Mythos Schweiz: Zum deutschen literarischen Philhelvetismus zwischen 1700 und 1850 [Reprint 2010 ed.] 9783110943801, 9783484350908

Drawing upon more than 500 literary and journalistic texts, this study is the first post-war discussion of the phenomeno

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Table of contents :
1. Einleitung
2. Der Beginn des Philhelvetismus - die Werke von Scheuchzer bis Rousseau und ihre Rezeption zwischen 1700 und 1770
2.1 Johann Jakob Scheuchzers Natur=Histori des Schweitzerlandes
2.2 Albrecht von Hallers Die Alpen
2.3 Das literarische Zürich
2.4 Johann Jakob Bodmer und seine deutschen Gäste
2.5 Salomon Geßners Idyllen
2.6 Balthasars Patriotische Träume und die Helvetische Gesellschaft
2.7 Jean-Jacques Rousseaus zivilisationskritische Werke
Zusammenfassung
3. Einsetzende Reisetätigkeit und deren literarische Widerspiegelung
3.1 »Auch ich war in der Schweiz [...]« - Anmerkungen zum Fremdenverkehr in der Eidgenossenschaft
3.2 Modi der Reisereflexion
4. Schweiz-Bilder zwischen 1770 und 1798
4.1 Zur Bildung eines komplexen Mythos
4.1.1 Unabhängigkeit, Natur und patriarchalische Einfalt - die Suche nach Lebensalternativen im Sturm und Drang
4.1.2 Die Favorisierung des Hirtenlandes
4.1.3 Die empfindsamen Landschaftsbilder der »Schweizer-Pilgrimmschaft«
4.1.4 Schweiz-Bilder aus dem Geiste der Literatur
4.1.5 Elemente des Mythos
4.2 Idyllisierung versus kritische Bestandsaufnahme
4.2.1 Ansätze differenzierender Betrachtung
4.2.2 Kontroverse Diskussionen um politische Verhältnisse
4.2.3 Politisierte Schweiz-Bilder vom Beginn der Französischen Revolution bis zur Helvetik
Zusammenfassung
5. Die Politisierung und Romantisierung des Mythos von der Helvetischen Revolution bis zu den Befreiungskriegen
5.1 Noch ein Blick auf die alte Schweiz - Bildkorrekturen angesichts der Helvetischen Revolution
5.2 »[...] ein zur Hölle gewordnes Paradies [...]« - die Helvetische Revolution
5.3 Die Urschweizer als Retter des Mythos
5.4 Die Vergegenwärtigung der Befreiungsgeschichte in Friedrich Schillers Wilhelm Tell
5.5 Nationalromantische Heldenverehrung
Zusammenfassung
6. Apotheosen und neue Klischees nach 1815
6.1 Konventionalisiertes Reisen - auf der Suche nach der ›heilen‹ Welt der Alpen
6.2 Stereotypenbildung in der Erzählliteratur
6.3 Auf dem Weg zur modernen Schweiz - das Asyl- und Wirtschaftsland
Zusammenfassung
7. Zur Erfahrung und Darstellung des Naturerhabenen - ein Längsschnitt
8. »Wer das Glück auf Erden suchte, besuchte die Schweiz [...]« - Ein Resümee
Literaturverzeichnis
Namenregister
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Mythos Schweiz: Zum deutschen literarischen Philhelvetismus zwischen 1700 und 1850 [Reprint 2010 ed.]
 9783110943801, 9783484350908

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STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR

Herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino, Rainer Wohlfeil

Band 90

Uwe Hentschel

Mythos Schweiz Zum deutschen literarischen Philhelvetismus zwischen 1700 und 1850

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2002

Als Habilitationsschrift gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Redaktion des Bandes: Alberto Martina

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Hentschel, Uwe: Mythos Schweiz : zum deutschen literarischen Philhelvetismus zwischen 1700 und 1850 / Uwe Hentschel. - Tübingen: Niemeyer, 2002 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; Bd. 90) ISBN 3-484-35090-3

ISSN 0174-4410

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2002 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Einband: Buchbinderei Geiger, Ammerbuch

Vorbemerkung

Die vorliegende Arbeit ist 1999 an der Philosophischen Fakultät der TU Chemnitz als Habilitationsschrift eingereicht worden. Sie wurde für die Druckfassung überarbeitet und ergänzt. Ohne Herrn Prof. Dr. Bernd Leistner, der es mir ermöglichte, an seinem Lehrstuhl sechs Jahre über den deutschen Philhelvetismus zu arbeiten, wäre die vorliegende Studie nicht entstanden. Er gab mir den Freiraum, der für die Beschäftigung mit einem so umfassenden Thema unbedingt erforderlich war. Ich hatte das große Glück, in diesen Jahren einem Lehrstuhl angehört zu haben, an dem eine Atmosphäre von Kollegialität, gegenseitiger Wertschätzung und Hilfeleistung herrschte. Neben dem Lehrstuhlinhaber hatten an diesem bemerkenswerten, meine Forschungen befördernden Klima Frau Dr. Monika Hähnel, Herr PD Dr. Dietmar Schubert und nicht zuletzt die Sekretärin des Lehrstuhls, Frau Heidemarie Markowski, maßgeblichen Anteil. Den Herren Prof. Dr. Günter Peters, Prof. Dr. Wolfram Malte Fues und Prof. Dr. Bernd Leistner danke ich für die im Sommer 1999 erstellten Gutachten, die mir wichtige Anregungen und Verbesserungsvorschläge lieferten. Ich freue mich, daß die Habilschrift in der renommierten Reihe Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur im Niemeyer-Verlag Tübingen erscheinen kann. Deren Herausgeber haben durch ihre kritischen Hinweise die Überarbeitung der Schrift substanziell befördert. Bei Frau Dr. Maria-Verena Leistner und bei Frau Waltraut Fiedler bedanke ich mich für die aufmerksame Durchsicht des Manuskripts vor der Drucklegung.

Inhalt

1. Einleitung 2. Der Beginn des Philhelvetismus - die Werke von Scheuchzer bis Rousseau und ihre Rezeption zwischen 1700 und 1770 2.1 Johann Jakob Scheuchzers Natur=Histori des Schweitzerlandes . . 2.2 Albrecht von Hallers Die Alpen 2.3 Das literarische Zürich 2.4 Johann Jakob Bodmer und seine deutschen Gäste 2.5 Salomon Geßners Idyllen 2.6 Balthasars Patriotische Träume und die Helvetische Gesellschaft . . 2.7 Jean-Jacques Rousseaus zivilisationskritische Werke Zusammenfassung 3. Einsetzende Reisetätigkeit und deren literarische Widerspiegelung . . 3.1 »Auch ich war in der Schweiz [...]« - Anmerkungen zum Fremdenverkehr in der Eidgenossenschaft 3.2 Modi der Reisereflexion 4. Schweiz-Bilder zwischen 1770 und 1798 4.1 Zur Bildung eines komplexen Mythos 4.1.1 Unabhängigkeit, Natur und patriarchalische Einfalt - die Suche nach Lebensalternativen im Sturm und Drang 4.1.2 Die Favorisierung des Hirtenlandes 4.1.3 Die empfindsamen Landschaftsbilder der »Schweizer-Pilgrimmschaft« 4.1.4 Schweiz-Bilder aus dem Geiste der Literatur 4.1.5 Elemente des Mythos 4.2 Idyllisierung versus kritische Bestandsaufnahme 4.2.1 Ansätze differenzierender Betrachtung 4.2.2 Kontroverse Diskussionen um politische Verhältnisse . . . 4.2.3 Politisierte Schweiz-Bilder vom Beginn der Französischen Revolution bis zur Helvetik Zusammenfassung 5. Die Politisierung und Romantisierung des Mythos von der Helvetischen Revolution bis zu den Befreiungskriegen

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11 11 17 23 26 37 42 50 55 61 61 72 81 81 81 99 103 116 146 169 169 174 203 214

221 VII

5.1 Noch ein Blick auf die alte Schweiz - Bildkorrekturen angesichts der Helvetischen Revolution 5.2 »[...] ein zur Hölle gewordnes Paradies [...]« - die Helvetische Revolution 5.3 Die Urschweizer als Retter des Mythos 5.4 Die Vergegenwärtigung der Befreiungsgeschichte in Friedrich Schillers Wilhelm Teil 5.5 Nationalromantische Heldenverehrung Zusammenfassung 6. Apotheosen und neue Klischees nach 1815 6.1 Konventionalisiertes Reisen - auf der Suche nach der >heilen< Welt der Alpen 6.2 Stereotypenbildung in der Erzählliteratur 6.3 Auf dem Weg zur modernen Schweiz - das Asyl- und Wirtschaftsland Zusammenfassung

221 230 241 249 260 271 275 275 300 313 325

7. Zur Erfahrung und Darstellung des Naturerhabenen - ein Längsschnitt

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8. »Wer das Glück auf Erden suchte, besuchte die Schweiz [...]«- Ein Resümee

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Literaturverzeichnis

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Namenregister

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VIII

1. Einleitung

Im Verlaufe des 18. Jahrhunderts gewann die Schweiz für die Deutschen eine Anziehungskraft, die nur mit der zu vergleichen ist, die in dieser Zeit von Italien, England und Frankreich ausging. Zunächst waren es eidgenössische Autoren wie Scheuchzer, Bodmer, Haller, Lavater, Geßner u. v. a.m., die mit ihren Werken auf ihr Heimatland aufmerksam machten.1 Deutsche Aufklärer wiederum begannen sich für deren Dichtungen und wenig später für das Land selbst zu interessieren. Die Zuwendung intensivierte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Christian Cay Lorenz Hirschfeld vertrat noch 1769 die Ansicht, daß »in Deutschland entweder zu unvollständige Begriffe [...] oder doch zum Theil viele unrichtige Meinungen« existierten »von einer Nation, die so nahe mit der unsrigen verwandt«2 sei. Aber schon 1785 kam der Leipziger Reiseschriftsteller Carl Gottlob Küttner in seinen Briefen eines Sachsen aus der Schweiz zu einem anderen Ergebnis. Er teilte seinen Lesern mit, die Dinge, die er auf seinen Wanderungen in Erfahrung gebracht habe, seien »schon in mehr als in einem Buche«3 beschrieben worden. Nicht einmal zwanzig Jahre lagen zwischen dem kritischen Befund Hirschfelds und der Einschätzung Küttners, daß das Nachbarland in seinen wichtigen Teilen bereits ausreichend erkundet worden sei. Die Aussagen lassen erkennen, mit welch großer Aufmerksamkeit sich die volks- und naturkundlich Interessierten der Schweiz widmeten. Die neue Qualität der Zuwendung zeigt sich auch im Reiseverhalten der Deutschen.4 Da es keine Erhebungen darüber gibt, wie viele Ausländer im Untersuchungszeitraum die Eidgenossenschaft besucht haben, ist man - um zumindest eine grobe Vorstellung zu erhalten - auf die reiseliterarischen Zeugnisse angewiesen. Legt man die bislang einzige, 1899 veröffentlichte Bibliographie der schweizerischen Reiseliteratur5 zugrunde, so ergibt sich, daß in den 70 Jahren zwischen 1700 und 1770 40 deutschsprachige Schweiz-Beschreibungen auf den Markt kamen; in den nur 30 Jahren bis 1800 waren es dagegen 116 Werke dieser Spezies. Bei allen grundsätzlichen Vorbehalten gegenüber diesen Zahlen - man muß berücksichtigen, daß das Aufkommen deutschsprachiger Literatur, der Reiseliteratur insbesondere, in der

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Ermatinger, Dichtung und Geistesleben der deutschen Schweiz, 1933, S.297-476. Hirschfeld, Briefe, Bd. l, 1769, S.4. - So mußte Lessing 1751 in einer Rezension seinen Lesern noch das Wort »Gletscher« erklären. Siehe Rezension zu Altmann, Versuch, 1751, in: Lessing, Sämtliche Schriften, Bd.4,1889, S. 335. 3 Küttner, Briefe, Theil l, 1785, S.25. 4 Hierzu ausführlich im Kapitel 3.1. 5 Waeber, Landes- und Reisebeschreibungen, 1899. 2

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zweiten Jahrhunderthälfte insgesamt stieg - läßt sich dennoch feststellen, daß innerhalb weniger Jahre ein immenser Ansturm auf die Schweiz erfolgte. Nicht zuletzt dieser Sachverhalt veranlaßte Historiker, von einer »deutschen Schweizerbegeisterung«6 zu sprechen. So schwierig es ist, über das Ausmaß dieser Zuneigung konkrete Aussagen zu treffen, so problematisch gestaltet sich auch die Suche nach Anhaltspunkten für die Ursache des Phänomens. Obgleich die Aufklärer im Verlaufe des 18. Jahrhunderts alles Wissenswerte über die Schweiz zusammengetragen hatten, ließ das Interesse an dem Land nicht nach, es steigerte sich sogar noch im 19. Jahrhundert. Es mußte etwas geben, das mit dem erkenntnisgeleiteten, rational-pragmatischen Zugriff auf das Land nicht abgedeckt werden konnte. Die Eidgenossen schienen sich inmitten ihrer Berge eine Lebensform bewahrt zu haben, die in den deutschen Kleinstaaten, besonders an den Höfen und in den Städten, nicht mehr zu finden war. Angesichts der Versachlichung und damit Entmythisierung des Lebens im Zuge einer um sich greifenden rationalen Be- und Überwältigung alles Daseins wurde mit dem Verweis auf archaische Strukturen die Frage nach der Sinnhaftigkeit der gegenwärtigen Existenz aufgeworfen. Unter den Intellektuellen, die, sensibilisiert durch Rousseaus zivilisationskritische Schriften, nach naturnahen Räumen Ausschau hielten, bot sich mit der Schweiz ein Refugium, das sich der eigenen Lebenswelt entgegenstellen ließ und somit als Spiegelungsraum eigener Wünsche und Hoffnungen dienen konnte. In der Verbindung von Alpen, »Alter Eidgenossenschaft« und Hirtenidylle etablierte sich ein weites bild- und sinnstiftendes Bezugsfeld. So verglichen viele Ausländer die Schweiz mit dem »Elysium«,7 Reisende sahen sich in »ein goldnes Zeitalter«8 versetzt und malten Bilder »einer arkadischen Welt«:9 »[...] jeder Mensch, dessen Geschmack von der geräuschvollen Welt nicht schon ganz verdorben ist, muß hier glücklich seyn; wenigstens hat man sehr Anlaß, ein dichterisch arkadisches Leben hier in der Wirklichkeit zu glauben.«10 Von dem Nachbarland der Deutschen ging eine Suggestivkraft aus, die es erlaubt, von einem Mythos Schweiz zu sprechen.11 Mythos meint hier allgemein eine Verklä6

Ziehen, Die deutsche Schweizerbegeisterung, 1922. - Der Begriff sollte zum Ausdruck bringen, daß eigen- und/oder fremdkulturelle Stimulantia existierten, die die Deutschen bewegen, ihre Reserviertheit gegenüber den Schweizern mit einer längeren Phase emphatischer Anteilnahme zu vertauschen. 7 Braunschweiger, Promenade, 1793, S. 63. 8 Robert, Reise, Theil l, 1790, S. 18. 9 Bouterwek, Schweizerbriefe, Theil l, 1795, S.36. 10 Braunschweiger, Promenade, 1793, S. 43. - Weitere Beispiele aus diesem Bildbereich finden sich in der Zusammenfassung des Kapitels 4. 1 ' Obgleich seit längerem »zu den Ergebnissen der Begriffsgeschichte von >Mythos/Mythologie< [...] der Verlust aller Hoffnung auf allgemein akzeptierte Definitionen und Theorien« gehört, soll auf diesen Terminus nicht verzichtet werden. (Horstmann, Der Mythosbegriff, 1979, S.244). - Zuletzt hat diesen Begriff Urs Hammer verwendet: Vom Alpenidyll zum modernen Musterstaat. Der Mythos der Schweiz als >Alpine Sister Republic< in den USA des 19. Jahrhunderts, 1995.

rung von Personen, Ereignissen oder Ideen zu einem Faszinosum von bildhaftem Zeichencharakter. Die Teils, Winkelrieds, die Befreiungstaten und das Leben der Schweizer schlechthin wurden enthistorisiert und zu archetypischen Vorstellungskomplexen erweitert.12 Es entstand »ein semiologisches System [...], das im Grunde bis heute seine Dekodierbarkeit und damit seine Wirkung erhalten hat«.13 Nach dem bis hierher Gesagten ist es nicht verwunderlich, daß das Thema der deutsch-schweizerischen Beziehungen von der kulturhistorischen und Geschichtsforschung aufgegriffen wurde. Beachtenswerte monographische Arbeiten lassen sich aber erst in der Zeit des beginnenden 20. Jahrhunderts finden. Fünf größere Studien entstanden in der ersten Jahrhunderthälfte, wobei allein vier dieser Arbeiten von Schweizern stammen.14 Sowohl diese als auch die einschlägige deutsche Studie von Eduard Ziehen Die deutsche Schweizerbegeisterung in den Jahren 1750-1815 sind nicht frei von nationalpatriotischem Impetus. Ziehen verstand sein Werk ausdrücklich als »Beitrag zur Geschichte des deutschen Nationalbewußtseins«15 und verband dies mit der Zielvorgabe, »zu würdigen, inwieweit die Schweizerbegeisterung beitrug zu Deutschlands äußerer und innerer Wiedergeburt«.16 Er stellte die Aussagen der Autoren über die Schweiz thematisch zusammen, ohne den sozialgeschichtlichen Ursachen, denen bestimmte Urteile geschuldet waren, nachzugehen. Hedwig Waeber verfolgte 1907 mit ihrer Dissertation Die Schweiz des 18. Jahrhunderts im Urteile ausländischer Reisender das Ziel, eine »Zusammenstellung der verschiedenen Meinungsäußerungen« vorzulegen, in denen sich »das schweizerische Staatsleben des 18. Jahrhunderts im Urteil der Ausländer spiegelte«.17 Auch sie systematisierte das Material, ohne literatur- oder sozialgeschichtliche Zusammenhänge herauszuarbeiten. Dieses Defizit zeigt sich - mit geringen Differenzierungen - bei allen wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Thema. Dennoch ist das seinerzeit Geleistete, eingedenk einer noch unübersichtlichen Quellensituation, fehlender bibliographischer Hilfsmittel und einer kaum entwickelten Methodologie nicht gering zu schätzen. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden die Forschungen auf diesem Gebiet zunächst nicht fortgeführt. Kleinere Arbeiten über Schriftsteller, die zeitweise in der Schweiz lebten oder durch das Land in besonderer Weise inspiriert wurden, ändern nichts an diesem Tatbestand.18 Als Eingeständnis der desolaten

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Marchal, Leopold und Winkelried, 1986, S. 71-111; Stunzi, Teil. Werden und Wandern eines Mythos, 1973; Zeller, Der Teil-Mythos, 1994, S. 65-88. 13 Marchal, Das »Schweizeralpenland«, 1992, S. 44. 14 Waeber, Die Schweiz, 1907; Ziehen, Die deutsche Schweizerbegeisterung, 1922; Weiss, Das Alpenerlebnis, 1933; Fleig, Die Schweiz, 1942; Liebi, Das Bild der Schweiz, 1946 u. Näf, Deutschland und die Schweiz, 1936. 15 Ziehen, Die deutsche Schweizerbegeisterung, 1922, S. 2. 16 Ebd., S. 3 17 Waeber, Die Schweiz, 1907, S. 3. 18 Böschenstein, Das Bild der Schweiz bei Ebel, Boehlendorff und Hölderlin, 1983, S. 58-72; Kempter, Hölderlin in Hauptwil, 1975; Raab, Die Schweiz im Urteil von Johann Michael von Loen, 1986, S.101-111; Raab, Joseph von Görres und die Schweizer, 1969, S.81-113; Samuel, Heinrich von Kleists Reise in die Hochalpen im Sommer 1803,1981, S. 314-334;

Forschungssituation ist zu werten, daß Ziehens Arbeit aus den zwanziger Jahren 1975 einen Neudruck erfuhr. Erst im Umfeld der 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft wurde den deutschschweizerischen Beziehungen im kulturgeschichtlichen Zusammenhang wieder größere Aufmerksamkeit zuteil. So fand 1990 in Bern ein Kolloquium zum Thema Kulturelle Beziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland in der Zeit von 17701830 statt, an dem Kulturhistoriker beider Länder gleichermaßen beteiligt waren.19 Diese Tagung setzte wichtige Schwerpunkte und ließ zudem erkennen, wo die Ursachen zu suchen sind, die eine umfassende komparatistisch-kulturhistorische Beschäftigung mit dem Nachbarland bislang verhinderten. Schon ein erster Blick auf die einzelnen Konferenzbeiträge macht deutlich, daß sich derjenige, der dieses Forschungsfeld betritt, einer kaum zu überschauenden Zahl von Quellentexten gegenübersieht. Die räumliche Nähe sowie die zum Teil existierende Sprachgemeinschaft hatten ein weitverzweigtes Kommunikationsnetz zwischen den beiden Ländern entstehen lassen, das heute kaum noch rekonstruierbar ist. Es konnte nicht das Ziel der Konferenz sein, diese Vernetzungen auch nur annähernd zu erfassen. Dennoch wurde sichtbar, daß aus deutscher Perspektive im 18. Jahrhundert ein spezifisches Schweiz-Bild seine Kontur gewann, das nachgerade eine bannende Kraft erlangte. Wolf gang Adam sprach von einer »Summation kultur- und mentalitätsgeschichtlicher Leitvorstellungen, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt [...] so verdichten und dominant werden, daß sie bewußt oder unbewußt beim Schreiben über dieses Land einfließen, bzw. Gegenpositionen evozieren«.20 Die Vorstellung von bizarrer und erhabener Natur und einer ihr entsprechenden arkadisch-freiheitlichen Lebensweise der Einwohner erweist sich dabei als wesentliches Konstituens des Schweiz-Mythos. Wer diesen gundlegenden Zusammenhang nicht ernst nimmt, so geschehen 1993 in einer Arbeit von Petra Raymond über die Romantisierung der Alpen in der klassisch-romantischen Literatur,21 wird das Bild verzeichnen, das sich die Deutschen von der Schweiz gemacht haben. Die Referate von Gonthier-Louis Fink und Günter Oesterle, die über einen Zeitraum von nahezu dreißig Jahren (ca. 1770 bis 1800) anhand der Textsorten Zeitschrift und Reisebeschreibung die Modifikationen zu erfassen versuchten, denen das Bild von der Schweiz unterlag, geben die Richtung des Weges an, auf welchem weiter zu gehen ist.22 Mit Hilfe einer intertextuellen Analyse sollte es möglich sein, noch exakter die Adam, Die Schweizer Reisen der Sophie von la Roche, 1994, S. 33-55; Höhle, Friedrich Matthissons Schweizer Erinnerungen, 1992, S. 44-47. 19 Dokumentiert wurden die Referate in dem Konferenzband Helvetien und Deutschland, 1994. Siehe dazu meine Rezension in: Wirkendes Wort 45 (1995), Heft 2, S.355ff. 20 Adam, Die Schweizer Reisen der Sophie von La Röche, 1994, S. 36. 21 Raymond, Von der Landschaft im Kopf, 1993. Zur Kritik an dieser Arbeit siehe meine Rezension in: Wirkendes Wort 45 (1995), Heft l, S.212f. 22 Fink, Die Schweiz, 1994, S. 57-78 und Oesterle, Die Schweiz, 1994, S. 79-102. - Wie eine unlängst erschienene Arbeit zum europäischen Schweizbild deutlich zeigte, sind grobe Verallgemeinerungen, vorgenommen ohne profunde Materialkenntnisse, kontraproduktiv. Siehe Morkowska, Vom Stiefkind zum Liebling, 1997. Vgl. dazu auch die Rezension zu dieser Arbeit in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 48 (1998), S. 265-267.

Vorstellungselemente zu bestimmen, die an der Etablierung des Mythos beteiligt waren, sowie festzustellen, unter welchen Voraussetzungen sie aufgenommen, fortgeschrieben, verändert bzw. gänzlich negiert wurden. Es muß daher das Ziel darin bestehen, auf einer breiten Materialbasis - die Beiträger des Bandes mußten sich natürlich beschränken - die Genese der gesellschaftlich determinierten Vorstellungskomplexe zu untersuchen und dabei auch mit zu bedenken, daß die Verwendung dieser Topoi oft weit mehr über die eigene Befindlichkeit bzw. den Zustand der Ausgangskultur verraten, als daß sie geeignet sind, die Fremdkultur angemessen zu erfassen. Je mehr über die geführte Selbstverständigung und deren sozialgeschichtlichen Hintergrund in Erfahrung gebracht werden kann, desto leichter fällt es, die konkreten historischen Ursachen zu benennen, die zu der Ausprägung einer über einen längeren Zeitraum fixen Vorstellung von einem Land führten. Erst die hinreichende Kenntnis dieser Kommunikationsstrukturen und der interregionalen Diskussionszusammenhänge läßt es zu, die Bedeutung eines einzelnen Autors oder einer Autorengruppe in diesem Geflecht angemessen zu bestimmen. Mit der Tagung des Jahres 1990 hat die Forschung zum deutschen Philhelvetismus konzeptionell eine neue Ausrichtung erfahren; diesem Neuansatz ist die vorliegende Arbeit verpflichtet. Sie versteht sich als Versuch, die Diskrepanz zwischen dem kulturgeschichtlichen Gewicht, das der Beziehung der Deutschen zur Schweiz realiter zukam, und der jahrzehntelangen Nichtbeachtung des Phänomens durch die Literaturgeschichtsschreibung ein Stück weit aufzuheben.23 Hinsichtlich des methodischen Konzepts, das für die vorliegende Arbeit als tauglich befunden wurde, ist folgendes zu sagen: Ausgangspunkt ist die lapidare Einsicht, daß die deutschen Autoren, die im Untersuchungszeitraum Texte über die Schweiz verfaßt haben, den Gegenstand ihrer Betrachtung als einen im Vergleich zu ihrer eigenen Erfahrungswelt fremden Raum ansahen. Der Interpret solcher Texte hat es mit einem Potential von Fremdwahrnehmungen zu tun, die sich jeweils im Vergleich mit den konkreten heimatgebundenen Ausgangserfahrungen herauskristallisieren. Dem »Bild vom anderen Land« hat sich seit geraumer Zeit die komparatistische Imagologie zugewandt. Sie beschäftigt sich in Abgrenzung verwandter komparatistischer Verfahren damit, »das Vorhandensein jener irrationalistischen Denkstrukturen mit Namen Images in seiner Historizität, in der kontextualen Gebundenheit der literarischen Bilder vom anderen Land als Elemente komplexer inter-nationaler Wechselbeziehungen sowie sinnmodifizierender ästhetischer Gebilde nachzuweisen, um schließlich die Struktur imagolotyper Systeme, ihrer Genese und Wirkung mit dem Ziel einer Kenntnisbereicherung hinsichtlich des internationalen

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Gerade weil »die Schweiz in der deutschen Reisegeschichte des 18. Jahrhunderts eine herausragende Rolle« gespielt hat, ist es verwunderlich, daß »dies von der Germanistik bisher zwar gesehen, aber nicht in entsprechenden Untersuchungen gewürdigt wurde«. (Brenner, Der Reisebericht, 1990, S. 240).

Literaturgeschehens zu analysieren«.24 Das so beschriebene Programm der komparatistischen Imagologie scheint zunächst geeignet, dem hier in Rede stehenden Forschungsvorhaben den methodischen Rahmen zu geben. Problematisch wird dieser Ansatz, wenn die Imagologieforschung bei der Erfassung der Auto- bzw. Heteroimages, bei der Beschreibung von deren Rezeption und interkulturellen Ausstrahlung stehenbleiben und »ihre Vollendung wie selbstverständlich in einem Beitrag zur besseren Verständigung zwischen den >Völkern< untereinander«25 sehen würde. So wichtig diese Aufgabe auch sein mag, das Wissen darum, daß diese Images immer auch geprägt sind von vorgängigen, sich aus der Ausgangskultur rekrutierenden Vorstellungen, muß unbedingt zu einer Erweiterung des Verfahrens hin zu einer sozialgeschichtlichen Ursachenforschung führen. Die komparatistische Imagologie, die - verfolgt man deren Selbstdarstellung in den letzten Jahren26 - noch immer um ihre wissenschaftliche Legitimation ringt, hat sich von dem Vorwurf Rene Welleks aus den fünfziger Jahren, sie greife nur außerliterarische Problemstellungen auf,27 anscheinend noch immer nicht erholt. Sie begründet ihre Daseinsberechtigung in der Literaturwissenschaft auch heute noch zu stark mit der Versicherung, daß sie sich zuvörderst literaturimmanenten Fragen zuwende. Gleichwohl ist Hugo Dyserinck, dem Spiritus rector der Imagologieforschung in Deutschland, die Bedeutung der sozialgeschichtlichen Fundierung von Fremdwahrnehmungen durchaus bewußt. So formulierte er 1992 im Hinblick auf die Entstehung von imagotypen Strukturen: »[...] dies kann uns z.B. auch zu der Frage führen, was den Menschen eigentlich dazu veranlaßt, die Images hervorzubringen, was ihn überhaupt dazu treibt, in Begriffen der kollektiven >Identität< zu denken und sie insbesondere in literarischen Formen zum Ausdruck zu bringen.«28 Was hier freilich nur als Appendix formuliert ist, soll die vorliegende Arbeit methodisch weitgehend bestimmen. »Alle Eindrücke, welche ein Land dem Reisenden bey seinem ersten Eintritte darbietet, sind eben so gut von den unmerklichen Vorurtheilen abhängig, die er in der Masse seiner Erkenntnisse mit sich herumträgt [.. ,].«29 Der Romanautor Carl Grosse machte bereits 1791 in einem Werk über die Schweiz darauf aufmerksam, daß die Texte von den Verhältnissen geprägt sind, aus denen sie erwuchsen und in die sie hinein geschrieben wurden. Diese Beobachtung führt zu der nicht neuen Feststellung, daß Texte keine Wirklichkeitsbeschreibungen liefern, sondern vielmehr Wirklichkeitsauffassungen verbreiten. Die Werke sind eingelassen in kon-

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Fischer, Nationale Images, 1981, S. 27. Dyserinck, Komparatistik als Europaforschung, 1992, S. 35. 26 Boerner, Das Bild vom anderen Land, 1975, S. 313-321; Dyserinck, Komparatistik, 1977, S. 125-133; Dyserinck, Komparatistische Imagologie, 1988, S. 13-37, Dyserinck, Komparatistik als Europaforschung, 1992, S. 31-37 u. Dyserinck, Über neue und erneuerte Perspektiven, 1997, S. 12-20. 27 Siehe hierzu Dyserinck, Komparatistische Imagologie, 1982, S.29f. 28 Dyserinck, Komparatistik als Europaforschung, 1992, S. 46. 29 Grosse, Die Schweiz, Bd. l, Theil l, 1791, S.3. 25

kret-historische Kommunikationszusammenhänge. In diese müssen sie wieder hineingestellt werden, aus ihnen heraus muß ihre Interpretation erfolgen. Da mehrere Hundert Autoren mit ihren Texten zu untersuchen sind, würde freilich eine Analyse, die die je eigenen Entstehungsbedingungen in dieser Weise einzubeziehen hätte, eine biographistische, additiv-eklektische Zusammenstellung ergeben, wie sie in bezug auf die eingangs besprochenen wissenschaftlichen Arbeiten gerade kritisiert wurde. Es macht sich daher notwendig, den einzelnen Autor in ein intersubjektives Bezugsfeld zu stellen. Es muß nach Weltanschauungen und Wertvorstellungen Ausschau gehalten werden, die, über den einzelnen Autor und Text hinausgehend, verallgemeinerbar sind. Da der Umgang mit dem Mythos Schweiz ein kollektives Phänomen darstellte, ist es nur folgerichtig, wenn die Frage aufgeworfen wird, ob diese Hinwendung zur Schweiz auf gruppenspezifischen Bedürfnissen beruhte. Somit verbindet sich der imagologische Ansatz mit dem MentalitätsKonzept.30 Damit bietet sich ein Ausweg aus »der unglücklichen Alternative zwischen einer Geistesgeschichte, aus der die Gesellschaft ausgespart bleibt, und einer Sozialgeschichte, die das Denken ausklammert«.31 Denn Mentalitäten sind »geprägt von den vorgängigen Interpretationshorizonten, in denen Menschen leben und sich und ihre Welt verstehen«.32 Die mentalitätsgeschichtliche Forschung geht davon aus, daß es auf größere Gruppen übertragbare einheitliche Denk-, Einstellungs- und Verhaltensweisen gibt, die über längere Zeiträume unveränderlich bleiben. Damit ergibt sich ein offensichtlicher Zusammenhang zwischen der Annahme oder Ablehnung des Mythos Schweiz und der Existenz bestimmter Mentalitäten. Schon ein oberflächlicher Blick auf die historischen und geistesgeschichtlichen Prozesse zwischen 1700 und 1850 lassen die Annahme gruppenspezifischer Interessenlagen evident erscheinen. Der Untersuchungszeitraum ist bestimmt von der zunehmenden Verbürgerlichung des Lebens in allen Bereichen. Er erfaßt geistesgeschichtlich gleichermaßen die Epoche der rationalen Aufklärung, deren Hoch-Zeit, ihre Problematisierung und sukzessive Infragestellung sowie ihr Aufgehen in andere kulturgeschichtliche Strömungen. Die sich im 18. Jahrhundert im Zuge dieser geistig-emanzipatorischen Bewegung für die bürgerlichen Intellektuellen abzeichnenden Entscheidungsmöglichkeiten (Natur - Kultur; Sensualismus/Empfindsamkeit - Rationalismus usw.) führten zur Etablierung alternativer Einstellungen. Dieser Prozeß beschleunigte sich, bedingt durch die Französische Revolution und ihre Folgeerscheinungen auf nationalstaatlichem, wirtschaftlichem und ideell geistigem Gebiet. Der Übergang von vormodernen zu modernen Gesellschaftsstrukturen führte zu einer zunehmenden Auffächerung des Meinungsspektrums, das sich zwi-

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Zur Entstehung dieses Konzepts vgl. Iggers, Neue Geschichtswissenschaft, 1978, S. 55-96. Ansonsten Sellin, Mentalität und Mentalitätsgeschichte, 1985, S. 555-598; Reichardt, »Histoire des Mentalites«, 1978, S. 130-166, Jockei, Die »histoire des mentalites«, 1987, S. 146173; Graus, Mentalität, 1987, S. 9^8; Raulff, Mentalitäten-Geschichte, 1987. 31 Burke, Stärken und Schwächen der Mentalitätengeschichte, 1987, S. 128. 32 Nipperdey, Die anthropologische Dimension der Geschichtswissenschaft, 1976, S. 52.

sehen romantischem Konservatismus und Fortschrittsbejahung bewegte. Sowohl die vorherrschende Begeisterung für die Schweiz als auch die Phasen der Ablehnung müssen als Teil der intellektuellen Verarbeitung der Zeiterfahrungen und mithin der sich daraus ergebenden Sinnsuche interpretiert werden. Erst unter dieser Voraussetzung macht die Rekonstruktion der Vorstellungen von der Schweiz Sinn. Es ist davon auszugehen, daß Mentalitätsveränderungen auch zur Modifikation des Mythos Schweiz führten. Eingedenk dieses offensichtlichen Zusammenhanges muß die Arbeit der Zeitgenossen am Mythos als eine Form der sozialen Kommunikation verstanden werden. Erst durch die analytische Betrachtung solcher Rezeptions- und Transformationsprozesse lassen sich einzelne, relativ konstante Mythologeme herauskristallisieren. Zitat, Kritik oder Ablehnung geprägter Topoi bzw. die Einführung neuer Bildkomplexe können durch intertextuelle Analyse ermittelt werden, da jeder Autor, der über die Schweiz schreibt, bewußt oder unbewußt an der Verbreitung und Ausformung des Mythos partizipiert. Um diesen Verlauf fundiert rekonstruieren zu können, werden mehr als 500 Texte aus dem zu behandelnden Zeitraum untersucht. Dabei ist unwesentlich, ob es sich um >fiktionale< oder >authentische< Zeugnisse handelt, da beide Ausdrucksformen gleichermaßen die Vorstellung von der Schweiz mitprägten. Eine Unterscheidung wäre weder lohnend noch sinnvoll, weil es einen großen, undifferenzierbaren Übergangsbereich zwischen den beiden vermeintlichen Texttypen gibt.33 Unberücksichtigt darf dagegen nicht bleiben, daß j ede Textsorte mit ihrer spezifischen Strukturform jeweils andere Wirkungsmöglichkeiten besaß und zudem vom literarischen Markt durchaus unterschiedlich angenommen wurde. Des weiteren ist zu beachten, daß zwischen der gegenwärtigen literaturgeschichtlichen Wertschätzung von Autoren und deren zeitgeschichtlicher Wirkung Diskrepanzen auftreten können. Unter diesem Gesichtspunkt wird beispielsweise einem Autor wie dem vielschreibenden Göttinger Professor Christoph Meiners, der zwei stark beachtete Reisebeschreibungen über die Eidgenossenschaft veröffentlichte, eine größere Aufmerksamkeit zuteil werden müssen als dem berühmten Weimarer Klassiker Goethe, der zwar mehrmals in der Schweiz weilte, aber mit seinen Werken kaum Einfluß auf die etablierten zeitgenössischen Schweiz-Bilder nahm.34 Ebenso differenzierend ist im Hinblick auf die Textsortenpräferenz zu verfahren. Auch hier müssen neben den artifiziell hochrangigen Ausdrucksformen die Genres treten, die aufgrund ihrer ästhetischen Anspruchslosigkeit und ihres hohen Unterhaltungswerts über Jahrzehnte von der Literaturgeschichtsschreibung gemieden wurden. Hierzu gehören alle Formen der Publizistik, vor allem aber der Reiseliteratur, die neben der Idylle, dem Gedicht und der Erzählung, denen innerhalb des 33

Siehe hierzu die gattungsgeschichtlichen Überlegungen zur Reisebeschreibung und -erzählung im Kapitel 6.2. 34 Nur von dem Singspiel Jery und Bätely und dem Hören-Bericht Briefe auf der Reise nach dem Gotthard ging eine nachweisbare, temporäre Wirkung aus. Zu den Reisen siehe Hentschel, Goethe, 1993, S. 96-102; zu seinem Verhältnis zur Schweiz allgemein Siegrist, Schweiz, 1998.

Untersuchungszeitraums nur temporäre Bedeutung zukommt, als die prävalenten Vermittlungsformen von Fremderfahrungen anzusehen sind.35 Resümierend läßt sich festhalten: Die zusammenhängende Analyse der zahlreichen Meinungsäußerungen über die Schweiz ist auszuweisen als mentalitätsgebundene Verständigung der publizierenden Öffentlichkeit über das vermeintlich »richtige« Schweiz-Bild, so daß zu jedem Zeitpunkt zwischen 1700 und 1850 die prävalenten Diskussionszusammenhänge und Bildbestandteile aufgezeigt werden können. Wird dies erreicht, dann kann auch beispielsweise dem Manne geholfen werden, der nach der Lektüre von Schillers Wilhelm Teil 1805 in der Isis seine Leser fragte: »Man begreift es kaum, wie ein Mann, der die Schweiz vielleicht nie [...] sah, vermöge seines Genie's sich in die Denkart jedes Einzelnen dieser Menschen individualisiren konnte?«36

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Es ist in diesem Zusammenhang zu untersuchen, auf welche Weise die Autoren mit der Schweiz in Berührung kamen. Unterlag der Schriftsteller dem Einfluß des Auto-Images der Schweizer oder lehnte er sich an das etablierte Hetero-Image der einheimischen Autoren an oder wurde das Schweiz-Bild vor allem durch Autopsie gewonnen? So schwierig sich dies im einzelnen eruieren und trennen läßt, dem Modus der Fremdwahrnehmung kommt im Hinblick auf die Entstehung von »Bildern« vorentscheidende Bedeutung zu. 36 Isis. Eine Monatschrift von Deutschen und Schweizerischen Gelehrten l (1805), Bd. l, S.218.

2. Der Beginn des Philhelvetismus die Werke von Scheuchzer bis Rousseau und ihre Rezeption zwischen 1700 und 1770

2.1 Johann Jakob Scheuchzers Natur=Histori des Schweitzerlandes Am Ende des 17. Jahrhunderts war die Schweiz noch nicht das gesuchte Reiseziel der Deutschen. Wer geschäftlich unterwegs war, hoffte, schnell und unbeschadet die kaum befestigten Pässe zu überqueren, und auch für die Grand-Tour-Reisenden, die sich nach Italien begaben, hatten die Alpen keinerlei Attraktivität. Reserviert begegnete man auch der Bevölkerung, der der Ruf eines wilden und kriegerischen Volkes vorausging,1 das sich hinter »starcke[n] und unüberwindlich=natürliche[n] Festungen«2 verberge. Die wenigen deutschsprachigen Berichte zeigen, daß man der ungeheuren Gebirgsnatur hilflos und abweisend gegenüberstand; man überwand sie - notgedrungen - »auf eine ohnlustige Weise«.3 Johannes Limberg von Roden berichtete 1690 aus der Schweiz: »Ich sähe selbsten offters gantze Berge voller Schnee herunter fallen. Man hört ein solches Geräusch von dem herabfallenden Schnee, als wann Himmel und Erden über ein Hauffen fielen [,..].«4 Das führte ihn zu der nüchternen Erkenntnis, »daß einer also mit höchster Gefahr seines Lebens hier reisen muß«.5 Limberg von Roden drang nicht weit in die eidgenössische Bergwelt vor. Unweit von Feldkirch brach er seine Reise in der Schweiz ab. Die Angst vor der gefahrbringenden Gebirgsnatur wurde bis ins 18. Jahrhundert hinein genährt durch theologische Verdikte, nach denen eine solche Landschaft das Böse, Schreckliche und Sündhafte in der Welt repräsentiere.6 Ein prominenter Vertreter einer derartigen Naturbetrachtung war der schottische Geologe und Geistli-

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»Die meisten Schweizer sind groß und starck von Leibe und werden dannenhero von vielen Potentaten zu Trabanten angenommen, weil sie auch aufrichtig und treu sind, und keine Gefahren scheuen.« (Melissantes, Cosmographia novissima, 1715, S. 827). - Man glaubte, in der Schweiz lebe »nichts als ein wild= und ungezähmtes Volk, das bloß in einsamen Hütten, oder zum Theil gar in Höhlen sich aufhalte« (Gessner, Gesammelte Schriften, Bd. 3, Theil 5,1972,8.33). 2 Melissantes, Cosmographia novissima, 1715, S. 266. 3 Klaute, Diarium Italicum, 1722, S. 265. 4 Limberg von Roden, Denckwürdige Reisebeschreibung, 1690, S. 872. 5 Ebd. 6 Schon in der Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments, Genesis 3:17, findet sich der Zusammenhang von Sünden- und Naturverfall. Zu diesem Sachverhalt siehe Zelle, »Angenehmes Grauen«, 1987, S.75ff. und Richter, Die Kopernikanische Wende, 1968, S. 132-169. Vgl. auch Garber, locus amoenus, 1974, S.226-298, insbesondere S. 240-254 u. S. 292f. 11

ehe Thomas Burnet,7 der in seiner Schrift Telluris theoria sacra (lat. 1681, engl. 1684, dt. 1693) die Gebirge als unproportionale, chaotische Gebilde bezeichnete, denen »kein Schatten einiger Schönheit/ keine Spur einer Kunst oder Vernunfft=Mässigkeit«8 zugeschrieben werden könne. Zwar hatte Burnet, der 1671 über die Alpen gereist war, zugleich auch festgehalten, daß sie ihm »sehr groß und herrlich«9 erschienen waren und ihn damit gleichsam an die Allmacht des Schöpfers gemahnt hatten, doch wirkungsmächtig blieb zunächst seine Beschreibung der Gebirge als nachsintflutliche Welt,10 als »ruins of a broken world«.11 Solche Chaos- und Degenerationstheorien, von Burnet noch einmal pointiert vorgetragen, lösten eine Gegenreaktion aus. Den ästhetischen und metaphysischen Verdikten wurde mit einem physikotheologischen Konzept begegnet. Seine Verfechter gingen davon aus, daß die Welt zweckmäßig und vollkommen eingerichtet sei.12 Diese ontologische Feststellung bedurfte natürlich einer wissenschaftlichen Begründung.13 Es mußte der Nachweis erbracht werden, daß das einzelne Naturobjekt innerhalb des -ganzen notwendig war. Nur so ließ sich Gott als weiser Schöpfer einer vollkommenen Welt rechtfertigen. Der Mitbegründer dieser philosophisch-naturwissenschaftlichen Richtung, der Engländer William Derham, bezog sich in seinem Hauptwerk Physicotheolog/e(engl. 1730; dt. 1730) ausdrücklich auf Burnets These. Auch für ihn sind »die Berge und Hügel das graste Muster der Unordnung und eines wüsten Wesens«,1* doch zugleich weiß er zu berichten, welche Vorteile und Annehmlichkeiten die Gebirge den Menschen bieten können.15 Die Leser sollten davon überzeugt werden, daß »die Hügel und Berge / (weit gefehlet daß sie von ohngefehr oder ohne Absicht entstanden wären,) vielmehr [...] ein edler sehr nützlicher / ja unentbehrlicher Theil des Erd=Bodens«16 seien. Er will nachweisen, daß die Gebirge mit ihrer gesunden Luft, den vielen Krautern, Mineralien und Metallen, Quellen und Brunnen einen notwendigen Bestandteil der göttlichen Ordnung darstellen. Aus mangelnder Kenntnis der alpinen Natur mußten seine Ausführungen allgemein bleiben. 7

Zu Burnet siehe Zelle, »Angenehmes Grauen«, 1987, S. 83ff. und Feller, Die Schweiz des 17. Jahrhunderts, 1943, S.63f. 8 Burnet, Telluris theoria sacra, 1698, S. 74. 9 Ebd., S. 77. 10 Zur Wirkung siehe Ogden, Thomas Burnet's Telluris Theoria Sacra, 1947, S. 139-150; Zelle, »Angenehmes Grauen«, 1987, S. 218 und Stanzel, Das Bild der Alpen, 1964, S. 134136. 1 ' Burnet, Sacred Theory of the Earth, 1759, S. 183. 12 Damit wurde natürlich auch auf Konzeptionen reagiert, mit denen die Natur immanent erklärt werden sollte (Französischer Rationalismus, New science u. Spinozismus). Zur Physikotheologie siehe Groh, Von den schrecklichen zu den erhabenen Bergen, 1989, S. 68 und Zelle, »Angenehmes Grauen«, 1987, S.213-219. 13 Zur Theodicee-Problematik bei Leibniz und Wolff, auf die hier nicht eingegangen werden kann, siehe Lemp, Das Problem der Theodicee, 1972, S.42-73. 14 Derham, Physicotheologie, 1732, S.l. 15 Vgl. Zelle, »Angenehmes Grauen«, 1987, S. 215-218. 16 Derham, Physicotheologie, 1732, S. 140. 12

Doch Derham konnte auf den Schweizer Johann Jakob Scheuchzer verweisen,17 der es sich zu seiner Lebensaufgabe gemacht hatte, auf der Grundlage der Physikotheologie eine Natur=Hlstori des Schweitzerlandes zu erstellen. Auf seinen zahlreichen Alpenwanderungen registrierte und beschrieb er die wichtigsten Naturobjekte; er beschäftigte sich u.a. mit physischer Geographie, Meteorologie und Paläontologie. Scheuchzer mißtraute einer empirielosen Naturwissenschaft. Die Vollkommenheit der Schöpfung lasse sich nicht allein durch Vernunftschlüsse zeigen, man müsse sie an jeder einzelnen Erscheinung studieren. Scheuchzer glaubte, daß man auf diese Weise auch den abschätzigen und zugleich oberflächlichen Urteilen über die Schweiz18 werde begegnen können. Und so unternahm er weite, strapaziöse Reisen und setzte sich den Gefahren einer noch weithin unzugänglichen Natur aus. Er widerlegte die Ansicht, daß die auf die Berge steigenden Menschen durch die »Erweiterung der inneren Luft eine Ruptur oder Zerspringung ihrer Adern ausstehen/ und damit in Lebensgefahr«19 geraten würden. Auch das Leben der Bergbewohner sei nicht so trist und entbehrungsreich, wie man allgemein annehme: »Es haben die Einwohner unserer hohen Gebirgen gemeinlich starke/ von den Krankheiten befreyte Leiber/ und ehrliche/ aufrichtige Gemüther; sie leben einfältig/ gemeinlich von Milch/ und Milchspeisen; diese Landeskraft bekommt ihnen besser/ als die niedlichsten Speisen/ so aus frömden Landen zu uns gebracht werden. An anderen zu unserer Gesundheit nöthigen und dienstlichen Elemente fehlet es uns auch nicht. Die Luft ist gesund/ und in stäter Bewegung; die Wasser frisch/ kalt/ lauter/ und in grosser Menge.«20 Doch damit nicht genug; die Schweiz - so schreibt er weiter - könne nicht nur ihre Bewohner ausreichend ernähren, sie sei eingerichtet, ganz Europa mit Wasser, Wolken und Winden zu versorgen.21 Somit hätten selbst die Eisgebirge und Gletscher einen wichtigen Platz in der Schöpfung; auch sie repräsentierten deren Vollkommenheit. Wer das Land aber »nur obenhin/ oder gar durch ein Fehrnglas« betrachte, der müsse weiterhin glauben, »es habe die Natur in diesen/ kleinen Winkel von Europa alle die Materi auf einen Hauffen geschüttet/ welche ändern Ländern überblieben/ 17

Der Züricher Naturforscher ist als Vermittler der Natur-Theologie in Deutschland von der Aufklärungsforschung kaum hinreichend gewürdigt worden; zumindest verdient er einen Platz neben dem Hamburger Physikotheologen Johann Albert Fabricius. 18 »Es verglichen viele das Schweitzerland einem Ort, da nichts als rauhe Gebürge mit ewigem Schnee und Eise bedecket, und unfruchtbare Thäler zu finden; da die Einwohner nicht vil besser als das dumme Vieh erzogen, und da hiemit auch niemand als ein wildes Volk wohnen könne.« (Herrliberger, Neue und vollständige Topographie der Eydgenoßschaft, Bd. l, 1754, Vorrede, unpag.); »Wie fremd und unerfahren man bis auf die Ankunft Scheuchzers in dem Studium der Natur war, können unter ändern die noch häufigen Gespenster und Hexengeschichten beweisen, welche die helvetischen Jahrbücher dieses Zeitalters entweyhen.« (Meister, Scheuchzer, 1782, S.72). 19 Scheuchzer, Helvetiae historia naturalis, Bd. l, 1716, S. 13. 20 Ebd., S. 152. 21 »Es ist/ wie zu seiner Zeit ein mehrers hiervon folgen wird/ das Schweitzerland eine reiche Schatzkammer nicht nur der Wassern/ sondern auch der Wolken und Winden/ zum Nutzen des ganzen Europae.« (Ebd., S. 35). 13

oder unnütz gewesen«.22 Aber derjenige, welcher »nebst der Vernunft die Erfahrung selbst rathsfraget«,23 wird eines anderen belehrt. Auf einer Reise in die Schweiz könne so eine exorbitante Natur als integrativer und notwendiger Bestandteil der Schöpfung kennengelernt werden. Die angsteinflößende Erscheinung wird bei Scheuchzer ins göttlich Vollkommene eingebunden, statt Schrecken stelle sich beim Betrachter Andacht und Freude ein: »Da zeiget sich so zu reden ein kleiner Schatten einer Unendtlichkeit/ dessen Grosse unsere ausseren und inneren Sinne überall anfüllet.«24 Mit seinen naturhistorischen Arbeiten hatte Scheuchzer die Voraussetzungen für einen Paradigmenwechsel geschaffen. Er stellte Kenntnisse bereit, mit deren Hilfe Vorbehalte und Ängste abgebaut werden konnten. Leider fand sein wissenschaftliches Werk im deutschsprachigen Raum zunächst wenig Beachtung. Das protestantisch-orthodoxe Zürich stand den Forschungen Scheuchzers zurückhaltend bis ablehnend gegenüber.25 So wandte er sich mit seiner ersten großen wissenschaftlichen Arbeit nach London, wo er 1706 Mitglied der Royal Society wurde. Diese übernahm die Druckkosten für sein opulentes Reisewerk Ouresiphoites Helveticas sive itinera alpina tria. Nachdem kein geringerer als Isaak Newton die Imprimatur erteilt hatte, konnte es 1708 in London erscheinen. Es begründete Scheuchzers europäischen Ruhm. In seinem wissenschaftsfeindlichen Heimatland aber versagte man ihm eine seinen Leistungen angemessene Anerkennung.26 Dabei hat Scheuchzer die Alpen nicht nur als notwendigen und nützlichen Teil der Schöpfung rehabilitiert,27 mindestens ebenso wichtig ist, daß er Ausländer auf die Schweiz aufmerksam machte und damit dem Land auch einen materiellen Dienst erwies. Er hatte ausdrücklich die an einer außergewöhnlichen Natur Interessierten aufgefordert, dieses unverwechselbare Land, wo auf wenig Raum alle Klimata beieinander liegen,28 mit eigenen Augen zu beschauen. Doch der Einladung Scheuchzers folgten in der erste Hälfte des 18. Jahrhunderts nur wenige Deutsche. Dies lag daran, daß seine Werke zunächst vor allem in England, dem Kernland der Physikotheologie rezipiert wurden; von dort erreichten sie wohl zusammen mit den Schriften Derhams Deutschland, wo mit Hamburg das

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Ebd.,S.40f. Ebd., S. 41. 24 Ebd.,S.99f. 25 »So kleinfügig und zugleich feindselig war die Denkart seiner Collegen, daß sie es wagten, Scheuchzers neue Lehren für profan, z. B. das copernikanische System für atheistisch und die schwammerdamischen Hypothesen für schlüpferig und libertinisch zu erklären.« (Meister, Scheuchzer, 1782, S. 73). - Siehe auch Fueter, Geschichte der exakten Wissenschaften, 1941,8.33^5. 26 Siehe Fueter, Geschichte der exakten Wissenschaften, 1941, S. 144. 27 »[...] wann wir aber die Sach genau einsehen/ so zeiget sichs klärlich/ wie überal in dem ganzen grossen Weltgebäue/ also auch hier/ das alles/ was Gott gemachet hat/ sehr gut.« (Scheuchzer, Helvetiae historia naturalis, Bd. l, 1716, S. 34). 28 »Es ist [...] bemerket worden/ das einer/ so über unsere hohen Gebirge reiset/ in einem Tag erfahren kan alle vier Zeiten des Jahrs.« (Ebd., S. 152). 23

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Zentrum der Natur-Theologie entstand. Hier wurden die Werke des Engländers übersetzt und herausgegeben, eigenständige physikotheologische Arbeiten verfaßt29 und schließlich im Lehrgedicht Kosmologie und Religion anschaulich verknüpft.30 Die Hamburger Aufklärer waren also bestens prädestiniert, endlich auch von deutscher Seite aus dem pejorativen Bild von der Bergwelt zu begegnen. Barthold Hinrich Brockes hatte 1703/1704 auf seiner Rückreise aus Italien das Schweizer Hochgebirge gesehen. Da es keine Dokumente von der Reise bzw. ihrer literarischen Nachbereitung gibt, in denen diese Landschaft beschrieben wird, sieht man sich schließlich auf die opulente Lehrgedichtsammlung Irdisches Vergnügen in Gott verwiesen. Dort findet sich ein Text, der dem Gebirge gewidmet ist. Er heißt Die Berge und ist vermutlich zwischen 1721 und 1723 entstanden.31 Reminiszenzen an das eigene Alpen-Erlebnis sind nicht auszumachen, aber auch nicht auszuschließen. Brockes' Darstellungkonzept ist bei allen textsortenbedingten Unterschieden vergleichbar mit dem von Derham und Scheuchzer, deren Hauptwerke ihm bekannt waren. Er setzt sich mit der These auseinander, daß die Gebirge aus der göttlichen Weltharmonie herausfallen. Auch für Brockes ist Burnet gegenwärtig der prominenteste Verfechter dieser Weltsicht:32 »Wann Burnet der Berge Höhen, Als von der geborst'nen Welt Rest und Zeichen, angesehen, Und durch Fluth verursacht hält; Sollt' ihr Schutt fast glaubend machen, Daß vielleicht die Welt, mit Krachen, Durch die Gluth, schon einst verheert, Und, durch Brand sey umgekehrt.«33

In mehreren Strophen beschreibt Brockes ganz im Sinne Burnets das Schreckliche und Furchteinflößende der alpinen Landschaft.34 Doch bald darauf, in der zweiten Hälfte des Gedichts, erfolgt die physikotheologische Wendung: »Ob nun gleich der Berge Spitzen Oed' und grausam anzusehn; Sind sie doch, indem sie nützen, Und in ihrer Grosse, schön. Wer wird jeden Vortheil nennen,

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Johann Albert Fabricius veröffentliche eine Okular-; Pyro- und Hydrotheologie. Vertrat Johann Albert Fabricius die Lehre als Wissenschaftler und Popularphilosoph, so besteht Barthold Hinrich Brockes' Leistung darin, das physikotheologische Weltbild poetisch-anschaulich verbreitet zu haben. 31 Zu diesem Gedicht siehe Zelle, »Angenehmes Grauen«, 1987, S. 239-247. 32 Der explizite Verweis auf Burnet erfolgt erst in der zweiten Fassung des Gedichts 1728. 33 Brockes, Auszug der vornehmsten Gedichte, 1738, S. 128. 34 Siehe die Strophen 7-12 in der überarbeiteten Fassung, ebd., S. 126-128. 30

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Zählen und beschreiben können, Den, zur Lust und Nutz der Welt, Der Gebürge Raum enthält?«35

Einige dieser Vorzüge werden in den nächsten Strophen aufgezeigt; es sind Beschreibungssequenzen, die in Kenntnis von Scheuchzers Arbeiten entstanden sein könnten.36 Neu ist, daß hier ein deutscher Aufklärer den engen Konnex von »Lust und Nutz«, von erhabener Natur, ihrem Gebrauchswert und ihrer Schönheit herausstellt. Der barocke locus terribilis beginnt literaturfähig zu werden. Dieser Wandel, den Brockes für die deutsche Literatur initiierte, vollzog sich überaus langsam. Die etablierte Systemphilosophie, repräsentiert durch Leibniz und Wolff, stützte zwar die physikotheologische Weltsicht, doch verweigerte sie sich einer empirischen Forschung. Selbst bei Brockes, der die Erscheinungsvielfalt in seinen Gedichten mikroskopisch genau zu erfassen suchte,37 herrscht die systematisierende Reflexion im Sinne einer auf Gott ausgerichteten Transzendenz über die Erfahrung.38 Nicht zuletzt die Metaphysik der Deutschen, so wie sie bis in die zweite Jahrhunderthälfte hinein vorrangig betrieben wurde, verhinderte, daß der Einladung Scheuchzers, man möge nicht länger »hinter dem Ofen sizen, und phantastische Grillen außbruten, sondern die Natur selbs einsehen, Berge und Thäler durchlauffen, alles aller Orten genau in acht nehmen [.. .]«,39 nicht gefolgt wurde. Die Engländer, mit der Philosophie des Sensualismus und Empirismus vertrauter, befolgten diesen Rat dagegen bei weitem stärker;40 die Deutschen blieben zu Hause und lernten das Land zunächst aus der zeitgenössischen Literatur kennen, die die Schweizer und auch die Engländer zur Verfügung stellten, was natürlich - wie zu zeigen sein wird - in der Folge zur Übernahme von Fremdwahrnehmungen und -bildern führte, die zunächst in spezifischer Weise den deutschen Philhelvetismus prägen sollten. Werke über die Schweiz wurden zum großen Teil erst viele Jahre nach der Originalpublikation in deutscher Sprache veröffentlicht. Scheuchzers Beschreibung aller neun alpinen Reisen, 1723 erstmals in Leiden in lateinischer Sprache publiziert, erschien erst 1746 in deutscher Übersetzung.41 Mit welch großem Zeitverzug sich Wissen über das Nachbarland verbreitete, zeigt folgende Episode. Scheuchzer hatte in seiner Naturhistorie die bemerkenswerte Mitteilung gemacht, daß man im Juli und August neben den Gletschern die »schmackhaftesten Erbeeren«42 finden könne - eine Feststellung, die in der zweiten

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Ebd., S. 128. Siehe Zelle, »Angenehmes Grauen«, 1987, S. 241 und 245, wo anhand von Parallelstellen nachgewiesen wird, daß Brockes direkt auf Scheuchzer Bezug nimmt. 37 Wagner-Egelhaaf, Gott und die Welt im Perspektiv des Poeten, 1997, S. 183-216. 38 Siehe Ketelsen, Die Naturpoesie, 1974, S. 142-145. 39 Scheuchzer, Helvetiae historia naturalis, Bd. l, 1716, S.2. 40 Stanzel, Das Bild der Alpen in der englischen Literatur, 1964, S. 121-138. 41 Scheuchzer, Natur=Geschichte des Schweitzerlandes, 1746. 42 Scheuchzer, Helvetiae historia naturalis, Bd. l, 1716, S.36. 36

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Jahrhunderthälfte fast jeder Besucher des Grindelwaldgletschers bestätigte.43 Doch noch im Jahre 1750 vertrat der Maler Carl Ludwig von Hagedorn die Auffassung, daß ein Künstler, der solch ein Naturphänomen abbilde, damit rechnen müsse, als Phantast oder gar als Lügner hingestellt zu werden. Er riet dem Dresdner Hofmaler Brinkmann, der selbst in der Schweiz gewesen war und gesehen hatte, daß neben den »Eisschollen [...] reife Erdbeeren«44 wachsen, von der Veröffentlichung seiner »meisterhaften Abzeichnung«45 ab. Er begründete dies folgendermaßen: »Eigentlich ist es der Gegenstand eines Gemähides. Aber in einem Gemähide selbst würde es auch nur diejenigen überreden, die an der Wahrscheinlichkeit des Gegenstandes keinen Zweifel spüren. Bis dahin bedarf das Wahre selbst einer Erklärung; und auf so lange ist auch kein lebhafter Eindruck bey dem Beobachter zu gewarten.«46

2.2 Albrecht von Hallers Die Alpen 1728 unternahm der neunzehnjährige Schweizer Albrecht von Haller, der gerade im Ausland seine Studien abgeschlossen hatte, eine weitreichende, vor allem von botanischem Forschungsinteresse bestimmte Reise durch sein Heimatland. Was er anschließend niederschrieb, war aber keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern ein Gedicht, dem er den Titel Die Alpen47 gab. Dies führt zu der Frage, was einen Arzt und Wissenschaftler veranlaßte, ein seinen ursprünglichen Erkenntnisgegenstand weit überschreitendes Phänomen wie die Alpen zum thematischen Schwerpunkt einer Dichtung zu machen. Denkbar wäre in Fortführung von Scheuchzers physikotheologischen Forschungen über die Schweiz ein Naturgedicht, das ganz im aufklärerischen Sinne vorliegende Erkenntnisse bildhaft vermittelt. Es ist bekannt, daß sich Haller am Ende seiner Reise mehrere Tage in Zürich aufhielt, um Scheuch-

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»Ja ich habe so gar selbst gefunden, daß man oft mit einem Fuß auf Eis, und mit dem ändern auf einen grünen Boden treten kann, der Erdbeeren trägt.« (Hirschfeld, Briefe, 1769, S. 128); »Bekannt, und doch immer angenehm überraschend sind die vom Schnee des Gletschers aus erreichbare Erdbeeren.« (Storr, Alpenreise vom Jahre 1781, Theil 2,1786, S. 7); »Mit einem Fuße auf Eis kann man die Hand nach Erdbeeren ausstrecken, und die Winter und Sommer in einem Blicke überschauen.« (Robert, Reise in die dreyzehn Cantone, Theil l, 1790, S.37); »Es läßt sich also nicht mehr vom Grindelwalde sagen, daß man Blumen, Gras und Erdbeeren mit der einen, und Eis mit der ändern Hand berühren könne.« (Küttner, Wanderungen, Theil l, 1796, S.244); »Aber Erdbeeren findet man in der größten Vollkommenheit; selbst zwischen dem Eise.« (Eggers, Bemerkungen, Bd. 6,1806, S. 102); »Auf der Südseite pflückten wir wilde Erdbeeren, auf der entgegengesetzten berührten wir ein Eisfeld. Man muß dies gesehen haben, um es zu glauben, und doch ist es buchstäblich wahr.« (Montfort, Briefe, 2. Bdchen., 1827, S.45). 44 Hagedorn, Betrachtungen über die Mahlerey, 1762, S. 190. 45 Ebd. 46 Ebd. 47 Zum Gedicht siehe Zelle, »Angenehmes Grauen«, 1987, S. 251-260 und Buch, »Ut Pictura Poesis«, 1971,8.97-115. 17

zer zu besuchen. Wie Hallers Gedicht zeigt, teilte er die Ansichten des älteren Zürcher Kollegen uneingeschränkt. Auch für ihn ist die Schweiz ein Land, »Wo nichts, was nöthig, fehlt und nur, was nutzet, blüht; Der Berge wachsend Eis, der Felsen steile Wände Sind selbst zum Nutzen da und tränken das Gelände.«48 Erschöpfte sich aber das Gedicht in der poetischen Repetition des von Scheuchzer schon Aufgezeigten, wäre dessen Wirkung auf die deutschen Leser nicht so groß gewesen. Schon bei einer ersten Lektüre des Textes fällt auf, daß es sich hierbei keineswegs um ein Naturgedicht handelt. Selbst die Strophen, die den Tieren und Pflanzen auf den Gebirgsformationen gewidmet sind, fungieren als Bestandteile in einem übergeordneten, neuartigen Zusammenhang. Haller hatte auf seiner Reise neben Scheuchzer auch Beat Ludwig von Muralt besucht, einen Gelehrten und väterlichen Freund, der drei Jahre zuvor mit dem Buch Lettres sur les Anglais et les Francois et sur les Voyages großes Aufsehen erregt hatte.49 In diesen Briefen beschreibt der Verfasser seine Beobachtungen über die Franzosen und Engländer und vergleicht deren typische Eigenschaften. Den Vorzug erhalten »die Engelländer wegen der grossen Anzahl der eigenen Charactere, und der vielen Originale, welche sich unter ihnen finden [...] Wir sind ihnen auch deswegen viele Hochachtung schuldig, weil sie uns Beyspiele von Männern geben, die sich ihrer Vernunft zu gebrauchen erkühnen, und mit sich selbst zu leben wissen; sie sind dadurch noch mehr Menschen und freyer, als durch die Freyheit, welche sie in Ansehung ihrer gemäßigten Regierungsart zu erhalten gewust haben«.50 Im Gegensatz dazu werden die Franzosen als ein Volk geschildert, das die Freiheit nicht zu würdigen wisse und der Mode und dem Laster verfallen sei, was wiederum zu »eine[r] gewisse[n] Gleichförmigkeit, in Ansehung ihres Charakters«51 geführt habe. Zunächst scheint Muralts Buch mit Hallers /1/pen-Dichtung in keinem näheren Zusammenhang zu stehen. Und doch sind beide Werke trotz unterschiedlicher Thematik dem gleichen Ziel verpflichtet. Sie geben Orientierungshilfen,52 mit denen dem sittlichen Verfall der eigenen Sozietät begegnet werden soll. Beide Autoren hatten ähnliche politische Erfahrungen gemacht. Sie kamen aus Bern, wo sich alte Familiengeschlechter seit Jahrhunderten die Macht im Großen und Kleinen Rat teilten. Korruption, Ämterschacher, eine strenge Zensur und religiöse Intoleranz ließen an einen progredierenden Verfallsprozeß des Staates denken; die martialischen Tugenden vergangener Jahrhunderte begannen, obsolet zu werden und einer

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Haller, Gedichte, 1882, S. 34. In deutscher Sprache ist das Werk erst 1761 bei Siegmund Heinrich Hofmann in Weimar unter dem Titel Des Herrn von Muralt Briefe über die Engelländer und Franzen erschienen. 50 Muralt, Briefe über die Engelländer und Franzen, 1761, S. 295. 51 Ebd., S. 151. 52 »Alle freye Menschen, oder die, welche die Freyheit hoch schätzen, stellen sich die Franzosen nicht zu ihren Mustern vor, und bewundern sie eben so wenig.« (Ebd., S. 284). 49

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Arroganz der Macht und einem französisierenden Lebensstil zu weichen.53 Es war kein Zufall, wenn beide Autoren insbesondere diejenigen Zeitgenossen angriffen, die als Petits-Maitres »alles, was die Jugend, der französische Charakter und der Hof schlimmes und unerträgliches an sich haben«,54 nachahmten.55 Sowohl Muralt, der als Pietist aus seiner Heimatstadt verbannt wurde, als auch Haller, der schon früh die Wissenschaftsfeindlichkeit Berns zu spüren bekam,56 hatten Grund genug, dem eigenen Land den Spiegel vorzuhalten.57 Mit ihrem kritischen Urteil standen sie keineswegs allein. Der deutsche Gelehrte Johann Georg Keyßler, der 1729 nach Bern kam, mußte feststellen, daß sich »seit fünzig Jahren [...] die Sitten des Landes in vielen Dingen verändert und die Liebe zu überflüßigen Ausgaben und wollüstigem Leben [...] mehr Überhand genommen«58 haben. Und der Berner Johann Georg Altmann schrieb 1747, zwei Jahre vor der Henzi-Verschwörung, nach Göttingen an Haller, daß sich in seiner Heimatstadt seit dessen Weggang nichts verändert habe: »Auf dem Rathhauß intriguirt man, ann der Herrengaß heuchelt und betriegt man und unter der gemeinen Bürgerschaft isst und trinkt man und das wird euch nichts Neues seyn.«59 Erst das Wissen um diese Negativa macht verständlich, warum Autoren wie Muralt und Haller idealisierte Gegenbilder zum allgegenwärtig Dekadenten entwarfen. Direkte Kritik verbot sich angesichts der strengen Berner Zensur. Akzeptiert man diese aufklärerische Weltsicht des jungen Intellektuellen Haller als bestimmenden Schreibanlaß auch für das Alpen-Gedicht, so muß sogleich der immer wieder geäußerten Ansicht, man habe es hier mit einem unbedarft-schönen Exemplar von Idyllen- bzw. Beschreibungspoesie zu tun, mit dem Hinweis auf ebendieses Entstehungsumfeld widersprochen werden. Die Tatsache, daß ein Autor ein Gegenbild zu einer ihm ungenügenden Lebenswirklichkeit entwirft, ist aber noch keine Gewähr dafür, daß sein Gedicht die Erwartungen der Zeitgenossen erfüllt. Im Falle Hallers ist dies jedoch geschehen, weit über die Schweiz hinaus. Es hat - so Franz R. Kempf - »eine Welle der Schweizerbegeisterung und eine Flut der Schweizerreisen«60 ausgelöst. Dieser Widerspruch von konkretem Schreibanlaß und allgemeingültiger Aussage löst sich, wenn man be-

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Die korrupten politischen Verhältnisse in Bern stellt anhand zahlreicher Beispiele Ludwig Hirzel dar: Hirzel, Einleitung, 1882, S. LXXXVII-CVII. 54 Muralt, Briefe über die Engelländer und Franzen, 1761, S.268f. 55 So setzt sich Haller in dem satirischen Lehrgedicht Der Mann nach der Welt mit dem »hässlichen Gemüths-Charakter eines jungen sogenannten Petit=Maitre« auseinander, wobei der Verfasser hervorhebt, daß dieser »aus verschiedenen besondern kleinen Originalen zusammengesetzt« ist. (Haller, Gedichte, 1882, S. 102). 56 Siehe Hirzel, Einleitung, 1882, S. XIV u. XLHI. 57 Siehe auch Hallers Gedicht Die verdorbenen Sitten, dessen Entstehung in das Jahr 1729 zurückreicht: Haller, Gedichte, 1882, S. 86-98. 58 Keyßler, Neueste Reise, Bd. l, 1740, S. 169. 59 Johann Georg Altmann an Haller, 3. August 1747, zit. nach: Hirzel, Einleitung, 1882, S. CV. 60 Kempf, Hallers Ruhm als Dichter, 1982, S. 131-148, hier S. 145.

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denkt, daß die von Haller kritisierten Erscheinungen in ganz Europa zu finden waren, was der weitgereiste junge Autor natürlich wußte. Haller beginnt sein Gedicht mit einem knappen, pointiert vorgetragenen geschichtlichen Aufriß, in dem er die »güldne Zeit«, wo »der Mensch zum Glück den Ueberfluß nicht zählte«,61 mit einer Gegenwart konfrontiert, in der es allein um Macht, Reichtum und sinnlichen Genuß gehe. Haller prophezeit all denen, die diesen Schimären nachlaufen: »Ihr werdet arm im Glück, im Reichtum elend bleiben!«62 Was hier noch im anthropologischen Sinne kontrastiert wird, erscheint in den folgenden Strophen auch als soziale Opposition von selbst gewählter Armut und gesuchtem Reichtum. Den großen Städten und Palästen, wo »Pracht und Ueppigkeit«,63 »Geiz« und »geile Wollust«64 wohnen, »wo Bosheit und Verrath im Schmuck der Tugend gehn«65 und »wo Neid und Eigennutz auch Brüder-Herzen trennen«,66 setzt er den Lebensraum der Hirten entgegen, die als »Schüler der Natur [...] noch güldne Zeiten«67 kennen. Haller muß auf seiner Reise durch die Alpen diese Bevölkerungsgruppe aufgefallen sein, aber es blieb wohl ein oberflächlicher Kontakt. In seinem Reisetagebuch findet sich nur wenig über sie.68 Es muß angenommen werden, daß Hallers Gedicht kaum auf eigenen Erfahrungen basiert, es ist ein Ideenprodukt, in das viele Wirklichkeitssplitter integriert wurden.69 Haller wird sein ganzes Leben an der Verbesserung seines Lehrgedichts arbeiten - Bedenken, daß dabei originär Erfahrenes verloren gehen könne, hatte er nicht. Es ist verschiedentlich nachgewiesen worden, daß Vergils Georgica, aber auch Werke anderer Autoren (z. B. die Scheuchzers) herangezogen und bis in die Formulierungen hinein adaptiert wurden.70 Haller bedient sich dieser literarischen Mittel, um eine ideale Lebensform umfassend beschreiben zu können. Jede zehnzeilige Strophe ist ihm ein Mosaik zu diesem Gesamtbild. Die Hirten werden bei ihrer schweren Arbeit, in ihren Familien und beim sportlichen Wettstreit gezeigt, auch ein Tagesablauf wird vorgestellt, sodann geraten die Alpenbewohner mit ihren jahreszeitlich typischen Beschäftigungen in den Blick, zudem lernt der Leser die jungen Hirten beim Kiltgang und die Alten als weise Ratgeber und Vermittler patriotischer Traditionen kennen. Bei all der Bedeutung, die dem kulturgeschichtlichen Detail zukommt, geht es dem Dichter vor allem um das Erfassen typischer Verhaltensweisen. Er zeigt

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Haller, Gedichte, 1882, S. 21. Ebd. 63 Ebd., S. 22. 64 Ebd., S. 41. 65 Ebd., S. 40. 66 Ebd., S. 41. 67 Ebd., S. 22. 68 Haller, Erste Reise durch die Schweiz, 1785, S. 211-250. 69 Heidmann Vischer, Idealisiert, mythologisiert und »nach dem Leben gemalt«, 1992, S. 149-160. 70 Siehe Helbing, Haller als Dichter, 1970, S. 1-21; Ischer, Albrecht von Haller und das klassische Altertum, 1928; Kohlschmidt, Hallers Gedichte und die Tradition, 1965, S. 206-221. 62

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miteinander in Eintracht lebende Menschen, die angestrengt arbeitend mit wenigem zufrieden sind.71 »Hier herrscht kein Unterschied, den schlauer Stolz erfunden, Der Tugend unterthan und Laster edel macht; Kein müßiger Verdruß verlängert hier die Stunden, Die Arbeit füllt den Tag und Ruh besetzt die Nacht; Hier lässt kein hoher Geist sich von der Ehrsucht blenden, Des morgens Sonne frisst des heutes Freude nie. Die Freiheit theilt dem Volk, aus milden Mutter-Händen, Mit immer gleichem Maaß Vergnügen, Ruh und Müh. Kein unzufriedner Sinn zankt sich mit seinem Glück. Man isst, man schläft, man liebt und danket dem Geschicke.«72

In konsequenter Opposition zum städtisch-höfischen Laster entsteht bei Haller eine Idylle, die glaubhaft machen soll, daß die Menschen der Alpen, obwohl sie nicht in einem mediterranen Arkadien leben, glücklich sind. »Seht ein verachtet Volk zur Müh und Armuth lachen, Die mäßige Natur allein kann glücklich machen.«73

Es scheint, als ob Haller an der Glaubhaftigkeit seiner Darstellung Zweifel kamen. So bemerkt er an einer Stelle, wo er von dem hohen Bildungsstand der Älpler spricht: »Alle diese Beschreibungen von klugen Bauern sind nach der Natur nachgeahmt, obwohl ein Fremder dieselben der Einbildung zuzuschreiben versucht werden möchte.«74 Neben die Beteuerung des Authentischen treten Zusätze, die die zunächst allgemein beschriebenen Naturphänome topographisch fixieren sollen. Wenngleich auch diese Zuschreibungen dem realen Reiseverlauf Hallers zum Teil nicht entsprachen,75 so vermochten sie doch der Darstellung selbst eine größere Wahrscheinlichkeit zu geben. Die Alpen, 1732 in dem Band Versuch schweizerischer Gedichten anonym erschienen, fanden eine für die Zeit bemerkenswerte Resonanz. Schon 1734 wurde eine zweite, nunmehr autorisierte Auflage nötig.76 Abgesehen von der Ablehnung, die die Sammlung in den aristokratisch-konservativen Kreisen Berns erfuhr, war sich die öffentliche Kritik in ihrem Lob nahezu77 einig. Selbst Gottsched, der zunächst vermutete, daß Beat Ludwig von Muralt der Autor sei,78 würdigte 1732 in 71

Martens, »Schüler der Natur«, 1989, S. 276-286. Haller, Gedichte, 1882, S.23f. "Ebd., S.40. 74 Ebd., S. 31. 75 Siehe Vetter, Der »Staubbach«, 1905, S.313-362 und Helbing, Haller als Dichter, 1970, S.67ff. 76 Bis zu Hallers Tode erschienen elf rechtmäßige Auflagen. 77 Kritisiert wurde vor allem Hallers dialektale Sprachverwendung, siehe dazu: Kempf, Hallers Ruhm, 1982, S. 12-17. 78 Johann Georg Zimmermann erinnerte sich noch in den achtziger Jahren, daß Beat Ludwig von Muralt derjenige gewesen war, »von dem die Deutschen glaubten, als sie unsern grossen Haller noch nicht kannten, Er sey der Verfasser von Hallers zuerst ohne den Namen ih72

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den Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen die Gedichte.79 Die wenigen Exemplare, die zunächst in Deutschland kursierten, brachten es mit sich, daß man Abschriften machte oder gar - wie Abraham Gotthelf Kästner bezeugt80 - die Texte auswendig lernte. Und noch zwanzig Jahre später wußte man aus Berlin zu berichten, daß »die Hallerischen Gedichte in so Vieler Händen sind (ein sicheres Zeichen entweder sehr elender oder sehr vortrefflicher Bücher) und verschiedene, die wir kennen, dieselben ganz auswendig können und beständig mit sich selbst in lauter Hallerischen Versen reden«.*1 Die unerhörte Wirkung, die von den Alpen ausging, wird jedoch erst verständlich, wenn man das Gedicht im Zusammenhang mit der zeitgenössischen Idyllentheorie und -praxis betrachtet. Getragen und forciert von der Querelle des Anciens et des Modernes wurde auch in Deutschland die Frage gestellt, ob die antiken Dichter weiterhin den Vorzug vor der zeitgenössischen Kunst beanspruchen dürfen. Im Hinblick auf die Idylle wurde dabei auf die Stoffproblematik verwiesen. Was konnte der Dichter des 18. Jahrhunderts der arkadischen Landschaft Griechenlands entgegensetzen? Gottsched gibt in seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen die ernüchternde Antwort: »[...] die Wahrheit zu sagen, der heutige Schäferstand [...] ist derjenige nicht, den man in Schäfergedichten abschildern muß. Er hat viel zu wenig Annehmlichkeiten, als daß er uns recht gefallen könnte. Unsere Landleute sind mehrentheils armselige, gedrückte und geplagte Leute. Sie sind selten die Besitzer ihrer Heerden; und wenn sie es gleich sind: so werden ihnen doch so viel Steuren und Abgaben auferlegt, daß sie bey aller ihrer sauren Arbeit kaum ihr Brod haben [...] Es müssen ganz andere Schäfer sein, die ein Poet abschildern, und deren Lebensart er in seinen Gedichten nachahmen soll.«82 Aus diesen Bemerkungen ergibt sich die geistesgeschichtliche Bedeutung von Hallers Alpen-Oichiung - auch im Hinblick auf die deutsche Auseinandersetzung mit den antiken Mustern Theokrit und Vergil. Während Gottsched feststellte, daß sich in der Gegenwart keine Idylle ansiedeln lasse und daher die »Nachahmung des unschuldigen, ruhigen und ungekünstelten Schäferlebens, welches vorzeiten in der Welt geführet worden«,83 fortgesetzt werden müsse, trat Haller - fast zeitgleich mit einer Idyllendichtung hervor, der ein zeitgenössischer Stoff zugrunde lag. Die Schweizer Alpen konkurrierten fortan mit dem antiken Arkadien. Die Sehnsucht

res wahren Verfassers herausgekommenen Schweizerischen Gedichten«. (Zimmermann, Ueber die Einsamkeit, Theil 4,1785, S. 309). 79 Neue Zeitungen von gelehrten Sachen. Auf das Jahr 1732, S.799f. 80 Kästner, Werke, Bd. 4,1841, S. 199. 81 Critische Nachrichten aus dem Bereiche der Gelehrsamkeit. Auf das Jahr 1751,24. Stück, Junius 1751, zit. nach: Hirzel, Einleitung, 1882, S.CCCXXX. - Ganz ähnlich schreibt Gleim: »Ich muß zum Lobe Berlins sagen, daß noch einige denkende Menschen hier sind, die Hallers Gedichte aus dem Gedächtnisse wieder herstellen könnten, wenn sie verloren giengen.« (Gleim an Bodmer, 29. April 1747, in: Stäudlin, Briefe, 1794, S. 48). 82 Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst, 1751, S. 582. 83 Ebd.

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nach Freiheit, Naturnähe und einem anspruchslosen, friedlichen Leben konnte sich nun auf einen gegenwärtigen und zugleich erreichbaren Ort ausrichten.84

2.3 Das literarische Zürich Es stärkte das Selbstbewußtsein der Schweizer, wenn einer von ihnen über die Landesgrenzen hinaus Anerkennung fand. Sahen sie sich doch noch immer mit dem Vorurteil konfrontiert, sie seien unfähig zu höherer geistiger Bildung.85 Das Ausland mußte erfahren, wozu auch sie in der Lage waren. Bald nach Erscheinen des Versuchs Schweizerischen Gedichten erhielt Haller einen Brief aus Zürich. Der Verfasser lobte die erbrachte literarische Leistung. Er könne es kaum erwarten, Hallers Gedichte in den Händen der Deutschen zu sehen, denn diese sollen wissen, »durch welch ein Werk wir Schweizer, die wir bei ihnen für Barbaren gelten, sie besiegt haben«.86 Der Autor dieser Zeilen, Johann Jakob Bodmer,87 war selbst entscheidend daran beteiligt, daß seine Heimatstadt zu einem Ort mit einer bedeutsamen Literaturgesellschaft avancierte. Obgleich Sohn eines Pfarrers hatte er sich dem Theologiestudium verweigert und war stattdessen für kurze Zeit nach Italien und Frankreich gegangen, um sich kaufmännische Kenntnisse zu erwerben. Dieser Auslandsaufenthalt brachte ihm wichtige Bildungseindrücke. Vor allem seine Beschäftigung mit der englischen Philosophie und Literatur sollte Konsequenzen haben für das kulturelle Leben im biederen, orthodox-protestantischen Zürich. Wahrscheinlich in Lyon war Bodmer auf eine französischsprachige Ausgabe von Joseph Addisons und Richard Steeles Spectator gestoßen. In Anlehnung an das englische Muster etablierte Bodmer zusammen mit Johann Jakob Breitinger nun auch in Zürich eine Moralische Wochenschrift Die Discourse der Mahlern (1721-1723).88 Die Herausgeber wollten schon mit ihrer ersten Publikation der Ansicht entgegentreten, die Schweizer könnten nur »dunckel und kaltsinnig mahlen«, weil »die Lufft des Schweitzerlandes die Lebhafftigkeit und das Feuer der Imagination nicht einblase«.89 In den 94 Discour-

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»Das ist das eigentlich Ungewöhnliche dieser das 18. Jahrhundert hindurch berühmten Dichtung, daß Haller der damaligen Natursehnsucht einen neuen, exakt bestimmten locus zuweist, daß er dem Traum von einem neuen Arkadien einen festen Boden gibt: Seht - sagt er - es ist da, hie et nunc.« (Wozniakowski, Die Wildnis, 1987, S. 247). 85 »Ein Schweizer und ein Ochs, waren lange in Wien, in Versailles, und in Rom, Worte von gleicher Bedeutung [...].« (Zimmermann, Vom Nationalstolze, 1768, S.48). 86 Bodmer an Haller, 29. August 1733, in: Vetter, Der junge Haller, 1909, S.52. - Über Hallers Gedichte im Literaturstreit zwischen Leipzig und Zürich siehe Kempf, Hallers Ruhm als Dichter, 1982, S. 5-29. 87 Zu Bodmer und Breitinger siehe Bender, Bodmer und Breitinger, 1973. 88 Über die Gesellschaft der Maler siehe Erne, Die schweizerischen Sozietäten, 1988, S. 8592 u. Brandes, Die »Gesellschaft der Mahlern«, 1974. 89 Bodmer/Breitinger, Die Discourse der Mahlern, Theil l, 1721, Vorrede, unpagn.

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sen, zumeist von Bodmer und Breitinger verfaßt, werden neben Themen der Moral sowie der praktischen Lebensführung auch ästhetische Probleme behandelt. Entscheidend für die Ausprägung des Literaturkonzepts wurde die durch den Spectator veranlaßte Beschäftigung mit den Schriften von Joseph Addison. Dessen Reisebeschreibung, in der er auch über seinen Aufenthalt in der Schweiz berichtet,90 und zahlreiche Spectator-Arükel machten Bodmer mit der in England aufkommenden Diskussion um das Erhabene in Natur und Kunst vertraut;91 zugleich wurde er durch Addison auf John Miltons Paradise lost aufmerksam,92 ein Werk, das zu Recht als »Kristallisationspunkt der schweizerischen Ästhetik«93 bezeichnet worden ist. Das Bekenntnis der Züricher Aufklärer zur zeitgenössischen englischen Literatur war im deutschen Sprachraum einzig; politische Sympathien, wie sie Muralt formuliert hatte, mögen die enge geistige Bindung an das Land durchaus befördert haben. Sie veranlaßte diejenigen, die den französischen Klassizismus des 17. Jahrhunderts favorisierten, zu einer literaturästhetischen Auseinandersetzung, die letztlich im Sinne der Querelle zu einer Orientierungsdebatte wurde. Anlaß dafür war Bodmers Übersetzung von John Miltons Paradise lost im Jahre 1732. Gleich nach der Veröffentlichung erhielt der Übersetzer von Johann Christoph Gottsched aus Leipzig ein Schreiben, in dem dieser mitteilte, er sei begierig, »die Regeln zu wissen, nach welchen eine so regellose Einbildungskraft, als des Miltons seine war, entschuldiget werden kann«.94 Gottsched hatte erst zwei Jahre zuvor mit dem Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen ein Regelwerk vorgelegt, das gemäß den klassizistisch-aristotelischen Vorgaben auf eine Kunst zielte, die in den Grenzen der Naturnachahmung im Sinne einer »hypothetischen Wahrscheinlichkeit«95 verblieb.96 Für Engel und Teufel, wie sie Milton auftreten läßt, war da kein Platz. Deshalb ist für Gottsched das Paradise lost ein Machwerk von »ungeheure[r] Einbil-

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Addison, Remarks on several Parts of Italy, 1705. In deutscher Sprache: Addison, Anmerkungen über verschiedene Theile von Italien, 1752. Zur Landschaftsbeschreibung Addisons siehe Possin, Natur und Landschaft, 1965, insb. S. 116ff. 91 Im Spectator erschienen kunsttheoretische Überlegungen zum Erhabenen, die später gesondert unter dem Titel Essay on the Pleasures of the Imagination veröffentlicht wurden. In deutsch: Addison, Von den Belustigungen der Einbildungskraft, Theil 6,1739, S.72-123. Zum Begriff des Erhabenen bei Addison siehe Possin, Natur und Landschaft, 1965, S. 123133. 92 Addison rezensierte 1712 im Spectator Miltons Paradise lost ausführlich. Bodmer hat diese Kritik übersetzt und 1740 unter dem Titel Joseph Addisons Critische Abhandlung von den poetischen Schönheiten in Miltons Verlohrnen Paradiese im Anschluß an die Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie und dessen Verbindung mit dem Wahrscheinlichen (Zürich 1740, S. 225-434) abgedruckt. 93 Bender, Bodmer und Miltons Venohmes Paradies, 1967, S. 225-267, hier S. 259. 94 Gottsched an Bodmer, 7. Oktober 1772, in: Wolff, Briefwechsel, 1897, S. 354. 95 Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst, 1751, S. 200. 96 Siehe Vietta, Literarische Phantasie, 1986, S. 120-126 und Schmidt, Sinnlichkeit und Verstand, 1982, S. 71-124. 24

dung«, voller »hochtrabender Ausdrückungen«, beherrscht von einer »unrichtige[n] Urtheilskraft«.97 Die umfassende Antwort Bodmers auf Gottscheds Briefkritik von 1732 erfolgte acht Jahre später in der Schrift Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie und dessen Verbindung mit dem Wahrscheinlichen. In einer Verteidigung des Gedichtes Joh. Miltons von dem verlohrenen Paradiese; der beygefüget ist Joseph Addisons Abhandlung von den Schönheiten in demselben Gedichte. Bodmer rechtfertigt das Große, Neue und Ungewöhnliche, weil es die Gemütskräfte in Bewegung versetze, Erstaunen und Entzückung hervorrufe. Geeignete Stoffe würden sich in der christlichen Mythologie, aber auch in der erhabenen Natur finden lassen.98 Wenngleich Gottscheds ästhetische Doktrin und die Auffassung der Schweizer nicht so weit auseinanderliegen,99 wie die zwischen 1740 und 1760 zum großen Teil unsachlich geführte Debatte Glauben machen will,100 so wurde doch gerade diese Auseinandersetzung für die Zeitgenossen gleichsam zu einer Grundsatzentscheidung für oder gegen mehr Phantasie, Sinnlichkeit und Emotionalität in der Literatur. Um 1740 votierten alle bedeutenden Dichter für die Poetik der Schweizer; bot sie ihnen doch weit größere künstlerische Gestaltungsfreiräume als das rigide Regelwerk der Leipziger Schule. Zürich avancierte zum Zentrum einer neuen, modernen Literaturauffassung, während Gottsched und die ihm verbliebenen Jünger immer erbitterter »die alpinischen Zöglinge« Bodmer und Breitinger, von denen die »alpinische Pest«101 ausgehe, angriffen. Dabei bedienten sie sich der tradierten imagotypischen Klischees, wenn beispielsweise Gottsched das »neu Geschlecht verführter Sänger« aus der »Nacht des nie verklärten Landes« kommen läßt, wo es »dem hellen Tag entflieht, und nur ins Dunkle weicht«.102 Der unaufklärbare, das Licht der Vernunft meidende, dichtende Barbar sei zudem wie die Natur, die ihn umgibt, auch in seinem dialektgeprägten Sprachgebrauch frostig und bizarr. »[...] So starr und ungelenk St. Gotthards Eis je war Stellt auch ihr steifer Vers, die kalten Bilder dar.«103

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Beyträge zur Critischen Historic der deutschen Sprache, Stück 14,1740, S. 662. Über Das Ergötzen am Schrecklich-Erhabenen in Bodmers Hauptschriften siehe: Zelle, »Angenehmes Grauen«, 1987, S. 272-285. 99 Dazu siehe Vietta, Literarische Phantasie, 1982, S. 124-176; Wetterer, Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch, 1981, S.213f. 100 Siehe dazu Crüger, Gottsched und die Schweizer, 1884. 101 Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste 10 (1750), 4. Stück, S. 353. 102 Gottsched, Herrn Benjamin Neukirchs [...] erlesenen Gedichte, 1744, Vorrede, unpagn. 103 Ebd. - Zu Bodmers sprachkritischer Arbeit an der Übersetzung des Paradise lost siehe Bender, Bodmer, 1967, S. 240-250. - »Die Schweiz hatte durch ihre Entfernung von dem deutschen Reiche noch so starke Ueberbleibsel von dem altschwäbischen Deutsch beybehalten, daß man ihre Mundart in Deutschland für ein barbarisches Geklaffe hielt.« (Bodmer, Litterarische Pamphlete, 1781, S.l). 98

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Solcherart Versuche, die Zeitgenossen von der fortwirkenden Kulturlosigkeit der Schweizer zu überzeugen, mußten angesichts der zunehmenden Anerkennung, die neben Haller vor allem die Züricher Intellektuellen in Deutschland fanden, fehlschlagen. Bodmer und Breitinger, beide seit 1731 Professoren an der höchsten Bildungsstätte Zürichs, dem Collegium Carolinum, hatten es nicht versäumt, einen Kreis talentierter Bürgersöhne um sich zu scharen. Im Rahmen der Ausbildung, aber auch in Zirkeln und Vereinen, wie z. B. der zu Beginn der vierziger Jahre gegründeten Wachsenden Gesellschaft,104 pflegte Bodmer den Austausch mit den zumeist jungen, aufgeschlossenen Theologen der Stadt. Dabei ging es ihm keineswegs nur um deren musische, gar literaturästhetische Bildung; sein Ziel war es, die ihm Anvertrauten im alteidgenössischen Sinne zu fleißigen und sittsamen Menschen zu erziehen, die bereit und fähig waren, auch politische Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen. Johann Georg Sulzer(geb. 1720), Johann Georg Schultheß(geb. 1724), Johann Heinrich Schinz(geb. 1726) und Johann Kaspar Hirzel(geb. 1725) zählten zu seinen Eleven und enttäuschten ihn nicht; sie wurden in und außerhalb der Stadt Zürich geachtete Persönlichkeiten. Im Verlaufe von nur zwanzig Jahren entstand hier eine kunstsinnige Öffentlichkeit, die sich weit über die Schweiz hinaus Aufmerksamkeit verschaffte.105 Fortan wünschte nicht nur Friedrich von Hagedorn im fernen Hamburg, »die Heymat der Männer« kennenzulernen, »denen nunmehro Wissenschaft und Wahrheit so eigen ist, als eigen ihnen zu allen Zeiten Muth, und Liebe der Freyheit gewesen sind«.106

2.4 Johann Jakob Bodmer und seine deutschen Gäste Der erste deutsche Autor, der auf Einladung Bodmers in die Schweiz reiste, war Friedrich Gottlieb Klopstock. Er hatte einer Gruppe junger Leipziger Dichter, die sich anschickte, ihrem Lehrer Gottsched die Gefolgschaft zu verweigern, die ersten Gesänge eines epischen Gedichts vorgetragen. Die Zuhörer waren überrascht; sie hatten Vergleichbares bisher nicht vernommen. Bevor sie sich entschließen konnten, Teile des Epos in ihrer Zeitschrift, den Neuen Beyträgeo. zum Vergnügen des Verstandes und Witzes, abzudrucken, wandten sie sich mit der Bitte um ein Gutach104

Dazu Erne, Die schweizerischen Sozietäten, 1988, S. 154-157. Siehe Schöffler, Das literarische Zürich 1700-1750,1925; Wysling, Zürich im 18. Jahrhundert, 1983. 106 Hagedorn an Bodmer, 20. April 1743, in: Hagedorn, Briefe, 1997, S. 81. - Und im August/ September 1750 schreibt Friedrich von Hagedorn an Bodmer: »[...] und wie oft habe ich nicht gewünschet, einen Frühling und Sommer in der Schweiz durchleben zu können, in den malerischen Gegenden, die ich einigermaaßen, aus dem Scheuchzer kennen und lieben gelernet, unter freien und tapfern Männern, in gesunder Luft, an heilsamen Wassern, zwischen hohen Bäumen und Bergen, unter freien Landmännern [...].«(Hagedorn, Briefe, 1997,8.295).

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ten an ihr literarisches Vorbild Bodmer. Dieser zeigte sich sofort begeistert und empfahl den Text zum Druck. Sogleich unterrichtete er seine Freunde von dem unerhörten Ereignis; Johann Wilhelm Ludwig Gleim teilte er mit: »Von einem jungen Menschen in Leipzig hat man mir etwas Ungemeines gezeigt; es ist das zweite Buch eines epischen Gedichts vom Messias. Aus diesem Stücke zu urtheilen, ruhet Miltons Geist auf dem Dichter [.. .].«107 Bei Bodmer entstand der Wunsch, den Verfasser des Messias kennenzulernen. Zwei Züricher, Johann Georg Schultheß und Johann Georg Sulzer, hielten sich zu dieser Zeit in Deutschland auf. Sie sollten Klopstock in die Schweiz begleiten.108 Schultheß war unterwegs zu den bekanntesten deutschen Autoren, nicht zuletzt, um sie für Bodmers Ansichten zu gewinnen.109 Neben Leipzig, wo er mit den Herausgebern der Neuen Beiträge sowie mit Geliert zusammentraf, besuchte er Hagedorn in Hamburg, anschließend reiste er nach Berlin. Dort gründete er zusammen mit seinem Landsmann Johann Georg Sulzer, der schon seit 1743 als Hofmeister in Magdeburg lebte, nach dem Vorbild der Wachsenden Gesellschaft den später durch Lessings Teilnahme berühmt gewordenen Montagsklub. Sowohl Schultheß als auch Sulzer, der später - wie andere Schweizer auch - ins preußische Akademiekollegium aufgenommen wurde, gehörten zu den zahlreichen Vermittlern und Multiplikatoren von Schweizer Kultur und Landeskunde.110 Große Erwartungen knüpfte Klopstock an das Zusammentreffen mit Bodmer und dessen Schülern, nicht zuletzt erhoffte er sich Impulse für seine literarische Arbeit. Was er von der Schweiz wußte, entsprach den allgemeinen Vorstellungen, die ihm seine Gesprächspartner und Hallers Alpen vermittelt hatten.111 Klopstock freute sich auf die »himmlischen Berge und die rechtschaffenen Männer, die in ihren glückseligen Thälern«112 lebten. Ein besonderes Interesse für die Natur und die

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Bodmer an Gleim, 12. September 1747, in: Briefe der Schweizer, 1804, S. 66. Über den Reiseverlauf siehe den Gemeinschaf tsbrief von Klopstock, Sulzer und Schultheß an mehrere Freunde vom 12.-25. Juli 1750, in: Klopstock, Briefe, Bd. l, 1979, S. 66. 109 Karl Wilhelm Ramler berichtet aus Berlin: »Herr Schultheiß aus der Schweitz, ein Timotheus von Bodmern, besucht hier alle witzige Gemeinden in Deutschland.« (Karl Wilhelm Ramler an Gleim, 4. Oktober 1749, in: Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler, 1906, 108

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Neben Sulzer und Schultheß sind unbedingt Johann Jakob Hirzel, der Freund des preußischen Offiziers und Dichters Ewald Christian von Kleist, und Salomon Geßner zu nennen. Zur gesamten Problematik siehe Fontius/Holzhey, Schweizer im Berlin des 18. Jahrhunderts, 1996. 111 Klopstock an Bodmer, 28. November 1749: »Ich bin schon in Gedanken sehr bekannt mit einer gewissen Gegend, die ich die Zürchische nenne.« (Klopstock, Briefe, Bd. l, 1979, S. 66). - Auch Hagedorn glaubte zu wissen, was ihn in Zürich erwarten würde: »Denn alle diese rechtschaffenen Männer hat mich der Herr Schultheiß schon so sehr schäzen gelehrt, daß auch ich [. . .] eine gelehrte Ungedult dahin bringen würde, die Gesichter zu sehen und die Stimmen zu hören, deren Besizer so hochachtungswürdige Männer und zugleich Freunde eines mir so werthen Bodmers sind.« (Hagedorn an Bodmer, im Jahre 1750, in: Hagedorn, Briefe, Bd. l, 1997, S. 295). 112 Klopstock an mehrere Freunde, 20. Juli 1750, in: Klopstock, Briefe, Bd. l, 1979, S. 124.

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Bevölkerung des Landes brachte er nicht mit. Schon vorab stellte er klar: »Zu einer schönen Gegend gehören bey mir, zwar auch Berge, Thäler, Seen; aber viel vorzüglicher die Wohnungen der Freunde.«113 Und Sulzer wußte später zu berichten: »Die Wunder der Schweiz ihre Alpen und Felsen rühren ihn gar nicht. Er sieht kaum danach.«114 Wenn Sulzer und Bodmer den Tubus auf die Alpen richteten, »um das erhabene der Schöpfung recht zu fühlen«, so nahm er »ein Perspektiv und siehet nach der Statt, ob er etwa Mädchen an Fenstern liegen sehe«.115 Auch diese Beobachtung, von Sulzer pointiert festgehalten, zeigt, daß die Landschaft für Klopstock eine untergeordnete Rolle spielte. Selbst der Rheinfall bei Schaffhausen, »das einzige Wunder der Natur, das ihn gerührt«116 haben soll, ist Klopstock - als »großer Gedanke der Schöpfung«117 - vor allem Inspiration zu einer gemeinschaftlichen Feier Gottes: »O daß ich alle, die ich liebe, hieher versammlen könnte, mit ihnen eines solchen Werkes der Natur recht zu genießen! [...] Hier kann man keinen ändern Gedanken und keinen Wunsch machen, als seine Freunde um sich zu haben und beständig hier zu bleiben.«118 Akzeptiert man, daß für Klopstock in dieser Zeit Geselligkeit und Freundschaft unverzichtbare Lebenswerte darstellten, so muß diesem Gesichtspunkt auch bei der Beurteilung seines Aufenthaltes in Zürich die nötige Beachtung geschenkt werden. Die legendäre Fahrt auf dem See vom 30. Juli 1750 und Klopstocks reminiszentes Gedicht darüber ist nur bei Berücksichtigung dieses Sachverhalts angemessen zu verstehen. Die einnehmende Heiterkeit des Gastes und sein unkonventionelles Auftreten trugen dazu bei,119 daß der Ausflug für alle Beteiligten ein unvergeßliches Fest wurde. Er selbst gestand: »Ich kann [...] sagen, ich habe mich lange nicht so ununterbrochen, so wild und so lange Zeit auf Einmal, als diesen schönen Tag gefreut.«120 Nicht zuletzt ihm war es zu danken, daß sich achtzehn junge Männer und Frauen auf dem Schiff zusammenfanden; verbot doch die Etikette Zürichs gemeinsame Treffen dieser Art.121 Johann Kaspar Hirzel, der Initiator der Fahrt, beschrieb die Ausgelassenheit, die während des Tagesausflugs herrschte, ausführlich in einem 113

Klopstock an Bodmer, 28. November 1749, in: Klopstock, Briefe, Bd. l, 1979, S.66. Johann Georg Sulzer an Karl Wilhelm Ramler, 23. August 1750, in: Wilhelm, Briefe an Karl Wilhelm Ramler, 1891, S. 63. 115 Ebd. 116 Ebd. 117 Klopstock an mehrere Freunde, 21. Juli 1750, in: Klopstock, Briefe, Bd. l, 1979, S. 125. 118 Ebd., S. 125f. 119 Johann Georg Schultheß berichtet, daß sich Klopstock »mit der grösten Leichtigkeit aus seinem epischen Ernst herunterlassen« und »mit Jünglingen und Mädchen auf die beste Art muthwillig seyn« konnte. Er besitze »eine erstaunliche Biegsamkeit des Geistes«, die es ihm ermögliche, »mit Leuten von allen Charakteren umzugehen«. (Schultheß an Ramler, 27. August 1750, in: Wilhelm, Briefe an Karl Wilhelm Ramler, 1891, S. 65). 120 Klopstock an Johann Christoph Schmidt, 1. August 1750, in: Klopstock, Briefe, Bd. l, 1979, S. 130. 121 »Hier ist es Mode, daß die Mädchen die Mannspersonen ausschweifend selten sprechen, und sich nur unter einander Visiten geben. Man schmeichelte mir, ich hätte das Wunder einer so außerordentlichen Gesellschaft zu Wege gebracht.« (Ebd.). 114

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Brief. Es heißt darin, daß Gesang, Rezitation und munteres Gespräch während der Reise einander abwechselten.122 Dieser für Zürichs Jugend so ungewöhnliche Tag, zu Ehren Klopstocks und zu aller Freude verbracht, sollte von weitreichender Wirkung sein. Es war kein Zufall, daß Bodmer, der Klopstock nach Zürich eingeladen hatte, der Ausfahrt fern blieb. Er hatte angesichts des Messias einen dichtenden Seraph erwartet und mußte nun mit ansehen, wie dieser seine Führungsrolle untergrub, so daß die bislang so homogen wirkende Gemeinschaft Züricher Intellektueller auseinander zu fallen drohte.123 Am Tag nach der »Lustschifffahrt«124 traf Klopstock die älteren Schriftsteller der Stadt(u.a. Bodmer, Breitinger, Sulzer und Johann Caspar Heß) in Winterthur. Während dieses mehrtägigen Aufenthalts vergegenwärtigte er sich noch einmal die für ihn unvergeßliche Kahnfahrt und schrieb die Ode Der Zürchersee(zu&rst unter dem Titel Von der Fahrt auf der Zürcher-See), ein Bekenntnis zur Lebensfreude und Sinneslust. Der Titel läßt vermuten, daß die erhabene Seelandschaft der Gegenstand des Gedichts ist. Doch gerade auf deren Evokation wird fast gänzlich verzichtet.125 Ähnlich wie bei der brieflichen Notiz zum Rheinfallerlebnis wird auch hier vor allem auf das gefühlsmäßige Erfassen der Schöpfung abgehoben. »Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht Auf die Fluren verstreut, schöner ein froh Gesicht, Das den großen Gedanken Deiner Schöpfung noch Einmal denkt.« 126

Sparsam wird auf die konkrete Landschaft Bezug genommen, zunächst geraten die »Traubengestadefn]«127 am See in den Blick, dann läßt die fahrende Gesellschaft den Ütliberg hinter sich, »an dessen Fuß Zürch in ruhigem Thal freye Bewohner 122

Siehe Hirzel an Christian Ewald von Kleist, 4. August 1750, in: Kleist, Werke, Theil 3,1782, S. 121-134. 123 Schultheß berichtet, daß Klopstock das »Ärgerniss einicher allzu ernsthafter« Züricher ist, »die seine jugendliche Liebe der Freuden mit seiner epischen Grosse und messianischen Ernsthaftigkeit nicht reimen wollen«. (Johann Georg Schultheß an Karl Wilhem Ramler, 27. August 1750, in: Wilhelm, Briefe an Karl Wilhelm Ramler, 1891, S. 65). 124 Johann Jakob Hirzel an Kleist, 4. August 1750, in: Kleist: Werke, Theil 3,1882, S. 121. 125 Dies bestätigen auch Zeitgenossen wie Karl Gottlob Küttner: »Ich sagte einst einem Züricher, wie ich mich wundere, daß der Züricher See noch nie einen Dichter gefunden hätte, und daß ich nichts darüber kennete, als eine Ode vom Klopstock, die noch überdies für diesen Gegenstand ziemlich mager ist.« (Küttner, Briefe eines Sachsen, Theil l, 1785, S. 314). 126 Klopstock, Sämmtliche Werke, Bd. l, 1823, S.69. - Angesichts des Rheinfalls hieß es: »Welch ein großer Gedanke der Schöpfung ist dieser Wasserfall! Ich kan itzt weiter davon nichts sagen, ich muß diesen großen Gedanken sehen und hören.« (Klopstock an mehrere Freunde, 21. Juli 1750, in: Klopstock, Briefe, Bd. l, 1979, S. 125). - Gerhard Kaiser hat gezeigt, daß Klopstock Denken und Fühlen synonym gebraucht, siehe Kaiser: »Denken« und »Empfinden«, 1981, S. 10-28. 127 Klopstock, Sämmtliche Werke, Bd. l, 1823, S.69. 29

nährt«,128 um sich dann an der Ansicht »silberner Alpen«129 zu erfreuen. Die Natur erscheint als Rahmen und Inzitament für ein exorbitantes Lebensgefühl:130 »Göttin Freude, du selbst! dich, wir empfanden dich! Ja, du wärest es selbst, Schwester der Menschlichkeit, Deiner Unschuld Gespielin, Die sich über uns ganz ergoß.«131 Erinnernd festgehalten und zugleich feierlich beschworen wird die »Göttin Freude«, die sich unter den lebensfrohen, geselligen Menschen eingestellt hat.132 Sie möge sie nicht mehr verlassen und auch die Freunde einbeziehen, die »in des Vaterlands Schooß einsam«133 leben. Die Insel Ufenau ist der Ort, wo die »Hütten der Freundschaft«134 entstehen sollen: »Ewig wohnten wir hier, ewig! Der Schattenwald Wandelt' uns sich in Tempe, Jenes Thal in Elysium!«135 Klopstock hatte die Ode nach Fertigstellung noch in Zürich drucken lassen. Bodmer reagierte gereizt. Für kurze Zeit glaubte er noch, Klopstock »habe seinen Charakter verleugnet«,136 um von den jungen Leuten akzeptiert zu werden: Es könne doch nicht angehen, daß dieser an einem Messias-Epos dichte und gleichzeitig den sinnlichen Freuden und dem Weine zugetan sei. Doch Bodmer mußte sich bald endgültig eingestehen, daß er sich in Klopstock getäuscht hatte. Bodmers rigide Auffassung, nach der sich der Dichter in Leben und Werk zu einer strengen Moral beken-

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Ebd., S.70. Ebd. 130 »Trotz der eindeutigen [...] Naturschilderungen in diesem Gedicht ist die Natur für Klopstock und seine Generation nach wie vor kein Gegenstand, der in sich selbst darstellungswürdig wäre, es sei denn, sie wiese auf Werte oder Wahrheiten eines gemeinsamen, auf Herz und Gefühl bezogenen Erlebnisses.« (Paulin, Von Der Zürchersee zu Aufm Zürichersee, 1987,29f.). 131 Klopstock, Sämmtliche Werke, Bd. l, 1823, S.70. 132 Eine Strukturanalyse und Interpretation, die dies herausarbeitet, legte Gerhard Sauder vor: Die »Freude« der »Freundschaft«. Klopstocks Ode Der Zürchersee, 1983, S. 228-239. 133 Klopstock, Sämmtliche Werke, Bd. l, 1823, S.72. 134 Ebd. 135 Ebd. - Unter imagologischem Gesichtspunkt betrachtet, ist es durchaus belangvoll, daß es eine Schweizer Landschaft ist, die den lokalen Rahmen für den idyllischen Zustand abgibt. Dies bestätigt auch die Rezeptionsgeschichte der Ode. So schreibt Friederike Brun 1791: »[...] ich freute mich wie ein Kind der Wasserfahrt, und des Zieles derselben, der von Klopstock in seiner schönen Ode: Der Zürchersee, gefeyerten Aue. Ein frisches SommerLüftchen spielte auf dem Gewässer umher, und, wie vor uns vorbeygeweht, glitt das abwechselnde Gestade neben uns hin. Dunkles Ufergebüsch senkte sich hier in die Fluth, stille Fluren glänzten vom Frühlingsgrün, reizende Landschaften flohen vor unserm lächelndem Blick vorüber. >Jetzt empfing uns die Au in die beschattenden / Kühlen Arme des Walds, welcher die Insel krönt.Sinnlichkeit< theoriefähig machte,140 konnte und wollte Bodmer aufgrund seiner moralischen Bedenken weder nach- noch mitvollziehen.141 Er verfolgte den von ihm mit der Übersetzung des Paradise lost eingeschlagenen Weg weiter, indem er biblische Epen schrieb. Noch im Jahr 1750 veröffentlichte er die ersten vier Gesänge von Noah ein Helden-Gedicht. 137

Ebd., S. 62. - Schon die Ode hatte das neue, anakreontische Lebensgefühl zum Ausdruck gebracht. Dies bestätigt z.B Sophie Gutermann, die Verlobte Wielands, die Hagedorns Die Alster mit Klopstocks Der Zürchersee vergleicht und beide Gedichte als anakreontische Werke mit der Begründung verwirft: »Denn ich kann nicht geduldig zuhören, wenn aller Geist angewandt wird, sinnliche Ergötzlichkeiten zu erzählen [...].« (Gutermann an Christoph Martin Wieland, in: Wieland, Briefwechsel, Bd. l, 1963, S. 158). 138 Siehe Erne, Die schweizerischen Sozietäten, 1988, S. 82-84. 139 Zunächst - in den vierziger Jahren - äußerte sich Bodmer nicht so kritisch zur Anakreontik, denn er glaubte darin eine moderne Entsprechung des Minnesangs zu sehen. Dies änderte sich nun: Siehe Debrunner, Das güldene schwäbische Alter, 1996, S. 61-67 u. Perels, Studien zur Aufnahme und Kritik der Rokokolyrik, 1974, S. 131f. 140 Verweyen, Emanzipation der Sinnlichkeit, 1975, S. 276-306. 141 Mit dem Vorwurf, anakreontische Gedichte seien moralisch verwerflich, setzte sich Georg Friedrich Meier auseinander: »Die schönsten Stellen in den Poeten handeln von der Liebe, von Mägden, und von Küssen. Wenn man dieselben anführt, so kann man freylich dabey nicht weinen, sonderm man verspührt eine jugendliche Lust, die das Gemüthe aufheitert und das Herz erquickt. Was sagen nun dazu unsere finstern Sittenrichter? Sie nennen das Zoten, unkeusche liederliche und ärgerliche Gedanken. Ich behaupte aber das Gegenteil [...]. Ohne Liebe würden wir Menschen Barbarn seyn, denn die Liebe macht gesellig, freundlich, zärtlich, mitleidig, gutthätig, und wenn sie wohlgeordnet ist, so ist sie die Mutter aller menschlichen Tugenden.« (Anfangsgründe aller schönen Künste und Wissenschaften, Theil l, 1748, §22). 31

Das uneingeschränkte Bekenntnis zu dieser Dichtung ebnete dem Schwaben Christoph Martin Wieland den Weg nach Zürich in Bodmers Haus.142 Der junge ambitionierte Dichter hatte dem großen Vorbild im August 1751 die ersten Teile eines eigenen Epos mit der Bitte um Begutachtung zugesandt. Bodmer nahm die ersten Gesänge des Hermann wohlwollend auf. »Das Werk hat alle Merkmale, daß es auf die Nachwelt kommen werde [...] Klopstok bekömmt an dem Verfasser einen Nebenbuhler [.. .].«143 Nach der Lektüre weiterer Arbeiten wie Die Natur der Dinge oder den Anti-Ovid*44 sowie durch zahlreiche Briefe verfestigte sich bei Bodmer die Meinung, daß Wieland der seraphische Jüngling sein könne, den er so sehr zur Bestätigung seiner eigenen Arbeit und für die Auseinandersetzung mit den Anakreontikern benötigte. Schon im Januar 1752 hatte Bodmer seinem Freund Zellweger nach Winterthur geschrieben: »Es steht nur an mir, einen neuen Klopstok zu haben.«145 Diesmal sollte er nicht enttäuscht werden. Wie Bodmers Briefe aus dieser Zeit zeigen, hatte er den Bruch mit Klopstock keineswegs unbeschadet überstanden. Wieland kam gerade recht, um verletzte Eitelkeiten zu kompensieren: »Ich will seine Liebe für mich und seine große Fähigkeit brauchen, Klopstoken eifersüchtig zu machen. Wieland hat zwar izt noch eine große Idee von Klopstok, und kann keinen Fehler in ihm sehen: das mag noch in Absicht auf die Messiade angehen, aber im übrigen bone Deus!«146 Wieland, der dergleichen Absichten bei Bodmer keineswegs vermutete, sah in Zürich allein den Ort, wo er seine Fähgkeiten als Dichter am besten hätte entwickeln können. Seine Abhandlung über das Noah-Epos, mit der er im Frühjahr 1752 begonnen hatte, wurde gleichsam das Entreebillett, mit dem er im Oktober 1752 in Zürich anreiste. Ihre Vollendung erfuhr die opulente Schrift dann schon unter Bodmers Aufsicht. Der neunzehnjährige Gast entsprach vollkommen den Erwartungen. Er »trinkt [...] wenig Wein [...], raucht nicht Tabak und brauset u. tanzt nicht [.. .]«.147 Mit ihm zusammen konnte Bodmer in seiner »dunkeln Einsiedelei«148 ein Leben führen, das so ganz dem der Patriarchen in seinen Dichtungen entsprach. Wieland hatte in seiner Abhandlung von den Schönheiten des Epischen Gedichts >Der Noah< ausdrücklich darauf verwiesen, daß die literarische Bearbeitung alttestamentarischer Stoffe

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Zur Übersiedlung nach Zürich, zur gemeinsamen Arbeit und zur späteren Trennung siehe Budde, Wieland und Bodmer, 1910, S. 1-64. 143 Bodmer an Zellweger, 19. August 1751, in: Starnes, Wieland, Bd. l, 1987, S. 15. 144 »Der Anti-Ovid zeigt Ihnen Ihren Freund auch aus dem Gesichtspunct eines Anakreons. Ich habe zeigen wollen wie die Anakreontische Schertze seyn müssen wenn sie unschuldig seyn wollen.« (Wieland an Schinz, 18. April 1752, in: Ebd., S. 68). 145 Bodmer an Zellweger, 20. Januar 1752, in: Ebd., S. 19. 146 Bodmer an Zellweger, 23. März 1752, in: Ebd., S. 22. 147 Bodmer an Johann Georg Sulzer, 29. Oktober 1752, in: Ebd., S. 33. - Schon im Vorfeld der Reise hatte Wieland versichert: »Ich bin ein grosser Wassertrinker, und ein geborner Feind des Bacchus.« (Wieland an Bodmer, 4. Februar 1752, in: Wieland, Briefwechsel, Bd. l, 1963,8.39). 148 Bodmer an Sulzer, 29. Oktober 1752, in: Starnes, Wieland, Bd. l, 1987, S.33.

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das Ziel habe, auf die Lebensweise der Zeitgenossen Einfluß zu nehmen:149 »Wir finden im Noah alle Pflichten die dem Menschen nach seinen manichfaltigen Verhältnissen obliegen, so reitzend vorgestellt, daß wir sie aus Wahl und Liebe und nicht aus Nothwendigkeit ausüben lernen.«150 In diesem Zusammenhang wendet sich der Verfasser gegen diejenigen verantwortungslosen Dichter, die - wenngleich erfolglos - solchen tugendbefördernden Werken entgegenarbeiten. »Ich sehe zum voraus, [...], daß der Noah, der an sittlichen Schönheiten so unendlich reich ist, allein der Tugend mehr Vortheil bringen werde, als alle Anakreonten und Catulle, diese bunten Schmetterlinge des Parnasses, ihr jemals schaden können.«151 Als der preußische Offizier und Dichter Ewald Christian von Kleist, Verfasser des berühmten Gedichts Der Frühling(n49), einen knappen Monat nach Wieland in Zürich eintraf, wehte ihm ein kalter Wind entgegen.152 Noch zwei Jahre zuvor hatte Johann Jakob Hirzel seinen langen Briefbericht über den Tagesausflug mit Klopstock auf dem Zürcher See mit dem Wunsche abgeschlossen, ihm, Kleist, wenn er denn komme, »ein ähnliches Vergnügen«153 zu bereiten. Und er hatte hinzugesetzt: »Eilen Sie zu uns! Bodmer [,..] sehnt sich nach Ihnen [...].«154 Jetzt endlich hatte es Kleist geschafft, wenngleich als Soldatenwerber in preußischem Dienst, nach Zürich zu kommen. Zwar fand er hier den erwarteten »unvergleichliche[n] Ort«, der »wegen seiner vortrefflichen Lage« und »wegen der guten und aufgeweckten Menschen«, die hier lebten, »unique in der Welt«155 sei, doch verlangte ihm dieses eigenartige Mekka von Gebildeten156 ein besonderes Einfühlungsvermögen ab. 149

Die gleiche Funktion weist Johann Georg Sulzer dem Werk zu: »Ich sehe den Noah, den Jacob als theatralische Personen an, die in abgemeßnen Füssen und wollautenden Worten sprechen, um mein Ohr zu ergetzen, oder mich zur Bewundrung ihrer Kunst zu zwingen. Sie sind mir Prediger der Gottesfurcht und Rechtschaffenheit, erhabne Muster aller Tugenden, Exempel der Menschen.« (Sulzer, Gedanken von dem vorzüglichen Werth der Epischen Gedichte des Herrn Bodmers, 1754, S. 6). 150 Wieland, Abhandlung von den Schönheiten des Epischen Gedichts Der Noah, 1910, S. 313. 151 Ebd. 152 Zum Aufenthalt Kleists in Zürich siehe Bächthold, Litterarische Bilder aus Zürichs Vergangenheit, 1899, S. 161-170. 153 Hirzel an Kleist, 4. August 1750, in: Kleist, Werke, Theil 3,1882, S. 134. 154 Ebd. 155 Kleist an Gleim, 22. November 1752, in: Kleist, Werke, Theil 2,1882, S. 212. 156 »Statt daß man in dem großen Berlin kaum 3 bis 4 Leute von Genie und Geschmack antrifft, trifft man in dem kleinen Zürich mehr als 20 bis 30 derselben an.« (Ebd.). - Noch 1780 schreibt Wilhelm Heinse: »Uebrigens [...] wimmelt es in Zürich von Gelehrten. [...] Es sind ihrer wirklich zuviel da, und die wissen nicht, wo mit ihrem Wissen hinaus. Man zählt an die Achthundert am Leben, die etwas haben drucken lassen.« (Heinse an Friedrich Jacobi, 8. Dezember 1780, in: Briefe der Schweizer, Bd. 2, 1806, S. 94); »Ueberhaupt findet sich in Deutschland sowohl als in der übrigen Schweiz, schwerlich ein Ort, wo so viele Liebe zu den Wissenschaften und so viele Aufklärung unter den Bürgern herrscht. Handwerksleute halten Lesegesellschaften, schaffen sich monatlich eine gewisse Zahl von Büchern an, kommen an bestimmten Tagen zusammen, lesen und raisonniren mit einander.« (Küttner, Briefe, Bd. l, 1785, 212f.); »Zürich ist so voll von interessanten Gelehrten, daß ich bey der beschränkten Zeit des Aufenthalts nicht alle sehen konnte.« (Halem, Blicke, 1990, S. 55); »Hier bin ich nun an einem Hauptziel meiner Reise, an dem Orte, wo 33

An Gleim schrieb er: »[...] allein fürchten Sie nichts, ich werde Ihnen keine Schande machen und mich besser aus der Affaire ziehen als Klfopstock]. So ehrlich ich auch bin, so kann ich doch auch politique sein, wenn es nöthig ist, und mein ernsthafter Charakter schickt sich ziemlich in die Schweiz.«157 Doch es kam nur zu den obligatorischen Anstandsbesuchen, wobei es Kleist verstand, bei Bodmer einen angenehmen Eindruck zu hinterlassen.158 Sein Aufenthalt in Zürich fand ein jähes Ende. Als er beim Werben von Rekruten Gefahr lief, verhaftet zu werden, mußte er flüchten.159 Was sich schon kurz nach Klopstocks Zürich-Aufenthalt angekündigt hatte, war nun, 1752, für Schweizer und Deutsche offensichtlich geworden. Bodmer und sein Adlatus Wieland verengten ihren Blickwinkel auf die alttestamentarische Welt und die christlichen Tugendgebote, was sie zu erklärten Feinden scherzhafter Dichtung und der sich daraus ergebenden Lebenshaltung werden ließ. Selbst in Zürich schwand die Schar der Anhänger zusehends. Wieland bestätigte dies indirekt, wenn er vermutete, daß er Kleist nur deshalb so selten zu Gesicht bekommen habe, weil dieser im »näheren Verhältnis gegen einige Leute stund, die sich Ehre daraus machen unsre Antipoden zu seyn«.160 Doch unbeirrt vertrat Wieland Bodmers Lebensund Dichtungskonzept offensiv sowohl innerhalb Zürichs als auch spürbar nach Deutschland hinein. 1753 verfaßte er ein eigenes alttestamentarisches Epos Der geprüfte Abraham. Dergleichen Werke führten dazu, daß Zürich und mithin die Schweiz als Orte angesehen werden konnten, wo eine patriarchalische Lebensweise praktiziert bzw. zur Nachahmung empfohlen wurde. Lessing beschrieb das Erscheinungsbild, das man im Ausland gewinnen konnte, wie folgt: »[...] seit 1749 fanden die Schweizer für gut, mit der Fröhlichkeit, und zugleich mit ihrem ganzen Gefolge, zu brechen. Sie waren fromme Dichter geworden, und ihr poetisches Interesse schien ein ernstes, schwermüthiges System zu fordern. Sie hatten sich andächtige Patriarchen zu ihren Helden gewählt; sie glaubten sich in den Charakter ihrer Helden setzen zu müssen; sie wollten es die Welt wenigstens gern überreden, daß sie selbst in einer patriarchalischen Unschuld lebten [.. .].«161

Hospitalität Künste und Wißenschaft mit der schönen Natur nach aller Geständnis die hier gewesen, zu wetteifern scheinen.« (Schmidt, Von der Schweiz, 1985, S. 45). 157 Kleist an Gleim, 22. November 1752, in: Kleist, Werke, Theil 2,1882, S. 210. 158 Siehe Bodmer an Heß, 19. November 1752, in: Starnes, Wieland, Bd. l, 1987, S.35. 159 Seine vernichtenden Urteile über die Schweizer, niedergelegt in Epigrammen, sind diesem Erlebnis geschuldet. »Ich werde aber außer auf die Schweizer keine machen können; denn ich hasse sonst Niemanden auf der Welt außer die Canaillen; die hasse ich von Herzen; denn sie haben mich gar zu infamo tractirt; mich wundert, daß ich ärgerlicher Mensch das Leben dabei behalten.« (Kleist an Gleim, 12. Juni 1754, in: Kleist, Werke, Theil 2, 1881, S. 268). - Zu den Epigrammen siehe Kleist, Werke, Theil l, 1881, S. 80-83 u. 353. 160 Wieland an Volz, 11. April 1753, in: Wieland, Briefwechsel, Bd. l, 1963, S. 155. 161 Lessing, Briefe, die neueste Litteratur betreffend, 127. Brief, in: Ders., Sämtliche Schriften, Bd. 8,1892,8.271.

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In welcher Weise Bodmer und seine Freunde ihr Leben im Sinne der biblischen Vorgaben stilisierten,162 zeigen z. B. die Zusammenkünfte bei Zellweger in Trogen. Wieland genoß es im Sommer 1757, »vierzehn glükliche Tage in der förenen Hütte dieses Weisen zu leben, die in unsern Augen alle goldnen Palläste auslöschet«.163 Schon zwei Jahre zuvor hatte Wieland ausgesprochen, was er sich von solch einem Aufenthalt in Trogen erhoffte, nämlich »im Schoß der Freiheit und Ruhe, und im vertraulichsten Umgang, fern vom Getümel und den eiteln Zerstreuungen der Stadt, goldene Tage zu leben« sowie »die Sitten eines freyen und unpolirten Volks, die Natur in ihrer kunstlosen Einfalt und schönen Wildheit zu spähen«.164 Es fällt auf, daß Wieland seine Vorstellungen vom menschlichen Zusammenleben nicht nur im kleinen Kreis der Intellektuellen realisiert fand, sondern in diese patriarchalische Idylle das »unpolirte« Volk der Appenzeller und ihr natürliches Lebensumfeld einbezog. Die Patriarchaden der Züricher verstanden sich auch als Suche nach einer alternativen Lebensweise zu »den eiteln Zerstreuungen der Stadt«, zum allgegenwärtigen Verfall moralischer Werte.165 Doch ließ sich Wieland nicht weiter für diesen Erziehungsauftrag in Anspruch nehmen, denn er erkannte, daß das von Bodmer postulierte Menschenbild ein zu beschränktes war. Spätestens 1760, als er aus der Schweiz wieder in sein schwäbisches Biberach übersiedelte - schon seit 1754 hatte er sich sukzessive von Bodmer gelöst -, revidierte er seine Urteile über die einst so gescholtenen Anakreontiker und fand selbst zu einer sinnenfreudigen Kunst.166

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Die Deutschen übernahmen dieses Autoimage, wie Küttners Bericht von einem Besuch bei Bodmer zeigt: »Er wohnt außerhalb der Stadt; mit jedem Schritte, der mich ihm näher brachte, sagte ich mir: >bald, bald wirst du ihn sehen, den ehrwürdigen Greis, den Vater der deutschen Litteratur, den Gründer des deutschen Geschmacks.< - Ich kam nun an einen kleinen grünen Hügel, der mit einer Menge Obstbäume besezt ist, und sähe darauf ein altes, kleines Haus, einsam wie die Hütte eines Landmanns in einer Idylle, und ehrwürdig, wie die Wohnung eines Hausvaters aus der Vorwelt. Mein Herz pochte und meine Einbildungskraft wurde immer reger. Ich sah den Alten bald mit Noah und seinen Patriarchen um ihn her; bald mit den Helden Homers und mit den Grazien der Griechen.« (Küttner, Briefe, 1785, Bd. l, S.214). - Vgl. auch Goethes Bericht von seinem Besuch bei Bodmer in Dichtung und Wahrheit: »Wir [...] priesen ihn glücklich, daß er als Dichter, der patriarchalischen Welt angehörig und doch in der Nähe der höchst gebildeten Stadt, eine wahrhaft idyllische Wohnung Zeitlebens besessen [...] habe.« (WA I, Bd. 29, S. 108). 163 Wieland an Zellweger, 4. August 1757, in: Wieland, Briefwechsel, Bd. l, 1963, S.301. 164 Wieland an Zellweger, Bodmer, Breitinger und Hess, 5. Juli 1755, in: Ebd., S.237. Noch viele Jahre später erinnert sich Wieland gern an diese Besuche. Karl August Böttiger weiß 1795 zu berichten: »Wieland fühlt sich immer verjüngt, wenn er von seinen Jugendwanderungen in der Schweiz, besonders im appenzeller Lande, spricht.« (Böttiger, Literarische Zustände, Bd. l, 1838, S. 158). 165 In diesem Sinne interpretiert auch Johann Georg Sulzer die Patriarchaden Bodmers: »Ich sehe den Noah, den Jacob und andre Helden meines Dichters nicht als theatralische Personen an [...] Sie sind mir Prediger der Gottesfurcht und Rechtschaffenheit, erhabene Muster aller Tugenden, Exempel der Menschen« (Sulzer, Gedanken von dem vorzüglichen Werth der Epischen Gedichte des Herrn Bodmers, 1754, S. 6). 166 Siehe Hentschel, Seraph und/oder Sittenverderber?, 1995, S. 131-162. 35

Die im Brief vom 4. August 1757 aufgekommene Idee, das naturnahe Volk der Bauern und Hirten als Alternative zum höfischen und städtischen Leben darzustellen, wurde von Wieland nicht weiter verfolgt. Zu oberflächlich blieb auch bei ihm der Kontakt zu diesen Menschen, zu fixiert war er auf das geistig-intellektuelle Zürich, als daß er Volk und Landschaft in sein Schaffen hätte einbeziehen können.167 Und doch wird die angesprochene Opposition noch einmal Gegenstand mehrerer Briefe. Sie sind bedeutsam, weil sie ein erhellendes Licht auf das damals noch kaum feststellbare Phänomen der deutschen Schweiz-Begeisterung werfen. Wieland erlebte mit der Übersiedlung nach Deutschland in spezifischer, zugespitzter Weise, was nach ihm viele Reisende erfahren sollten, eine Kulturdifferenz, die sich aus dem unterschiedlichen sozialgeschichtlichen Entwicklungsstadium der Länder ergab. Wieland verbrachte acht Jahre innerhalb einer Sozietät, die überschaubar war und die ihn nicht durch gesellschaftliche Verpflichtungen überforderte; er lebte in Zürich und später in Bern weitestgehend selbstbestimmt. Ganz anders gestaltete sich die Rückkehr ins schwäbische Biberach, wo er als Senator und Kanzleiverwalter der Freien Reichsstadt in einen »Wirbel von Geschäften und Zerstreuungen«168 geriet, die ihn nicht mehr zu sich selbst kommen ließen: »[...] meine Zeit stürzt wie ein Waldstrom dahin und reißt mich in einer Art von Traum mit sich fort [.. .].«169 Angesichts eines technokratischen Staatsmerkantilismus, der den einzelnen zum Rad einer funktionierenden Maschine machte, die ihn allmählich verschliß und abstumpfte, erschien Wieland die in der Schweiz verbrachte Zeit als uneingeschränkte Idylle: »Die Blicke die ich nach der Schweiz schicke, sind die Blicke Adams in das Paradies, woraus er vertrieben wurde.«170 Die hier wahrgenomme Diskrepanz an Lebensqualität, von Wieland wiederum nur in Briefen thematisiert, sollte der manifeste Ausgangspunkt für eine durchaus auch politische Instrumentalisierung der Schweizer Verhältnisse werden.

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Wieland betont ausdrücklich, »die seltsamen Gestalten der Berge zu sehen«, wäre ihm zwar ein »Vergnügen« gewesen, »wiewol von einem mindern Rang«. (Wieland an Zellweger, Bodmer, Breitinger und Hess, 5. Juli 1755, in: Wieland, Briefwechsel, Bd. l, 1963, S.237f.). 168 Wieland an Volz, 1. März 1761, in: Wieland, Briefwechsel, Bd. 3,1975, S. 27. 169 Wieland an Volz, nach dem 18. August 1761, in: Ebd., S. 35. 170 Wieland an Volz, 1. März 1761, in: Ebd., S. 30. - Schon fünf Monate zuvor hatte er an Bodmer geschrieben: »Mein theurester Freund, die glüklichen Zeiten, die wir im Schooße der philosophischen Ruhe, miteinander gelebt, sind für mich auf ewig entflohen; diese goldnen der Weisheit und den Musen geheiligte Tage, diese glückliche Entfernung vom Getümmel und den Geschäften der Welt, die Freyheit von Sorgen und Leidenschaften, diese heilige Stille, worinn unsre Seelen bald mit den Geistern verstorbner Weisen sich besprachen, bald in heitrer Entzückung den Eingebungen einer himmlischen Muse entgegenlauschten, bald in sich selbst gehüllt, ihre eigene Gestalt ihre wunderbaren Kräfte, und das Geheimniß ihres Ursprungs ihres Zustandes und ihrer Bestimmung erforschten [...]- diese dreymal glükliche Zeit ist für mich dahin, und hat mir nichts als ein trauriges Andenken und vergebliches Bedauren zurükgelassen. Meine Phantasie, vom unharmonischen Getümmel des Gegenwärtigen betäubt stellt mir das Vergangne in einer weiten neblichten Ferne für, ich erinnre mich meines ehmaligen glüklichen Zustandes kaum anders als unsre von irdischen u: körperlichen Gegenständen verschlungene Seele sich nach Platons Meynung ih-

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2.5 Salomon Geßners Idyllen Salomon Geßners Schaffen171 stand zunächst ganz im Zeichen der Anakreontik. Folgerichtig brachten ihm seine ersten Dichtungen die Kritik von Bodmer und Wieland ein.172 Doch die Distanz war nicht unüberbrückbar; Geßner lag es fern, seichte anakreontische Gedichte zu verfassen. Gern wäre er ein Dichter geworden, »der die leichten Freuden [...] fein und unschuldig malt«.173 Doch gänzlich entsagen wollte er ihnen nicht, denn »solche Empfindungen machen doch einen großen Teil unserer Glückseligkeit aus, aber nur dann, wenn sie so unschuldvoll sind, wie Sie dieselben schildern«.174 Auf dieser Basis begegneten sich in den fünfziger Jahren Bodmer und Wieland, die mit ihren alttestamentarischen Epen einen antizivilisatorischen Ursprungsmythos verfochten, und der angehende Idyllendichter Geßner, welcher das naturnahe Leben der antiken Hirten beschrieb. Bezeichnend für diese konzeptionelle Koinzidenz ist die Tatsache, daß Geßner 1758 mit dem Tod Abels selbst ein biblisches Epos verfaßte. Das Anliegen, das sowohl den Patriarchaden als auch den Idyllen zugrunde lag, war zuförderst belehrend-erbauender Natur; die Dichtungen projizierten ideale Lebenswelten, die dem gesellschaftlichen Status quo entgegengestellt werden konnten.175 Insbesondere im Hinblick auf Geßner ist bemerkt worden, daß die politischen und religiösen Zustände, die bestimmt wurden von einer zum Teil korrupten Regierungsoligarchie und zudem geprägt waren von einer calvinistischen Arbeitsethik und Musenfeindlichkeit, entscheidend dazu beitrugen, daß Gegenbilder zum Züricher Alltag entworfen wurden.176 E. Theodor Voss stellt fest, daß es angesichts solcher Kalamitäten »mit zu den Lebensleistungen eines damaligen Zeitgenossen gehört haben [muß], nicht gleich in depressive Zustände zu verfallen (von denen Geßner, wenn die Überlieferung stimmt, erst in den letzten Monaten vor seinem Tode heimgesucht wurde)«.177 Unter diesem Betracht ist es durchaus verständlich, daß die Intellektuellen Wieland, Bodmer, Hirzel und Geßner beispielsweise in einem Aufenthalt in Trogen bei Zellweger eine Alternative zum Züricher Stadtleben sehen konnten. Weckte der Besuch in der »föhrenen Hütte« bei Wieland die Vorstellung patriarchalischen Le-

res ehmaligen geistigen Lebens erinnert.« (Wieland an Bodmer, 1. Oktober 1760, in: Ebd., S. 15). 171 Eine neuere Monographie zu Salomon Geßner gibt es nicht, wichtig immer noch: Bircher/ Weber, Geßner, 1982 u. Gessner, 1982. 172 »[...] meine Lieder habe ich Bodmern gewiesen. Sie haben ihm nicht zum besten gefallen.« (Geßner an Johann Georg Schultheß, 12. Juli 1752, in: Gessner, Schriften, Bd. 3, 1972, S. 141). 173 Geßner an Gleim, 2. Oktober 1755, in: Geßner, An den Amor, 1980, S. 194. 174 Ebd. 175 Siehe Burk, Elemente idyllischen Lebens, 1981. 176 Siehe Kesselmann, Die Idyllen Salomon Geßners, 1976, S. 102-139 und Voss, Nachwort zu Geßner, 1988,5.334-357. 177 Voss, Nachwort zu Geßner, 1988, S. 336.

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bens,178 so wurde Geßner an seinen Aufenthalt in Hamburg bei Hagedorn erinnert179 und Hirzel berichtete gar, daß er hier »die sanftesten Vorstellungen von dem Glück des Standes der Natur, oder eines theokritischen Schäfer=Lebens«180 bestätigt gefunden habe.181 Möglicherweise bezog sich Hirzel mit seiner Feststellung auf Geßners erste Idyl/en-Sammlung, die 1756 erschienen war. In der Vorrede An den Leser teilte dieser mit, daß die »Idyllen [...] die Frychte einiger meiner vergnygtesten Stunden«182 gewesen seien. »Oft reiß ich mich aus der Stadt los, und fliehe in einsame Gegenden, dann entreißt die Schoenheit der Natur mein Gemyth allem dem Ekel und allen den wiedrigen Eindrycken, die mich aus der Stadt verfolgt haben; ganz entzykt, ganz Empfindung yber ihre Schoenheit, bin ich dann glyklich wie ein Hirt im goldnen Welt-Alter, und reicher als ein Koenig.«183 Der Aufenthalt auf dem Lande, der Geßner zumindest zeitweise für die Defizite städtischen Lebens entschädigte, stimulierte die Erinnerung an eine Zeit, in der die Menschen »frey von allen den sclavischen Verhältnissen«184 lebten. Daß sie »gewiß einmal da gewesen ist«, davon lege »die Geschichte der Patriarchen« und die »Einfalt der Sitten, die [...] Homer schildert«,185 ein beredtes Zeugnis ab. Für Geßner, der sich der Idylle zugewandt hatte, wurde Theokrit »das beste Muster in dieser Art Gedichte«. »Bey ihm findet man die Einfalt der Sitten und der Empfindungen am besten ausgedrykt, und das Ländliche und die schoenste Einfalt der Natur [...].«186 Ausdrücklich bekennt er sich zu einem Dichtungsverständnis, das im Hinblick auf die Idylle der Argumentation Gottscheds folgt, der bestimmt hatte, daß angesichts der realen Situation des Landmanns der ideale Hirte und Bauer in der antiken Vergangenheit gesucht werden müsse. Nur dieser dürfe Gegenstand der Idylle sein. So besteht auch für Geßner der »Vortheil, wenn man die Scenen in ein entferntes Welt-Alter sezt«, darin, daß die Dichtung »einen hoehern Grad der Wahrscheinlichkeit«187 erreicht.188 Sie passen nicht »fyr unsre Zeiten [...], wo der Landmann mit saurer Arbeit unterthaenig seinem Fyrsten und den Staedten

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Siehe Wieland an Zellweger, Bodmer, Breitinger und Heß, 5. Juli 1755, in: Wieland, Briefwechsel, Bd. l, 1963, S.237f. 179 In einem Brief an Zellweger schreibt er, daß er bei ihm »die glücklichsten Tage« seines Lebens verbrachte: »[...] ich weiss sie mit keinen ändern zu vergleichen, als mit denen, die ich mit dem redlichen Hagedorn am Ufer der Alster zugebracht habe.« (Geßner an Zellweger, 10. März 1758, zit. n.: Zehnder, Pestalozzi, 1875, S.630). 1X0 Hirzel, Ehren=Gedächtnis, 1765, S. 61. 181 Faessler, Die Zürcher in Arkadien, 1979, S. 3^9. 182 Geßner, An den Leser, Bd.2, Theil 3,1972, S.V. 183 Ebd., S. Vif. 184 Ebd.,S.VIIf. 185 Ebd.,S.VIIIf. 186 Ebd., S. Xf. 187 Ebd., S. IX. 188 Zur arkadischen Idyllik Geßners siehe Maisak, Arkadien, 1982, S. 203-213.

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den Ueberfluß liefern muß, und Unterdryckung und Armuth ihn ungesittet und schlau und niedertraechtig gemacht haben«.189 Mit dieser kritischen Feststellung begegnete er explizit der Vermutung, er hätte die ländlichen Bezirke seiner Heimat zur Vorlage für seine Dichtungen gewählt. Doch Geßner hatte auch eingeräumt, daß die »Scenen, die der Dichter aus der unverdorbenen Natur herholt, [...] oft mit unsern seligsten Stunden, die wir gelebt, Aehnlichkeit zu haben scheinen«.190 Das Leben auf dem Land lasse zumindest noch den verloren gegangenen Zustand erahnen. In der Idylle Der Wunsch formuliert der Erzähler sein Begehren, »unbekannt und still, fern vom Getymmel der Stadt, wo dem Redlichen unausweichliche Fall-Strike gewebt sind, wo Sitten und Verhaeltnisse tausend Thorheiten adeln«,191 ein Gut zu führen: »[...] koennt' ich in einsamer Gegend mein Leben ruhig wandeln, im kleinen Land-Haus, beim ländlichen Garten, unbeneidet, unbemerkt!«192 Signifikant an dieser Idylle ist die Tatsache, daß sie nicht nur eine ideale menschliche Existenz beschreibt, sondern zugleich zeigt, aufweiche Verhältnisse damit reagiert wird. Der Gegensatz von denaturierter städtischer Lebenswelt und ländlicher Idylle, zeitgleich mit Rousseaus ersten zivilisationskritischen Schriften formuliert, entsprach den Erfahrungen der Zeitgenossen, für die diese Texte eine Bestätigung eigener Wertvorstellungen darstellten. In diesem Sinne zeigt die Idylle Der Wunsch ein Lebensmodell, dessen Leitgedanke eine selbstgewählte Einsamkeit inmitten einer >englischen< Gartenlandschaft ist. Da sie ihrem Besitzer keine schwere Arbeit abfordert, kann er sich in Muße der Natur zuwenden, in ihr bilden und dichten. Er sucht den Umgang mit Gleichgesinnten; dem einfachen Volk begegnet er als Menschenfreund. Geßners Aufwertung des Landlebens fiel in eine Phase intensiver Beschäftigung mit Theorien der Physiokratie. Auch Rousseau verwies in seinen Schriften nachdrücklich auf die Bedeutung des Nährstandes. Er war es, der - wohl nicht zufällig die Idyllen mit dem Schweizer Musterbauern Kleinjogg in Verbindung brachte.193 Hans Kaspar Hirzel hatte diesen Landmann, der eigentlich Jacob Gujer hieß, entdeckt und dessen Leben in dem Werk Die Wirthschaft eines Philosophischen Bauers beschrieben. Als patriarchalischer Vorstand einer Großfamilie organisierte er sein Gut so effizient und erfolgreich, daß er weit über die Schweiz hinaus zu einem vorbildlichen Landwirt avancierte, der gleichermaßen ökonomischen Verstand, eine asketische Lebenseinstellung und das natürliche Genie eines »Socrate rustique«194 besaß.195 Für Rousseau war dies Grund genug, ihn an die Seite von Geßners Idyllenfiguren zu stellen. 189

Geßner, An die Leser, Bd. 2, Theil 3,1972, S.IXf. Ebd., S. VI. 191 Geßner, Der Wunsch, Bd. 2, Theil 3,1972, S. 151. 192 Ebd. 193 Siehe Rousseau an Leonhard Usteri, 2. September 1762, in: Rousseau, Correspondence, 1910,8.31. 194 Ebd. 195 Zum »Musterbauer[n] als bürgerliches Menschenideal« siehe Lange, Idyllische und exotische Sehnsucht, 1976, S. 76-87; über die Darstellung und Selbstdarstellung des Bauern in 190

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Damit ist Rousseau zunächst der prominenteste Rezipient der Idyllen-Sammlung von 1756, der sie in einen Zusammenhang mit der Heimat des Dichters, die auch die Kleinjoggs war, brachte. Hirzel formulierte einige Jahre später noch deutlicher: Alle Landbewohner sollten sich den Bauern Gujer zum Vorbild nehmen, denn dann würden sie sich auch dem »Charakter Theokritischer oder Geßnerischer Schäffer«196 annähern. Obwohl Geßner in seinen öffentlichen Verlautbarungen dezidiert behauptet hatte, beim Schreiben seiner Idyllen nur Theokrits Hirtenwelt vor Augen gehabt zu haben, gab es unter deutschen Zeitgenossen bald Grund zum Zweifel. Geßner selbst veranlaßte solche Überlegungen; in Briefen an seine Freunde erwog er, die Hirten Theokrits durch die Älpler seines Landes zu ersetzen: »[...] ich getraute mir, auf unsern Alpen Hirten zu finden, wie Theokrit zu seiner Zeit, denen man wenig nehmen und wenig leihen dürfte, um sie zur Ekloge zu bilden.«197 Mit solchen Äußerungen rückte Geßner - wie Haller vor ihm - die Welt der Schweizer Alpen in die Nähe Arkadiens, was bei dem Leser zu dem Schluß führen konnte, seine Idyllen seien das Ergebnis unmittelbarer Lebenserfahrung. Der Berliner Dichter Karl Wilhelm Ramler, der die Schweiz aus eigenen Anschauung nicht kannte, war überzeugt, daß zwischen Geßners Idyllen-Dichtung und seinem spezifischen Lebensumfeld ein Zusammenhang bestehe, denn er schrieb ihm: »Sie wohnen in einem Lande, welches zum Theil wahre arcadische Einwohner hat, und haben selbst den wahren arcadischen Geist [.. .].«198 Wenngleich Geßner auch in späteren Briefen einräumte, daß er sich beim Schreiben seiner Idyllen in der »ungestörte [n] Ruhe auf dem Lande«199 bestimmter »Erfahrungs-ideen«200 bedienen konnte,201 so verschwieg er andererseits nicht, daß er stets »das Costume des Alterthums zu beobachten gesucht«202 habe. Zusammenfassend schrieb er:»[...] der Landschafft wollt' ich den Charakter der wahren Natur geben, den Figuren die edle Simplicität des Alterthums.«203

der Schweizer Literatur handelt Christoph Siegrist, in: Zwischen Objekt und Subjekt, 1981, S. 27-27. 196 Hirzel, Die Wirthschaft eines philosophischen Bauers, 1774, S. 422. 197 Geßner an Gleim, 29. November 1754, in: Gessner, Sämtliche Schriften, Bd. 3, Theil 6, 1972, S. 143. 198 Ramler an Geßner, 16. Oktober 1755, in: Aus dem Briefwechsel, 1892, S. 101. 199 Geßner an Zimmermann, 3. April 1772, in: Gessner, Sämtliche Schriften, Bd.3, Theil 6, 1972,8.174. 200 Geßner an Meister(?), 1. April 1772, in: Ebd., S. 173. 201 »Ich wählte wieder die Dichtart, [...], um so viel mehr, weil ich damahls vorzüglich beschäftigt war, die Schönheiten der Natur als Mahler zu studieren. Diese beyderley Beschäftigungen stöhrten einander nicht, sie nuzten eine der ändern. Sollte man nicht etwa hier und da eine Spur finden, daß der Dichter ein Mahler ist, der die Natur gesehen hat?« (Geßner an Friedrich Nicolai, 4. April 1772, in: Ebd., S. 175f.). 202 Geßner an Johann Heinrich Meister(?), 1. April 1772, in: Ebd., S. 173f. 203 Geßner an Friedrich Nicolai, 4. April 1772, in: Ebd., S. 176.

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Nach all dem muß festgehalten werden, daß Geßners Texte keinen konkreten topographischen Hinweis auf die Schweiz geben;204 die Verweise einiger Rezipienten auf einen solchen Zusammenhang auf die wenigen Briefzitate Geßners zurückzuführen, hieße, deren öffentliche Wirkung zu überschätzen. Die große Resonanz, auf die die Idyllen insbesondere bei denjenigen stießen, die dem Philhelvetismus zuneigten, bedarf einer anderen Erklärung. Es handelt sich hierbei um eine spezifische Rezeption, die entscheidend von dem Schweizbild abhängig ist, mit dem der Interpret den Texten begegnet.205 Für einen Autor wie Christian Cay Lorenz Hirschfeld, der 1769 die Schweiz beschrieb, ist es angesichts der ihn umgebenden Naturschönheiten kein Zufall, »daß Herr von Haller und Herr Geßner [...] Meisterstücke in der mahlenden Poesie geliefert haben«.206 Von hier ist es kein weiter Weg mehr zu Bonstetten, der in Geßner den Dichter sieht, »qui a decrit la simplicite et la grace des Alpes, comme nous les voyons«.207 Neben dem sich hier ankündigenden Rezeptionsmodus, nach dem die Idyllen auf Schweizer Landschaftsbeschreibungen verkürzt werden bzw. die eigene Begeisterung für das Land auf die Texte transponiert wird, existierte eine Idyllenkritik, deren Vertreter Geßners Texte allgemein nach ihrem Realitätsgehalt und ihrem Wirkungspotential befragten. Daß diese Autoren in den Jahren nach der Veröffentlichung der ersten Idyllen-Sammlung 1756 in der Mehrzahl waren, ist ein Hinweis darauf, daß das Rezeptionsverfahren, das Hirschfeld initiierte, zu diesem Zeitpunkt noch ohne Bedeutung war. Johann Adolf Schlegel bestätigt in seiner Abhandlung Von dem eigentlichen Gegenstände der Schäferpoesie weitestgehend die Ansichten Geßners, die dieser in seiner Vorrede zu den Idyllen geäußert hatte. Nach Schlegel kam diesen Texten sowohl eine »innerliche Wahrscheinlichkeit«208 zu, da die Hoffnung bestehen würde, die verloren gegangene Unschuld des beschriebenen Hirtendaseins wieder zu erlangen, als auch eine »äußerliche Wahrscheinlichkeit«,209 denn sie basierten auf einer »Sage«. »Das glückselige Leben, das sie schildern, ist nicht nur möglich; man erzählet auch, daß solches einmal vorhanden gewesen sei. Ja was noch mehr ist; was diesen Erzählungen einen gewissen Grad der Glaubwürdigkeit gibt; sie haben ihren

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Auszunehmen ist der späte Text Das hölzerne Bein, Eine Schweitzer-Idylle, der innerhalb des Gesamtwerks eine Sonderstellung einnimmt: »Wie, wenn ich in einer Note sagen würde, daß ich das für kein Hirtengedicht gebe, daß es ein Nationalstück sei, wofür ich eigentlich keine Klasse und keinen Namen wisse?« (Geßner an Meister, 27. Juni 1772, in: Gessner, Schriften, Bd. 3,1972, S. 179). 205 Auf diese bipolare Rezeption weist auch Burghard Dedner hin: »Das Publikum schließt entweder aus Gessners Schriften auf dessen >arcadischen Charakter< oder auf die zur Bewahrung eines sittlichen Bauerntums besonders günstigen Umstände der Schweiz.« (Dedner, Topos, Ideal und Realitätspostulat, 1969, S. 15). 206 Hirschfeld, Briefe über die vornehmsten Merkwürdigkeiten der Schweiz, Bd. l, 1769, S. 71. 207 Zit. nach Tieghem, Le Preromantisme, Bd. 2,1930, S. 250. 208 Schlegel, Von dem eigentlichen Gegenstande der Schäferpoesie, 1759, S. 510. 209 Ebd., S.511. 41

Ursprung aus der Wahrheit, aus den dunklen Nachrichten von dem wahren goldnen Zeitalter, ich meine von den Zeiten der Erzväter.«210 Hielt Schlegel im Sinne Geßners an der konventionellen Topik des Goldenen Zeitalters fest, so versuchte Moses Mendelssohn ein Jahr später, 1760, zaghaft diese Norm aufzubrechen, indem er weitaus allgemeiner die Idylle als den »sinnlichstefn] Ausdruck der höchst verschönerten Leidenschaften und Empfindungen solcher Menschen« faßt, »die in kleinen Gesellschaften zusammen leben«.211 Der damit verbundene mögliche Realitätsgewinn - Handlungsträger der Idylle müssen nicht mehr allein antike Hirten sein - soll sich noch weiter erstrecken. Die stilisierten Charaktere, die für die Idylle unverzichtbar sind, müssen nicht zwangsläufig auch in idealisierte Lebensräume eingebunden werden;212 insbesondere diesen »Kunstgriff«213 hatte Mendelssohn bei Geßner beobachtet: »Die Empfindungen seiner Schäfer gränzen beinahe an das Erhabene; aber ihre Lebensart ist so ländlich, so gemein, und fast so armselig als in der Natur.«214 Die Theorieentwürfe der Aufklärer Schlegel und Mendelssohn, die hier im Hinblick auf Geßners Idyllen kurz vorgestellt wurden, lassen erkennen, daß auch auf der Seite der literaturkritischen Rezeption und Propädeutik die Tendenz bestand, der Idylle einen größeren Wirklichkeitsbezug zu geben. Die Theorie beförderte damit unter den Lesern solcher Texte ein Rezeptionverhalten, das nahelegte, nun auch in der Idylle den zeitgeschichtlichen Stoff zu suchen.

2.6 Balthasars Patriotische Träume und die Helvetische Gesellschaft Das Jahr 1758 ist in hinsichtlich der politisch-aufklärerischen Selbstverständigung der Schweizer von eminenter Bedeutung. Denn innerhalb von wenigen Monaten erschienen drei wichtige nationalpatriotische Werke,215 die auch in das Nachbarland Deutschland hineinwirkten. In ihnen wurde die Idee einer starken, aus unabhängigen und selbstbewußten Mitgliedern bestehenden Eidgenossenschaft wiederbelebt. Eine Debatte um das ideale Vaterland hatte sich schon seit längerem angekündigt. Autoren wie Muralt, Haller und Bodmer waren in Werken und Briefen auf die politischen Mißstände in den oligarchisch geführten Kantonen maßvoll-kritisch eingegangen. Selbst die Dichter, die sich nur zeitweise in der Schweiz aufhielten, hatten

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Ebd.

Mendelssohn, Gesammelte Schriften, Bd.4,2. Abt., 1844, S.23. »Welche Scene wollen wir aber der Idylle anweisen? Mich dünkt, jeden Ort, an welchem sich die beschriebenen einfachen Gesellschaften aufhalten können [...].« (Ebd., S.25). 213 Ebd., S. 27. 214 Ebd., S. 28. 215 Iselin, Philosophische und patriotische Träume eines Menschenfreundes, 1758; Balthasar, Patriotische Träume eines Eydgenossen, 1758; Zimmermann, Von dem Nationalstolze, 1758. 212

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auf politische Unzulänglichkeiten aufmerksam gemacht.216 Mit großem Interesse verfolgte man 1749 in Deutschland die sogenannte Henzi-Verschwörung,217 die sich gegen die korrupten, machtbesessenen Berner Patrizier richtete.218 Die Berlinische Privilegierte Zeitung dokumentierte deren Verlauf und Vereitelung sowie den sich anschließenden Gerichtsprozeß ausführlich. Lessing begann gar auf der Grundlage dieses Stoffes ein Trauerspiel zu verfassen, doch es gedieh ihm nur bis zum zweiten Akt.219 Es ist weitestgehend frei von schweizerischem Kolorit. Angesichts desolater moralischer und politischer Verhältnisse in einigen Kantonen hatten Schweizer Gelehrte schon früh nach Möglichkeiten gesucht, innerhalb des Systems Veränderungen zu bewirken. Johann Jakob Bodmer war 1721 auf den großen Fundus verehrungswürdiger Vorbilder gestoßen, den die eigene Geschichte bereitstellte: »Die Histori der Schweitzer ist eine Quelle der schönsten Expeditionen, der sie schreibet, der machet die Lobrede eines gantzen Volks. So gerecht und billigmäßig sind ihre Kriege, so göttlich und heilig sind ihre Gesetze, so eingezogen ist ihre Ambition, so patriotisch und dapfer sind ihre Burger.«220 Daß ein Vergleich der Zeitgenossen mit den Begründern der Eidgenossenschaft unerwünscht war, weil er die mächtigen Zunftbürger und Patrizier in Verlegenheit bringen konnte, zeigt sich darin, daß Bodmer für seinen Aufsatz Vom Wert der Schweizergeschichte, dem diese Gedanken entnommen sind, von der Züricher Zensur keine Druckerlaubnis erhielt.221 Trotz solcher einschüchternden Maßnahmen verfolgten die Aufklärer das darin vorgezeichnete Verfahren weiter. Bodmer selbst war entscheidend an der Etablierung bzw. weiteren Ausprägung des Traditionsbewußtseins beteiligt. Nachdem er 1725 am Züricher Carolinum die Professur für »Vaterländische Geschichte« erhalten hatte, gründete er eine »Helvetische Gesellschaft« (1727-1746), in der verfassungsrechtliche und kulturgeschichtliche Beiträge von Fachleuten diskutiert wur-

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»Beneiden Sie überhaupt die hiesigen Hrn. Republicaner nicht. Es sind fast durchgehende Leute, die sich erschreklich tief bücken; denn fast alle, die ein bischen von Familie sind, wollen ins Regiment.« (Klopstock an Gleim, 8. Oktober 1750, in: Klopstock, Briefe, Bd. l, 1979,8.139). 217 Feller, Geschichte Berns, Bd. 3,1974, S. 447^163. 218 »Ich kan Ihnen nicht sattsam beschreiben, wie sehr mich das unglückliche Schicksahl des seel. Henzi gerührt hat. Ich bin wider seine Feinde und Ankläger in einen Zorn gerathen, der, in Bern, mich wenigstens um Licht und Freyheit gebracht haben würde. Die Rache zerbreche die Backen-Zähne der Ungerechten! [...] Mir ist es nicht wenig angenehm gewesen, daß sein Nachruhm öffentlich in französischen und allen hiesigen Zeitungen gerettet worden [...].« (Hagedorn an Bodmer, 27. September 1749, in: Hagedorn, Briefe, 1997, Bd.l,S.277f.)219 Das Fragment Samuel Henzi zeigt, daß es für Lessing zum aufklärerisch-reformerischen, gleichsam patriotischen Handeln keine Alternative geben kann. Zur Interpretation siehe Kraft, Gleichheit oder Heldentum, 1982, S. 17-31 u. Batley, The Henzi affair, 1983/1984. S. 251-262. 220 Bodmer, Vom Wert der Schweizergeschichte, 1989, S.60f. 221 Siehe dazu Chronik der Gesellschaft der Mahler, 1887, S. 3.

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den;222 zugleich begann er mit Quellenstudien, und 1735 publizierte er erste historische Dokumente.223 Doch dies war nur der erste Schritt auf dem Weg zu einem neuen Verständnis der Vergangenheit.224 Denn eine Chronik nach dem Muster von Ägidius Tschudis berühmtem, vielgenutzten Chronicon Helveticum225 zu verfassen, widersprach der Auffassung Bodmers von einem wirkungsvollen historischen Werk. Er wollte, daß Ursachen und Motivationen geschichtlichen Handelns aufgezeigt werden. Dieses Ziel hoffte er später mit seinen vaterländischen Lesedramen zu erreichen.226 Es waren allesamt Werke, in denen der historische Sachverhalt als moralisch-erzieherisches Exempel eingesetzt wurde.227 Bodmer, von dem Wieland 1753 mit Recht sagte, daß »seine politischen Einsichten und sein Patriotisches Wesen [...] so groß« seien, »daß er seinem Vaterlande ungemeine Dienste zu leisten die Fähigkeit hätte«,228 bereitete mit seinem wissenschaftlichen, literarischen und moralischerzieherischen Wirken den Boden, auf dem um 1760 eine breite, wirkungsmächtige Patriotismusdiskussion entstehen konnte. 1758 erschien eine Schrift, die schon 14 Jahre zuvor verfaßt worden war, deren Veröffentlichung aber aus politischen Rücksichten unterblieb. Der Basler Ratsschreiber Isaak Iselin gab sie nun heraus.229 Ihr Autor ist der Luzerner Staatsmann Franz Urs von Balthasar. Schon der Titel war Programm: Patriotische Träume eines Eydgenossen von einem Mittel, die veraltete Eydgenossenschaft wieder zu verjüngern. Verleger und Erscheinungsort blieben ungenannt; auf dem Deckblatt war stattdessen zu lesen »Freistadt Wilhelm Teils Erben«. Ausgangspunkt dieses Reformvorschlags ist eine nüchterne Analyse des gesellschaftlichen Zustande: »Man kann ja fast mit Händen fühlen, daß wir am Ende unserer Freyheit, und dem völligen Verfall ganz nahe sind; Wir sehen die alte Tapferkeit versunken; die Ehre der Nation verflogen; die Armuth eingedrungen, um so mehr als Pracht, Uebermuth und Verschwendung sich empor schwingen; die gute Verständnuß in denen Tagleistungen verkehret sich in Zurückhaltung und Zerrüttung; so viel Köpfe, so viel verschiedene Meynungen von keinem Zusammenhang; nur weniger gute Besinnungen thun dem Geist des Eigennutzens Einhalt; die Gerechtigkeit selbst muß sich oft geschändet sehen, und zwar öfters von solchen, welche als Väter des Vaterlandes ihre starke

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Erne, Die schweizerischen Sozietäten, 1988, S. 101-103. Helvetische Bibliotheck, 1735-1741; Historische und Critische Beyträge, 1739. 224 Siehe Debrunner, Das güldene schwäbische Alter, 1996. 225 Dieses Werk aus der Mitte des 16. Jahrhunderts war von Johann Rudolf Iselin 1734-1736 in Basel herausgegeben worden. Diese Ausgabe nutzte noch Schiller für seinen Wilhelm Teil. 226 Bodmer, Schweizerische Schauspiele, 1998. Zu Bodmers patriotischen Dramen und der Verwendung des Teil-Stoffes siehe Merz, Teil im Drama, 1925, S. 44-48; Debrunner, Das güldene schwäbische Alter, 1996, S. 133-155 u. Gut, Das Vaterländische Schauspiel der Schweiz, 1996, S. 137-147. 227 Vgl. den Abschnitt Geschichte als Sittenlehre bei Debrunner, Das güldene schwäbische Alter, 1996,8.21-45. 228 Wieland an Volz, 11. April 1753, in: Wieland, Briefwechsel, Bd. l, 1963, S. 154. 229 Zu Iselin siehe: Im Hof, Isaak Iselin und die Spätaufklärung, 1967. 223

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Hand bieten sollen.«230 Balthasar schlägt ein kantonenübergreifendes Erziehungsprogramm vor; es müßten Bildungseinrichtungen geschaffen werden, die die verloren gegangenen eidgenössischen Werte wieder im Bewußtsein der Schweizer befestigen. Es waren Worte zur rechten Zeit, denen die Zeitgenossen vorbehaltlos zustimmten. Selbst Wieland fühlte sich angesprochen und verfaßte Gedanken über den patriotischen Traum Balthasars. Auch er sah gleich dem Schweizer »das geheiligte Fundament der Freyheit, Sicherheit und Glükseligkeit der gesamten Löblichen Eidgenoßschaft« nur dann gesichert, wenn die »Treue, die Liebe, der patriotische Geist, die Eintracht der verbündeten Stände und Bürger«231 erhalten blieben. Als müßte man den Worten Balthasars einen noch größeren Nachdruck verleihen, veröffentlichte Iselin im gleichen Jahr eine erweiterte Fassung seiner Schrift Philosophische und patriotische Träume eines Menschenfreundes, in der er die Schweizer aufforderte, zur »Ordnung, Richtigkeit, Tugend, Gerechtigkeit und Erhabenheit« zurückzukehren, angesichts einer Wirklichkeit, die »nichts als Unordnung, Verwirrung, Falschheit, Scheintugend und betrügerische Grosse«232 zeige. Und der Brugger Arzt Johann Georg Zimmermann weist ebenfalls 1758 in dem Werk Vom Nationalstolze seinen Zeitgenossen den Weg, auf dem sie die hehren Tugenden wieder erlangen könnten. Man möge sich »der Tapferkeit seiner Voreltern« erinnern, denn dies ist »für jede Nation eine reiche Quelle von unbiegsamer Grosse der Seele, und das sicherste Verwahrungsmittel wider die Hectik«.233 Die Besinnung auf die eigene Geschichte mit dem Ziel, die Tugenden der Altvorderen wieder anzunehmen und so einen neuen, staatserhaltenden Patriotismus zu entwickeln, sollte so Zimmermann - ein erstrangiges Anliegen der Schweizer sein.234 Inwieweit auch die Deutschen von dieser vaterländischen Diskussion zu eigenen Schriften angeregt wurden, läßt sich nicht bestimmt klären.235 Als Moses Mendelssohn 1761 in den Briefen, die neueste Litteratur betreffend, Thomas Abbts Tod für das Vaterland rezensierte, deutet er einen solchen Zusammenhang an, wenn er den

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Zit. nach Kesselmann, Die Idyllen Salomon Geßners, 1976, S. 113. Wieland, Gedanken über den patriotischen Traum, 1916, S. 215. 232 Iselin, Philosophische und patriotische Träume, 1758, S. 8. 233 Zimmermann, Vom Nationalstolze, 1768, S. 240. 234 »Die Malerey edler Sitten, die Erzählung einer tugendhaften That, wirkt auf der Stelle; reißt die Seele zur Bewunderung, und den Willen zur Nachahmung. Grosse Thaten aus der Geschichte in rührenden Schilderungen an die Herzen gedrängt, Leben ruhmwürdiger Mäner, wie sie Plutarch und Caspar Hirzel beschreibt, Geßnerische Gedichte voll edler und unsterblicher Natur, sind darum bey der Jugend von erstaunender Wirkung.« (Ebd., S.344f.). 235 Der Versuch einer Wiederbelebung einer kantonenübergreifenden Vaterlandsliebe dürfte für Nationalgesinnte im zersplitterten Deutschland nicht uninteressant gewesen sein. Darauf wies schon mit besonderem Bezug auf Friedrich Karl Moser Werner Krauss hin. Siehe Krauss, Über die Konstellation der deutschen Aufklärung, 1986, S. 56ff. - Fest steht, daß in den sechziger Jahren auch in Deutschland zahlreiche patriotische Werke, zum Teil im Zusammenhang mit dem Siebenjährigen Krieg, entstanden sind. Exemplarisch genannt seien: Abbt, Vom Tode für das Vaterland, 1761; Abbt, Vom Verdienste, 1765; Moser, Von dem deutschen National=Geist, 1765; Moser, Patriotische Briefe, 1767. 231

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fiktiven Adressaten fragt: »Sie lesen die philosophisch=politischen Schriften der Herrn Schweizer mit Vergnügen. Sie lieben den patriotischen Ton, der in ihren Aufsätzen herrscht, und allen ihren Gedanken und Wendungen Feuer, Kühnheit und Nachdruck giebt? Nun, so wird Ihnen die beikommende Schrift desto angenehmer seyn, da sie dieselben Vorzüge hat und in unserm Vaterlande entstanden ist.«236 Wurden also die patriotischen Werke der Schweizer im Nachbarland durchaus zur Kenntnis genommen, so bewirkten sie am Ort ihrer Entstehung gar eine Institutionalisierung der vaterländischen Debatte in Form einer »Helvetischen Gesellschaft«.237 Deren Gründung 1761 in Schinznach war ein Ergebnis der theoretischen Selbstverständigung von 1758; insbesondere Balthasars Schrift kann als Gründungsurkunde der Sozietät angesehen werden. Iselin, Zimmermann, Hirzel und Geßner waren deren erste Mitglieder. Man verständigte sich auf den allgemeinen Leitgedanken, »Freundschaft und Liebe, Verbindung und Eintracht unter den Eidgenossen zu stiften und zu erhalten, die Triebe zu schönen, guten und edeln Thaten auszubreiten, und Friede, Freyheit und Tugend durch die Freunde des Vaterlands auf künftige Alter und Zeit fortzupflanzen.«238 Die einmal im Jahr tagende Gesellschaft hatte großen Zulauf und eine weit über das Land hinausreichende Ausstrahlung.239 Davon zeugen die Besucherzahlen. Zwischen 1761 und 1797 wurden 96 deutsche Gäste gezählt;240 zu den ausländischen Mitgliedern gehörten u. a. Prinz Ludwig Eugen von Württemberg, der markgräflich-badische Magistrat Johann Georg Schlosser und der elsässische Dichter und Pädagoge Gottlieb Konrad Pfeffel. Die Wirkung der »Helvetischen Gesellschaft« und der vielen in dieser Zeit entstandenen patriotischen Schriften auf die schweizerische gelehrte Öffentlichkeit war immens.241 Mit Stolz blickte man in die Vergangenheit, wo sich die Ursprünge einer freiheitlichen Verfassung finden ließen. Es bedurfte nach Ansicht der Patrioten nur der Besinnung auf die ehemals gelebten Werte, um die eingetretenen depravierenden Veränderungen rückgängig zu machen. So glaubten die Schweizer, daß sie noch immer die freien Männer von einst seien bzw. es nur einer erneuten Anstrengung bedurfte, um jene wieder zu werden. Dieses aus der besonderen Traditionsbindung erwachsene Selbstbewußtsein erklärt 236

Mendelssohn, Gesammelte Schriften, 1844, S. 284. Erne, Die schweizerischen Sozietäten, 1988, S. 35-40; Im Hof, Die Entstehung einer politischen Öffentlichkeit in der Schweiz, 1983. 238 Gesetze der Helvetischen Gesellschaft, o. I, S. 15. 239 Siehe de Capitani, Die Gesellschaft im Wandel, 1983. 240 Ebd., S. 52. 241 Insbesondere in den aristokratischen Kantonen verfolgte man die Verhandlungen der »Helvetischen Gesellschaft« überaus kritisch. Johann Georg Zimmermann berichtet, daß selbst Albrecht von Haller, der inzwischen Rathaus-Ammann in Bern geworden war, die Sozietät als Feind der »alleinseligmachenden Landesorthodoxie« ansah und deren Mitglieder »für Lehrjünger und Mitverschworne des in seinen Augen äusserst verruffenen Johann Jacobs Rousseau« hielt. Haller hatte sich damit im Sinne seiner Regierung geäußert. Denn nach Zimmermann glaubten »die Häupter der aristokratischen Cantone, [...] diese Gesellschaft verbreite republicanische Grundsätze«. (Zimmermann, Ueber die Einsamkeit, Theil 3,1785,8.425). 237

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auch die Überlegenheit, mit der auf feudalabsolutistische Staaten wie Deutschland herabgeblickt wurde.242 Selbst Iselin, der die Schweizer Verhältnisse durchaus kritisch beurteilte, war überzeugt, daß die Mehrzahl der Kantone bis in die Gegenwart die verfassungsmäßigen Grundrechte der Menschen schützte. »Es wäre eine alzu übertriebene Bescheidenheit, wenn wir nicht empfinden sollten, daß die meisten Staaten, aus welchen unser Bund bestehet, in glücklichern und bessern Umständen sind, als irgend ein Staat des Deutschen Reichs.«243 Mit großer und durchaus ehrlicher Begeisterung gingen »Teils Erben« in den sechziger Jahren daran, den Staat von seinen Verkrustungen zu befreien.244 Bezeichnend dafür ist der Verlauf des sogenannten »Grebel-Handels« in Zürich.245 Felix Grebel hatte sich als Landvogt im Amte Grüningen zahlreicher Vergehen schuldig gemacht. Diese reichten von der Einschüchterung der Landbevölkerung durch Erpressungen über Unterschlagungen bis zu offenen Gewalttätigkeiten. Da er zu den Privilegierten des Kantons gehörte, zudem mit der Tochter des Züricher Bürgermeisters verheiratet war, wagte man nicht, ihn öffentlich der Verbrechen anzuklagen. Zwei junge Bürger Zürichs, angehende Pfarrer, wahrscheinlich durch die propagierten staatsbürgerlichen Ideen mutig geworden,246 verfaßten ein Flugblatt 242

»Aber wo ist das Vaterland eines Teutschen, eines Sklaven? Ist es in Schwaben, Brandenburg, Ostreich oder Sachsen?« (Füßli an Lavater, März 1775, in: Füssli, Briefe, 1942, S. 174); »Man hat in gewissen Gegenden der Schweiz eine so herabwürdigende, falsche und übertriebene Meynung von dem Zustand der deutschen Nation, daß man mit dem Worte eine völlige Sklaverey verbindet, und glaubt, die Fürsten schnitzeln und schinden an dem Volke, wie man an einer Rübe schnitzelt. Wahrlich, dies ist blosser Stolz, daß wir dies glauben, der allemal eine Frucht der Unwissenheit und der närrischen Eigenliebe ist. Die Deutschen, die zu uns kommen, betrachten wir also als Leute, die der Sklaverey entgangen sind, und sich in den Schweizerbergen frey machen wollten. Viele wirtembergische Unterthanen kommen zu uns, und diese mögen freylich noch etwas von der ehrmaligen Leibeigenschaft, die nun aber auch nicht mehr existirt in ihrem Betragen an sich haben. — Aber wahrlich, nicht alle Deutsche sind Sklaven!« (Heinzmann, Nicht alle Deutsche sind Sklaven, 1792,S.191f.). 243 Iselin an Friedrich Karl von Moser, 21. Januar 1764, in: Briefwechsel, 1786, S. 347. 244 Einige Kantonalregierungen hatten schnell die Gefahr erkannt, die ihnen aus dem Wirken der »Helvetischen Gesellschaft« erwachsen könnte. So berichtet Isaak Iselin 1766 an seinen deutschen Briefpartner Friedrich Karl von Moser, daß man in Bern den Bürgern verboten habe, »die Gesellschaft von Schinznach ferner zu besuchen, deren Absicht man zwar nicht tadelt, deren Folgen man aber als gefährlich vorstellt«. (Iselin an Moser, 5. Oktober 1766, in: Briefwechsel, 1786, S. 392). 245 Siehe Strickler, Lavater und der Landvogt Grebel, 1902. 246 So erinnerte Lavater in der Klageschrift ausdrücklich an Teil und Baumgarten: »Will denn niemand aufstehen und Raache fordern? Ist denn kein Patriot mehr in Zürich? Und keiner dem die Ungerechtigkeit zu Herzen gehe unter denen, die von Helden abstammen, und deren Väter Bürger waren?« Und bald darauf heißt es: »Solle Zürich keine Teilen keine Baumgarten mehr haben? würden diese redlichen Helvetier einen solchen Tyrannen, der grausamer ist, als Geßler und Landenberg waren, unter sich gelitten haben, oder hätten sie ihm nicht vielmehr gleiche Strafen wie diesen angethan? Schande für unser Zeitalter, wenn ihre Söhne von ihrem Heldenmuth so sehr ausgeartet hätten, daß niemand wäre, der einen unverschämten Bösewicht anklagen dürfte!« (Lavater, Der ungerechte Landvogd, 1989, S. 251 u. 254).

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mit dem Titel Der ungerechte Landvogt oder Klagen eines Patrioten, das sie den Honoratioren der Stadt vor die Tür legten. Diese anonyme Anklageschrift führte dazu, daß gegen Felix Grebel ein Verfahren eingeleitet werden mußte. Doch zugleich wurde nach den Verfassern des Textes gefahndet. Als sich die gesuchten Johann Kaspar Lavater und Johann Heinrich Füßli meldeten, warf ihnen die Regierung vor, daß sie bei ihrem Vorgehen den nötigen Respekt gegenüber den Oberen und Herrschenden hätten vermissen lassen. Sie mußten vor dem Rat der Stadt ihr Verhalten rechtfertigen und »Abbitte« tun.247 Nach dem Vorfall wurde ihnen geraten, die Stadt für eine geraume Zeit zu verlassen. Beide gingen im März 1763 nach Deutschland. Lavater kehrte ein Jahr später nach Zürich zurück,248 Füßli wanderte nach England aus. Der »Grebel-Handel« ist signifikant für die politische Situation in einigen Teilen der Eidgenossenschaft. Denn er zeigt, daß die öffentliche Stimmung, die durch die patriotischen Schriften erzeugt worden war, solche Taten möglich machte. Jeder Bürger - so Salomon Geßner - möge einsehen, »daß, wer etwas für das gemeine beste wagt, [...] sich die Hochachtung des beträchtlicheren Theils seiner Mitbürger erwirbt«.249 Doch der Idyllendichter war realistisch genug, um zu wissen, daß solche Appelle nichts bewirkten, wenn sich nicht auch die Herrschenden zu diesem patriotischen Denken und Handeln bewegen ließen. »Aber desto schlimmer, daß es mit uns so weit gekomen ist, daß es einen Muth erfordert, der in Erstaunen sezt, um einen der größesten Bösewichter, zu Oberkeitlicher Untersuchung zubringen, und daß man dergleichen Mittel und Weg darzu einschlagen muß.«250 Noch skeptischer äußerte sich 1764 der exilierte Füßli in einem Brief an Bodmer: »Der Staat ist an einer Lethargie krank, und Palliative werden ganz gewiß nichts helfen als den Tod etwas weiter hinausverschieben.«251 Die Patrioten in und außerhalb der »Helvetischen Gesellschaft« hofften dagegen weiter, daß ihr vaterländisch-aufklärerisches Engagement eine Wiedergeburt der alten Eidgenossenschaft zeitigen werde. Neben Bodmers historischen Dramen entstanden nun auch Lavaters Schweizerlieder·, sie sind ausdrücklich auf Wunsch der »Helvetischen Gesellschaft« 1767 geschrieben worden.252 Diese Gesänge auf die Heldentaten der Eidgenossen fanden begeisterte Aufnahme.253 Andere Autoren gaben bald ähnliche Sammlungen her-

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Zum Rechtfertigungsschreiben und der Abbitte siehe Strickler, Lavater und der Landvogt Grebel, 1902. 248 Zu Lavaters Beteiligung an der Grebel-Affäre und zu der sich anschließenden Deutschlandreise siehe Weigelt, Lavater, 1991, S. 8-11. 249 Geßner an Tscharner, 8. Januar 1763, in: Mittheilungen, 1881, S. 51. 250 Ebd., S. 50. 251 Füßli an Bodmer, 2. Februar 1764, in: Füssli, Briefe, 1942, S. 99. - Siehe auch den Brief Füßlis an Lavater vom 6. Dezember 1765, in: Ebd., S. 118f. 252 Zur Entstehung siehe Im Hof, Die Entstehung einer politischen Öffentlichkeit in der Schweiz, 1983, S. 199-204. 253 Matthisson bezeichnet sie »als kraft= und feuervolle Nationalgesänge«, die einen »Ehrenplatz neben Gleims Kriegsliedern« verdienten. (Schriften, Bd.2,1825, S. 139).

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aus.254 Nachweislich gelangten die Schweizerlieder auch in die Hände des einfachen Volkes.255 Es gilt als wahrscheinlich, daß sie sogar in Deutschland gelesen worden sind.256 Ein Rezensent der Deutschen Bibliothek der schönen Wissenschaften, der 1770 die dritte Auflage der Schweizerlieder aus dem Jahre 1768 rezensierte, stellte gar die Frage: »Und sollten die Schweizerlieder nicht auch jenseits der Alpen von moralischem Nutzen seyn? [...] Es ist längst erwiesen, daß auch in Monarchien freye Seelen leben können, und so lächerlich die deutsche Freyheit geworden, so hat man doch die Geister noch nicht zu Sklaven gemacht. Mit wie viel Vergnügen lesen wir nicht alle die Schriften der republikanischen Engländer, ihre freyen Gesinnungen sind uns nicht, wie den Franzosen, zuwider, wir lassen uns durch sie in eine Idealwelt entrücken. Mein Blut wenigstens bleibt bey den Schweizerliedern so wenig kalt, als bey den patriotischen Träumen eines Menschenfreundes.«257 Die Begeisterung, mit der die Historic und damit gleichsam Freiheit und Republikanismus beschworen wurden, überdeckte all die Mißstände der Gegenwart, denen man eigentlich begegnen wollte. Vaterländische Reisen258 wurden unternommen und patriotische Zeitschriften259 gegründet - und selbst Geßner, der sich bislang geweigert hatte, in seinen Idyllen geschichtliche Stoffe zu bearbeiten, schrieb nun »ein Nationalstück«.260 In dem Werk Das hölzerne Bein wird dem aufopfe-

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Am Bühl, Neue Schweizerlieder, 1776; Schweizerlieder von verschiedenen Verfassern, 1787; Bürkli, Gedichte über die Schweiz und die Schweizer, 1793. 255 Die Wanderer »sangen bald frohe, bald rührende Schweizer=Lieder aus Lavaters Sammlung, die fast in der ganzen Teutschen Schweiz als Volkslieder gesungen werden, und allenthalben, wie in Appenzell, die alten Volksgesänge zu verdrängen anfangen.« (Meiners, Theil 3,1790, S. 177); »Ich sah wie Kinder seine Schweizerlieder mit wahrer Begeisterung sangen; ich sah die schönsten Augen bey diesen Liedern in Thränen zerfliessen; ich sah Schweizerbauren, denen man diese Lieder sang, die Augen funkeln, die Wangen glühen, die Muskeln schwellen; ich kenne Väter, die mit ihren Söhnen nach Wilhelm Teils Kapelle reisten, um dort Lavaters Lied auf Teil hochklingend abzusingen.« (Zimmermann, Ueber die Einsamkeit, Theil 3,1785, S. 427f.). - Auch Karl Gottlob Küttner weiß zu berichten, daß »viele [...] die mehresten dieser Lieder auswendig« singen konnten. (Küttner, Briefe eines Sachsen aus der Schweiz, Theil l, 1785, S. 87). 256 Dies lag auch in der Intention Lavaters. Denn Sulzer berichtet im Juni 1765 an Bodmer, »daß Lavater sich mit den Schweizerliedern in Deutschland einen Namen machen will«. (4. Juni 1765, in: Briefe der Schweizer, 1804, S.363). 257 Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften, 1770, Bd. 4,16. Stück, S.688f. 258 Leonhard Meister stellt fest, daß »besonders bey den Zürchern und Bernern [...] kleine einheimische Wallfahrten nicht ungewohnte Erholung » sind. (Meister, Kleine Reisen durch einige Schweizer=Cantone, 1782, S.3). -Siehe auch Faber, Verkürzte Beschreibung der Eidgenossenschaft, 1755; Füsslin, Staats- und Erdbeschreibung der schweizerischen Eidgenoßschaft, 1770-1772; Schinz, Beyträge zur nähern Kenntniß des Schweizerlandes, 1783-1787. 259 Genannt seien das Schweizerische Museum, Der Helvetische Patriot und Der Eidsgenoß. Siehe Lang, Die Zeitschriften der deutschen Schweiz, 1939. 260 So bezeichnete Geßner in einem Brief an Johann Heinrich Meister vom 27. Juni 1772 diesen Text, in: Gessner, Sämtliche Schriften, Bd. 3, Theil 6, 1972, S. 179. - Goethe lobt bekanntlich ausdrücklich, daß Geßner in dieser Idylle das »Nationalinteresse« anspricht. (WA I, Bd. 37, S. 288). 49

rungsvollen und mutigen Kampf der Eidgenossen gegen die Österreicher in der Schlacht bei Näfels gedacht. Der »junge Hirte« der Idylle spricht, gegen den »Alten« gewandt, aus, worum es Geßner und seinen Freunden ging: »Der ist nicht werth ein freyer Mann zu seyn, der je vergessen kann, daß unsre Väter es [das Land - U.H.] erfochten.«261 Zwar besaßen die Schweizer um 1770 zum Teil wirkungsmächtige Gedichte, Lieder und Dramen vaterländischen Gehalts, doch noch immer fehlte ihnen der große Geschichtsschreiber, auf den schon der junge Bodmer sehnsüchtig gehofft hatte. 1721 hatte er geschrieben: »Ich möchte nur wünschen, daß uns ein Historicus gebohren würde, [...], der einen penetranten Geist hette, die Charactere des Volks und der Generalen an das Liecht hervorzubringen, der eloquent were, und seine Histori mit Artigkeit debitierte.«262 Inzwischen war dieser geboren worden; Bodmer sollte noch die Publikation des ersten Bandes der Geschichten der Schweizer 1780 erleben. Der Autor, der den Mythos vom freien Schweizer endgültig historisch legitimieren sollte, hieß Johannes von Müller.

2.7 Jean-Jacques Rousseaus zivilisationskritische Werke Neben Haller und Geßner ist Jean-Jacques Rousseau der berühmteste Schweizer des 18. Jahrhunderts. Kindheit und Jugend, die er zum Teil in ländlichen Gegenden der Westschweiz oder im calvinistischen Genf verlebte, hinterließen tiefe Eindrücke, die ihm erst später, als er in die Zivilisationsmetropole Paris kam, in ihrer Bedeutung bewußt wurden. Die Abhandlung über die von der Akademie zu Dijon gestellte Frage, ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen habe, zeigt bereits, wie groß die Vorbehalte Rousseaus

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Gessner, Sämtliche Schriften, 1972, Bd. 3, Theil 5, S. 123. Bodmer, Vom Wert der Schweizergeschichte, 1989, S. 61. - Auch Deutsche hofften auf einen Geschichtsschreiber der Eidgenossenschaft. 1777 schreibt Carl Kottlob Küttner: »[...] es steht um die Schweizergeschichte ungefähr wie um die Deutsche: wir erwarten noch immer den Mann, der uns das geben wird, was wir suchen.« (Küttner, Briefe, Bd. 3, 1786, S. 262). - Im selben Jahr fragt der Verfasser der Schrift Ueber das Interessanteste der Schweiz'. »Wo sollte man [...] unter den Schweizern einen Mann finden, der mit dem Genius des Landes, - mit den Faktis selbst, - mit der Regierungsform und dem Finanzsystem eines jeden dieser Kantons so bekannt wäre, daß er von einem jeden derselben eine treue und glaubwürdige Geschichte schreiben könnte? - und wenn nun ein solcher vielwissender Kopf wirklich da wäre, würde es ihm nicht an den Quellen fehlen, aus denen er schöpfen müßte? - Es ist ja bekannt genug, wie emsig der Neid und die Eifersucht sind, die eigentlichen Beratschlagungen der Obrigkeit und andere zur Geschichte gehörige Anekdoten geheim zu halten; - woher sollte also ein solcher Geschichtkundige die Urkunden, und andre authentische Nachrichten bekommen können? Ferner. Wo wäre wohl der enthusiastische, warme Freund der Wahrheit, der sie mit Gefahr seines Glücks, auch wohl gar seines Lebens gerade heraussagen sollte?« (Ueber das Interessanteste der Schweiz, Bd. l, 1777, 132f.).

gegenüber einer modernen Kultur waren, in der Luxuserwerb mit Sittenverderbnis einher ging. Zwar muß er einräumen, daß die calvinistischen Tugenden auch in seiner Heimatstadt nicht uneingeschränkt befolgt werden, doch von der Lasterhaftigkeit der Pariser sei man hier noch weit entfernt: »Mag sich doch die zügellose Jugend anderswo leichte Ergötzlichkeiten und anhaltende Reue suchen. Laßt jene, die sich einbilden Geschmack zu haben, die Größe der Paläste, die Schönheit der Equipagen, die Pracht des Hausrats, den Pomp der öffentlichen Schauspiele und alle gekünstelten Verfeinerungen der Weichlichkeit und des Luxus andernorts bewundern. Zu Genf wird man nur Menschen finden.«263 Bis in das Jahr 1763, dem Jahr, in dem Rousseau enttäuscht von der politischen Entwicklung sein Bürgerrecht zurückgibt, beschwört er die Genfer, an ihren althergebrachten Tugenden festzuhalten. Auf der Suche nach alten Völkern, welche von der »ansteckenden Seuche eitler Kenntnisse frei geblieben« sind und »durch ihre Tugend ihr eignes Glück befördert und ändern Nationen zum Muster gedient haben«,264 stößt Rousseau auf die Perser, Skythen und vor allem auf die Germanen. Deren »Einfalt, Unschuld und Tugenden« habe sich bis in die Gegenwart das »bäurische Volk« der Schweiz bewahrt, »welches für seinen Mut, der durch keine Not gebrochen, und für seine Treue, welche durch das schlechte Beispiel anderer nicht verdorben werden konnte, so gerühmt wird«.265 Ihr Land stelle ein einzigartiges Refugium dar,266 in dem sich die ursprünglichen menschlichen Daseinsformen weitestgehend erhalten hätten.267 Doch auch Rousseau wußte, daß die Schweiz gefahrbringenden zivilisatorischen Einflüssen ausgesetzt war. Er beschwerte wie seine eidgenössischen Vaterlandsfreunde in den fünfziger und sechziger Jahren die geschichtlichen Traditionen. Er erinnerte an die Zeiten, in welchen »ein Haufen armer Bergbewohner« den »österreichischen Stolz«268 bezwang; denn diese bewiesen, daß Einfalt und Armut über Klugheit und Reichtum siegen können. Doch da auch unter diesen Völkern »die Bequemlichkeiten des Lebens sich vermehren, die Künste vollkommener werden und der Luxus sich ausbreitet, so wird die wahre Tapferkeit kraftlos, die kriegerischen Tugenden verschwinden«.269 Offensichtlich gingen von Rousseau starke Impulse auf die eid263

Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit, 1981, S.SOf. 264 Rousseau, Abhandlung über die von der Akademie zu Dijon gestellte Frage, ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen habe, 1981, S. 16. 265 Ebd. 266 Erst in der Neuen Helolse wird er die Räume unentfremdeten Lebens genauer bezeichnen. 267 In der Neuen Helo'ise läßt Rousseau den Schweizer St. Preux schreiben: »Der neueren Geschichte wollen wir auf ewig entsagen, die von unserm Lande ausgenommen; und diese bloß darum, weil es ein freies, natürliches Land ist, wo man in neueren Zeiten Menschen alter Art antrifft [...].« (Rousseau, Julie, 1988, S.59). 268 Rousseau, Abhandlung über die von der Akademie zu Dijon gestellte Frage, ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen habe, 1981,8.24. 269 Ebd., S.26.

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genössischen Aufklärer aus, denn sie bestätigten diese Analyse270 in ihren Schriften. Sie folgten ihm nicht in den Konsequenzen, die er zog; denn im Gegensatz zu ihnen war für Rousseau der geschichtliche Verlauf von den naturgegebenen Tugenden zu den modernen Lastern irreversibel, Erziehung könne ihn verlangsamen, schwerlich aufhalten. Den weitaus größten Einfluß auf das Schweiz-Bild der Deutschen hatte Rousseaus Roman Julie oder die neue Helo'ise, Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen, der noch im Jahr seines Erscheinens übersetzt und in Leipzig verlegt wurde. Das Werk beinhaltet weit mehr als eine empfindsame Liebesgeschichte zweier Menschen unterschiedlichen Standes, denen eine Eheschließung verwehrt wird, da sie den gesellschaftlichen Konventionen widersprechen würde. Julie muß von St. Preux ablassen und heiratet daraufhin standesgemäß, und dieser verwandelt seine Liebe in eine platonische Freundschaft, die es ihm ermöglicht, später in das Haus der nunmehr verheirateten Geliebten zurückzukehren, um dort deren Kinder als Hauslehrer zu unterrichten. Wenngleich vor allem die Briefe, die die Liebesbeziehung empfindsam beleuchten, das Interesse der Leser auf sich zogen; der Ideengehalt des Werks geht darin nicht auf. Denn Rousseau beabsichtigte mit seinem Roman, ein Gegenbild zu der dekadenten Pariser Stadtkultur zu entwerfen. Er erfand zu diesem Zweck ein Ensemble idealtypischer Charaktere.271 »Das menschliche Geschlecht völlig vergessend, schuf ich mir eine Schar vollkommener Wesen an Tugend und Schönheit gleich himmlisch, treue, verläßliche, zärtliche Freunde, wie ich sie hienieden niemals gefunden hatte.«272 Der Wunsch, die Fiktion mit der Realität zu vermitteln, veranlaßte Rousseau, ihnen einen realen Raum zuzuweisen. In den Bekenntnissen bemerkt er zu diesem künstlerischen Vorgehen: »[...] meine vom Erfinden ermüdete Phantasie verlangte nach einer wirklichen Örtlichkeit, auf die sie sich stützen konnte, um sich über die Wirklichkeit der Bewohner, die sie hineinzupflanzen gedachte, einer lieblichen Täuschung hingeben zu können.«273 Als Rousseau seinen Roman zu schreiben begann, schwankte er noch, ob er die Borromäischen Inseln oder die Ufer des Genfer Sees zum Schauplatz der Handlung wählen sollte. Er entschied sich letztendlich für die Westschweiz, da er sie von seiner Jugend her kannte und liebte. Er hatte mehr als einmal durch eigene Anschauung bestätigt gefunden, daß »der Reichtum und die Mannigfaltigkeit der Landschaft,

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Sie erfolgt ausführlich in: Rousseau, Entwurf einer Verfassung für Korsika, 1981, S.523526. 271 »Die Unmöglichkeit, mich an wirkliche Wesen zu wenden, trieb mich in das Land der Träume hinaus, und da ich nichts Seiendes entdeckte, das meiner Trunkenheit würdig gewesen wäre, nährte ich sie in einer idealen Welt, die meine schöpferische Phantasie gar bald mit Wesen nach meinem Herzen bevölkert hatte.« (Rousseau, Bekenntnisse, 1971, S. 597). 272 Ebd. 273 Ebd., S. 602.

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die Pracht und Majestät der ganzen Gegend [...] die Sinne entzückt, das Herz ergreift und die Seele erhebt«.274 - Hier konnte er unentfremdetes Leben zeigen und die Erhabenheit einer Natur, die jeden Menschen fesseln mußte. Er ließ seinen liebeskranken Protagonisten St. Preux ebendiese außerordentlichen Erfahrungen auf einer Reise ins Wallis machen. Rousseau war 1744 selbst in das Land gereist, zu einem Zeitpunkt, als das Gebiet noch als weithin unerschlossen galt.275 Für Rousseau ist das Haut-Valais mit seinen Bewohnern eine naturbelassene Insel inmitten einer Welt des Wertezerfalls. Dank der besonderen klimatischen Bedingungen - Rousseau verweist vor allem auf die reine Luft - erhielt sich hier, vor äußeren Einflüssen bewahrt, eine Lebensweise, die in anderen Teilen Europas schon untergegangen war. Ein Gefühl von »Freiheit«, eine »Leichtigkeit im Körper, mehr Heiterkeit im Geiste« und »eine ruhige Wollust, die nichts Heftiges und Sinnliches hat«,276 teilt sich dem Reisenden St. Preux mit: »Es scheint, als schwänge man sich über der Menschen Aufenthalt hinauf und ließe darin alle niedrigen und irdischen Gesinnungen zurück, als nähme die Seele, je mehr man sich der ätherischen Gegenden nähert, etwas von ihrer unveränderlichen Reinheit an.«277 Auf St. Preux hat dieser Aufenthalt eine reinigende, melancholietherapeutische Wirkung.278 Gefangengenommen von der Fülle der Eindrücke, löst sich seine seelische Anspannung; er wird ruhig und ausgeglichen. In einem ausführlichen Brief an Julie beschreibt er die Sitten der Walliser; dabei zeigt sich, daß sich das Volk durch all die Eigenschaften und Verhaltensweisen auszeichnet, die Rousseau schon 1755 in seiner Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen den auf einer unentwickelten, naturnahen Entwicklungsstufe stehenden Individuen zugeschrieben hatte.279 St. Preux ist fasziniert von der Einfalt der Menschen. Ihre Friedfertigkeit, »ihre uneigennützige Menschenliebe«280 und »Gastfreundschaft«281 fallen ihm besonders auf.282 Hatte zu Beginn der dreißiger Jahre Albrecht von Haller dem Berner Oberland in dem Gedicht Die Alpen ein Denkmal gesetzt, indem er dessen Bewohner als natürlich, friedlich, arbeit- und genügsam beschrieb, so verwies nun Rousseau seine Leser in ähnlicher

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Ebd. Die Engländer Richard Pococke und William Windham hatten erst drei Jahre zuvor als erste Ausländer das Chamonixtal entdeckt. Stark bewaffnet waren sie in das Gebiet vorgedrungen, in festem Glauben, daß die »montagnes maudites«, wie man diese Landschaft nannte, von Wilden bewohnt sei. 276 Rousseau, Julie, 1988, S.77f. 277 Ebd., S. 78. 278 Siehe Schmidt, Melancholie und Landschaft, 1994, insb. S. 282-288. 279 Vgl. Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit, 1981,5.100. 280 Rousseau, Julie, 1988, S. 79. 281 Ebd. 282 St. Preux lobt »der Einwohner ungekünstelte Sitten, ihre immer gleiche, untrügliche Weisheit, des ändern Geschlechts liebenswürdige Schamhaftigkeit, seine unschuldige Anmut [...]«. (Ebd., S.82f.). 275

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Weise auf das Oberwallis. Beide Autoren stilisierten ihre Landschaften zu Inseln inmitten einer dekadenten Welt.283 Verweist das Wallis innerhalb von Rousseaus geschichtsphilosophischer TriadenVorstellung auf die verlorene, ursprüngliche Natur, so soll die Idylle von Ciarens, die St. Preux bei seiner Rückkehr zu Julie und ihrem Mann, dem Herrn von Wolmar, auf deren Landgut erwartet, eine nunmehr durch die Kultur hindurchgegangene erneuerte Natur repräsentieren.284 Rousseau beabsichtigte, im Kontrast zur städtischen Sozialisation eine autarke Gemeinschaft darzustellen, in der Landbewohner aller Schichten glücklich zusammen leben.285 Wolmar führt in patriarchalischer Weise die Geschäfte des Gutes. St. Preux beschreibt im vierten Teil des Romans ausführlich das Anwesen der beiden Eheleute, ein Schloß, das nach bürgerlichen Gesichtspunkten umgebaut wurde:»[...] welch ein anmutiges und rührendes Schauspiel ist der Anblick eines einfachen, wohleingerichteten Hauses, in dem Ordnung, Friede, Unschuld herrschen, wo man ohne Prunk, ohne Glanz alles vereint sieht, was nur des Menschen wahre Bestimmung entspricht!«286 Einfacher Wohlstand, basierend auf dem physiokratischen »Grundsatz, dem Erdreiche so viel Früchte abzugewinnen, als es nur immer hervorbringen kann«,287 ein Changieren zwischen Altruismus und väterlicher Strenge im Umgang mit den Untergebenen288 sowie ein Schönheit und Nutzen vereinigender bürgerlicher Pragmatismus kennzeichnen das Leben der Familie Wolmar. Signifikant für die gesuchte Verbindung von Nutzen, Natur und Schönheit ist der unweit des Hauses angelegte Garten, das »Elysium«.289 Bei einem Besuch in Ciarens wird St.Preux durch die vom Ehepaar Wolmar angelegte Gartenlandschaft geführt. Den weitgereisten Hauslehrer erfreut »der süße Anblick der reinen Natur«,

283 YYje groß das Bedürfnis war, solche refugialen Räume kennenzulernen, zeigen nicht nur die zahlreichen Schweiz-Reisen. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an die Entdekkung Haitis im 18. Jahrhundert. Die über die Insel verfaßten Berichte der Entdeckungsreisenden Bougainville und Forster erfuhren bekanntlich eine unerhörte Resonanz und zogen eine beträchtliche Südsee-Literatur nach sich. 284 Die Idylle von Ciarens findet bekanntlich mit dem Tode Julies ein Ende. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, daß auch Rousseau das aufgezeigte Lebenskonzept zum Scheitern verurteilte. Zu dieser Problematik siehe Graap, Das Gemeinwesen von Ciarens, 1995, S. 71-80. 285 Graap, Das Gemeinwesen von Ciarens, 1995. Zu dem Modell Ciarens siehe auch: Schmid, Sittliche Existenz, 1983, S. 305-317. Zum Ideengehalt kurz und präzise auch Engel, Der Roman der Goethezeit, 1993, S. 119-123. 286 Rousseau, Julie, 1988, S. 46. 287 Ebd., S. 463. 288 Siehe ebd., S. 457f. 289 »In der Nouvelle Helo'fse ist der Zeichencharakter des ausführlich beschriebenen Gartens von Ciarens [...] ganz stringent ausdruckssymbolisch fundiert: Er verweist auf die Lebenshaltung seiner Urheber. In der Naturnähe seiner - künstlichen - Gestaltung steht er ganz offensichtlich metonymisch für die von Woldemar und Julie auch in allen anderen Lebensbereichen - Ehe, Kindererziehung, patriarchalisches Sozialidyll - verwirklichte zwanglosverbindliche Ordnung einer zweiten Natur [...].« (Engel, Der Roman der Goethezeit, 1993,8.197). 54

den er angesichts so vieler »künstlichen gesellschaftlichen Ordnungen«290 bislang vergebens gesucht hatte. Ciarens kommt innerhalb des gesamten Romans eine Funktion zu, die weit darüber hinausreicht, den Wohnort der verheirateten Julie zu zeigen und, nach dem Eintreffen von St. Preux, Schauplatz für das entsagungsvolle, tugendhafte Verhalten der Liebenden zu sein - der Ort wird zum idyllischen Raum schlechthin, in dem Natur und Kultur symbiotisch verbunden sind. Indem Rousseau das Aufzeigen alternativer Lebensformen mit der Romanhandlung in einer Weise vereinigte, daß die Leser glauben konnten, daß die idyllischen Orte auch wirklich existierten, entstand bei diesen bald das Bedürfnis, die beschriebenen Plätze kennenzulernen. Ciarens, Vevay, Meillerie und das Haut-Valais wurden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nahezu zu Pilgerstätten. Rousseau war durch die Veröffentlichung seiner zivilisationskritischen, philosophischen, ästhetischen und Erziehungsschriften zu Beginn der sechziger Jahre so bekannt geworden, daß auch sein weiterer Lebensweg von den Zeitgenossen aufmerksam verfolgt wurde. Nachdem der Oberste französische Gerichtshof 1762 den pädagogischen Roman Emile verboten und zugleich einen Haftbefehl erlassen hatte, flüchtete Rousseau in seine Heimatstadt, von der er hoffte, daß sie ihn aufnehmen und schützen werde. Doch er mußte erfahren, daß nun auch der Kleine Rat Genfs den Emile und den Gesellschaftsvertrag dem Feuer übergeben wollte. Rousseau verteidigte seine Werke 1763 erfolglos in dem Briefe vom Berge. Noch im gleichen Jahr gab er enttäuscht sein Bürgerrecht zurück. Die Suche nach einem anderen Aufenthaltsort in der Schweiz blieb erfolglos. Nach kurzen Aufenthalten im Kanton Bern, im preußisch verwalteten Neuenburg und in dem Bergdorf Mötiers, wo aufgehetzte Bewohner sein Haus mit Steinen bewarfen, fand er für sechs Wochen Asyl auf der Insel St. Pierre im Bielersee. Dann mußte er auch diesen Ort verlassen, worauf er der Schweiz für immer den Rücken kehrte. Ein Autor, der lange seine Heimat als Lebensalternative zur modernen Zivilisation gepriesen hatte, mußte politisch verfolgt ins Exil gehen. Doch auch dieses restriktive Verhalten der Schweizer Regierungen änderte nichts an dem Bild von der Schweiz, das Rousseau den Zeitgenossen in seinen Werken vermittelte.

Zusammenfassung Die sozial- und geistesgeschichtlichen Voraussetzungen für eine umfassende Beschäftigung mit der Schweiz waren in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland noch nicht gegeben. In diesem Zeitraum wurden aber im Nachbarland die ideellen Grundlagen geschaffen, auf denen zunächst punktuell, später in großer Breite der Philhelvetismus entstand.

290

Rousseau, Julie, 1988, S. 507. 55

Die deutschen Intellektuellen überließen die Erkundung des Landes den Schweizern und Engländern. Aus deren Schriften gewannen sie ihre Schweiz-Bilder. Allein die Anziehungskraft Zürichs auf deutsche Dichter war immens; Klopstock, Kleist und Wieland gehörten in den fünfziger Jahren zu den Besuchern der Stadt, was nicht ohne Einfluß auf deren literaturgesellschaftliche Verhältnisse blieb. Doch auch solche Schriftstellerreisen waren bis 1770 eine Ausnahme. Der weitestgehende Verzicht der Deutschen auf die empirische Erkundung des Nachbarlandes ist einer Wissenschaftsauffassung geschuldet, die den Sinnen mißtraut und stattdessen auf metaphysische Systemphilosophie setzt. Ein allgemeines landeskundliches Interesse bestand nicht. Hinzu kommt, daß im Unterschied zu England noch kein ausgeprägt wohlhabendes und unabhängiges Bürgertum existierte, das sich bei gegebenem Interesse eine Reise in die Schweiz hätte leisten können. Für diejenigen Intellektuellen, die etwas über die Eidgenossenschaft erfahren wollten, blieb vorerst nur die Rezeption der ausländischen Schriften. Bis in die dreißiger Jahre des 18. Jahrhunderts hinein verfügte die deutsche Öffentlichkeit über nur wenige Sachinformationen vom Nachbarland. Man verglich den »Schweizer mit einem Bären«291 und hielt das Land »für nichts mehr als eine starre Wüsteney«.292/293 Neben Scheuchzer, der mit seinen naturkundlichen Werken die Voraussetzungen dafür schuf, daß entgegen den traditionellen Chaos- und Degenerationstheorien den Alpen ein legitimer Platz in der Schöpfung zugewiesen werden konnte, war es vor allem Albrecht von Haller, der, stärker moralphilosophisch orientiert, das Land der alpinen Hirten aufwertete, indem er es zum idealen Ort menschlichen Zusammenlebens erhob. Wenngleich die deutschen Zeitgenossen bei aller Begeisterung für Hallers Gedichte den zivilisationskritischen Gehalt der A Ipen noch nicht zu würdigen vermochten, so war doch nunmehr ein idyllisiertes Schweiz-Bild bereitgestellt, das bei Bedürfnis abgerufen werden konnte. Wenn auch Hallers Beschreibung des Hirtenlebens weniger ein authentisches Sittenbild als eine an antiken Mustern orientierte Idylle war, die Leser - bar eigener Erfahrungen - nahmen sie als Realität. Zwanzig Jahre nach Hallers Alpen griff Salomon Geßner das Genre wieder auf, doch ohne in seinen Idyllen auf die Schweizer Heimat explizit hinzuweisen. Nach eigener Aussage waren seine Texte der arkadischen Welt Theokrits verpflichtet. Auch Bodmer, der in den fünfziger Jahren mit mehreren Patriarchaden hervortrat, zeigte die Sinnhaftigkeit eines einfältigen, naturnahen Lebens,294 doch auch er blieb streng seinen alttestamentarischen Stoffen verpflichtet. 291

Grosse, Die Schweiz, Bd. l, 1791, S.9. Ebd., S. 61. 293 Zum Wissensstand über die Schweiz siehe Wozniakowski, Die Wildnis. Zur Deutungsgeschichte des Berges, 1987, S. 218. - Besonders abwertend und voreingenommen urteilten die Franzosen: »Ein National=Schweizer, der nicht aus seinem Dorfe gekommen war, und das Thier in der Höhle, waren bey ihnen gleichbedeutende Ausdrücke.« (Ueber das Interessanteste der Schweiz, Bd. l, 1777, S.9). 294 »Empfindungen und deren Aeußerungen in Sitten und Manieren sind naiv, wenn sie der unverdorbenen Natur gemäß, und, obgleich der feineren Verdorbenheit des gangbaren 292

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Den so wirkungsmächtigen Texten von Hallet, Geßner und Bodmer ist gemeinsam, daß sie Resultate einer kritischen Bestandsaufnahme schweizerischer Verhältnisse sind. Sie richteten ihre Werke zuvörderst an die eigenen Landsleute, die allmählich ihre altväterlichen Tugenden aufgaben und durch französisierende Verhaltensweisen ersetzten. Zugleich reagierten sie auf Verkrustungen im politischen System, denn sie sahen, daß sich der einzelne nicht mehr als Glied einer frei und gerecht handelnden Gemeinschaft erlebte. Da die kantonalen Zensurorgane eine öffentliche Diskussion der politischen Zustände mit großer Strenge unterbanden, sind es vor allem persönliche Verlautbarungen, die das Interesse an gesellschaftlichen Veränderungen erkennen lassen. Isaac Iselin warnte seinen deutschen Briefpartner Karl Friedrich von Moser 1765 ausdrücklich, »die Eidsgenossenschaft mit gar zu günstigen Augen«295 anzusehen. Denn in einigen Kantonen seien »die Gebrechen so eingewurzelt und in den innersten Grundsäzen der Staats^Verfassung so verwikkelt, daß da ehender eine Verschlimmerung als Verbesserung zu hoffen«296 sei. Ein Jahr später trug sich Iselin sogar mit dem Gedanken, »in der Pfalz oder sonst irgendwo in Deutschland ein Gütgen zu kaufen, um allda in der Stille und in der Ruhe meine Tage den Studien zu widmen«.297 Ihm gleich, wenn auch nicht immer mit dieser Konsequenz, haben sich viele Schweizer Autoren in ihren Briefen geäußert, genannt seien nur Bodmer, Haller, Geßner, Füßli, Zimmermann und Johannes von Müller.298 Sie glaubten, diesen unbefriedigenden gesellschaftspolitischen Zustand verändern zu können, wenn sie die Zeitgenossen an die großen vaterländischen Leistungen ihrer Ahnen erinnerten. Zu diesem Zweck entstanden mehrere patrioti-

Betragens zuwider, ohne Rükhaltung, ohne künstliche Verstekung, oder Einkleidung, aus der Fülle des Herzens herausquellen. Beyspiele findet man überall in Bodmers epischen Gedichten aus der patriarchalischen Welt; in den Epopöen des Homers, und in den Idyllen des Theokritus und unsers Geßners.« (Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, 1787,8.400). 295 Iselin an Friedrich Karl von Moser, 5. Januar 1765, in: Briefwechsel, 1786, S. 364. 296 Ebd. 297 Iselin an Friedrich Karl von Moser, 5. Oktober 1766, in: Briefwechsel, 1786, S. 392f. - Iselin ging nicht ins Ausland. Denn er war letztendlich wie viele seiner Schweizer Zeitgenossen der Ansicht, daß trotz aller Unzulänglichkeiten die eidgenössischen Kantone »in glücklichern und bessern Umständen sind, als irgend ein Staat des deutschen Reichs.« (Iselin an Friedrich Karl von Moser, 21. Januar 1764, in: Ebd., S.347). 298 »Der liebe Mann, der die theure Messiade schreibt, wird Ihnen schon mehr von mir erzählt und gesagt haben, daß die Alpen keine Paradiesberge sind [...].« (Bodmer an Gleim, 15. März 1752, in: Briefe der Schweizer, 1804, S. 170); »Daß die Schweiz ein Land der Dienstbarkeit ist, daß die Grisler, die Landenberge wieder aufgelebt sind, dieses und der Unwille, unter dem Zwange zu leben, das ists, was mich auf die Rückkunft nach der Schweiz so gar begierig nicht macht.« (Johannes von Müller an die Eltern, 28. September 1770, in: Müller, Briefe, 1953, S. 35). - Siehe auch Müller an Johann Heinrich Füßli, 10. Dezember 1772, in: Ebd., S.49f.; »Im Entusiasmus für die Freiheit bin ich ganz Britte. Das ist's, was mir den Aufenthalt in Helvetien unausstehlich macht; hier scheint mir die Freiheit ausgestorben. Ich verfluche alle Fesseln meines Geistes, alle demüthigende Mittelmäßigkeit, alle orthodoxe Denkungssclaverey ist mir ein Greuel.« (Müller an Nicolai, 21. August 1772, in: Henking, Müller, Bd. l, 1909, S. 111).

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sehe Gesellschaften und zahlreiche Schriften. Der Stolz auf die ehemals freie republikanische Heimat, der man sich wieder politisch und moralisch zu vergewissern suchte, führte dazu, daß Anspruch und Realität verwechselt wurden. Ein Züricher beschrieb diese Diskrepanz schon 1746 in einem Brief an den Deutschen Samuel Gotthold Lange: »[...] wir zeigen Ihnen nur die gute Seite, wir selbst, die sie kennen, wir sehen zehn Schlimme für einen Guten [...] Kommen Sie nicht her, wenn Sie sich alles paradiesisch vorstellen.«299 Nicht zuletzt einer fehlenden kritischen Öffentlichkeit in der Schweiz ist es zuzuschreiben, wenn die Texte von Haller, Geßner und Bodmer, die offensichtlich angelegt waren, Defizite des eigenen Lebens zu kompensieren, undifferenziert als Beschreibungen eines real existierenden alpinen Landes verstanden werden konnten. Dazu beigetragen hat zweifellos auch Rousseau. Denn in jenen Werken fanden die Leser all das, was der Schweizer Philosoph den modernen Zivilisationsgesellschaften absprach.300 Neben dem indirekten Verweis auf naturnah lebende Völkerschaften, zu denen unbestritten auch die Schweizer gerechnet wurden, wies Rousseau wiederholt konkret auf deren noch unentfremdete Lebensweise hin.301 Insbesondere einflußreich auf das Schweiz-Bild der Deutschen dürfte der Erfolgsroman Die neue Heloise gewesen sein, da hier refugiale Räume nicht nur vorgestellt wurden, sondern geographisch genau verortet worden waren. Es kann resümierend festgehalten werden, daß in den Jahren zwischen 1750 und 1770 nach dem Auftreten Scheuchzers und Hallers in einem entscheidenden dritten Schub durch Geßner, Rousseau und die patriotische Aufklärungsbewegung die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen für den »Mythos« Schweiz geschaffen worden sind. Wie abrupt aus der Sicht der Deutschen der Imagewandel vom kaum wahrgenommenen zum beneideten Volk vor sich ging, zeigt die Tatsache, daß die deutschen Schriftsteller Klopstock, Kleist und Wieland in den fünfziger Jahren noch kaum Interesse für das alpine Land und seine Bevölkerung aufbrachten. Andererseits wurden aber zu eben dieser Zeit, 1752, erste Texte veröffentlicht, die exemplarisch ein neues Bild des Landes zeigen. Es handelt sich dabei um Reiseberichte, die der politisch gewandte, welterfahrene Großonkel Goethes, Johann Michael von Loen,302

299

Johann Heinrich Waser an Samuel Gotthold Lange, 10. Juni 1746, in: Lange, Sammlung gelehrter und freundschaftlicher Briefe, 1769, S.218f. 300 Die von ihm zunächst theoretisch formulierten Ängste vor der Entwicklung der Künste und Wissenschaften, vor den großen Sozietäten und undurchschaubaren Vergesellschaftungsprozessen entsprachen den Erfahrungen vieler Zeitgenossen. Auch Wieland erlebte den Verwaltungsapparat der Freien Reichsstadt Biberach als naturwidrigen Mechanismus, was ihn verlanlaßte, die in dieser Hinsicht rückständige Schweiz zum »Paradies« zu erheben. 301 Der die Schweiz idealisierende Christoph Girtanner kommt am Ende des 18. Jahrhunderts zu dem Resultat, er »kenne keinen Schriftsteller, der den Karakter und die Sitten der Schweizer so genau aufgefaßt, und so richtig geschildert hätte, als Rousseau«. (Girtanner, Vormaliger Zustand der Schweiz, Theil l, 1800, S.325). 302 Zu Loen siehe Reiss, Auf den Spuren Johann Michael von Loens, 1988; Raab, Die Schweiz

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verfaßt hat. Sie basieren auf Reisen, die der Autor 1719 und 1724 in der Schweiz unternahm, jedoch erst viele Jahre später endgültig beschrieb. Die wahrscheinlich kurz vor ihrer Veröffentlichung in den Kleinen Schriften 1752 fertiggestellten Texte zeigen deutlich, daß ihr Autor gewillt war, Hallers Beschreibung der Alpen und ihrer Bewohner zu bestätigen. Die Natur erscheint ihm erhaben, »fürchterlich süs«, die Menschen leben in »stiller Einfalt«, es sind »beglückte Einwohner!« - »wie ruhig, wie süse verfließen die Stunden eures ungestörten Lebens!« - und selbst »die wilden Thiere sind so leutselig, daß sie kaum vor dem Menschen fliehen«.303 Der wohlhabende Loen, der im komfortablen Reisewagen vor allem die Städte Basel, Bern, Lausanne und Genf besucht hatte, und wohl nur gelegentlich auf einen schweizerischen Landmann getroffen ist, weitete das Urteil, das Haller über die Älpler gefällt hatte, auf alle Schweizer aus; er lobt ihre Bedürfnislosigkeit, denn »sie sind bey wenig Schätzen reich«,304 zudem »frisch, gesund, arbeitsam, redlich und beherzt«.305 Loens Darstellung ist nicht durchgängig euphorisch, doch offensichtlich von großer Sympathie für ein Volk getragen, das sich in den Augen des Autors dem zivilisatorischen Luxus entzieht. Im Gegensatz zu den Franzosen, die die Schweizer »für ein unhöfliches, rohes und grobes Volk«306 halten, erfreut er sich an ihrem naturnahen Leben. Ähnlich wie Muralt, der den Franzosen ihre modebedingte Ununterscheidbarkeit vorgeworfen und dagegen bei den Engländern die unvergleichlichen Charaktere gefunden hatte, verweist Loen nun auf die Schweiz: »Hier ist das Land, wo man die meisten Orginalien findet, und wo man sich eine so große Ehre daraus macht frey zu denken, als frey zu leben.«307 Loen ist wohl weithin der erste deutsche Autor, der das vermeintlich idyllische Leben der Schweizer, das »ohne Zwang und ohne Rangstreit«308 ist, so prononciert öffentlich preist. Wenngleich er damit nicht den zivilisatorischen Fortschritt grundsätzlich in Frage stellt, so verweist er doch auf eine alternative Lebenswelt, an der man sich orientieren könne. »Wenn man ein freyes und glückseliges Volk sehen will, so muß man in die Schweiz reisen.«309

im Urteil von Johann Michael von Loen, 1986; Reiss, Goethes Grossonkel und die Politik, 1986. 303 Loen, Durch die Schweitz nach Franckreich, 1752, S.471. 304 Loen, Die Schweiz, 1752, S. 132. - »Die Gaben der Natur und die Mäßigkeit, welche ihnen an vielen Orten die Armuth selber lehrtet, macht sie ohne Kummer leben und kein schweres Geblüt sammlen.« (Ebd.). 305 Ebd., S. 131. 306 Ebd., S. 135. 307 Ebd., S. 138. 308 Loen, Durch die Schweitz nach Franckreich, 1752, S.471. 309 Loen, Die Schweiz, 1752, S. 129.

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3. Einsetzende Reisetätigkeit und deren literarische Widerspiegelung

3.1 »Auch ich war in der Schweiz [...]«' Anmerkungen zum Fremdenverkehr in der Eidgenossenschaft Die poetischen, publizistischen und populäraufklärerischen Texte der Schweizer hatten einen imagologischen Paradigmenwechsel eingeleitet. Das Land, dem die Deutschen bislang vor allem kritisch, ängstlich oder uninteressiert gegenüber standen, gewann zusehends an Anziehungskraft. Was den Lesern in den Werken von Scheuchzer bis Rousseau als so paradiesisch erschienen war, wollten sie nun auch realiter kennenlernen. Doch längst nicht alle reisewilligen Deutschen waren in der Lage, sich einen solchen Wunsch zu erfüllen, denn die Kosten, die für einen Aufenthalt im Nachbarland aufgebracht werden mußten, waren immens.2 Wer sich ein Verkehrsmittel für die Anreise nicht leisten konnte, mußte sich einer langen, oft entbehrungsreichen Wanderung unterziehen. Einige mittellose junge Intellektuelle hatten das Glück, daß sie reiche Bürger bzw. Adlige als Hofmeister oder Reisegesellschafter in die Schweiz begleiten konnten.3 Lang ist die Liste derer, die die Eidgenossenschaft gern besucht hätten, denen es aber während ihres Lebens nicht vergönnt war, sie zu sehen. Von den bekannten deutschen Autoren, die einen solchen Wunsch nachweislich äußerten, seien Hagedorn,4 Herder,5 Schiller6 und Jean Paul7 genannt. 1

Bridel, Reise durch eine der romantischesten Gegenden, 1789, S. 109. Karl Gottlob Küttner, Fichte, Hegel, Hölderlin u. v. a.m. finanzierten sich ihren Aufenthalt in der Schweiz, indem sie eine Hofmeisterstelle annahmen. Andere Intellektuelle konnten sich eine Reise leisten, weil sie vorab mit einem Verleger einen Vertrag abschlössen, in dem ihnen Reisegeld zugesichert wurde, wenn sie sich bereit erklärten, nach Abschluß der Wanderung einen verkaufbaren Bericht zu erstellen. Zum Verfahren siehe Moritz contra Campe, 1993. 3 Samuel Gottlieb Bürde, der das Breslauer Ehepaar von Tauentzien in die Schweiz und nach Oberitalien begleitete, zählte zu den Glücklichen, die sich ihren Kindheitstraum erfüllen konnten: »Ihr wißt es alle, wie lange ich den Wunsch einer Reise nach der Schweiz, mit mir herumgetragen habe; [...] und nun war ich in der Schweiz!« (Bürde, Erzählung von einer gesellschaftlichen Reise, 1785, S. 17). - Auch der spätere Kieler Professor Christian Cay Lorenz Hirschfeld lernte die Schweiz 1765 als Reisebegleiter der Gottorfer Prinzen Wilhelm August und Peter Friedrich Ludwig kennen. Johann Heinrich Merck begleitete als Hofmeister 1765 Heinrich Wilhelm von Bibra in die Schweiz. 4 Hagedorn an Bodmer, 20. April 1743, in: Hagedorn, Briefe, Bd. l, 1997, S.81 u. Hagedorn an Bodmer, August/September 1750, in: Ebd., S.295. 5 Siehe Herder an Karoline Flachsland, Mitte Juli 1772, in: Herder, Briefe, Bd. 2,1977, S. 194. 6 Siehe den Brief Schillers an Iffland, 5. Dezember 1803, in: NA, Bd. 32, S. 89. 7 Jean Paul an Heinrich Geßner, 23. November 1807, in: Jean Paul, Sämtliche Werke, Bd. 5, 1961,5.178. 2

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Eine Schweizreise war nicht nur ein kostspieliges, sondern auch ein zeitaufwendiges Unternehmen. Gelangte man innerhalb Deutschlands noch recht rasch mit der Ordinari- oder der schnelleren Extra-Post an die schweizerische Grenze, so gab es von da an kein funktionierendes Postensystem mehr. Wer es nun eilig hatte, mußte Pferde und Wagen mitsamt Kutscher zu hohem Preis mieten.8 Für all diejenigen, die sich dies nicht leisten konnten, blieb auch im Voralpenland nur die Fußreise, was wiederum den Aufenthalt verlängerte und damit auch verteuerte. Doch auch die Lebenshaltungskosten waren in der Schweiz hoch. Heinrich August Ottokar Reichard, ein ausgezeichneter Kenner des Landes, sah 1785 die Ursache für »die Uebertheuerung und die hohen Preise« weniger in dem großen Aufwand, den viele Gasthöfe betreiben mußten, um Nahrungsmittel zu beschaffen, sondern weit eher als »Folge des jährlich wachsenden Zuflusses von Fremden«, der den oft konkurrenzlosen Gastwirten ein Preisdiktat ermöglichte. Denn - so argumentiert Reichard weiter - »vor 14 bis 15 Jahren dachte noch niemand in der Schweiz daran, seine Forderungen so hoch«9 anzusetzen. Es verwundert ihn, daß trotz der hohen Kosten für Unterkunft, Verpflegung und Transportmittel der Strom der Reisenden nicht nachlasse. Im Sommer 1785 berichtet er aus der Limmat-Stadt: »Es ist unglaublich, welche Menge von Fremden um diese Jahreszeit die Schweiz und Zürich durchreisen; fast täglich kamen vor unserm Gasthof zehn und mehr Kutschen an [.. .].«10 Die Schweiz war zu einem »der merkwürdigsten, der interessantesten, der beliebtesten und daher auch der besuchtesten Theile von Europa«11 geworden. In den neunziger Jahren kann der Züricher Johannes Bürkli feststellen, daß »seit ein paar Jahrzehenden [...] die kleine bescheidene Schweiz das Modeland [...] der Reisenden von allen Classen« geworden sei. »Jedermann will die Schweiz gesehen haben, oder bringt eine Entschuldigung vor, daß er sie noch nicht gesehen hat; und gelobt feyerlich, dieses neuere Canaan noch zu betreten, sobald es ihm Geschäfte, Gesundheit, Börse u.s.w. erlauben werden.«12 Bürkli stellt sich die Frage, wie man »dieses

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So mußten die Reisenden die leere Rückfahrt stets mit bezahlen. Reichard, Bruchstücke aus dem Tagebuche, 1786, S. 115. - Reichard teilt im Anschluß die Erfahrungen eines Schweizer Zeitgenossen mit: »Als im Jahr 1771. Herr Wyttenbach seine erste Alpenreise that, fand er überall Gastfreyheit, und Wohlfeilheit, zwey Jahre darauf spürte er schon eine merkliche Veränderung, drey Jahre weiter, fiel es noch unendlich schlimmer aus, und so stieg, und steigt diese Sitte von Jahren zu Jahren, ohne zu fallen.« (Ebd.). - Überaus erzürnt über den Wucher in den Gasthöfen ist Christoph Meiners: »Wenn man nicht diesem Unfug von Seiten der Obrigkeit bald steuert; so wird die Schweiz in wenigen Jahren in einen so Übeln Ruf kommen, daß manche Reisende sich vor ihr fürchten, und zu ihrem Vergnügen lieber andere merkwürdige Gegenden besuchen werden.« (Meiners, Briefe, Theil 4,1790, S. 223). - Ganz ähnlich notiert Schlözer: »Kein Land in Europa prellt die Reisenden barbarischer als die Schweiz [...].«(Schlözer, Vorlesungen, 1960, S. 29). 10 Reichard, Bruchstücke aus dem Tagebuche, 1786, S. 20. 11 Ehrmann, Neueste Kunde der Schweiz, 1808, S.5f. 12 Bürkli, Gedichte über die Schweiz, 1793, S. i. 9

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seltsame Modefieber«13 erklären könne. Handelte es sich doch bei den Besuchern um Junge und Alte, Frauen und Männer, um Menschen ganz unterschiedlicher Berufsgruppen. Er glaubt, daß vor allem die einheimischen Gelehrten - er nennt die Bernoullis, Bodmer, Bonnet, Breitinger, die beyden Geßner, Haller, Heß, Hirzel, Hottinger, Lavater, Heinrich Meister, Rousseau, Steinbrüchel, Tissot und Tobler eine solche Anziehungskraft für die Ausländer besäßen. Allein damit konnte die große Reiselust der Deutschen nicht hinlänglich begründet werden. Einleuchtender ist da schon die Antwort eines Rezensenten der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek. Dieser glaubte nämlich, daß »die Schweiz wegen ihrer mannichfachen und mehrere Menschenklassen interessirenden Merkwürdigkeiten häufiger, als viele andere Länder, bereiset wird«.14 Es gebe - wie ein anderer Zeitgenosse bemerkt deren so viele,15 daß für ihn die Eidgenossenschaft nahezu konkurrenzlos das Reiseland Nummer eins in Europa darstellt: »Kein Land, Italien kaum ausgenommen, ist mehr werth bereiset zu werden; keines befriedigt mehr als die Schweiz, die in vielen Stücken jenes noch Übertrift.« 16 Die deutschen Besucher kamen über die Grenzstädte Basel, Konstanz, Schaffhausen und Lindau in das Nachbarland. Anziehungspunkte waren die Hochalpen und -täler, die zum Teil von Gletschern und Wasserfällen umgeben waren. Doch beschränkte sich das Interesse keineswegs nur auf diese südlichen Gebiete; das Voralpenland wurde in die Reisepläne einbezogen, so daß sich jeweils ein Kanon von sehenswerten Durchgangsstationen bis hin zu den Reisezielen ergab. Von Ost nach West lassen sich deren drei herausheben.

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Ebd., S. iijf. NADB, 33/11 (1797), S. 393. 15 »Wo sieht man sonst das herrliche Schauspiel der hohen Alpen und die Wunder der Natur, die jeden Fußtritt bezeichnen? Wo sonst die überraschenden Bilder jener feyerlichen majestätischen Felsen, die über die Wolken hinausragen, und mit ewigem Eise gekrönt in ihren kolossalischen Massen, alt wie die Welt, die großen Katastrophen des Erdballs erfuhren und überstanden? Wo sonst den tiefen unauslöschlichen Eindruck, den sie in der Seele des Reisenden zurück lassen? Wie weit über Welschland erhaben? im Bilde öffentlicher Glückseligkeit, weiser Verfassung, guter Gesetze, die nackte Felsen mit Menschen und Wohnungen besetzen, die Geschäftigkeit und Fleiß in unfruchtbare Gegenden rufen, die Ueberfluß und Reichthum in Himmelstrichen hervorgehen heißen, die die Natur zu Wüsten und Einöden verdammte.« (Robert, Reise in die dreyzehn Cantone, Theil l, 1790, S.7f.). - Reinach betont ausdrücklich das Interesse an gesellschaftspolitischen Fragen: »[...] nicht nur finden Naturliebhaber in diesen romantischen Thälern und Gebirgen Stoff genug ihr Lieblingsfach zu befriedigen, sondern auch Philosophen, und Menschenfreunde haben Gelegenheit über die vortreffliche und verschiedene Verfassung dieses aus 13. Republiken bestehenden Staatskörpers die wichtigsten Betrachtungen anzustellen.« (Reinach, Kleine Schweizerreise, 1790, S.7f.). 16 Robert, Reise in die dreyzehn Cantone, Theil l, 1790, S.7. 14

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I. der St. Gotthard Der Paß über den Gotthard war der noch im 18. Jahrhundert am häufigsten benutzte nach Italien. Er gestattete dem Wanderer den Blick auf imposante Naturlandschaften und bot zugleich die Gelegenheit, wichtige Teile der nordöstlichen Eidgenossenschaft kennenzulernen. Die zumeist über Schaffhausen oder Konstanz kommenden Reisenden durchführen das an den Bodensee grenzende Thurgau eine Landschaft, die mit einem großen, üppigen Naturgarten verglichen wurde -,17 um dann Zürich, »der höchst gebildeten Stadt«18 am berühmten, gleichnamigen See, einen Besuch abzustatten. Die politisch Interessierten ließen die Limmat-Stadt rechts liegen und reisten weiter nach Osten in den Kanton Appenzell, der für viele deutsche Aufklärer das Muster eines demokratisch regierten Kleinstaates darstellte.19 Von hier bzw. von Zürich aus ging es dann zumeist über den katholischen Wallfahrtsort Einsiedel20 in die Innerschweiz. Zum Besichtigungsprogramm gehörte oft auch der zwischen Zuger und Vierwaldstätter See gelegene Rigiberg.21 Er gestattete den Reisenden einen ausgezeichneten Blick auf die alteidgenössischen Gebiete.22 Stark besucht wurden die Urkantone zunächst nicht, zu schlecht waren die Wege, zudem gab es nur wenige Wirtshäuser. Man beschränkte sich darauf, die in der Nähe liegenden Denkmale des schweizerischen Befreiungskampfes zu besichtigen. Der deutsche Alpenwanderer Gottlieb Konrad Christian Storr beklagte Mitte der achtziger Jahre zu Recht, daß man noch sehr wenig über das Leben der Nachfahren der ersten Eidgenossen wisse. Dies ließe sich nur ändern, wenn »man die gangbareren Strasen verlassen, und die einsamen Freistätten der Unschuld in kleinen abgelegenen Bergthälern aufsuchen«23 würde. 17

Für Matthisson ist der Kanton Thurgau »ein blühender und fruchtschwangerer Garten« (Matthisson, Eintritt in die Schweiz, 1825, S. 108); »Die Strecke des Thurgaus von hier bis Arbon ist ein Garten Gottes von großer Fruchtbarkeit und den lieblichsten Ansichten. Wer diese Kette von den schönsten Weingärten, Wiesen und Ackerfeldern, die, ganz mit Obstbäumen besezt, einen herrlichen Lustwald bilden, durch den die grünlichten Wasser des Bodensees lieblich hervorschimmern, durchwandelt, und bey allen den Schönheiten, die sich ihm bei jedem Schritt darstellen, sein Herz nicht erweitert fühlt, für den hat sich die Schöpfung mit ihren schönsten Reizen vergeblich geschmückt.« (Bemerkungen, 1799, S. 10). 18 WAI, Bd.29,S.108. 19 Siehe Kapitel 4.2.2. 20 »Maria Eisiedeln, diese große Ablaßbude, hat so viel interessantes für den Menschen-Beobachter, daß wir uns gestern dort über die Gebühr aufhielten.« (Halem, Blicke, 1990, S.60). - Für Matthisson ist Einsiedeln »eine der berühmtesten Hauptbuden schnöder Ablaßkrämerey und eines der haltbarsten Hauptbollwerke des krassen Aberglaubens«. (Matthisson, Eintritt in die Schweiz, 1825, S. 164). 21 Siehe Kapitel 6.1. 22 Zudem gehörte es zum obligatorischen touristischen Programm, auf dem Rigi-Kulm den Sonnenaufgang zu erleben. »Morgens um 5 Uhr, den 26. August, auf dem höchsten Joche des Rigibergs, eines der berühmtesten in der ganzen Schweiz wegen seiner Aussichten.« (Wilhelm Heinse an Fritz Jacobi, 29. August 1780, in: Heinse, Sämmtliche Schriften, 1838, S. 28). 23 Storr, Alpenreise, Theil l, 1784, S. XLVIII. 64

Das Gros der Besucher bewegte sich entlang des jahrhundertealten Gotthardweges über Schwyz nach Altorf, wo nun auch diejenigen hinzustießen, die aus Luzern über den Vierwaldstätter See gekommen waren. Nun ging der Weg inmitten erhabener Gebirgsmassive an der wild schäumenden Reuß entlang nach Amsteg, dann über die Teufelsbrücke durch das Urner Loch hindurch in das Urseren-Thal, einem üppig bewachsenem Hochplateau. Bei Andermatt und Hospental stießen die Wanderer auf die letzten Wegscheiden, bevor es nach Italien hinunter ging. Die Reisenden konnten den Weg nach Westen über die Furka ins Oberhaßlithal nehmen oder in die entgegengesetzte Richtung nach Graubünden wandern. Die meisten versuchten aber zunächst das Hospiz auf dem St. Gotthard zu erreichen. Hatten sie diesen Scheitelpunkt erklommen, kehrten sie wie Goethe 1775 um, oder sie gingen über Airola, Bellinzona und Lugano weiter nach Süden. Es darf vermutet werden, daß viele Deutsche in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den »Alpen=Patriarchen Gotthardt« 24 besucht haben.25 Der SchweizKenner Reichard schloß dies schon 1785 allein aus der Tatsache, daß »der Weg vom Hospital nach Altorf [...] so oft beschrieben«26 worden sei. Zwanzig Jahre später bekräftigte er diese Feststellung. Es handle sich um »ein Gebirge, dessen Schilderungen man in den Beschreibungen - es ist nicht zu viel gesagt, aller - Schweizer=Reisenden« antreffe. »Wer wandelte wohl durch Helvetien, den nicht sein Weg wenigstens bis zum, weyland, Kapuziner-Hospiz, getragen haben sollte?«27 //. das Berner Oberland28 In noch größerer Gunst als der St. Gotthard stand bei den Schweiz-Besuchern die Landschaft um Grindelwald. Zumeist wurde über Bern oder Luzern der Zugang zu diesem Reiseziel gewählt. Beide Varianten boten reichlich Sehenswertes. War die katholische Kantonsstadt Luzern Ausgangspunkt,29 die man durch das Aargau kommend oder von Zürich aus erreichen konnte, ging es am Pilatus vorbei über den Brünig-Pass nach Meiringen.30 Wurde der Weg über das aristokratische Bern gewählt, kam man über den Thuner See und Interlaken in das Oberland. Von hier aus konnten in Tagesreisen der Staubbach im Lauterbrunnertal und das sich anschlie24

Heinse an Gleim, 1. September 1780, in: Heinse, Sämmtliche Schriften, 1838, S.45. »[...] freue dich, der Traum deiner Kindheit ist erfüllt! du bist auf dem Gothard!« (Graß, Fragmente, 1797, S. 73). 26 Reichard, Bruchstücke, 1786, S. S. 75. 27 Reichard, Malerische Reise, 1805, S. 185. - Es wird berichtet, daß 1782 in der Herberge auf dem Gotthard in einer Nacht 560 Reisende übernachtet hätten. (Menü von Minutoli, Fragment einer Reise, 1816, S. 191). 28 Ausführlich wird im Kapitel 6.1. über dieses Gebiet gehandelt. 29 In Luzern besuchten fast alle Reisenden das von Franz Ludwig Pfyffer von Wyher gefertigte Landschaftsrelief der Zentralschweiz: »Kein Reisender wird Luzern verlassen, ohne Pfyffers Erfindung und Kunstfertigkeit gehuldigt zu haben, gesetzt auch, daß man das Eintrittsgeld bedeutend erhöhte.« (Heinse, Reisen, Bd.l, 1810, S.55). 30 Eine andere oft benutzte Route führte von Luzern über Stanz und Engelberg nach Meiringen. 25

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ßende Gebirgsmassiv mit Mönch, Eiger und Jungfrau besichtigt werden, dann ging es zumeist nach Grindelwald zu den Gletschern,31 und von Meiringen aus besuchte man den nahegelegenen Fall des Reichenbachs und machte eine Wanderung durch das Haßlithal, das durch seine Fruchtbarkeit einen angenehmen Kontrast zur bizarren Gebirgswelt bildete.32 All diese Naturschauspiele wurden von kaum einem Besucher des Berner Oberlandes unbeachtet gelassen, so daß ein Reisender schon 1785 feststellen konnte, daß es sich hier um Gegenden handelte, »die von allen Reisenden besucht werden, selbst von denen, die sich nicht weit in die Schweizergebirge vertiefen«33 wollten. Manche glaubten gar, daß sie, wenn sie das Berner Oberland besucht hätten, alles über die Eidgenossenschaft und deren Alpen wüßten.34 Karl Gottlob Küttner, der auf seinen zahlreichen Reisen erfahren hatte, wie facettenreich das Nachbarland war, wollte solche Auffassungen nicht bestätigen. Er bedauerte, daß »unter Hunderten nicht Einer weiter«35 gekommen sei. ///. Chamonlx Dieses Gebiet - im Südwesten der Schweiz gelegen - war für die Deutschen ein weit entferntes und schwer erreichbares Reiseziel. Doch das Interesse, diese exorbitante Naturlandschaft mit dem höchsten Berg Europas in ihrer Mitte kennenzulernen, 31

»Die beiden Gletscher [der untere und obere Grindelwaldgletscher - U.H.], die durch ganz Europa bekannt sind, und welche die Reiselustige Welt aller Nationen vormals mit einer wahren Anglomanie besucht und gepriesen hat, erheben sich nicht weit von dem Dorfe.« (Holder, Meine Reise über den Gotthard, Bd.2,1803, S. 138 ). 32 Ein anonymer Reisender bezeichnet das Haßlithal als »das Schweizerische Feenland [...], das von allen Reisenden zuerst besucht« wird. (Briefe eines Reisenden, 1784, S. 398); »Der Anblick dieses Thals hat alle Reisende bezaubert, und zwar nicht bloß durch seine Fruchtbarkeit, und die sorgfältige Cultur, die man durchgehends wahrnimmt, sondern auch durch eine Wirkung des Contrastes, indem man immer aus traurigen oder gar fürchterlichen Wildnissen in dasselbe hinabsteigt: man mag aus dem Grindelwald, oder von Engelberg, oder von der Grimsel herabkommen.« (Meiners, Briefe, Theil 2,1788, S.69f.); »Nach der beschwerlichen Reise durch die rauhesten unfruchtbarsten Felsen, über drohende Berghöhen und durch unwirthbare Thäler von Schnee und Eis in solch ein Land zu kommen; aus einer Wüste in einen Fruchtgarten, von Armuth zu Wohlstand und Reichthum, aus einer magern elenden Kost zu Ueberfluß - der Kontrast ist einer der auffallendsten!« (Küttner, Briefe, Bd. 2,1785, S. 111); »Der Anblick des Haslithals Übertrift gewissermaßen noch den vom Grindelwalde. Etwas schöneres und blühenderes kann nie ein Dichter bereimen.« (Wolzogen, Schreiben, 1784, S. 483). 33 Reichard, Bruchstücke, 1786, S.87f. 34 So argumentierte beispielsweise Christoph Meiners: »Wenn man diese drey Thäler [Lauterbrunn-, Grindelwald-, Haßlithal - U.H.] besucht hat, so kann man sich mit Recht rühmen, daß man das größte, und merkwürdigste in der Schweiz gesehen hat.« (Meiners, Briefe, Theil 2,1788, S.79). - Auch Reichard und Küttner wissen um diese Ansicht, stehen ihr aber kritisch gegenüber: »Wenige Reisende werden nach Bern kommen, ohne nicht den Staubbach in Lauterbrunnen, und die Gletscher und Berge von Grindelwald zu besuchen; das heißt denn so gewöhnlich, eine Schweizer=Reise.« (Reichard, Malerische Reise, 1805, S. 261); »Ein jeder, der eine Reise durch die Schweiz macht, [...] will den Grindelwald sehen, und sagt dann, er sey in den Alpen gewesen.« (Küttner, Briefe, Theil 2,1785, S. 136). 35 Küttner, Briefe, Theil 2,1785, S. 137. 66

war so groß, daß kaum ein Reisender, der die Westschweiz besuchte, auf eine Wanderung dahin verzichten wollte. Ausgangspunkt der Exkursionen waren die Ortschaften rund um den Genfer See, die oft nicht nur eine Zwischenstation darstellten, sondern zumeist einen eigenen Schwerpunkt der Reise bildeten. In Genf, Lausanne, Vevay usw. gab es angesehene Gelehrte; die künstlerischen Fertigkeiten und der hohe Bildungsstand der Handwerker in der Region waren im Ausland bekannt und geschätzt.36 Viele Deutsche hielten sich längere Zeit in dem von französischer Sprache und Kultur dominierten Westteil der Schweiz auf.37 Es gab kaum einen Reisenden, der nicht von der Lage und malerischen Schönheit des Genfer Sees und seiner Umgebung beeindruckt war. Der Lac Leman erschien vielen als »ein wahres Paradies«.38 Von den Städten Genf und Vevey bzw. Villeneuve aus, jeweils an der West- bzw. Ostseite des Sees gelegen, bewegten sich in den Sommermonaten Karawanen von Besuchern in Richtung Süden nach Chamonix.39 Der Ort mit seiner einmaligen Umgebung ist erst im 18. Jahrhundert von Ausländern aufgespürt worden. Bis zu Beginn der siebziger Jahre hatte eine Reise dorthin noch etwas Abenteuerliches; schon wenig später gehörte der Besuch dieser Landschaft zum obligatorischen Besichtigungsprogramm in der Schweiz. Der Berlinische Damen-Kalender auf das Gemein=Jahr 1810 gab seinen Leserinnen eine anschauliche Darstellung vom Verlauf dieser Inbesitznahme: »Die Entdeckung (man erlaube diesen Ausdruck, um den Anfang einer auf die Bewohner entlegenerer Länder ausgedehnten Bekanntschaft zu bezeichnen) die Entdeckung des Chamounithals war das erste, womit die Reihe der Wanderungen in diese vorher unbeachteten Gegenden begann. Wenn es uns auffallen muß, daß dies so merkwürdige Thal von Reisenden aus weiterer Ferne zu36

»Schwerlich wohl giebt es einen Ort in Europa, wo Aufklärung allgemeiner ist und Wissenschaften und Kenntnisse mancherley Art auch unter den niedern Klassen der Bürger so häufig gefunden werden, als zu Genf. Schon mancher vor mir hat dies gesagt; aber man muß selbst am Orte gelebt und Personen mancherley Stände gesehen haben, um die ganze Ausdehnung dieser Sage zu fühlen. [...] Es ist nichts ungewöhnliches, einen Handwerker in seiner Werkstätte zu finden und neben ihm ein tiefgedachtes oder unterrichtendes Buch, in welchem er liest, so oft es ihm seine Handgeschäfte zulassen.« (Küttner, Briefe, Bd. 3,1786, S. 128f.); »Es gibt hier [Genf- U.H.] eine Menge Handwerksleute, die nach verrichteter Arbeit sich mit Lesen der besten Bücher beschäftigen, und so viel Kentnis der Geschichte, der Geographie, der Werke des Wizes und selbst der Philosophie haben, als in manchen ändern Ländern unter den Vornehmsten schwerlich angetroffen wird.« (Sulzer, Beobachtungen, 1780, S. 64). 37 Küttner berichtet, daß in Genf »eine ganze deutsche Colonie« existiere: »Es sind hier eine Menge Söhne aus guten deutschen Handelshäusern, welche man hieher schickt, damit sie Manieren, Sprache und Handlung zugleich lernen.« (Küttner, Briefe, Bd. 3,1786, S.98f.). 38 Krock, Briefe, 1787,8.50. 39 Für Matthisson ist Chamonix »der Vereinigungspunkt für die Reisenden aller Nationen«. (Matthisson, Reise, 1825, S. 325); »Kein Gebirgsthal wird von so vielen Fremden besucht, als Chamonix [...].« (Keßler, Briefe auf einer Reise, 1810, S.244); »In Chamouny ist alles darauf eingerichtet Fremde zu empfangen. Im Sommer wird das Dorf so wie ein Bade=Ort besucht u. ist wirklich ein Sammelplatz von Fremden [...].« (Schopenhauer, Reisetagebücher, 1923, S. 179). 67

erst im J. 1741 besucht worden ist, so müssen wir bedenken, daß der Weg dahin, obgleich es nur 10 Meilen von Genf liegt, dennoch von allen gebahnten Straßen abwich, und durch seine Rauheit zurückschreckte; vorzüglich aber, daß ganz seltsame Nachrichten und Sagen von der Gegend umhergingen, die durchaus nicht einladen konnten eine Reise zu unternehmen, welche nur Gefahren und keine Ausbeute für Genuß darzubieten schien. Die beiden Engländer Richard Pococke und William Windham, die in dem genannten Jahr unter allen uns bekannten Reisenden zuerst dieses Thal besuchten, glaubten nur bewafnet, und in Begleitung einer Anzahl bewafneter Bedienten, von Genf ab dahin zu können. Sie ließen von diesen Bedienten Zelte und Nahrungsmittel tragen; sie wagten nach ihrer Ankunft zu Chamouni sich in kein Haus, sondern brachten die Nächte in den Zelten zu, bei Wachfeuern und unter dem Schutz ausgestellter Posten, als ob sie ein von barbarischen Wilden bewohntes Land betreten hätten. Ungeachtet nun ihre Besorgnisse durch die nähere Bekanntschaft mit den ehrlichen gutmüthigen Chamouniarden vollständig widerlegt wurden, so fanden sich doch in den nächsten 25 Jahren so wenige Nachfolger, daß noch 1760 kein ordentliches Wirthshaus daselbst errichtet war. Seit dieser Zeit aber wurden die Besuche häufiger. Die bestimmten Nachrichten von der Gefahrlosigkeit der Gegend, die Schilderungen von den Aussichten auf die dortigen überaus prächtigen und zahlreichen Gletscher, die malerische Beschreibung derselben durch Bourrit im J. 1773, und die treulichen Belehrungen, welche sich durch Saussure's 8 verschiedene Reisen in diesen Gebirgen von 1760 bis 1778, auch außerhalb Genf verbreiteten, reizten die Neugier auf das stärkste. Der Zufluß von Besuchern war so groß, daß man von 1780 an, in den wenigen dortigen Sommermonaten, jährlich mehrere Hundert Fremde in den Wirthshäusern von Chamouni zählte.«40 Auffällig ist, daß nach der erstmaligen Erkundung der Gegend durch die beiden Engländer Pococke und Windham mehr als zwanzig Jahre vergingen, bis die Ausländer scharenweise in die Region kamen. Es bedurfte zunächst der anregenden Beschreibungen eines Bourrit41 und Rousseau,42 der populärwissenschaftlichen 40

Ersteigung der höchsten Berge, 1810, S. 185-189. Grundsätzlich über dieses Gebiet: Saussure, Das Thal von Chamouny, 1787. Zum Beliebtheitsgrad siehe auch die folgenden Aussagen von Karl Gottlob Küttner und Arthur Schopenhauer: »Die Schneeberge und Eisthäler um den Mont blanc herum gehören jezt unter die, welche am meisten von den Fremden besucht werden.« (Küttner, Briefe, Bd.3, 1786, S. 110); »In Chamouny ist alles darauf eingerichtet Fremde zu empfangen. Im Sommer wird das Dorf so wie ein Bade=Ort besucht u. ist wirklich ein Sammelplatz von Fremden [...].« (Schopenhauer, Reisetagebücher, 1923, S. 179). 41 »[...] seit 1770 aber, und besonders seitdem Bourrit und Deluc ihre Beschreibungen herausgegeben hatten, strömten die Fremden in ganzen Caravanen nach Chamounix.« (Fischer, Bergreisen, 1805, S. 34); »Man kennt Bourrits glühende Phantasie, und die Feuersprache seiner Erzählung. Beide waren mehr noch, als des kältern Saussures ruhigere Untersuchungen und Darstellungen, dazu geeignet, Reisende in Schaaren zu diesen Naturwundern hinzuziehen, und konnten diesen Zweck fast nicht verfehlen.« (Günther, Erinnerungen, 1806, S. 429). - Für Carl Grosse ist Bourrit »der sorgfältigste Beobachter der savoyischen Gletscher«. (Grosse, Die Schweiz, Bd. l, Theil l, 1791, S. 179); »Die savoyischen Eisberge und das Chamounithal, heutzutage das Ziel so mancher Reise und der Gegen68

Darstellungen eines Horace-Benedict de Saussure43 und der Bilder von Caspar Wolf, um die Reisenden für diese Landschaft einzunehmen. Die erfolgreichen Gipfelbesteigungen des Montblanc durch Jacques Balmat, Paccard und Saussure trugen das ihrige dazu bei, daß die Savoyer Alpen weltberühmt wurden.44 Die Anziehungskraft war so groß, daß sich sogar Frauen den Strapazen einer Exkursion aussetzten.45 Auf den schmalen Wegen stellte man ihnen ein Char a Bane zur Verfügung, d. i. »ein ganz leichter, schmaler und niedriger Leiterwagen, auf dem man seitwärts«46 sitzen konnte und der von zwei Pferden gezogen wurde. An besonders gefährlichen Stellen nahmen die Damen auf einem Stuhl Platz, auf dem sie dann wie in einer Sänfte von den Führern den Berg hinaufgetragen wurden. Die höchste Erhebung, die die Reisenden anstrebten, war der unweit von Chamonix gelegene Montanvert. Er bot ihnen einen einzigartigen Blick auf das Montblanc-Massiv; zudem gestattete er die Besichtigung eines sehenswerten Gletschers.47 Doch erst der Aufenthalt im Vallee de Chamonix führte im Selbstverständnis der Besucher zu ei-

stand unzähliger Beschreibungen, verdanken Bourrit und seinem ausgezeichneten Beschreibungstalent, ihre Celebrität und die Bewunderung für diese erhabenen Naturgegenstände, die er durch Rede, Schrift und Zeichnung zu erwecken wußte. Seine Werke sind bald in alle Sprachen Europens übersetzt, und seit deren Erscheinung wurde der Zufluß der Fremden in diese Gegend eben so ausserordentlich groß.« (Lutz, Moderne Biographien, 1826, S.23). - Das wohl wichtigste Werk von ihm ist: Bourrit, Schilderung seiner Reise, 1775. Neben dieser von Heinrich August Ottokar Reichard übersetzten Ausgabe erschien noch im selben Jahr in Nürnberg eine zweite Übersetzung der französischen Reisebeschreibung: Bourrit, Mahlerische Reise, 1775. - Goethe stützte sich während seiner Wanderungen 1779 auf die französische Ausgabe Description des glaciers de Savoye(1773). - Kritisch äußerte sich Ulrich Hegner über Bourrits Arbeiten: »[...] Bourrit, der nichts wußte, als mit romanhaften Schilderungen Unwissende, wie er ist, zu locken, um auf unbetretenen Pfaden die Robinsone zu spielen« (Hegner, Die Molkenkur, 1983, S. 67). 42 Rousseau läßt St. Preux über das Wallis schreiben: »Ich sehe, dieses unbekannte Land verdient der Menschen Blicke, und nichts fehlt ihm, um bewundert zu werden, als Zuschauer, die es zu betrachten wissen.« (Rousseau, Julie, 1988, S. 73). 43 Saussure, Reisen durch die Alpen, 1781-1787. 44 Eingedenk dessen, daß es »immer mehr Mode« geworden sei, dieselben zu sehen, hatte Goethe noch im November 1779 - nach Rücksprache mit Saussure - eine Bergtour dorthin unternommen. (WA I, Bd. 19, S. 240). 45 Sophie von Laroche beschreibt ihren Aufstieg zum Montanvert in ihrem Tagebuch einer Reise durch die Schweitz. Sie war möglicherweise 1784 die erste deutsche Frau, die sich dieser Bergwanderung unterzog: »Die Savoyarden tranken auf meine Gesundheit, und die ältesten Führer sagten, daß ich die erste teutsche Frau sey, welche sie zu Chamoni und bey dem Eis gesehen; Genferinnen und Engländerinnen waren aber schon viele da gewesen.« (Laroche, Tagebuch, 1787, S.262f.). - Anna Helene Krock bereiste 1786, begleitet von zwei weiteren Frauen, diese Gegend. Friederike Brun war 1791 in Chamonix. Siehe Krock, Briefe einer Reisenden, 1787 u. Brun, Reise von Genf nach Chamouni, Bd. l, 1799, S. 203282. 46 Günther, Erinnerungen, 1806, S.420f. 47 »Jeder Fremde, der nach Chamouny kömmt, muss auf den Montanvert oder den Chapeau steigen, um den Anblick des Eismeeres, und das Schauspiel des Ganzen dort zu geniessen; es ist zu einzig, als daß man es versäumen darf.« (Ebel, Anleitung, Theil 2,1793, S. 36) - Sie auch Wagner, Gletschererlebnis, 1983, S. 245-263. 69

ner »vollständigen Schweizerreise«.48 »Dieses neue Tempe«49 beeindruckte durch seine üppige Vegetation; es war eine Oase inmitten einer Steinwüste.50 Die aufmerksamen Reisenden bemerkten hier stärker als anderswo, daß ihre Besuche Landschaft und Menschen veränderten; in nur wenigen Jahren entstand eine dem Fremdenverkehr gemäße Infrastruktur. Zahlreiche Einnahmequellen eröffneten sich den Savoyarden, was dazu führte, daß insbesondere »die Einwohner des Chamouni-Thals und der Dörfer und Städte am Wege bereichert, und die Wirthe in den Stand gesezt [wurden], an die Stelle ihrer engen, niedrigen Wohnungen geräumige Häuser zu setzen, die Zimmer mit Tapeten und schönem Hausgeräthe auszuschmücken, so, daß man in diesem armen gebirgigen Lande mehr Gemächlichkeit, als in den meisten teutschen Landstädten«51 antreffen konnte. Daß sich diese Veränderungen auch auf die Mentalität der Bewohner auswirkten, vermerkten die Reisenden immer wieder.52 Sie vermißten bald »die alte Redlichkeit«53 der Einheimischen, von der die ersten Reisebeschreibungen noch berichtet hatten.54

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Briefe aus der Schweiz, 1787, S. 50. Ebd., S. 51. 50 Ploucquet bezeichnet dieses Tal als »Zaubergegend«. (Ploucquet, Meine Wanderungen, 1793, S. 72); »[...] da hat die Natur, in einem engen Bezirke, Wunder zusammengedrängt, wovon jedes für sich allein, die mühvollste Wanderung durch Steppen und Sandfelder belohnen würde.« (Matthisson an Bonstetten, 7. Juli 1788, in: Matthisson, Briefe, Theil l, 1795, S. 92); »Der Eintritt in das Thal von Chamouny war für mich der Entritt in eine Zauberwelt.« (Ebd., S. 99). - Friederike Brun bezeichnet es als »Tempel der Natur!« (Brun, Reise von Genf nach Chamouni, Bd. l, 1799, S.272); »Dem einstimmigen Zeugnisse mehrere Reisenden zufolge, soll dieses 4 bis 5 Stunden lange und eine halbe Stunde breite Thal, der merkwürdigste Fleck der Erde seyn; denn nirgends soll sich die Natur so groß und ausserordentlich zeigen, als hier.« (Torlitz, Reise in der Schweiz, 1807, S. 175). 51 Reise auf dem Montanvert, 1793, S. lOf. 52 »Seitdem dies Thal so stark von Reisenden besucht wird, haben die Einwohner von Prieure eine Art von feinem Ton anzunehmen gesucht, der gegen die natürliche Rustizität sehr drollig absticht. Sie überhäufen die Fremden mit Höflichkeiten und Schmeicheleien, und man ist erstaunt, aus dem Munde dieser rauhen Bergbewohner oft sehr feine und gewählte Ausdrücke zu hören. Es ist nun etwa ein halbes Jahrhundert, dass der berühmte Pokock das Thal von Chamouny zuerst besuchte. Da waren die Einwohner zwar wild und rauh wie die sie umringenden Berge; aber Sittenreinheit und Biedertreue wohnten in ihren unbekannten Hütten. Traurig! dass auch zu diesem harmlosen Volke Gold und Laster den Weg fanden.« (Matthisson an Bonstetten, 7. Juli 1788, in: Matthisson, Briefe, Theil l, 1795, S. 102); »Das Geschäft der Guiden lohnte reichlicher als der Landbau, daher ward dieser vernachlässigt. Mehrere Reisende schon haben die drollige Mischung von Simplicität und Politur bemerklich gemacht, die diese Lebens=Art diesen TTial=Bewohnern gibt.« (Günther, Erinnerungen, 1806, S.439); »Die Ankunft so vieler Fremden, als von welchen Chamouni seit mehrern Jahren besucht wird, hat den Einwohnern eine so industriese Dienstfertigkeit eingeflößt, daß sie den Reisenden äußerst zur Last wird.« (Meiners, Briefe, Theil 4,1790,8.142). 53 Saussure, Das Thal von Chamouny, 1787, S.33. 54 »Der Zusammenfluß von Reisenden in den letzten Jahren vor dem Kriege hat hier mehrere gute Wirthshäuser veranlaßt, und die Aufnahme und Bedienung der Fremden zu einem Haupt=Gewerbe der Einwohner gemacht, und ihre Industrie dadurch eine ganz veränderte und von der unverkünstelten Natur sehr sie ableitende Richtung gegeben [...].« 49

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Der Fremdenverkehr wurde natürlich nicht nur in der Westschweiz zu einer wichtigen wirtschaftlichen Größe,55 auch in den Voralpen und im Berner Oberland entstanden zahlreiche Pensionen und Wirtshäuser, wurden Straßen angelegt und Wege befestigt.56 Bergführer standen allerorten bereit; an den Ausflugszielen boten die Bewohner Erfrischungen und allerlei einheimische Produkte zum Verkauf an; auf Wunsch sangen Hirten den Kuhreihen, führten landesübliche Tänze auf und zeigten traditionelle Sportarten wie das Bogenschießen und Schwingen. Daß die hier vorgestellten Landschaften für die deutschen Schweizreisenden so schnell zum Pflichtprogramm avancierten, war nicht zuletzt den Reisebeschreibungen und wenig später den -handbüchern zu danken. Sie erregten Interesse und stimulierten Erwartungen, so daß die Besucher immer wieder an dieselben Orte zogen. 1795 konstatierte Friedrich von Matthisson: »Es geht in der Schweiz wie in Italien: Die meisten Fremden wandeln Schritt vor Schritt hintereinander her, wie Sancho Pansas Gänse; und die alten Fusstapfen sind nach gerade so tief ausgetreten, dass niemand mehr hoffen darf, ohne Stolpern darin fortzukommen. Es ist kaum begreiflich, dass von allen Schweizerpilgern [...] noch keiner, vom Geiste des Ruhms oder der Neugierde getrieben, die Heerstrasse (wo freilich die trefflichen Wirthshäuser sehr oft die Rolle des Magnetenberges im arabischen Mährchen spielen) verlassen hat, um, auf seltener betretenen Seitenwegen, alle bisher vernachlässigten und im Auslande so gut als unbekannte Merkwürdigkeiten Helvetiens aufzusuchen [...].«57 Matthisson appelliert an seine Zeitgenossen, end-

(Günther, Erinnerungen, 1806, S. 431); »Die Ankunft so vieler Fremden, als von welchen Chamouni seit mehrern Jahren besucht wird, hat den Einwohnern eine so industriese Dienstfertigkeit eingeflößt, daß sie den Reisenden äußerst zur Last wird. So bald wir stille hielten, um den Bosson zu besuchen; so waren wir mit einem ganzen Haufen von Menschen umringt, von welchen die einen Milch, die ändern Erdbeeren oder Blumen, und noch andere Pferde, oder Maulesel, oder ihre Dienste, als Träger und Führer anboten.« (Meiners, Briefe, Theil 4,1790, S. 142f). 55 Fast immer hatte er Einfluß auf die Mentalität der Menschen.Vom stark besuchten Grindelwald wird berichtet: »Die unweise Freigebigkeit der Reisenden, und die Leichtigkeit, mit der sich von ihnen Geld erlangen läßt, hat die Menschen in diesem Thale auffallend geldsüchtig und kriechend gemacht.« (Wilmsen, Erzählungen, 1798, S. 338). - Auch Graß bemerkt Veränderungen bei den Bewohnern Meiringens im Grindelwald: »An diesen merkte man offenbar den Einfluß der vielen Reisenden. Ton und Miene hatten schon nicht mehr das treuherzige und einfältige, das sonst den Hirten eigen zu seyn pflegt, und die Geschenke der Reisenden haben so sehr den Luxus befördert, daß man sich hier nicht mehr mit einfacher Milch begnügen, sondern sogar Wein in Vorrath haben soll.« (Grass, Wanderungen, 1797, S. 109). 56 »1756 bis 1764 wurde Berns neuer Strassenbau, durch den ganzen Kanton beendigt. Dieser Stand gab der Schweiz das Muster.« (Strassenbau in der Schweiz, 1801, S. 46); »Noch nicht vor langer Zeit waren die Landstrassen durch die Schweiz fast überall enge und sehr holperig [...]; jezt sind sie schön und so bequem, als in irgend einem Lande, da fast durchgehends sehr gute Chausseen gemacht sind.« (Vermischte Beochtungen, 1778, S. 210). 57 Friedrich Matthisson an Bonstetten, 20. Oktober 1793, in: Matthisson, Briefe, Theil 2, 1795, S. 72f. 71

lieh »zu neuen Eroberungen in der Eidgenossenschaft« aufzubrechen und »neue Pfade zu betreten, vorzüglich in Wallis, Graubündten und den italiänischen Landvogteien«.58 Sieht man von diesen, nur von einzelnen Reisenden besuchten Gegenden ab, läßt sich festhalten, daß die Deutschen in nur wenigen Jahren das Nachbarland so zahlreich besuchten, daß schon Zeitgenossen von der »Mode einer Schweitzerreise«59 sprachen.

3.2 Modi der Reisereflexion Es gehörte zum Selbstverständnis der gelehrten Landes- und Völkerkundler Deutschlands, Erkenntnisgewinn mit der Anreicherung statistischen Wissens gleichzusetzen. Sie glaubten durch die Summation aller verfügbarer Fakten ein Gesamtbild von einem Territorium erstellen zu können. Dieser eklektischen Wissenschaftsdoktrin folgend, reisten viele Gelehrte in die Schweiz. Sie zählten und beschrieben, was ihnen während ihres Aufenthalts begegnete. Die Deutschen waren bekannt dafür, daß sie sich - gemessen an den Engländern und Franzosen - überaus extensiv mit der »Beobachtung und Untersuchung«60 eines Landes beschäftigen konnten. Der Historiker Philipp Wilhelm Gercken, der in den Jahren 1779 bis 1782 Deutschland und einen Teil der Schweiz bereiste, weist den Leser schon im Titel auf den gelehrten Charakter seines Unternehmens hin. Er beabsichtige, »Nachrichten von Bibliotheken, Handschriften, Archiven, Rom. Alterthümern, Polit. Verfassung, Landwirthschaft und Landesproducten, Fabriken, Manufacturen, Sitten, Kleidertrachten, Sprache ec.«61 zu geben.62 Andere Autoren konzentrierten ihr fachliches

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Ebd., S.74. - Als Küttner 1778 ins Oberwallis kam, wurde er von den Menschen mit Verwunderung betrachtet, vergleichbar mit »dem Erstaunen des Bewohners einer Insel [...], auf der zum erstenmale Fremde landen«. (Küttner, Briefe, Bd. 2,1785, S. 100). - Bonstetten und Küttner bestätigen die Desiderate, insbesondere bezüglich der italienischen Teilgebiete: »Die italienischen Landvogteyen sind in ihren Einzelheiten nur wenig bekannt.« (Bonstetten an Matthisson, 13. Juni 1795, in: Bonstetten, Briefe, 1827, S.4); »Die italienische Schweiz ist von den Reisebeschreibern ganz vernachlässigt worden. Gleichwohl ist es ein Stück Landes, das in manchem Betracht merkwürdig ist, wäre es auch nur durch seine verwickelte Regierungsform.« (Küttner, Briefe, Bd.2, 1785, S.48f). - 1811 stellt Johann Friedrich Benzenberg fest: »Graubündten wird wenig von den Reisenden besucht - es ist selten, daß man jemand trifft, der in der Via mala war.« (Benzenberg, Briefe, Bd. l, 1811, S.98). -Theodor Mügge schreibt noch 1847: »Tessin und Graubündten sind überhaupt die am wenigsten bekannten Kantone der Schweiz.« (Mügge, Die Schweiz, Bd.2,1847, S.57). 59 Bridel, Reise 1789, unpagn. - Auch Reinach meint, daß »seit etlichen Jahren die Schweizerreise zur Modereise geworden« sei. (Reinach, Kleine Schweizerreise, 1790, S. 8). 60 Küttner, Briefe, Theil 3,1785, S. 204. 61 Gercken, Reisen, 1783/1784, Titelei. 62 Eine vergleichbare Beschreibungskonzeption liegt vor bei: Andreae, Briefe aus der Schweiz, 1776 u. Blainville, Reisebeschreibung, 1764.

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Interesse auf die Naturerscheinungen des Landes. So versuchte der Professor für Botanik an der Universität Tübingen Gottlieb Konrad Christian Storr auf einer Alpenreise 1781 die Gebirgsformationen topographisch zu erfassen, katalogisierte vorkommende Gesteinsarten, bestimmte die Struktur der Gletscher oder beschrieb die Arbeitsabläufe bei der Käseherstellung.63 Diese enzyklopädischen Berichterstatter erbrachten wichtige Informationen über die Schweiz, doch ein allgemeines und zugleich anschauliches Bild von dem Land vermittelten sie nicht: »[...] die mehresten haben etwas Kleinliches in ihrem Blicke, haben so viel mit unbedeutenden Aufschriften, Alterthümern und berühmten Personen und Dingen aller Art zu thun, daß viele den Morgen hinbringen, ihre Tabletten voll zu schreiben, und den Abend, ihre Morgenarbeit aufs Reine zu bringen.«64 Heinrich August Ottokar Reichard beschreibt in seiner Autobiographie, wie er vom enzyklopädischen Sammler zum Reisebelletristen wurde: »Gewissenhaft durchkrochen wir anfangs jeden Winkel, den ich als >sehenswürdig< notirt hatte: Bibliotheken, Cabinete, Gallerieen, Fabriken, Zeug- und Zuchthäuser. Zuletzt aber fingen wir an, einzusehen, daß es ein lehrreicheres Reisestudium gebe [...]«65 nämlich die von Gefühl und Verstand geleitete Reflexion über das Erfahrene. Hinzu kam, daß die allgemein zugänglichen Informationen über die Schweiz schon bald geliefert waren, was zur Folge hatte, daß sich die Gelehrten von Profession mit der Repetition oder Rektifikation des schon Veröffentlichten begnügen mußten. »[...] ja, sie schreiben dann wohl gar das schon hundert Mal Geschriebene zum hundert und ersten Male auf, um geduldigen Lesern diese Weisheit mit einer anderen Brühe aufzutischen und >gelehrte< Reisende' gescholten zu werden.«66 Spätestens seit den neunziger Jahren konnte kein nennenswerter Zugewinn an statistischen Informationen mehr erwartet werden. Die Allgemeine Litteratur-Zeitung stellte 1792 fest: »Bey so vielen vollständigen und alles erschöpfenden Nachrichten über die Schweiz, welche die Länder- und Völkerkunde und die Naturgeschichte in den letzten 20 Jahren bereichert haben, bleibt den neuern Schriftstellern über diesen Gegenstand fast nichts mehr übrig, als schon bekannte Dinge so oder anders neu eingekleidet zu wiederholen, oder, in mehrern Werken zersteute Nachrichten, zur Uebersicht des Ganzen, concentrirt zusammenzustellen, und sie allenfalls mit Bemerkungen in eigner Manier zu begleiten.«67 Ähnlich wie Reichard, der sich in seinen eigenen Beschreibungen von einer statistischen Aufbereitung des Stoffes distanzierte, mußten spätestens jetzt auch alle an63

Storr, Alpenreise, 1784-1786. Küttner, Briefe, Theil 3,1785, S. 204. - Ganz ähnlich urteilt Saussure über diese Gelehrten: »Mit auf die Erde gerichteten Augen schleichen sie umher, und sammeln hie und da kleine Cabinetstücke, ohne sich nach ins Große gehenden Beobachtungen umzusehen. Sie scheinen mir einem Antiquar zu gleichen, welcher in Rom mitten im Coliseum oder Pantheon Erdreich aufwühlen würde, und darüber im Stande wäre, die prachtvolle Baukunst gedachter Gebäude nicht zu sehen.« (Saussure, Reisen in die Alpen, Bd. l, 1781, S. VII). 65 Reichard, Seine Selbstbiographie, 1877, S. 188. 66 Ebd. 67 ALZ, 1792, Bd. l, S.29. 64

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deren Autoren, die über die Schweiz berichten wollten, einen der von der literarischen Kritik vorgezeichneten Wege wählen. Es entstanden Kompendien wie Carl von Grosses Handbuch Die Schweiz,6& und erste umfangreiche Reiseführer,69 in denen das vorliegende Datenmaterial zusammengestellt war. Auf dem Gebiet der Reisebeschreibung setzte sich der subjektive Berichtstyp durch. In der Vorrede zu den Bemerkungen auf einer Reise durch einige teutsche, Schweizer und französische Provinzen unterscheidet Wilhelm Ludwig Steinbrenner 1791 zwischen »Reisebeschreibung und Topographie oder geographisch-historischstatistischer Darstellung«.70 Letztere sei obsolet geworden, denn es bestehe kaum eine Chance, zu neuen, wissenschaftlich oder staatspraktisch relevanten Aussagen zu gelangen. Es sei heutzutage fast »ganz unmöglich etwas Neues der Materie - nicht der Form - nach in irgend einem Fache zu sagen«.71 Steinbrenner verfolgt deshalb keinen anderen Plan »als den zu sehen, zu hören und zu fühlen«.72 Indem er das Gefühl als wichtigen Aneignungsfaktor zuläßt, distanziert er sich vom statistischen Wissenschaftskonzept. Er beabsichtige, sich »den Eindrükken der Dinge durch die äußern Sinne zu überlassen, und dann zu sehen, was meine Seele für ein Resultat daraus ziehen würde«.73 Im ersten Brief der Reisebeschreibung konstatiert der Autor die um sich greifende »Reisewuth«,74 nicht ohne in diesem Zusammenhang auf den sich andeutenden Paradigmenwechsel im Reise- und Rezeptionsverhalten zu verweisen: »Es ist wahr, man fängt jezt überall an, statt trokner Compendien, das große deutliche Buch - die Welt und was drinnen ist - in höchst eigener Person zu studieren.«75 Jens Baggesen bricht mit seinem Text Das Labyrinth oder Reise durch Deutschland in die Schweiz 1789 radikal mit der gelehrten Reisebeschreibung, wobei gleichsam die produktions- und wirkungsästhetischen Konsequenzen einer subjektdominanten Darstellung deutlich werden. In einer Gegenüberstellung arbeitet Baggesen signifikante Merkmale der beiden Typen heraus: »dynamisch - »mathematisch« »ausprobierend« - »zählend« »wägend« - »messend«

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Grosse, Die Schweiz, 1791. Heidegger, Handbuch für Reisende in der Schweiz, 1789/90; Ebel, Anleitung, 1793. 70 Steinbrenner, Bemerkungen, Theil l, 1791, Vorrede. 71 Ebd., Theil 3, Vorrede. 72 Ebd., Theil l, Vorrede. 73 Ebd. - Dieses Vorgehen beurteilt die Allgemeine deutsche Bibliothek wie folgt: Der Verfasser hat die Reisebeschreibung »durch eine offenbar affektierte, spashafte Laune, die gar zu oft in platten und pedantischen Witz ausartet, zu beleben gesucht. Leser von seiner Denkungsart werden wahrscheinlich das Buch auch mit Vergnügen lesen.« (ADB, 116 [1794], S.240f.). 74 Steinbrenner, Bemerkungen, Theil l, 1791, S.2. 75 Ebd. - Dazu auch Heinrich Zschokke: »Ich reiste, nicht um auf Entdekkungen auszugehen, sondern um zu genießen mit Geist und Sinnen«. (Zschokke, Meine Wallfahrt, Bd. l, 1796, S. III). 69

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»malend« - »absteckend, kopierend und silhouettierend« »durch ein Glas« - »mit bloßem Auge«76

Indem - wie aus dieser Charakteristik hervorgeht - die Realität über den reisenden Erzähler vermittelt wird, müsse auch das Augenmerk des Lesers verstärkt auf ihn gelenkt werden. Der Verfasser solch einer Beschreibung solle vor den Augen des Rezipienten »eine kleine subjektive Welt«77 entstehen lassen, in die sich dieser hineinversetzen könne.78 Auf diese Weise sollte es gelingen, den Leser »genau denselben Weg zu führen [...] und ihm dieselben Gegenstände zu zeigen, ganz von derselben Seite, von der du sie betrachtet hast - so daß sein Geist am Ende deiner Reise diese gewissermaßen nicht so sehr gelesen als - selbst unternommen hat«.79 Baggesen zielt auf die Identifikation des Rezipienten mit dem Reisenden. Da sich dieser in der Beschreibung als gestalteter Charakter zeigen soll, vermag sich der Leser mit seiner eigenen Erfahrungswelt einzufühlen und die Unternehmung an Stelle des Protagonisten bzw. mit ihm zu machen. Der Erzähler, der seine Reiseerfahrungen wiedergibt, weist sich somit als ein empfindendes und denkendes Individuum aus. Damit sich der Leser mit der Person des Reisenden bekannt machen kann, muß dessen persönliche Sphäre in die Darstellung Eingang finden. Carl Gottlob Küttner, der Autor der Briefe eines Sachsen aus der Schweiz, erläutert diesen Zusammenhang und beschreibt seine wirkungsästhetische Relevanz: »Ich habe manche kleine unerhebliche Nachrichten und Anekdoten, deren Weglassung den historischen, politischen und statistischen Nachrichten nichts geschadet haben würde, mit Vorbedacht in dieser Sammlung stehen gelassen. Es ist bekannt, daß diejenigen Reisebeschreibungen, die viele dergleichen haben, am liebsten gelesen werden, weil eben diese kleinen an sich unbedeutenden Umstände es zum Theil sind, die ihnen das Trockne und Langweilige benehmen [...]. Diese kleinen unbedeutenden Nachrichten geben überdem dergleichen Werken das Gepräge der Wahrheit: alles geht da weit natürlicher und lebhafter vor unsern Augen vorbey, und das Ganze wird uns dadurch nur noch interessanter und angenehmer.«80 Mit dem Schritt hin zur subjektiven Authentizität81 gewinnen die Texte an Wahrhaftigkeit und literarischer Attraktivität. Das Festschreiben der Umstände, die die konkrete Wirklichkeitserfahrung begleiteten, ist daher von großem Gewicht. Es läßt sich ein Konnex herstellen zwischen der Anzahl dieser Umgebungsmikrologis-

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Baggesen, Das Labyrinth, 1985, S.7. Ebd., S. 6. 78 Angestrebt werden müsse nach Christoph Meiners »eine gewisse Theilnehmung an der Person des Reisenden«, da dadurch »sich Reisebeschreibungen am meisten von trockenen Topographien oder Geographien unterscheiden, und auch viel anziehender als diese letztern werden.« (Meiners, Briefe, Vorrede, Theil l, 1784, unpagn.). 79 Ebd., S. 6f. 80 Küttner, Briefe, Theil l, 1785, S.32. 81 Zu diesem Begriff siehe Hentschel, Vom gelehrten Bericht zur literarischen Beschreibung, 1999,5.31-33. 77

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men und dem Wahrscheinlichkeitsgrad der Darstellung.82 »Mikrologien sollte billig ein jeder, der ein Buch herausgiebt, meiden. Bey Reisebeschreibungen dienen sie indessen oft mit dazu, um das Bild des Landes, das man beschreiben will, vollständiger darzustellen [.. .].«83 Die Reiseautoren hatten sich so im Verlaufe von nur wenigen Jahren einen Beschreibungstypus geschaffen, der Objektdarstellung und Subjektaussprache verknüpfte. Der Paradigmawechsel von der gelehrt-enzyklopädischen zur im engeren Sinne literarischen Berichtsform war nicht zuletzt möglich geworden, weil auch neue Leserbedürfnisse entstanden waren. Als Christian Cay Lorenz Hirschfeld 1785 seine dritte Reisebeschreibung über die Schweiz herausgab, sah er sich veranlaßt, die erneute Behandlung des gleichen Stoffes vor der Öffentlichkeit zu legitimieren. Es sollte einerseits der Verdacht ausgeräumt werden, er wiederhole nur das schon früher von ihm Beschriebene, andererseits war hinzuweisen auf das Originäre seines Textes im Vergleich zu den schon so zahlreich vorliegenden Werken anderer Autoren über die Eidgenossenschaft. Mit dem Titel Neue Briefe über die Schweiz schließt er formal an seine vorangegangenen Veröffentlichungen an. Diese waren dem Lesepublikum von der Allgemeinen deutschen Bibliothek zur »angenehmsten und nützlichsten Unterhaltung«84 empfohlen worden, denn sie seien »mit Feuer und Anmuth« geschrieben, »so daß der Leser in diese glücklichen Gegenden sich fast versetzt«85 glaube. Hirschfeld war sich im klaren darüber, daß es nun, 1785, angesichts so vieler vergleichbarer Beschreibungen nicht mehr so einfach sein würde, den eigenen Anspruch aufrecht zu erhalten und zugleich die Bedürfnisse des Marktes zu erfüllen. »Nichts ist schwerer, als eine Reisebeschreibung zu entwerfen, die den Leser intereßirt, und nichts scheint leichter, wie die jetzt zunehmende Menge solcher Schriften glauben läßt.«86 Erforderlich sei zunächst Sachkunde auf möglichst allen die Schweiz betreffenden Gebieten. Denn eine fachspezifische Beschreibung habe kaum Aussicht auf Erfolg, da sie nicht »das so mannigfaltige und verwebte Interesse des Lesers«87 berücksichtige. »Nach der richtigen Beobachtung eines Reisenden ist die gute Auswahl seiner Bemerkungen, die er ändern mittheilen will, die zweyte Kunst, nicht weniger schwer, als die erste. Er hat hierbey nicht allein Rücksicht zu nehmen auf die Neuheit oder Wichtigkeit der Gegenstände, sondern

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Hirschfeld verweist auf die Gefahr, durch den Einsatz zu vieler Mikrologismen das Gewicht zu einseitig auf die persönliche Sphäre zu verlagern, so daß die Reisebeschreibung kaum noch von allgemeinem Interesse ist: »Manche Reisebeschreiber entfernen sich von den Gegenständen ihrer Reise, und verliehren sich ganz in die kleine Geschichte ihrer Person. Was sie gegessen, was sie getrunken, wie sie geschlafen was ihnen im Wirthshaus oder auf der Strasse begegnet, wie sich der Postilion betragen, alle solche unbedeutende Kleinigkeiten zählen sie mit einem Aufwand von Genauigkeit und Sorgfalt auf, als wenn es Bemerkungen von der ersten Wichtigkeit beträfe.« (Hirschfeld, Neue Briefe, 1785, S. 12f.). 83 Kirchhof, Bemerkungen, 1792, S. VII. 84 ADB, 30/1 (1777), S. 283. 85 Ebd. 86 Hirschfeld, Neue Briefe, 1785, S. 3. 87 Ebd. 76

auch insbesondere auf den Geschmack und das Interesse der Leser, für welche er schreibt.«88 Hat sich der Reisebeschreiber bei der Auswahl seines Stoffes dem Kriterium des Neuigkeitswertes und der wechselnden Vielfalt zu unterwerfen, so in der Darstellung dem Prinzip der subjektiven Erfahrungsverarbeitung, das die Reiseautoren in Abgrenzung vom gelehrten Berichtstyp und in Anlehnung an englische Muster89 entwickelt hatten. Auch für Hirschfeld steht fest, daß »der persönliche Charakter des Reisenden [...] in seine Beschreibung« eingehen müsse. Denn nur »der empfindende empfängt und verbreitet Wärme, welche die Gegenstände in ihm erregen«.90 Die je eigene intellektuelle und mentale Disposition eines jeden Reisenden führe zwangsläufig zu verschiedenen Erfahrungen und Ansichten, so daß »gut mehrere Beschreibungen neben einander bestehen können«.91 Hirschfeld ist sogar davon überzeugt, daß es »nützlich [...] ist, wenn es mehrere gibt«;92 denn dann besitze der Leser die Möglichkeit, die Aussagen der Autoren zu vergleichen. Und somit habe auch seine dritte Reisebeschreibung eine Existenzberechtigung. Hirschfeld hat mit seinen Überlegungen zur Reiseliteratur über die Schweiz sowie mit seinen -texten zur Entwicklung eines Werktypus beigetragen, der landeskundliche Darstellung mit individuellem Gefühlsausdruck verband und so den Bedürfnissen der Leser am Ende des 18. Jahrhunderts entgegen kam. Mustergültig bediente Christoph Meiners mit seinen Briefen über die Schweiz diesen Beschreibungstyp.93 In einer der Vorreden bemerkt er, daß »die einzige interessante und rührende Art Gegenstände zu schildern, diese sey, wenn man nicht bloß ihre Form, Größe, Breite u. s. w. sondern hauptsächlich die Eindrücke darstellt, welche sie in einer gesunden, nicht empfindungslosen und im Nachdenken nicht ungeübten Person erzeugt haben«.94 Meiners macht hier seine reisenden und zugleich schreibenden Zeitgenossen aufmerksam auf die zwei entscheidenden Seiten literarischer Unterhaltung, die der interessierte Leser suchte. Da ist einerseits das Informationsbedürfnis, das im Hinblick auf die Schweiz besonders groß war, weil nur wenige gedruckte Nachrichten über das Land nach Deutschland gelangten95 und 88 89

Ebd., S. 9.

Hier sei vor allem auf Laurence Sternes Sentimental Journey verwiesen. 90 Hirschfeld, Neue Briefe, 1785, S. 11. 91 Ebd., S. 12 - Auch Karl Spazier begründet die Veröffentlichung seiner Reisebeschreibung mit dem Argument, daß »doch jeder seine eigene Art zu denken und zu empfinden, und also seinen besondern Gesichtspunkt zu haben pflegt [...].« (Spazier, Wanderungen, 1790, S. 4). - Da die Originalität des Textes auf der Einzigartigkeit des schreibenden Ichs basiert, hat auch Friedrich Bouterwek keine Bedenken, seine Briefe mitzuteilen: »Was Sie aber in keiner Reisebeschreibung finden werden, die Einwirkung der mir neuen äußern Welt auf mein Inneres, das ist's, was ich Ihnen mitzutheilen versprochen habe.« (Bouterwek, Schweizerbriefe, Bd.l, 1795, S. 19). 92 Hirschfeld, Neue Briefe, 1785, S. 12. 93 Ebel rechnet das Werk »unter die bessten Reisebeschreibungen über die Schweitz«. (Ebel, Anleitung, Theil l, 1793, S. 130). - Für Küttner ist es »bey weitem das beste Werk«, das er »über die Schweiz, das heißt die deutsche, kenne«. (Küttner, Briefe, Theil 3,1786, S. 284). 94 Meiners, Briefe, Theil l, 1788, S.XVf. 95 So bittet Friedrich Nicolai Johannes von Müller Werke aus der Schweiz für seine Allgell

zudem die strenge Zensur in den schweizerischen Kantonen sachlich-kritische Darstellungen fast unmöglich machte,96 so daß die Eidgenossen über die eigenstaatlichen Medien kaum einen Beitrag zu einem realitätsnahen Bild ihres Landes leisten konnten.97 So waren es die berichtenden Reisenden nahezu allein, die über die politischen Strukturen und gesellschaftlichen Zusammenhänge Auskunft gaben. Da das Nachbarland für viele deutsche Leser nicht nur eine fremde, sondern auch eine alternative Lebenswelt zur eigenen darstellte, konnten die Autoren damit rechnen, daß sie beim Rezipienten bestimmte Emotionen auslösten. Erwartungen wollten befriedigt, Sehnsüchte angesprochen, eigene Lebensdefizite in der literarischen Fiktion kompensiert werden.98 Wo aufklärerisches Lebensideal und bürgerliche Wirklichkeit auseinanderfielen, bestand das Bedürfnis, die Symbiose zu suchen; in der Schweiz schien sie vielen möglich zu sein. Dieses Orientierungsverlangen, das angesichts unbefriedigender, ahumaner oder dem Wertezerfall ausgesetzter Weltläufte zuzunehmen begann, konnten die Autoren von Reisebeschreibungen auffangen und steuern. Indem sie sich einem Genre verpflichteten, dem allgemein hoher Authentizitätsgehalt zugesprochen wurde, war es ihnen möglich, Sehnsüchte und

meine deutsche Bibliothek zu rezensieren, denn er »bekomme manches Neue, was zur helvetischen Geschichte gehört, gar nicht, oder doch sehr spät«. Dies betreffe auch »alle neue schweizerische politische kleine Schriften«,»[...] denn sie kommen sonst fast gar nicht nach Deutschland [...].« (Friedrich Nicolai an Johannes von Müller, 12. Juni 1772, in: Briefe an Johann von Müller, Bd. 4,1840, S. 14). 96 »Nach den Fundamentalgesetzen der Republik Zürich ist sogar jede über die Staatsverfassung dieser Republik, auch nur mit auswärtigen Privatpersonen, geführte Correspondenz, Hochverrath.« (Zimmermann, Ueber die Einsamkeit, Theil 2, 1784, S. 29t); »Nach den Grundgesezen von Zürich machte sich ein Bürger schon durch den Briefwechsel mit einem auswärtigen Privatmanne, über die Staatsverfassung dieser Republik, des Hochverraths schuldig. Desselben Vergehens machte er sich schuldig, wann er etwas auswärts druken ließ, was nicht vorher zu Zürich censirt worden war.« (Girtanner, Vormaliger Zustand der Schweiz, Theil l, 1800, S.369); »Kein Bürger, Unterthan oder Insaß darf das geringste, nicht einmal in fremden Ländern, ohne vorhergegangene Untersuchung drucken lassen, und kein Zeitungsschreiber in der Schweiz hat das Herz, von den politischen Angelegenheiten seines Vaterlandes und der übrigen Cantone das geringste bekannt zu machen.« (Meiners, Briefe, Theil l, 1784, S.269). 97 Bezeichnend für den Grad der Selbstzensur ist eine kleine Notiz Johannes von Müllers, die sich auf einem Brief befindet, den Wieland 1773 mit der Bitte geschrieben hatte, Müller möge für den Teutschen Merkur über die »Bewegungen, welche der Fanatismus in Zürich« mache, berichten. Dieser bemerkt dazu am Rand des Schreibens: »Das werd' ich wohl bleiben lassen!« (Zit. nach Henking, Johannes von Müller, Bd. l, 1909, S.94). 98 Ein Brief der Herzoginmutter von Sachsen-Weimar-Eisenach, Anna Amalia, an den Prinzenerzieher Karl Ludwig von Knebel aus dem Jahre 1780 gibt über diese Bedürfnisse beispielhaft Auskunft: »Sie wissen, lieber Knebel, was Illusion beim Menschen vermag, wie ihm Alles, was er nicht sieht und nicht genießt, so schön und vollkommen sich darstellt und wie die schmeichelnde Einbildungskraft ihm entfernte Dinge lieblicher vorspiegelt, als Alles, was wirklich um ihn lebt und er besitzt. Darum sind auch wohl Reisebeschreibungen und Journale wie süße Träume für eine lebhafte Imagination. Ihr Brief aus Zürich war mir mehr noch als das [...].« (Anna Amalia an Karl Ludwig Knebel, 28. Juli 1780, in: Knebel, Literarischer Nachlaß, Bd. l, 1835, S. 186). 78

Erwartungen mit der schweizerischen Wirklichkeit zu konfrontieren. Sie taten dies stellvertretend für die vielen Deutschen, die eigene Reiseerfahrungen nicht machen konnten und somit auf diese Beschreibungen angewiesen waren. Nach dem Gesagten ist es kaum noch verwunderlich, daß in den achtziger und neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts der Buchmarkt von einer Flut von Reisebeschreibungen über die Schweiz überschwemmt wurde," wobei natürlich nicht alle Autoren das hielten, was sie im Titel den Lesern versprachen. Viele ausgewiesene Unterhaltungsschriftsteller beteiligten sich an dem Modetrend, Werke über das Nachbarland zu verfassen, und produzierten seichte, empfindsame Texte; andere kompilierten aus den vorhandenen Berichten >neue< Beschreibungen.100 Dazu bedurfte es natürlich keiner Reise in die Schweiz. Summiert man diese durchaus üblichen Verfahren, wird die bittere Klage eines Rezensenten der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek über die vielen Beschreibungen auf dem Buchmarkt verständlich: »Die - Spaziergänge, Wanderungen, Blicke, malerische Reisen, An= Aus= und Uebersichten, die Schweiz, ein Land betreffend, das durch so viele alles erschöpfende Nachrichten und so durchaus bekannt ist, nehmen kein Ende, und haben größtentheils kein anderes Verdienst, als die von den Autoren daran verwandte Mühe, ihren Geburten einen netten artigen Namen an die Stirne zu drücken. So lange unsere schreibsüchtigen Autoren noch Hände und Füsse, diese zum Wandern und jene zum Schreiben haben, und bey allen litterarischen Arm= und Handschäden doch an keine - Amputation zu denken ist, wird denn auch wohl des Schreibens über ein Land, das ganz gemächlich, allenfalls in ein paar Wochen, zu bereisen ist, und wozu die Verleger nach Endigung der Wanderschaften die Reisekosten vergüten, leider!! kein Ende nehmen.«101 99

1794 stellt ein Rezensent der Allgemeinen deutschen Bibliothek fest, daß »kein Land [...] von philosophischen Reisenden und glücklichen Darstellern mehr besucht und beschrieben worden« sei, »als die Schweiz in dem letzten Jahrzehend«. (ADB, 116 [1794], S. 242). Und in der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek heißt es im selben Jahr: »Ueber kein Land und kein Volk ist in Deutschland in diesem Jahrhundert, und besonders in der letzten Hälfte derselben, so viel geschrieben und gedichtet worden, als über die Schweiz und die Schweizer.« (NADB, 8/1 [1794], S. 191). - Hans Rudolf Schinz spricht schon in den achtziger Jahren von »den häufigen Reisebeschreibungen durch die Schweiz, die seit kurzem in Ueberfluß herausgekommen« sind und »deren Lesung zur Mode« geworden sei. (Schinz, Beyträge zur nähern Kenntniß des Schweizerlandes, Bd.2, 1786, Erinnerung, unpagn.). »Da die Schweiz wegen ihrer mannichfachen und mehrere Menschenklassen interessirenden Merkwürdigkeiten häufiger, als viele andere Länder, bereiset wird: so sind auch wenig Länder vorhanden, über welche so viele große und kleine Reisebeschreibungen im Druck erschienen wären.« (NADB, 33/11 [1797], S.393). 100 Dies beklagt u. a. Küttner: »Ueberhaupt ist es zum Erstaunen, wie die Leute einander ausschreiben, und wie oft ein Irrthum von einem Decennium zum ändern durch ein halbes Dutzend verschiedener Werke fortgepflanzt wird.« (Küttner, Briefe, Theil 3,1786, S.273). 101 NADB, 8/1 (1794), S. 112. - Noch im selben Jahr heißt es an anderer Stelle ganz ähnlich: »Und gewiß ist es auch, daß über kein Land in neuern Zeiten so viel deraisonnirt ist, als über die Schweiz, weil fast jeder Fußgänger sich mit herausgegebnen Erzählungen von seiner Reise abgiebt, und die Verleger nicht müde werden, den Verfassern die Reisekosten zu vergüten, u. die Meßwaare mit solchen itinerarischen Auswüchsen zu vergrössern.« (NADB, 13/1 [1994], S. 12f.). 79

4. Schweiz-Bilder zwischen 1770 und 1798

4.1 Zur Bildung eines komplexen Mythos 4.1.1 Unabhängigkeit, Natur und patriarchalische Einfalt die Suche nach Lebensalternativen im Sturm und Drang Viele junge Intellektuelle, die zum Kreis der Stürmer und Dränger zählten, besuchten in den siebziger und achtziger Jahren die Schweiz.1 Zu ihnen gehörten Lenz,2 Klinger,3 Merck,4 Goethe, die Brüder Stolberg, Johann Martin Miller5 und Wilhelm Heinse. Waren die Beweggründe, die zu einer Reise führten, auch unterschiedlich, die vorhandenen Quellen lassen erkennen, daß diese literarische Avantgarde, die sich gegen die saturierte und zugleich denaturierte Öffentlichkeit wandte, im alpinen Nachbarland eine alternative Lebensform zu finden glaubte. Goethes Reise auf den Gotthard 1775 Als Goethe im Mai 1775 von den Brüdern Christian und Friedrich Leopold von Stolberg und dem sie begleitenden Grafen Christian August Heinrich Kurt von Haugwitz gefragt wurde, ob er mit ihnen in die Schweiz reisen wolle, war der Entschluß schnell gefaßt. Zu eingeschränkt und bieder zeigte sich das Leben in der Freien Reichsstadt Frankfurt am Main, daß nicht das Bedürfnis nach Weite und Un-

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Schon 1772 entstand bei Herder und Goethe die Idee, die Schweiz kennenzulernen. Merck plante eine Reise in das Nachbarland, da seine Frau ihre Eltern in Morges am Genfer See besuchen wollte. Goethe und Herder hatten erwogen, das Ehepaar in die Schweiz zu begleiten. Siehe Caroline Flachsland an Herder, Mitte Juni 1772, in: Herder, Briefwechsel mit seiner Braut, 1858, S.285f. - Zum Scheitern des Plans siehe Johann Heinrich Merck an seine Frau, 13. Februar 1774, in: Briefe aus dem Freundeskreis, 1847, S. 88. 2 Lenz hatte im Juni 1777 einen Baron Hohenthal kennengelernt, der ihn zu einer Italienreise einlud. Als das Projekt zerbrach, irrte Lenz mehrere Wochen allein durch die Schweiz. 3 Klinger besuchte kurz vor seiner Übersiedlung nach Rußland 1780 die Schweiz. Er war mit dem Frankfurter Komponisten Philipp Christoph Kayser befreundet, der seit 1775 in Zürich lebte. 4 Merck begleitete 1765 Karl Wilhelm von Bibra in die Schweiz. Während eines Aufenthalts in Morges am Genfer See lernte er seine spätere Frau kennen. Er besuchte später wiederholt seine Schwiegereltern. 5 Miller kam im Herbst 1775 nach Zürich, wo er auf Haugwitz und die Stolbergs traf, mit denen er später nach Ulm zurückreiste. 81

gebundenheit hätte aufkommen können.6 Zudem machten sich Entscheidungen im Hinblick auf sein Verhältnis zu Lili Schönemann nötig. Goethe wollte und mußte Abstand gewinnen, denn nur so - glaubte er - ließe sich über den Wert dieser Liebesbeziehung befinden.7 Am 14. Mai verließ er mit seinen Freunden die Stadt, ohne von seiner Verlobten Abschied genommen zu haben. Anfang Juni traf er in Zürich ein. Sieht man von den Besuchen bei Lavater ab, den Goethe in dieser Zeit enthusiastisch verehrte, war es vor allem die Natur, der er sich in der Schweiz widmete. Schon kurz nach Grenzübertritt hatte der Rheinfall bei Schaffhausen sein Interesse gefunden. Im Sommer 1750 war bereits das große Vorbild der Stürmer und Dränger, Friedrich Gottlieb Klopstock, hier gewesen. Dieser hatte die Naturerscheinung als Emanation Gottes gefeiert, als den »große[n] Gedankefn] der Schöpfung«.8 Als nun Goethe an den Rheinfall kam, war es nicht mehr allein der Hymnus auf das Werk Gottes, der sich ihm aufdrängte, sondern er bemerkte, daß mit dem »großen Gedanken der Schöpfung« auch die »Schöpfungskraft«9 des Menschen angesprochen wurde. Der Rheinfall erschien den Reisenden des 18. Jahrhunderts als ein bizarres, monumentales Naturphänomen, das dem Betrachter die eigene physische Unterlegenheit nur zu deutlich machte. Lenz nannte den Fall 1777 eine »Wasser=Hölle«, eine Bezeichnung, die Zeitgenossen für durchaus angemessen hielten.10 Die nur zu verständlichen »Bemühungen des Individuums sich gegen die zerstörende Kraft des Ganzen zu erhalten«,11 könnten - so Goethe schon 1772 - nur dann erfolgreich sein, wenn sie intellektueller Art wären. Gelänge es, die exorbitanten Gefühle reflexiv einzuholen, d. h. im Bild oder Begriff zu fixieren, könnte das Gefühl der mentalen Unterlegenheit, das sich beim Anblick einer die Sinne überwältigenden Naturerscheinung einstellt, wieder aufgehoben werden. Goethe sah sich als Teil der Natur, zugleich aber auch - zunehmend im Weimarer Jahrzehnt - als ihr Erkenntnis erheischender Widerpart. Auf der Fahrt über den Züricher See setzte er seine Beziehung zu ihr ins Bild. Es vermittelt die Erfahrung einer unmittelbaren Begegnung mit der Außenwelt, die zugleich als Bereicherung des eigenen Lebens erscheint.

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Die Sehnsucht nach der Fremde hatte ihn schon einmal, 1765 in Frankfurt am Main, wenige Wochen vor dem Weggang nach Leipzig, ereilt: »Die heimliche Freude eines Gefangenen, wenn er seine Ketten abgelös't und die Kerkergitter bald durchgefeilt hat, kann nicht größer sein, als die meine war, indem ich die Tage schwinden und den October herannahen sah. [...] ich sah nur meine gegenwärtigen Verhältnisse düster, und stellte mir die übrige unbekannte Welt licht und heiter vor.« (WA I, Bd. 27, S.43f.). 7 Goethe schreibt rückblickend, daß »es darauf ankam einen Versuch zu machen, ob ich Lili entbehren könne [...]»(WA I,Bd.29, S.91f.). 8 Klopstock, Gemeinschaftsbrief von Klopstock, Sulzer, Schuldheiß von der Reise nach Zürich im Juli 1750, in: Geliert, Briefwechsel, 1983, S. 125. 9 Goethe, Dritte Wallfahrt nach Erwins Grabe im Juli 1775, in: WA I, Bd. 37, S. 323. 10 Hentschel, »aber mein Herz [...]«, 1997, S. 131f. 11 WA I, Bd. 37, S. 210.

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»Ich saug an meiner Nabelschnur Nun Nahrung aus der Welt. Und herrlich rings ist die Natur Die mich am Busen hält.«12

Die Reise auf den St. Gotthard unternahm Goethe mit Jakob Ludwig Passavant, einem Frankfurter Freund, den er in Zürich bei Lavater getroffen hatte.13 Sie benutzten den alten, nach Italien führenden Paßweg. Zunächst kamen sie durch die Innerschweiz - für Goethe die »längst ersehnte Wanderung«14 -, dann bestiegen sie den Rigi und gelangten über Amsteg, Wasen und Urseren zu ihrem Reiseziel. Die Tagebuchaufzeichnungen und Skizzen Goethes von 177515 sowie sein reminiszenter Bericht in Dichtung und Wahrheit bestätigen, daß der größte Gewinn der Wanderung für den jungen Dichter in dem Erlebnis des »ungeheurefn] Wilde[n]«16 bestand, das er schon am Rheinfall kennengelernt hatte. Was ihm dieser Zugewinn an Naturerfahrung wert war, zeigt sich am augenscheinlichsten in der ausgelassenen Stimmung, die sich während der Wanderung einstellte und als Momentaufnahme im Tagebuch festgehalten wurde.17 Beim Verfassen der Autobiographie versuchte Goethe, sich dieses Lebensgefühl noch einmal zu vergegenwärtigen. Es gelang nicht. Er vermochte sich nur daran zu erinnern, daß sein jüngerer Freund und er »gewissermaßen in einen Naturzustand versetzt« worden waren und »im Gefühl behaglicher Kraft das Reich der Phantasie« durchmessen hatten. Bleiben diese Reminiszenzen auch vage, es darf vermutet werden, daß die Reise für Goethe bedeutungsvoll war: Denn er hatte einzigartige Naturerfahrungen gemacht, die sich stimulierend auf sein künstlerisches Schaffen auswirken konnten.18 Im Hinblick auf die Liebesbeziehung zu Lili Schönemann blieb die erhoffte Entscheidung aus. Die Stolbergs im Land der Freiheit Die während Friedrich Leopolds Studienzeit im Göttinger· Hain beschworenen Ideen von einem unabhängigen und naturnahen Leben waren im Jahr 1775 noch nicht vergessen. Sie bestimmten wohl auch den Entschluß der Stolbergs, das Land

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WA III, Bd. l, S.2. Der größere Teil der Reisegesellschaft war nach dem Besuch im Kloster Einsiedeln nach Zürich zurückgekehrt. Erst vierzehn Tage später unternahmen die Stolbergs und Haugwitz eine größere Reise durch die Innerschweiz. 14 WA I, Bd. 29, S. 111. 15 Siehe Goethe, Tagebuch der ersten Schweizer Reise, 1980. 16 WAI, Bd.29, S.121. 17 »Müd und munter vom Berg ab springen voll Dursts u. lachens. Gejauchzt bis Zwölf«, »Sauwohl u Projeckte« (WA III, Bd. l, S.5). 18 In den Tag- und Jahresheften schreibt Goethe: »Die erste Schweizerreise eröffnete mir mannichfaltigen Blick in die Welt.« (WA I, Bd. 35, S. 5). 13

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Tells aufzusuchen.19 Goethe erinnert sich, daß damals bei ihnen »schon nach ein und der ändern genossenen Flasche Wein der poetische Tyrannenhaß zum Vorschein kam«.20 Dieses pathetische, sich bis zum Narzißmus steigernde Ausstellen der eigenen Person und die Hybris, die als einengend empfundenen Verhältnisse außer Kraft setzen zu wollen, waren Goethe suspekt, vor allem, wenn es in einer extrovertierten Weise geschah. Es schien, daß die Stolbergs nachholen wollten, was dieser mit seinem Werther-Roman hinter sich gelassen hatte. Goethe erinnert sich in Dichtung und Wahrheit, daß »[...] ungeachtet aller guten und edlen gemeinsamen Gefühle« sich damals »schon eine gewisse Differenz in Gesinnung und Betragen«21 gezeigt habe. Sie hat wohl auch dazu geführt, daß Goethe später nicht mit den Stolbergs durch die Schweiz reiste. Gerade wegen dieses Dissenses sind deren Verlautbarungen überaus signifikant. Denn sie zeigen, was die Eidgenossenschaft sein konnte für eine »Jugend, die [...] nicht weiß, wo sie mit Kraft und Vermögen hinaus soll«.22 Ihre Wanderung vollzogen die Freunde im Geiste Werthers, dessen Kleidung sie trugen. Wie dieser wollten sie sich von allen beschränkenden Reglementierungen befreien. »[...] sie glaubten, als Naturkinder sich zeigen zu können«,23 was bedeutete, den Standeskonventionen zu entsagen und - weit spektakulärer -jeden äußeren Unterschied auf- und der Natur anheimzugeben.24 In Darmstadt war es zum Skandal gekommen, weil sie ohne Rücksicht auf den landesüblichen Anstand nackt im See gebadet hatten. Überstürzt hatten sie abreisen müssen. Sie hofften nun, in der Schweiz ihrem ersehnten Ziel, »einer verwirklichten Naturfreiheit«,25 näher zu kommen. Schon von Straßburg aus schrieb Friedrich Leopold der Schwester: »Sei versichert, daß die Schweiz auf mich wirken wird! So lange ich athme, werde ich die Natur fühlen.«26 Wenngleich auch später in Zürich das mehrmals wiederholte Nacktbaden zum öffentlichen Ärgernis wurde,27 das ersehnte naturnahe 19

Schon in dem Gedicht Die Freiheit. An Hahn(1173) hatte Friedrich Leopold Teil neben Herrmann, Klopstock, Brutus und Timoleon als Freiheitsverfechter besungen. Siehe Stolberg, Werke, Bd. l, 1827, S. 19. 20 WA I, Bd. 29, S. 90. 21 Ebd., S. 94. 22 Ebd., S. 91. 23 Ebd., S. 92. 24 »Unter die damaligen Verrücktheiten« zählte Goethe in Dichtung und Wahrheit ausdrücklich das Bedürfnis, »sich in einen Naturzustand zu versetzen«. (Ebd., S. 94). 25 Ebd., S. 134. 26 Johann Friedrich Stolberg an die Schwester Katharina, 31. Mai 1775, in: Stolberg, Briefe, 1966,8.46. 27 »Als der deutsche Homer, der Graf von Stollberg, mit seinem edlen Bruder und dem Baron Haugwitz, im Sommer 1775 die große Reise über die Schweizerischen Alpen machten, und hinkletterten, wo kein Schweizer (die Gemsjäger ausgenommen,) niemals hingeklettert ist; badeten sie sich alle drey, jeden Tag mehr als einmal, mitten im Schweise in dem Wasser der Eisgebürge. [...] Sie bedienten sich nachher auch der kalten Bäder noch oft in Zürich bey ihren Spaziergängen an dem dasigen herrlichen See. Lavater gieng oft mit ihnen. Aber die reine, jungfräuliche, unschuldige Seele erschrack - sobald als die Stollberge etwas nakkendes erblicken ließen. Dem ungeachtet gab der arme Lavater den Bauern umher ein so schreckliches Aergerniß, daß sie ihn ohne Barmherzigkeit bey dem Consistorio in Zürich 84

Refugium schien gefunden. Die Stolbergs suchten abgelegene, einsame Orte auf und lasen, ganz nach Stimmung, die sich einstellte, je nachdem, ob sie sich in einer mehr idyllischen oder erhabenen Landschaft befanden, die Gesänge Homers oder Ossians - auch dies natürlich im Nachvollzug von Goethes Werther-Roman.2* Zurückgezogen von der großen Gesellschaft hingen sie einem archaischen Naturmythos an. In diesen Zusammenhang gehört der ambitionierte Versuch, ein Eremitendasein zu führen. Friedrich Leopold beteuert in einem Brief: »[...] käme ein Menschengesicht, so kröchen wir in unsere Höhlen, welche Menschengesichtern unersteiglich sind.«.29 An Voß schreibt Christian von Stolberg, daß sie »3 Wochen auf dem Lande bey Zürch in einer Bauerhütte zugebracht« hätten: »[...] das waren schöne Zeiten. Wir gingen aus, badeten im Strom, und See, aßen Milch und Früchte, und lasen im Homer und Ossian. —«30 Ein solches Leben wäre wohl auch an naturbelassenen Orten Deutschlands möglich gewesen, wenn nicht das Besondere darin bestanden hätte, daß ihnen die Bewohner des Landes dieses anspruchslose Dasein vorlebten. So berichtet Friedrich Leopold von einem Ausflug am Züricher See: »Zu Mittag aßen wir bei einem Landpfarrer, der uns sehr liebreich empfing und uns der Milch, der Butter und des Kalbfleisches, wie Abraham, reichlich vorsetzte.«31 Dieser Bezug auf einen der Erzväter des Alten Testaments ist keineswegs zufällig. Auch Goethes Werther hatte der »patriarchalischen Idee« angehangen und fern vom »Tumult« der Städte nach Plätzen gesucht, wo der Mensch noch »in glücklicher Gelassenheit den engen Kreis seines Daseins«32 durchmessen konnte: »Du kennst von Alters her meine Art, mich anzubauen, mir irgend an einem vertraulichen Ort ein Hüttchen aufzuschlagen, und da mit aller Einschränkung zu herbergen. Auch hier hab' ich wieder ein Plätzchen angetroffen, das mich angezogen hat.«33 Die Alpen waren für die Stolbergs der Ort, verklagen wollten, weil er öffentlich mit Wiedertäufern umgehe.« (Zimmermann, Zerstreute Blätter, 1799, S. 178f£). 28 Friedrich Leopold liebte die Bücher, »die ganz Kinder der Natur sind, wie mein alter kindlicher süßschwatzender Homer, der in seiner Einfalt so groß ist.« (Stolberg an Katharina von Stolberg, 7. Oktober 1775, in: Stolberg, Briefe, 1966, S.55). - Goethes Werther hatte Homers Epen mit einem »Wiegengesang« verglichen. (WA I, Bd. 19, S. 10). 29 Johann Friedrich Stolberg an Henriette Bernstorff, 11. (-13.) Juni 1775, in: Stolberg, Briefe, 1966, S. 48. 30 Stolberg an Voß, 18. Juli 1775, in: Die Grenzboten 40 (1881), 4. Quartal, S.206. - Hinzu kam noch die Bibel: »Denn nur die Bibel, Homer und Ossian gehen mit uns aufs Land.« (Stolberg an Henriette Bernstorff, 11. - [13.] Juni 1775, in: Stolberg, Briefe, 1966, S. 48). 31 Friedrich Leopold von Stolberg an die Schwester Henriette, 16. Juni 1775, in: Goethe, Der junge Goethe., 1909, S.270f. 32 WAI, Bd. 19, S. 20. 33 Ebd., S. 16. - Und in einem späteren Brief heißt es: »Wenn ich des Morgens mit Sonnenaufgänge hinausgehe nach meinem Wahlheim, und dort im Wirthsgarten mir meine Zuckererbsen selbst pflücke, mich hinsetze, sie abfädne und dazwischen in meinem Homer lese; wenn ich denn in der kleinen Küche mir einen Topf wähle, mir Butter aussteche, Schoten an's Feuer stelle, zudecke und mich dazu setze, sie manchmal umzuschüttein: da fühl' ich so lebhaft, wie die übermüthigen Freyer der Penelope Ochsen und Schweine schlachten, zerlegen und braten. Es ist nichts, das mich so mit einer stillen wahren Empfindung aus-

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wo die alttestamentarische Lebensweise fern von der verhaßten zivilisierten Welt möglich schien: »Liebster mir ekelt oft vor dem Leben ob ich gleich noch jung bin u: viele HerzensFreunde habe. Aber die Leute mit denen man so oft Leben muß! Könnten wir kleiner heiliger Haufe zusammen in Hütten leben, u: unsre Weiber unsre Heerde melken, u: wir mit Weib Kind u: dem herrlichen Vieh leben so wären wir glücklich.«34 Für die beiden Reisenden war die Schweiz das Land »der reinen Menschheit«,35 in dem das Leben von drei wichtigen Elementen bestimmt wurde: »der Natur, der Freiheit, der alten Einfalt«.36 Nach einer »lltägigen Pilgerschaft nach dem Gotthard u. in die ganz freien kleinen katholischen Kantons«37 glaubte Friedrich Leopold zu wissen, wo die besten Voraussetzungen für die Existenz der drei benannten Faktoren zu finden wären: »So wie die Natur in einem Kanton größer ist so auch die Freiheit, wie die Freiheit so der Muth u: die redliche Einfalt, immer in gleichem Verhältniß.«38 Die Geschichte der Urkantone führt ihn zu der Erkenntnis, daß Freiheit gebunden ist an Einfalt und Gottvertrauen. In mehreren Gedichten, die Friedrich Leopold während der Reise verfaßte, wird an Teil und die vielen anderen Kämpfer erinnert, die die Schweiz von den österreichischen Tyrannen befreiten.39 Deren Erfolge waren nur möglich, weil sie - auch wenn es ihnen unbewußt war - von göttlicher Hand geführt wurden. So war es auch Gott allein, der Teil die Kraft verlieh für die entscheidende Tat. »Er gab dem Knaben warmes Blut, Des Rosses Kraft des Adlers Muth, Im Felsennacken freien Sinn, Des Falken Äug' und Feuer d'rin! [...] Er wußte nicht, daß seine Hand, Durch Gott gestärkt, sein Vaterland Erretten würde von der Schmach Der Knechtschaft, deren Joch er brach!«40

füllte, als die Züge patriarchalischen Lebens, die ich, Gott sey Dank, ohne Affectation in meine Lebensart verweben kann.« (WA I, Bd. 19, S.39f.). 34 Friedrich Leopold von Stolberg an Philipp Christoph Kayser, 20. Oktober 1775, in: Stolberg, Briefe, 1966, S. 58. 35 Stolberg, Schreiben, 1776, S. 41. 36 Friedrich Leopold von Stolberg an Johann Martin Miller, 11. Oktober 1775, in: Stolberg, Briefe, 1966, S. 56. - Die drei Begriffe werden auch in den Briefen Stolbergs an Voß und an Henriette Bernstorff aneinander gestellt. Siehe Stolberg an Voß, 18. Juli 1775, in: Die Grenzboten, 40 (1881), 4. Quartal, S. 205 u. Stolberg an Henriette Bernstorff, ll.-(13.) Juni 1775, in: Stolberg, Briefe, 1966, S. 47. 37 Friedrich Leopold von Stolberg an Voß, 18. Juli 1775, in: Die Grenzboten 40 (1881), 4. Quartal, S. 206. 38 Ebd. 39 Vgl. Bei Wilhelm Teils Geburtsstätte im Kanton Uri, Das Rüsthaus in Bern und Die Trümmer. Alle drei Gedichte wurden in Lavaters Sammlung von Schweizerliedern aufgenommen. 40 Stolberg, Werke, Bd. l, 1827, S.97. 86

Stolberg griff den Befreiungsmythos auf, um die eigene Generation an die vorbildlichen Taten der alten Eidgenossen zu erinnern; an diesen sollten sie sich messen. Er selbst mußte sich in dem Gedicht Das Rüsthaus zu Bern eingestehen, daß er die Kraft »unsrer Väter« nicht mehr besitze: »Ich greife gleich nach Schwert und Speer; Doch Speer und Schwert sind mir zu schwer; Ich lege traurig ungespannt Den Bogen aus der schwachen Hand.«41

Stolbergs Briefe und Gedichte sind letztlich Zeugnisse einer Schweiz-Begeisterung, die das Ergebnis einer jugendlichen, inhaltlich diffusen Reaktion auf moderne Zeiterscheinungen darstellt, vergleichbar der Goethes im Werther. Es sei bemerkt, daß im Umfeld der Stürmer und Dränger auch der Versuch unternommen wurde, solchen euphorischen Darstellungen mit einer sachlich-kritischen Berichterstattung zu begegnen. Johann Georg Schlosser bedauert 1776 in einem zur Publikation vorgesehenen Brief an Heinrich Christian Boie,42 wie wenig er die Schweiz »dem Ideal gemäß gefunden habefn]«. 43 Er beklagt, daß der »Franzosen Geist«44 unter den Schweizern immer mehr Eingang finde. Doch noch schlimmer wiege: »Ich habe despotische Anstalten unter ihnen gesehn und Gesäze deren sich ein Despot schämen würde!«45 Ein Vergleich der Berichte macht deutlich, daß Stolberg nur das thematisierte, was seinen, auf alternative Lebenskonzepte ausgerichteten Intentionen entsprach; Schlosser nahm dagegen zu allererst einen moralischen Verfall wahr. Doch dieser Eindruck hat keinen Bestand; denn das Schreiben schließt mit einem umfassenden, euphorischen Bericht über eine Tagung der Appenzeller Landsgemeinde in Trogen. Hier fand Schlosser »unter der verzerrten französischen Kleidung und den entarteten Mannskörpergen noch Spuren alter Schweizergestalt«.46 Besonders faszinierte ihn der ehrwürdige Landamtmann: »Mein Äug hing mit dem wärmsten Kindesgefühl an dem alten Braunrock und an seinem Silberhaar; ich fing jedes Wort von ihm auf, wie ein Patriarchenwort [,..].«47 Als dieser sein Volk ermahnt, die errungene Freiheit zu ehren und zu schützen, ist Schlosser derart begeistert, daß seine Darstellung eine dithyrambische Verve bekommt: »Es ist das erhabenste, was noch ein Redner der Alten oder Neuern in einer solchen Versammlung gesagt hat, der Schlüssel zu aller Mannheit und Menschen= und Himmelstugend!

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Ebd., S. 98. Der Brief erschien auszugsweise im Deutschen Museum 1776, S. 650-654. 43 Johann Georg Schlosser an Heinrich Christian Boie, 11. Juni 1776, in: Briefe an Boie, 1904, S. 301. 44 Ebd., S. 305. 45 Ebd. 46 Deutschen Museum 1776, S. 650. 47 Ebd., S. 652. 42

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Freyheit ohne Wahrheit, ohne Tugend, ohne Mannheit, ohne Patriotismus, welch ein schändliches Phantom!«48 Im Unterschied zu Stolberg ist diese Begeisterung am politischen Sachverhalt orientiert und weit von dem Bedürfnis nach individueller Selbstbehauptung entfernt, wie es sich beispielsweise in dem Gedicht Der Felsenstrom zeigt, das Stolberg 1775 nach einem Besuch am Rheinfall verfaßt hat. Der Rhein erscheint hier als »unsterblicher Jüngling«,49 der mit furchtbarer Kraft Bäume ausreißt und Steine hinwegwälzt. Niemand vermag ihn in seinem Laufe aufzuhalten; doch der Sprecher weiß, was den eilenden »Jüngling« erwartet, wenn er zum »schweigenden See«50 geworden ist: »Noch strömest du wild, Wie dein Herz gebeut! Dort unten herrschen oft ändernde Winde, Oft Stille des Todes im dienstbaren See!«51

Mit großem lyrischem Pathos wird die Alternative von unbeschränkter Freiheit und einem Leben in »seidene[r] Ruhe [...] in den Banden der Knechtschaft«52 aufgezeigt. Stolberg ahnte wohl, daß letzterem nicht zu entgehen war. Spätestens Anfang 1776, bei Dienstantritt am Hofe des Lübecker Fürstbischofs, mußte er begreifen, daß auf Selbstbestimmung und ein naturnahes Leben, wie er es in der Schweiz kurzzeitig erfahren hatte, nicht zu hoffen war. Ernüchtert stellte er fest: »Gott, wie tief sind die Menschen gesunken, denen der Schöpfer Schwingen der Seele gab, daß sie aufflögen wie Adler! Schöne Adler, die zahm bei Hofe und im Hofe auf dem Misthaufen leben und ohne sich zu heben mit Flügeln schlagen, wenn höhern Orts pulle pulle gerufen wird!«53 Doch Stolberg verinnerlichte das Bild, das er von der Schweiz mitgenommen hatte; es war ihm stets gegenwärtig.54 Es ging ein in ein Ideenkonglomerat,55 mit dessen Hilfe es ihm fortan möglich war, sich zur eigenen, unbefriedigenden Situation fiktive Gegenwelten zu schaffen.56 Dies geschah z. B. in den Texten Die Insel und Numa, die in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre entstanden sind. Handelt es sich bei dem erstgenannten Werk um eine Idylle im antiken Gewand, so ist Numa ein Erziehungsroman, dessen »um einen dünnen historischen Faden«57 ge48

Ebd., S. 651. Stolberg, Der Felsenstrom, in: Stolberg, Werke, Bd. l, 1827, S. 106. 50 Ebd. 51 Ebd. 52 Ebd., S. 105. 53 Stolberg an Katharina Stolberg, 9. August 1776, in: Stolberg, Briefe, 1966, S. 76. 54 Noch 1796 bestätigt er dies: »Seitdem ich als Jüngling dieses Lieblingsland der Vorsehung besuchte, hab ich nie ohne innige Liebe daran gedacht [...].«(Stolberg an den Außen Stand in Bern, 20. März 1796, in: Stolberg, Briefe, 1966, S. 325). 55 Neben pietistischem Gedankengut sind es vor allem Ansichten Platons und Montesquieus, die sein Weltbild bestimmten. 56 Dazu siehe Theile, Aufschwung und Refugium, 1994, S. 5-34. 57 Stolberg an Voß, 18. Dezember 1787, in: Stolberg, Briefe, 1891, S. 193f. 49

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wundene Handlung den Leser in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts versetzt. Es kennzeichnet Stolbergs ungebrochene Begeisterung für die Schweiz, wenn er seinem jungen Helden einen längeren Aufenthalt in dem »Land der Freiheit u: der Unschuld«58 verordnet, damit dieser - z. B. in den Urkantonen - »den edlen Sinn der Einfalt u: stiller menschlicher Grosse«59 kennenlernen und sich zu eigen machen kann. Goethes Reise 1779 Goethes Äußerungen über die Schweiz nach der Reise 1775 erinnern nur noch bedingt an den Stürmer und Dränger. 1779 machte er sich erneut auf, um das Nachbarland zu besuchen, doch es sah einen anderen Goethe. Seine Lebenssituation hatte sich inzwischen grundlegend verändert. Er war noch im November 1775 an den Hof des jungen Fürsten Karl August nach Weimar gegangen, um zu probieren, wie ihm die »Weltrolle zu Gesichte stünde«.60 Anders als Stolberg befand er sich an privilegierter Stelle des Staates, so daß er hoffen durfte, die Umstände nach seinen Vorstellungen bestimmen zu können und nicht befürchten mußte, von ihnen beherrscht zu werden. Es bedurfte keiner Kompensationshandlung, solange er seine Ziele innerhalb des Herzogtums realisieren konnte. Die Wanderung durch die Schweiz 1779 unternahm er zusammen mit dem fürstlichen Freund Karl August als etablierter Hof- und Staatsmann,61 der von den anstrengenden Geschäften Abstand gewinnen wollte. An den Sturm und Drang erinnert zunächst nur noch Goethes Bedürfnis, sich exorbitanten Naturphänomenen auszusetzen, denn auch jetzt ist ihm die alpine Landschaft ganz so wie in dem Tagebuchgedicht von 177562 Nahrung und wichtiges Lebenselixier: »Hätte mich nur das Schicksal in irgend einer großen Gegend heißen wohnen, ich wollte mit jedem Morgen Nahrung der Großheit aus ihr saugen, wie aus einem lieblichen Thal Geduld und Stille.«63 Doch Goethe wollte sich jetzt vor allem mental mit den Naturgewalten messen, er beabsichtigt, ihnen ihre Geheimnisse zu entlocken, denn er weiß, »hier ist nichts Willkürliches, hier wirkt ein alles langsam bewegendes ewiges Gesetz«.64 Eine auf das Sensuelle verkürzte Aneignung der Natur, wie sie 1775 stattfand, befriedigt den Naturwissenschaftler Goethe nicht mehr. Nun war er auf das Erhabene der Landschaft vorbereitet und konnte der »Überfülle« der Erscheinungen, die sonst »die Seele bewegt und uns wollüstige Thränen ablockt«,65 ruhiger ent-

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Stolberg, Numa, 1968, S. 27 Ebd. 60 Goethe an Johann Heinrich Merck, 22. Januar 1776, in: WA IV, Bd. 3, S. 21. 61 Wenige Tage vor Reiseantritt war Goethe zum Geheimen Rat ernannt worden. 62 Später wurde der Text unter dem Titel Auf dem See veröffentlicht. 63 WA I, Bd. 19, S.225. 64 Ebd., S. 226. 65 Ebd., S. 225. 59

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gegentreten:66 »Mein Auge und meine Seele konnte die Gegenstände fassen, und da ich rein war, diese Empfindung nirgends falsch widerstieß, so wirkten sie, was sie sollten.«67 Es ist nahezu allein der Reiseverlauf, der an die Ambitionen der Stürmer und Dränger erinnert, als Kraftgenies und Selbsthelfer Grenzsituationen zu suchen und zu bewältigen:68 Die Wanderung zu den Savoyer Eisgebirgen, über das Hochplateau des Wallis und den Furkapaß bis zum Gotthard wurde im November absolviert, zum Teil unter widrigsten äußeren Bedingungen, wozu Kälte und Schneefall nicht wenig beitrugen.69 Goethe berichtet stolz, daß selbst die Bergführer von der »glücklich vollbrachten Expedition« anerkennend redeten und der Fremden »Geschicklichkeit im Gehen«70 lobten. Goethe betrachtete diese abenteuerliche Reise im nachhinein als »ein Meisterstück! eine Epopee!«71 Wilhelm Heinses Wanderungen 1780 Wilhelm Heinses Briefe und Tagebuchaufzeichnungen, die während einer Wanderung im Jahre 1780 entstanden sind, erinnern noch einmal an die Ausgelassenheit der Stürmer und Dränger aus dem Jahre 1775.72 Heinse beschreibt sich als einen Menschen, der »zu Fuß mit fröhlichem Muth und heiterer Seele« unterwegs ist und »sein[en] Reisebündel selbst trägt, wie Pythagoras und Plato«.73 Es sind bei ihm nicht allein und bei den Stolbergs74 und Goethe keinesfalls materielle Gründe, die

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Siehe Goethe im Gespräch mit Eckermann, 22. Februar 1824, in: Eckermann, Gespräche mit Goethe, 1956, S. 104. 67 WA I, Bd. 19, S. 224. 68 Goethe spricht 1823 rückblickend von den »unnützen Reisen in die Schweiz [...], da man glaubte, es sey was Großes gethan, wenn man Berge erklettert und angestaunt hatte.« (Goethe an Nees von Esenbeck, 31. Oktober 1823, in: WA IV, Bd. 37, S. 258). 69 »Morgen soils nach dem Savoyer Eisgebürgen und von da durch ins Wallis. Wenn es dort schon so aussähe wie man es uns hier mahlt so wärs ein Stieg in die Hölle. Man kennt aber schon die Poesie der Leute auf den Sophas und in den Capriolets. Etwas zu leiden sind wir bereit, und wenn es möglich ist im Dezember auf den Brocken zu kommen, so müssen auch anfangs November uns diese Pforten der Schröcknisse auch noch durchlassen.« (Goethe an Charlotte von Stein, 2. November 1779, in: WA IV, Bd. 4, S. 117). - Auch das Überqueren des Furka-Gebirges schien gefahrvoll: »Ich bin überzeugt, daß einer, über den auf diesem Weg seine Einbildungskraft nur einigermaßen Herr würde, hier ohne anscheinende Gefahr vor Angst und Furcht vergehen müßte.« (WA I, Bd. 19, S. 291). 70 WA I, Bd. 19, S. 294. 71 WA III, Bd. l, S. 105. - In den Tag- und Jahresheften spricht Goethe von »unserer geselligen Irrfahrt«. (WA I, Bd. 35, S. 7). - Wieland berichtet über Goethes Vortrag seiner Reiseaufzeichnungen: »Es war [...] ein eigentlicher Feldzug gegen alle Elemente, die sich ihnen entgegenstellten.« (Wieland an Merck, 16. April 1780, in: Wieland, Briefwechsel, Bd. 7,1,1992, S. 277). 72 Zur Einordnung Heinses in den Sturm und Drang siehe Schramke, Wilhelm Heinse, 1986, S. 23-40 u. Dick, Der junge Heinse in seiner Zeit, 1980, S. 165-182. 73 Heinse an Jacobi, 29. August 1780, in: Heinse, Schriften, 1838, S. 26. 74 Christian von Stolberg betont ausdrücklich, daß sie als Wanderer die Schweiz bereisten: »Wir kommen jetzt von einer Reise zu Fuß nach Hause, und werden bald eine viel größere 90

zu dieser Reiseform führten. 75 Wandern bedeutete, unabhängig zu sein, die Natur unmittelbar zu erleben und nur auf sich selbst gestellt, den physischen Anforderungen stand zu halten, zudem hoffte man, auf diese Weise leichter Kontakt zu der einheimischen Bevölkerung zu bekommen.76 Eine privilegierte Reiseart, wie sie im gleichen Jahr beispielsweise Karl Ludwig von Knebel in der Schweiz praktizierte,77 war dem hinderlich. Heinses erstes Reiseziel war der Gotthard; den Aufstieg erlebt er als Befreiung und Subjekterweiterung. Erst die »wahre große lebendige Natur« macht ihm bewußt, daß das meiste, was er bislang kennengelernt hatte, »klein, verfälscht und verzerrt«78 gewesen war. Der mittellose deutsche Intellektuelle, den sein Streben nach Unabhängigkeit in immer neue finanzielle Bedrängnisse gebracht hatte, sah sich hier von jeglicher materiellen Erdgebundenheit befreit: »Gottes Schönheit dringt in all mein Wesen, ruhig und warm und rein; ich bin von allen Banden gelöst, und walle, Himmel über mir und Himmel unter mir, im Element der Geister wie ein Fisch im Quelle, Seligkeit einathmend und ausathmend.«79 Dieses Glücksempfinden konnte sich einstellen, da Heinse glaubte, daß die Gebirge, in Zeit und Raum unermeßlich, Gottes Allmacht repräsentierten: »Dieß Anschauen war das Anschauen Gottes, der Natur ohne Hülle, in ihrer jungfräulichen Gestalt; Alles groß und rein, alle die ungeheuren Massen daliegend in unendlicher Majestät!«80 Da »Herz und Geist und alle Sinne«81 an diesem exorbitanten Erlebnis beteiligt waren, fiel es Heinse sehr schwer, dieses Erfahrungskonvolut zu verarbeiten, geschweige darzustellen.82 Wenn er es dennoch versuchte, geschah es ausnahmslos in sakralem

auch zu Fuß antreten.« (Christian Stolberg an Voß, 18. Juli 1775, in: Grenzboten 1881, 4. Quartal, S. 206). 75 Einen entscheidenden Anstoß dafür gab Jean-Jacques Rousseau im 4. Buch seines Emile. Hier wird die Reise zu Fuß als ein Mittel beschrieben, mit dem der zunehmenden Entfremdung des Menschen von der Natur begegnet werden kann. Siehe Rousseau, Emile oder Ueber die Erziehung, 1945, Bd. 2, S. 441^143. - Heinse nahm diese Gedanken auf, denn er schreibt: »Ich halte das Reisen zu Fuß [...] für die einzige wahre Art, zu Land zu reisen: im Wagen bleibt's ein abenteuerlich Stubensitzen [...].« (Heinse, Werke, Bd. 10,1925, S. 229). 76 »Ein jeder Reisender, der zu Fuß, nur nicht mit beleidigender Pracht, [...] kommt, kan von Wohnung zu Wohnung das ganze Land besuchen, und wird ohnentgeltlich Obdach und Bruderarme finden.« (Robert, Reise in die dreyzehn Cantone, Theil 2,1791, S. 206). 77 Knebel geriet »in eine eigentümliche Verlegenheit«, weil er am Morgen keine männliche Person im Hause fand, die sein Gepäck hätte tragen können, so daß die älteste Tochter der Wirtsleute die Last auf sich nehmen mußte. (Knebel, Schweizerwanderungen, 1835, S. 177). 78 Heinse an Fritz Jacobi, 29. August 1780, in: Heinse, Schriften, 1838, S. 26. 79 Ebd., S.27f. 80 Heinse an Fritz Jacobi, 10. September 1780, in: Heinse, Werke, Bd. 10,1925, S. 39. 81 Ebd. 82 »[...] die Scenen wechseln zu einem unendlichen Schauspiel. Ich werde mir selber zum Abgrund, und kann mich nicht fassen, etwas wiederzugeben.« (Heinse an Jacobi, 29. August 1780, in: Heinse, Schriften, 1838, S.26). 91

Wortschatz,83 nur dieser vermochte seine »heiligen Gefühle«84 einigermaßen angemessen wiederzugeben. Auf seinen Wanderungen durch die Innerschweiz und Graubünden lernte er das Leben der Älpler kennen, »das Volk der Unschuld und der Freude«, wo »jeder in seiner, von dem ändern fünfzig Schritte wenigstens weit entfernten Hütte, Hausvater, und Unterthan und König«85 ist. Für Heinse sind diese Gegenden »das erste Paradies der Welt«.86 Die Menschen haben noch die »Kraft und Stärke«87 ihrer Vorfahren, »ihre Nerven scheinen Stahlgelenke zu sein«. »Keine Falte im Gesicht, alles so straff und festfleischig. Ihre Mienen und Gebehrden und ihr Blick ist langsames Metallfeuer, Unbiegsamkeit und trotziger Enthusiasmus.«88 Die robuste Statur und das biedere Auftreten lassen an eine körperlich schwere, monotone Arbeit der Älpler denken, doch Heinse weiß zu berichten, daß ihr Dasein einer vollkommenen Idylle gleiche: »Sie haben gar wenig Arbeit, und leben sehr bequem. Sie thun weiter nichts, als daß sie ihr Vieh melken, und Käse machen, und das Heu mähen und einsammeln, und Korn und Wein für ihren Ueberfluß eintauschen. Die übrige Zeit bringen sie mit Schießen nach der Scheibe, und Singen und Tanzen zu.«89 Da es die Hirten bislang verstanden hätten, beschützt von hohen Bergen, ihre althergebrachten Tugenden und demokratischen Daseinsformen zu bewahren, lebten sie noch immer in einer Sozietät, die den Vergleich mit dem »Athen zu den Zeiten des Themistokles«90 nicht zu scheuen brauchte. »Werthers Reise«91 Heinses Schweiz-Bild ist Höhepunkt und Abschluß einer literarischen Beschäftigung mit dem Nachbarland durch die Stürmer und Dränger. Was nun folgt sind Texte, in denen an diese Begeisterung erinnert wird. Als Goethe 1779 nach Abschluß seiner Hochgebirgswanderung wieder in Weimar eingetroffen war, hätte man erwarten können, daß er einen reminiszenten Bericht, »ein Monument dieser glücklich vollbrachten Reise«,92 erstellen würde. So-

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»Heiligthümer der Natur»(Heinse an Fritz Jacobi, 10. September 1780, in: Heinse: Sämmtliche Werke, Bd. 10, 1925, S.39); »Vor himmlischer Freude bin ich fast vergangen [...].« (Heinse an Jacobi, 29. August 1780, in: Heinse, Schriften, 1838, S. 27); »Man ist so recht seelenvoll in stiller lebendiger Natur, so recht im Heiligthum empfindungsvoller Herzen.« (Ebd.); »Gottes Schönheit dringt in all mein Wesen»(Ebd.); »an den heiligen Denkmalen der Stifter der Freyheit vorbey»(Heinse an Fritz Jacobi, 10. September 1780, in: Heinse, Werke, Bd. 10,1925,5.40). 84 Heinse an Jacobi, 26. August 1780, in: Heinse, Schriften, 1838, S. 34. 85 Ebd. 86 Ebd. 87 Ebd. 88 Heinse an Jacobi, 26. August 1780, in: Heinse, Schriften, 1838, S. 34. 89 Ebd., S. 35. 90 Heinse an Jacobi, 29. August 1780, in: Heinse, Schriften, 1838, S. 26. 91 WA III, Bd. 2, S. 40. 92 Goethe an Johann Kaspar Lavater, Ende November 1779, in: WA IV, Bd.4, S. 141. 92

gleich nach der Rückkehr sichtete und überarbeitete er die mitgebrachten Aufzeichnungen sowie die Briefe, die er während der Reise an Merck, Knebel, Lavater und Charlotte von Stein geschrieben hatte. Vieles deutete darauf hin, daß Goethe eine Veröffentlichung seiner Aufzeichnungen anstrebte. Aber zunächst kursierten nur die redigierten Schriftstücke am Weimarer Hofe. Die »einzelnen im Moment geschriebenen Blättchen und Briefe[n]«, die »durch eine lebhafte Erinnerung komponirt«93 worden waren, erfüllten den Zweck, den Daheimgebliebenen wie Anna Amalia oder Charlotte von Stein die Unternehmung anschaulich zu vergegenwärtigen. Als Goethe wenige Monate später, im Oktober 1780, von der in Lausanne lebenden Marquise Branconi gefragt wurde, ob er ihr die Briefe, die er aus der Schweiz geschrieben hatte, zur Lektüre überlassen könnte, antwortete er ihr: »Wie ich Ihnen meine Schweizer Briefe wollte abschreiben lassen, fand ich sie noch so mangelhafft, dass ich es aufschieben musste. Sobald als möglich will ich sie noch einmal durchsehn, und sie sollen Ihnen an einem Winterabende aufwarten.«94 Die so kritisch beurteilte Reisebeschreibung blieb zunächst unverändert und unveröffentlicht liegen. Es vergingen siebzehn Jahre, bis die inzwischen wohl schon vergessenen Dokumente wieder in Goethes Blickfeld gerieten. Als er 1796 von Schiller gebeten wurde, wie versprochen für den aktuellen Jahrgang der Hören Beiträge zu liefern, sah er sich veranlaßt, die »alten Papiere«95 durchzusehen; dabei fielen ihm die Manuskripte von 1779 in die Hand. »Um wenigstens meinen guten Willen zu zeigen, schicke ich hier eine sehr subjective Schweizerreise.«96 Diese Anzeige wiederholt die schon bekannte kritische Distanz zum eigenen Werk; nun akzentuierte er dessen subjektive Darstellungsweise als Mangel. Aus der Perspektive des Jahres 1796 stellten diese Reisebriefe für Goethe »wunderliches Zeug« dar, denn sie enthielten vor allem »individuelles und momentanes«.97 Im ästhetischen Selbstverständnis des Klassikers gehörte dieses Werk in die Nähe seiner Sturm-und-Drang-Dichtungen. »[...] wenn man noch irgend ein leidenschaftliches Mährchen dazu erfände«,98 so Goethe an Schiller, würde der Text an ideeller Konsistenz gewinnen und - dergestalt verbessert - weit eher seinen Ansprüchen genügen. Obgleich Schiller auf diesen Vorschlag nicht einging, begann Goethe sofort, an dem »Mährchen« zu schreiben. Die Eintragung im Tagebuch vom 18. Februar 1796 belegt, welchen Anknüpfungspunkt Goethe wählte. Es heißt da lapidar: »fing an zu dictiren an Werthers Reise.«99 In der Werkausgabe von 1808 wurde diese Schrift mit

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Goethe an Johann Heinrich Merck, 7. April 1780, in: WA IV, Bd. 4, S. 201. Goethe an Marquise Branconi, 16. Oktober 1780, in: WA IV, Bd. 4, S. 321. 95 Goethe an Schiller, 12. Februar 1796, in: WA IV, Bd. 11, S. 27. 96 Ebd. 97 Goethe an Schiller, 12. Februar 1796, in: WA IV, Bd. 11, S.27. 98 Ebd. 99 WA III, Bd.2, S.40. 94

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dem Titel Briefe aus der Schweiz. Erste Abteilung100 der Reisebeschreibung vorangestellt. Obgleich nun 1796 das »leidenschaftliche Mährchen« in den Hören nicht erschien, wird Goethes Absicht deutlich, die Reisebeschreibung aufgrund ihrer Unzulänglichkeiten als einer früheren literarischen Epoche zugehörig auszuweisen. Interessant ist zudem, daß Goethe die Werther-Figur und die Schweiz in einen Zusammenhang bringt, und somit rückblickend zu bestätigen scheint, daß das Nachbarland für die Stürmer und Dränger der ersehnte alternative Lebensraum sein konnte. Um so mehr verwundert es zunächst, daß Goethes Werther der neunziger Jahre die Schweiz überaus kritisch betrachtet. Ob dieses Urteil dem veränderten Blick des Klassikers Goethe auf die Eidgenossenschaft und auf sein früheres Bild von ihr geschuldet ist oder ob der Autor damit nur einer Konzeption Genüge tat, die zur Darstellung eines mit seinem Leben unzufriedenen, sich eingeschränkt fühlenden Charakters zwang, kann nicht eindeutig beantwortet werden. In seiner Autobiographie erinnert sich Goethe, daß er den »Gegensatz der schweizerischen löblichen Ordnung und gesetzlichen Beschränkung mit einem solchen, im jugendlichen Wahn geforderten Naturleben zu schildern gesucht«101 habe, wobei ihm möglicherweise die biederen Tugendwächter Zürichs vor Augen standen, die 1775 das Nacktbaden der angereisten Jünglinge verhindern wollten. Das »Fragment von Werthers Reisen«,102 angelegt, die Persönlichkeitsstruktur des Protagonisten post festum aufzuzeigen,103 thematisiert zwei Problemkreise. Zum einen handelt der Text vom Dilettantismus des kunstbegeisterten Werther,104 zum anderen beschreibt es dessen diffuse Sehnsucht nach Unabhängigkeit, wobei der Autor bestreitet, daß sich diese wie so oft behauptet - bei den Schweizern finden ließe: »Frei wären die Schweizer? frei diese wohlhabenden Bürger in den verschlossenen Städten? frei diese armen Teufel an ihren Klippen und Felsen? Was man dem Menschen nicht alles weiß machen kann!«105 Goethe zerstört den Mythos von der freien Schweiz, der als »ein altes Mährchen in Spiritus aufbewahrt« und »immer fort, [...] bis zum Überdruß«106 weitererzählt, die Kräfte lahme, statt sie zu entbinden. Hat sich doch unterdessen wieder ein »Schwärm von kleinen Tyrannen durch eine sonderbare Wiedergeburt« an die Macht gebracht; aber die sich so frei wähnenden Schweizer sitzen unbeirrt

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Zur Entstehungsgeschichte, zum Ideengehalt und zur Forschungssituation siehe Müller, Briefe aus der Schweiz, 1997, S. 271-278. - Siehe auch Friedrich, Der Enthusiast und die Materie, 1991. 101 WA I, Bd. 19, S. 136. 102 Ebd. 103 Der Text sollte »das Herankommen Werthers bis zur Epoche, wo seine Leiden geschildert sind, einigermaßen darstellen und dadurch gewiß den Menschenkennern willkommen sein«. (WA I, Bd. 29, S. 137). 104 Vaget, Goethes Briefe aus der Schweiz, 1966, S. 66-84. -1799 beschäftigte sich Goethe eingehend mit der Problematik. Siehe Über den sogenannten Dilettantismus oder die praktische Liebhaberei in den Künsten, in: WA I, Bd. 47, S. 299-326. 105 WA I, Bd. 19, S. 197. 106 Ebd., S. 198. 94

»hinter ihren Mauern, eingefangen von ihren Gewohnheiten und Gesetzen, ihren Fraubasereien und Philistereien«,107 und unternehmen nichts. Aber auch die Natur kann Werthers Autonomiebestrebungen nicht binden, denn er empfindet ihr gegenüber die eigene physische Begrenztheit nur um so deutlicher. »Soll ich denn nur immer die Höhe erkriechen, am höchsten Felsen wie am niedrigsten Boden kleben, und wenn ich mühselig mein Ziel erreicht habe, mich ängstlich anklammern, vor der Rückkehr schaudern und vor dem Falle zittern?«108 Solcherart selbstquälerische Verzweiflung an der beschränkten menschlichen Natur, hier angesichts der Schweizer Alpen formuliert, findet sich in den Aufzeichnungen zu den Reisen von 1775 und 1779 nicht, sie zeigt sich nur bei der Werther-Figur von 1796.109 Aus der Perspektive der neunziger Jahre sah Goethe für sie in der Schweiz keine Lebensalternative. Karl Gottlob Küttners Werther-Reminiszenzen Ganz anders erfolgt die Auseinandersetzung mit dem Werther bei Karl Gottlob Küttner in den Briefen eines Sachsen aus der Schweiz· Im Verlaufe eines mehrjährigen Aufenthalts von 1776 bis 1783 schickte der Reisende zahlreiche Briefe nach Leipzig an seinen Freund, der sie redigierte und 1785/1786 in drei Bänden herausgab. Der Autor hatte sich über die Darbietungsform hinaus den Ideengehalt von Goethes Werk zu eigen gemacht. Bis hin zur Diktion der Briefe und Tagebuchaufzeichnungen wurde dem Vorbild gefolgt. Auch Küttner fand in der Schweiz zunächst all das, was die Idylle von Wahlheim ausmachte. Schon der Bericht über die ersten Ausflüge in die nähere Umgebung von Basel läßt erahnen, daß der Reisende in der Schweiz die Einsamkeit finden wird, der er bedarf, um sich der Natur in Muße hingeben zu können: »[...] hier kann ich mich ununterbrochen meinen Träumen und einer gewissen süßen Schwärmerey überlassen, die immer mehr über mich gewinnt, jemehr ich sie nähre. Da zieh ich umher am majestätischen Rheine, labe mich in den lieblichen Gegenden an der Birs, oder lagere mich an einem kleinen Bache. Dann ersteige ich einen Hügel, nehme Besitz von den weiten Gefilden umher, und fliege mit Adlersflügeln über jene fernen Berggipfel hinweg, deren sanftes Blau meinem Auge so wohl thut.«110 Küttner sucht das umfassende Naturerlebnis; er will im Erhabenen, aber auch wie Goethes Werther im »Wimmeln der kleinen Welt [...] die Gegenwart des Allmächtigen«111 erfahren.112 Wie dieser nutzt Küttner die schönsten Stunden des Ta107 108

Ebd.

Ebd., S. 199. »Welche Begierde fühl' ich, mich in den unendlichen Luftraum zu stürzen, über den schauerlichen Abgründen zu schweben und mich auf einen unzugänglichen Felsen niederzulassen.« (WA I, Bd. 19, S. 199). Vgl. dazu Werthers Brief vom 18. August, in dem mit ähnlichem Bildmaterial gearbeitet wird. (WA, Bd. 19, S.74ff.). 110 Küttner, Briefe eines Sachsen, Theil l, 1785, S.44 111 WA I, Bd. 19,8.8. 112 »Hier ist eine Regheit; eine Beweglichkeit in der Natur, die sich nicht beschreiben läßt; al109

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ges, um weit vor der Stadt die Natur zu genießen. In Anlehnung an Werthers Brief vom 10. Mai schreibt er: »Da lieg' ich im Grase und träume, oder lese manchmal und schau' oft auf nach dieser und jener Seite, und unaussprechliche Wonne ist um mich her. Der Bach murmelt, die Obstbäume auf der Wiese ertönen vom Gesang der Vögel, und im Grase um mich her rührt sich eine halb unsichtbare Welt.«113 Küttner fühlt sich ihr nah: »[...] sie ist lebendig für mich, spricht mit tausend Zungen in mein Herz, nährt mich, füllt mich, ist mir alles. In ihr treibt meine Fantasie, und bildet sich selbst eine Welt [.. .].«m Zugleich entdeckt er in der Schweiz »die Züge patriarchalischen Lebens«,115 die auch Werther suchte und in Wahlheim vorfand: »Rings um mich liegen auf allen Bergen Sennhöfe oder Güter, die entweder einem Herrn aus der Stadt oder einem Landmann gehören, der hier mit seinen Kühen lebt, die Wiesen besorgt, Käse macht, und so das Leben unserer Urväter führt. [...] Auch kehre ich in einer dieser Hütten ein, esse schwarzes Brod und Butter und trinke Milch.«116 Solche Gegenden werden ihm zum »Paradis«;117 denn sie entsprechen der Lebenswelt der »alten frommen Patriarchen«.118 Küttner verweist in diesem Zusammenhang explizit auf Goethes Text: »Allemal fällt mir bey solchen Gegenden die Stelle ein: Da lebt die patriarchalische Idee so lebhaft um mich, wie sie alle die Altväter am Brunnen Bekanntschaftmachen undfreyen sc.«n9 Zu der Begeisterung, die der Landschaft und der patriarchalischen Einfalt ihrer Bewohner entgegengebracht wird, kommt der Hymnus auf deren Freiheit. Küttner sieht diese vor allem in der Abwesenheit von Bedrückung und Ausbeutung. Der Landmann kann sich sicher sein, »daß das, worauf er arbeitet und pflanzt, und was er ärntet, sein ist, und daß sein Schweiß nicht für Zollbediente, Accise und Steuer

les scheint zu leben, und sich zu rühren, ohne von seiner Stelle zu weichen. Mich dünkt, ich betrete mit jedem Schritte, den ich fortrücke, einen heiligen Boden, der die Wohnung irgend einer Gottheit ist [...]. [...] Mich dünkt, ich merke die Hand dieser Gottheit in der vollen immer regen Vegetation; ich höre sie lispeln im Wehen der Lüfte und in den bewegten Waldgipfeln; ihr Odem ist reine Luft, und mit eigner Hand schüttet sie ihre Krystallwasser von Bergen und Felsen herab.« (Küttner, Briefe, Theil 2,1785, S. 125f.). 113 Küttner, Briefe, Theil l, 1785, S. 114. 114 Ebd., S.45. 115 WA I, Bd. 19, S. 40. 116 Küttner, Briefe, Theil l, 1785, S.SOf. 117 Ebd., S. 76. 118 Ebd. - »Es ist eine Freude, das ganze Heer [die Arbeiter auf der Senne - U.H.] essen zu sehen! Der Großvater sitzt ob an, betet, seine lederne Kappe in der Hand; jezt fährt er in die ungeheure Schüssel und alles ihm nach.« (Küttner, Briefe aus der Schweiz, Theil 2,1785, S. 248). - Auch bei der Beschreibung eines kleinen Tals in der Nähe von Guttannen kommt Küttner auf die alttestamentarische Lebensweise der Bewohner zu sprechen: »Da zeigt mir meine Einbildungskraft bald griechische Hirten, bald die einfache Würde unserer Erzväter, da erwacht in mir die patriarchalische Idee u.s.w.« (Küttner, Briefe, Bd.2, 1785, S.124£). 119 Küttner, Briefe, Theil l, 1785, S. 76.

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ihm die Stirne herabfließt«.120 Der Reisende freut sich über die Menschen, die selbstbewußt und stolz auf ihre demokratischen Rechte verweisen.121 Durchaus mit Blick auf Werthers deprimierende Erfahrungen am Hofe beschreibt Küttner, wie frei von allen Reglementierungen Mitglieder und Gäste in der Helvetischen Gesellschaft in Schinznach zusammenkommen: »Einer stellt den Ändern, ohne viel Redens, ohne Ceremoniel vor, und in kurzer Zeit mag ein jeder alle Ändern kennen. - Die Gesellschaft theilt sich in viele Partien, zu denen man sich schlägt und sie wieder verläßt, wie man will; man ist ganz frey, und lebt so ungezwungen, daß sich einer, der es nicht gesehen hat, schwerlich einen Begriff davon machen kann.«122 Der erste Band von Küttners Reisebeschreibung mußte bei den Lesern den Eindruck hinterlassen, ein Stürmer und Dränger, der sich die Ideen Werthers zu eigen gemacht habe, suche in der Schweiz nach der Idylle von Wahlheim. Doch schon aus einigen Briefen des Jahres 1776 spricht, wenngleich noch sehr zurückhaltend, die Befürchtung, daß bei genauerer Betrachtung der eidgenössischen Wirklichkeit Urteile revidiert bzw. relativiert werden müßten. Auf einer Alp sieht Küttner den Bauern bei der Heuernte zu. Er ist davon überzeugt, daß es ihnen Vergnügen bereitet, Arbeiten zu verrichten, die »das Geschäfte unserer ersten Väter«123 waren. Gespräche mit den Landleuten bringen ihn aber zu der Erkenntnis, daß ihnen dergleichen Empfindungen fremd sind. Er hört, »wie gar mancher das glückliche Herrnleben preist und mit der Natur hadert, daß sie ihn zum Sennen erschuf — ach! dann seh

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Ebd., S. 91. »Und die Leute - gar nicht zurückhaltend, wie gewöhnlich Landleute sind - offenherzig und frey strecken sie einem die Hand entgegen und zeigen eine unschuldige Freude, daß man sich um ihre Sachen bekümmert. [...] Sie wissen, daß sie Bürger, [...] daß sie ein freyes Volk sind [...]»(Ebd., S.60); »Eine Bemerkung, die ich fast allgemein gemacht habe: die Landleute in der Schweiz sind himmelweit von denen in Deutschland unterschieden; überall mehr Freiheit, Offenherzigkeit und ungezwungenes Wesen [...].« (Ebd., S.78f.); »Sonderbar kommts einem doch vor, wenn ein Bauer in die Stube eines republikanischen Hauptes tritt, ganz frey ihm die Hand schüttelt, sich dann bey der Tafel neben ihn sezt, und so mit der Gesellschaft speist und discutirt.« (Ebd., S. 60). 122 Ebd., S. 84. - »Zur Mahlzeit wird eine Glocke geläutet, und da eilt Jedermann in einen großen Saal, wo wir alle zusammen an Einer Tafel speisen. [...] Man sezt sich, wie man will und wie man kömmt.« (Ebd., S. 87); »Auf den Bällen ist weder ein Ceremonienmeister, noch ein befehlender Direktor, noch Verordnungen und Regeln, nach denen sich die Gesellschaft zu richten hätte. Ja es ist nicht einmal eine Ordnung für die Folge der Tänze. Daher geschieht es denn, daß oft einer nach diesem, der andere nach einem ändern Tanze zu den Musikanten schreyt [...].« (Ebd., S.233). - Küttner findet in den Wirtshäusern fast überall »eine öffentliche Tafel, die gewöhnlich sehr wohl besezt ist, und an der man so ziemlich überall einen Gulden oder fünfzehn Batzen bezahlt. Man trift da oft sehr gute Gesellschaft, seitdem Leute von Stande sich kein Bedenken mehr machen, sich ohne Unterschied da niederzusetzen, wo sie oft einen angenehmen und interessanten Nachbar finden. Selbst viele Frauenzimmer ziehen diese öffentliche Tafeln ihrem Zimmer vor, wo sie, nebenher, das doppelte bezahlen müßten.« (Ebd., S. 269). 123 Küttner, Briefe, Theil 2,1785, S.253.

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ich mit Trauern in die Welt, weine, daß es doch überall wo fehlen muß, und lerne die gewaltige Weisheit: daß die idealische Welt eine andere ist als die wirkliche«.124 Sukzessive gelangt Küttner zu der Erkenntnis, daß das Land facettenreicher ist, als er und viele seiner deutschen Leser zunächst angenommen haben.125 Mit großem Bedauern muß er sich eingestehen, »daß diese schönen Bilder, diese süßen Träume, diese wonnige Gefühle und Ahndungen so oft gestört werden, durch das, was alle Weisen so sehr rühmen, durch Wahrheit und Wirklichkeit! Die Alpenthäler sind nicht mehr das, was sie in den Dichtern scheinen [.. .].«126 Es fällt dem Reisenden sichtlich schwer, von den liebgewonnenen Schimären abzulassen.127 Denn er versucht trotzig, seine idealisierende Sicht zu rechtfertigen: »[...] warum sollte ich meiner Einbildungskraft das süße Vergnügen versagen, auf ihrer schönsten Seite zu weilen? Warum sollt ich meinem Herzen nicht gütlich thun, indem ich ihm das beste Bild vorlege, das sich davon machen läßt?«128 Diesen Weg des Selbstbetrugs verfolgt Küttner nicht weiter, was die literarische Kritik lobend anmerkt: »Er gieng mit Wertherschen Ideen genährt aus Sachsen, er hatte sich aus Dichtern eine Welt geschaffen, und fand die Würkliche hernach so ganz anders. Die Veränderungen, die daraus nach und nach in seiner Denkart entstanden sind, beschreibt er, ohne sie beschreiben zu wollen [.. .].«129 Damit hatte auch Küttner in einem von der Literaturgesellschaft stark beachteten Werk Abschied genommen von der Vorstellung, Werther - die exemplarische literarische Gestalt des Sturm und Drang - hätte in der Schweiz die ihm gemäße Lebenswelt finden können. Der Leipziger Reiseautor deutet in seinem Werk zugleich an, wie ein alternativer Aneignungs- und Darstellungsmodus zur emphatischen Deklaration von Freiheit, Natur und Einfalt aussehen könnte. Denn im zwei124

Ebd., S.253f. »Im Auslande denkt man sich immer die Schweiz als ein Land, und sezt also Einheit des Interesses voraus. Die Schweiz aber besteht aus einer Menge kleiner Staaten, deren Verfassung gar nicht die nämliche, und deren Interesse unter einander oft so verschieden ist, als das der verschiedenen deutschen Fürsten.« (Ebd., S. 178f.). 126 Ebd., S. 125. 127 »Meine Aufmerksamkeit wurde besonders durch eine Menge kleiner Hütten angezogen, die auf den Wiesen umher zerstreuet sind, um das Heu darin aufzubewahren, und so ein malerisches, so ein schäferisches Ansehen haben, daß es für mich unmöglich war, hier nicht an eine realisirte Idylle zu denken. Freylich sagt man, daß das im Leben ganz anders ist [...].«(Ebd., S.56). 128 Ebd., S. 125. 129 Ephemeriden der Litteratur und des Theaters 2 (1785), S. 31. - »Wir haben schon bey der Anzeige des ersten Theils angemerkt, daß der Verf. als er nach der Schweiz ging, ein wenig wertherisirte, und daß eben dieses, da seine Briefe nicht zum Druck bestimmt waren, und er also darin eben sowohl sein ganzes Herz ausschüttet, als die gemachten Bemerkungen seinem Freunde ohne Rückhalt mittheilt, dem Werke ein nicht gemeines Interesse giebt. Es war natürlich, daß Hr. Küttner die Welt anders fand, als er sich sie gedacht hatte, und daß mit dieser Erkennung auch alle seine Begriffe von Menschen und von Menschenschicksal sich ändern mußten. Hiedurch ändert sich denn auch nach und nach seine Schreibart, die immer männlicher und kräftiger wird.« (Ephemeriden der Litteratur und des Theaters 4 [1786], S. 173). 125

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ten und dritten Band seiner Reisebeschreibung unternimmt Küttner eine kritische Sichtung der schweizerischen Verhältnisse.130 Das Bedürfnis, das Nachbarland als Refugium zur gefühlsgeleiteten Selbstfindung und Kompensation in Anspruch zu nehmen, bestand weiterhin; die Wahrnehmung wurde dabei auf die Erscheinungen eingeschränkt, die den mitgebrachten Vorstellungen weitestgehend entsprachen.

4.1.2 Die Favorisierung des Hirtenlandes Im Jahre 1777 erschien bei dem Sturm und Drang-Verleger Johann Friedrich Weygand in Leipzig die deutsche Übersetzung von M. Ruchets Delices de la Suisse. Johann Heinrich Friedrich Ulrich wies auf dem Titelblatt darauf hin, daß er das Original frei übertragen, berichtigt und vermehrt habe. In der Vorrede teilt er zudem mit, er sei »bemüht gewesen, dem deutschen Publikum ein Werk zu liefern, welches nach Maßgebung der Umstände eine Art von Handbuch über eine der schönsten Provinzen Europens abgeben kann«.131 Ruchet hatte ursprünglich das Werk mit dem Ziel verfaßt, die Vorurteile, mit denen seine Landsleute noch immer der Alpenrepublik begegneten, zu revidieren. Dies sei nur möglich, wenn man ihnen Kenntnisse über das Land vermittelte. Noch wüßten viele Franzosen nicht, ob die Schweizer »so leben, wie andre Menschen; ob sie nakt, oder bekleidet gehn; - ob sie in Häusern oder in Höhlen wohnen; - ob sie wie Menschen reden, oder unvernehmlich, gleich den Thieren auf dem Felde schreyen und heulen«.132 Der geschäftstüchtige Verleger Weygand und sein Übersetzer erkannten, daß das materialreiche Werk eine gute Grundlage darstellte, um auch den interessierten deutschen Lesern Kenntnisse über das Nachbarland zu vermitteln. Um dem Buch den Charakter eines Kompendiums zu geben, wurden aus allen verfügbaren Reisebeschreibungen Ergänzungen hinzugefügt, ohne die Angaben auf ihre Richtigkeit zu prüfen. Oft wurden nicht einmal deren Quellen angegeben. Die literarische Kritik hat das Werk mit dem verkaufsbefördernden Titel Über das Interessanteste der Schweiz als reine Verlagsspekulation abgetan.133 Im Teutschen Merkur schrieb 1778 130

»Obgleich sein Verstand, durch jugendliche überspannte Ideen und Unerfahrenheit, bey den Briefen ersten Theils bisweilen irre geleitet worden ist, und hin und wieder auch in den folgenden Unrichtigkeiten vorkommen, so muss man dieses Werk, wegen der Briefe über Basel und die Waadt, in denen das vollständigste Gemähide des Karackters und der Sitten der Einwohner zu finden ist, unter die bessten Reisebeschreibungen durch die Schweitz setzen.« (Ebel, Anleitung, Theil l, 1793, S. 126f.). 131 Ueber das Interessanteste, 1777, Bd. l, Vorrede, unpagn. 132 Ebd., S. 4f. 133 Küttner beklagt, daß der anonyme Autor »eine Menge Dinge aufgewärmt« habe, »die schon seit vielen Jahren allgemein für falsch und irrig anerkannt sind. Kurz er schreibt über dieses Land, wie man vor dreißig und vierzig Jahren schrieb, sagt alles wieder, was sich seitdem geändert hat, und wiederholt anderes, das schon längst widerlegt worden. Eigene, anschauende Kenntniß von seinem Vaterlande hat er nicht, das sieht man ihm genugsam an: also nahm er zusammen, was er in den Delices und in ändern alten Werken fand, schrieb

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Johann Heinrich Merck: »Möchte doch diese elende Erscheinung einen Schweizer, oder einen ändern Reisenden von Geist und Kenntnissen ermuntern, dieser großen Lücke unsrer Kenntnisse abzuhelfen, da uns von einem der interessantesten Lande, das so nahe liegt, und von so vielen Deutschen besucht wird, noch ein Buch wie die Delices brauchbar seyn muß. [...] Wäre Andrea, Grüner und Hirschfeld nicht gewesen, wir würden den lauteren M. Ruchat wiederzukäuen haben, der bis auf die Epitaphien abgeschrieben ist.«134 Der Rezensent bedauerte, daß es am Ende der siebziger Jahre noch kein Werk gebe, das umfassende und zudem gesicherte Erkenntnisse über das Nachbarland bereit stelle, obgleich wichtige Vorarbeiten der Autoren Johann Gerhart Reinhart Andreae, Gottlieb Sigmund Grüner und Christian Cay Lorenz Hirschfeld vorliegen würden. Traten Andreae und Grüner vor allem als Naturwissenschaftler hervor, die alle verfügbaren Informationen - vom Naturalienkabinett bis zu den Gletschern - zusammengetragen hatten,135 so war Hirschfeld der erste deutsche Reisende gewesen, der eine umfassende Beschreibung der Schweiz anstrebte. Die Voraussetzungen für solch ein Unternehmen waren überaus günstig, denn er verbrachte zwei Jahre in der Schweiz. Obwohl er als Prinzenerzieher an seine Hofmeisterpflichten gebunden war, lernte er in dieser Zeit weite Teile des Landes kennen.136 Aus seinem Reisebericht geht hervor, daß er die Voralpengebiete von Basel über Zürich und Bern bis Genf besuchte, die Innerschweiz betrat und auch in das Berner Oberland gelangte. Als ihm 1767 sein Dienstverhältnis aufgekündigt wurde, ging er nach Leipzig, wo er zwei Jahre später die vielbeachteten Briefe über die vornehmsten Merkwürdigkeiten der Schweiz veröffentlichte. Es stellte für einige Jahre das Standardwerk deutschsprachiger Reiseliteratur über die Schweiz dar; es war so erfolgreich, daß Hirschfeld sieben Jahre später denselben Text, nur um einige Briefe vermehrt, noch einmal herausgeben konnte. Der Autor beabsichtigte in seiner Reisebeschreibung, ein Bild von der Schweiz zu entwerfen, das »das Beste und das Wichtigste«137 enthalten sollte, und zugleich war sie als eine propädeutische Schrift gedacht, als ein »Handbuch«138 zum »Nutzen junger Reisender«.139 Hirschfeld hatte erkannt, daß ein solches Werk ein Desiderat auf dem Buchmarkt darstellte. Es ist »gewiß, daß wir in

aus, und hat daher alle Fehler und Tugenden seiner Gewährsmänner.« (Küttner, Briefe, Theil3,1786,S.272f.). 134 TM, 1. Vierteljahr 1778, S.83f. 135 »Ihm [Grüner - U.H.] gebührt übrigens der Ruhm, dass er der erste ist, welcher eine wahre und vortrefliche Erklärung des Entstehens der Gletscher und mehrerer Phänomene derselben gegeben hat, wenn er gleich über verschiedenes noch im Irrthum ist.« (Ebel, Anleitung, Theil l, 1793, S.113f.); »[...] Herr A. [Andreae - U.H.] reiset mehr als Naturhistoriker, und unser Verf. [Grüner - U.H.] mehr als Naturkundiger und Statistiker.« (ADB, 38/ I [1779], S. 237). 136 Kehn, Idee und Wirklichkeit, 1985, S. 91-128. - Siehe auch Kehn, Hirschfeld, 1992, S.1846. 137 Hirschfeld, Briefe, 1769, Vorrede, unpagn. 138 Ebd. 139 Zum Nutzen junger Reisender, so lautet der Untertitel von Hirschfelds Werk. 100

Deutschland entweder zu unvollständige Begriffe von einer Nation, die so nahe mit der unsrigen verwandt ist, und die in der alten Geschichte so sehr glänzt, oder doch zum Theil viele unrichtige Meinungen haben«.140 Indem der Verfasser beide Aspekte, landeskundliche Wissensvermittlung und die subjektive Aussprache miteinander verband, bediente er den interessierten Gelehrten und zugleich den Leser, der die Schweiz mit den Augen eines Haller oder Geßner sah. Um seinem Anspruch auf Vollständigkeit annähernd gerecht werden zu können,141 zitierte auch er aus Gruners Schrift Die Eisgebirge des Schweizerlandes und aus der naturhistorischen Reisebeschreibung von Andreae Briefe aus der Schweiz nach Hannover, geschrieben in dem Jahre 1763, zudem paraphrasiert er Abschnitte aus Scheuchzers Werk. Dieses Vorgehen ist aber nicht vergleichbar mit Ulrichs Versuch aus dem Jahre 1777/1778, ein umfassendes Kompendium über die Schweiz zu erstellen. Hirschfeld kompilierte nur, was ihm aufgrund begrenzter wissenschaftlicher Einsicht nicht selbst fundiert darstellbar war, denn sein Interesse galt der Landes- und Völkerkunde und weniger der Naturgeschichte. Hirschfeld gestand seinen Lesern in der Vorrede, »daß er eher von einem Vorurtheil für die Schweizer, als von einem gegen sie, eingenommen«142 sei. Die »vortheilhaften Ideen«, die er mit in das Land brachte, habe er »theils aus der Geschichte, theils aus den Poesien seiner neuen Dichter«143 gewonnen. Die Landschaft fasziniert ihn, er habe sie ganz so wie in Hallers und Geßners Dichtungen vorgefunden: »Der müßte ganz ohne Gefühl sein, der, wenn er in diese reizenden Gegenden kommt, wo die ganze Schönheit der Natur, und die Urbilder der Dichter und der Landschaftsmahler ihre Heimat haben, nicht von einem lebhaften Vergnügen hingerissen würde, und der nicht das Glück derer rühmen sollte, die in diesem Tempe wohnen.«144 Doch bei genauer Betrachtung der Lebensverhältnisse der Schweizer zeigte sich, daß nicht alle Kantone gleichermaßen dem aus der Heimat mitgebrachten Ideal entsprachen. Als Hirschfeld nach Uri, Zug und Unterwaiden und später nach Graubünden kommt, ist er überrascht, daß die Einwohner hier »von der Cultur der Sitten und des Geistes ganz entblößt«145 seien, zwar finde man hier ein demokratisches Gemeinwesen und »auch eine gewisse Gleichheit der Sitten in der äußern Aufführung«,146 doch »Geschmack und Wissenschaften« dürfe »man hier nicht suchen; und

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Hirschfeld, Briefe, 1769, S. 4. Hirschfeld versucht seine »Beschreibung [...] so vollständig zu machen [...], als es mir möglich ist.« (Hirschfeld, Briefe, 1769, S. 110). 142 Hirschfeld, Briefe, 1776, S. XI. - Dies bestätigt ihm auch der Rezensent Isaak Iselin nach der Lektüre der Reisebeschreibung: »Indessen dürften wir fast sagen, er hätte mit allzu günstigen Vorurtheilen für die Vorzüge dieses in allen Rücksichten merkwürdigen Landes, die Beschreibung desselben unternommen. (ADB, 14/11 [1771], S. 596). 143 Hirschfeld, Briefe, 1776, S. 10. 144 Hirschfeld, Briefe, 1769, S. 71. 145 Ebd., S. 59. 146 Ebd. 141

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der Aberglaube ist hier ein eben so großes Heiligthum, als die Freiheit.«147 Auffällig ist der Unterschied zwischen den reformierten und katholischen Kantonen. »Wenn man in diese [...] kommt, so sollte man glauben, daß sie mit den übrigen in keiner Verbindung stünden; nichts kann einen größern Kontrast ausmachen, als die Lebensart in Bern oder Genf, und die in den gedachten Oertern.«148 Obgleich Hirschfeld das Ziel verfolgt, »aus den hin und wieder zerstreuten Zügen ein treffendes Bild von dem Charakter der Schweizer zusammen[zu]setzen«,149 kommt er nicht umhin, Differenzierungen vorzunehmen. Er muß sich eingestehen, daß nicht die gesamte Schweiz gleichermaßen seinen Erwartungen gerecht wird. Zwar deklariert er noch übergreifend Positives, wie Vaterlandstreue und »die Liebe zur Freiheit«,150 doch den idealen Schweizer, den Haller in den Alpen beschrieben hatte, der finde sich nur noch auf einigen Gebirgshöhen, nur dort würden sich »Spuren der alten Einfalt der Sitten und Tugenden«151 nachweisen lassen. Es sind vor allem die Bewohner des Berner Oberlandes, die Hirschfeld als einfältiges und doch sittliches Volk beschreibt: »Man trifft bei ihnen eine verständliche Sprache, eine sehr gesunde Vernunft, eine gute Kenntniß der Natur, soweit es ihre Umstände erlauben, eine freundliche Aufmerksamkeit und Höflichkeit gegen Fremde, und eine beneidenswürdige Ruhe und Zufriedenheit selbst bey der Armuth an, die größtentheils unter ihnen herrschet.«152 Wie Hirschfeld favorisieren auch die Reisenden nach ihm vor allem die Gebiete, in denen noch naturnah, in althergebrachter Weise gelebt wurde. Karl Gottlob Küttner kam beispielsweise zu ähnlichen Schlußfolgerungen.153 Nachdem er große Teile der Schweiz besucht hatte, konnte ihm allein noch das Berner Oberland eine »Ahndung von primitiver Lebensart, von der Schuldlosigkeit des frühern Menschengeschlechts, vom Frieden und der Ruhe des goldenen Zeitalters«154 vermitteln. Hirschfeld und Küttner trugen dazu bei, daß die Schweiz fortan differenzierter betrachtet werden konnte. Mit der topographischen Konkretisierung des Ideals Schweiz auf die Hochlandgebiete155 wurde der Mythos selbst nicht beschädigt. Im Ergebnis wuchs das Interesse

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Ebd.

Ebd., S.60. Ebd., S. 67. 150 Ebd., S. 91 - Diese beiden Eigenschaften werden auch von anderen Reisenden immer wieder genannt, wenn es um die Bestimmung des schweizerischen Nationalcharakters geht. Küttner dazu: »Es giebt gewisse Züge, die einem Volke im Ganzen eigen sind, und dergleichen finden sich auch an den Schweizern, sie mögen seyn aus welchem Cantone sie wollen. Ich setze hier oben an Vaterlandsliebe und Nationalstolz.« (Küttner, Briefe, Theil 3,1786, S.213). 151 Hirschfeld, Briefe, 1769, S. 111. 152 Ebd., S. 133. 153 Er ist der Ansicht, daß »das Leben hier auf den entlegensten Bergen das einzige ist, welches so ganz dem Leben unserer Altväter gleicht«. (Küttner, Briefe, Bd. l, 1785, S.244). 154 Küttner, Briefe, Theil 2,1785, S. 124f. 155 »Ich habe oft meine Betrachtungen angestellt, wenn ich gesehen, daß die Bergländer durchgehende einen lebhaftem, regern Geist haben als die Plattländer. Immer hab' ich sie thätiger, sinnreicher, erfinderischer gefunden, als die leztern. Hauptsächlich aber scheinen 149

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der Deutschen an dem Leben der Hirten beträchtlich.156 Im Wissen darum konnte sich Wieland 1781 erlauben, in seinem Teutschen Merkur einen Aufsatz des Schweizers Karl Victor von Bonstetten abzudrucken, in dem in großer Ausführlichkeit der kleine Landstrich Saanen im Berner Oberland vorgestellt wurde.157 Der publikumswirksame Titel lautete: Briefe über ein schweizerisches Hirtenland.15K

4.1.3 Die empfindsamen Landschaftsbilder der »Schweizer-Pilgrimmschaft«159 Friederike B run und Friedrich von Matthisson Im September 1786 unterrichtete Friedrich von Matthisson seinen Magdeburger Freund Friedrich von Köpke von einer Begegnung mit dem berühmten schweizerischen Geschichtsschreiber Johannes von Müller in Mainz. Beide hätten viel von der Schweiz gesprochen und nie wäre seine Sehnsucht nach diesem Land größer gewesen »als bei Müllers Erzählungen von seinen Alpenreisen«.160 Im selben Schreiben teilte er mit: Er habe »nun Hoffnung, das Land der Freiheit in Kurzem zu erblikken«.161 Ein Jahr später war es dann soweit. Nach einem kurzen Aufenthalt in Zürich, wo er Lavater und Geßner besuchte, traf er in Bern auf den Freund Müllers Karl Victor von Bonstetten. Dieser trat gerade seine Stelle als Landvogt in Nyon an. Er bat Matthisson, ihn dorthin zu begleiten. Matthisson erinnerte sich später, daß Bonstetten ihn sogar »dringend aufgefordert« habe, »seine Fesseln, wie er sich ausdrückte, abzustreifen, [...], und die alte Burg von Nyon nicht anders forthin zu betrachten, als hätte seine Wiege darin gestanden«. »Er sollte dort nur der Freundschaft, den Musen und der Natur angehören, und von jeder geistbedrückenden Sorge des Alltagslebens befreyt bleiben«.162 Zwei Jahre war Matthisson Gast Bonstettens. Sein Zimdie mehresten einen großen Hang zu haben, aus ihrer Lage herauszugehen und irgend einen Weg zu suchen, auf dem sie sich verbessern können; da hingegen der Bewohner des platten Landes seinen gewöhnlichen Gang fortgehet, paterna tura bobus exercet suis, und nur nicht daran denkt, daß er seine Lage abändern könne.« (Küttner, Briefe, Bd. 3,1786, S. 189). 156 Friedrich Bouterwek strebte, kaum in der Schweiz angekommen, den Wohnungen der Hirten zu: »Das eigentlich sogenannte Alpenland äußert seine Kraft wie die Magnetenberge.« (Bouterwek, Schweizerbriefe, Bd. l, 1795, S. 128). 157 »Nach des Rec. Urtheil enthalten sie eine vortreffliche und musterhafte Darstellung des politischen, physischen, sittlichen und ökonomischen Zustandes eines kleinen Ländchens, des sogenannten Sanenlandes im Canton Bern, dergleichen es nur wenig ähnliche geben dürfte.« (NADB, 7/II [1793], S.525). 158 Der Text ist nicht nur im Teutschen Merkur vom Jahr 1781 erschienen, sondern auch im Schweizerischen Museum 3 (1785), S. 600-607 und in: Bonstetten, Schriften, 1793, S. 1-154. 159 Brun, Von Zürich, 1799, S. 146. 160 Matthisson an von Köpke, 6. September 1786, in: Matthisson, Briefe, Theil l, 1795, S. 50. 161 Ebd. 162 Matthisson, Selbstbiographie, 1832, S. 300. 103

mer wurde zu einem »Poetaculum«;163 wenn er aus dem Fenster sah, erblickte er den Genfer See und die Hochalpen, unter seinen »Füßen rauschtfe] ein idyllischer Bach, und auf der Terasse waren im Jänner noch Blumen«.164 Dieses unabhängige, sorgenfreie Leben in einer pittoresken Landschaft stellt eine besondere Schreibvoraussetzung dar. Sie ist mit den kurzen Aufenthalten der Stürmer und Dränger oder den Reisen der Hofmeister Hirschfeld und Küttner nicht zu vergleichen. Bonstetten bemerkt, daß sich Matthisson zunächst »oft [...] noch über die ungewohnte Freyheit erstaunt« zeigte und erst allmählich »die zerzausten Schwungfedern« wieder in Gang brachte, »die er im Käfig angestoßen hatte«.165 Der Gast erfuhr sein Dasein als idyllischen Zustand. Beim Anblick der ihn umgebenden Natur war ihm »zu Muthe, als würden seinem Geiste neue Flügel gegeben, sich zu höheren Regionen aufzuschwingen und im Haine der Musen etwas zu vollbringen«.166 Ein derartiges Mitteilungsbedürfnis war insbesondere bei den künstlerisch veranlagten Reisenden nicht ungewöhnlich. Schon Hirschfeld befand, daß »alle die schönen Abwechslungen in der Natur [...] für eine prosaische Beschreibung zu reich und zu groß«167 wären. Sie bedürften eines poetischen Ausdrucks.168 Dabei bestand die Gefahr einer literarischen Überzeichnung der schweizerischen Wirklichkeit, wie sie sich bei Matthisson andeutet und bei der ihm geistig verwandten Dichterin Friederike Brun nachweisbar ist.169 Matthisson hatte die deutsch-dänische Dichterin 1791 im französischen Lyon getroffen. Die Frau eines wohlhabenden norddeutschen Geschäftsmannes folgte gern der Einladung des Dichters, ihn in die Schweiz zu seinem Freund Bonstetten zu begleiten. So ähnlich waren sich Matthisson und Brun sowohl in ihrer Lebensauffassung als auch in ihrer Apperzeptionsund literarischen Ausdrucksweise, daß sie fortan eine enge Freundschaft verband.170 Zusammen mit Bonstetten unternahmen sie von Nyon aus zahlreiche Ausflüge in die nähere Umgebung des Genfer Sees. »Anmutige Ruheplätze«171

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Ebd., S. 308. Ebd., S. 309. 165 Ebd., S. 310. 166 Matthisson, Selbstbiographie, 1832, S. 306. 167 Hirschfeld, Briefe, 1776, S. 97. 168 »Wer nur einiges dichterisches Genie hat, mus in diesen Gegenden begeistert werden [...].«(Ebd., S.99). 169 Böschenstein, Die Schweizer Landschaft, 1975/1977, S.46f. 170 Zu diesem Freundschafts- und Dichterbund gehörten auch die Schweizer Bonstetten und Johann Gaudenz von Salis-Seewis. Ausdruck ihrer geistigen Verwandtschaft ist die Tatsache, daß sie ihre Werke gegenseitig redigierten und gemeinsame Briefausgaben veranstalteten. Siehe Brun, Gedichte, 1795; Bonstetten, Briefe, 1829; Bonstetten, Schriften, 1793. Während eines Besuchs in Nyon erinnert sich später Eduard Johann Assmuth: »Als der bekannte Bonstetten hier bernerischer Landvogt war und seine Freunde Matthisson, Salis und Friederike Brun um sich versammelt hatte, war dieser Ort ein Sitz der Musen und Grazien, und die herrlichsten Gedichte der genannten Dichter verdanken wir dieser reichen Natur.« (Assmuth, Reise, 1976, S. 163). 171 Brun, Reise von Genf nach Bern, 1799, S. 292. 164

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wurden aufgesucht, die die Anwesenden in eine erhabene, sympathetische Stimmung versetzten. Brun sprach später davon, daß am Genfer See »die Wiege der vollkommensten, der treusten und unzertrennlichsten Erden-Freundschaft!«172 gestanden habe. Offenbar war dieses Verlangen nach Gefühlsbestätigung und Seelenverwandtschaft eine Reaktion auf ein ansonsten unerfülltes Dasein und eine erste Antwort auf den allmählichen Verfall vermeintlich eherner Werte und gesellschaftlicher Beziehungen. Matthissons Wunsch, »in ländlicher Abgeschiedenheit«, d. i. »im Elysium des Genfer-Sees« den Rest des Lebens mit einem »ähnlichdenkenden und ähnlichempfindenden Wesen«173 zu verbringen, deutet zumindest auf einen solchen Zusammenhang hin. Doch Matthisson wurde noch deutlicher: »Glücklich durch den reinen Einklang unserer Herzen, fänden wir dann, unbetäubt vom Getümmel und ungeblendet von den Schimmerscenen des Weltlebens, unseren höchsten Genuss im Schoosse der Natur und in der weitern Ausbildung unseres Geistes.«174 Die Reisen, die Matthisson und Brun während ihrer Aufenthalte in der Schweiz unternommen haben, sind in zahlreichen Publikationen dokumentiert.175 Auffällig ist insbesondere bei Brun das Bedürfnis, pittoreske Landschaften zu beschreiben. Hierbei wurde die erfahrene Erscheinungsvielfalt auf das gewünschte Maß minimiert, dann neu geordnet und überschaubar in einen Rahmen hineingestellt.176 Die Autorin genoß es, von den verschiedenen Räumen ihres Hauses aus auf die Umgebung zu blicken, denn eine solche Betrachtung gleiche - so Brun - dem Beschauen von Gemälden: »Die Zimmer im zweyten Stock meiner Wohnung stellen mir, wenn ich sie umgehe, eine der schönsten Gallerien von erhabenen und sanften Landschafts=Gemälden dar, deren jedes Fenster eins einrahmt, und deren Erfinder und Zeichner der liebe Gott ist; die Coloristen derselben aber sind Morgen und Abend, die Mittagssonne und der Nachtmond, und alle süßen Hören dieser schönen Tage.«177 Friederike Brun wußte aus der Literatur und vor allem von der Malerei, wie eine Landschaft auszusehen hatte, die das Gefühl anzusprechen vermochte. Sie suchte gezielt Landschaften von »klassischer Schönheit«.178 In einer Anmerkung erläuterte sie, was sie darunter verstand: »>Was ist classische Schönheit bey einer Gegend