das ja auch so vermittelt dieses Gefühl. Auf jeden Fall.“ (Michaela 238ff.) 3. Religio als Überhöhung der Exponierungen In den Interviews wurde immer wieder deutlich, dass die Befragten ihre Feier als ein besonderes und außeralltägliches Ereignis interpretierten, das in einer besonderen Stimmung bzw. mit einer besonderen Haltung vollzogen wurde, die sich von ihrer alltäglichen Haltung unterscheidet und dieser zu Teilen konträr gegenübersteht, sodass gemeinhin vermiedene, verpönte oder tabuisierte Verhaltensweisen zu etwas Erstrebenswertem oder Legitimem erhöht werden können. Simone spricht hier sogar von einer besonderen „Intention“, die man als JGAGruppe auf der Abschiedsfeier habe: „[I]ch hab das total gern gehabt den Tag, wenn wir so auf andere Truppen getroffen sind, weil irgendwie ist man so mit der gleichen Intention unterwegs. Die sind alle offen, die haben da alle Bock drauf, […] die wollen ja das gleiche.“ (Simone 242-246) Diese Intention führt bei ihr dazu, dass sie Handlungen, die sie ansonsten verurteilen würde, als besondere Freiräume betrachtet. So beurteilt sie die Situationen, in denen sie Küsse an fremde Männer verteilt als „[i]n Ordnung und ich finde, das darf man dann auch. Und ich finde, man darf auch an so einem Tag wie dem Junggesellinnenabschied ohne schlechtes Gewissen ein paar Küsschen verteilen und so, was ich sonst nicht machen würde, wenn ich feiern gehe. Aber das ist, da hat man eine ganz andere Intention in diesem Zusammenhang und das ist legitim irgendwie und…weiß ich nicht, ja.“ (Ebd. 273-278)

Besonders deutlich wird diese außeralltägliche Handlungsrahmung in der Abgrenzung ihrer sonstigen eher negativen Bewertung von JGA-Gruppen, von denen sie selber im Alltag angesprochen wird: „[U]nd ich sehe uns, wenn wir hier rausgehen und da sind klassisch das ganze Wochenende über Junggesellinnen- oder Junggesellenabschiede, da hat man einfach keinen Bock drauf. Die müssen einen nicht anlabern und… weil es halt jedes Mal das gleiche ist und ich weiß nicht.“ (Ebd. 372376) Auch Marina hebt die Besonderheit der Handlungsvollzüge hervor, welche dazu führte, dass sie das Ansprechen von Männern in spezifischer Weise bewertet: „Ja, das war schon eigentlich eine besondere Situation, weil eigentlich würde ich solche Männer schon gar nicht ansprechen, weil ich auch nichts mit denen trinken würde. […] Aber in dem Moment ist ja, glaube ich, egal, wer da jetzt kommt..und solange die lustig sind und jetzt nicht so aufdringlich sind oder so was, dann ist das in dem Moment auch in Ordnung.“ (Marina 450-456)

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Für Michaela war es hingegen aufgrund ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft schwierig, sich in eine solche besondere Stimmung der Ausgelassenheit und Exponierungslust einzufinden, was dazu führte, dass sie weniger Spaß daran hatte: „Aber so muss ich sagen, man ist schon wesensverändert, und man ist dann auch nicht so belastbar und man hat dann auch irgendwie nicht so wirklich Bock, dann so durch die Gegend zu wandern und Schnapsfläschchen zu verkaufen, sondern man möchte lieber zu Hause auf dem Sofa liegen und Fernsehen gucken. Man wird halt so ein bisschen langweilig.“ (Michaela 144-149)

4. Spielerischer Spaß der Exponierungen Auch der Charakter der Regelüberschreitungen, keinen Anspruch auf Ernsthaftigkeit zu erheben, sondern einen scherzhaften und spielerischen Vollzug von Überschreitungen darzustellen, wurde von den Befragten herausgestellt. Auf die Frage, ob bestimmte Situationen, die wir uns gemeinsam per Video ansahen, ihnen unangenehm oder peinlich gewesen seien, erhielt ich oft die Antwort, dass sie diese nicht „peinlich“, sondern „witzig“ oder „lustig“ fanden (Simone 248, 257, 269, 280, 359; Marina 280-296, 432, 445, Thomas 221, 235, 261; Eva 155). Simone antwortet etwa auf die Frage, ob es ihr nicht unangenehm gewesen sei, verkleidet durch die Stadt zu laufen und auf fremde Menschen zuzugehen: „Nee, gar nicht. Auch so da verkleidet durch die Stadt zu laufen und so, das war eigentlich ganz witzig.“ (Simone 233) Eva spricht von ihren öffentlichen Aufgaben als „Rumgeblödel“ (Eva 297) sowie davon, ihrem Mann ausnahmsweise erlaubt zu haben, an seinem JGA in einen Stripclub zu gehen, weil sie keine „Spielverderberin“ sein wollte (ebd. 208). Marina charakterisiert ihr Erlebnis mit dem Stripper zwar als verlegenheitserzeugend (Marina 290), zugleich schien für sie jedoch das Moment der Witzigkeit die Situation zu dominieren: „Ja, und ich musste mich dann in die Mitte setzen von allen, und…ja und ich habe ja auch direkt die Beine übereinander geschlagen und dachte so ‚Ja, warte mal ab, was jetzt kommt.‘ Und…Ja, so fand ich das total lustig, weil das auch in den Moment total lustig war, habe mich total kaputtgelacht und…dann habe ich auch gemerkt, dass alle anderen auch total viel Spaß hatten. Klar, manchmal habe ich gedacht, ‚Mm, was macht der jetzt?‘ Weil man weiß ja gar nicht, was der jetzt mit einem macht, was der mit meinen Händen macht, hat mich dann auch noch hoch gehoben und durch die Gegend geschleudert (lacht) und so was. Also das war…ich will jetzt nicht sagen unangenehm aber, manchmal wusste man halt nicht, was jetzt kommt, dann war das so ‚Okay, na ja, soweit hätte das jetzt ja nicht gehen müssen.‘ und so, aber das hat mich jetzt nicht gestört. Ich fand es immer noch total lustig in dem Moment und…ja, fand es halt einfach total witzig alles.“ (Ebd. 277-288)

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Die erotische Exponierung des Strippers sei für sie etwas, das „wirklich eher alles nur Spaß ist“ (ebd. 217f.) und bei dem für sie selbstverständlich nicht sexuelle Erregung, sondern mehr eine Verletzung des Schamgefühls überwiege (ebd. 251f.), über die als verruchter Scherz im Rahmen der Feier jedoch gelacht werden könne. Dieses Verständnis des spielerischen Spaßes wird bei Marina auch bei ihren eigenen Handlungen in der Öffentlichkeit deutlich: Passanten, die eher negativ auf ihre Ansprache reagierten, schreibt sie einen Mangel an Offenheit und Verständnis für die „Späße“ eines JGA zu (ebd. 374f.). Auch bei Simone zeigte sich ein Handlungsbewertungsschema, das ihre Regelüberschreitungen als Teil eines Spieles klassifizierte. So antwortete sie, als sie gefragt wurde, ob sie keinerlei Bedenken oder Verlegenheit verspürt habe, Küsse an fremde Männer zu verteilen: „Also im Nachhinein, wenn ich so ein Küsschen verteilt habe, dann habe ich so kurz gedacht so ‚Oh, ob das jetzt so richtig war?‘ Aber es war jetzt nun mal so das Spiel und das waren auch die Regeln und das war festgesetzt, dass es bei einer Eins nun mal diesen Kuss gibt, und dann ist das auch so und dann ist das auch okay, und dann konnte man sich hinterher damit abfinden.“ (Simone 305-309)

5. Bewusstseinsveränderung durch Alkoholkonsum Dass der Alkoholkonsum einen erheblichen Teil dazu beiträgt, die eigenen Exponierungen zu entpeinlichen, wurde von den Befragten (bis auf Michaela, die aufgrund ihrer Schwangerschaft nichts trinken konnte) bestätigt. So erinnert sich Thomas an eine Situation, in der er in einem Schnellimbiss gemeinsam mit der Gruppe einen Tanz aufführte, um im Gegenzug dafür etwas zu essen zu erhalten: „Es war vielleicht eventuell schon ein bisschen peinlich oder so, ne? Aber da ist man ja halt dann gut angetrunken, da ist einem das auch egal.“ (Thomas 172f.) Auf die Frage, ob er seine Aufgaben auch ohne Alkoholkonsum absolviert hätte, antwortet er: „Der Pegel, der Alkoholpegel tut nur das halt ein bisschen auflockern oder so. Also verkauft hätte ich die Sachen wahrscheinlich auch so. Aber wie jetzt das so bei McDonald‘s oder so, das hätte ich dann wahrscheinlich nicht gemacht.“ (Ebd. 287-290) Eva berichtet, dass sie sich mit ihren Freundinnen sogar gezielt Mut angetrunken habe, bevor es mit den öffentlichen Aufgaben losgegangen sei (vgl. Eva 295ff.), weil sie sich ohne den Alkohol als Auflockerung nicht im gleichen Maße getraut hätte, andere Menschen anzusprechen (ebd. 308-311). Michaela, die selbst keinen Alkohol trinken konnte, schreibt dem Alkoholkonsum ihrer Freundinnen eine positive, lockernde Wirkung für das öffentliche Verkaufen zu, die es dann auch für sie einfacher werden ließ (Michaela 292f.), und Simone erwähnt an mehreren Stellen die hilfreiche Funktion des Alkoholtrinkens in Bezug auf die Selbstexponierungen: Unangenehme Verkaufsaufgaben könnten etwa, wenn man Alkohol ge-

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trunken habe, „ganz gut“ werden (Simone 134f.), und das gemeinsame Schnapstrinken vor der ersten Aufgabe „hat so ein bisschen lockerer gemacht“ (ebd. 212). 6. Erwartbarkeit und Gewöhnung In Bezug auf die Erwartbarkeit stereotyper Exponierungen, die es erleichtert, ihnen souveräner zu begegnen, zeigte sich bei den Befragten neben der Tatsache, dass sie tatsächlich darauf eingestellt waren, in typischer Weise exponiert zu werden (vgl. Marina 108ff.), ein zusätzlicher, damit zusammenhängender Aspekt, der von noch größerer Relevanz im Hinblick auf die Vermeidung ungewollter Peinlichkeitserfahrungen zu sein scheint. So wurden teilweise bereits im Vorfeld explizite Vorgaben gemacht bzw. Wünsche geäußert, was die Freundesgruppe bei der Planung hinsichtlich des öffentlichen Programms berücksichtigen soll, z.B. von Simone: „Ich habe gesagt, ich will nicht diesen klassischen Bauchladen und ich werde mich auch nicht in irgendein albernes Kostüm reinzwängen. […] Und ich fand auch die Alternative ganz gut so, wie es jetzt war.“ (Simone 137-140) Michaela erzählte, dass sie vorher zu ihrer Freundin gesagt habe, sie wünsche sich ihren Junggesellenabschied „in Verbindung mit Mutterschutz-Urlaub“ (Michaela 175-177). Thomas ließ seinen Freunden bei der Planung freie Hand, änderte jedoch eine Aufgabe, bei der er Telefonnummern von fremden Frauen sammeln sollte, ab, da er der Meinung war, dass dies nicht sein müsse (Thomas 194f.). Eva gab an, dass sie ebenfalls die Bitte, sich „nicht so zum Affen“ machen zu müssen, an ihre planende Freundin weitergegeben hätte, die dies in Form eines „Jokers“, der ihr erlaubte, eine der Aufgaben abzulehnen, berücksichtigt habe (Eva 195-198). Dass es im Laufe der Feier für die JunggesellInnen immer einfacher wird, sich öffentlich zu exponieren, lässt sich wohl größtenteils auf den steigenden Alkoholpegel zurückführen. Dass jedoch auch der Gewöhnungseffekt eine Rolle spielt, legen Beschreibungen der nüchtern gebliebenen Michaela nahe. Sie berichtet, dass es ihr am Anfang sehr unangenehm gewesen sei, auf fremde Passanten zuzugehen und diese anzusprechen (vgl. Michaela 224-228), sie sei dabei „peinlich berührt“ (ebd. 237) gewesen. Doch mit jedem Mal sei es dann einfacher geworden, die Leute anzusprechen (vgl. ebd. 281ff.), vor allem weil sie bereits „ein gewisses Repertoire“ (ebd. 285) bzw. „verschiedene Sprüchlein drauf hatte, die man den Leuten hinknallen konnte“ (ebd. 291f.). Auch Evas Beschreibungen spiegeln wider, dass es bei ihr nicht nur der Alkoholkonsum, sondern ebenso die Gewöhnung und das Einfinden in die besondere Rolle waren, die das Ansprechen fremder Personen erleichterten: „[A]lso, man war dann irgendwann drin und dann war es auch ganz lustig […].“ (Eva 154f.) Sie erinnert sich, dass „so die ersten zwei Aufgaben beziehungsweise die ersten Leute anzusprechen, war schon ein bisschen komisch, bisschen unangenehm. […] Aber nachher lief das. Dann habe ich dann auch eine Aufgabe nach der anderen gemacht

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[…].“ (Ebd. 298-303) Simone beschreibt es ähnlich: „Am Anfang war es halt so ein bisschen Überwindung, erstmal, da überhaupt so locker zu werden und auf andere einfach so zuzugehen. Und irgendwie hast du das den ganzen Tag halt gemacht und dann war es auch okay […].“ (Simone 361-364) 7. Gruppeneffekt Eine Erleichterung der Selbstüberwindung zu den exponierenden Handlungen aufgrund des gemeinsamen Auftretens in einer Gruppe wurde in den Interviews sowohl von Michaela als auch Simone erwähnt. Michaela führt den schrittweisen Hemmungsabbau des Ansprechens fremder Leute neben der Eingewöhnung in die Rolle auch auf die tatkräftige Unterstützung durch ihre Freundinnen zurück (vgl. Michaela 293f.), und Simone berichtet, dass es ihr auch deshalb nicht unangenehm gewesen sei bzw. sie keine Überwindung gekostet habe, auf fremde Leute zuzugehen, weil sie dies ja gemeinsam mit ihren Freundinnen und nicht alleine gemacht habe (vgl. Simone 236ff.). An späterer Stelle betont sie dann noch einmal: „[Mir] macht [...] das eigentlich nichts, mich da so zu verkleiden, in eine Rolle zu schlüpfen. Wobei, ich sage mal, es ist natürlich leichter, so was in der Gruppe zu machen. Wenn man weiß, man ist mit zehn, fünfzehn Leuten unterwegs, als wenn man das ganz alleine machen würde und durch die Stadt ziehen würde.“ (Ebd. 394-397) Einordnung der Ergebnisse Die obigen Beschreibungen verdeutlichen, auf welche Weisen gemeinhin Peinlichkeitsherbeiführendes im Rahmen des Ritualvollzugs der JGA-Feier zu einer Erfahrung werden kann, die besonderen Deutungsschemata unterliegt, welche es dem rituellen Subjekt ermöglichen, Vergnügen daran zu finden, Alltagskonventionen zu verletzen, aufzufallen, zu provozieren und verulkt zu werden bzw. sich selbst zu verulken. Im besonderen rituellen Kontext der JGA-Feiern gelingt es, einen Rahmen zu erzeugen, der die automatisierten Mechanismen alltäglicher Selbstbildbewertungen und Exponierungshemmungen aus den Angeln hebt, sodass emotionale Erfahrungen gemacht werden können, die sonst nicht in derselben Weise gemacht werden könnten. Diese werden in einer uneindeutigen und von der Alltagswelt entkoppelten Bedeutungssphäre konstituiert, in der auch dem subjektiven Geltungs- und Offenbarungsdrang nachgegangen werden kann, ohne sich dabei als individuelle Persönlichkeit offenbaren zu müssen. Gleichwohl erzeugt diese Sphäre ebenso wirkliche Erfahrungen wie der Alltag und bringt kulturelle Werte zum Ausdruck. Neben den beschriebenen Aspekten, die wesentlich dazu beitragen, strukturelle und situative Ursachen von Peinlichkeitserfahrungen soweit zu verändern, dass sie zu einer positiven Erfahrung umgedeutet werden können, spielt selbstverständlich auch der Persönlichkeitstyp der Ritualteilnehmer eine Rolle. So werden es schüchterne und introvertierte Personen, die im Umgang mit anderen sehr unsicher sind, in

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der Regel auch unter den besonderen Voraussetzungen einer JGA-Feier schwerer haben, sich zu den charakteristischen Selbstexponierungen zu überwinden, als Personen, die gerne auffallen, Spaß an Provokationen finden und über sich selbst lachen können. Insofern ist davon auszugehen, dass typische JGA-Feiern in der Tendenz vor allem für JunggesellInnen organisiert werden, von denen der Freundeskreis annimmt, man könne unbedenklich „so etwas“ mit ihnen machen und sie würden Spaß daran haben. Dies ist freilich nicht gleichbedeutend damit, dass extrovertierte Personen typische JGA-Feiern immer gutheißen würden, während introvertierte sie ablehnen müssten. Gerade eher zurückhaltende Personen können sich danach sehnen, in eine Rolle zu schlüpfen, die ihnen erlaubt, ihre Hemmungen abzulegen und sich zu exponieren, während sehr selbstsichere Personen ein solches Vehikel nicht unbedingt benötigen und ihm kritisch gegenüber stehen können. Dennoch wird JunggesellInnen, die im Alltag wenig Scheu haben, auf fremde Menschen zuzugehen und in komischer Weise aufzufallen, dies im Rahmen einer JGAFeier grundlegend leichter fallen und weniger peinlich sein, als es bei sehr schüchternen und unsicheren JunggesellInnen der Fall ist. Die Selbstbeschreibungen der Befragten stimmen grundlegend mit dieser Vermutung überein, zeigen jedoch zugleich, dass die eigenen Selbstbilder in dieser Hinsicht sehr differenziert betrachtet werden und Pauschalisierungen schwerfallen. So beschreibt sich Simone zwar als eher extrovertierten Menschen, sagt aber zugleich, dass es ihr am Anfang meist schwerfalle, locker zu werden, da sie sich sorge, dass ihr Situationen peinlich werden könnten, wohingegen sie „über Tische und Bänke“ gehe, wenn das Eis erst einmal gebrochen sei (vgl. Simone 405-410, 414419). Marina sagt von sich, sie stehe eigentlich gar nicht gern im Mittelpunkt (vgl. Marina 238f.), an so einem besonderen Tag wie der JGA-Feier sei es hingegen für sie in Ordnung, im Aufmerksamkeitsfokus zu stehen (vgl. ebd. 80-487). Auf fremde Personen zuzugehen und diese anzusprechen, findet sie auch im Alltag gar nicht unangenehm (vgl. ebd. 348ff., 420ff.), sondern tut dies gern: „[D]eswegen fand ich es ja eigentlich mit dem Junggesellenabschied ja auch schön, weil ich eben auch so Menschen gern auch anspreche und damit selber keine Scham habe, weil es gibt ja wirklich auch Leute, die sagen ‚Nee, das traue ich mich überhaupt nicht.‘ Und da habe ich jetzt keinen Moment darüber nachgedacht oder habe irgendwie gedacht ‚Nö, das machst du jetzt nicht.‘ und.. Mache das ja sonst eigentlich auch, dass ich einfach irgendwelche Leute anquatsche, wenn irgendwas ist oder so.“ (Ebd. 470-475)

Thomas ist es aufgrund seiner Verkäufertätigkeit ohnehin gewöhnt, auf fremde Menschen zuzugehen, und gibt an, dass ihn daher so etwas auch auf einem JGA nicht weiter störe (vgl. Thomas 293f.). Eva hingegen betont, dass sie nicht der Typ sei, welchem dies normalerweise leicht falle (vgl. Eva 300ff., 314f.). Auf ihrer

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JGA-Feier habe sie hingegen gemerkt, dass dies eigentlich ganz einfach sei, wenn man sich einmal getraut und überwunden habe (vgl. ebd. 329-333). Michaela gibt an, dass sie es grundsätzlich furchtbar findet, im Mittelpunkt zu stehen (vgl. Michaela 329-33). Zwar sieht sie sich als teilweise recht extrovertierten Menschen an, betont jedoch zugleich, dass Auffälligkeit von ihr selbst situativ gewollt sein müsse und sie sich bei unerwünschten Exponierungen am liebsten in einem Mauseloch verkröche, damit sie keiner sehen könne (vgl. ebd. 335-342). Wenngleich die Befragten also durchaus Selbstbildaspekte betonen, die mit einem Verhaltungsdrang einhergehen, schätzen sie sich grundlegend nicht als schüchtern oder unsicher ein und machten auch auf mich sowohl während der Feiern als auch während der Interviews einen prinzipiell selbstsicheren und kontaktfreudigen Eindruck. Dass von ihnen einzelne Situationen trotz des besonderen rituellen Kontextes als peinlich oder verlegenheitserzeugend beschrieben werden, zeigt, dass die Ritualvollzüge alles andere als Indikatoren einer schamlosen oder enthemmten Generation sind, sondern vielmehr als performative Spektakel begriffen werden können, die mit der vorhandenen Peinlichkeitssensibilität spielen und diese funktionalisieren. Der konkrete Fall von Michaela, der ihre Exponierungen am Anfang so peinlich waren, dass sie diese sogar als „schrecklich“ bezeichnet und betont, dass sie so etwas nicht noch einmal machen würde (vgl. Michaela 229f.), verdeutlicht zudem, was passiert, wenn wesentliche Grundlagen für eine Entpeinlichung fehlen (kein Alkoholkonsum, kaum Religio) und die Ritualteilnehmer eine Interpretation des sozialen Handlungsplans vornehmen, welche größere Abweichungen von stereotypen Auslegungen zeigt (Junggesellin wurde nicht hypersexualisiert, sondern lächerlich bzw. unattraktiv gemacht, es wurde eine untypische Öffentlichkeit aufgesucht): Hier verringern sich Umdeutungsmöglichkeiten, sodass das tatsächliche Peinlichkeitsrisiko wieder steigt. 5.4.7 Die „Peinlichkeit“ ritualisierter Peinlichkeit Ähnlich wie mediale Bloßstellungsspektakel, die Peinlichkeit ebenfalls intentional herbeiführen und sie für den Zuschauer zu einer Lustemotion umfunktionalisieren, „funktioniert“ auch ritualisierte Peinlichkeit nur dort, wo sich entsprechende Peinlichkeitssensibilitäten noch nicht vollends entwertet oder abgenutzt haben. Ansonsten würde sie als abgedroschene, langweilige und hohle Prozedur von den Ritualteilnehmern empfunden und müsste sich entweder weiterentwickeln, d.h. als „Bruchleistung“ (vgl. Fuchs 2008) weiter steigern, oder durch alternative Handlungsformen, die denselben Ritualzweck erfüllen, abgelöst werden. Genau diese Phänomene lassen sich momentan in Bezug auf den modernen Junggesellenabschied beobachten: Zum einen ist ein gegenseitiges Übertrumpfen der Ritual-

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gruppen um größtmögliche Andersartigkeit, Provokation und Auffälligkeit zu beobachten, welches jedoch zunehmend an seine Grenzen zu kommen scheint, zum anderen entwickeln sich seit einigen Jahren vermehrt Gestaltungsalternativen zur Feier. Dies konnte auch Graf bei ihrer Befragung feststellen: „Aktuell befindet sich jedoch auch die Feier des JunggesellInnenabschieds in einem Umbruch. […] Es entwickeln sich neue Formen, JunggesellInnenabschied zu feiern in Form von Ausflügen, Unternehmungen des populären Freizeitangebots und Reisen. Man könnte dementsprechend von einer These des Wandels ausgehen, zum einen bedingt durch öffentliche Kritik an den Feierformen, zum anderen aufgrund des Bedürfnisses nach einer Individualisierung der eigenen Feier.“ (Graf 2012: 24)

Geht man darüber hinaus davon aus, dass sich gerade durch die öffentliche Inszenierung von Peinlichkeit ihre Eingrenzung ergibt, indem sie innerhalb fester zeitlicher und örtlicher Grenzen verankert wird, informiert diese Entwicklungstendenz zugleich darüber, dass die ritualisierten Peinlichkeitsherbeiführungen auf JGAFeiern zunehmend als abgedroschene und gewöhnliche Prozeduren beurteilt werden. Denn „[a]uch das Muster der Peinlichkeitsproduktion wird im Zuge sozialer De-Konventionalisierung als Muster erkennbar, als Wahlmöglichkeit, die, wenn Peinlichkeit gewählt oder exerziert wird, nicht mehr über die Gültigkeit von Konventionen informiert. Der entsprechende Konventionsbruch, ist, wie wir sagten, selbst konventionell geworden. Er eignet sich nicht mehr für Individualitätsbekundungen.“ (Fuchs 2008: 222)

Hier könnte man sich fragen, wieso Junggesellenabschiede in der öffentlichen Diskussion so häufig als „peinlich“ verurteilt werden, wenngleich einerseits evident ist, dass das Verhalten auf den Ritualvollzug beschränkt ist und sich als rituell verbreitetes Muster in seinem Erschütterungswert bereits zunehmend abgenutzt hat, andererseits nur bedingt mit Peinlichkeitserfahrungen bei den Ritualteilnehmern selbst einhergeht. Was ist das „Peinliche“ der Feiern? In diesem Zusammenhang bietet sich als logische Erklärung an, dass es schlichtweg die Perspektivendivergenz zwischen Exponierungsobjekt und -rezipienten sei, die dazu führt, dass Beobachter öffentliche Verhaltensweisen der Gruppen peinlich finden, gerade weil sie den sich Exponierenden nicht peinlich zu sein scheinen. Dies ist meines Erachtens jedoch nur ein Aspekt für die negative Beurteilung der Feiern. Denn würde das Verhalten selbst gesellschaftlich akzeptiert und als Bestandteil eines angemessenen sozialen Handlungsplans für den spezifischen rituellen Anlass erachtet, könnten damit einhergehende Selbstexponierungen durchaus Peinlichkeitsempfindungen bei Beobachtern erzeugen, würden aber zugleich gebilligt (wie es etwa für öffentliches Weinen auf Beerdigungen oder Hochzeiten gilt).

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Es sind also nicht nur die Tabubrüche und Konventionsverletzungen selbst, die zur Peinlichkeitsverurteilung führen, sondern eine Ablehnung des ihnen zugrunde liegenden sozialen Handlungsplans. Dies liegt jedoch weniger daran, dass der Handlungsplan Peinlichkeitsherbeiführungen beinhaltet, als vielmehr daran, dass die Herbeiführungen im Rahmen des Ritualvollzugs als dominante Symbole anmuten, statt die Rolle instrumenteller Symbole einzunehmen, und in ihrer spezifischen Umsetzung aus der Perspektive vieler Beobachter zudem stilistisch versagen: Als bewusst produzierte „Niveaulosigkeiten“, welche vor allem unästhetische bzw. anstößige Inhalte des Peinlichen (größere Kontrollverluste durch Trunkenheit, sexualisierte/sexuelle und obszöne Grenzüberschreitungen) betreffen, verletzen sie den guten Geschmack als Anspruch, wie ein existenzielles Thema öffentlich berührt bzw. veralbert werden sollte. Als den öffentlichen Ritualvollzug dominierende Inhalte erwecken die Exponierungen weniger den Eindruck, Teil eines bedeutsamen Statuswechsels zu sein, als vielmehr den einer Peinlichkeitsinszenierung, bei welcher sowohl Ritualanlass als auch Öffentlichkeit ganz bewusst für ein möglichst einmaliges Lustspektakel instrumentalisiert werden. Durch eine solch absichtsvolle Funktionalisierung gleiten Ritualvollzüge ungewollt per se in die Zone des Peinlichen ab, welche von Dreitzel anhand des Dilemmas des wiederauflebenden Ritualisierungsbedürfnisses von Statusübergängen bei gleichzeitigem Mangel an passenden Vorbildern und Formen dafür trefflich beschrieben wird: „Die rituellen Floskeln der alten Gesellschaft, die die Bewältigung kritischer Lebenssituationen erleichtern, klingen für das Ohr vieler jüngerer Menschen abgestanden und falsch. An neuen Ritualen, die den gegenwärtigen Empfindens- und Verhaltensstandards entsprechen und die Bewältigung wiederkehrender kritischer Lebenssituationen erleichtern können, fehlt es noch. […] Die soziale Leistung des Rituals war es dagegen, emotionalen Ausdruck und versachlichende Distanz so miteinander zu verbinden, daß die Kommunikation über ein existentiell berührendes Thema der Intimität nicht mehr bedarf. […] Ist aber die traditionelle Kraft der Rituale einmal gebrochen, gehören die Formeln des Umgangs miteinander nicht mehr zum selbstverständlichen Repertoire der Handelnden, dann wird die absichtsvolle Institutionalisierung von Ritualen, wie immer ihr entlastender Effekt ersehnt werden mag, selbst zur Peinlichkeit, eben weil Entlastung nur ihre ‚sekundäre Zweckmäßigkeit‘ sein kann, wie Gehlen zu Recht meinte, weil ihnen gerade durch die Zielsetzung der Entlastung ihre entlastende Selbstverständlichkeit verloren geht.“ (Dreitzel 1983: 170f.)

Das Besondere und Außeralltägliche zeremonieller Ritualvollzüge, die diese auch emotional zu einem besonderen Erlebnis machten, ergibt sich heutzutage nicht länger als eine solche quasi-automatische Konsequenz, sondern muss oft absichtlich herbeigeführt werden. War das Gefühl früher eine Begleiterscheinung der objektiven „Hauptsache“ von Ritualanlass bzw. -ziel, mutet es heute oft selbst als Haupt-

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sache des Ritualvollzuges an, wohingegen das Objektive nur noch als „Kristallisationspunkt“ für eine entsprechende Emotionsevokation zu dienen scheint (vgl. Schulze 2000: 100) und somit austauschbar geworden ist. „In der subjektiv empfundenen Sensation teilte sich etwas mit, das als objektiv galt. Messe, Hinrichtung, bürgerliche Festlichkeit hatten auch eine überpersönliche Bedeutung. Dass das jeweilige Ereignis den Teilnehmern ‚Spaß machte‘, dass sie sich nicht langweilten, dass sie etwas erlebten, war nur eine von mehreren Bedeutungsschichten des Ereignisses, oft genug nur eine List, um den religiösen oder sozial-integrativen Hauptzweck zu erreichen.“ (Ebd. 90)

Die Institutionalisierung von Ritualen unter dem Paradigma der Emotionsevokation kann als Indikator dafür betrachtet werden, dass religiöse bzw. sozial-normierende Ritualfunktionen in unserer Gesellschaft von erlebnisorientierten Funktionen abgelöst werden: Diese bringen jedoch gleichwohl objektive gesellschaftliche Werte und Ideale zum Ausdruck, indem sie widerspiegeln, von welcher „Denkfigur der Erlebnisrationalität“ (ebd. 35) die soziale Wirklichkeit der Ritualteilnehmer jeweils durchdrungen ist. Dass auf modernen JGA-Feiern die Denkfigur der lustvollen Peinlichkeitsumfunktionalisierung dominiert, könnte als Ausdruck einer Werteorientierung verstanden werden, welche die Überwindung der eigenen Beschämbarkeit durch Peinlichkeitsbefreiungsakte zum Idealbild stilisiert – das öffentlich als „peinlich“ verurteilt wird. Die bewusste Inszenierung des Peinlichen und ihr Zelebrieren auf modernen JGA-Feiern sind jedoch nicht nur möglicher Ausdruck eines generellen kulturellen Selbstideals der Nicht-Beschämbarkeit, sondern auch Indikatoren spezifischer Selbstideale und -ängste, die mit dem Ritualanlass selbst zusammenhängen. 5.4.8 Exegetische Bedeutungsmöglichkeiten ritualisierter Peinlichkeit Dass größere Statuswechsel von ritualisierter Peinlichkeit begleitet werden, lässt sich vermutlich damit begründen, dass sie als Scheidepunkte sozialer Veränderungen das Selbst in seinem Rollenverständnis und -verhalten in besonderem Maße herausfordern: Um das Selbst in einen neuen Status einzugliedern, können scherzhafte und spielerische Angriffe und Gefährdungen seiner Identität, des situativen Gleichgewichtes und des Vertrauens in Gleichgewicht und Identität (nach Gross/Stone die drei zentralen Voraussetzungen erfolgreichen Rollenhandelns, vgl. Gross/Stone 1976) ihm dabei helfen, automatisch in Distanz zu sich zu treten, sodass anschließende Veränderungen und Schwierigkeiten leichter bewältigt werden können.

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In entsprechenden Ritualvollzügen werden die jeweiligen Veränderungen und die damit verbundenen Überlagerungen und Ambiguitäten sozialer Rollen symbolisch dargestellt, wobei durch ritualisierte Peinlichkeit Bedrohungen für das Selbst, die mit jedem neuen Anfang einhergehen, überzogen ausgedrückt, von den Ritualteilnehmern auf ungefährliche Weise durchlebt und durch Lachen relativiert werden können. Ob Lebensabschnittsanfänge oder andere Neuanfänge: „Jeder Anfang wackelt und sitzt schlecht. Man muss seine Anfänge einlaufen wie ein Paar neue Schuhe. Doch die Scham über die anfängliche Ungeschicktheit hört spätestens auf, wenn die Schuhe sitzen.“ (Batarilo 2013: 139) In Ritualen, die Veränderungen und Statuswechsel des Selbst begleiten, bringt ritualisierte Peinlichkeit diese „Scham“ als instrumentelles Symbol auf vielfältige Weisen symbolisch zum Ausdruck. Begreift man Peinlichkeit in ihrer Negation als wesentliches Handlungsideal des modernen Selbst, ergeben sich darüber hinaus Ansätze, die bewusste Institutionalisierung ritualisierter Peinlichkeit als einen Ausdruck dieses Ideals zu betrachten. Unter einem solchen Blickwinkel können die rituellen Peinlichkeitsinszenierungen auf den JGA-Feiern als ausdrückliche Negationen von Selbstbedrohungen angesehen werden, die mit dem Statuswechsel einhergehen. Auf zwei davon möchte ich abschließend hinweisen. Relativierung des Affirmativen Zwar ist es den Ritualteilnehmern sehr wichtig, dass ihre Feier öffentlich als „Junggesellenabschied“ erkannt wird, zugleich transportieren sie durch die Peinlichkeitsinszenierungen jedoch das Gegenteil der Botschaft, dass gerade ein „Trennungsritus“ als (trauriger) Abschied begangen wird. Man feiert einen „Abschied“, negiert aber zugleich, dass es ein ernsthafter Abschied ist. Die öffentlichen Exponierungen muten als gezielte Karikaturen von Initiationszeremonien an, bei welchen die Ritualteilnehmer nicht nur soziale Wirklichkeit verspotten, sondern auch deren rituellen Veränderungsvollzug. So distanzieren sie sich nicht nur ironisch von dem, was sie symbolisch während des Ritualvollzugs ausdrücken, sondern auch vom Vollzug selbst, indem sie diesen als Parodie des ausgedrückten Schemas einer Initiation erscheinen lassen.118 Auf diese Weise wird die Affirmation als Bejahung des Status-

118 Dies spiegelt wohl auch eine grundsätzlich ambivalente Haltung vieler – vor allem junger – Personen zum steifen bzw. traditionellen Zeremoniell von Ritualen wider: Zum einen ist bei ihnen wieder ein starkes Bedürfnis nach Halt und Schutz gebenden Ritualen vorhanden, die besondere Übergänge öffentlich-performativ markieren. Bereits Plessner konstatiert, dass es dort, wo es eine große Bewertung bzw. Überbewertung der Persönlichkeit gibt, zugleich des verstärkten Schutzes dieser vor Preisgabe, Verletzung und Erniedrigung in der Öffentlichkeit bedürfe, weshalb eine individualistische Gesellschaft die Auferstehung des Zeremoniells in irgendeiner Form benötige (vgl. Plessner 1972:

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wechsels und des Abschieds vom JunggesellInnendasein durch Ritualteilnahme und -vollzug zwar zum Ausdruck gebracht, zugleich jedoch in einer uneindeutigen Weise wieder relativiert. Hier impft eine öffentlich inszenierte „Peinlichkeit […] gegen Peinlichkeit. Schließlich ist nichts davon ernst. Alles ist Ironie. […] Die Ironie wird zum Standard und die Distanz zum Zwang. […] Die Überheblichkeit der Ironie ist das Neinsagen. Präventiv entwertet sie jede Aussage oder lässt sie vage im Uneindeutigen verharren.“ (Pauer 2011: 2) Der Ritualvollzug entzieht sich so der Aussage, was er für JunggesellIn und Gruppe tatsächlich bedeutet – zwar weiß jeder, was der Vollzug als „Abschied“ ursprünglich bzw. im eigentlichen Sinne bedeutet (vgl. Michaela 151-160; Marina 170f.; Thomas 138 ff.; Simone 126f.), doch zugleich vollzieht man ihn erklärtermaßen „uneigentlich“ (vgl. Michaela 164f.; Marina 172 f.). Die Flucht ins Extrapeinliche könnte hier auf Unsicherheiten hindeuten, wie man mit den in der heutigen Zeit so seltenen – und oft peinlichkeitsgefährdeten – Momenten großer affirmativer Bekenntnisse und Festlegungen am besten verfährt. Im sozialen Alltag sind schnelle Meinungswechsel gefordert, Instabilität gilt als normal, Fragilität kann zu einer neuen Charakterstärke werden, der Mensch kommt nirgends an und beginnt immer wieder von vorn (vgl. Kölling 2007: 226). „Nichts Langfristiges zählt mehr, und immer gilt: ‚Bleib in Bewegung und gehe keine Bindung ein.‘ Identität wird fließend diffus, nachgiebig oder elastisch.“ (Ebd.) Gerade der Entschluss zu heiraten erscheint angesichts dieser Flexibilisierungstendenzen zwar einerseits ein anerkannter Ausdruck des Bedürfnisses nach einem stabilen Anker im Leben zu sein, doch im Hinblick auf gültige Freiheits- und Mobilitätsansprüche und -ideale sowie die allbekannte Tatsache, dass über ein Drittel aller Ehen wieder geschieden wird (vgl. Destatis.de 2013), muss er andererseits als ein affirmatives Wagnis erscheinen, das – nimmt man es allzu ernst – lächerlich wirken kann. Während Fauxpas, Missgeschicke und Co. zunehmend als allzu menschlich und entschuldbar gelten und die Verantwortlichkeit des Individuums für viele Fehler angesichts übermächtiger und unpersönlicher Kausalketten unglaubwürdig erscheint, gebären persönliche Überzeugungsakte, eine bewusste Wahl und das Sich-freiwillig-Festlegen neue Peinlichkeitsrisiken. Gilt es, für eine erfolgreiche Selbstdarstellung überzeugend zu wirken, ohne dabei allzu (selbst)überzeugt zu klingen, wird die Flucht ins Extrapeinliche als selbstironische Distanzierung vom Ausgedrückten ein rettender Ausweg, bei dem affirmativ etwas

78). Zum anderen werden „traditionelle Zeremonien“ oftmals als überkommen und bedeutungsleer empfunden: Als formale Standardprozeduren stehen sie dem starken Individualisierungs- und Emotionalisierungsdrang konträr gegenüber, weshalb sie heutzutage oft so individuell und emotional wie möglich gestaltet werden (vgl. etwa Simone 50-53, 62-69, 97-99; Marina 71-78).

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bekundet und zugleich in ironisch augenzwinkernder Manier relativiert werden kann. Maskierung von Verbürgerlichung Dass Junggesellenabschieds- und Hochzeitsfeiern in den letzten Jahrzehnten vor allem bei jungen Menschen immer populärer wurden, weist auf das Bedürfnis hin, Statusübergänge wieder rituell zu gestalten und als besondere Übergänge performativ zu markieren. In der heutigen, durch Ungewissheiten und Krisen geprägten Zeit streben auch jüngere Menschen verstärkt nach Bürgerlichkeit, da diese ihnen eine Zugehörigkeit und Sicherheit suggeriert, die sie in anderen Lebensbereichen nur in geringem Maße spüren. Weil Bürgerlichkeit aber weiterhin als „spießig“ und „peinlich“ gilt, müssen Rituale, die sich auf den Prozess persönlicher Verbürgerlichung beziehen, zugleich möglichst unkonventionell bzw. selbstironisch daherkommen, um zu verschleiern, dass die Ritualteilnehmer gerade der „xten Wiederholung des Stückes ‚Coming of age‘“ (Taz.de 2005: 3) beiwohnen und eine Anpassung an jene bürgerlichen Werte ausdrücken, von denen sie sich einst oft explizit kritisch abgegrenzt hatten. So legt Eva die Verbürgerlichung anderer explizit negativ aus, versteht jedoch ihren eigenen Wunsch danach offensichtlich nicht als Ausdruck einer entsprechenden Selbstveränderung: „Es gibt auch welche, die sind, ich sage mal so, ganz spießig, die sagen dann ‚Ich will erst ein Haus und dann will ich heiraten und dann irgendwann Kinder.‘ Und..bei uns war der Kinderwunsch da, Kind kam, und wir haben gesagt ‚Heiraten? Ja, irgendwann dann mal.‘ Und dann kam es dann aber doch schneller als geplant..Ich war ein Wochenende in Berlin bei meiner Freundin, und als ich zurückkam, habe ich gesagt ‚Ich will nicht jetzt noch zig Jahre warten, ich will heiraten. Jetzt!‘“ (Eva 356-362)

Während Hochzeits- und Trauungsfeiern als einzigartige und romantische Liebesrituale inszeniert werden können, die verdecken, dass es sich um ein Ritual sozialer Statuseingliederung und bürgerlicher Anpassung handelt, werden JGA-Feiern als Rituale der Freundschaft und der jugendlichen Unvernunft bzw. Freiheit zelebriert. Peinlichkeitsinszenierungen könnten dabei Maskierungsakte der eigenen Verbürgerlichung darstellen, bei welchen die Veränderungsangst, bald spießbürgerlich, langweilig und angepasst zu werden oder auch nur so zu erscheinen, durch ihr übertriebenes Gegenteil negiert wird: Indem die JunggesellInnen sich in überzogener Weise enthemmt, unangepasst und provokant präsentieren, wird der Verdacht der Spießbürgerlichkeit öffentlich widerlegt. Man scheint zu beweisen, dass man keineswegs langweiliger oder konventioneller ist oder wird, nur weil man heiratet. Zwar wird das Heiraten bzw. der Entschluss dazu als sehr großer und einschneidender Schritt im Leben wahrgenommen (vgl. Thomas 12; Simone 19-24;

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Marina 2-10, 51-54; Michaela 3-7), zugleich wird jedoch negiert, dass damit nennenswerte Veränderungen für das Selbst einhergingen (vgl. Thomas 6-11; Simone 39-42; Marina 173f.; nur Michaela und Eva betonen – allerdings vorrangig im Hinblick auf ihre bestehende Mutterschaft – die positive Statusveränderung für ihr Selbst, vgl. Michaela 115-126; Eva 338-342, 347-353). Auf die Frage, welchen Zweck JGA-Feiern ihrer Ansicht nach hätten, antwortet Simone, während sie sich Tee trinkend über ihren runden Schwangerschaftsbauch streicht: „[V]ielleicht, um nochmal so richtig ausgelassen feiern zu gehen. So das letzte Mal. Ich glaube, ich könnte auch jetzt noch genauso gut feiern wie vorher.“ (Simone 126ff.) Dass jedes Ja-Sagen zugleich mit einem Nein-Sagen verbunden ist, wird beim Junggesellenabschied trotz seines Namens mit aller Kraft widerlegt, wobei diese Widerlegung als übertriebene Negation gerade auf das Gegenteil dessen, was sie ausdrückt, hinzuweisen scheint.

6. Abschließende Bemerkungen

Der Komplexität und Prozesshaftigkeit von Erfahrungen ist mit kausalen Erklärungsschemata und analytischen Begriffen nur zu geringen Teilen gerecht zu werden. Insofern ist auch die vorliegende Untersuchung als ein Teilbeitrag zu verstehen, in welchem Peinlichkeitsphänomene aus einem kommunikationswissenschaftlichen Blickwinkel heraus auf eine mögliche Art und Weise wissenschaftlich betrachtet und erklärt wurden. Dabei ging es mir vor allem darum, den grundlegenden kommunikativen Charakter von Peinlichkeit als Erfahrung und als Ereignis herauszuarbeiten und aufzuzeigen, welchen strukturellen kommunikativen Voraussetzungen und Bedingungen Peinlichkeitsemotionen entspringen und wie sie ihre kommunikative Wirksamkeit beim Betroffenen entfalten können. Auslöser und Erlebnisphänomenologie von Peinlichkeit rückten dabei in den Hintergrund, dementsprechend wurden situative Entstehungen und Bedeutungen peinlicher Situationen in concreto gar nicht bzw. nur am Rande betrachtet. Vielmehr versteht sich das entwickelte Begriffsinventar als eine Grundlage, konkrete Peinlichkeitsphänomene kommunikationswissenschaftlich zu beschreiben und zu erklären. Natürlich müsste bei entsprechenden Begriffsanwendungen kritisch geprüft werden, inwiefern die Begriffe noch einer Erweiterung, Konkretisierung oder Modifikation bedürfen. Im Vergleich zu bestehenden Forschungsansätzen (vgl. etwa Babcock 1988; Goffman 1986; Gross/Stone 1976; Manstead/Semin 1981; Silver et al. 1987) eröffnet die vorliegende begriffliche Dreiheit von Peinlichkeit als Selbstexponierung, Selbstbilddiskrepanz und Exponierungsbeobachtung die Möglichkeit, Peinlichkeitsphänomene fernab goffmanscher Rollenprobleme erfassen zu können, ohne dabei einer individualpsychologischen Betrachtungsweise anheimzufallen. Dabei scheinen gerade Selbstexponierung und Exponierungsbeobachtung als in der wissenschaftlichen Forschung bisher wenig beachtete Peinlichkeitsmerkmale in besonderer Weise zur Beschreibung und Erklärung aktueller Entwicklungstendenzen von Peinlichkeitsphänomenen geeignet zu sein. Denn vor dem Hintergrund einer zunehmenden Banalisierung und Umfunktionalisierung des „Allzumenschlichen“ von

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Fauxpas und Fehltritt auf der einen, und immer größer werdenden Perspektivendivergenzen hinsichtlich „guten Benehmens“ auf der anderen Seite werden Schamhaftigkeits- und Fremdschamgrenzen als empirische Einflussgrößen in Kommunikationsprozessen zusehends relevanter: Während etwa Exponierungshemmungen die Regulierung der konventionellen Sphäre bis zu einem gewissen Grade noch dort zu sichern vermögen, wo es an Orientierungsmustern situativer Verhaltensvorschriften oder übergeordneter Wertvorstellungen mangelt, gewinnt Fremdscham innerhalb unserer pluralistischen Gesellschaft nicht nur für identitätsstiftende Ab- und Eingrenzungsprozesse, sondern auch im Hinblick auf ihre bewusste (medial vermittelte) Evokation und Funktionalisierung an empirischer Bedeutsamkeit. Da die Begriffsentwicklung ihren Ausgangspunkt von der sprachlich-kommunikativen Verwendungsweise des Wortes „Peinlichkeit“ zur Bezeichnung einer bestimmten emotionalen Erfahrung nahm, muss kritisch angemerkt werden, dass sie entsprechend eng mit einer solchen Verwendungs- und Interpretationsweise zusammenhängt, welche sich stets verschieben kann. Dies tangiert freilich nicht das herausgearbeitete Strukturschema von Peinlichkeit als Emotion der Exponierung(-sbeobachtung) bzw. Selbstbilddiskrepanz sowie die Beschreibungen ihres kommunikativen Ausdruckes und ihrer Umdeutung durch Ritualisierung, wohl aber die Frage, ob es auch zukünftig noch sinnvoll sein wird, all dies einem Peinlichkeitsbegriff zu subsumieren. Nimmt man an, dass Emotionsstrukturen, Kulturalität und Sprache aufs Engste miteinander verwoben sein können und einander wechselseitig beeinflussen, sind Emotionsbezeichnungen, die auf unscharfe und kognitiv komplexe Erfahrungen referieren, ebenso wie Sprache und Kultur Bedingungen unterworfen, die sich verändern. Zwar werden wir auch zukünftig mit den beschriebenen Erfahrungen und den typischen Reaktionen darauf zu kämpfen haben, doch ob wir dies „peinlich“ finden werden, ist eine andere Frage. Welche unwillkürlichen und willkürlichen kommunikativen Konsequenzen Peinlichkeitserfahrungen in Interaktionssituationen für die Betroffenen besitzen, wurde durch die Beschreibungen charakteristischer Ausdrucksmerkmale und Handlungsanschlüsse ansatzweise aufgezeigt. Diese sind als Skizzen selbstverständlich anschluss- und ergänzungsbedürftig, können jedoch als Entwurf eines kommunikationstheoretischen Klassifikationssystems verstanden werden, das verschiedene Ebenen kommunikativer Steuerungsprozesse unterscheidet und dabei ihren Bezug zur Peinlichkeitsempfindung und -bedeutung im Blick zu behalten versuchte. Die von mir herausgestellten Anschlusstypen verstehen sich als unterschiedliche Strategieschemata, deren konkrete kommunikative Umsetzungsformen zum einen aufzeigen, welche grundlegende Bedeutung der Betroffene der Peinlichkeit beimisst, und zum anderen darauf hinweisen, welche Bedeutung ihr interaktiv im weiteren Situationsverlauf beigemessen werden soll. Insofern vereinen die Anschlüsse expressive und appellative Bedeutungsbezüge auf besondere Weise, da sie sowohl Ausdruck

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einer entstandenen Verletzung sind als auch Anweisungen, wie diese interaktiv behandelt und gedeutet werden soll. Dass man durch genaue Betrachtungen solcher Verletzungen die der sozialen Welt zugrunde liegende Architektur rekonstruieren kann (vgl. Gross/Stone 1976: 277), wurde auch im empirischen Teil dieser Untersuchung deutlich: Die Entwicklung eines Verständnisses „ritualisierter Peinlichkeit“ als Verschmelzung von Ritualhandlung und Peinlichkeitsherbeiführung führte dazu, sie als ein rituelles Medium zu begreifen, das vor allem bei Statuswechseln dazu dient, Erfahrungen zu erzeugen, die sonst nicht so gemacht werden könnten, um wesentliche Ritualfunktionen instrumentell zu unterstützen. Die paradigmatische und ausschnitthafte Untersuchung moderner JGA-Feiern legte nahe, dass ritualisierte Peinlichkeit dort zu einer außeralltäglichen Erfahrung umgedeutet werden kann, die von den Betroffenen auf positive Weise erlebt wird. Darüber hinaus wurde dargelegt, dass sie in diesem Zusammenhang als ein Phänomen begriffen kann, das weitere Entlastungseffekte erzeugt: Bewusste Peinlichkeitsinszenierungen können als Eruptionen verborgen gehaltener Ängste und Unsicherheiten verstanden werden, die sich auf JGA-Feiern in rituellen Befreiungsakten von Peinlichkeit sowie ironisch ausgedrückten Extra-Peinlichkeiten äußern und auf Bedrohungen (von Statuswechseln) für das Selbst hinweisen. Aufgrund der Tatsache, dass sich moderne JGA-Feiern als liminoide und antistrukturelle Rituale – für die es darüber hinaus kaum historische Vorlagen gibt – durch eine Vielzahl ambivalenter und mehrdeutiger Symbole, individuelle Ausgestaltungen sowie einen Mangel an wissenschaftlicher Erforschung auszeichnen, konnten nur einige mögliche Bedeutungsaspekte des Rituals untersucht werden. Da das eigene empirische Untersuchungsfeld zudem sehr begrenzt war, sind sowohl die Überlegungen zu operationalen Bedeutungsmöglichkeiten und Funktionen des Ritualvollzugs als auch der besonderen Rolle und Funktion ritualisierter Peinlichkeit als Interpretationsansätze und Thesen zu begreifen, welche durch weiterführende Studien kritisch zu überprüfen und weiter zu differenzieren wären. Zum Schluss zeigt sich in aller Deutlichkeit, dass auch für den Wissenschaftler gilt: Eigene Betrachtungen und Schlussfolgerungen sind mit einem gewissen Maß an Relativierung und Distanz zu formulieren, um grundlegende Ansprüche an wissenschaftliches Arbeiten zu erfüllen. Deren Verletzung würde nicht nur zu zweifelhaften Behauptungen führen, sondern fiele zugleich in zweifelhafter Weise auf das wissenschaftliche Selbst zurück – und das wäre peinlich.

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8. Anhang

8.1 H INTERGRUND

UND R AHMEN DER EXPLORATIVEN F ELDSTUDIE

Insgesamt wurden vier Junggesellenabschiedsfeiern (drei Frauengruppen und eine Männergruppe) von mir als teilnehmender Beobachterin mit der Videokamera begleitet, die im Zeitraum von Juni bis September 2010 in den Städten Aachen, Köln und Düsseldorf stattfanden. Die JunggesellInnen waren im Alter zwischen 25 und 31 Jahren. Alle Feiern fanden einige Wochen vor der Hochzeit statt. Um die Anonymität der JunggesellInnen zu wahren, wurden ihre Namen von mir geändert. Während meiner teilnehmenden Beobachtung wurden die Gruppen partiell, nicht über den gesamten Zeitraum der Begleitung gefilmt. Auch wurden die Feiern nicht in Gänze, d.h. bis zum Zeitpunkt der abendlichen bzw. nächtlichen Auflösung der Gruppe begleitet, sondern vorrangig in der Phase ihres organisierten Ablaufes, in der die öffentlichen Spiele und Aufgaben von Braut und Bräutigam vollzogen wurden und im Vordergrund des inhaltlichen Kommunikationsgeschehens standen. Die Feiern von Thomas, Marina und Michaela konnten von Beginn an begleitet werden, d.h. von dem Zeitpunkt, an dem die JunggesellInnen von der Gruppe zu Hause abholt wurden, Simones Feier konnte ich mich erst ab Ankunft der Gruppe in Düsseldorf anschließen. Einige Monate später (zu einem Zeitpunkt, als sie bereits verheiratet waren) wurden mit den vier ehemaligen JunggesellInnen Nachgespräche in Form von Faceto-face-Interviews geführt. Ihnen wurden ausgewählte Videosequenzen ihrer Abschiedsfeier gezeigt, zu denen sie befragt wurden. Darüber hinaus stellte ich ihnen Fragen zu ihrer Hochzeit und zum Statuswechsel des Heiratens sowie zur Einschätzung ihres Persönlichkeitstyps. Die Interviews wurden durch Leitfragen vorstrukturiert (vgl. 8.3.1), an denen ich mich im Gespräch orientierte. Trotzdem wurden die Gespräche gezielt so offen gestaltet, dass eine lockere Atmosphäre entstehen konnte und Besonderheiten bzw. interessante Hinweise der Äußerungen berücksichtigt und ihnen im Gespräch individuell nachgegangen werden konnte. Die Interviews wur-

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den zwischen November 2010 und Januar 2011 bei den Befragten zu Hause in einem möglichst entspannten und ungestörten Setting geführt und mit einem digitalen Aufnahmegerät aufgezeichnet. Ihre Dauer lag bei ca. 60 bis 90 Minuten. Ich legte dabei Wert darauf, sie unter vier Augen und ohne den jeweiligen Ehegatten zu führen, damit sich die Befragten möglichst frei äußern konnten. Dies ließ sich jedoch nicht in allen vier Fällen realisieren, denn die Ehefrau von Thomas bestand darauf, beim Interview anwesend zu sein. Da mir die Möglichkeit eines Einzel-Interviews gefährdet erschien, beschloss ich, ihrem Beisein zuzustimmen, und versuchte diesen Nachteil für mich zu nutzen, indem ich sie ebenfalls zu ihrer Abschiedsfeier (welche ich nicht begleiten konnte) befragte. Die entstandenen Tonaufnahmen wurden im Nachgang mit EXMARaLDA119 transkribiert. Die vier Transkripte sind in einem ausgelagerten Anhang als PDFDatei unter folgendem Link online verfügbar: http://www.transcript-verlag.de/9783-8376-3145-6/peinlichkeit. Da im Hinblick auf das Forschungsinteresse primär die Gesprächsinhalte zu den einzelnen Themen von Bedeutung sind, wurde kein differenziertes Notationssystem bei der Transkription verwendet, sondern die Daten wurden weitestgehend der deutschen Schriftsprache angepasst, d.h. soweit als möglich und sinnvoll den Regeln deutscher Zeichensetzung und Rechtschreibung unterworfen und so in leserliche Inhalte übersetzt. Grundlegendes Ziel der Vorgehensweise von teilnehmender Beobachtung und nachgehender Befragung war es, JGA-Feiern sowohl aus kommunikativer wie extrakommunikativer Perspektive untersuchen zu können. Durch die Begleitung und das in diesem Rahmen entstandene Videomaterial konnte die äußere Handlungsebene des Ritualvollzugs in den Blick genommen werden. Mithilfe der Interviews hingegen konnte ich den Vollzug aus der kommunikativen Perspektive der beteiligten Handlungsakteure heraus beleuchten. Auf diese Weise konnte ich sowohl untersuchen, inwiefern ritualisierte Peinlichkeit konkreter Bestandteil der Feiern ist, als auch, wie entsprechende Handlungsvollzüge von den betroffenen Akteuren erlebt und bewertet wurden. Bei der Suche nach Gruppen, die ich bei ihrer Feier begleiten könnte, stellte sich schnell heraus, dass es äußerst schwierig war, Freiwillige zu finden, die bereit waren, eine fremde Person die Feier beobachten und filmen zu lassen. Problematisch war hier zum einen, dass das Einverständnis der jeweiligen Braut bzw. des Bräutigams meist nicht eingeholt werden konnte, da ja die gesamte Feier eine „Überraschung“ werden sollte. Zum anderen hatten viele Schwierigkeiten mit der Vorstellung, die Feier filmen und entsprechend dokumentieren zu lassen. Zwar fo-

119 Erhältlich ist EXMARaLDA auf www.exmaralda.org. Eine ausführliche Beschreibung des Systems findet sich bei Schmidt und Wörner (vgl. Schmidt/Wörner 2009).

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tografieren und filmen auch die Gruppenmitglieder selbst die Feiern, doch die Vorstellung, dass sich entsprechendes Material im Besitz einer Fremden befinden würde, stellte für viele ein Problem dar. Eine zusätzliche Herausforderung bestand darin, dass sich der Teilnehmerkreis der Feiern aus ausgewählten gleichgeschlechtlichen Freunden zusammensetzt, sodass die Teilnahme einer unbekannten Person nicht nur als möglicher Störfaktor angesehen wurde120, sondern bereits qua sozialem Handlungsplan, insbesondere bei männlichen Gruppen, auszuschließen ist. Eine erste Anfrage über einen großen Mailverteiler unter Freunden und Bekannten mit der Bitte um Weiterleitung brachte keine positiven Rückmeldungen, auch Aushänge entsprechender Gesuche bei den Standesämtern der Region sowie die Platzierung des Aufrufes in verschiedenen Internetforen zum Thema „Hochzeit“ und „Junggesellenabschied“ konnten keinen Erfolg erzielen. Wie so oft in der heutigen Zeit war es schließlich ein soziales Netzwerk, durch dessen strategische Nutzung die vier Zusagen generiert werden konnten: Im Netzwerk „StudiVZ“, einer sozialen Internet-Plattform für Studierende (welche aber auch von vielen anderen jungen Menschen genutzt wird), haben User die Möglichkeit, eine Gruppe zu einem bestimmten Thema zu gründen, und können dann verschiedene andere StudiVZUser in diese Gruppe einladen, um gemeinsam eine Gruppenkommunikation zu führen. Das jeweilige Gruppenthema sowie der Gruppengründer (nicht jedoch die einzelnen Teilnehmer und die Kommunikationsbeiträge selbst) können von allen StudiVZ-Usern eingesehen und angeschrieben werden. Durch eine gezielte Stichwortsuche nach Planungsgruppen von JGA war es mir möglich, weit über tausend Gruppengründer von JGA-Planungsgruppen per Privatnachricht anzuschreiben. In der Anfrage schilderte ich, dass ich „typisch moderne“ JGA suchte, die ich mit der Kamera für Forschungszwecke begleiten wollte. 121 Dass es dabei vor allem um das

120 So bekam ich Antworten wie:„[L]eider muss ich dir eine Absage erteilen. Das liegt weniger daran, dass wir dabei gefilmt werden, als dass du nun mal eine Fremde bist, die nicht zu unserer Gruppe gehört“ (private Nachricht über StudiVZ). 121 Der Text der Anfrage lautete: „Hallo! Ich bin über Deine Studi-VZ JGA-Gruppe auf Dein Profil gestoßen, da ich eine wissenschaftliche Untersuchung zu diesem Thema leite und Hilfe benötige: Im Rahmen meiner Dissertation im Fach Kommunikationswissenschaft beschäftige ich mich mit Abläufen und Strukturen typisch moderner Junggesellinnen- und Junggesellenabschiede. Deshalb bin ich auf der Suche nach entsprechenden Gruppen, die ich auf ihrer Feier mit der Kamera begleiten darf – ich selbst bin unkompliziert und werde bestimmt nicht stören. Die Videoaufnahmen werden selbstverständlich streng vertraulich behandelt, anonymisiert und nur zu rein wissenschaftlichen Zwecken verwendet. Danach werden sie vernichtet. Ihr könnt aber natürlich eine Kopie als tolles Erinnerungsvideo erhalten! Wenn Ihr Euch auf Eurer Feier begleiten lassen.

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Thema ritualisierter Peinlichkeit ging, wurde verschwiegen, um keine diesbezüglichen Verfremdungseffekte zu generieren.

8.2 K URZBESCHREIBUNGEN

DER BEGLEITETEN

F EIERN

8.2.1 Simone: Briloner Frauen-JGA in Düsseldorf Rahmendaten und Ablauf der Feier An einem Junisamstag 2010 wurde eine Gruppe von insgesamt zehn Frauen aus Brilon im Sauerland begleitet, die in Düsseldorf mit anschließender Übernachtung feierte. Die Junggesellin war 25 Jahre alt, Deutsche und seit ca. einem Jahr mit ihrem Partner liiert, kannte ihn aber bereits seit längerer Zeit. Organisiert und geplant wurde die Feier vorrangig von der Schwester der Junggesellin, welche zugleich Trauzeugin war und über deren Kontakt die Zusage für meine Teilnahme erfolgte. Die Frauen begannen die Feier bereits morgens mit einem gemeinsamen Frühstück gegen 9:30 Uhr bei einer Freundin von Simone in Brilon, danach fuhren sie mit der Bahn nach Düsseldorf. Die Schwester hatte Simone schon am Morgen der Feier darüber informiert, dass ich die Gruppe in Düsseldorf begleiten würde, ansonsten wusste diese noch nichts über den genauen Verlauf der Feier. Im Zug musste Simone bereits einige Aufgaben absolvieren, und es wurde Alkohol konsumiert. Nach der Ankunft in Düsseldorf folgte der Check-In in einem Hotel in der Nähe des Hauptbahnhofs, in dem sich die Frauen auch umzogen. Ich habe die Gruppe anschließend vor dem Hotel getroffen, von dort ging sie Richtung Altstadt, wo zahlreiche andere JGA-Gruppen unterwegs waren, sodass die Frauen immer wieder auf andere männliche und weibliche JGA-Teilnehmer trafen. Meine Begleitung der Feier erstreckte sich insgesamt über ca. viereinhalb Stunden (von 15:30 bis 20 Uhr). Während dieser Zeit lief die Gruppe durch die Altstadt, machte Rast vor verschiedenen Kneipen und nahm ein Essen auf der Terrasse eines Restaurants ein. Nachdem ich die Gruppe verlassen hatte, zog diese noch weiter durch die Altstadt und besuchte am späteren Abend verschiedene Diskotheken, wo

möchtet (Raum NRW im Idealfall) oder bereits ein JGA-Video habt, das mir zur Verfügung gestellt werden kann (auf digitalem Wege oder als CD per Post, das Porto würde ich selbstverständlich übernehmen), dann einfach bei mir melden! Beste Grüße aus Köln, Julia. P.S.: Ich wäre darüber hinaus sehr dankbar, wenn Du diese Anfrage weitergeben könntest! Vielleicht hat die andere Hälfte des zukünftigen Brautpaares ja Lust, sich auf seinem JGA begleiten zu lassen (ich suche ebenso Frauen- wie Männergruppen).“

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ausgelassen getanzt und gefeiert wurde (vgl. Simone 351-359), bevor sie in das Hotel zurückkehrte. Ich erlebte die Gruppe während meiner Begleitung als ausgelassen und fröhlich, die Junggesellin schien es grundsätzlich zu genießen, im Mittelpunkt zu stehen. Es wurde viel gemeinsam gelacht und gescherzt, und die Junggesellin zeigte sich selbstbewusst und neckisch gegenüber fremden Männern. Verkleidung Die Junggesellin erhielt im Hotel ein „sexy“ Piratinnenkostüm, das aus einer weißen schulterfreien Bluse, einem schwarzen Rock, einem schwarzen Piratentuch (welches um den Kopf gebunden wurde) und einer Augenklappe bestand. Die anderen Frauen hatten ein rotes Tuch als Erkennungszeichen um den Kopf gebunden. Auf diese Weise wurde die Zusammengehörigkeit der Gruppe nach außen hin signalisiert, die Junggesellin jedoch besonders hervorgehoben. Aufgaben Die Junggesellin musste bereits während der Bahnfahrt verschiedene Dinge an fremde Zugreisende verkaufen (vgl. Simone 154-158). Dabei sollte sie sich einen passenden Spruch ausdenken, mit dem sie an andere herantrat. Dieser lautete wie folgt: „Im Sauerland werde ich bald Hochzeit feiern, drum wollen wir heute saufen und ich hoffe, es muss keine reihern. Nun zahle zwei Euro und spiele ein Spiel, mach’ es recht gut und gewinne viel.“ Darüber hinaus hatte die Gruppe ein Würfelspiel vorbereitet. Mit einem großen Schaumstoffwürfel musste die Junggesellin Männer in der Düsseldorfer Altstadt ansprechen und sie animieren, für zwei Euro zu würfeln. Bei einer Eins gewann der jeweilige Mitspieler einen Kuss von der Junggesellin, bei einer Sechs einen Kuss von allen Frauen, bei allen anderen Zahlen einen Schnaps oder diverse Kleinartikel (Piratentücher und Trillerpfeifen). Alkoholkonsum Das morgendliche Frühstück fand noch ohne Alkohol statt, auf der Zugfahrt wurde dann mit Sekt angestoßen und vor dem Auszug in die Düsseldorfer Altstadt gab es erste Schnapsrunden. Die Frauen hatten eine große Flasche Hochprozentiges mitgebracht, aus der sie für sich und die mitspielenden Männer kleine Plastikbecher befüllten und „auf ex” tranken. Zudem kauften sie sich Bier in den Kneipen der Altstadt und konsumierten alkoholische Cocktails. Die Junggesellin schien während meiner teilnehmenden Beobachtung stark angeheitert zu sein, wirkte jedoch nicht allzu betrunken.

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8.2.2 Marina: Eschweiler Frauen-JGA in Düsseldorf Rahmendaten und Ablauf der Feier An einem Junisamstag 2010 wurde eine 15-köpfige Frauen-Gruppe aus Eschweiler bei Aachen begleitet (von ca. 14:30 Uhr bis 19:30 Uhr). Die Junggesellin, eine 28 Jahre alte Deutsche mit tunesischen Wurzeln, war seit 12 Jahren mit ihrem Partner liiert. Die Schwester der Junggesellin, die auch Trauzeugin war, hatte die Organisation und Planung der Feier federführend übernommen, über ihren Kontakt erfolgte die Zusage für meine Begleitung. Ich konnte die Feier von Anfang an begleiten. In ihrem Heimatort Eschweiler wurde die Junggesellin gegen 14:30 Uhr von drei hupenden Autos, in denen die Frauen saßen, zu Hause abgeholt. Sie wusste nichts über den genauen Beginn und Verlauf der Feier und war auch nicht darüber informiert, dass diese von mir begleitet und mit der Kamera gefilmt werden würde, was dazu führte, dass sie mich zuerst mit einer Freundin verwechselte. Ihre Schwester forderte sie aus dem Auto heraus mit einem Megafon auf, das Haus zu verlassen, stieg dann aus und überreichte der im Türrahmen stehenden Junggesellin ihre Kleidung, die diese direkt vor der Haustür überzog. Dann stieg sie in eins der Autos und die Gruppe fuhr zu einer der Frauen nach Hause, wo im geschmückten Partykeller mit Sekt angestoßen wurde. Etwa eine halbe Stunde später kam ein Lieferservice und brachte mehrere Pizzen, die gemeinsam gegessen wurden. Wenig später erschien ein „Polizist“ – der Stripper –, der im Keller zu Musik eine Stripshow vorführte, in die er Junggesellin aktiv mit einbezog (sie musste ihm beim Ausziehen assistieren, ihn am Po anfassen etc.). Im Anschluss daran folgten einige Kindergeburtstagsspiele, z.B. „Reise nach Jerusalem“ oder „Luftballontanz“, die mit Trinkspielen kombiniert wurden. Gegen 19 Uhr fuhr ein Kleinbus vor, der die Gruppe nach Düsseldorf brachte. Auf der Fahrt wurde laute Musik gehört, Sekt getrunken und Süßigkeiten gegessen. In Düsseldorf angekommen musste die Junggesellin an der Rheinpromenade und in der Altstadt Artikel aus ihrem Bauchladen verkaufen. Dort waren an diesem Abend auch viele andere JGA-Gruppen unterwegs. Nachdem ich mich gegen 20:30 Uhr verabschiedet hatte, zog die Gruppe noch weiter durch die Altstadt und besuchte eine Karaoke-Bar. Danach machten sich einige der Frauen bereits auf den Heimweg, der Rest der Gruppe zog weiter ins „Oberbayern“ (eine Düsseldorfer Diskothek). Gegen vier Uhr morgens wurden die übrigen Frauen mit dem Kleinbus wieder zurück nach Eschweiler gefahren. Die Stimmung der Gruppe war insgesamt ausgelassen und fröhlich, vor allem der Männerstrip sorgte für viel Spaß. In der Düsseldorfer Altstadt hielten sich einige der Frauen bei den Spielen betont abseits, während andere sich aktiv an der Ansprache und den Gesprächen mit den Männern beteiligten. Während etwa eine der

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Freundinnen hervorhob, dass sie die Spielchen und das Verkaufen auf einem JGA schrecklich und peinlich fände, unterstützte die Schwester der Junggesellin diese mit vollem Eifer. Die Junggesellin selbst schien Spaß daran zu haben, auf fremde Männer zuzugehen und hatte dafür auch stets einen lockeren Spruch parat. Auch bei der Stripshow, in die sie vom Stripper mit einbezogen wurde, lachte sie viel, wirkte jedoch zugleich über den ganzen Zeitraum hinweg sehr verlegen, was sich durch nervöse Handbewegungen und Abwenden des Blickes bemerkbar machte. Verkleidung Die Junggesellin erhielt ein weißes T-Shirt, auf dem „Top Wife“ stand, einen weißen Tüllschleier mit kleinen violetten Schmetterlingen und ein lila Tüll-Tutu, das als Rock diente. Die anderen Frauen trugen ein lila T-Shirt, das auf dem Rücken mit „Ina’s JGA“ und auf der Brust mit „Top Jury“ bedruckt war. Aufgaben Während des Männerstrips musste sich die Junggesellin auf einen Stuhl in die Mitte eines Stuhlkreises setzen und dem Stripper bei seiner Vorführung assistieren, d.h. ihm beim Ausziehen helfen, mit ihm tanzen und ihn an intimen Stellen, z.B. seinem nackten Po, anfassen. Bevor die Gruppe mit dem Kleinbus aufbrach, bekam die Braut von ihrer Schwester einen Bauchladen in Form eines Weidenkörbchens überreicht und ihr wurde erklärt, welche Artikel sie zu welchen Preisen verkaufen sollte. Es befanden sich Kondome, verschiedenfarbiger Wodka in Plastikspritzen, Süßigkeiten und Spielzeug darin. In Düsseldorf sollte die Braut dann Männer ansprechen und sie zum Kauf der Artikel animieren. Ein Wodka sollte zwei Euro kosten. Alkoholkonsum Im Partykeller tranken die meisten Frauen ein oder mehrere Gläser Sekt, außerdem Schnaps bei den Trinkspielen. Auf der Fahrt nach Düsseldorf wurde weiter Sekt konsumiert. In der Düsseldorfer Altstadt angekommen, trank die Braut mit den Männern, denen sie Wodka verkaufte, oft ein „Gläschen“ mit. Sie wirkte während meiner Begleitung sehr angeheitert, jedoch nicht betrunken. Im Gegensatz dazu war ihre Schwester bereits kurze Zeit nach Ankunft in Düsseldorf stark alkoholisiert.

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8.2.3 Thomas: Kölner Männer-JGA in Köln Rahmendaten und Ablauf der Feier An einem Julisamstag 2010 habe ich eine Männer-Gruppe aus Köln begleitet. Organisiert wurde die Feier hauptsächlich von einem Arbeitskollegen und Freund des Junggesellen, über dessen Kontakt die Zusage für meine Teilnahme erfolgte. Der Junggeselle, ein 26 Jahre alter Deutscher, war seit sechs Jahren mit seiner Freundin liiert und hatte bereits einen gemeinsam 1,5 Jahre alten Sohn mit ihr. Ich konnte die Feier von Anfang an begleiten. Der Junggeselle wurde gegen 15:30 Uhr von zwei Freunden zu Hause abgeholt, ein dritter Freund stieß kurz danach in der Stadt dazu, zwei Brüder des Junggesellen sollten am späteren Abend ebenfalls noch hinzukommen. Während meiner Begleitung bestand die Gruppe insgesamt aus vier Männern und stellte eine verhältnismäßig kleine JGA-Gruppe dar. Nachdem die Männer in der Wohnung des Junggesellen ihre T-Shirts angezogen hatten, ging die Gruppe Richtung U-Bahn, um von dort zum Kölner Ring zu fahren. Vor der U-Bahn erhielt der Bräutigam einen Karton mit Süßigkeiten und Schnapsfläschchen und sollte diese nun verkaufen. Vom Kölner Ring, wo der Junggeselle mehrere Aufgaben absolvierte, lief die Gruppe zum Aachener Weiher, wo er neue Aufgaben erhielt. Später ging es wieder zurück zum Kölner Ring, da ein Tisch in einem dortigen Lokal der Restaurantkette „Hooters“ (ein Lokal, in dem leicht bekleidete Frauen kellnern), reserviert war. An allen aufgesuchten Orten waren an diesem Tag viele andere JGA-Gruppen anzutreffen. Im „Hooters“ fand sogar ein vom Restaurant organisierter Wettbewerb speziell für männliche Junggesellen statt, an dem sich auch Thomas beteiligte. Die Teilnehmer des Wettbewerbs mussten sich auf Tische des Restaurants stellen und Bierkannen, die mit Wasser gefüllt waren, so lange wie möglich mit ausgestrecktem Arm in der Luft halten. Der Gewinner erhielt eine größere Menge an Freibier. Nach dem Essen, um ca. 19 Uhr, verließ ich die Gruppe. Den weiteren Verlauf des Abends beschrieb der Trauzeuge einiger Tage später via private Nachricht folgendermaßen: „Wir haben, nachdem du weg warst, noch das Spiel [Fußballspiel im Fernsehen, J.D.] zu Ende geguckt und dazwischen noch die Brüder von Thomas abgeholt. Danach sind wir direkt ins Pascha^^ Im Pascha konnten wir uns dann viele verschiedene Stripshows angucken und man wurde von den Damen dort angesprochen, die einem dann einen Lapdance anbieten wollten. Da wir ja alle eine Freundin haben, ging das natürlich nicht. ;-) Es kostete ausserdem zusätzliches Geld und wir hatten schon 35 Euro Eintritt gezahlt. Alles in Allem war es trotzdem noch ganz lustig und wir hatten noch viel Spaß. :-D.“ (private Nachricht auf StudiVZ)

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Verkleidung In der Wohnung von Thomas zog sich die Gruppe die gemeinsamen T-Shirts an. Auf der Vorderseite von Thomas’ T-Shirt war zu lesen „Ich heirate und muss dieses T-Shirt tragen“ und darunter war ein trauriges Smiley abgebildet. Auf dem Rücken seines Shirts stand „Heute ein König“, darunter war die Schachfigur des Königs zu sehen. Auf den T-Shirts der anderen Männer stand vorne „Thomas JGA Crew Junggesellenabschied“ und auf der Rückseite „(Mit)läufer“, darunter war die Schachfigur des Läufers abgebildet. Aufgaben Der Junggeselle bekam einen Pappkarton mit Schnapsfläschchen und Süßigkeiten, die er verkaufen sollte, sowie die Aufgabe, fremde Frauen um ein gemeinsames Foto mit ihm zu bitten. Eine weitere Aufgabe, die darin bestand, Telefonnummern von fremden Frauen zu sammeln, lehnte er allerdings ab, da er dies im Hinblick auf seine Freundin unpassend fand (vgl. Thomas 193ff.). Die Schnapsfläschchen verkaufte der Junggeselle, ein wenig zum Missfallen des Trauzeugen, direkt zu Anfang allesamt an einen Kioskbesitzer, da er keine Lust hatte, länger so schwer zu tragen. Neben dem Verkauf der Süßigkeiten überlegten die anderen Männer angestrengt, welche weiteren „peinlichen“ Aufgaben sie dem Junggesellen nun stellen könnten. Es wurde entschieden, dass er in einer Bäckerei ein Brötchen erbetteln, in einem Schnellrestaurant für einen Burger tanzen, in einem Supermarkt an der Wursttheke um eine Scheibe Kinderwurst bitten und am Aachener Weiher Pfandflaschen sammeln und eintauschen sollte. Diese Aufgaben erdachten sich die Männer spontan, auch der Junggeselle selbst beteiligte sich daran. Ihm kam schließlich die Idee, Wasser in einem Supermarkt zu kaufen, um es dann auf der Straße weiterzuverkaufen, da es am Tag der Feier außergewöhnlich heiß war (über 34 Grad) und er meinte, dass sich das Wasser im Gegensatz zu Alkohol gut verkaufen würde. Diese Idee setzte er auch in die Tat um. Darüber hinaus nahm er am Wettbewerb im „Hooters“ teil. Alkoholkonsum Der Junggeselle hatte sich selbst eine große Plastikflasche mit einem WhiskeyCola-Mix vorbereitet und mit auf den Weg genommen, aus der er direkt nach Verlassen der Wohnung beherzt zu trinken begann. Die anderen Männer nahmen wenig davon und hielten sich bis auf einen geringen Bierkonsum mit dem Trinken eher zurück. Im Gegensatz zu ihnen war der Junggeselle recht schnell sehr betrunken. Bei unserem Interview konnte er sich daher an die meisten Videoszenen, die wir uns gemeinsam ansahen, kaum bis gar nicht erinnern.

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8.2.4 Michaela: Aachener Frauen-JGA in Aachen Rahmendaten und formaler Ablauf der Feier An einem Samstag im September 2010 begleitete ich eine weibliche JGA-Gruppe aus Aachen, die auch dort feierte, für ca. fünfeinhalb Stunden (von 13:30 Uhr bis 19:00 Uhr). Die Junggesellin, eine 31 Jahre alte Deutsche, lebte lange Zeit in Schweinfurt, war aber vor einigen Jahren zu ihrem Partner, der in Aachen wohnte, gezogen. Sie hatte bereits eine 11-jährige Tochter aus einer vergangenen Beziehung, die mit ihr und ihrem Verlobten zusammenlebte, und war zum Zeitpunkt der Feier im sechsten Monat schwanger. Organisiert wurde die Feier hauptsächlich von einer Arbeitskollegin, welche eigentlich eher mit dem Partner der Junggesellin befreundet war und über die die Zusage für meine Teilnahme erfolgte. Insgesamt bestand die Gruppe aus sieben Frauen. Die Junggesellin wusste nicht, welche Aktivitäten für die Feier geplant waren und dass die Gruppe von mir mit der Kamera begleitet werden sollte. Sie wurde gegen 13:30 Uhr von den Frauen zu Hause abgeholt. Nach einem gemeinsamen Anstoßen mit Sekt in ihrer Wohnung und dem anschließenden Kleidungswechsel fuhr die Gruppe in zwei Autos zu einem nahe gelegenen Weiher in Alsdorf, wo sie ca. zwei Stunden auf einem reservierten „Grill-Boot“, auf dem gemeinsam gegrillt und gegessen wurde, verbrachte. Danach fuhr die Gruppe mit den Pkws in die Aachener Innenstadt. Dort angekommen wurde der Junggesellin ihr Bauchladen überreicht, aus welchem sie für zwei Euro Schnaps an Passanten verkaufen musste. Nach einiger Zeit wurde für einen Zwischenstopp in einem Biergarten eingekehrt, wo die Braut ein weiteres Kleidungsstück – einen weißen Maleranzug – erhielt. Danach zog die Gruppe weiter durch die Stadt Richtung Marktplatz, während der Verkauf fortgesetzt wurde. Gegen 19 Uhr verließ ich die Gruppe. Die Junggesellin verkaufte anschließend noch weitere Schnapsfläschchen und die Gruppe machte an mehreren Stellen halt, um etwas zu trinken, wobei sich einige Frauen bereits verabschiedeten. Gegen 21 Uhr löste sich die restliche Gruppe auf, und jeder ging nach Hause. Während meiner Begleitung trafen wir in Aachen auf keine weiteren JGAGruppen. Die Stimmung der Gruppe war aus meiner Sicht teilweise etwas verkrampft, die Junggesellin sowie einige Teilnehmerinnen schienen sich vor allem zu Beginn unwohl bzw. unsicher in ihrer Aufmachung zu fühlen und lachten nur selten. Während meiner Anwesenheit kam keine richtige Ausgelassenheit bzw. spaßige Laune auf, eher war der Pflichtcharakter des Programms zu spüren.

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Verkleidung Die Frauen trugen Haarreifen mir rosafarbenen Fühlern, dazu gab es ein farblich passendes Ansteckschildchen in Form eines Venussymbols, auf dem „Michi heiratet, let’s get married“ stand und eine Frau abgebildet war, die einen Mann an der Leine führte. Die Braut selbst bekam einen Haarreif, an dem pomponartige rosa Fühler und ein kurzer Tüllschleier befestigt waren, sowie eine rosa Netzstrumpfhose, die sie über ihre eigene Hose ziehen musste. Zu einem späteren Zeitpunkt wurde der Braut zudem noch ein weißer Maleranzug überreicht, den sie über ihrer Kleidung tragen musste und auf dem kleine rote Herzen aufgemalt waren. Die Organisatorin der Feier hatte außerdem einen Kunststoffbusen zum Umschnallen besorgt, der zu einem späteren Zeitpunkt zum Einsatz kommen sollte (Anfassen gegen Bezahlung), den sie aber letztlich in ihrer Tasche behielt, da ihr die Stimmung nicht locker genug erschien, um ihn einzusetzen.122 Aufgaben Die Junggesellin erhielt einen Bauchladen mit Schnäpsen und den Auftrag, diese in der Aachener Innenstadt ab zwei Euro zu verkaufen. In der Fußgängerzone versuchte sie dann, Passanten (sowohl Männer als auch Frauen) zum Kauf zu animieren. Zudem sollten später die Herzen auf ihrem weißen Maleranzug gegen Bezahlung von Männern ausgeschnitten werden. Da sich aber zunächst noch viele Schnapsflaschen im Bauchladen befanden, einigte man sich darauf, erst einmal diese zu verkaufen, um nicht mehr so schwer tragen zu müssen. Als die Herzen dann zu späterer Stunde ausgeschnitten werden sollten, war die Teilnehmerin, die eine Schere mitgenommen hatte, bereits gegangen, sodass schlussendlich auf die Aufgabe verzichtet wurde. Alkoholkonsum Die Junggesellin hatte zu Hause einen Sektempfang vorbereitet und es wurde gemeinsam angestoßen. Beim Grillen auf dem Boot wurden allerdings nur Softgetränke konsumiert. Da die Junggesellin selbst aufgrund ihrer Schwangerschaft keinen Alkohol trinken konnte, blieb ihr Mittrinken beim Schnapsverkauf aus, auch die anderen Frauen tranken auf ihrem Weg durch die Stadt keinen Alkohol. Erst bei der gemeinsamen Einkehr im Biergarten am Nachmittag bestellten die Freundinnen vereinzelt ein Bier. Während meiner Begleitung schien keine der Frauen angetrunken zu sein, die ein oder andere höchstens etwas angeheitert.

122 Ihr Kommentar dazu per StudiVZ-Nachricht einige Tage nach der Feier: „[I]ch habe mich spontan dazu entschlossen ihr die umschnallbrüste nicht anzutun, da die stimmung nicht so locker war, aus meiner sicht“ (private Nachricht auf StudiVZ).

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8.3 I NTERVIEWS 8.3.1 Struktur und Leitfragen der Interviews Befragungsmethode Mit allen vier ehemaligen JunggesellInnen wurden Nachbefragungen in Form qualitativer Interviews geführt, um die auf meiner teilnehmenden Beobachtung basierenden Eindrücke um die „subjektive[n] Perspektiven der Beobachteten“ (vgl. Hopf 2007: 350) erweitern zu können. Bei der Konzeption der Interviews habe ich mich an der Methode des Leitfadeninterviews orientiert, das viele Spielräume in den Frageformulierungen, Nachfragestrategien und in der Abfolge der Fragen gestattet (vgl. ebd. 351), wodurch die Möglichkeit eröffnet wird, „Situationsdeutungen oder Handlungsmotive in offener Form zu erfragen, Alltagstheorien und Selbstinterpretationen differenziert und offen zu erheben“ (ebd. 350). Auch erlauben Leitfadeninterviews, die Befragung flexibel an die jeweilige Gesprächssituation und den Gesprächspartner anzupassen, was mir wichtig erschien, um eine angenehme und natürliche Gesprächsatmosphäre zu erzeugen, welche die Befragten zum freien Erzählen einlädt. Die Einordnung der geführten Leitfadeninterviews in eine weitere Unterkategorie ist schwierig, da ich bewusst verschiedene Befragungstechniken miteinander kombinierte. Eine Besonderheit stellte sicherlich die Konfrontation der Befragten mit Videoausschnitten ihrer Feier dar, zu denen sie Stellung nehmen sollten, sodass die Befragungen Züge fokussierter Interviews erhielten, galt es doch, Interpretationen zu Aufzeichnungen zu erheben, die spezifische, gemeinsam erlebte Situationen zeigen (vgl. Hopf 1991: 179). Darüber hinaus wandte ich auch Fragemethoden diskursiver Interviews an, indem ich eigene Interpretationen zur Disposition stellte und versuchte, die Befragten „als Kooperationspartner in einem diskursiven Prozeß der Überprüfung von Aussagen anzusprechen“ (ebd.). Diese Befragungstechnik nutzte ich gezielt in Ergänzung zu den offenen Fragen, da es mir nicht nur darum ging, Informationen darüber zu erhalten, wie die Befragten einzelne Situationen und Ereignisse erlebt hatten, sondern auch darum, bestimmte eigene Hypothesen über Erlebnisbedeutungen im Interview zu überprüfen. In diesem Zusammenhang diente mir die besondere Vorgehensweise der Konfrontation der Befragten mit ausgewählten Videoausschnitten nicht bloß dazu, ihnen bestimmte Situationen lebhaft ins Gedächtnis zu rufen, um anschließend darüber reden zu können. Vielmehr ermöglichte mir diese Methode, einschränkende Kategorisierungen der jeweiligen Situationen im Vorfeld zu vermeiden, ging es doch darum, diese Kategorisierungen durch die Interviews erst zu ermitteln: Daher wurden die Befragten nach der Vorführung des jeweiligen Videoausschnittes zuallererst aufgefordert, das Gesehene zu beschreiben. Auf diese Weise konnten sie ihre persönlichen Eindrücke und Bewertungen der Situationen frei und in ihren eigenen

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subjektiven Deutungskategorien formulieren, bevor im Anschluss daran ggf. meine Eindrücke thematisiert wurden. Darüber hinaus wurde den Befragten durch das Betrachten der Videosequenzen eine neue Perspektive auf vergangene Erfahrungssituationen eröffnet, in welcher sich ihre innere Erlebnisperspektive um die Außenperspektive der Kamera erweiterte, was ihnen zusätzliche Bewertungsinformationen ihres Verhaltens zur Verfügung stellte. Hier erlaubte es z.B. die Frage, ob und inwiefern sich die Betrachtung der Situation aus der jetzigen Außenperspektive von ihrer damaligen Erlebnisweise unterscheide, Kongruenzen und Widersprüche von Innen- und Außenperspektive einer Erfahrungssituation zu thematisieren. Die Konfrontation mit Videoausschnitten innerhalb der Interviews fungierte also als ein zusätzliches Erhebungsinstrument, mit welchem die im Rahmen der teilnehmenden Beobachtung gemeinsam erlebten Situationen besonders umfassend und offen von den Befragten reflektiert werden konnten. Befragungsinhalte Im Hinblick auf das Untersuchungsinteresse verfolgten die Interviews grundlegend zwei Zwecke: Zum einen, und das war der Hauptzweck, sollten sie mir dazu dienen, emotionale Auslegungen und -bewertungen bestimmter Situationen der Feiern von den Befragten zu erhalten. Dazu wurden ihnen ausgewählte Videosequenzen, die mir besonders typisch oder auch untypisch für die drei in dieser Untersuchung herausgestellten Ritualaspekte einer JGA-Feier erschienen, gezeigt, und sie wurden gebeten, die entsprechenden Situationen aus ihrer Perspektive zu beschreiben und darzulegen, wie sie sie damals erlebt hätten, ob und inwiefern sie ihnen unangenehm oder peinlich gewesen seien und wie sie sie aus der aktualen Beobachterperspektive bewerten würden. Dadurch sollte die exegetische Bedeutungsebene kommunikativer Erlebnisweisen (vor allem ritualisierter Peinlichkeit) einer JGA-Feier erfasst werden. Zum anderen sollten durch die Gespräche auch Überlegungen zu operationalen Bedeutungsmöglichkeiten des Ritualvollzugs als liminaler Phase eines Übergangsrituals empirisch beleuchtet werden. Zu diesem Zweck wurde erfragt, wie der Statuswechsel des Heiratens von den Betroffenen erlebt und bewertet wurde und welche Bedeutungen sie dieser Veränderung zuschrieben. Darüber hinaus stellte ich einige grundlegende Fragen zum öffentlichen Selbstbild der Befragten, um ihre emotionalen Bewertungen der Exponierungen anhand dieser Selbsteinschätzungen in ein entsprechendes Bezugsschema einordnen zu können. Die inhaltliche Struktur der Interviews wurde also in drei verschiedene Themenblöcke gegliedert: 1. Einbettung des JGA in den Statuswechsel des Heiratens, 2. JGA-Feier und 3. öffentliches Selbstbild der Befragten. Diese wurden dann nochmals in verschiedene Leitfragen unterteilt, die mir als Grundlage für die Inter-

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views dienten. Die konkreten Fragen in den Gesprächen wurden jedoch stets dem jeweiligen Kontext bzw. der spezifischen Situation angepasst. Es ging mir weniger darum, alle Leitfragen dezidiert abzuarbeiten, als hinreichend informative Auskünfte der Befragten zu den relevanten Themen zu erhalten. Nach Möglichkeit wurden die drei Themenbereiche chronologisch bearbeitet, doch wenn die Befragten von sich aus etwas ansprachen, das inhaltlich nicht dem aktuellen, sondern einem späteren Thema subsumierbar war, wurden diese Inhalte direkt weiter vertieft, um den natürlichen Gesprächsfluss aufrechtzuerhalten. Den Befragten wurde erklärt, dass das Interview zum Ziel habe, gemeinsam auf ihre JGA-Feier zurückzublicken und über die Hochzeit zu sprechen. Die Grundstruktur der Interviews, die mir als Basis und Leitfaden für die Gespräche diente, ist wie folgt gegliedert worden: Einbettung des JGA in den Statuswechsel des Heiratens: • Wird das Heiraten als großer Schritt im eigenen Leben wahrgenommen? Wie fühlte sich dieser Schritt an? War er auch „furchteinflößend“? • Von welchen Veränderungen für das Selbst wurde dieser Schritt begleitet? • Wie wurde der Statuswechsel rituell gestaltet (Heiratsantrag, standesamtliche/kirchliche Trauung, Hochzeitsfeier)? Wie wurden entsprechende Ereignisse ausgestaltet und erlebt? Was wurde bei der Ausgestaltung als wichtig wahrgenommen? JGA-Feier: • Welche Bedeutung und Relevanz wird der JGA-Feier in diesem Zusammenhang beigemessen? Warum war es den Befragten wichtig, einen JGA zu feiern? • Wie wurde die eigene JGA-Feier wahrgenommen, erlebt und bewertet? Was war das Besondere an der Feier? Verlief sie so, wie die Befragten sie sich vorgestellt und gewünscht hatten? • Wie wurden einzelne Situationen auf der Feier (die gezeigten Videosequenzen) erlebt? Waren sie den Befragten unangenehm? Welche Außenwirkung wird der eigenen Selbstdarstellung beigemessen? Gibt es einen Unterschied hinsichtlich der Bewertung zwischen der damaligen Erlebnisperspektive und der heutigen Beobachtungsperspektive auf sich selbst? Öffentliches Selbstbild: • Sehen die Befragten sich grundlegend eher als eine introvertierte und zurückhaltende oder als extrovertierte Person an? • Stehen sie gern im Mittelpunkt des Geschehens? Lachen sie gern über sich selbst?

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Haben sie Freude daran, in der Öffentlichkeit in andere (komische) Rollen zu schlüpfen (z.B. Karneval, „Public Viewings“), oder fühlen sie sich dabei eher unwohl?

8.3.2 Kurzbeschreibungen der Interviewsituationen und Videosequenzen Simone Das Gespräch mit Simone fand ca. sieben Monate nach ihrer JGA-Feier in ihrem Haus in Brilon statt. Zu diesem Zeitpunkt war Simone im siebten Monat schwanger. Wir saßen am Esstisch im Wohnzimmer, tranken Tee und redeten ungefähr eine Stunde miteinander. Während des Gesprächs schauten wir uns insgesamt sechs verschiedene Videosequenzen ihrer Feier an. Simone hatte sich das Videomaterial, das ich wie versprochen im Nachgang zu den Feiern auf CD per Post an die jeweiligen Kontaktpersonen verschickt hatte, bereits selbst angesehen. Video 1a (aufgenommen um 15:34 Uhr, Dauer 1:11 Minuten): Simone ist mit ihren Freundinnen auf dem Weg in die Düsseldorfer Altstadt. Sie machen Halt, um eine „Schnapspause“ einzulegen, bei der die Gruppe in einem Kreis auf dem Bürgersteig steht, gemeinsam einen Frauen-Trinkspruch spricht und trinkt. Video 2a (aufgenommen um 15:42 Uhr; Dauer 0:34 Minuten): Die Gruppe betritt eine belebte Einkaufspassage der Düsseldorfer Altstadt. Simone dreht sich im Moment des Betretens plötzlich zur Kamera und sagt: „Ich bin eigentlich gar nicht so für Spielchen, ne? Mir ist das immer voll peinlich, aber…“ Video 3a (aufgenommen um 15:55 Uhr; Dauer 4:56 Minuten): Die Gruppe trifft in der Altstadt auf eine erste männliche JGA-Gruppe, und es kommt zum ersten kommunikativen Kontakt mit anderen Personen seit Verlassen des Hotels. Die männliche Gruppe, die bereits sehr angetrunken ist, begrölt und beklatscht die Frauengruppe. Simone und der männliche Junggeselle erklären sich gegenseitig ihre Aufgaben und tauschen ihre Spiele: Der Junggeselle darf würfeln, gewinnt jedoch keinen Kuss, sondern nur ein Piratentuch. Simone darf ihm dafür kostenfrei eine Stelle am Bein mit einem Kaltwachsstreifen enthaaren. Die anderen Männer und Frauen stehen derweil anfeuernd und amüsiert um sie herum. Video 4a (aufgenommen um 16:00 Uhr; Dauer: 3:44 Minuten): Simone spricht eine englische Gruppe jüngerer Männer an, die auf Hockern vor einer Bar sitzen, und animiert sie zu ihrem Würfelspiel. Die zwei ersten Männer ge-

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winnen Piratentücher, bekommen aber trotzdem Wangenküsse von Simone, ein dritter Mann gewinnt einen Kuss, den Simone ihm auf seinen Mund gibt, danach lachend errötet und in die Kamera sagt: „Den Film darfst du keinem zeigen.“ Video 5a (aufgenommen um 16:22 Uhr; Dauer: 1:11 Minuten): Simone spielt ihr Würfelspiel mit einer Männergruppe vor einer Kneipe in der Altstadt, aus der laute Musik ertönt. Zuerst gewinnt ein jüngerer Mann einen Schnaps, den er mit Simone trinkt, ein zweiter gewinnt einen Kuss, den er ihr unter johlenden Anfeuerungen der anderen Männer auf die Wange gibt. Danach gewinnen zwei andere Männer ebenfalls einen Kuss: Sie umarmen Simone parallel von beiden Seiten und küssen sie gleichzeitig auf die Wangen. Simone lacht während der Küsse, nestelt zugleich jedoch ein wenig verlegen an ihrem Kopftuch, unterdrückt ein Lächeln und zieht schnell an ihrer Zigarette. Video 6a (aufgenommen um 18:26 Uhr; Dauer: 1:11 Minuten): Die Gruppe läuft mit Cocktails in Plastikbechern in der Hand an der Rheinpromenade entlang. Simone spricht einen Junggesellen einer männlichen JGAGruppe an. Dieser lässt sich jedoch nicht zum Spielen animieren, vielmehr kommt er Simone immer näher und fasst ihr an den Po. Die anderen Frauen stehen derweil etwas abseits und warten. Nach mehreren gescheiterten Überredungsversuchen gibt Simone auf und geht mit der Gruppe weiter. Marina Das Gespräch mit Marina fand ungefähr sechs Monate nach deren JGA-Feier in ihrer Wohnung in Eschweiler statt und dauerte ca. eineinhalb Stunden. Wir saßen im Wohnzimmer auf dem Sofa, aßen Kekse und tranken Saft. Während des Interviews kam Marinas Ehemann von der Arbeit nach Hause, und Marina schloss die Wohnzimmertür, damit wir ungestört blieben. Insgesamt schauten wir uns sechs Videosequenzen ihrer Feier an. Video 1b (aufgenommen um 14:42 Uhr; Dauer: 3:14 Minuten): Die Frauengruppe fährt mit drei hupenden Autos und einem tönenden Megafon vor Marinas Haus vor und fordert sie auf, herauszukommen. Marina erscheint an der Tür und fragt, ob der Junggesellinnenabschied wirklich schon jetzt beginne. Ihre Schwester steigt aus und übergibt ihr vor der Haustür ihre Kleidung, die Marina lobt und direkt überzieht. Als auch die anderen Frauen kurz aussteigen, begrüßt Marina sie und ist sichtlich erfreut, so viele ihrer Freundinnen zu sehen. Sie wird von ihrer Schwester darüber informiert, dass ich die Feier mit der Kamera begleiten werde.

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Video 2b (aufgenommen um 16:58 Uhr; Dauer 5:25 Minuten): Ein als Polizist verkleideter Stripper betritt den Partykeller und weist Marina an, sich auf einen Stuhl in die Mitte der Gruppe zu setzen. Dann beginnt er zu Musik tanzend mit seiner Vorstellung. Marina muss ihn an verschiedenen intimen Stellen berühren, wird auch von ihm angefasst, muss mit ihm tanzen und ihm beim Ausziehen assistieren, bis er am Ende völlig nackt – nur ein Tuch vor sein Genital haltend – seine Show beendet. Die Frauen kreischen, lachen und fotografieren während des Zuschauens. Marina lacht ebenfalls, scheint jedoch zugleich verlegen zu sein. Video 3b (aufgenommen um 17:00 Uhr; Dauer: 0:56 Minuten): Nachdem der Stripper sich verabschiedet hat, wollen die Frauen aufgeregt von Marina wissen, wo genau sie den Stripper überall angefasst habe, und amüsieren sich gemeinsam mit ihr darüber. Marina berichtet leicht entrüstet, dass der Stripper ihr in die Brustwarze gebissen habe, worauf lautes Gelächter der Frauen folgt. Eine der Frauen gibt zu bedenken, dass Marinas Freund das Video niemals sehen dürfe, und erkundigt sich gleich danach, was dieser mit der auf seinem Junggesellenabschied anwesenden Stripperin alles gemacht habe. Marina erzählt, er habe Sahne vom Körper der Stripperin ablecken müssen. Video 4b (aufgenommen um 19:59 Uhr; Dauer: 2:37 Minuten): Kurz nach Ankunft der Gruppe in Düsseldorf spricht Marina die ersten Personen an der Rheinpromenade an und versucht, ihnen etwas aus ihrem Bauchladen zu verkaufen. Nach einem gescheiterten Versuch, zwei junge Männer zum Kauf zu animieren, spricht sie zwei weitere Männer an, von denen schließlich einer ein wenig widerwillig etwas kauft, der andere jedoch weiterhin ablehnt. Marina versucht den ersten zu überreden, für sie noch einen weiteren Wodka mitzukaufen, doch er willigt nicht ein. Während dieses Gesprächs stößt eine fremde Junggesellin, die ebenfalls etwas verkaufen muss, mit ihrer Gruppe zu Marina und den Männern hinzu und beschwert sich bei Marina: „Die sind hier alle ganz schön spießig, ne? Kein Schwein gibt was aus für uns. Kein Schwein.“ Dann fordert sie Marina zu einem gemeinsamen Foto auf. Marina sagt: „Ja, das machen wir, das ist ganz schön deprimierend hier.“ und die beiden Junggesellinnen lassen sich zusammen fotografieren. Video 5b (aufgenommen um 20:18 Uhr; Dauer 3:43 Minuten): Die Frauengruppe läuft über einen Kunsthandwerksmarkt an der Rheinpromenade, auf der vorrangig Marktbesucher und Passanten unterwegs sind. Marina spricht zwei ältere Herren an und wird dabei tatkräftig von ihrer bereits recht angetrunkenen Schwester unterstützt. Der angesprochene Mann möchte allerdings nichts kaufen und lässt sich auch durch Überredungsversuche nicht dazu bewegen. Marina

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geht etwas entmutigt weg und sagt: „Die kannste vergessen.“ Kurze Zeit später weist ihre Schwester sie an, auf zwei weitere, sportlich-chic gekleidete Männer zuzugehen, die abseits des Marktgeschehens stehen. Marina sagt zuerst „Ich will nicht. Die kaufen doch auch nichts. Guck doch mal, wie die schon aussehen.“, geht dann jedoch widerwillig auf die beiden Männer zu und spricht sie an. Diese lassen sich schnell dazu überreden, Wodka zu kaufen. Während des Gespräches mit ihnen meint eine der Frauen, dass sie das Verkaufen schrecklich fände, weil es so peinlich sei. Video 6b (aufgenommen um 20:31 Uhr; Dauer 1:26 Minuten): Die Gruppe geht durch eine lebhafte Gasse der Altstadt, in welcher auch andere JGA-Gruppen unterwegs sind. Marina spricht forsch zwei ältere Herren an und bietet ihnen Kondome an. Die beiden Männer finden das lustig, scherzen mit der Braut, dass sie aus dem Alter doch heraus seien, und kaufen vier Schnäpse, die sie gemeinsam mit Marina und ihrer Schwester trinken. Thomas (und Eva) Das Gespräch mit Thomas fand ca. sechs Monate nach seiner JGA-Feier in seiner Wohnung in Köln statt. Da seine Ehefrau Eva unbedingt beim Gespräch dabei sein wollte, stimmte ich dem zu, da es mir fraglich erschien, ob ich ansonsten mit ihrem Mann hätte sprechen können, der sich angesichts des Wunsches seiner Frau ebenfalls klar für ein Dreier-Gespräch aussprach. Ich entschied mich dafür, den Nachteil ihrer Anwesenheit zu meinem Vorteil zu nutzen und auch sie zur Erlebnisweise ihrer JGA-Feier zu befragen, wenngleich diese nicht von mir begleitet werden konnte. Während des Gesprächs war neben den beiden auch ihr gemeinsamer eineinhalbjähriger Sohn anwesend. Das Interview fand im Wohnzimmer statt, wo ich neben Thomas auf der Couch saß und seine Frau mit dem Sohn auf dem Teppich. Zwischendurch verließen Thomas oder Eva mehrfach das Zimmer mit dem Sohn, um ihn zu wickeln oder zu beruhigen, wenn er zu schreien begann, während ich mich mit dem jeweils anderen weiter unterhielt. Während des Gesprächs sahen wir uns vier verschiedene Videosequenzen an. Video 1c (aufgenommen um 17:26 Uhr; Dauer 1:40 Minuten): Die Gruppe geht über den Kölner Ring und trifft dort auf eine erste andere männliche JGA-Gruppe. Die beiden Gruppen scherzen miteinander und tauschen Artikel aus ihrem Bauchladen. Video 2c (aufgenommen um 18:26 Uhr; Dauer 2:55 Minuten): Die Gruppe geht an der Parkwiese des Aachener Weihers entlang, auf der zahlreiche Gruppen, vor allem junge Personen, picknicken oder grillen. Thomas wendet sich an zwei junge Frauen, die sich auf einer Decke sonnen, und spricht sie an, ob

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er ihre Pfandflaschen haben dürfe und sie ihm Wasser abkaufen wollten. Da er bereits sehr angetrunken ist, redet er teilweise unverständlich und in unzusammenhängenden Sätzen. Die beiden Frauen scheinen irritiert und amüsiert zugleich darüber zu sein. Der Rest der Gruppe hält sich im Hintergrund und beobachtet die Szene. Video 3c (aufgenommen um 18:31 Uhr; Dauer: 2:20 Minuten): Thomas steuert am Aachener Weiher auf verschiedene Menschengruppen zu und fragt sie, ob sie ihm ihr Leergut schenken würden. Er erklärt ihnen, er müsse „gammeln“, weil er Junggesellenabschied habe. Video 4c (aufgenommen um 19:25 Uhr; Dauer: 4:52 Minuten): Thomas betritt mit der Gruppe einen Kiosk in der Nähe des Aachener Weihers und möchte dort sein gesammeltes Leergut eintauschen. Dabei fallen ihm immer wieder Flaschen auf den Boden und laufen teilweise aus. Er diskutiert in bereits sehr angetrunkenem Zustand mit dem Kioskverkäufer, der sich weigert, alle Pfandflaschen einzutauschen, da er einige von ihnen nicht im Sortiment führt. Thomas versucht ihn trotzdem zu überzeugen, die Flaschen zu nehmen, am Ende will er sie ihm sogar in übertrieben gönnerischer Manier schenken, doch der Verkäufer ist sichtlich genervt von der Diskussion und lehnt ab. Dann versucht Thomas, seine übrigen Flaschen einem anderen Kioskmitarbeiter aufzuschwatzen, der sie jedoch ebenso wenig haben möchte. Schließlich legt Thomas die Tüte auf einen Getränkekasten und verabschiedet sich. Der Rest der Gruppe steht derweil beobachtend daneben. Michaela Das Gespräch mit Michaela fand ca. zwei Monate nach ihrer JGA-Feier in ihrer Wohnung in Aachen statt. Wir saßen gemeinsam mit ihrer Katze auf dem Sofa im Wohnzimmer und tranken Tee. Zum Zeitpunkt des Gesprächs war Michaela im achten Monat schwanger. Nachdem wir uns schon eine Weile unterhalten hatten, kam ihre 11-jährige Tochter aus der Schule heim und wohnte der Unterhaltung für einige Zeit bei. Während des Gespräches schauten wir uns sechs unterschiedliche Videosequenzen an. Video 1d (aufgenommen um 14:31 Uhr; Dauer: 1:01 Minuten): Die Gruppe betritt die Wohnung von Michaela, um sie abzuholen, und wird von ihr ins Wohnzimmer geführt, wo Michaela Sekt und Süßigkeiten bereitgestellt hat. Michaela scherzt, dass sie ihre Freundinnen mit Sekt besänftigen wolle und weist ihren Freund, der ebenfalls kurz das Zimmer betritt, auf die Anstecknadeln der Frauen hin.

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Video 2d (aufgenommen um 14:36 Uhr; Dauer: 0:43 Minuten): Michaela sitzt auf einem Stuhl im Wohnzimmer und bekommt von ihrer Freundin eine rosa Netzstrumpfhose über ihre normale Hose gezogen. Als sie ein wenig irritiert fragt, ob sie die Strumpfhose wirklich über der Hose tragen müsse, antwortet die Freundin „Natürlich. Muss ja scheiße aussehen.“, worauf die Gruppe lacht. Video 3d (aufgenommen um 18:18 Uhr; Dauer 4:39 Minuten): Mit verbaler Unterstützung ihrer Freundinnen spricht Michaela verschiedene Passanten in der Aachener Innenstadt an, um ihnen Schnaps zu verkaufen. Während einige ihr direkt etwas abkaufen, reagieren andere eher reserviert oder genervt auf die Ansprache. Video 4d (aufgenommen um 18:31 Uhr; Dauer 3:12 Minuten): Die Gruppe macht Rast in einem Biergarten der Innenstadt. Dort wird Michaela ein weiteres Kleidungsstück – ein weißer Maleranzug mit aufgemalten roten Herzen – überreicht, das sie anziehen soll. Sie scheint darüber wenig erfreut zu sein, murmelt ein wenig genervt etwas Unverständliches, nimmt den Anzug jedoch nach ermunternden Aufforderungen der Freundinnen entgegen und zieht ihn über ihre Kleidung und Winterjacke. Video 5d (aufgenommen um 19:04 Uhr; Dauer 0:52 Minuten): Im neuen „Outfit“ spricht Michaela mit Unterstützung ihrer Freundinnen Personen auf der Straße an und versucht, ihnen Schnäpse zu verkaufen. Video 6d (aufgenommen um 19:39 Uhr; Dauer: 0:49 Minuten): Die Gruppe befindet sich auf einem belebten Stadtfest in der Aachener Altstadt. Michaela versucht dort einem älteren Mann, der mit seinen Freunden Bier trinkt, Schnaps zu verkaufen. Diesem sagt ihre Schnapsauswahl jedoch nicht zu. Er bietet an, ohne Schnaps etwas zu spenden, und gibt der Gruppe ein Zweieurostück. Danach deutet er allerdings mit fragendem Blick in Richtung Michaela auf seine Wange, worauf diese ihm schnell einen Wangenkuss gibt.

Kulturen der Gesellschaft Thorsten Benkel (Hg.) Die Zukunft des Todes Heterotopien des Lebensendes März 2016, ca. 350 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2992-7

Andreas Braun Campus Shootings Amok an Universitäten als nicht-intendierte Nebenfolge der Hochschulreform August 2015, ca. 410 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3130-2

Gabriel Duttler, Boris Haigis (Hg.) Ultras Eine Fankultur im Spannungsfeld unterschiedlicher Subkulturen Januar 2016, ca. 350 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3060-2

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Kulturen der Gesellschaft Joachim Fischer, Dierk Spreen Soziologie der Weltraumfahrt 2014, 208 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2775-6

Franz Höllinger, Thomas Tripold Ganzheitliches Leben Das holistische Milieu zwischen neuer Spiritualität und postmoderner Wellness-Kultur 2012, 302 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1895-2

Jens Kersten (Hg.) Inwastement – Abfall in Umwelt und Gesellschaft Dezember 2015, ca. 270 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3050-3

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Kulturen der Gesellschaft Stefan Bauernschmidt Fahrzeuge auf Zelluloid Fernsehwerbung für Automobile in der Bundesrepublik des Wirtschaftswunders. Ein kultursoziologischer Versuch 2011, 270 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1706-1

Jonas Grauel Gesundheit, Genuss und gutes Gewissen Über Lebensmittelkonsum und Alltagsmoral

Max Jakob Orlich Situationistische Internationale Eintritt, Austritt, Ausschluss. Zur Dialektik interpersoneller Beziehungen und Theorieproduktion einer ästhetisch-politischen Avantgarde (1957-1972) 2011, 630 Seiten, kart., 42,80 €, ISBN 978-3-8376-1748-1

Cornelia Schadler Vater, Mutter, Kind werden Eine posthumanistische Ethnographie der Schwangerschaft

2013, 330 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2452-6

2013, 342 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2275-1

Michael Kauppert, Irene Leser (Hg.) Hillarys Hand Zur politischen Ikonographie der Gegenwart

Robert Schäfer Tourismus und Authentizität Zur gesellschaftlichen Organisation von Außeralltäglichkeit

2014, 278 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2749-7

Januar 2015, 290 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2744-2

Thomas Lenz Konsum und Modernisierung Die Debatte um das Warenhaus als Diskurs um die Moderne 2011, 224 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1382-7

Takemitsu Morikawa Liebessemantik und Sozialstruktur Transformationen in Japan von 1600 bis 1920 Januar 2015, 320 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2832-6

Takemitsu Morikawa (Hg.) Die Welt der Liebe Liebessemantiken zwischen Globalität und Lokalität

Sylka Scholz, Karl Lenz, Sabine Dreßler (Hg.) In Liebe verbunden Zweierbeziehungen und Elternschaft in populären Ratgebern von den 1950ern bis heute 2013, 378 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2319-2

Thomas Tripold Die Kontinuität romantischer Ideen Zu den Überzeugungen gegenkultureller Bewegungen. Eine Ideengeschichte 2012, 362 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1996-6

2014, 386 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2052-8

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