Heilige und geheiligte Dinge: Formen und Funktionen 9783515115490

Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes erweitern mit ihren Beiträgen den aktuellen Forschungsdiskurs zur Einordnung de

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
Klaus Herbers:
Heilige und geheiligte Dinge: Zur Einführung
Peter J. Bräunlein:
Was ist uns heilig? Kulturwissenschaftliche Anmerkungen
zu „sakralen“ Dingen
Roger Thiel:
Wie wird ein Ding heilig?
Stefan Heid:
Der frühchristliche Altar als Sakralobjekt
Miriam Czock:
Die Heiligkeit von vasa sacra und Paramenten. Zum Zusammenhang
von Liturgie, Liturgieexegese und normativen Quellen in karolingischer
Zeit – oder warum man eine Hostienschale nicht verpfänden darf
Michael Oberweis:
„Est sua vox bam bam, potens repellere Satan“. Die Glockenweihe
im Spiegel mittelalterlicher Inschriften und konfessionalistischer Polemik
Hedwig Röckelein:
Verhüllen und Verbergen – Strategien der Sakralisierung und
der Mystifizierung von und mit Reliquien
Karin Steiner:
Der verschwundene Körper Vidyātīrthas und Gott Śiva.
Südindische Befunde zur Wechselwirkung zwischen heiligem Ding
und Person
Michele C. Ferrari:
Körper und Ding. Wesen und Wahrnehmung von mittelalterlichen
Reliquien
Heidrun Stein-Kecks:
Die Stigmatisierung der heiligen Katharina von Siena und die Verehrung
der Croce dipinta aus Pisa
Rüdiger Fuchs:
Warum tragen Heiltümer Inschriften? – oder: warum Heiltümer
Inschriften tragen
Ursula Bsees:
Heiligkeit im Narrativ einer Schriftrolle aus dem östlichen Nildelta
Berenike Metzler:
Der Buchstabe als heiliges Ding. Ein-Blicke in die Buchstabentheologie
islamischer Kalligraphen
Carola Jäggi:
Heiliges zum Mitnehmen. Überlegungen zur Mobilität heiliger Dinge
in Spätantike und Frühmittelalter
Hartmut Kühne:
Mittelalterliche Pilgerzeichen: Heiligung von Zeichen und Heiligung
durch Zeichen
Andreas Nehring: Nachwort
Farbabbildungen
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Heilige und geheiligte Dinge: Formen und Funktionen
 9783515115490

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Andrea Beck / Klaus Herbers / Andreas Nehring (Hg.)

Heilige und geheiligte Dinge Formen und Funktionen

Geschichte Franz Steiner Verlag

Beiträge zur Hagiographie 20

Andrea Beck / Klaus Herbers / Andreas Nehring (Hg.) Heilige und geheiligte Dinge

Beiträge zur HagiograpHie herausgegeben von Dieter R. Bauer, Klaus Herbers, Volker Honemann und Hedwig Röckelein Band 20

Andrea Beck / Klaus Herbers / Andreas Nehring (Hg.)

Heilige und geheiligte Dinge Formen und Funktionen

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der DFG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017 Satz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11549-0 (Print) ISBN 978-3-515-11551-3 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS Klaus Herbers Heilige und geheiligte Dinge: Zur Einführung ................................................

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Peter J. Bräunlein Was ist uns heilig? Kulturwissenschaftliche Anmerkungen zu „sakralen“ Dingen ......................................................................................

9

Roger Thiel Wie wird ein Ding heilig? ...............................................................................

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Stefan Heid Der frühchristliche Altar als Sakralobjekt .......................................................

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Miriam Czock Die Heiligkeit von vasa sacra und Paramenten. Zum Zusammenhang von Liturgie, Liturgieexegese und normativen Quellen in karolingischer Zeit – oder warum man eine Hostienschale nicht verpfänden darf .................

65

Michael Oberweis „Est sua vox bam bam, potens repellere Satan“. Die Glockenweihe im Spiegel mittelalterlicher Inschriften und konfessionalistischer Polemik ...

83

Hedwig Röckelein Verhüllen und Verbergen – Strategien der Sakralisierung und der Mystifizierung von und mit Reliquien ......................................................

93

Karin Steiner Der verschwundene Körper Vidyātīrthas und Gott Śiva. Südindische Befunde zur Wechselwirkung zwischen heiligem Ding und Person ....................................................................................................... 111 Michele C. Ferrari Körper und Ding. Wesen und Wahrnehmung von mittelalterlichen Reliquien ......................................................................................................... 129 Heidrun Stein-Kecks Die Stigmatisierung der heiligen Katharina von Siena und die Verehrung der Croce dipinta aus Pisa ............................................................................... 143

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Inhaltsverzeichnis

Rüdiger Fuchs Warum tragen Heiltümer Inschriften? – oder: warum Heiltümer Inschriften tragen. ........................................................................................... 169 Ursula Bsees Heiligkeit im Narrativ einer Schriftrolle aus dem östlichen Nildelta .............. 191 Berenike Metzler Der Buchstabe als heiliges Ding. Ein-Blicke in die Buchstabentheologie islamischer Kalligraphen ................................................................................. 201 Carola Jäggi Heiliges zum Mitnehmen. Überlegungen zur Mobilität heiliger Dinge in Spätantike und Frühmittelalter .................................................................... 213 Hartmut Kühne Mittelalterliche Pilgerzeichen: Heiligung von Zeichen und Heiligung durch Zeichen .................................................................................................. 235 Andreas Nehring Nachwort ......................................................................................................... 251 Farbabbildungen .............................................................................................. 261

HEILIGE UND GEHEILIGTE DINGE: ZUR EINFÜHRUNG Der vorliegende Band versammelt die Beiträge, die auf der Tagung „Heilige und geheiligte Dinge. Formen und Funktionen“ im April 2015 bei einer Tagung in Weingarten vorgetragen und diskutiert wurden. Eingeladen hatte die Forschergruppe „Sakralität und Sakralisierung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Interkulturelle Perspektiven in Europa und Asien“ zusammen mit dem „Arbeitskreis für hagiographische Fragen“ der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart.1 Das Bild des Programmheftes ist aus einer Bibel des 12. Jahrhunderts und zeigt, wie Aaron und seine Söhne in und vor der von Moses auf Gottes Geheiß erbauten Wohnstätte heilige Dinge, wie beispielsweise die Bundeslade, verehren (Ex 40; Abb. 1 auf S. 261). Es ist also ein heilig-mäßiger Raum, sakrale Ausstattungsgegenstände und weitere Gegenstände zu sehen, mit denen die dargestellten Personen in Kontakt stehen und offensichtlich als heilig ansehen. Die Grundfrage der Tagung aber war: Was sind heilige und geheiligte Dinge, wie werden sie heilig, welche Gruppen sprechen ihnen Heiligkeit zu? Wie ist der Status des Heiligen in Bezug auf Dinge zu fassen? Damit wurde bei der hier dokumentierten Tagung der Blick, der zwei Jahre zuvor auf Sakralität und Devianz2 und damit stärker auf Fragen von Personen und Heiligkeit, bzw. Heiligkeitskonzepte, gerichtet worden war, stärker von der Subjekt- auf die Objektebene verlagert. Personen und Objekte sind aber offensichtlich kaum zu trennen, denn auch die auf dem Bild des Programms agierenden Personen stehen in Kontakt mit heiligen Dingen. Geht es vielleicht sogar darum, das Wechselverhältnis von Dingen und Personen genauer zu bestimmen? Andreas Nehring reflektiert die verschiedenen Zugangswege und -weisen in seinen abschließenden Bemerkungen, so dass dies hier in den einführenden Worten nicht geschehen muss3. Am Ende der Tagung war jedenfalls deutlich, wie vielfältig und kompliziert die heiligen und geheiligten Dinge zu fassen sind. Insofern bieten die Beiträge des Bandes nicht nur ein inhaltlich weites und breites Spektrum, sondern auch eine Vielfalt von methodischen Anregungen, die über die einfachen früheren Kategorien von heilig und profan, wie sie beispielsweise von Émile Durkheim vertreten wurden, weit hinausreichen.

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Tagungsbericht von Claudia Alraum, Heilige und geheiligte Dinge. Formen und Funktionen, 21.04.2015–25.04.2015 Weingarten, in: H-Soz-Kult, 11.09.2015, , aufgerufen am 31.07.2016. Sakralität und Devianz. Konstruktionen – Normen – Praxis (Beiträge zur Hagiographie 16), hg. v. Klaus Herbers/Larissa Düchting, Stuttgart 2015. Vgl. seinen Beitrag am Ende des Bandes.

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Heilige und geheiligte Dinge: Zur Einführung

Der Sammelband schließt damit an gesteigerte Anstrengungen der Forschergruppe an, mit Beginn der zweiten Förderphase seit 2014 auch stärker heilige Dinge in den Blick zu nehmen, um auch die theoretische Arbeit zu Sakralität und Sakralisierung weiter voranzutreiben. Nur einfache Zuschreibungsprozesse machten Dinge mit Sicherheit nicht heilig, hier geht es um ein ganzes Umfeld, das nicht nur natürlich, sondern auch kulturell bestimmt war, wie Andreas Nehring in seinen Schlussbemerkungen ausführt. Hilfreich war dabei ein insgesamt zeitlich und räumlich breiter Zugriff. Neben zwei eher theoretisch ausgerichteten Beiträgen reicht das Spektrum von der Spätantike bis in die Neuzeit, von Rom und Mitteleuropa bis in den vorderen Orient und nach Indien. Zahlreiche Aufsätze beschäftigen sich mit heiligen Gegenständen im Rahmen von Kult und Liturgie, dies betrifft nicht nur die Reliquien. Aber auch die zugeschriebene Heiligkeit durch Inschriften oder durch Schriften spielt eine wesentliche Rolle. Die Verbindung von Person und Ding konnte beispielsweise im mitteleuropäisch-christlichen Bereich durch Weihen, durch Reliquien-Erhebungen, Glockentaufen oder aber auch durch die Verehrung selbst hergestellt werden. Bei Reliquien stellt sich vor allen Dingen die Frage des Verhältnisses von Person und Ding, haben wir es doch vielfach mit den Gebeinen von Personen zu tun. Insofern dürfte der Blick von Karin Steiner auf den südindischen Bereich besonders interessant sein, um festzustellen, wie in diesem kulturellen Umfeld Ding und Person in der Heiligkeit in Bezug gesetzt werden. Für die zahlreichen neuen Perspektiven, Ergebnisse und Fragen ist vielfältig Dank abzustatten. Fast alle Autorinnen und Autoren haben ihre Beiträge relativ zügig nach der Tagung zum Druck überarbeitet. Dabei konnten sie die unzähligen Ergebnisse der intensiven Diskussionen einarbeiten. Insgesamt wird so ein sehr interdisziplinärer Zugriff deutlich, denn die Fachgebiete der jeweils betroffenen Autorinnen und Autoren reichen von der Religionswissenschaft und Indologie über die Kunstgeschichte, Christliche Archäologie, Liturgiewissenschaft, Orientalistik und Islamwissenschaft bis hin in die allgemeine Geschichte und die Historischen Hilfswissenschaften sowie die verschiedenen Philologien. Die reibungslose Organisation der Tagung haben Frau Dr. Petra Kurz und Frau Kerstin Hopfensitz in Stuttgart/Weingarten sichergestellt, in Erlangen haben Frau Andrea Beck und Frau Susanne Koller die Tagung vorbereitet und dann auch die Druckmanuskripte, mit der Unterstützung von Herrn Benedict Rebohl, in Form gebracht. Schließlich konnte mit dem Steiner Verlag und Herrn Dr. Thomas Schaber sowie Frau Katharina Stüdemann der bewährte Kontakt und die Zusammenarbeit fortgeführt werden. Ihnen allen gilt unser herzlicher Dank. Wir hoffen, dass die Ergebnisse dieses Bandes einen weiteren Baustein bieten, um das von der DFG geförderte Forschergruppenprojekt „Sakralität und Sakralisierung“ zu konturieren. Erlangen, Juni 2016

Klaus Herbers

WAS IST UNS HEILIG? KULTURWISSENSCHAFTLICHE ANMERKUNGEN ZU „SAKRALEN“ DINGEN Peter J. Bräunlein Die Themenstellung der Tagung spricht, in einem Atemzug, von „heiligen“ und „geheiligten“ Dingen, von „Sakralität“ und „Sakralisierung“. Das eine verweist auf einen „Ist-Zustand“, das andere auf einen Herstellungsvorgang. Zum einen wird Heiliges als etwas Gegebenes vorausgesetzt, zum anderen als etwas Konstruiertes benannt. Ohne Zweifel kennen viele Religionen „heilige“ Dinge, die räumlich abgesondert, rituell und sprachlich markiert sind. Religionen sind in ihrem Identitätskern vielfach auf solche Dinge angewiesen. Die Thora im Judentum oder der Koran im Islam sind solche Dinge. Gemeint ist an dieser Stelle nicht das immaterielle „Wort Gottes“, sondern dreidimensionale, begreifbare Objekte, deren Charakteristikum es ist, wie Durkheim feststellt, von Verboten geschützt und isoliert zu werden, und die überdies Organisationszentren bilden, um die „Überzeugungen und Riten […] kreisen“1. Die Gültigkeit des Aussagesatzes „dieses Ding ist heilig“ beruht somit auf mehrerlei Voraussetzungen. Um überhaupt ein Ding als heilig zu erkennen und es als solches anzuerkennen, bedarf es religiöser Autoritäten, Sprachregelungen, rituell-performativer Handlungen und einer Interpretationsgemeinschaft. Außerhalb solcher Interpretationsgemeinschaften ist die Zuschreibung „heilig“ relativ und willkürlich. Was für die einen als heiliges Ding gilt, ist für andere belanglos, kurios, mitunter abstoßend oder gar provozierend. Gerade weil heilige Dinge als Kristallisationspunkte innerreligiöser Selbstvergewisserung dienen, eignen sie sich gleichzeitig als Zielscheibe von Kritik, Polemik, Hass. Heilige Dinge werden dann stellvertretend für die abgelehnte Religion lächerlich gemacht, beschädigt oder vernichtet. Die wechselnden Wellen des Bildersturms, die protestantische Polemik gegen den katholischen Reliquienkult, das Urinieren von SA- und SS-Leuten auf Thorarollen während der Novemberpogrome 1938 oder auch die Sprengung der Buddha-Statuen in Bamiyan durch Taliban-Milizen im Jahr 2001 illustrieren diesbezüglich wiederkehrende Muster. Wie ist nun wissenschaftlich mit heiligen Dingen zu verfahren? Solange die Zuschreibung „heilig“ in mitgedachte oder sichtbare Anführungszeichen gesetzt ist, stellen sich keine grundsätzlichen Probleme. Durkheim legte im Umgang mit dieser Sachlage Standards fest. Zentrales Merkmal heiliger Objekte ist demnach ihre Be1

Émile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt am Main 1994, 67.

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Peter J. Bräunlein

liebigkeit2. Kein Objekt ist aus sich heraus heilig, jedes Objekt kann heilig gemacht werden3. Der Religionsvergleich lässt erkennen, dass sakrale Objekte arbiträre Zeichen darstellen4. Das Heilige ist eine leere Kategorie, die kultur- und religionsspezifisch gefüllt wird. Je nach Quellenlage können somit sprachliche und performative Prozesse der Heiligung dargestellt werden, und ebenso kann gezeigt werden, was und wen „heilige“ Dinge repräsentieren, welchen Zwecken und Interessen sie dienen und in welcher Form sich „heilige“ Dinge materialisieren. Demnach lassen sich problemlos geheiligte Dinge und der Vorgang der Sakralisierung in den wissenschaftlichen Blick nehmen. Die Lage verkompliziert sich, wenn „das Heilige“ nicht als leere Kategorie, sondern als ontologische Größe ins Spiel kommt. In der Themenwahl der Tagung werden geheiligte und heilige Dinge nebeneinander gestellt. Welche Differenz soll damit markiert werden? Kann diese Differenz kulturwissenschaftlich bearbeitet werden? Kann man über „heilige“ Dinge wissenschaftlich sprechen ohne über das Heilige zu sprechen? Um auf diese Fragen einzugehen, werde ich zunächst Beispiele vorstellen, in denen der Konstruktcharakter „heiliger“ Dinge illustriert wird. Gleichzeitig sollen bestimmte Überzeugungen vorgestellt werden, die, wie von Durkheim erwähnt, um diese Dinge kreisen. Dabei geht es nicht allein um die Überzeugung von Gläubigen, sondern vor allem auch um wissenschaftliche Gewissheiten. Im zweiten Schritt werde ich auf wissenschaftliche Konjunkturen des Heiligen eingehen, um abschließend Vorschläge für den analytischen Umgang mit „heiligen“ Dingen und dem „Heiligen“ zu unterbreiten. ANDACHTSSTÄTTE MUSEUM, HEILIGTÜMER DER NATION UND OZEANISCHE GEFÜHLE Die folgenden Beispiele stammen aus dem Bereich Museum. Der museale Raum eignet sich, wie ich meine, besonders gut, um geheiligte und heilige Dinge in den Blick zu nehmen. 2

3 4

Durkheim stellt fest: „Der Kreis der heiligen Objekte kann also nicht ein für alle Male bestimmt werden; sein Umfang ist je nach der Religion unendlich verschieden.“ Ebd., 62. An anderer Stelle heißt es: „Die religiöse Kraft ist nichts als das Gefühl, das die Kollektivität ihren Mitgliedern einflößt, jedoch außerhalb des Bewußtseins der Einzelnen, das es empfindet und objektiviert. Um sich zu objektivieren, heftet es sich auf ein Objekt, das damit heilig wird; aber jedes Objekt kann diese Rolle spielen.“ Ebd., 313. Elisa Heinämäki, Durkheim, Bataille and Girard on the Ambiguity of the Sacred. Reconsidering Saints and Demoniacs, Journal of the American Academy of Religion 83,2 (2015), 513– 536, hier 517 f. Sakrale Objekte teilen mit sprachlichen Zeichen die Eigenschaft der Beliebigkeit, schreibt Kohl: „Grundsätzlich kann jedes materielle Objekt als Repräsentant des Heiligen angesehen werden und als solcher Verehrung erfahren. Sein primärer Verwendungszweck stellt keine Einschränkung für seinen Gebrauch als Träger von sakralen Bedeutungen dar.“ Karl-Heinz Kohl, Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte, München 2003, 157.

Was ist uns heilig? Kulturwissenschaftliche Anmerkungen zu „sakralen“ Dingen

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Eine Karikatur von Charles Addams erschien 1941 in der Publikumszeitschrift The New Yorker. Ort des Geschehens ist der Südseeraum eines Völkerkundemuseums. Gezeigt wird ein Museumsbesucher in Anzug und Krawatte, wiewohl Haartracht und Stirnband ihn als Südseebewohner, vielleicht als Maori, ausweisen. Er steht vor einer Statue, die möglicherweise aus Neuseeland stammt, und führt eine Ziege an einer Leine mit sich. Zwei Männer des Aufsichtspersonals sind mit einem ernsten Problem konfrontiert. Der Besucher hat nämlich höflich die Frage gestellt, ob er vor der Statue die mitgebrachte Ziege opfern dürfe. Das Cartoon von Charles Addams führt uns mitten ins Problemfeld der Frage, was uns heilig ist. Gegenüber stehen sich Angehörige unterschiedlicher Interpretationsgemeinschaften. Es herrscht Dissens. Für den Maori ist das Objekt im Museum heilig. Für den Museumswärter ist es ein schützenswertes Kulturgut, das keinesfalls durch das Blut einer geschlachteten Ziege verunreinigt werden darf, ganz abgesehen von Problemen, die das Tierschutzgesetz aufwirft. Mit welchen Argumenten wird er das Ansinnen des Mannes abweisen? Wir verstehen sofort, dass der Fremde mit der Ziege etwas grundlegend falsch versteht. Der „dumme“ Maori verwechselt ein Museum mit einer Kultstätte, ein kulturelles Artefakt mit einem heiligen. Aus dieser Verwechslung resultiert der Witz. Wir lachen aufgrund unserer Überzeugung, dass die Überzeugung des Maori falsch ist. Ein Schlachtopfer im Museum ist ein denkbar absurder Vorgang und wird nicht zugelassen. Das ist gewiss. Allerdings gibt es noch eine weitere Pointe, die darin liegt, dass Museen durchaus als Kultstätten fungieren können. So wird z. B. neuerdings „das Heilige“ gezielt ins Museum geholt und Sakralisierung inszeniert. Bei der Präsentation tibetischer Kunst in US-amerikanischen und europäischen Museen etwa führen tibetische Mönche Meditationskurse und Segnungszeremonien durch und erstellen rituell Sand-Mandalas. Im St. Mungo Museum in Glasgow wurde die Statue des indischen Gottes Ganesha durch die örtliche Hindu-Gemeinde und ihren Priester geweiht. Besucher fragen an, ob man die Asche verstorbener Anverwandter im Zen-Garten eben dieses Museums verstreuen dürfe. In der Ausstellung ‚Altäre‘ in Düsseldorf (2001) wurden Ritualexperten verschiedener Religionen eingeflogen, um die Ausstellungsobjekte zu weihen5. Die Ironie eines Charles Addams funktioniert hier nicht mehr. Museen sind in herkömmlicher Wahrnehmung öffentliche Orte des kulturellen Gedächtnisses. Museale Räume sind keine sakralen, sondern profane Räume, die durch Steuergelder finanziert werden. Dahinter steht ein bürgerliches Bildungsverständnis, das sich in der Institution Museum materialisiert. Doch bei näherem Hinsehen wird die Trennung profan-sakral porös und es zeigt sich, dass das europäische Bürgertum Überzeugungen und Rituale hervorbrachte, die ihrerseits die Erfindung „heiliger Dinge“ beförderte. 5

Beispiele finden sich bei Roger Homan, The Art of the Sublime. Principles of Christian Art and Architecture, Aldershot 2004, 157 f., und in dem Band Religion und Museum. Zur visuellen Repräsentation von Religion/en im öffentlichen Raum, hg. v. Peter J. Bräunlein, Bielefeld 2004.

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Peter J. Bräunlein

WAS DEM BILDUNGSBÜRGER HEILIG IST: NATION UND KUNST Der Verweis auf die Erfindung der Nation legt sich an dieser Stelle nahe. Das Konstrukt Nation wurde mit dem Adjektiv „heilig“ versehen und geläufig ist seither die Rede von nationalen Heiligtümern, die unter anderem in Nationalmuseen ausgestellt werden. Die Heiligung der Nation inklusive der Sakralisierung des Heldentodes auf dem Schlachtfeld, wie er sich im 19. Jahrhundert etabliert, sind bemerkenswerte Vorgänge. Das Heilige, aus der christlich-jüdischen Tradition entnommen, wird auf ein vergleichsweise neues ideelles und geopolitisches Konstrukt übertragen, das damit auch emotional überzeugen soll. Religiöse, genauer konfessionelle Zugehörigkeiten werden dabei transzendiert. Nation steht über Religion. [R]eligiöse Prädikate – Ewigkeit und erfüllte Zukunft, Heiligkeit, Brüderlichkeit, Opfer, Martyrium – werden mit [der Nation] verbunden. Das Religiöse wird im Nationalen säkularisiert, das Säkulare sakralisiert

– so formuliert es Thomas Nipperdey6. Semantik und Rituale, die „das Heilige“ befestigen, sind somit nicht länger auf institutionalisierte Religion beschränkt, sondern werden Teil politischer Kultur und bürgerlicher Weltanschauung7. Nation wird zunächst zum zentralen Wert für das neu entstehende Bildungsbürgertum, gerade weil sich die alte Welt, partikulare Bindungen, traditionelle Normen und Werte auflösen. Um nationale Identität zu evozieren und zu festigen, dienen „Heiligtümer der Nation“, Gedenkstätten und Nationalheilige. So wird Weimar zum nationalen Wallfahrtsort, Schillers Schädel zu einer nationalen „Reliquie“. „Pilgerströme des verehrungsfreudigen Bürgertums“ zieht es zu ihm und zu Goethes Sarg8. Der Vorgang der Sakralisierung des ehemals Säkularen wird noch in einem anderen Bereich auffällig, in der ästhetischen Kultur. Kunst nimmt einen zentralen Platz im bürgerlichen Leben ein, sie liefert Orientierung und stiftet Sinn, sie verklärt, analysiert, diskutiert. Für die Geschichte der Seele und ihrer Empfindungsmöglichkeiten wie für die Geschichte des Welt- und Selbstverständnisses wird Kunst zur autonomen Ressource9. Bekannt ist Goethes Besuch der königlichen Gemäldegalerie im Dresdener Schloss im Jahr 1768. 30 Jahre später schreibt er in Dichtung und Wahrheit: Ich trat in dieses Heiligtum und meine Verwunderung überstieg jeden Begriff, den ich mir gemacht hatte. Dieser in sich selbst wiederkehrende Saal, in welchem Pracht und Reinlichkeit bei der größten Stille herrschten, die blendenden Rahmen, alle der Zeit noch näher, in der sie vergoldet wurden, der gebohnerte Fußboden, die mehr von Schauenden betretenen als von 6 7

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Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte, 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1993, 300. Zur Symbiose von Nation und Religion in Europa des 19. Jahrhunderts siehe René Rémond, Religion und Gesellschaft in Europa. Von 1789 bis zur Gegenwart, München 2000, 147–170. Zur protestantischen Semantik von Patriotismus und Nationalismus siehe Christian Senkel, Patriotismus und Protestantismus. Konfessionelle Semantik im nationalen Diskurs zwischen 1749 bis 1830, Tübingen 2015. Albrecht Schöne, Schillers Schädel, München 2005, 32. Nipperdey, Deutsche Geschichte (wie Anm. 6), 533.

Was ist uns heilig? Kulturwissenschaftliche Anmerkungen zu „sakralen“ Dingen

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Arbeitenden benutzten Räume gaben mir ein Gefühl der Feierlichkeit, einzig in seiner Art, das umso mehr der Empfindung ähnelte, womit man ein Gotteshaus betritt, als der Schmuck so manchen Tempels, der Gegenstand so mancher Anbetung hier abermals, nur zu heiligen Kunstzwecken aufgestellt schien10.

1797 bemerkt Wilhelm Heinrich Wackenroder (1773–1798) in seinen Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders: Bildersäle werden betrachtet als Jahrmärkte, wo man neue Waren im Vorübergehen beurteilt, lobt und verachtet; und es sollten Tempel sein, wo man in stiller und schweigender Demut, und in herzerhebender Einsamkeit, die großen Künstler, als die höchsten unter den irdischen, bewundern, und mit der langen, unverwandten Betrachtung ihrer Werke, in dem Sonnenglanz der entzückendsten Gedanken und Empfindungen sich erwärmen möchte. Ich vergleiche den Genuß der edleren Kunstwerke dem Gebet11.

Kunsterleben ist Gebet, das Museum wird zur „ästhetischen Kirche“ und der Künstler zum Priester einer Religion der „freien Geister“. Exemplarisch steht dafür der Maler Caspar David Friedrich (1774–1840), der sich selbst als Priester des Höchsten verstand und sein künstlerisches Tun als eine Andachtsübung praktizierte12. Die Auffassung des Romantikers Wackenroder, wonach Kunst im Kern Religion sei, hallt lange nach. 1817 besucht der französische Autor Stendhal (1783–1842) Florenz. Die Besichtigung der Fresken von Giotto (1266–1337) in der Kirche Santa Croce ist (damals wie heute) für jeden Bildungsreisenden ein Muss. Stendhal erinnert sich: Ich war in einer Art Ekstase. Ich war an dem Punkt der Begeisterung angekommen, wo sich die himmlischen Eindrücke, wie sie die Kunst hervorruft, mit den leidenschaftlichen Gefühlen gatten. Als ich aus Santa Croce heraustrat, hatte ich starkes Herzklopfen – was sie in Berlin ‚Nervenanfall‘ nennen, ich war bis zum äußersten erschöpft und fürchtete Ohnmächtig [sic] zu werden13.

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Johann Wolfgang von Goethe, Dichtung und Wahrheit, in: Goethes Werke, Bd. I.27 [fotomechan. Nachdr. der 1889 ersch. Weimarer Ausg.], München 1987, 170 f. Wilhelm Heinrich Wackenroder, Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, Berlin 1797, 76 f., hier nach Heinrich Klotz, Geschichte der deutschen Kunst, Bd. 3: Neuzeit und Moderne, 1750–2000, München 2000, 53 f. Vgl. Werner Busch, Caspar David Friedrich – Ästhetik und Religion, München 2003. Henry Beyle von Stendhal, Reise in Italien, in: Henry Beyle von Stendhal. Gesammelte Werke, hg. v. Manfred Naumann, Berlin 1964, 234. Hier zitiert aus Andreas Henning, Beheimatung in der Kunst. Vom Glück der Malerei und vom Glück ihrer Betrachtung, in: Heimatschichten. Anthropologische Grundlegung eines Weltverhältnisses, hg. v. Joachim Klose, Wiesbaden 2014, 533–550, hier 533. Henning weist darauf hin, dass die psychiatrische Klinik in Florenz bis heute immer wieder mit Touristen zu tun hat, die vor Kunstschätzen kollabieren. Die Kombination aus Panikattacken, Wahrnehmungsstörungen und wahnhafte Bewusstseinsveränderungen wurde von der Psychiaterin Graziella Magherini als „Stendhal-Syndrom“ bezeichnet. Zum Stendhal-Syndrom und anderen Erregungszuständen, die Kunstwerke auslösen können, sei die Studie Pictures & Tears (New York/London 2004) des Kunsthistorikers James Elkins empfohlen. Zur Geschichte des Besucher-Verhaltens in deutschen Kunstsammlungen zwischen 1700 und 1914 siehe Joachim Penzel, Der Betrachter ist im Text. Konversationsund Lesekultur in deutschen Gemäldegalerien zwischen 1700 und 1914, Berlin 2007.

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Peter J. Bräunlein

Seit der protestantische Theologe Friedrich Daniel Schleiermacher (1768–1834) die „höchste Blüte der Religion“ im Erlebnis der Einswerdung mit dem Universum erkannt zu haben glaubte14, sind innere Zustände wie das „Gefühl des Überweltlichen“, das „Ergriffen-Werden vom Numinosen“ bis hin zu „ozeanischen Gefühlen“15 als religiös ausgewiesen. Gleichzeitig lösen sie sich ab von konfessionellen Bezügen. Man kann nunmehr ohne Kirchenzugehörigkeit religiös empfinden. Nicht mehr Gemeinde, Bekenntnis oder Glaube sind entscheidend, sondern innere Erfahrung. Genau hier, im Seelenleben des bürgerlichen Individuums, ergänzen und ersetzen sich Religion und Kunst. Innere Sensationen im Angesicht der Natur sind auch vor und in Werken der Kunst erfahrbar. In der Begegnung mit Kunst sucht man nach Wahrheit, Erhabenheit und Momenten der Erlösung von den Zumutungen der Moderne. In monumentalen Kultbauten, – Museum, Konzertsaal, Opernhaus, Theater –, wird die Nachfrage nach solcher Erlösungssehnsucht bedient. Während die Kirchen sich leeren, füllen sich die Tempel der Kunst. Diese sind (bis zur Erfindung des Kinos) exklusive Orte kulturell erzeugter Affekte, des Weinens, des Lachens, des Ergriffenseins. Es sind Orte von Imaginationen und Utopien, von kultivierter Transzendenzerfahrung16. SHIVA ALS TEUFEL Ort des Geschehens ist die Religionskundliche Sammlung der Universität Marburg, die ich von 2000–2006 leitete. Ich führte regelmäßig Schulklassen durch die Sammlung, die in Ergänzung des Unterrichts etwas über verschiedene Weltreligionen erfahren sollten17. Angefragt waren „Hinduismus“ und „Buddhismus“. Die meisten14

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Wegweisend wird hier Schleiermachers anonym veröffentlichte Schrift Über die Religion. Reden an die gebildeten unter ihren Verächtern von 1799. Hierzu Burkhardt Gladigow, Friedrich Schleiermacher (1768–1834), in: Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, hg. v. Axel Michaels, München 1997, 17–28, hier 24. Der französische Schriftsteller (und Literatur-Nobelpreisträger) Romain Rolland (1866–1944) wendete gegen Sigmund Freuds Religionskritik (Die Zukunft einer Illusion, 1927) ein, er würde „ozeanische Gefühle“ als Quelle und Ursprung von Religion gänzlich vernachlässigen. Freud gesteht in seiner Antwort, „Ich selbst kann dies ‚ozeanische‘ Gefühl nicht in mir entdekken“, und fühlt sich umso mehr herausgefordert, diesem spezifischen Gefühl „der unauflösbaren Verbundenheit, der Zusammengehörigkeit mit dem Ganzen der Außenwelt“ nachzuspüren, Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur [1930], in: Ders., Studienausgabe, Bd. 9, Frankfurt am Main 1974, 191–270, hier 191. Freud kommt zum Ergebnis, dass diese Gefühlslage auf einen primären Narzissmus zurückzuführen sei, auf einen infantilen Zustand, in dem die Grenze zwischen Ich-Bewusstsein und Außenwelt noch nicht existiert. Initiiert durch den Austausch Rolland-Freud wird die Rede von „ozeanischen Gefühlen“ geläufig. Peter J. Bräunlein, Ausstellungen und Museen, in: Praktische Religionswissenschaft, hg. v. Michael Klöcker/Udo Tworuschka, Köln 2008, 162–176, hier 166. Zu Geschichte und Aufbau der Sammlung siehe Peter J. Bräunlein, Religion in „kultlichen und rituellen Ausdrucksmitteln“. Die Religionskundliche Sammlung der Philipps-Universität Marburg, Berliner Theologische Zeitschrift 23,2 (2006), 263–270; zum Shiva-Beispiel vgl. Peter J. Bräunlein, Shiva und der Teufel. Museale Vermittlung von Religion als religionswissenschaftliche Herausforderung, in: Religion & Museum. Zur visuellen Repräsentation von

Was ist uns heilig? Kulturwissenschaftliche Anmerkungen zu „sakralen“ Dingen

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teils 13-jährigen Schülerinnen und Schüler einer Realschule aus der näheren Umgebung Marburgs waren gut vorbereitet. Die Lehrerin hatte verschiedene hinduistische Götter durchgenommen. In der Religionskundlichen Sammlung sollten die Schüler diese Götter wiederfinden und in wenigen Sätzen erklären. Das Konzept ging auf und einige Götter wurden identifiziert. Ein Junge deutete auf eine Figur und erklärte den anderen Schülerinnen und Schülern: „Hier – das wissen doch alle, da ist doch der Shiva.“ Die Lehrerin nickte anerkennend und fragte nach, ob er sonst noch etwas wüsste: „Na klar – das ist der Teufel!“ Der junge Mann war, wie er selbst hinzufügte, Türke und Muslim. Die Äußerung des Schülers war unerwartet irritierend und verlangte augenblicklich nach einer Richtigstellung. Ich erklärte, dass es sich selbstverständlich nicht um den Teufel handeln würde. Allerdings hätten Christen, die vor vielen hundert Jahren solche Figuren in Indien sahen, ähnlich reagiert und manche behaupteten dann, die Inder wären Teufelsanbeter. Ein Irrtum selbstverständlich, der aus eurozentrischer Voreingenommenheit resultiere. In Wirklichkeit, so erläuterte ich, sehen wir Shiva Nataraja – den Tanzenden Shiva – vor uns, genau genommen die Kopie einer südindischen Figur des 12.–14. Jahrhunderts, die, wie die Löcher im Sockel der Figur zeigen, auf feierlichen Prozessionen umhergetragen wurde, und ich erklärte, dass sich für den gläubigen Shivaiten im Tanz seines Gottes der ewige Wandel der Schöpfung offenbare. Im Verlauf meiner Bemühungen um Richtigstellung zeigte der junge Muslim wenig Interesse an den Sachinformationen, sondern vermittelte vielmehr den Eindruck, als sei er sich seiner Sache sicher. Seine Religion sagte ihm, dies sei der Teufel (Abb. 1 auf S. 262). Das Beispiel verweist nicht nur auf die Schwierigkeiten, in musealen Räumen religionswissenschaftliches Fachwissen zu vermitteln. Es deutet überdies auf mögliche Konsequenzen, die sich aus der scheinbar bizarr anmutenden Überzeugung ergeben können, wonach z. B. der Gott der Anderen in Wirklichkeit der Teufel sei. Religionswissenschaftliche Gewissheiten geraten auf Kollisionskurs mit religiösen Gewissheiten. Handelt es sich bei diesem in einer Universitätssammlung ausgestellten Kupferabguss eines indischen Gottes um ein „heiliges“ Ding? Wer verfügt über das Deutungsmonopol betreffs „heiliger“ Dinge? Das Museum, so sollten die Beispiele deutlich machen, ist nicht nur Labor für die Entwicklung bürgerlicher Empfindungswelten, sondern auch Ritualraum, das der Sakralisierung des ehemals Säkularen dient. Die Produktion „heiliger“ Dinge, die Erzeugung überweltlicher Gefühle vor dem Artefakt, die Vermittlung von Wissen und Gewissheiten um „heilige“ Dinge – all diese Vorgänge finden in musealen Räumen statt. Mit den Beispielen werden zudem Schwierigkeiten erkennbar, Kunst, Kultur, Politik und Religion auseinanderzuhalten. Dies ist im Umgang mit „heiligen“ und „geheiligten“ Dingen ein notorisches Problem. Dass beispielsweise eine Nation als „heilig“ gelten kann, und diese Zuschreibung mit starken Emotionen verbunden wird, ist vor Erfindung des Nationalismus Religion/en im öffentlichen Raum, hg. v. Peter J. Bräunlein, Bielefeld 2004, 55–76. Das referierte Beispiel ist daraus entnommen.

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unbekannt. Aber auch die Möglichkeit, ozeanische Gefühle oder gar Nervenkrisen vor Kunstwerken zu erleben, muss erst erlernt werden. Vorwissen, Erwartungshaltung und antrainierte Affekte sind mit im Raum. „Was man weiß, sieht man erst!“, meint Goethe18. Wer nicht weiß, dass Marienstatuen weinen können, vermutet hohe Luftfeuchtigkeit und sieht allenfalls Kondenswasser auf lackiertem Holz, keinesfalls ein Wunder. Umgekehrt gilt im buddhistischen Kulturkreis die Wunderwirkung von Buddha-Bildern und Statuen als wenig überraschend, vielfach als vorausgesetzt19. Die Leitfrage „Was ist uns heilig?“ ist an die Geschichte der europäischen Moderne und die Befindlichkeiten des neuentstandenen Bildungsbürgertums gekoppelt. In dieser Angelegenheit sind wir Kinder des 19. Jahrhunderts geblieben. RELIGIONSWISSENSCHAFT IN „SCHLECHTHINNIGER ABHÄNGIGKEIT“ VOM HEILIGEN? Nach dem bislang Gesagten kann das Heilige schwerlich als etwas jenseits von Geschichte und Kultur Gegebenes vorausgesetzt werden. Allerdings wirkt in der religionswissenschaftlichen Einkreisung des Heiligen eine bedeutende Tradition nach, die das Heilige geradezu zum Identitätskern und Alleinstellungsmerkmal der eigenen Disziplin machte. Gemeint sind die Religionsphänomenologie und seine prominenten Vertreter wie unter anderem Gerardus van der Leeuw, Rudolf Otto, Friedrich Heiler oder Mircea Eliade. Das Heilige interessierte dabei gerade nicht in materialisierter Form auf der Objekt-Ebene und schon gar nicht als kulturelles und soziales Konstrukt, sondern als mystische Erlebnisqualität oder als heilige Zeiten und Orte. Religion und ihr Kern, das Heilige, sind aus dieser Perspektive etwas gänzlich Unvergleichliches, keinesfalls auf Kultur und Geschichte zu reduzieren und entsprechend nicht mit soziologischen, historischen oder anderen kulturwissenschaftlichen Methoden zu erforschen. Bezugspunkt ist dabei die Rationalitätskritik der Romantik und Friedrich Daniel Schleiermachers Bestimmung von Religion als Gefühl und zwar als „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“20. Rudolf Otto (1869–1937) knüpft daran an und erklärt eine ganz spezifische Erfahrung einer nicht-personalen göttlichen Macht, angesiedelt zwischen den affektiven Polen Erschrecken (tremendum) und Begeisterung (fascinosum), als konstitutiv für alle Religionen und die Religionswissenschaft21. Otto identifiziert mit dieser Erfahrung des Unaussprechlichen, jenem „Kreaturgefühl“, einen apriorischen Bewusstseinszustand, den er als anthropologische Grundkonstante versteht, die zur Grund18 19 20 21

Johann Wolfgang von Goethe, Einleitung in die Propyläen, in: Goethes Werke, Bd. I.47 [fotomechan. Nachdr. der 1889 ersch. Weimarer Ausg.], München 1987, 5–32, hier 13. Vgl. Robert L. Brown, Expected Miracles. The Unsurprisingly Miraculous Nature of Buddhist Images and Relics, in: Images, Miracles, and Authority in Asian Religious Traditions, hg. v. Richard H. Davis, Boulder 1998, 23–36. Gladigow, Friedrich Schleiermacher (wie Anm. 14), 26. Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1917.

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lage seiner Religionstheorie wird. Die Wortschöpfung „das Numinose“, als „das Heilige minus seines sittlichen Momentes und […] minus seines rationalen Momentes überhaupt“22 wird dabei zum Schlüsselbegriff. Erfahrungen des Numinosen sind selten und auf den elitären Kreis der homines religiosi beschränkt, erläutert Otto, und er sucht und findet Belege für Erfahrungen des Unaussprechlichen in Literatur und religiöser Dichtung. In der Weimarer Zeit formiert sich ein „Erkenntniswettbewerb“ zwischen dem religiösen Religionswissenschaftler und dem religiösem Subjekt. Vertreter der sich herausbildenden Religionsphänomenologie neigen dabei zu einem „Irrationalismus protestantisch-romantischer Prägung“, so Ugo Bianchi23. Ottos Buch „Das Heilige“ wurde zum vielfach aufgelegten und übersetzten Bestseller und Klassiker der Religionswissenschaft. Wiewohl Otto seine Anziehungskraft als Religionstheoretiker längst eingebüßt hat, entfalten die Begriffe „numinos“ und „heilig“ außerordentliche Suggestivkraft weit über Theologie und Religionswissenschaft hinaus, vor allem im angelsächsischen Raum24. „Im Englischen“, so erläutert Gregory Alles, „klingt das von Otto neugebildete Wort ‚numinous‘ irgendwie mysteriös, heilig, religiös, ohne aber eine bestimmte Religion wie Christentum oder Buddhismus zu implizieren. Dieser Universalismus seiner Terminologie ist wohl mit ein Grund für den Erfolg – und das, obwohl gerade er (anders als etwa Eliade) die Überlegenheit des Christentums immer betonte“25. Die wissenschaftliche Kritik an Ottos Religionsbegriff und seiner Verhandlung des Heiligen deutet auf ein grundlegendes Problem. Nimmt man subjektives Erleben des Unaussprechlichen als die Grundlage einer Religionstheorie, wird dieses Problem virulent, solches Erleben in Wissenschaftssprache zu überführen. Das Bemühen um Vergleichbarkeit, Präzisierung und Differenzierung sind Anforderungen an Wissenschaftlichkeit. Wie lässt sich tremendum und fascinosum jenseits des 22 23 24

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Ebd., 6. Ugo Bianchi, Probleme der Religionsgeschichte, Göttingen 1964, 14; Burkhardt Gladigow, Religionsgeschichte des Gegenstandes – Gegenstände der Religionsgeschichte, in: Religionswissenschaft. Eine Einführung, hg. v. Hartmut Zinser, Berlin 1988, 6–37, hier 7. Der amerikanische Religionswissenschaftler Robert A. Orsi meint, es sei vor allem Ottos pathetische Beschreibung der Erfahrung des Außerordentlichen, die die Religionswissenschaft mit einem hohen Maß an Romantizismus infiltrierte. „Holiness was a treacherous pivot on which fantasies and realities of domination, desire, and destruction spun around each other.“ Robert A. Orsi, The problem of the holy, in: The Cambridge Companion to Religious Studies, hg. v. Dems., Cambridge 2012, 84–108, hier 98 f. Gregory D. Alles, Rudolf Otto (1869–1937), in: Klassiker der Religionswissenschaft, hg. v. Axel Michaels, München 1997, 198–210, hier 210. Der evangelische Theologe Jörg Schneider unterstreicht, wie stark Ottos Religionstheorie von neukantianischer Perspektive beeinflusst ist. Wollte man Otto wirklich verstehen und esoterischen Konnotationen ausweichen, müsse man „sich zuerst dieser Grundlagen erneut vollständig versichern“, so Jörg Schneider, Rudolf Otto. Religion als Begegnung mit dem Heiligen, in: Kompendium Religionstheorie, hg. v. Volker Drehsen/Wilhelm Gräb/Birgit Weyel, Göttingen 2005, 97–107, hier 105. Intention und Rezeption von wirkungsvollen Ideen sind indes nicht immer deckungsgleich. Die Breitenwirkung von Ottos Begrifflichkeit, so kann vermutet werden, liegt sicherlich nicht an der Attraktivität des Neukantianismus.

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Subjektiven operationalisieren? Was ist, wenn Überwältigung durch Schrecken und Faszination nicht nur in Synagoge, Kirche oder vom Mönch am Meer erlebt wird, sondern in den Stahlgewittern des ersten Weltkriegs, im Bordell oder in den Taten eines Serienmörders? Anders gefragt, kann man pathologische von religiösen Erregungszuständen trennen; Religion und Perversion unterscheiden? Wer vermag über Qualität und Authentizität des so erfahrenen Heiligen zu urteilen? Rabbi, Priester, Imam? Der Religionswissenschaftler, ohne dabei wie der Gläubige sprechen zu müssen26? Oder vielleicht doch der Psychiater? Keine Lösung, aber eine Verlagerung des Problems bietet die französische Sakralsoziologie, die Ende der 1930er Jahre von Georges Bataille, Michel Leiris und Roger Caillois unter dem ambivalenten Eindruck des deutschen Faschismus initiiert wird27. Durkheims Modell kollektiv erlebter Efferveszenz, einem überschäumenden Erregungszustand, den er zum Ursprung von Religion erklärt, dient den Beteiligten als Ausgangspunkt. Während bei Otto letztlich ein „bestimmtes tyrann[isches] Gottesbild zur überzeitlich gültigen und real existierenden Macht erklärt“28 wird, knüpfen Bataille und Caillois an Durkheim an, der ein naturwissenschaftlich inspiriertes Energiemodell für seine Zwecke nutzt. Er wählt ‚Elektrizität‘ bzw. ‚elektrische Ladung‘ als Analogon, um bestimmte Formen ekstatischer und außeralltäglicher Erfahrungen seinen Lesern plausibel zu machen. Diese Formen des orgiastischen Erlebens, so wollte es 26

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Burkhardt Gladigow ist dem Dilemma, das die Religionsphänomenologie mit sich bringt, in seinem Aufsatz „‚Imaginierte Objektsprachlichkeit‘. Der Religionswissenschaftler spricht wie der Gläubige“ nachgegangen. Vgl. Burkhardt Gladigow, ‚Imaginierte Objektsprachlichkeit‘. Der Religionswissenschaftler spricht wie der Gläubige, in: Noch eine Chance für die Religionsphänomenologie?, hg. v. Axel Michaels/Daria Pezzoli-Olgati/Fritz Stolz, Berlin 2001, 421–440. Rudolf Otto betrachtete die „Religionsmessung“ tatsächlich für möglich und erstrebenswert, wenngleich das Ziel, den besonderen Geist einer jeweiligen Religion zu benennen und zu bewerten, das „schwierigste und feinste Geschäft einer reifen wissenschaftlichen Religionspsychologie und Religionskunde“ sei. So kann „je nach ihrem Geist […] dann auch eine Vergleichung und Messung der Religionen miteinander stattfinden. Und es kann gefragt werden, welcher Typus von Religion höheren Wert, reichere Wirkung auf Gemüt und Gewissen hat.“ Rudolf Otto, Vischnu-Narayana. Texte zur indischen Gottesmystik, Jena 1923, 222. Hierzu auch Carsten Colpe, Über das Heilige. Versuch, seiner Verkennung kritisch vorzubeugen, Frankfurt am Main 1990, 82. Das Ergebnis dieser „Religionsmessung“ steht schnell fest. Otto schreibt, er sei „in der Tat aufrichtig überzeugt, daß das Christentum […] nach seinem spezifischen idealen Gehalte, nach seinem höchst individuellen, typisch charakterisierten Sondergeiste, den anderen Sonderbildungen der Religion entscheidend überlegen ist […].“ Otto, Vischnu-Narayana (wie in Anm. oben), 223. Das Collège de Sociologie war der institutionelle Rahmen der Sakralsoziologie, die aus antifaschistischem Widerstandswillen erwächst. Die Beteiligten standen im Banne der totalitären Bewegung des deutschen Faschismus und seiner Rituale, die überaus erfolgreich kollektive Begeisterung und Faszination an Macht, Masse und Massenmord erzeugten. Darauf sollte eine Antwort gefunden werden. Zur Entwicklung der Sakralsoziologie siehe Stephan Moebius, Die Zauberlehrlinge. Soziologiegeschichte des Collège de Sociologie (1937–1939), Konstanz 2006. Christoph Auffarth, Artikel „Heilige, das“, in: Wörterbuch der Religionen, hg. v. Christoph Auffarth/Hans G. Kippenberg/Axel Michaels, Stuttgart 2006, 206 f., hier 206.

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Durkheim bei den australischen Ureinwohnern erkannt haben, werden rituell herbeigeführt. Damit „der Funke überspringt“ bedarf es der Gruppe. Die Menschenansammlung allein schon wirke als „ein besonders mächtiges Reizmittel. Sind die Individuen einmal versammelt, entlädt sich auf Grund dieses Tatbestandes eine Art Elektrizität, die sie rasch in einen Zustand außerordentlicher Erregung versetzt“29. Aus dieser kollektiven Erfahrung wird die Erfahrung der Kollektivität. Diese Erfahrung vermittelt, „daß sich das Leben der einzelnen im Rahmen eines Kollektivs vollzieht, das den einzelnen als eine anonyme, sie überwältigende Macht gegenübertritt und insofern nur in Gestalt eines oder mehrerer höherer, transzendenter Wesen erfaßt werden kann“30. Sakralsoziologie unter dem Eindruck von Durkheims Religionstheorie wird nicht als Subdisziplin verstanden, sondern als integrative Disziplin, die die Aufhebung der Trennung des Politischen und Religiösen anstrebt. Den Protagonisten geht es um „das Studium des sozialen Lebens in all denjenigen seiner Erscheinungsformen […], in denen die aktive Präsenz des Heiligen zutage tritt“31. Der Begriff des Heiligen wird weit gedehnt und ist, ähnlich wie bei Otto, durch eine grundlegende Ambivalenz charakterisiert. Anders jedoch als bei Otto ist das Heilige im Wesen destruktiv32. Sein Energieüberschuss kann sich in individuellen wie kollektiven Ge29

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Durkheim, Die elementaren Formen (wie Anm. 1), 297. Durkheims Efferveszenzmodell wirkt im Detail wenig überzeugend, was hier nicht vertieft werden kann. Nur so viel: jeder kennt Massenveranstaltungen, die keineswegs in orgiastische Grenzüberschreitungen münden. Parteitage der chinesischen KP etwa, die Ostermesse des Papstes oder Eröffnungsfeiern der Olympischen Spiele. Die zugrunde gelegte Automatik des kollektiv Orgiastischen sowie die Unterschlagung der individuellen Dimension sind allein schon kritikwürdig. Hierzu Alexander Leistner/Thomas Schmidt-Lux, Konzentriertes Fallenlassen. Ansätze einer Soziologie kollektiver Ekstase, in: Emotionen, Sozialstruktur und Moderne, hg. v. Anette Schnabel/Rainer Schützeichel, Wiesbaden 2012, 317–334, hier 322. Darüber hinaus ist Durkheims Begriff des Heiligen und seine profan-heilig Unterscheidung Kritik von ethnologischer Seite ausgesetzt. Jack Goody zeigt an den Feldforschungen von Malinowski und Evans-Pritchard, dass die profan-heilig Unterscheidung eine eurozentrische Setzung ist, die vom außenstehenden Beobachter auf eine fremde Kultur projiziert wird. Demnach lassen sich keine Unterscheidungskriterien finden, um diese Gegenüberstellung inhaltlich als universal gültig zu begründen. Jack Goody, Religion and Ritual. The Definitional Problem, British Journal of Sociology 12 (1961), 142–164. Hierzu auch Rainer E. Wiedenmann, Ritual und Sinntransformation. Ein Beitrag zur Semiotik soziokultureller Interpenetrationsprozesse, Berlin 1991, 168, und Hans G. Kippenberg, Einleitung. Zur Kontroverse über das Verstehen fremden Denkens, in: Magie. Die sozialwissenschaftliche Kontroverse über das Verstehen fremden Denkens, hg. v. Hans G. Kippenberg/Brigitte Luchesi, Frankfurt am Main 21987, 9–51, hier 22 f. Peter Wiechens, L’homme du mythe. Batailles Abweichung von Durkheim, in: Georges Bataille. Vorreden zur Überschreitung, hg. v. Andreas Hetzel/Peter Wiechens, Würzburg 1999, 223–243, hier 234. Georges Bataille u. a., Déclaration sur la fondation d’un College de Sociologie [1937], in: Le Collège de Sociologie 1937–1939, hg. v. Denis Hollier, Paris 1995, 26–27, hier 27. Hier zitiert aus Astrid Reuter, Das wilde Heilige. Roger Bastide (1898–1974) und die Religionswissenschaft seiner Zeit, Frankfurt am Main 2000, 93. Hartmut Böhme charakterisiert das Heilige in der Tradition der Religionsphänomenologie eines Rudolf Otto als „Versöhnungsideologie, die das wirklich Schreckliche nur in der gezähmten Form zuläßt, daß es das Fascinosum und das Augustum um das Tremendum komplettiert,

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waltexzessen entladen. Das Heilige bildet Gemeinschaft und bedarf des Opfers, das zum Kern des Heiligen wird. Sei es als Akt der Verschwendung (wie bei Bataille), oder im Rahmen eines rauschhaften Festes, das die gesellschaftliche Ordnung umkehrt (wie bei Caillois) oder als enthemmter, wilder Tötungsvorgang (wie bei René Girard)33. Das Heilige zeigt sich in Grenzerfahrungen von Opferhandlungen, Krieg, Gewalt, Tod, Erotik, sexuellen Ausschweifungen, Ritual, Spiel, Fest. Die ontologische Tatsache des Heiligen als vitale Kraft, die Möglichkeit seiner „aktiven Präsenz“, wird als gegeben angenommen. Diese intellektuellen Impulse, das Heilige als das „wilde Heilige“34 zu denken, es aus dem „Geist der Gewalt“35 zu entfalten, zeitigten nachhaltig Wirkung in Frankreich36, und nicht nur dort. Als Dietmar Kamper und Christoph Wulf 1984 das internationale Colloquium „Das Heilige: Seine Spur in der Moderne“ organisieren, werden beide prominente religionswissenschaftliche Traditionen im Umgang mit dem Heiligen aufgegriffen37. Die Linie Schleiermacher-Otto-Eliade und jene, die über Durkheim zu Bataille und Girard führt. Kamper und Wulf rufen das Heilige gegen Max Weber und dessen Entzauberungsthese in den Zeugenstand. Das Heilige ist nicht vergangen, sondern es ist als Verschobenes, Verborgenes, Verdrängtes und Vergessenes durchaus aktuell. Man muß es nur kenntlich zu machen verstehen, d. h. man muß es entdecken, darstellen und noch aus seinen verwischten Spuren rekonstruieren können. […] Das Heilige widerstrebt in seiner schrecklichen und in seiner faszinierenden Qualität jeder auf Eindeutigkeit ausgerichteten Identifikation38.

Entgegen der Trennung von heilig und profan, die für die Religionssoziologie eines Durkheim und Weber ebenso wie für die Religionsphänomenologie eines Eliade gleichermaßen essenziell ist, gehen Kamper und Wulf von der Untrennbarkeit der Bereiche aus:

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mit dem hübschen Nebeneffekt, daß dieser Schrecken nicht einmal von ‚uns Menschen‘ ausgeht, sondern dem Heiligen objektiv innewohnt und von uns in pathetischer Betroffenheit nur gespürt wird. Niemals sind wir dabei Subjekt des Schreckens. Das Heilige à la Otto also wäre eine grandiose Selbstentlastungs-Strategie.“ Hartmut Böhme, Oblique Annäherung an das Heilige aus dem Geist der Gewalt, in: Noch eine Chance für die Religionsphänomenologie?, hg. v. Axel Michaels/Daria Pezzoli-Olgati/Fritz Stolz, Bern u. a. 2001, 191–212, hier 202. Zum Opferbegriff bei Bataille und Girard siehe Stefano Cochetti, Die Aporie des Heiligen. Der Opferbegriff bei Bataille und Girard, in: Georges Bataille. Vorreden zur Überschreitung, hg. v. Andreas Hetzel/Peter Wiechens, Würzburg 1999, 243–256. Zum Begriff des Heiligen bei Bataille und Girard siehe Heinämäki, Durkheim, Bataille and Girard (wie Anm. 3). Reuter, Das wilde Heilige (wie Anm. 31). Böhme, Oblique Annäherung (wie Anm. 32). Im engeren Sinne beeinflusst sind Roger Bastide, Jean Baudrillard und René Girard, im weiteren Sinne Denker wie Foucault, Derrida, Lacan, Levinas, Deleuze, Guattari. Die Tagung fand im Herbst 1984 in Berlin statt und wurde von der VW Stiftung gefördert. Der Tagungsband Das Heilige. Seine Spur in der Moderne erschien 1987 im Frankfurter SyndikatVerlag und wurde 1997 unverändert nachgedruckt. Dietmar Kamper/Christoph Wulf, Einleitung, in: Das Heilige. Seine Spur in der Moderne, hg. v. Dietmar Kamper / Christoph Wulf, Frankfurt am Main 1997 [unveränderter Nachdruck der Ausgabe 1987], 1–30, hier 1.

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Das Profane ist vom Heiligen überlagert und das Heilige vom Profanen durchzogen. In solcher Ununterscheidbarkeit liegt die Präsenz und die Macht des Heiligen heute. Sie behält Recht gegen die wissenschaftliche Konstruktion39.

Mitte der 1980er Jahre, zum Zeitpunkt der erwähnten Tagung, verfügt „das Heilige“ und die damit befasste Wissenschaft noch über eine gewisse Strahlkraft40. Kamper und Wulf sehen ganz offensichtlich einen Erkenntniswert darin, Spuren des Heiligen in der Moderne aufzuspüren. Dies setzt jedoch gewisse konzeptuelle „Dehnübungen“ voraus. Das Heilige ist demnach charakterisiert durch strikte Uneindeutigkeit und Ambivalenz. Auf „der Ebene der Praxis gerät der Bezug auf das ‚Heilige‘ paradox, auf der Ebene der Theorie antinomisch“. Wo „immer das ‚Heilige‘ sich ereignet, liegt etwas Inkommensurables vor, das – auf eine noch ungeklärte Weise – mit den Gesetzmäßigkeiten menschlichen Lebens zu tun hat: Maßlosigkeit als Grund des Maßes? Ist das Andere etwa jener externe Punkt des Fremden, der das Eigene zum Eigenen macht?“ Die „Funktion des ‚Heiligen‘, Ordnung durch Unordnung und Fülle aus Erschöpfung zu generieren, geht bisher auf das Opfer zurück, das unlösbar mit Gewalt und Verbrechen und mit dem Tod verbunden ist. […] Jede (archaische) Gesellschaft, heißt das, basiert auf Gewalt und Verbrechen.“41 All das Unfassbare und Schreckliche, das in der Selbstbeschreibung der Moderne nicht aufgeht, wird zum Heiligen erklärt. An der Existenz und Bedeutung des Heiligen in der Moderne wird kein Zweifel gelassen, wenn auch der Doppelcharakter des Heiligen, es zeigt und verbirgt sich nämlich gleichzeitig42, Probleme berei39 40

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Ebd., 5. 1986, mit dem Tod des weltweit berühmtesten Religionswissenschaftlers Mircea Eliade, ändert sich dies schnell. Eliades Antisemitismus, seine Bewunderung für Hitler und Mussolini, sowie seine Verstrickungen im rumänischen Faschismus der 1930er Jahre wurden erst nach seinem Tod offen gelegt und belegbar. Einen frühen Anstoß lieferte unter anderem Seymour Cain, Mircea Eliade, the Iron Guard, and Romanian Anti-Semitism, Midstream 35 (1989), 27–31. Zunehmende Kritik an Eliades Methoden und seiner Auffassung des Heiligen ist ab den 1990er Jahren zu verzeichnen. Vgl. Ulrich Berner, Mircea Eliade (1907–1986), in: Klassiker der Religionswissenschaft, hg. v. Axel Michaels, München 1997, 343–353, hier 351–353. Kamper/Wulf, Einleitung (wie Anm. 38), 3. Bei der so gesetzten Programmatik im Umgang mit dem Heiligen verwundert es, dass sich keiner der 41 Beiträge des Tagungsbandes mit dem Nationalsozialismus befasst. Der von Kamper und Wulf aufgestellte Merkmalskatalog ließe sich exemplarisch an den Exzessen faschistischer Gewaltherrschaft abarbeiten. Zu finden sind: Das Schrecklich-Faszinierende, Ordnung durch Unordnung, Maßlosigkeit, Opfer, Verbrechen, Krieg, Tod. Die oben zitierte Frage „Ist das Andere etwa jener externe Punkt des Fremden, der das Eigene zum Eigenen macht?“ ließe sich doch zielgenau auf die verhängnisvolle ideologische Konfiguration artfremdes Judentum versus deutsches Volkstum übertragen. Zeigt sich demzufolge die „Aktualität des Heiligen“ nicht besonders deutlich in der deutschen Geschichte zwischen 1933 und 1945? Carsten Colpe deutet in eine ähnliche Richtung, wenngleich recht vorsichtig, wenn er über die Möglichkeit nachdenkt, dass sich das Heilige auch in der nichtreligiösen Sphäre wie etwa der Kunst zu zeigen vermag: „Die Fragen nach der ‚Heiligkeit des Totalen‘ im Gesamtkunstwerk und im totalen Krieg stellen sich analog“, schreibt Colpe, Über das Heilige (wie Anm. 26), 84. Die Idee einer Dialektik, wonach das Heilige sich zeigt und damit gleichzeitig verbirgt, geht auf Eliade zurück. Colpe, Über das Heilige (wie Anm. 26), 73.

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tet. Folgerichtig drängt sich die Frage auf: „Was läßt sich – so betrachtet – über das Heilige sagen? Wenig, vielleicht – in einem besonderen Sinne – nichts.“43 Beredsam umkreist wird eine Aporie. An dieser Stelle erinnere ich an den Ausgangspunkt meiner Überlegungen. Die Themenstellung der Tagung „Heilige und geheiligte Dinge“ ruft das „Heilige“ auf und gleichzeitig damit die Frage, was denn damit gemeint sei. Die fachgeschichtliche Exkursion führte prominente Traditionen vor Augen, die das Heilige auf spezifische Weise thematisieren und in gewisser Weise „einfärben“. Mit derlei Imprägnierungen haben wir immer zu tun, wenn wir mit „heiligen“ Dingen hantieren. Darauf zielt die Frage, was uns heilig sei. Der Blick auf das wissenschaftlich topographierte Heilige dient der Selbstaufklärung, zum einen. Zum anderen lässt der Hinweis auf die Tagung von 1984 erkennen, dass die Rede vom Heiligen in der Moderne zwangsläufig in Aporien mündet. Die Trennschärfe des Begriffs löst sich auf. Wie hilfreich sind also diese gelehrten Versuche, das Heilige zu erfassen, für unsere Bemühungen im Umgang mit heiligen Dingen? Ganz gleich wie skeptisch oder wertschätzend man Religionsphänomenologie oder Sakralsoziologie sieht, deutlich ist, dass für beide Annäherungen die Strategie der Entmaterialisierung typisch ist. Das Heilige wird als Gruppenenergie konzeptualisiert oder als Manifestation einer „Macht“-Erfahrung oder als Grenzüberschreitungserlebnis. Das Heilige als ontologische Größe wird über Affekt und Emotion angesteuert und plausibilisiert. Mit anderen Worten, das Heilige wird alles andere als „dingfest“ gemacht. Die oben geschilderte Problematik, das Heilige in Wissenschaftssprache zu überführen, tritt hier besonders deutlich zutage. Carsten Colpe hat in seiner Kommentierung von Rudolf Ottos Thesen eine grundsätzliche methodische Herausforderung benannt, nämlich: das Amalgam von literarischer Objektsprache, hermeneutischer Interpretationssprache (bei der Deutung nichtsprachlicher Objekte) und wissenschaftlicher Metasprache, dessen wir uns bedienen, bis in seine Elemente hinein aufzulösen. Davon wird auch der strukturelle Nexus zwischen Apriori und Erfahrung/Erkenntnis betroffen sein44.

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Kamper/Wulf, Einleitung (wie Anm. 38), 6. Colpe, Über das Heilige (wie Anm. 26), 48. Carsten Colpe versucht eine religionswissenschaftliche Rettung des „Heiligen“ mit der Aufforderung, sich „phänomenologisch“ einzustellen. Denn stellt man sich „wissenschaftlich anders ein, etwa funktionalistisch, sozialanthropologisch oder logisch-analytisch, dann kommt etwas ganz anderes heraus. Die dergestalt angelegten Wissenschaften, sofern sie sich auch mit Religion befassen, beweisen es, indem sie zum Heiligen nichts zu sagen haben, selbst wenn sie konventioneller Weise mit ‚heiligen Einzelheiten‘ operieren. Wenn man sich phänomenologisch einstellt, dann erscheint das Heilige als eine extrem zusammengesetzte Kategorie.“ Ebd., 78. Colpes Annäherung an diese synthetische Kategorie erfolgt über Begriffsanalyse, Semasiologie, Fremd- und Eigendefinitionen, Lexikographie, Wörter und Wortbedeutungen.

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SEMIOTISCHE IDEOLOGIEN UND „DIVINE MATERIALITY“ Was Carsten Colpe mit Blick auf Rudolf Otto thematisiert, liefert Stichworte für Vorschläge im Umgang mit „heiligen Dingen“. Ich schlage hier zwei Annäherungen vor; zum einen über die Untersuchung von Sprachideologien, die handlungsleitende und sensorische Effekte zeigen, zum anderen über die Materialität der Dinge selbst. Durch die Fixierung auf das entmaterialisierte „Heilige“ entwickelte die Religionswissenschaft weder Interesse, Theorie oder Methode, sich mit den materiellen Grundlagen ihres Gegenstandes zu befassen. Meine Vorschläge basieren auf einer nicht-phänomenologischen Perspektive und sind inspiriert von der Ambition, Religionswissenschaft zu „materialisieren“, wie dies Hubert Cancik und Hubert Mohr in ihrem Entwurf einer Religionsästhetik bereits Ende der 1980er Jahre forderten45, und wie es neuerdings Birgit Meyer u. a. zum Programm erheben46. Die Kategorie „heilig“ kann m. E. nur sinnvoll in spezifischen Diskurs- und Handlungsfeldern analysiert werden. Zunächst gilt es zu fragen: Wer spricht über das „Heilige“ und „heilige Dinge“ zu wem, mit welcher Absicht, in welcher Semantik, in welchem historischen und kulturellen Kontext? Die Praxis im Umgang mit „heiligen Dingen“ folgt diskursiven Bedeutungszuweisungen. Gleichzeitig ist hier die ästhetisch-sensorische Dimension einzubeziehen, die wiederum auf sprachlich diskursiver Ebene zurückwirkt. Der Ethnologe Webb Keane schlägt vor, mit dem Konzept der „semiotischen Ideologie“ zu operieren. Im Rahmen seiner Feldforschung auf der indonesischen Insel Sumba verglich Keane den Geist-Materie-Dualismus in seiner holländisch kalvinistischen Ausprägung mit traditionellen, indigenen Auffassungen von Geist und Materie. Die zugrundeliegenden semiotischen Ideologien, wie er es nennt, transportieren Vorannahmen über Wörter und Dinge, über Menschen und Handlungsmacht (agency). Semiotische Ideologien fungieren as reflection upon, and an attempt to organize, people’s experiences of the materiality of semiotic form. Not only language, but also music, visual imagery, food, architecture, gesture, and anything else that enters into actual semiotic practice functions within perceptible experience by virtue of its material properties47.

Die Untersuchung semiotischer Ideologien verhilft zu Einblicken in Zuordnungsund Unterscheidungsprozesse: Was gehört zur Welt der Dinge, welche Ding-Hie45 46

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Hubert Cancik/Hubert Mohr, Religionsästhetik, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Vol. I., hg. v. Hubert Cancik / Burkhardt Gladigow / Matthias Laubscher, Stuttgart 1988, 121–156. Birgit Meyer u. a., The origin and mission of material religion, Religion 40 (2010), 207–211; Dick Houtman / Birgit Meyer, Introduction. Material religion ― how things matter, in: Things. Religion and the Question of Materiality, hg. v. Dies., New York 2012, 1–23; Peter J. Bräunlein, Thinking Religion through Things. Reflections on the Material Turn in the Scientific Study of Religion, Method and Theory in the Study of Religion, 2015 [DOI 10.1163/15700682-12341364, forthcoming]. Webb Keane, Christian Moderns. Freedom and Fetish in the Mission Encounter, Berkeley u. a. 2007, 21.

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rarchien und Klassifikationen sind vorherrschend, welche symbolische und affektive Wirkungen entfalten außerordentliche (oder gewöhnliche) Dinge? In vergleichbare Richtung zielen die Vorschläge des Religionswissenschaftlers Robert Yelle, der Vorgänge der Semiose, also den Zusammenhang von Zeichen, Objekt und (Be-)Deutung im religiösen Feld in den Mittelpunkt rückt48. Er verknüpft dabei sprachwissenschaftliche, historische und kulturwissenschaftliche Methoden und Modelle. Der analytische Blick auf Sprachverständnis und Sprachverwendung richtet sich dabei auch auf die eigene Wissenschaft. Erkennbar werden der enge Zusammenhang von Religionsgeschichte und Wissenschaftsgeschichte und zudem die politischen Folgen von linguistischen Ideologien. So zeigt Yelle am Beispiel der „Säkularisierung“ Indiens, genauer von Hindu-Recht, Ritual und Mythologie, wie sich kolonialer Diskurs und protestantische Sprachideologie (des Literalismus und Ikonoklasmus) durchdringen49. In Folge dieses Modernisierungsvorgangs werden Hindu-Religionen nach christlichem Vorbild standardisiert. Hinter der Rezitation von Mantren werden lediglich sinnlose Wiederholungen erkannt, die vielgestaltige Hindu-Mythologie gilt als verbale Idolatrie und man reinigt das Hindu-Recht von religiös-rituellen Anteilen. Kultur- und geschichtswissenschaftlich erweiterte Semiotik, die Analyse der Kommunikation und Bedeutungsbildung durch sprachliche Zeichen, ist für Yelle hervorragend geeignetes Instrument religionswissenschaftlicher Forschung. Gleichzeitig sind religiöse Semiotiken Forschungsgegenstand, da sie im Zug von Säkularisierungsvorgängen als starke Ideologien wirken. Zudem bietet sich die historische Analyse religionswissenschaftlicher Semiotiken an, wenn es um „heilige Dinge“ geht. Unterschiedliche Inkarnationslehren, Ikonoklasmus, Fetischismus-, Idolatrie- und Magievorwurf, Phänomene europäischer Christentumsgeschichte also, haben Spuren in der religionswissenschaftlichen Geringschätzung des Materiellen hinterlassen. Auch hier wirkt hintergründig eine protestantische Sprachideologie, die hierarchisiert, modellbildend wirkt und interpretiert entlang von DiesseitsJenseits, Innerlichkeit-Äußerlichkeit, Körper-Geist, Geist-Materie, Subjekt-Objekt. Ihre Offenlegung ist der erste Schritt auf dem Weg zur Erschließung materieller Religion. Selbstredend sind Theoreme wie Posthumanismus, New Materialism, New Animism oder die Akteur-Netzwerk-Theorie eines Bruno Latour als semiotische Ideologien zu betrachten, die Dinge und ihre Handlungsmacht in neuem Licht

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Robert A. Yelle, Artikel „Semiotics“, in: The Routledge Handbook of Research Methods in the Study of Religion, hg. v. Michael Stausberg / Steven Engler, London 2011, 355–365; Ders., The Language of Disenchantment. Protestant Literalism and Colonial Discourse in British India, New York 2013; Ders., Semiotics of Religion. Signs of the Sacred in History, London 2013. Den Hinweis auf die Arbeiten von Robert A. Yelle verdanke ich der keynote von Anne Koch „Religionsästhetik jenseits der Massendinghaltung“, auf der Tagung der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft, September 2013. Vgl. https://www.academia. edu/6138179/Keynote_Religionsästhetik_jenseits_der_Massendinghaltung (aufgerufen am 22.10.2015). Yelle, The Language of Disenchantment (wie Anm. 48).

Was ist uns heilig? Kulturwissenschaftliche Anmerkungen zu „sakralen“ Dingen

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erscheinen lassen und Beziehungen offen legen, die vorher unsichtbar (oder gar inexistent) waren50. Zu beachten gilt grundsätzlich, was Friedrich Tenbruck so formulierte: Wo immer […] die Religionswissenschaft die moderne Religion untersucht, da hat sie es in wachsendem Maße mit ihren eigenen Wirkungen auf ihr Objekt zu tun. Indem die Religion ihre Unabhängigkeit einbüßte, verlor die Religionswissenschaft ihre Grundlage, weil sie die Lage und den Wandel der Religion nurmehr begreifen und erklären kann, wenn sie ihren eigenen Einfluss darauf einberechnet51.

Die Reflexion von semiotischen Ideologien in Anlehnung an Webb Keane und Robert Yelle ist m. E. ein hilfreicher Weg zur Einsicht, dass die Beschäftigung mit Dingen nichts ist, was neben Texten, Glaubenssätzen und letztgültigen Wahrheiten irgendwie zusätzlich in den Blick genommen werden kann. Die Welt der Dinge ist vielmehr untrennbar mit Religion verbunden52. Oder mit den Worten Webb Keanes ausgedrückt: „Religions may not always demand beliefs, but they will always involve material forms.“53 Konsequenzen dieser Einsicht stellt auf theoretisch und methodisch höchst inspirierende Weise Caroline Walker Bynum vor, in ihrer Studie Christian Materiality (2011) und, zusammengefasst, in dem Aufsatz „The Sacrality of Things. An Inquiry into Divine Materiality in the Christian Middle Ages“ (2012)54. Angeregt durch den „material turn“55, werden wunderwirkende Objekte aus der Tradition des Christentums in den Blick genommen; heilige Dinge also, die über „Macht“ verfügen und agency entfalten. Für die Historikerin Bynum ist Sakralität von Dingen selbstredend ein Effekt von Zuschreibung und ritueller Aktivität, also etwas Hergestelltes. Doch auf welche Weise kommt „Macht“ in das Objekt? Wie und warum können Dinge weinen und bluten? Funktionalistische, soziologische, sozialpsychologische, kunsthistorische, bild- und kognitionswissenschaftliche Erklärungsversuche sind allesamt wertvoll und ergänzen sich gegenseitig, doch übersehen werde dabei, so Bynum, ein zentraler Aspekt, jener von Materialität. The most intense devotion to and anxiety about representations of the holy did not, in the western Christian tradition, accrue around images at all but around relics (pieces of holy people that became central to cult) and around sacraments and sacramentals (materials, such as water,

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Dazu Bräunlein, Thinking Religion through Things (wie Anm. 46). Friedrich H. Tenbruck, Die Religion im Maelstrom der Reflexion, in: Religion und Kultur. Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie [hg. v. Jörg Bergmann u. a.] 33 (1993), 31–67, hier 35. So bei Meyer u. a., The origin and mission (wie Anm. 46), 209. Webb Keane, The evidence of the senses and the materiality of religion, Journal of the Royal Anthropological Institute (N. S.), Supplement 14 (2008), 110–127, hier 124. Caroline Walker Bynum, Christian Materiality. An Essay on Religion in Late medieval Europe, New York 2011; Dies., The Sacrality of Things. An Inquiry into Divine Materiality in the Christian Middle Ages, Irish Theological Quarterly 78,1 (2013), 3–18. Zur Entwicklung des material turn in den Geistes- und Naturwissenschaften siehe Peter J. Bräunlein, Material Turn, in: Dinge des Wissens. Die Sammlungen, Museen und Gärten der Universität Göttingen, hg. v. Georg-August-Universität Göttingen, Göttingen 2012, 30–44.

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Peter J. Bräunlein oil, rings, staves, and bread, that conveyed a power they did not ‚depict,‘ in the sense of having similitude to, but rather ‚represented,‘ in the sense of making present)56.

Bynum räumt somit der Frage nach Materialität erste Priorität ein und verweist am Beispiel der Eucharistie auf vier zentrale Problemfelder, die sich aufdrängen, wenn man über die Vermengung des Göttlichen mit dem Materiellen nachdenkt. Damit befasst sind nicht nur Religionshistorikerinnen der Gegenwart, sondern auch Menschen im Mittelalter. Problemfeld 1 berührt den Anthropomorphismus bzw. fehlenden Anthropomorphismus von heiligen Dingen. Der inkarnierte Gott und die Dinge, die eben diesen Gott vergegenwärtigen sollen, sind denkbar unähnlich. Die Behauptung, Brot und Wein sind Fleisch und Blut Christi wirkt höchst irritierend, und unterstreicht den nicht-anthropomorphen Charakter der Eucharistie. Dies wiederum stellt jede Form von Generalisierung in Frage, die die Rolle des Anthropomorphismus bei der Herausbildung von sakralen Objekten betont. Problemfeld 2 ergibt sich aus der Untersuchung der Konsekration als „das“ zentrale christliche Ritual, durch welches das Heilige in Materialität überführt wird. Die Transsubstantiation, sowohl die Rolle des Priesters wie auch die Natur des Vorgangs, wurde im Mittelalter intensiv und ängstlich debattiert. Hier findet sich eine Quelle von Autoritätskritik, die sich zuspitzt, wann immer sich Christus „unvermittelt“ zeigt, etwa in blutenden (nicht konsekrierten) Hostien (z. B. das Wilsnacker Blutwunder). „Divine materiality“ entzieht sich mitunter der Kontrolle durch den Klerus und birgt Kirchenkritik in sich. Problemfeld 3 umkreist ein generelles Thema des Religionsvergleichs, nämlich das Verhältnis von professionell reflektierter Religion, in diesem Fall mittelalterliche Theologie, und Frömmigkeitspraxis, z. B. Wallfahrtskulte. Die Lehre von der Transsubstantiation geht davon aus, dass es keiner Wunder bedarf. Unsichtbarkeit garantiert die göttliche Gegenwart. Die Sichtbarwerdung des Göttlichen durch ein Wunder erforderte nachträglich komplizierte theologische Erörterungen, die für das populäre Verständnis wenig relevant waren. Das wiederum zieht für die religionshistorische Rekonstruktion Schwierigkeiten nach sich, zumal Historiker have felt that they need texts in order to understand objects. The gap between late medieval theological analysis of transformation miracles and the fact of such miracles complicates such assumptions. Whether or not exposure to the doctrine of transubstantiation led some people to assume or to doubt that God would appear in the matter of Eucharist […], doctrine and theological explication of it are clearly not the explanation for the events or the piety surrounding them57.

Das heißt, anders ausgedrückt, Frömmigkeitspraxis und theologische Erläuterung sind nicht deckungsgleich, die Theologie ist nicht die treibende Kraft hinter Wundererscheinungen. Somit wird die Frage virulent, „why particular holy objects

56 57

Bynum, The Sacrality of Things (wie Anm. 54), 8. Ebd., 15.

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come at certain periods and places to manifest, or spill out in visible ways, the divinity they possess or convey.“58 Problemfeld 4 ist mit dem Verstehen des Einwohnens des Göttlichen im Materiellen befasst, im Allgemeinen wie im Speziellen. Bynum wehrt jeden Ansatz von Monokausalität ab. Weder politische, ökonomische, theologische oder gehirnphysiologische Erklärungen sind für sich allein überzeugend. Die Signifikanz spezifischer „heilige Objekte“ kann nur im jeweils spezifischen historischen und kulturellen Kontext erläutert werden. Dennoch, und gleichzeitig, ist ein Verstehen von „divine materiality“ nur mit Blick auf den generellen Sinn für „materiality, nature, and the cosmos“, wie sie die jeweilige Kultur entwickelt, möglich. We cannot understand religious attitudes to matter – that is, special material revelations of the divine – unless we look at attitudes toward matter more generally. […] [H]oly matter is always a window not just into the divine but also into the material universe59.

Hintergrund von Bynums Überlegungen ist das Problem des Religionsvergleichs und verallgemeinernde Annahmen über Kultobjekte in anderen Kulturen. Der generelle Stellenwert des „aniconic and noniconic material divine“ ist bedeutsam, gleichzeitig befremdlich und erklärungsbedürftig. Das von ihr vorgestellte Beispiel der Eucharistie im Christentum ist deswegen besonders erhellend, weil deutlich wird, wie zentral die christliche Idee von der Transsubstantiation für das westliche Weltverhältnis ist, sowohl für Wissenschaft wie für den Common Sense. Unser Verständnis von Geist und Materie, unsere Beziehungen zu Dingen, unsere Hoffnung auf Dinge und unsere Furcht vor ihrer Macht, all dies hat einen Vorlauf, der eng mit dem Stellenwert von sakralen Objekten im Christentums verbunden ist. So liest man Bynums Texte mit mehrfachem Gewinn. Zum einen als Fallbeispiel von „divine materiality“, das die christliche Prägung ontologischer Kategorien (westlichen Denkens) illustriert. Zum anderen als Lehrstück in Sachen methodisch sorgsam reflektierter Religionsgeschichte (am Beispiel der Eucharistie). Meine Hinweise auf Webb Keane, Robert A. Yelle und Caroline Walker Bynum sollen die Aufmerksamkeit für Worte, Zeichen, Dinge, Materialität und die Voreingenommenheiten der eigenen Wissenschaft schärfen, um gleichzeitig damit das Verständnis für die Bedeutung von materieller Religion zu fördern.

58 59

Ebd., 16. Ebd., 16.

WIE WIRD EIN DING HEILIG? Roger Thiel Titel und Motto unserer Tagung haben mich zu der Frage veranlasst, die meinen Vortrag leitet. Zumindest die eine Hälfte des Titels Heilige und geheiligte Dinge ebenso wie Durkheims Unterscheidung von Heiligem und Profanem – „Heilige Dinge sind, was die Verbote schützen und isolieren. Profane Dinge sind, worauf sich diese Verbote beziehen und die von den heiligen Dingen Abstand halten müssen“1 – zeigen an, dass jemand oder etwas gehandelt haben oder handeln muss, damit ein Ding heilig, das heißt zu einem geheiligten Ding, wird: Ein Ding ist also nicht per se heilig, sondern wird erst heilig durch den Akt der Heiligung. Dieser Akt der Heiligung ist der Ausschnitt aus dem Kosmos des Profanen, und das heißt: Erst nach der Entscheidung und Unterscheidung kann es etwas geben wie Heiliges, also etwas anderes als das Normale, auf dessen Grund oder Hintergrund das Besondere erst sichtbar wird. Nun könnte man sofort fragen: Wer (oder was) ist überhaupt autorisiert, den Akt der Entscheidung, Unterscheidung und also Heiligung vorzunehmen? Wer (oder was) ist überhaupt autorisiert, einen solchen fundamentalen Akt, der auch noch Geltung beansprucht, auszuführen? Und um was für einen Akt handelt es sich dabei? Einen Sprachakt (Deklaration, Performanz)? Diese Fragen führen unweigerlich zu der Frage meines Vortrags, also: Wie wird ein Ding heilig? Bevor ich mich konkret diesen Fragen widme, möchte ich noch ein paar Bemerkungen und Charakteristika a) zu den Dingen und b) zum Heiligen skizzieren, die zur Klärung dieser Fragen unerlässlich sind. Zunächst zu Dingen. Nähert man sich in einer Beschreibung den Dingen, Objekten oder Gegenständen, empfiehlt es sich, mit einigen Kontrastbestimmungen zu beginnen, die es nicht erst gibt, seit ein „kulturwissenschaftlicher Ding-Turn“2 den breiten Fächer auf diesem Gebiet entfaltete. Phänomenologisch betrachtet, könnte man mit Vilém Flusser sagen, dass wir in zwei Welten leben: in der Welt der Natur der gegebenen Dinge und der Kultur der zuhandenen oder informierten Dinge. Die gegebenen Dinge der Natur verwandelt der Mensch unter Einsatz von Arbeit und ‚Werk‘zeugen in Dinge des Gebrauchs. Die Rede von der Zuhandenheit der Dinge – das Um-zu des Zeugs – haben wir Martin Heidegger zu verdanken, der sie von seinem opus magnum Sein und Zeit (1927) an und besonders in seinen Reflexionen zu Kunst und Technik beständig wiederkehren lässt. Im Wintersemester 1935/36 widmet er der Thematik eine ganze Vorlesung, die unter dem Titel Die Frage nach dem Ding herausgekommen ist – eine Frage, deren einen Pol Hartmut Böhme als „fast eine Kinder1 2

Émile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt am Main 1994, 67. Cornelia Vismann, Eigene Rechte für Dinge?, in: Die Wiederkehr der Dinge, hg. v. Friedrich Balke / Maria Muhle / Antonia von Schöning, Berlin 2011, 129–145, hier 131.

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Roger Thiel

frage“ apostrophiert, während der andre Pol eine Augustinische Frage-Dignität aufweise3. In ihr zeigt Heidegger, dass die Flusser’sche Unterscheidung bereits eine des griechischen Denkens (Aristoteles) war und dort als „1. tà physiká – die Dinge, sofern sie von sich aus aufgehen und hervorkommen; 2. tà poioúmena – die Dinge, sofern sie durch Menschenhand, handwerklich, hergestellt sind und als solche dastehen“4, bestimmt wurde. Bei seiner Frage nach dem Ding fällt Heidegger zudem auf: Das, was das Wesen des Dinges in seiner Bedingtheit bedingt, kann selbst nicht mehr Ding und bedingt, es muß ein Un-bedingtes sein. Aber auch das Wesen des Unbedingten bestimmt sich mit durch das, was als Ding und Bedingung angesetzt wird. […] Ob das Unbedingte über oder hinter den Dingen gesucht wird oder in ihnen, das hängt davon ab, was man als Bedingung und Bedingtsein versteht5.

Das hatte Nietzsche radikaler gesehen. Für ihn ist sie Frage nach einem Unbedingten der Dinge bedeutungslos, da es für ihn nichts Unbedingtes gibt. Und deshalb kann Christoph Asendorf resümieren: Ein Ding ist nur in Relationen, als Kombination von Eigenschaften und in Beziehung auf andere Dinge vorhanden: es existiert in und aus seinen Bedingungen, es gibt also nichts ‚Unbedingtes‘. Für Nietzsche ist ein Ding ohne Eigenschaften, also Kants Ding an sich, eine müßige Annahme: Erkenntnis setzt Bedingungen, so daß folglich das Unbedingte nicht erkannt werden kann, einfach weil es nicht greifbar ist […] – es ist nicht gegen-ständlich6.

Und für Michel Serres sind die Dinge kommunikationsstiftende Medien, denn „[…] die Beziehungen zwischen den Menschen verlaufen über die Dinge, unsere Beziehungen zu den Dingen verlaufen über die Menschen […].“7 Die Dinge sind in der Umgebung des Menschen – so auch Vilém Flusser – seine Be-Dingung. Diesem ‚Faktum‘ der Dinge sieht er am Ende ihrer Geschichte – und also der unsrigen – folgendes ‚Fatum‘ an: Da der Mensch die von ihm produzierten Dinge weder in Ruhe lässt, noch sie restlos aufzehren kann, verwandelt er sie in Abfall – und produziert damit die ‚dritte Welt‘, die schließlich wieder in Natur versinkt: Ein vitiöser Zirkel, aus dem man allerdings herausspringen kann, wenn man über „unverbrauchbare, unvergessliche Informationen verfügen“8 würde. Tatsächlich gibt es die. Es sind allerdings keine Dinge mehr, sondern Undinge, die die Dinge zuerst schrumpfen machen und schließlich dem Menschen das Interesse an den Dingen rauben. „Da er an Dingen nicht interessiert ist, hat er keine Probleme. Er hat stattdessen Programme.“9 Das Resultat ist, dass alle Dinge wertlos werden, weil alle Werte sich in Informationen verschieben. ‚Umwertung aller 3 4 5 6 7 8 9

Hartmut Böhme, Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg 2006, 35. Martin Heidegger, Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den metaphysischen Grundsätzen, Tübingen 21975, 53 f.; vgl. auch 63. Ebd., 36. Christoph Asendorf, Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900, Gießen 1989, 48. Michel Serres, Der Naturvertrag, Frankfurt am Main 1994, 25. Vilém Flusser, Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen, München/Wien 1993, 85. Ebd., 84.

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Werte‘ ist die Formel für die von Informationen beherrschte Menschheit. Dieser Pessimismus Flussers beleuchtet aber nur die eine Seite der Ding/Unding-Medaille –: Flusser konnte zum Zeitpunkt seiner Überlegung noch nicht die Hochkonjunktur der Dinge erahnen, die kurz nach seinem Tod einsetzte und die Dinge (erneut) zu einer enormen Qualität um- bzw. aufwertete. Aus dem riesigen Kosmos der Unterscheidungen und Definitions- und Redefinitionsbemühungen mit Blick auf Objekt und Ding möchte ich nur kurz einige Kernunterschiede skizzieren. Ein Objekt ist als relationaler Begriff immer an sein Komplement, das Subjekt, gebunden10. In diesem Begriffspaar schwingt stets eine Erkenntnisbeziehung mit: erkennendes Subjekt, erkanntes Objekt – und daraus folgernd mit einem schönen Wort Walter Seitters, ein „Erkenntnispolitikzusammenhang“. Bei den Dingen hingegen rangiert vor der Erkenntnis die Erfahrung: „Dinge werden erfahren, bevor sie erkannt werden“11, schreibt Gustav Roßler in Anlehnung an John Deweys Die Suche nach Gewissheit (2001). Gerade die mit den Dingen zu machende Erfahrung hat jene nicht nur wiederkehrenden, neuen Dinge – die unter Namen wie Quasi-Objekte, Grenz-Objekte, Hybride, epistemische Dinge, non-humans, faitiches etc. in den Diskursen von Ethik, Anthropologie, Religionswissenschaft und Kulturwissenschaft flottieren – entstehen lassen, sondern zudem das Unding-Regime der Information, das Flusser diagnostizierte, durchkreuzt. In der neuen soziologischen und ethischen Theorie Bruno Latours etwa spielt die strikte Trennung zwischen Subjekt und Objekt keine Rolle mehr; in seinen „Operationsketten“ ist vielmehr das Kollektiv – das vielbeschworene Parlament der Dinge – aus „Menschen und nicht-menschlichen Wesen“ zentral, die auf ein anderes politisches Regime [verweisen], als es der uns von der Aufspaltung zwischen Subjekt und Objekt aufgezwungene Krieg darstellt. Ein nicht-menschliches Wesen ist demnach die Friedensversion des Objekts […] Durch das Begriffspaar menschlich/nicht-menschlich soll die Subjekt/Objekt-Dichotomie nicht ‚überwunden‘, sondern vollständig umgangen werden.

– so Latour in Die Hoffnung der Pandora12. Nicht-menschliche Wesen sind Dinge im Grimm’schen Verstand. Wilhelm Grimm „begreift“ im Deutschen Wörterbuch das Wort ‚Ding‘ „in der weitesten, unbegrenzten bedeutung, [wo] es ebenso das sinnlich bemerkbare, als das Übersinnliche, das Gedachte“13 bedeutet. Seit die Gerichtetheit der Opposition von Subjekt und Objekt aufgehoben ist und Dinge in quasi-subjektiver Weise aktiv in das ‚Spiel‘, wenn nicht als Akteure, so doch als Aktanten (B. Latour) eingreifen (Ak10

Vgl. Gustav Roßler, Kleine Galerie neuer Dingbegriffe: Hybriden, Quasi-Objekte, Grenzobjekte, epistemische Dinge, in: Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen, hg. v. Georg Kneer / Markus Schroer / Eberhard Schüttpelz, Frankfurt am Main 2008, 76–107, hier 78. 11 Ebd. 12 Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt am Main 2002, 378. 13 Reiner Ruffing, Bruno Latour, Paderborn 2009, 9. Und so das Zitat auf dem Klappentext von: Bruno Latour, Von der Realpolitik zur Dingpolitik, Berlin 2005.

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teur-Netzwerk-Theorie); seit die Dinge das Subjekt (oder das Leben, das Dasein) ‚in-formieren‘, muss gefragt werden: Wie ist das möglich und wodurch? Warum haben die Dinge stets und/oder immer wieder Konjunktur? Wie konnten gar die Dinge taxonomisch mit den Subjekten gleichgestellt werden, einen Bereich erobern, der – jedenfalls diskursiv bis zum Aufkommen der Psychoanalyse – den Subjekten vorbehalten war? Wie ist dies ‚Skandalon‘ möglich? Bevor ich auf diese zentralen Fragen zurückkomme, möchte ich – wie oben angekündigt – noch einigen Markierungen des Heiligen nachgehen. Einen Anknüpfungspunkt finden wir bei dem oben genannten Text von Vilém Flusser. Bei allem Negativen eignet den Flusser’schen Undingen – also den Programmen des Computers – ein doppeltes Ausgezeichnetes: Sie sind zugleich „flüchtig, ewig und unvergeßlich“14 und „unbegreiflich“15 – und diese Epitheta sind nun wiederum Definitions-Parameter in einem Diskurs, der um das Undarstellbare kreist, das aber gerade zur Darstellung drängt und dazu einer ‚materiellen Matrix‘ bedarf: nämlich im Diskurs um das Heilige. Rudolf Otto folgte dem lateinischen Doppelsinn von numen als ‚Wille‘ und ‚Wink‘ und siedelte „das als numinos verstandene Heilige an der Grenze zwischen Wesenhaftigkeit und Zeichenhaftigkeit an, indem er es etwa im ‚Reflex des numinosen Objektgefühls im Selbstgefühl‘ oder in den ‚Ausdrucksmitteln des Numinosen‘ untersuchte.“16 Das Heilige sei nicht nur eine religionsphilosophische Kategorie, sondern eine, so Otto, „Kategorie rein a priori.“17 Und dies, obwohl sie eine Kategorie aus den zusammengesetzten Momenten des Rationalen und des Irrationalen ist – wie ja der Untertitel des Buches von Otto nahelegt (Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen). Auch ist diese Kategorie keineswegs „logisch notwendig“18 – was beweist, das „zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Analyse des religiös Irrationalen durchaus darauf abzielen [konnte], die Zurechnungsfähigkeit der Irrationalität als einer eigenständigen Erkenntnisweise darzulegen.“19 Dem Numinosen, dem ‚Ganz Anderen‘ – dessen Erscheinungsweisen und deren Analogien Otto in vielfältigen „Momenten“ nachgeht – eignet noch eine weitere Oppositionsbestimmung: die der „Kontrastharmonie“ des „Mysterium tremendum et fascinans“ (also des „Schauervollen, der schlechthinnigen Unnahbarkeit“ und der Verlockung, der Attraktion), die Otto als „das seltsamste und beacht-

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Flusser, Dinge und Undinge (wie Anm. 8), 86. Ebd., 81. Stefan Willer, numina = nomina. Zur Lehre von den Götternamen um 1900, in: Namen. Benennung – Verehrung – Wirkung. Positionen der europäischen Moderne, hg. v. Tatjana Petzer u. a., Berlin 2009, 17–30, hier 17. Die im Zitat angeführten Zitate sind Kapitelüberschriften in Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen (1917), München 2004, 8 und 79. 17 Otto, Das Heilige (wie Anm. 16), 137. 18 Ebd., 165. Irrational deshalb, weil alle Begriffe, mit denen er das Phänomen des Heiligen einkreist (mysterium, termensum, mirum, numinos etc.) seinem eignen Religionsverständnis widersprechen, denn: „Als das ‚ganz Andere‘ entzieht es sich aller Sagbarkeit.“, 76. 19 Willer, numina = nomina (wie Anm. 16), 28.

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lichste Vorkommnis überhaupt in der Religionsgeschichte“ apostrophierte20 und die Sigmund Freud in seiner Studie Das Unheimliche von 1919 „Gefühlsambivalenz“21 nannte und sie als vom Unheimlichen verursachte Bestimmung herausstellte. Auch Otto koppelt sie in signifikanter Weise an das Unheimliche, ja mehr noch: „von diesem irgend wann einmal in erster Regung durchgebrochenen Gefühle eines ‚Unheimlichen‘, das fremd und neu in den Gemütern der Urmenschheit auftauchte, ist alle religionsgeschichtliche Entwicklung ausgegangen“22; es sei dies ein „aus keinem andern Gefühle abgeleitetes […] qualitativ einzigartiges originales Gefühl, ein Urgefühl“23, das auch nicht mit der Geburt der Religion aus der Urangst zu verwechseln sei, wie von Vico über Durkheim, Frazer, Blumenberg bis Odo Marquardt und Gunnar Heinsohn quer durch die unterschiedlichsten Disziplinen immer wieder angenommen wurde und wird24. Die so von Otto umkreiste „Kategorie rein a priori“, dieses „seltsamste und beachtlichste Vorkommnis überhaupt in der Religionsgeschichte“, ja, eine Kategorie, „von der alle religionsgeschichtliche Entwicklung ausgegangen sei“ – Lesarten wie diese setzen sich der Kritik aus, weil sie „den Urquell des Religiösen, das Heilige, vom Blut der Gewalt freihalten wollen“25. In dieser Tradition sei das Heilige, so Hartmut Böhme, eine Versöhnungsideologie, die das wirklich Schreckliche nur in der gezähmten Form zulässt, dass es das Faszinosum und das Augustum um das Tremendum komplettiert, mit dem hübschen Nebeneffekt, dass dieser Schrecken nicht einmal von ‚uns Menschen‘ ausgeht, sondern dem Heiligen objektiv innewohnt und von uns in pathischer Betroffenheit nur gespürt wird. Niemals sind wir dabei Subjekt des Schreckens. Das Heilige à la Otto also wäre eine grandiose Selbstentlastungs-Strategie.26

Was eben von Rudolf Otto über Gerardus van der Leeuw bis zu Hermann Schmitz unterschlagen werde, sei, dass der Mord „ein eminent gemeinschaftliches und gemeinschaftsstiftendes Ereignis“27 ist. Die Theorien der Religionsentstehung von Freud über Roger Caillois und Georges Bataille bis hin zu René Girard hätten dagegen immer wieder verdeutlicht: „gemeinschaftlicher Mord und mithin das Opfer stehen am Beginn der Religion.“28 Die von Böhme vorgebrachte Kritik kann man aber wiederum einer Kritik unterziehen, die sich an der Frage orientiert: Warum 20 21 22 23 24 25 26 27 28

Otto, Das Heilige (wie Anm. 16), 42. Vgl. Renate Schlesier, Das Heilige, das Unheimliche, das Unmenschliche, in: Das Heilige. Seine Spur in der Moderne, hg. v. Dietmar Kamper / Christoph Wulf, Frankfurt am Main 1987, 99–113, hier 107. Otto, Das Heilige (wie Anm. 16), 16. Ebd., 59 f. Vgl. Christoph Jamme, „Gott an hat ein Gewand“. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart, Frankfurt am Main 1991, 88 ff. Hartmut Böhme, Oblique Annäherung an das Heilige aus dem Geist der Gewalt, in: Noch eine Chance für die Religionsphänomenologie?, hg. v. Axel Michaels / Daria Pezzoli-Olgiati / Fritz Stolz, Frankfurt am Main u. a. 2001, 191–213, hier 203. Ebd. Ebd., 195. Ebd.

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aber der gemeinschaftliche und -stiftende Mord und das Opfer? Diese Frage beantwortet Gunnar Heinsohn, der zeigt, dass erst unter Berücksichtigung der Kataklysmen der Antike die religiösen Vorgänge durchschaubar [werden]. Weder durch Angriff oder Flucht noch durch Verhandlung konnten die Menschen auf die ungeheuren Ereignisse der Bronzezeit reagieren. Ihre maßlose Panik wurde traumatisierend in sie zurückgestoßen, äußerte sich als lähmende Starre oder unkontrollierter Aggressionsausbruch. In dieser Situation fanden die Kühnsten zu den Ritualen und wurden so zu den ersten Priestern. Wie Kleinkinder ließen sie ganze Gemeinwesen die überwältigenden Eindrücke heilend abspielen29.

Für die Wiedererlangung des seelischen Gleichgewichts wurde die Aggressionsabfuhr durch Mord praktiziert. Die Erlösungstat hatte allerdings einen Preis: das Schuldgefühl, durch das dann die Opfer erhöht und angebetet wurden. Ich folge dem so genau, weil am Heiligen etwas auffällt, das nicht immer in den Kategorien der Theologie oder Religionswissenschaft verhandelt wurde – sondern z. B. als ‚Spezialfall‘ der Ästhetik und seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Mediengeschichte und Affektanthropologie. Denn, wie gezeigt, handelt es sich beim Heiligen um „Ausdrucksformen des maximalen inneren Ergriffenseins“30 – eine Formulierung, die ich von Aby Warburg entlehne, der sie zur Erläuterung seiner Pathosformeln prägte. An all diesen Erregungsqualitäten des Numinosen und Heiligen sind nämlich unzweifelhafte Allusionen auf und Allianzen mit dem Erhabenen abzulesen. Schon Rudolf Otto hatte dies nicht übersehen31. Und auch Hartmut Böhme entdeckt eine Beziehung zwischen dem Heiligen und dem Erhabenen, ja mehr noch: Er verweist auf deren Verwandtschaft, den Ursprung des Erhabenen aus dem Heiligen: Auffällig ist, daß bei Kant die Ästhetik des Erhabenen zu einem Teil der Ästhetik der Natur wird – in der bemerkenswerten Form jedoch, daß nicht die Natur selbst als erhaben zu gelten habe, sondern jene Effekte im Subjekt, die durch die große oder mächtige Natur ausgelöst werden und durch welche das Ich seiner unangreifbaren Intelligibilität inne wird. Dies ist Kants Pointe. Die traditionellen Formen des Erhabenen spielen dagegen keine grundlegende, ja nicht einmal eine expositorische oder exemplarische Rolle. Das Heilige etwa, das in seiner Doppelgestalt als Tremendum und Fascinosum genetisch vielleicht den Ursprung des Erhabenen ausmacht, ist für Kant kein Paradigma mehr; ebenso wenig die Majestät Gottes, der in seiner unerreichbaren Superiorität einst eine erhabene Figur darstellte32.

Gerade aber das „maximale innere Ergriffensein“ angesichts unfassbarer und inexplikabler Natur wird von Kant (KdU) wieder diskreditiert – wofür ihn Theoretiker 29

Gunnar Heinsohn, Die Erschaffung der Götter. Das Opfer als Ursprung der Religion, Reinbek bei Hamburg 1997, 10. 30 Aby Warburg, Einleitung zum Mnemosyne-Atlas, in: Die Beredsamkeit des Leibes. Zur Körpersprache in der Kunst, hg. v. Ilsebill Barta-Fliedl / Christoph Geissmar, Salzburg/Wien 1992, 171–173, hier 171; vgl. dazu Ulrich Port, ‚Transformatio energetica‘. Aby Warburgs Bild-Text-Atlas Mnemosyne, in: 1929. Beiträge zur Archäologie der Medien, hg. v. Stefan Andriopoulos / Bernhard J. Dotzler, Frankfurt am Main 2002, 9–30. 31 Otto, Das Heilige (wie Anm. 16), 56 ff. 32 Hartmut Böhme, Das Steinerne. Anmerkungen zur Theorie des Erhabenen aus dem Blick des Menschenfremdesten, in: Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, hg. v. Christine Pries, Weinheim 1989, 119–142, hier 121.

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des Heiligen wie René Girard scharf kritisieren –: Die Vernunft ist der Große Widerstandskämpfer, die Gegen-Gewalt gegen die Überwältigung des Erhabenen, gegen Furcht und Zittern und hält diese in einem „Pathos der Distanz“ fern, um noch einmal Aby Warburg mit Nietzsche zu bemühen. Erhaben ist für Kant nur diejenige sinnliche Freiheitsberaubung (der Einbildungskraft), die uns das Gefühl einer umso größeren Freiheit als übersinnliche Wesen zurückerstattet: Erhaben ist bei ihm – wie auch bei Schiller – der Widerstand gegen das, was vorher das Erhabene hieß. „Kants Philosophie ist in toto die Bewältigung der ungeheuren Erschütterung und Angst vor der Natur.“33 Denn: Der „Gestirnte Himmel über mir“ – Inbegriff des Erhabenen – korrespondiert mit „dem moralischen Gesetz in mir“. Genauer: Der Himmel wird nach der Bemeisterung durch Vernunft zu einer „Metapher für das absolut einzige, doch unsichtbare erhabene Universum überhaupt: das Sittengesetz.“ Ziel also ist: die „symbolische Selbstrettung des ethischen Heros.“34 Wo aber Otto diese ästhetische Kategorie mit Kant und dessen Dritter Kritik versuchen möchte zu begreifen und also „das Gefühl des Erhabenen durch Ähnlichkeit [mit dem] Numinosen“35 beschreibt, wäre eine Engführung mit einer Form des Erhabenen zu sehen, die zeitlich wesentlich früher angesiedelt ist und deren Kern nicht wie bei Kant auf Widerstand und vernunftgeleitete Bemeisterung und schließliche Überwindung dieses ‚Gefühls‘ zielt, sondern gerade die Überwältigung ist, die von ihm ausgeht. Die Rede ist hier von der Schrift Peri hypsous des (Pseudo-) Longinos, die aus der ersten Hälfte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts stammt36. Longins Arbeit ist zunächst die Reaktualisierung einer Theorie der Freiheitsberaubung durch Sprache und Leidenschaften. Sie wurde zuerst von Gorgias formuliert und fasst das Erhabene als Überwältigung. Der Clou ist nun, dass dies Erhabene als Überwältigung, als Freiheitsberaubung nicht negativ, sondern gerade positiv besetzt wird. Nach Longin übe das Erhabene eine „unwiderstehliche Macht (dynasteia) und Gewalt (bìa) aus“37. Das von Longin ins Feld geführte Begriffspaar ist mit Fug so gewählt, denn dynasteia bedeutet Macht im Sinne legitimer und vornehmer Herrschaft als auch die von Gewaltherrschaft; wie bei dynamis (Vermögen, Fähigkeit, Kraft und Gewalt) überwiegt die positive Variante. Bìa hingegen setzt den Akzent auf das Zwangausübende, Unterwerfende der Gewalt38. Was Longin am Erhabenen gerade bewundert, ist die „Ekstase“, in die es uns entlässt: Das Übergewaltige nämlich führt den Hörer nicht zur Überzeugung, sondern zur Ekstase; überall wirkt, was uns erstaunt und erschüttert, jederzeit stärker als das Überredende und Gefällige […]39.

33 34 35 36 37 38 39

Ebd., 125. Beide Zitate ebd., 126. Otto, Das Heilige (wie Anm. 16), 57. Pseudo-Longinos, Vom Erhabenen, Griechisch und Deutsch von Reinhard Brandt, Darmstadt 1983. Ebd., 29. Vgl. dazu Winfried Menninghaus, Zwischen Überwältigung und Widerstand. Macht und Gewalt in Longins und Kants Theorien des Erhabenen, Poetica 23 (1991), 1–19. Pseudo-Longinos, Vom Erhabenen (wie Anm. 36), 29.

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Und deshalb ist Longins Schrift geleitet von der Frage, ob es so etwas gäbe wie eine „Kunstlehre des Erhabenen oder (gar) des Pathos.“40 Die Frage, die nun meine Überlegungen leitet, ist die folgende: Worin besteht die Konjunktion der skizzierten Qualitäten von Dingen mit denen der ‚maximalen Ausdruckswerte‘ des Affektiven und Emotionalen, des Pathos und Überwältigenden, die ich in den Markierungen des Heiligen und Erhabenen herauspräpariert habe? Wie können Dinge erhaben oder heilig sein? Bei seinen Definitionsbestimmungen sakraler Objekte schreibt Karl Heinz Kohl: Sakrale Objekte stehen außerhalb der üblichen Kategorien. In der Ordnung der Dinge nehmen sie eine privilegierte Stellung ein. Unter allen materiellen Gegenständen kommt ihnen die höchste Rangstufe zu. Am nächsten stehen ihnen noch die Repräsentationsgüter. Die Übergänge sind bisweilen fließend. Im einen wie im anderen Fall handelt es sich um Zeichenträger41.

Und weiter: Da der Wert eines sakralen Objekts in einem ganz wörtlichen Sinn ‚unermeßlich‘ ist, wird ein bestimmter Gegenstand in der Regel auch unveräußerlich, sobald er erst einmal in diesen besonderen Rang erhoben worden ist. In der profanen Welt des Tausches hat er keinen Ort mehr42.

Und das heißt: Nobilitiert wird ein Ding zu einem heiligen Ding, wenn es jenseits der Tausch- und Ausstellungswerte rangiert, da es in seiner ‚Unermeßlichkeit‘ – nebenbei: wie die Programme oder Undinge bei Flusser und das Gefühl des Numinosen bei Otto – nicht gemessen und also nicht verglichen werden kann. Dominant wird der Kultwert. Und das heißt für Kohl kurioserweise: Sakrale Objekte unterscheiden sich von allen anderen Gegenständen durch ihre praktische Nutzlosigkeit, ihre Separierung von der Welt des Profanen, ihre reine Zeichenhaftigkeit und ihre Unveräußerlichkeit. Dabei handelt es sich nicht um Eigenschaften, die sich aus ihrer jeweiligen Substanz, Form oder auch Gestaltung ergeben. Vielmehr scheinen sie allein aus den besonderen Bedeutungen zu resultieren, die mit ihnen verknüpft werden43.

Und Kohls Überlegungen münden in die Frage: „Woher aber rühren die außergewöhnlichen Bedeutungen sakraler Objekte?“44 – eine andre Version der Frage: Wie wird ein Ding heilig? Dabei fällt ihm auf: Grundsätzlich kann jedes materielle Objekt als Repräsentant des Heiligen angesehen werden und als solcher Verehrung erfahren. Sein primärer Verwendungszweck stellt keine Einschränkung für seinen Gebrauch als Träger von sakralen Bedeutungen dar45.

Ein heiliges Ding figuriert also wie der Signifikant in der Zeichentheorie Saussures, der auf ein Signifikat – also seine Bedeutung – verweist. Der Verweisungszusam40 41 42 43 44 45

Ebd. Karl Heinz Kohl, Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte, München 2003, 152. Ebd., 153. Ebd., 154. Ebd. Ebd., 157.

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menhang der Zeichen ist aber arbiträr, also willkürlich – es sei denn die Motivation ist symbolischer Natur. Diesen tastenden Versuchen Kohls, sich dem heiligen Ding anzunähern, würde einer der führenden französischen Kulturanthropologen und Ethnologen – auf den Kohl sich auch beruft – teils widersprechen, teils zustimmen. Zustimmung würde die Charakterisierung des heiligen Dings als „praktisch nutzlos“, als „unveräußerlich“ finden; auch mit Blick auf die Unerheblichkeit des „primären Verwendungszwecks“ und die Unmöglichkeit der Bedeutungsableitung aus Form und Substanz des Objekts selbst stellen Konvergenzpunkte dar. Heftigen Widerspruch hingegen würde Kohls zeichentheoretische Einordnung des heiligen Dings als Signifikant und reines Symbol provozieren. Für die Ethnologie hat Claude Lévi-Strauss das Saussuresche Modell übernommen, und hier opponiert Maurice Godelier – denn um ihn und um eines seiner großen Werke Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke, heilige Objekte (1996)46 handelt es sich hier – aufs entschiedenste. In seinem Kapitel Vom Erhabenen – das sowohl Rudolf Otto als auch Longin nennt – gibt er den Zweck seiner Analyse der heiligen Objekte wie folgt an: Unsere Analyse gibt also in dem Spiel der sozialen Beziehungen den Emotionen, den Empfindungen und den Glaubensvorstellungen ihren Ort und ihren Sinn wieder und stellt sich gegen die von Levi-Strauss […]. Die Gefühlsregung vor einem heiligen Objekt ist nicht mysteriös, und sie ist kein Epiphänomen. Sie ist Teil desselben Ensembles; sie ist eine wesentliche Komponente davon, die nicht auftreten, nicht zum Tragen kommen kann, wenn man ein ‚Symbol im Reinzustand‘ sieht, einen Signifikanten, der sinnlos, aber ‚in der Lage ist, einen wie immer gearteten symbolischen Inhalt aufzunehmen‘47.

Godelier bedient sich des Begriffs des Erhabenen, weil er gerade nicht „den ‚ästhetischen‘ oder ‚künstlerischen‘ Charakter der heiligen Objekte, sondern die Emotion angesichts des heiligen Charakters dieser Objekte“48 im Blick hat. Godelier bedient sich des Begriffs des Erhabenen in „Ermangelung eines anderen“49, wie er sagt, und er ergänzt: „Vielleicht entspräche ihm der Begriff des Numinosen besser […].“50 Godelier hat also dem heiligen Ding – im Unterschied zum kostbaren Ding und der Gabe – ein Kraftwerk der Empfindungen, Emotionen und Affekte angesehen, das weder mysteriös noch ephemer ist, sondern wesentlich zum Menschen gehört. In verschiedenen Anläufen zeigt Godelier, was es ist und wie es kommt, dass bestimmte „Kräfte“ sich zu heiligen „Objekten materialisieren“51. Eine Lesart des Sakralisierungsprozesses hat zu tun mit dem Glauben an die Seele der Dinge: Der Glaube an die Seele der Sachen verstärkt die Personen und die sozialen Beziehungen, aber er vergrößert sie auch, weil er sie sakralisiert. Denn wenn die Dinge eine Seele haben, dann deshalb, weil übernatürliche Mächte, Götter oder Geister, die gewöhnlich unsichtbar sind, in

46 47 48 49 50 51

Maurice Godelier, Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke, heilige Objekte, München 1999. Ebd., 191. Zitate im Zitat: Claude Lévi-Strauss, Einleitung in das Werk von Marcel Mauss, in: Soziologie und Anthropologie, Bd. 1, hg. v. Marcel Mauss, Frankfurt am Main 1989, 7–41, hier 36. Godelier, Das Rätsel der Gabe (wie Anm. 46), 191. Ebd. Ebd. Ebd., 193. Hervorhebung im Zitat von Godelier.

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Roger Thiel ihnen leben und mit ihnen unter den Menschen zirkulieren, wobei sie sich bald an die einen, bald an die anderen heften, immer aber sie an sich binden52.

Diese relativ unspektakuläre Narration klingt beinahe wie eine Märchenepisode, läuft aber einem ersten Höhepunkt zu: Indem nun der Glaube an die Seele der Dinge zugleich die Objekte, die Personen und die Beziehungen sakralisiert, verstärkt und vergrößert er nicht nur eine Welt, er verändert ihren Charakter, ihr Aussehen und ihren Sinn. Er verwandelt sie53.

Die Metamorphose, die Godelier der so verstandenen Art der Sakralisierung ansieht, ist enorm: „Anstatt sich als Akteure zu erscheinen, erscheinen sich die Menschen als Betroffene.“54 Statt also die Objekte als Mittel zu begreifen, um etwas mit ihnen zu bewirken, werden Menschen von den Objekten ‚regiert‘: „Die Ursache wird zur Wirkung, das Mittel wird zum Agens, das Agens wird zum Mittel, und das Objekt wird zum Subjekt.“55 Godelier ist dieser Befund so wichtig, dass er ihn noch einmal eigens ‚zusammenfasst‘ und so akzentuiert: Die Kombination dieser soziologischen Basis, dieser Logik personalisierter sozialer Beziehungen, mit dem Glauben an Personen-Sachen produziert eine allgemeine Verwandlung der Wirklichkeit und führt dazu, daß die wirklichen Beziehungen, die in der Praxis existieren, im Denken umgekehrt werden56.

Und nun lässt Godelier die Quintessenz seiner Beobachtungen folgen, die bis in die Wortwahl hinein wie ein Echo der Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour klingt, die ich zuvor schon angesprochen habe: Die Objekte verwandeln sich in Subjekte und die Subjekte in Objekte. Es sind nicht mehr nur die Menschen, die aufeinander einwirken, die mittels der Dinge miteinander agieren, es sind die Sachen und die Geister, die sie beseelen, welche nunmehr mittels der Menschen auf sich selbst einwirken57.

– im ‚Parlament der Dinge‘, könnte man nahtlos anschließen. Im Kapitel Vom Erhabenen untersucht Godelier die Metapher von den „Geistern“, die die Dinge beseelen und die nun via Menschen Verkehr (Ding-Kommunikation) untereinander pflegen, genauer und präsentiert drei Markierungen. 1. Die abstrakteste der drei Bestimmungen bezieht sich auf die Beschaffenheit des heiligen Objekts, mit dem wir, so Godelier, an einem „äußersten Punkt“ stehen; dies deshalb, weil im heiligen Objekt eine Synthese aus dem Sagbaren und dem Unsagbaren, dem Repräsentablen und dem Irrepräsentablen verwirklicht sei, die eine notwendige Undurchsichtigkeit provoziere, die die Aufrechterhaltung und Reproduktion der Gesellschaft garantiere und die nicht Gefahr laufe, als die „für die Gesellschaft notwendige Aufrechterhaltung der Verkennung […] durchschaut zu werden.“58 52 53 54 55 56 57 58

Ebd., 151. Hervorhebungen im Zitat von Godelier. Ebd., 151 f. Hervorhebung im Zitat von Godelier. Ebd., 152. Ebd. Ebd. Hervorhebungen im Zitat von Godelier. Ebd. Ebd., 194.

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2. Was ist es nun, das sich in dem heiligen Objekt materialisiert? Hierauf antwortet Godelier so: Die Menschen finden sich schließlich an ein materielles Objekt veräußert wieder, das nichts anderes ist als sie selbst, aber ein Objekt, in dem sie selbst verschwunden sind, ein Objekt, in dem sie widersprüchlich und zwangsläufig in der Form der Abwesenheit anwesend sind59.

Die Entfremdung, auf die hier angespielt wird, entsteht im Innern eines jeden Einzelnen, weil sie ihre Quelle in den Beziehungen hat, die das soziale Wesen aller – also der Gesellschaft – bilden. 3. Schließlich sind also die heiligen Objekte jene „Synthese des Wirklichen und des Imaginären“, aus der das soziale Wesen des Menschen gemodelt sei und also mit dem größten symbolischen Wert ausgestattet. Ohne schön sein zu müssen, sind sie deshalb in der Lage, jene „Gefühlsbewegung“ zu provozieren, die „durch die Gegenwart der Götter und der Vorfahren erzeugt wird.“60 Nimmt man das bisher Skizzierte mit Blick auf Dinge einerseits, auf Menschen andrerseits zusammen, muss man Folgendes feststellen: Zunächst scheint es so zu sein, dass sich Kräfte (Götter, Geister und Dämonen) in heiligen Objekten materialisieren; sodann ist es der menschliche Glaube, der die Dinge sakralisiert und schließlich ist es die Seins- oder Ursprungsvergessenheit, die die abwesende Anwesenheit des Heiligen verstattet. Kann es aber sein, dass im Prozess der Sakralisierung des Dings, die Passivität des Menschen so dominant ist, dass er maximal via Glaube oder als Betroffener den Dingen und den in ihnen inkorporierten Geistern zur Zirkulation und zum Verkehr untereinander verhilft? Ist der Mensch im Sakralisierungsprozess aktiv nicht beteiligt? Im Gegenteil: Es sind also nicht die Objekte, welche die Gesamtheit oder einen Teil der Beziehungen der Menschen untereinander und zu der sie umgebenden Welt sakralisieren, es ist umgekehrt61.

Und zwar funktioniert die Sakralisierung der Dinge durch den Menschen so, dass die imaginären Kerne und Symbole der „wirklichen Beziehungen“62 zwischen Mensch und Mensch und zwischen Mensch und Welt auf die Dinge projiziert und in Material und Form inkorporiert werden. Allerdings sind die Mechanismen der Projektion und Verdinglichung (des Realen) dem Menschen nicht bewusst. Godelier schreibt: Sie (die Menschen) stehen vor Dingen, welche einen Namen und eine Seele, welche Kraft und Macht haben, vor Dingen, die sich von ihnen selbst abgelöst haben, die sie aber als Wesen betrachten und behandeln, die von ihnen verschieden sind. Oder, um genauer zu sein, sie stehen vor Personen-Dingen, die zugleich fremd und vertraut sind63.

Ohne den Begriff und das mit ihm verbundene Konzept zu nennen, beschreibt Godelier den menschlichen Sakralisierungsakt der Dinge als eine Tätigkeit der Über59 60 61 62 63

Ebd. Meine Hervorhebungen im Zitat, R. T. Ebd., 194 f. Hervorhebung in den Zitaten von Godelier. Ebd., 241. Ebd. Ebd.

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tragung – womit ich bei meinem letzten Punkt angelangt wäre. Übertragung ist ein Begriff, der – hauptsächlich – in der Psychoanalyse zum Einsatz kommt – oder kam. Freud benutzt ihn mit unterschiedlichen Valeurs, in der Traumdeutung (1900) aber „ganz einfach zur Bezeichnung der Affektverschiebung von einer Vorstellung auf eine andere.“64 In der Nachfolge Freuds wird es komplizierter, aber auch konkreter. Lacan, der diesem Terminus ein ganzes Seminar gewidmet hat65, arbeitet an der Übertragung deren eben dargestellte symbolische Natur und Funktionsweise heraus und erklärt ihre „paradoxe Funktion“ anhand von Platons Gastmahl so: Darin [im Gastmahl] vergleicht Alkibiades Sokrates mit einem einfachen Kästchen, welches ein wertvolles Objekt (gr. agalma) beinhaltet. Gerade so wie Alkibiades Sokrates einen geheimen Schatz zuschreibt, so unterstellt der Analysant dem Analytiker, sein Objekt des Begehrens (Objekt klein a) zu sein66.

Und das heißt: „Sobald das Subjekt, dem Wissen unterstellt wird, irgendwo existiert, […] gibt es Übertragung.“67 Wie lässt sich nun die Übertragung mit Blick auf die Sakralisierung der Dinge ‚wiederfinden‘? In ihrer International Flusser Lecture versucht Elisabeth von Samsonow – im Anschluss an ein Syntagma Walter Benjamins aus dem PassagenWerk68 und einem Buch dazu von Mario Perniola69 – eine Theorie und kurze Geschichte der hypnogenen Subjekte und Objekte zu entwerfen. Das geht nicht ohne den Terminus der Übertragung, und so schreibt sie: Unser Interesse geht in eine andere Richtung. Es richtet sich auf jene Form von Übertragung, die die Gegenstände, vor allem die Apparate, so nahe an die sie bedienenden Menschen heranrückt, dass etwas von ihnen in sie hineinfließt und sie nicht nur beseelt, sondern auch zu tatsächlichen Genossen macht, zu eigentümlichen Partnern in einem allgemeinen Mit-Sein, das eben das universale Thema der Soziologie bildet70.

Obwohl das hier Gesagte etwas wie Mystik oder Animismus klingt: Was Elisabeth von Samsonow untersuchen möchte, ist etwas Ek-statisches des Menschen, das in der Ekstase eine Beziehung zu den Dingen aufbaut und sodann zu einem MenschDing-Konnex wird: Was wir also untersuchen werden, ist das Außersichsein, dem, um die Medienkritik durch einen unerwarteten Zug in einen anderen Diskurs zu verwickeln, ein hauptsächlicher Seinsmodus zugesprochen wird71.

64 65 66 67 68 69 70 71

Dylan Evans, Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, Wien 2002, 316. Mit Blick auf die Traumdeutung Freuds (1900.) Jacques Lacan, Die Übertragung. Das Seminar, Buch VIII (1960–1961), hg. v. Peter Engelmann, übers. v. Hans-Dieter Gondek, Wien 2008. Ebd., 318. Ebd. Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1982, 51. Mario Perniola, Der Sex-Appeal des Anorganischen, Wien 1999. Elisabeth von Samsonow, Was ist anorganischer Sex wirklich? Theorie und kurze Geschichte der hypnogenen Subjekte und Objekte, Köln 2005, 7 f.; meine Hervorhebung, R. T. Ebd., 8.

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Im Folgenden beschreibt Samsonow die Mechanik dieses Außersichseins, und sie beantwortet dadurch implizit das Wie und Woher von Karl Heinz Kohls gestellter Frage (siehe oben): Durch das Abfließenlassen von Seele – ein Vorgang, den Gotthart Günther in seiner transklassischen Logik durchdacht hat – wird die Seele das, was sie ist, nämlich ein superfluens, ein Überfluss-Phänomen, das sich durch das Sich-Ausgeben definiert. […] Wir sind also auf der Suche nach dem Unähnlichen, das die menschliche Psyche mit sich selbst ‚überschütten‘, animieren kann, wenn man so will. Und wir stellen sofort fest, dass solch Unähnliches alles Mögliche sein kann72.

Dies Unähnliche, das alles Mögliche sein kann, beginnt dann „eine herausragende Rolle im Leben einer Gruppe oder einer Gesellschaft zu spielen“73. Diese beiden Zitate stellen im Prinzip eine schmucklose Kurzfassung der Funktionsweise der Übertragung dar, die Maurice Godelier bereits detaillierter und genauer veranschaulicht hatte. Die Übertragung, die ‚Heiligung‘ von allem Möglichen, geschieht, wie Godelier sagt, durch „Projektion“ oder, wie Elisabeth von Samsonow mit Gotthard Günthers transklassischer Logik sagt, durch ein „Abfließenlassen von Seele“ auf etwas Unähnliches. Günthers Schüler Claus Baldus nun hat diesem zentralen Terminus in weit mehr als zehn eigenständigen Publikationen seine ganze Aufmerksamkeit geschenkt und Günthers Theorie weiter vertieft und formalisiert. Baldus hatte erkannt, dass der „Seelenmechanismus der Fetischisierung“74, die Übertragung, von so überragender Bedeutung ist, dass er schreibt: Die Übertragung regiert die Welt. Ich meine nicht die Erde, sondern die vom Menschen produzierte Welt: Alltag, Ökonomie, Gesellschaft, Kultur. Obwohl die Übertragung auf dem Umweg über die Welt mit darüber entscheidet, wer über die Erde verfügen kann, über das Seiende, Stoffe, Kräfte, Arbeit, selbst Leben und Leute75.

Und mehr noch: „Es gibt kein Leben ohne Übertragung.“76 Wie aber funktioniert nun der ‚Seelenmechanismus Übertragung‘? Dingen eignet grundsätzlich ein Doppeltes: Zum einen sind Dinge die Objekte, die im doppelten Sinne von factum da sind oder gemacht wurden; zum zweiten existieren sie aber auch im Bewusstsein als etwas Vorgestelltes, als Bild (Vor-Stellung). Im „Seelenmechanismus der Übertragung“77 verschiebt s/ich nun das Dasein (Leben, Ich) von dem Bild, der Vorstellung, das das Ich von der Welt und den Dingen hat, in dies Andere, das Ding selbst hinein und stattet es mit Seele aus. Mehr noch: Das Ich tritt sein Dasein, seine Seele und seine Lebensdynamik an das Ding ab und wertet es so zum Ideal-Ich, Über-Ich, Absoluten auf. Technisch betrachtet, besteht also der komplette „Seelenmechanismus der Übertragung“ aus zwei Momenten, die Godelier Projektion und Verdinglichung und Claus Baldus – um die 72 73 74 75 76 77

Ebd., 8 f. Ebd., 9. Claus Baldus, Sonne mit Spiel. Abenteuer der Dinge, Potsdam 1998, 27. Claus Baldus, Bocage. Pass für Agenten. Spiel für die Welt, Potsdam 2007, 6. Ebd., 50. Baldus, Sonne mit Spiel (wie Anm. 74), 27.

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psychoanalytische Terminologie zu berücksichtigen – Projektion und Introjektion nennen78. Verpackt in Metaphern – wie oben bei Godelier gezeigt – ist die Aufladung der heiligen Dinge mit „Leben“, mit „Kräften“ qua Übertragung die Götter-, Geister- und Dämonenwelt (oder, in andern Beispielen, andere ‚Erschütterungsdata‘). Der sich daran anschließende Glaube an die „Seele“ der Dinge ist der Verkennung, dem Vergessen der Abtretung oder Ausstattung des Dings mit dem eigenen Leben, Dasein des Ichs – wobei „Leben“ und „Dasein“ (wieder mit Bezug auf Godelier) die Gesamtheit des Umgangs zwischen Menschen und Dingen ist – geschuldet. Die Affektverschiebung, die die Übertragung ist, provoziert die oben schon angeklungene „Metamorphose“: War es zunächst der Mensch, der das Ding sakralisierte, indem er es informierte, das heißt, sein Dasein an es abtrat und zum Absoluten amplifizierte, ist es nun das Ding, das den Verkehr unter den Menschen als Bindemittel reguliert (Gesellschaft) und sie qua Glauben mit Kraft ausstattet. Die „transformatio energetica“79 ist ein perpetuum mobile: Mit der Übertragung ist die Distanz zwischen Ich und äußerem Ding aufgegeben, Ding und Mensch bleiben fest und dauerhaft miteinander verkoppelt – eine Relation, der Mario Perniola eine „eigenartige Treue“ attestiert, „der man sich nicht entziehen kann.“80 Und zwar nicht nur deshalb, weil das Ding, wie schon angedeutet, qua Übertragung, wie Perniola sagt: zum „Überding“ mutiert, oder eben zum heiligen Ding; sondern weil der Vorgang von Pro- und Introjektion das „Spiel des Lebens“ ist81. Dinge, die im Register des Realen erscheinen, aber auf dem Feld des Symbolischen verhandelt werden82, werden mit Heiligem derart aufgeladen, dass sie als mysterium tremendum et fascinans in Kommunikations- und Handlungsprozessen firmieren und als Kanalisierung von Affekten und Emotionen dienen. Denn die Energien83 und Affekte, die im Übertragungs- und also Lebensspiel zirkulieren, sind gewaltig – gewaltig im Wortsinn, denn sie „überwältigen“. Damit erben die so informierten heiligen Dinge – um hier Aby Warburg zu variieren – als „Bilderfahrzeuge“ oder „Verkehrsmittel“ die maximalen affektiven Ausdruckswerte als „Engramme leidenschaftlicher Erfahrung“84.

78 79 80 81 82 83

84

In seinem ersten Versuch zur Übertragung macht Baldus deutlich, wie schwer die Darstellung der Introjektion bei der Formalisierung ist: Claus Baldus, Gelebtes Bild. Minute zur Algebra der Übertragung, Stuttgart 1990, 11. Aby Warburg, Notizbücher 1927–1929, hier zitiert nach Port, ‚Transformatio energetica‘ (wie Anm. 30), 15. Perniola, Der Sex-Appeal des Anorganischen (wie Anm. 69), 86. Vgl. Claus Baldus, Tür zur Welt. Spiel des Lebens, Potsdam 2000. Vgl. Vismann, Eigene Rechte für Dinge? (wie Anm. 2), 143. Den Energie-Begriff habe ich im Kontext von Übertragung, Leben und heiligen Dingen vorerst nur kursorisch gesichtet. Das ganze Werk Aby Warburgs beispielsweise ist durchzogen mit ihm, worauf Prägungen wie ‚kinetische und potentielle Energie‘, ‚energetisches Engramm‘ oder ‚Energiekonserve-Symbol‘ hinweisen. Warburg, Einleitung in den Mnemosyne-Atlas (wie Anm. 30), 173.

DER FRÜHCHRISTLICHE ALTAR ALS SAKRALOBJEKT* Stefan Heid Wenige Jahre nach dem Standardwerk des Jesuiten Joseph Braun über den christlichen Altar (1924) veröffentlichte Franz Joseph Dölger einen Aufsatz über „Die Heiligkeit des Altars und ihre Begründung im christlichen Altertum“ (1930)1. Ohne Begründung lässt Dölger seine Ausführungen erst mit Bischof Cyprian von Karthago in der Mitte des 3. Jahrhunderts beginnen, einer Zeit also, in der die Christen bereits selbstverständlich von „Altären“ sprechen2. Für die vorausliegenden zwei Jahrhunderte scheint Dölger keinen sakralen Altar anzunehmen. In der Tat bestreitet die inzwischen seit hundert Jahren herrschende Forschungsmeinung nicht nur jede Sakralität der für die Eucharistiefeier dienenden Tische, sondern leugnet überhaupt die Existenz christlicher Altäre in den ersten Jahrhunderten. In erstaunlicher Einmütigkeit teilen diese Auffassung protestantische und katholische Forscher. In jüngerer Zeit schreibt der evangelische Neutestamentler Peter Lampe in seinem einflussreichen Buch über die stadtrömischen Christen der ersten beiden Jahrhunderte: Angesichts der Koinzidenz von archäologischem und literarischem Befund ist die Schlussfolgerung sinnvoll, dass es ,Hauskirchen‘, spezielle in Profanhäusern für den Gottesdienst abgesonderte Räume, in den ersten beiden Jahrhunderten nicht gegeben hat. Positiv: Die Christen des 1./2. Jh. feierten ihre Gottesdienste in irgendwelchen Wohnräumen, die alltags von den Bewohnern wieder anderweitig genutzt wurden. Das heisst, die sonntäglichen ,Gottesdiensträume‘ waren ohne immobile speziell kultische Requisite ausgerüstet3.

Nach Lampe wurde also für die Eucharistie ein bewegliches, profanes Mobiliar benutzt. Ähnlich heißt es bei dem katholischen Kirchenhistoriker Alfons Fürst in seinem Handbuch über die Liturgie der Alten Kirche:

* 1

2 3

Abkürzungen: CC SL = Corpus Christianorum Series Latina; CSEL = Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum; FC = Fontes Christiani; GCS = Die griechischen christlichen Schriftsteller; PG = Patrologia Graeca; PL = Patrologia Latina; SC = Sources Chrétiennes Joseph Braun, Der christliche Altar in seiner geschichtlichen Entwicklung 1–2, München 1924, befasst sich nicht mit der Frage der Sakralität. Franz Joseph Dölger, Die Heiligkeit des Altars und ihre Bedeutung im christlichen Altertum, in: Ders., Antike und Christentum 2, Münster 1930, 161–183. Zu Priestern als Diener des Altares bei Cyprian siehe Bryan Alan Stewart, Priests of my people. Levitical paradigms for Early Christian Ministers, New York u. a. 2015, 145–175. Peter Lampe, Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten. Untersuchungen zur Sozialgeschichte, Tübingen 1987, 309. Man beachte hier den engen Gebrauch des Wortes „Hauskirche“ für einen in einem „Haus“ eingerichteten Gebetsraum.

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Stefan Heid Statt in sakralen, konsekrierten Tempeln feierten die Christen ihren Gottesdienst in ganz gewöhnlichen Räumen und Gebäuden. Es gab auch keinen Altar und keine Götterbilder. Die Tische für die Eucharistie hatten weder die Form noch die Funktion von Altären (in der Antike meist rechteckige steinerne Quader, auf denen Brandopfer dargebracht wurden; für Speise- und Trankopfer benutzte man Opfertische). Die Christen verwendeten gewöhnliche bewegliche Tische, die in der Regel aus Holz gewesen sein dürften. Die ,Kirche‘ war nicht Wohnung der Gottheit, sondern Versammlungsraum der Gemeinde […], der eben deswegen ,Kirche‘ heißt […]. Erst im Laufe der Jahrhunderte wurde den christlichen Versammlungsräumen […] unter dem Einfluss heidnisch-kultischer Vorstellungen Sakralität zugesprochen. […] Mit dem vordringenden Verständnis der Eucharistie als Opfer wurde der Tisch zunehmend zum ,Altar‘, ohne allerdings die Form eines heidnischen Altars anzunehmen. Die eucharistische Mahlzeit in Privathäusern wurde zum kirchlichen Kult in einem sakralen Gebäude4.

Beiden Autoren – es ließen sich ihnen zahlreiche weitere an die Seite stellen – gilt es als ausgemacht, dass die christliche Bewegung ursprünglich keine Religion im antiken Verständnis gewesen sei und keinen Kult und keine Opfer gekannt habe. Erst seit dem ausgehenden 2. Jahrhundert habe sie sich in einem längeren Prozess hellenisiert, institutionalisiert, sakralisiert und sazerdotalisiert. Auch Christliche Archäologen schließen sich dieser Meinung an und behaupten, ursprünglich habe man die Eucharistie an einem profanen Esstisch (Trikliniumstisch) gefeiert, der sich erst im 3. Jahrhundert zu einem Altar entwickelt habe5. Einer solchen Auffassung soll hier widersprochen werden. Gewiss, das frühe Christentum kannte noch kein elaboriertes Sakralrecht in linearer Fortsetzung der antiken Hochreligionen. Es hat sich in vielerlei Hinsicht vom Hellenismus und Judentum abgesetzt und sich damit auch entsprechender Sakralnormen entledigt. Dass jedoch das Eigentliche des Christentums in einer totalen Vergeistigung alles Rituell-Kultischen bestanden haben soll, entbehrt jeder Plausibilität. Die Grundkoordinaten antiker Weltsicht wie Oben und Unten, Gott und Mensch, Schuldigkeit 4

5

Alfons Fürst, Die Liturgie der Alten Kirche. Geschichte und Theologie, Münster 2008, 65 f. Schon Friedrich Wilhelm Deichmann, Vom Tempel zur Kirche, in: Mullus, hg. v. Alfred Stuiber / Alfred Hermann, Münster 1964, 52–59, hier 56: „Für mehrere Menschenalter war der christliche Kultbau profan. In jedem Raum durfte und konnte die Gemeinde zur Eucharistie und zum gemeinsamen Gebet sich sammeln. In diesen Versammlungs-Räumen konnte jeder Tisch für die Eucharistie dienen; es gab keinen Altar. Solcher Art waren die sogenannten Hauskirchen der christlichen Urzeit“. Nichts davon ist belegbar. Von einem profanen Kultbau zu sprechen, ist verwirrend. Federico Guidobaldi, Strutture liturgiche negli edifici cristiani di Roma dal IV al VII secolo, in: Materiali e tecniche dellʼedilizia paleocristiana a Roma, hg. v. Margherita Cecchelli, Rom 2001, 171–190, hier 172: Der christliche Altar leitet sich nicht vom paganen Altar ab, sondern vom Triklinientisch. Johann Hinrich Claussen, Gottes Häuser oder Die Kunst, Kirchen zu bauen und zu verstehen, München 2010, 26: Gottesdienst im Triklinium eines Hauses. Sible de Blaauw, Artikel „Kultgebäude (Kirchenbau)“, in: Reallexikon für Antike und Christentum 22 (2008), 227–393, hier 373: die Bezeichnung „thysiastérion“ in der Kirchweihpredigt des Eusebius und „altare“ in den konstantinischen Schenkungsberichten der Kirchen Roms (im Liber Pontificalis) zeigen, „wie der Mahltisch der christl. Eucharistie auch die Eigenschaft eines Opfertisches angenommen hat“. Allein die gnostischen Thomasakten erwähnen eine Eucharistie an einem Trikliniumstisch: Acta Thomae, ed. Maximilianus Bonnet (Acta Apostolorum Apocrypha 2,2), Leipzig 1903, 131–133, 238–240. Aber das ist phantasievolle Romanschriftstellerei, die aus der Sicht des 3. Jahrhunderts über die apostolische Zeit fabuliert.

Der frühchristliche Altar als Sakralobjekt

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und Opfer, Tabu und Sacrum bildeten den Lebensraum auch der Christen. Alles andere ist eine Wunschvorstellung des 19. Jahrhunderts: die konfessionelle Variante der üblichen Verfallstheorie, die in der „katholischen“ Spätantike nur den Abfall vom hohen Ideal klassischer Reinheit sieht. Eine solche Verfallstheorie wurde vor allem von der liberalen Theologie des deutschen Protestantismus entwickelt, der bekanntlich in der preußischen Union unter den Einfluss der kalvinistischen Bild- und Kultfeindlichkeit geriet6. Das wirkt bis heute nach7. Zurecht hat daher bereits 1984 Paul Corby Finney in einem bemerkenswerten Aufsatz in Münster eine fatale Aversion der Historiker und Theologen gegen jede Kultvorstellung im frühen Christentum diagnostiziert und für eine religionsgeschichtlich offenere Deutung der Texte plädiert8. In seinem wegweisenden Aufsatz ging es ihm um die Sakralität des Gotteshauses9. Er möchte diese deutlich vor Konstantin ansetzen. Entsprechendes lässt sich aber auch über den Altar sagen, wie im Folgenden ausgeführt wird. Es kann hier nicht geleistet werden, überhaupt die Existenz von Altären im frühesten Christentum nachzuweisen. Diesen Einzelnachweis werde ich an anderer Stelle erbringen. Hier soll es allein um die Frage der Sakralität der Altäre gehen. Natürlich impliziert bereits die frühe Rede von einem „Altar“ eine Vorstellung von Sakralität des eucharistischen Tischs, weil ein Altar eben immer der Kultsphäre angehört. Andererseits muss es doch auch Indizien geben, die ganz konkret die Heiligkeit des christlichen Altars belegen. Solche Indizien sollen im Folgenden anhand der frühesten Textquellen ausfindig gemacht werden. DER SAKRALTISCH BEI PAULUS Der gravierendste Fehler der bisherigen Forschung zum frühchristlichen Altar war ihre Fixierung auf den antiken Schlachtaltar und die Verkennung der Bedeutung heiliger Tische in der Antike. Man behauptete zwar zu Recht, dass sich der christliche Altar nicht vom paganen Schlachtaltar ableite, aber man zog daraus die falsche Schlussfolgerung, der christliche Altar gehe auf den Esstisch (Trikliniumstisch) zurück. Man beging den Fehler, bei Tischen immer nur an Esstische zu denken, als ob 6 7 8

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Siehe allgemein Carola Jäggi, Sakralität im Protestantismus, oder: Wo steckt das Heilige nach der Reformation?, in: Sakralität und Sakralisierung. Perspektiven des Heiligen (Beiträge zur Hagiographie 13), hg. v. Andrea Beck / Andreas Berndt, Stuttgart 2013, 53–70. Vielleicht ist es kein Zufall, dass Peter Lampe seine Dissertation an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Bern eingereicht hat. Paul Corby Finney, TOPOS HIEROS und christlicher Sakralbau in vorkonstantinischer Überlieferung, Boreas 7 (1984), 193–225. Leider nicht rezipiert von Alfons Fürst und auch nicht von Miriam Czock, Gottes Haus. Untersuchungen zur Kirche als heiligem Raum von der Spätantike bis ins Frühmittelalter (Millennium-Studien zu Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n. Chr. 38), Berlin/Boston 2012. Hingegen rezipiert von Carola Jäggi, Die Kirche als heiliger Raum. Zur Geschichte eines Paradoxes, in: Sakralität zwischen Antike und Neuzeit (Beiträge zur Hagiographie 6), hg. v. Berndt Hamm / Klaus Herbers / Heidrun Stein-Kecks, Stuttgart 2007, 75–89, hier 78. Siehe neuerdings zum Sakralraum auch Stewart, Priests (wie Anm. 2).

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Stefan Heid

es in der Antike nicht auch Sakraltische gegeben hätte, die zwar wie Tische aussahen, aber mit Essen nichts zu tun hatten. Von solchen Sakraltischen muss man den christlichen Altar ableiten. Sakraltische gab es in der Antike ebenso häufig wie Altäre; beide hatten im Opferkult eine ähnliche Funktion und waren letztlich sogar austauschbar; entsprechend konnten Sakraltische auch als „Altar“ und umgekehrt Altäre auch als „Tisch“ bezeichnet werden10. Die oft massiven Altäre dienten vorzüglich für Schlachtopfer, die meist leichteren Tische für pflanzliche Speiseopfer. Beide Möbel genossen als res sacrae dieselbe Sakralität. Man muss sehr genau unterscheiden zwischen Schlachtaltären und Sakraltischen und darf sie nicht in einen Topf werfen, als ob Christen gleichermaßen beide abgelehnt hätten11. Was sie ablehnten, waren immer Schlachtaltäre, von einer Ablehnung der Sakraltische ist nie die Rede. Sakraltische waren aber für den christlichen Gottesdienst das geradezu ideale Kultmöbel. Paulus spricht im 1. Korintherbrief (um 54/55) vom „Tisch des Herrn“ (1 Kor 10,21). Die meisten Exegeten nehmen an, das sei ein profaner Tisch, etwa der Sigmatisch eines Trikliniums. Aber für Paulus ist das „Herrenmahl“ kein gewöhnliches Essen und Trinken wie zu Hause (1 Kor 11,20–22). Genauso ist für ihn auch der „Tisch des Herrn“ kein gewöhnlicher Speisetisch. Denn Paulus zitiert mit dem Syntagma „Tisch des Herrn“ den alttestamentlichen Propheten Maleachi, und der meint mit dem Herrentisch unmissverständlich einen Tieropferaltar (hLF4FJZk4@