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German Pages 238 [240] Year 1989
Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 50
Helmut Koopmann
Freiheitssonne und Revolutionsgewitter Reflexe der Französischen Revolution im literarischen Deutschland zwischen 1789 und 1840
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1989
Ich h a b e zu d a n k e n :
Gisela Barth, Christine Baier, Jürgen E d e r
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Koopmann,
Helmut:
Freiheitssonne und Revolutionsgewitter : Reflexe der Französischen Revolution im literarischen Deutschland zwischen 1789 und 1840 / Helmut Koopmann. - Tübingen : Niemeyer, 1989 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte ; Bd. 50) NE: GT ISBN 3-484-32050-8
ISSN 0083-4564
© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1989 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Guide-Druck, Tübingen Einband: Heinr. Koch, Tübingen
Inhalt
I.
Greuelszenen und Glückseligkeit Die Französische Revolution und ihre deutschen Zeitgenossen Zeitgenössische Äußerungen zur Revolution - Enthusiastische und kritische Stellungnahmen - Grundsätzliche Feststellungen zur Aufnahme der Französischen Revolution in Deutschland Literarische Reflexe und der relative Mangel an Revolutionsdichtungen - Verborgene Spiegelungen der Revolution - Plan und Absicht des Buches.
II.
1
Die Tragödie der verhinderten Selbstbestimmung Schillers Aufklärungsdenken, die Französische Revolution und Wallenstein als politische Antwort D e r Mangel an direkten Äußerungen zur Französischen Revolution bei Schiller und Schillers universalhistorische Vorlesungen - Schillers Äußerungen zur Reformation als einer theologischen Revolution - "Gedankenfreiheit" als Protest gegen kirchliche Zwänge - "Don Karlos" und das Ideal des aufgeklärten Adeligen - Schillers Zweifel am Sinn politischer Rebellionen Der Dreißigjährige Krieg als Religionskrieg - Schillers historische Schriften und die Kritik an den französischen Veränderungen - Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung und die Proklamation der inneren Freiheit - Die "Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs" als Aufklärungsschrift - "Wallenstein" als eigentliche Antwort Schillers auf die Französische Revolution - Der Prolog: Wallenstein-Legende und Schillers Wallenstein - "Wallensteins Lager": Kirchenkritik und Freiheitsforderungen - "Die Piccolomini": die moralische Aufforderung zum Aufstand und Wallenstein als Friedensfürst - "Wallensteins Tod": das Ende der Selbstbestimmungssuche und die Rückkehr zur Restauration - "Wallenstein" als allegorische Darstellung der Französischen Revolution und die Zurücknahme der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen.
III.
S.
"Diese große intellektuelle Wiedergeburt und neue Belebung" Friedrich Schlegels Revolutionsverständnis und die Zerstörung traditioneller poetischer Formen Frühromantische Äußerungen zur Französischen Revolution Friedrich Schlegels Schriften zur griechischen Dichtung und Geschichte als indirekte Stellungnahmen zur Gegenwart - Die theoretische Berechtigung des Republikanismus und dessen praktische Unerreichbarkeit - Das Aufkommen der Idee der Insurrektion bei Schlegel - Revolutionsvorstellungen in Schlegels Standortbestimmung der modernen Literatur - "Durchgängige Anarchie" als Signum der Moderne - "Über das Studium der griechischen Poesie" als Revolutionsschrift - Schlegels Theorie der revolutionären Umwertung der ästhetischen Werte und die Anwendung der Ideen der Französischen Revolution im Bereich der Kunst - Schlegels "Gespräch über die Poesie" und die Re-
S. 13
VI
volution als "große intellektuelle Wiedergeburt und neue Belebung" - Eine neue Mythologie als neue Weltordnung - Das Ende der Geschlossenheit des klassischen Kunstwerks - Das "Romantische" als Revolution: der Aufbruch als Protest - "Bekenntnisse" als revolutionäre Literaturform - Die Proklamation der eigenen Individualität als erreichte Selbstbestimmung - Die literarische Kritik und die Erkenntnis der Individualität in der Dichtung - Schlegels "Lucinde" als revolutionäres Buch.
IV.
Die Nachbeben der Revolution Heinrich von Kleist, Das Erdbeben in Chili Urteile über die Novelle: Thomas Mann und sein Kritiker - Die Widersprüchlichkeit der Deutungen - Die Unzulänglichkeit metaphysischer Interpretationen - Die Rousseau-Thematik der Novelle - Sozialgeschichtliche Exegesen - "Das Erdbeben in Chili" als Umsturzgeschichte und als Darstellung der Französischen Revolution - Das Bild des Erdbebens im metaphorischen Kontext der Zeit - Kleists Erzählung als Beschreibung der Revolutionsfolgen - Das Illusionäre der Revolutionserwartungen Die Schiller-Kritik Kleists im "Erdbeben in Chili" - Kleists Erfahrungen im nachrevolutionären Paris - Kleists Einleitung zur "Germania" - Revolutionsideale in Kleists kleineren politischen Schriften - Der allegorische Charakter der Kleistschen Novelle Kleists ambivalentes Verhältnis zu Preußen.
V.
S. 93
Weltenbrand hinterm Berg Eduard Mörike, Der Feuerreiter Die Unzulänglichkeit der Deutungen des Feuerreiters als dämonischer Macht oder mythischer Verkörperung des Feuers Mörikes Ballade und Waiblingers "Phaëton" - Die Fragwürdigkeit der Kategorie "Erlebnisdichtung" - Das Romantische als Fassade - Die "rote Mütze" als politische Chiffre - Das Land "hinterm Berg" als Frankreich - Die Revolution als Jakobinerherrschaft - Die politische Elementarbildlichkeit der Novelle und das Zerstörerische der Revolution - "Die Feuerreuter": Der Freundeskreis um Wilhelm Hauff - Hauffs Gedicht "Der Feuerreuter Röder" und die Verbindungen zu Mörikes "Feuerreiter" - Mörikes Kritik an den Burschenschaften - Der Feuerreiter als Darstellung des politischen Radikalismus? - Die Zeichen der Revolution und Mörikes Gedicht - Mörikes Äußerungen zur Revolution von 1848 - Die später eingefügte Strophe als interpretatio Christiana der Revolution - Die Diabolisierung der Revolution.
VI.
S. 59
Der Zweifel als mörderisches Prinzip und das Raubtier Revolution Joseph von Eichendorff, Das Schloß Dürande Die Revolution als Naturereignis bei Eichendorff - Revolutionspessimismus der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts - Die Revolution als "wildes Tier" und das wilde Tier als Zweifel - Eichendorffs Kleist-Kritik - Konservative Züge Renaids: Die Novelle als Bericht einer Vertrauenskrise - Die Zerstörung von Liebe, Glaube und Vertrauen und die Selbstherrlichkeit des Objekts als zerstörerische Macht - Die Revolution als Seelengeschichte - Adelskritik bei Eichendorff und das Idealbild eines Ii-
S. 123
beralen Adels - Aufklärungskritik Eichendorffs und sein Kampf gegen die einseitige Herrschaft des Verstandes - Die Novelle vom Schloß Dürande als moralische Erzählung.
S. 143
VII. Ein Roman gegen die Revolution Ludwig Tieck, Der junge Tischlermeister Tieck und die Novellenmode der Zeit - Sein Verhältnis zum Jungen Deutschland - Tiecks wechselnde literarische Positionen und literarhistorische Urteile über ihn - Das kulturpolitische Programm Tiecks: der Angriff auf bürgerliche Freiheitsvorstellungen des 18. Jahrhunderts - Der Roman als Erziehungsroman - Spiel und Freiheit als antirevolutionäre Kategorien - D e r falsche und der gute Adel - "Götz von Berlichingen" als gescheitertes Revolutionsdrama - Tiecks Kunstenthusiasmus als Angriff auf die jungdeutsche Lehre von der Versöhnung von Kunst und Leben - Die Darstellung konfliktloser Standesverhältnisse als Modell für die Zukunft - Tiecks Soziallehre: die Werte der Bürgerlichkeit als Werte des Adels - Die Absage an falsche Nobilitierungsversuche - Tiecks Loblied auf die Kunst und die Gefahren des Dilettantismus.
S. 171
VIII. Freiheitssonne und Götterdämmerung Die Revolution als Signatur der Moderne und Heinrich Heines Denkschrift über Ludwig Börne Über die allmähliche Ankunft der Französischen Revolution in Deutschland - Französische Revolution und historisches Bewußtsein - Jacob Burckhardt und die Deutung des 19. Jahrhunderts als "Revolutionszeitalter" - Das aufkommende Wissen um die Wiederholbarkeit von Revolutionen - Revolutionen als Ausdruck der permanenten Krise der Moderne - Hegels Bemerkungen zum welthistorischen Rang der Revolution - Heine als Fortsetzer Hegelscher und Schellingscher Ideen - Entsprechungen zwischen französischer politischer Geschichte und deutscher Geistesgeschichte - Französische Revolution und Luthers Reformation in Heines Einleitung zu "Kahldorf über den Adel" - Revolution als geistiger Aufstand und als "große Wissenschaft der Freyheit" - Heines "Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland" als Fortsetzung der Revolutionsideen Heines Forderung nach "Rehabilitazion der Materie" - "Gott ist identisch mit der Welt" - Heines Wissen um die zyklische Wiederkehr der Revolution - Heines Denkschrift über Börne als Heines eigentliche Revolutionsschrift - Börne als falscher Revolutionär - Die Revolution als Erlösungstat und Heilsbotschaft.
S. 203
I.
Greuelszenen und Glückseligkeit Die Französische Revolution und ihre deutschen Zeitgenossen
Angesichts der Tatsache, daß die Französische Revolution sich als ein Ereignis erweisen sollte, das wie kein anderes die Geschichte der Moderne geprägt hat, angesichts ihrer das Bewußtsein ganzer Generationen verändernden Wirkung mutet das, was die Zeitgenossen dazu zu sagen hatten, bei allem Sinn für das Ungeheuerliche des französischen Geschehens merkwürdig unzulänglich an. Sieht man die Äußerungen zur Französischen Revolution innerhalb der ersten 10 Jahre nach 1789 durch, stößt man im übrigen viel häufiger auf Skepsis, Zurückhaltung, Abkehr, Abscheu denn auf Zustimmung oder gar Begeisterung. Über die unmittelbare Bedeutung der Französischen Revolution herrschte zwar kaum Zweifel, aber man fürchtete ihre Wirkungen - das um so mehr, je verworrener sich die Verhältnisse in Frankreich nach 1789 darboten. Gefühlsäußerungen überwogen. Herder schrieb 1792 in seinen "Briefen zu Beförderung der Humanität": "Für mich will ich es nicht läugnen, daß unter allen Merkwürdigkeiten unsres Zeitalters die französische Revolution mir beinah als die wichtigste erschienen ist, und meinen Geist oft mehr beschäftiget, selbst beunruhiget hat, als mir selbst lieb war. Oft wünschte ich sogar diese Zeiten nicht erlebt zu haben und ihre zweifelhaften Folgen den Meinigen nicht nachlaßen zu dörfen; mit hüpfender, kindischer Freude nahm ich an ihr nie Theil".1 Stolberg äußerte sich 1791 ähnlich: "Ich war so enthusiasmirt fuer Frankreichs Revolution, als man es seyn kann. Aber ich gestehe Ihnen, liebster Freund, daß ich weder zufrieden mit der Nationalversammlung bin, welche gesetzgebende und ausübende Macht zugleich behauptet, (also Despotie ist) noch auch dem Nationalgeiste Frankreichs viel zutrauen kann. Es sind doch immer die Franzosen, die sie waren. Paris, diese allgemeine Masse der Frivolitäten und Mutter der Unsittlichkeit, konnte wohl der Brennpunct der National Unruhen werden, aber der Sitz heiliger Freyheit, sollte sie das seyn können?" 2 Klinger sprach von den "wunderbaren, großen und schrecklichen Begebenheiten, die nun in einem so kurzen Zeiträume sich auf einander drängten, und die alles zu enthalten schienen, was die Menschen in einer Reihe von Jahrtausenden Großes und Ungeheures mögen gethan haben". 3 Das Schreckliche, der Schrecken der
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Revolution! Hier prägen sich irrationale Befürchtungen fast ungefiltert aus. Nur wenige bewältigten das mit Sarkasmus - so wie Heinse, der schrieb: "Es ist wahrscheinlich, daß die Französische Nazion, wenn die auswärtigen Mächte sie nicht bändigen, alles, über kurz oder lang, bey sich gleich machen werde. Das Ziel liberté et égalité ist allgemein vorgesteckt: Jetzt gehts über das Eigenthum her. Wer mehr hat, als andre, muß abgeben. Wenn sie endlich alle arm sind, im bloßen Zustande der Natur: dann werden sie gezwungen seyn, wenigstens der persönlichen Sicherheit wegen, und die schwachen noch, um nicht zu verhungern, für die ganze Gesellschaft eine Constitution, die aushält, festzusetzen". 4 Aber er sprach ebenfalls nicht nur von der Revolution, sondern auch von den Würgengeln, welche die Französische Revolution durchgesetzt hätten. 5 Robespierre war vielen nur der allzu sichtbare Beweis terroristischer Zutaten der Französischen Revolution. Gleim, als Balladendichter im ausgehenden 18. Jahrhundert geschätzt, schrieb: "Alle Hoffnung, daß das unglückliche Frankreich den Händen der Zerstörer werde genommen werden, ist verschwunden. [...] Welche Greuelscenen werden wir noch erleben! Alles Gute geht rückwärts!"6 Mit den Zerstörern meinte er die Jakobiner, die 1793 das Revolutionstribunal und den Ausschuß der öffentlichen Wohlfahrt mitgegründet hatten. Vor allem die Wirren nach der Französischen Revolution boten Anlaß zu oft heftigen Gefühlsreaktionen. Christian Felix Weiße schrieb: "Mit der franz. Freyheit scheint es ziemlich gethan zu seyn; und Gott weiß, ob nicht am Ende, wenn noch ein paar Millionen Menschen dort geschlachtet sind, aus dieser Republik eine Despotie entstehen wird, die für die Unglücklichen ärger, als die erste war. Wirklich konnte nur ein Volk, wie das französische, ein nicht übel angefangenes Werk so verhunzen". 7 Goethe sprach in seinem Distichon "Revolutionen" hintergründig von "Franztum in diesen Letzten Tagen" - so, als seien die letzten Tage der Menschheit gekommen. Für ihn war eine große Nation fragwürdig geworden, und das bedeutete, daß auch die Welt aus den Fugen gegangen war; ihn ängstigten, wie er 1794 in seinen Tagund Jahresheften damals schrieb, "die ungeheuern Bewegungen innerhalb Frankreichs jeden Tag".8 Die französischen Taten erschütterten für ihn nicht nur die Welt rings umher, sondern bedrohten "alles Bestehende mit Umschwung, wo nicht mit Untergang". 9 Noch im Alter, 1824, hat Goethe sich an die "Greuel" erinnert, die ihn "täglich und stündlich" empört hätten. Er haßte die Revolution, sie war ihm eine Folge schlechter Politik, mit einem fast zwangsläufig daraus resultierenden Ausbruch ins Terroristische: da ist nicht einmal mehr von den Ideen der Revolution die Rede, sondern nur noch davon, daß sie ein fahrlässig heraufbeschworenes Übel sei.
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Schiller dachte ähnlich. Sein Freund Friedrich Wilhelm von Hoven erzählt von einem Gespräch, das er mit Schiller in Ludwigsburg 1793/94, anläßlich der Reise Schillers in seine Heimat, geführt hatte, und der Ehrenbürger der französischen Nation, der citoyen français, sah voller Skepsis, was vor und seit vier Jahren in Frankreich geschehen war. Von Hoven berichtet: "Von dem französischen Freiheitswesen, für welches ich mich so sehr interessierte, war Schiller kein Freund. Die schönen Aussichten in eine glücklichere Zukunft fand er nicht. Er hielt die französische Revolution lediglich für die natürliche Folge der schlechten französischen Regierung, der Üppigkeit des Hofes und der Großen, der Demoralisation des französischen Volks, und für das Werk unzufriedener, ehrgeiziger und leidenschaftlicher Menschen, welche die Lage der Dinge zur Erreichung ihrer egoistischen Zwecke benutzten, nicht für ein Werk der Weisheit". 10 Sprach aus Schillers Urteil schon die Enttäuschung des Aufklärers, der eine große politische Möglichkeit vertan sah? Oder der Revolutionsfeind überhaupt, der es, was die Geschichte anging, mit der Evolution hielt? Ein noch schärferer Revolutionskritiker war Joseph Görres. In seiner Schrift "Teutschland und die Revolution" von 1819 sah er die Revolution als ein großes Gottesgericht, mit dem "vieljährige Schande und Uebelthat" gestraft werde. 1 1 Er sprach vom "revolutionären Greuel": 1 2 "in toller Verwirrung treiben die Meinungen durcheinander; kein Grundsatz steht fest, kein Band hält die bunte Gedankenwelt in sich zusammen; keines knüpft was gestern galt, an das was Morgen gelten wird; ein kurzes, stets kürzerwerdendes Gedächtniß vergräbt das Vergangene in glückliche Vergessenheit". 13 Derartige Überlegungen liefen darauf hinaus, daß die Geschichte selbst sich in der Revolution widerlege und daß etwas abgerissen erscheine, was zum Bestehen der menschlichen Gesellschaft unumgänglich sei: Tradition, Legitimation also durch das Überkommene. In seinem Gefolge äußerte sich Eichendorff; für ihn war die Revolution in ebenso radikaler Weise der Ausbruch tellurischer Kräfte, ein Riß durch die Geschichte, das üble Ende der Aufklärung. Nicht weniger scharf kritisierte Friedrich von Gentz die Revolution: "Alles was bisher in den Augen der Menschen Werth hatte, soll fuer Tand gehalten, alles, wobey sich Millionen gluecklich fanden, als Grille und Verderbniß ausgerottet werden. Alles soll forthin Ein Reich, Ein Volk, Ein Glaube, und Eine Sprache seyn. Statt muehsamer Regierungssysteme, von Weisheit und Erfahrung langsam zusammengetragen, sollen Freyheit und Gleichheit Scepter der Welt in ihre Haende nehmen".
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den
Das alles sind Triumphe der Ir-
rationalität. Gefühlsbekundungen überwogen auch bei den Enthusiasten. Wieland schrieb im Mai 1790 in seiner Schrift "Unparteiische Betrachtungen über die
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Staatsrevolution in Frankreich": "Kein Wunder also, daß von dem ersten Augenblick einer so großen, nie erhörten, nie für möglich gehaltenen Revolution an, nicht nur die allgemeine Aufmerksamkeit Europens auf dieses erstaunliche Schauspiel geheftet war, sondern daß unter so vielen Millionen auswärtiger Zuschauer, die kein unmittelbares Interesse dabey hatten, dennoch nur wenige waren, die in den ersten Tagen sich nicht durch einen beynahe unfreywilligen Instinkt gedrungen gefühlt hätten, Antheil an der Sache zu nehmen, den edeln Männern, die ihr Charakter, ihr Muth und ihre vorzüglichen Geisteskräfte an die Spitze einer durch den unleidlichsten Despotismus aufs Äusserste gebrachten, großen, edeln, aufgeklärten, geist- und muthvollen Nation gestellt hatte, Beyfall zuzurufen, und mit ungewöhnlicher Unruhe und mehr oder weniger leidenschaftlicher Bewegung dem Erfolg entgegen zu harren". 15 Es gehe, so meinte Wieland, um "Ruhm und Leben", um "Befreyung" des Vaterlandes. 16 Die Revolution erschien als Folge einer ganzen Reihe aufklärerischer Unternehmungen, als Umschlag der bisher aufgekommenen "Theorien über die wesentlichsten [...] Angelegenheiten der bürgerlichen Gesellschaft, der Staatsökonomie, der Gesetzgebung und Gerechtigkeitspflege" in die politische Aktion. Allerdings: Wieland wußte genau, daß die Zahl der deutschen Aufklärer, die ähnliches für Deutschland erwarteten, klein war, und er wußte auch, "daß diese unerhörten Begebenheiten auf die Meisten bloß als Schauspiel gewirkt haben; ungefähr nach eben den Naturgesetzen, vermöge deren jede ungewöhnliche Execution eines merkwürdigen Verbrechers, oder jede Tragödie von englisch teutscher Art und Kunst, worin alles recht bunt und toll durch einander geht, alles von Thatkraft und Handlung strotzt, nur recht viel geschwärmt, geraset und gemordet wird, und recht überschwänglich viel Dinge, die noch in keines Menschen Ohr oder Herz gekommen sind, gesprochen und gethan werden, so große Wirkung auf das Publicum thut, und thun muß"Ρ Dennoch überwog bei ihm die Bewunderung, und er schrieb in einem Brief: "Ich halte es für eine Glückseligkeit, um welche uns die Nachwelt beneiden wird, daß wir Zeitgenossen und Zuschauer dieses größten und interessantesten aller Dramen, die jemals auf dem Weltschauplatze gespielt wurden, gewesen sind".18 Andere dachten ähnlich. Gottfried August Bürger rief pathetisch in seiner Freimaurerrede "Ermunterung zur Freiheit" 1790 aus: "Hören wir nicht, was für ein edler gewaltiger Geist jetzt draußen seine Flügel regt? Soll dieser Flügelschwung nur die Außenwände unserer Freiheitshallen umbrausen? Soll er nur unsere Ohren berühren, nicht aber auch unsere Herzen durchschauern? Soll er nicht stärker auf uns wirken, als ein eitles Märchen, in müßigen Abendstunden am Kamin hergeplaudert, wenn wir vernehmen, wie der nach allen Seiten hin sich ausdehnende Geist der Menschheit die Bande zersprenget, welche Vor-
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urteil und Aberglauben siebenfach um ihn herumgelegt hatten?" 1 9 Hölderlin forderte gar seine Schwester auf, für die Franzosen, "die Verfechter der menschlichen Rechte", 2 0 zu beten. Fichte gehört zu den wenigen, die über ihre Emotionen hinauskamen. Er schrieb 1793 den denkwürdigen Satz: "Die Französische Revolution scheint mir wichtig für die gesamte Menschheit". Derart ebenso kühle wie kühne Feststellungen sind jedoch eher in der Minderheit. Die Französische Revolution war in erster Linie ein Gefühlsappell. Emst Moritz Arndt hat das auf charakteristische Weise festgehalten, als er 1805/06 aus der Erinnerung heraus notierte: "Mir sind die ersten Jahre der Revolution frisch und lebendig, als wären sie heute. Der Geist der Gärung und Bewegung jener Zeit war unendlich, und unendlich daher die Begeisterung und Teilnahme drinnen und draußen. Wie viele waren wohl in jenem Sturm und Wogenschwall, die sich bewußt waren, was sie taten oder litten? In wie vielen Augenblicken folgten wohl auch die Schlauesten und Besonnensten mehr notwendigen, äußeren Stößen als festen Plänen und bestimmten Trieben? Es erklärt sich dies auch aus dem Worte Revolution. Wo alles in Umkehrung und Gärung ist, da kann man unter den Verwirrten, Erschrockenen, Erstaunten und Begeisterten wohl nicht der einzige Kalte und Nüchterne sein wollen". 21
Lichtenberg schrieb in seinen Aphorismen schon 1797: " Ich möchte wohl die Verhältnis] der Zahlen sehen, die ausdrückte wie oft das Wort: Revolution in den 8 Jahren von 1781 - 89 und in den 8 Jahren von 1789 - 97 in Europa ausgesprochen und gedruckt worden ist, schwerlich würde die Verhältnis geringer sein als 1:1 000 000". 22 Die hier versammelten Äußerungen können in der Tat bestenfalls symptomatische Bedeutung beanspruchen. Sie sollten zunächst auch nur demonstrieren, wie emotionsgeladen die Reaktionen in Deutschland auf das große französische Ereignis waren. Generalisiert man die Berichte und Reaktionen der Zeitgenossen, lassen sich folgende Feststellungen treffen: Die Französische Revolution scheint die gelehrte und schöngeistige Welt in Deutschland 1789 weitgehend überrascht zu haben. Die Revolution wurde teilweise zunächst begrüßt, in der Folgezeit mehren sich aber die Ablehnungen. Ein erster Höhepunkt der Kritik ist 1792/93 erreicht, als die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Frankreich und Deutschland eskalieren.
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Die Revolution wird von Anfang an dämonisiert: die Revolutionsgegner sehen in ihr die Macht katastrophaler Naturerscheinungen, die Revolutionsbefürworter die Wiederkunft alter, seit Jahrhunderten unterdrückter Ansprüche. Nur gelegentlich wird die Revolution mit staatstheoretischen Überlegungen und Folgen für die Verfassungslehre in Zusammenhang gebracht. Das Gegenkonzept zur Revolution ist die Idee der Evolution; bei den Befürwortern der Evolutionstheorie kommt dem Adel eine entscheidende Rolle zu. Die Haltung zur Revolution, die 1792/93 eingenommen wurde, verändert sich auch nach Jahren kaum; die folgenden Ereignisse in Frankreich scheinen die Meinungen über die Französische Revolution im wesentlichen zu bestätigen, nicht etwa zu widerlegen. Nach 1830 erfolgt so wenig wie nach 1789 eine Verständigung unter Revolutionsbefürwortern und Revolutionsgegnern; eine eigentliche Diskussion über die Revolution findet in Deutschland direkt und ausführlich nicht statt. Die Ereignisse der Julirevolution von 1830 schärfen bei den Befürwortern der Revolution das revolutionäre Bewußtsein und vergrößern bei den Revolutionsgegnern die Revolutionsfurcht. Nach 1830 erscheint die Revolution nicht nur als wichtige Station in der Geschichte der Neuzeit überhaupt; die Revolution wird weit über alles Politische hinaus auch als religiöse Revolution, als Angriff auf das Christentum, als Versuch einer Restitution des Heidentums entweder kritisiert oder befürwortet. Nach 1830 zeigt sich, was in Deutschland an die Stelle der politischen Revolution getreten war: vor allem die Philosophie des Idealismus erscheint als sogar phasengleiches Gegenstück zur Französischen Revolution. In der politischen Praxis setzt sich die Restauration durch. Natürlich gibt es zahlreiche literarische Reflexe: Werke, die das Thema der Französischen Revolution behandeln oder Heilmittel gegen sie anpreisen. Goethe hat etwa sein Stück "Die Aufgeregten", das zur Zeit der Französischen Revolution entstand, als sein "politisches Glaubensbekenntnis jener Zeit" angesehen. Auch "Der Bürgergeneral" bezieht sich auf die Französische Revolution und deren Folgen, ebenso die "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten" und "Die natürliche Tochter". Schillers klassische Dramatik ist immer wieder als eine Flucht aus der Wirklichkeit in die Welt der Geschichte verstanden worden - so wie auch Goethes "Westöstlicher Di-
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van" als Fluchtliteratur galt. Die Revolution ist direkt erst wieder in "Wilhelm Teil" unter dem Thema der Notwendigkeit und Richtigkeit einer revolutionären Tat in Schillers Blickfeld geraten, mit scharfer Grenzziehung gegenüber Usurpationen um des Eigennutzes willen. Andere literarische Umsetzungen Schillers existieren nicht - auch wenn in der "Jungfrau von Orleans" revolutionäres Potential angelegt sein sollte, so ist das Thema der Revolution doch auf so verklausulierte Weise abgehandelt, daß man eine Stellungnahme zur Französischen Revolution nicht daraus ablesen kann. Das gleiche gilt für "Maria Stuart" - Aufruhr, Usurpation, rechtmäßige und unrechtmäßige Macht sind die Themen beider Dramen, aber vom unmittelbaren politischen Geschehen in Frankreich sind sie weit entfernt. Werke der Hochliteratur, die die Revolution thematisieren, finden sich auch im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts nicht sehr zahlreich: zu nennen sind Büchners "Dantons Tod", Grabbes "Napoleon oder die hundert Tage", Eichendorffs "Das Schloß Dürande", Schnitzlers "Der grüne Kakadu". Daneben gibt es Texte, die das Revolutionsgeschehen indirekt behandeln. Dazu gehört etwa Goethes "Märchen"; vielleicht auch Hölderlins "Der Tod des Empedokles" und "Hyperion"; vielleicht Tiecks "Der Aufruhr in den Cevennen". Andere sind im Zwischenbereich zwischen aufgeklärter Sozialkritik und politischer Reformliteratur angesiedelt: so Friedrich Christian Laukhards "Sammlung erbaulicher Geschichten für alle die, welchen es Ernst ist, das Wohl ihrer Unterthanen, Untergebenen und Mitmenschen nicht zu untergraben". Wiederum anderes gehört in den Bereich der aufgeklärten Satire: so Adolph von Knigges "Des seligen Herrn Etatraths Samuel Konrad von Schaafskopfs hinterlassene Papiere". Die Jakobiner-Dramen aus Mainz sind freilich schon in gewissem Sinne Zweckliteratur, da sie auf revolutionäre Taten in Deutschland abzielen. Politische Reiseberichte gibt es natürlich zahlreich - genannt sei nur Andreas Georg Friedrich Rebmanns "Holland und Frankreich, in Briefen geschrieben auf einer Reise von der Niederelbe nach Paris." Doch die gehören mehr in den Bereich der direkten Stellungnahmen zur Revolution; sie vergrößern eher noch den eigentümlichen Widerspruch zwischen den fast zahllosen Kommentaren, die die Französische Revolution als das Ereignis der Moderne feiern, und dem auffälligen Mangel an dramatischen oder epischen Bearbeitungen dieses Stoffes. Drückt sich die Zurückhaltung, was die Zustimmung zur Französischen Revolution angeht, auch darin aus, daß das Thema, das dramatisch genug war, um in der Literatur behandelt zu werden, dann doch nicht dargestellt wurde? Dieser Befund ist umso auffälliger, als es ja eine revolutionäre Trivialliteratur in ziemlichem Ausmaß gibt. 23 Andere welthistorische Ereignisse sind sehr viel zahlreicher literarisch dargestellt
8 worden: die Bauernkriege, Luthers Reformation, der Siebenjährige Krieg, die industrielle Revolution, der Erste und der Zweite Weltkrieg. Lassen sich Gründe für dieses auffällige Verschweigen der Revolution im Bereich der Dichtung nennen? Sollte es die alte Abkehr der Literatur von der Wirklichkeit sein, die hier noch einmal spürbar wird? War die Poesie tatsächlich jene "unabhängige zweite Welt", wie Heine das von der Goethezeit gesagt hatte - und blieb deswegen von ihr ausgeschlossen, was mit der wirklichen Welt zu tun hatte? Karl Gutzkow hat in seinem Essay "Über Goethe im Wendepunkte zweier Jahrhunderte" die Zeit des ausgehenden 18. Jahrhunderts einmal als eine höchst poetische Zeit beschrieben: "Seine Einbildungskraft versetzte es unaufhörlich nach Griechenland, in die Berge Ossians und Fingais, in die altdeutschen Eichenhaine. [...] Aus der unschönen, verbrauchten, abgestandenen Wirklichkeit flogen die mit innerem Seelenadel beschwingten Gemüter in die eben erst errichteten Tempel der Kunst und später der Philosophie. Eine idealische Welt flocht ihre Blumengirlanden durch das rings mit Dornen und Disteln besetzte Dasein. Man umging die Prosa des Lebens". 24 Hat das verhindert, daß sich die schöne Literatur mit der Revolution beschäftigte? Die Frage läßt sich bestenfalls spekulativ beantworten. Aber eine andere Vermutung liegt näher. Wenn die Französische Revolution eine so vergleichsweise riesige öffentliche Resonanz hatte, wenn sie sich zudem nicht analytisch bewältigen ließ, wenn sie hier Furcht und Schrecken, dort blinden Enthusiasmus auslöste, also ein letztlich irrationales Phänomen blieb, dann ist wahrscheinlich, daß sie doch in die hohe Literatur Eingang gefunden hat. Die folgenden Analysen gelten allesamt der Frage, wo und in welcher Form Reaktionen auf die Französische Revolution zu spüren waren - vor allem indirekte, bislang wenig oder gar nicht behandelte. Eine Spurensuche also; will man sich nicht auf den Standpunkt stellen, daß dieses Verschweigen der Revolution in literarischen Darstellungen eben auch eine Antwort auf die Ereignisse der Französischen Revolution ist, diese also bewußt ausgespart wurde, dann liegt eine Suche nach verborgenen literarischen Stellungnahmen nahe. Es gehört nun einmal zum Wesen der Literatur, daß sie oft verschlüsselte Antworten auf ein historisches Phänomen gibt; nicht selten erweisen sich diese allerdings als genauere Erkenntnismedien als die unmittelbaren Stellungnahmen. Literarische Reaktionen, sofern sie mit der Französischen Revolution in Verbindung gebracht werden können, sind in der Regel natürlich nicht bloß Spiegelungen dieses Ereignisses. Mögen die Tageskommentare zur Revolution (wozu man auch noch Stellungnahmen der 90er Jahre rechnen darf) gelegentlich nur räsonierenden Charakter haben, mag das aus
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Frankreich Erfahrene und Berichtete oft nur als Novität, als ebenso unglaubwürdige wie dennoch auf fast brutale Weise reale Begebenheit empfangen worden sein - die literarischen Äußerungen, die Darstellungen der Revolution in Dramen, Gedichten, Erzählungen, Romanen sind anderer Natur. Indem Revolutionäres dort nacherzählt wird, wird es auch bewertet - auf viel eindringlichere Weise, als das die Tageskommentare zur Revolution erkennen lassen. Eine nacherzählte Revolution ist immer zugleich eine Analyse der Revolution, und zwar nicht auf die tagespolitischen Auswirkungen hin. Gehen wir davon aus, daß das wahre Ausmaß der Bedeutung der Revolution eigentlich erst in den 20er und 30er Jahren des 19. Jahrhunderts sichtbar wurde, so nehmen die Dramen, Erzählungen und Gedichte, die zuvor entstanden sind, eine Analyse durchaus schon vorweg. Es wäre sicherlich übertrieben zu sagen, daß das Bewußtsein für den Rang der Französischen Revolution eher in der Fiktionalliteratur hochgekommen wäre als in den theoretischen Kommentaren. Aber in ihr werden die gleichsam existentiellen Komponenten der Revolution, werden Revolutionshoffnungen und Revolutionsbefürchtungen am Ende vielleicht sogar deutlicher sichtbar als in den direkten Stellungnahmen. Und sehr viel an Umkreis wird miteinbezogen: Aufklärung und Aufklärungskritik, Religion und Religionskritik: nicht selten wird die Französische Revolution stärker noch als in den Berichten und Kommentaren in einen geschichtlichen Zusammenhang gestellt. Dabei handelt es sich weniger um die unmittelbar der Revolution vorangegangenen Ereignisse in Frankreich; es ist vielmehr Geistes- und Seelengeschichte, die hinter den Revolutionsberichten literarischer Natur sichtbar wird, auch Religionsgeschichte, also eine Geschichte jenseits der historischen Daten - Faktenkrämerei lag diesem Zeitalter ohnehin nicht sehr, und vor allem wußte es, daß die Datensucht zu nichts anderem führt als zu Statistiken, zur Aufzählung von Jahreszahlen, die das eigentliche Wesen der Revolution eher verschließen als offenbaren. Die Erzählungen, Dramen und Gedichte machen darüber hinaus sichtbar, in welchem Ausmaß der Einzelne von der Revolution betroffen war. Die theoretischen Stellungnahmen sind oft austauschbar, sind Kommentare, wie sie von diesem oder jenem hätten geäußert werden können. Die fiktionale Literatur hingegen läßt die Umsetzung der allgemeinen Weltgeschichte in den Erfahrungsbereich literarischer Figuren erkennen, die natürlich nicht mit dem Autor identisch sein müssen, die aber in jedem Fall die Identität mit dem Leser suchen. Über die wirkliche Wirkungsgeschichte der Revolution erfährt man vielleicht Aufschlußreicheres aus den literarischen Bearbeitungen als aus den theoretischen Würdigungen. Die üblicherweise behandelten Revolutionsdichtungen sind schon genannt worden - wer sich darüber informieren will, sei auf die einschlägige Li-
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teratur verwiesen. Wir betreten hier insofern Neuland, als es sich um weniger erschlossene Quellen handelt. Die Texte selbst sind natürlich bekannt, es handelt sich sogar um sehr oft gelesene, sehr häufig interpretierte Texte. Neu ist hier die Fragestellung, das heißt: der Versuch, auch solche literarischen Zeugnisse in die Revolutionsthematik einzubeziehen, die bislang nicht oder allenfalls nur ansatzweise so gedeutet worden sind. Die Untersuchungen beginnen mit der Betrachtung eines Dramas, das so gut wie nie unter dem Aspekt der Französischen Revolution und ihrer Wirkung betrachtet worden ist: Schillers "Wallenstein". Das Stück rangiert auch heute normalerweise als historisches Drama. Es soll gezeigt werden, daß es aber eine sehr viel dezidiertere Stellungnahme zur Revolution abgibt als etwa "Wilhelm Teil" nicht nur aus einer größeren zeitlichen Nähe heraus, sondern auch, weil hier das Phänomen der Revolution und ihrer Folgen frei von allem vaterländischen Beiwerk zum erstenmal von Schiller gründlich in dramatischer Form kommentiert worden ist. Daran schließt sich ein zweites Kapitel an, das die Wirkung der Französischen Revolution auf das frühromantische Formenbewußtsein Friedrich Schlegels untersucht. Dieses Thema ist andeutungsweise hier und da behandelt worden, aber nicht mit der nötigen Nachdrücklichkeit. Ein drittes Kapitel gilt einem Text, der normalerweise ebenfalls nicht als Revolutionstext gelesen wird: Kleists "Erdbeben in Chili". Man hat darin theologische Stellungnahmen zu sehen geglaubt, existentielle Aussagen, ein Bekenntnis zum Zufall als dem entscheidenden erzählerischen Motor und manches andere mehr. Hier soll die Novelle als Revolutionsnovelle vorgestellt werden. Ein weiteres Kapitel bietet eine Analyse von Mörikes Gedicht "Der Feuerreiter" - oft als naturmagische Ballade, als Elementarballade gedeutet. Es folgt ein Abschnitt über einen Text, der allerdings schon häufiger als Revolutionsgeschichte behandelt worden ist: Eichendorffs "Das Schloß Dürande". Hier sind über das bisher Gesagte aber neue Ansichten zum Phänomen der Revolution aus Eichendorffs Sicht möglich. Das Buch wird beschlossen von Kapiteln über Tiecks "Der junge Tischlermeister "- ein Aufruf zur konservativen Evolution und ein militanter Antirevolutionsroman - sowie über Heines Revolutionsbegriff, wie er sich in seinem Börne-Buch darstellt: die Dimensionen des Revolutionsgeschehens sind im frühen 19. Jahrhundert kaum deutlicher gesehen als hier. Nach dem Untergang der Freiheitshoffnungen in der Nacht des Wallensteinischen Todes, nach der Ästhetisierung der Revolution bei Schlegel, nach der metaphorischen Revolutionsmetaphysik bei Kleist und der Dämonisierung, ja der Diabolisierung der Revolution bei Eichendorff, nach der nur äußerlich biedermeierlichen, tatsächlich aber militanten Gegenrevolutionsideologie bei Tieck macht Heine noch einmal sichtbar, was die Revolution sei: in Bildern
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und Reflexionen, die die Revolutionsdiskussion vorerst auf einen letzten Höhepunkt bringt.
Anmerkungen
Die Wirkung der Französischen Revolution auf die deutsche Literatur ist verständlicherweise schon vielfach behandelt worden; eine ausgezeichnete bibliographische Übersicht, von Monika Wilwerding besorgt, findet sich in dem Band: Französische Revolution und deutsche Literatur, hsrg. von Karl Eibl, Hamburg 1986 (Aufklärung. Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte, Jg. 1, H. 2, 1986). Trotz der großen Fülle an einzelnen Arbeiten gibt es nicht sehr viele zusammenfassende Darstellungen. Sehr ausführlich ist das Buch von Alfred Stern: Der Einfluß der Französischen Revolution auf das deutsche Geistesleben, Stuttgart u. Berlin 1928; bleibt das Buch in vielem auch nur eine gelegentlich sehr summarisch verfahrende Literaturgeschichte, so hat es seinen Wert durch die Fülle der Belege doch behalten; Stern bezieht auch Publizisten und Philosophen in seine Darstellung mit ein, und als Stoffsammlung ist der Band immer noch brauchbar. Andere Bücher, die sich mit dem Generalthema "Deutsche Literatur und Französische Revolution" beschäftigen, enthüllen sich oft nur als Aufsatzsammlungen, das gilt ebenso für den Band: Deutsche Literatur und Französische Revolution, der ohne Herausgeber in Göttingen 1974 erschien und sieben Einzelbeiträge enthält, wie für den Band: Deutsche Klassik und Revolution, der die Texte eines literaturwissenschaftlichen Kolloquiums enthält und von Paolo Chiarini und Walter Dietze in Rom 1981 herausgegeben wurde. Titel wie: Wieland und die Französische Revolution, Goethe und die Französische Revolution, Hölderlin und die Französische Revolution in dem in Göttingen erschienenen Band von 1974 zeigen, wie speziell die Themenstellungen geworden sind; schon Arbeiten, die über einen Autor hinausgehen wie Richard Brinkmanns: Frühromantik und Französische Revolution, haben einen gewissen Seltenheitswert. Einen guten Überblick über das Thema und seine Problematik bietet H a r r o Segeberg: Deutsche Literatur und Französische Revolution. Zum Verhältnis von Weimarer Klassik, Frühromantik und Spätaufklärung, in: Deutsche Literatur zur Zeit der Klassik. Hrsg. von Karl Otto Conrady, Stuttgart 1977, S. 243-266 (mit vielen Literaturhinweisen in den Anmerkungen). Eine sozialgeschichtlich orientierte Darstellung hat Lothar Bornscheuer geliefert: Deutsche Klassik und französische Revolution. Politisch-soziales Bewußtsein in der klassischen deutschen Literatur und in der Klassik-Forschung, in: Revolution und Demokratie in Geschichte und Literatur. Zum 60. Geburtstag von Walter Grab hrsg. von Julius Schoeps u. Imanuel Geiss, Duisburg 1979, S. 19-39. Gonthier-Louis Fink schrieb über: Das Frankreichbild in der deutschen Literatur und Publizistik zwischen der Französischen Revolution und den Befreiungskriegen, in: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 81/83, 1977/79, S. 59-87. Zur generellen Wirkung der Französischen Revolution auf Deutschland gab Jürgen Voss einen Sammelband heraus: Deutschland und die Französische Revolution. 17. Deutsch-französisches Historikerkolloquium des Deutschen Historischen Instituts Paris, München und Zürich 1983. Allgemeinere Perspektiven auch bei Karol Sauerland: Goethes, Schillers, Fr. Schlegels und Novalis' Reaktionen auf die neuen politischen, konstitutionellen und sozialphilosophischen Fragen, die die Französische Revolution aufwarf, in: Daß eine Nation die ander verstehen möge. Festschrift für Marian Szyrocki zu seinem 60. Geburtstag. Hrsg. von Norbert Honsza und Hans-Gert Roloff, Amsterdam 1988, S. 615-637 (Chloe. Beihefte zum Daphnis, Bd. 7). Umfassend örientiert die Literaturgeschichte von Gerhard Schulz: Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration, 2 Bde.; Bd. 1: Das Zeitalter der Französischen Revolution, München 1983. Sozialgeschichtlich gehalten ist der Artikel: Die Französische Revolution und ihre Wirkungen von H a r r o Segeberg, in: Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart hrsg. von von Viktor Émegaí, Bd. 1/1, Königstein/Ts. 1978, S. 331-348; Dieter Borchmeyer u. a. behandeln in Bd. 1/2 Weimar im Zeitalter der Revolution (S. 1-86), Ernst Ribbat u. a. Wirkungen der Revolution auf die Romantik (S. 92-178). Ausdrücklich hinzuweisen ist auch auf den immer noch sehr lesenswerten Aufsatz von Theodor Schieder: Das
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Problem der Revolution im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift, Bd. 170, München 1950, S. 233-271.
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Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke, hrsg. von Bernhard Suphan, Berlin 1883, Bd. XVIII, S. 314. Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, in: Gerhard Anton von Halem's Selbstbiographie nebst einer Sammlung von Briefen an ihn. Hrsg. von C. F. Strackerjan, Oldenburg 1840, Briefe, S. 117. Friedrich Maximilian Klinger: Geschichte eines Teutschen der neusten Zeit, in: Werke, 8. Bd., Königsberg 1809, S. 247. Wilhelm Heinse: Sämtliche Werke, hrsg. von Carl Schüddekopf, 8. Bd. 2. Abt., S. 426. Ebd., 8. Bd., 3. Abt., Leipzig 1925, S. 76. Johann Wilhelm Ludwig Gleim, in: Von und an Herder. Ungedruckte Briefe aus Herders Nachlaß, hrsg. von Heinrich Düntzer und Ferdinand Gottfried von Herder, Leipzig 1861/62, Bd. 1, S. 157 (Brief vom 23. April 1793). H a n s Schulz, Leipziger Stimmen von 1793 über Deutschland und die Revolution, in: Euphorion 17,1910, S. 49. Tag- und Jahreshefte, 1794, in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, hrsg. von Erich Trunz, Bd. X, Hamburg 1981, S. 439. Ebd., S. 439. Schillers Werke. Nationalausgabe. 42. Bd., Schillers Gespräche, hrsg. von Dietrich Germann und Eberhard Haufe, Weimar 1967, S. 179f. Joseph Görres: Teutschland und die Revolution, in: Politische Schriften (1817-1822), ( = Gesammelte Schriften 13. Bd.), hrsg. von Günther Wohlers, Köln 1929, S. 61. Ebd., S. 86. Ebd. Friedrich Gentz: Betrachtungen über die französische Revolution nach dem Englischen des H e r r n Burke neu bearbeitet mit einer Einleitung, Anmerkungen, politischen Abhandlungen und einem critischen Verzeichnis der in England über diese Revolution erschienenen Schriften, Berlin 1794,1. Theil, S. XXV. Christoph Martin Wieland: Unparteyische Betrachtungen über die dermalige StaatsRevolution in Frankreich, in: C. M. Wieland: Gesammelte Schriften. 1. Abteilung. Werke. Bd. 15, hrsg. von Wilhelm Kurrelmeyer, Berlin 1930, S. 337. Ebd., S. 348. Ebd., S. 338. Christoph Martin Wieland an Gerhard Anton von Halem, 30. November 1790, in: Gerhard Anton von Halem's Selbstbiographie nebst einer Sammlung von Briefen an ihn, hrsg. von C. F. Strackerjan, 1840, Briefe, S. 110. Gottfried August Bürger: Ermunterung zur Freiheit, in: Sämtliche Werke, hrsg. von Günter und Hiltrud Häntzschel, München 1987, S. 809. Friedrich Hölderlin, Brief an die Schwester vom 19. oder 20. Juni 1792, in: Hölderlin, Sämtliche Werke, Stuttgarter Ausgabe, 6. Bd., Briefe, hrsg. von Adolf Beck, Stuttgart 1954, S. 77. Ernst Moritz Arndt: Geist der Zeit I, in: Arndts Werke, hrsg. von August Leffson und Wilhelm Steffens, Berlin [1912], 6. Teil, S. 157. Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe, hrsg. von Wolfgang Promies, München 1968,1. Bd., Sudelbücher, S. 895. Dazu Hedwig Voegt: Die deutsche jakobinische Literatur und Publizistik von 17891800, Berlin ( D D R ) 1955; vgl. auch Gerhard Steiner, Jakobinerschauspiel und Jakobinertheater. Deutsche revolutionäre Demokraten, Bd. 4, Stuttgart 1973; dazu auch Wolfgang Martens, Der Literat als Demagoge. Zum Thema der politischen Gefährlichkeit des Schriftstellers um 1790, entwickelt am Beispiel von Ifflands Antirevolutionsdrama Die Kokarden, in: Presse und Geschichte. Beiträge zur historischen Kommunikationsforschung, München 1977, S. 100-136. Karl Gutzkow: Ausgewählte Werke in 12 Bänden, hrsg. von Heinrich Hubert Houben. Leipzig (o. J.), Bd. 8, S. 232f.
II. Die Tragödie der verhinderten Selbstbestimmung Schillers Aufklärungsdenken, die Französische Revolution und "Wallenstein" als politische Antwort
Liest man Schillers Briefe des Jahres 1789, findet man auch nicht eine einzige Bemerkung zu jener Revolution, die Hegel eine Generation später "als welthistorische zu betrachten" empfahl1. Schiller bewegt sich auf Freiersfüßen und schreibt verliebte Briefe bald an Caroline von Beulwitz, bald an Charlotte von Lengefeld. Von Freiheit ist gelegentlich die Rede, aber der Kontext zeigt, wie das zu verstehen ist: redensartlich. "Denn die grimmige Gesichter der Gelehrten verscheuchen alles, was Freiheit und Freude athmet", heißt es in einem Brief vom 24. Juli 1789.2 Kein Wort von den französischen Ereignissen - Schiller hat es in in seinen Vorlesungen ohnehin mit älteren Dingen zu tun. Mit Beginn des Wintersemesters 1789/90 will er über "die Geschichte der Römer und die Neuere Universalhistorie" lesen, und seine Sorge ist, genügend Studenten zu haben. Der Universalhistoriker vertieft sich in die Geschichte des Altertums. "Ich eile jezt ganz gewaltig, und meine Studenten freuen sich ordentlich, wie schnell es geht. Ganze Jahrhunderte fliegen hinter uns zurück. Morgen bin ich schon mit dem Alcibiades fertig, und es geht mit schnellen Schritten dem Alexander zu, mit dem ich aufhöre", schreibt er an die Schwestern am 1. September 1789.3 Noch immer kein Wort über die Französische Revolution, und wenn er auch plant, von Ostern 1789 bis Ostern 1790 "den ganzen Cursus der Universalhistorie durchgemacht" zu haben,4 so meint er eine Universalgeschichte "von der fränkischen Monarchie an, biss auf Fridrich II. und eine Stunde publice Geschichte der Römer". Körner bekommt den philosophischen Hintergrund des Universalhistorikers zu sehen. Schiller schreibt an ihn am 13. Oktober 1789: "Es ist ein armseliges kleinliches Ideal, für eine Nation zu schreiben; einem philosophischen Geist ist diese Grenze durchaus unerträglich. Dieser kann bey einer so wandelbaren zufälligen und willkührlichen Form der Menschheit, bey einem Fragmente (und was ist die wichtigste Nation anders?) nicht stille stehen".5 War Schiller so sehr in seine universalhistorischen Streifzüge vertieft, daß er das große Ereignis nebenan nicht sah? War er so gründlich, noch im
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Oktober 1792, in Überlegungen zur Darstellung der Reformationsgeschichte versunken, daß er die politische Reformation in Frankreich nicht wahrnahm? Schillers Briefe könnten in der Tat den Eindruck erwecken, als ob er nur wenig von der Französischen Revolution gewußt habe. Aber das stimmt nicht. Schiller war recht genau über die Vorgänge in Paris unterrichtet, auch wenn sich davon so gut wie nichts in seinen Briefen spiegelt. Caroline von Beulwitz hat jedoch einiges in ihrer Schiller-Biographie festgehalten, als sie schrieb: "Die Pariser Begebenheiten waren natürlich oft der Gegenstand seiner Gespräche, und ich erinnere mich, daß er, wenn wir uns des Geistes und der schönen Reden der Nationalversammlung erfreuten, sagte: es sei unmöglich, daß von einer Gesellschaft von sechshundert Menschen etwas Vernünftiges beschlossen werde".6 Das läßt schon vieles von der Skepsis erkennen, die bei Schiller aber eben nicht eine unmittelbare Reaktion auf die Vorgänge in Paris war, sondern mit seinen historischen und philososphischen Studien zusammenhing. Informiert war Schiller über die französischen Vorgänge sowohl durch Karl Friedrich Reinhard als auch durch Wilhelm von Wolzogen, der Schiller brieflich aus Paris berichtete. Aber nur einmal kommt Schiller in seinen Briefen an die Revolution nahe heran - nicht an die politische, sondern an eine theologische. Im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zur Reformation und seinem Plan, auf die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges eine Geschichte der Reformation folgen zu lassen, schreibt Schiller am 14. Oktober 1792 an den Verleger Göschen: "Ich muß gestehen, dass es mir sehr leid thun würde, wenn diese herrliche Gelegenheit, auf die VorstellungsArt der ganzen Deutschen Nation von ihrem Religionsbegriff zu wirken, und durch dieß einzige Buch vielleicht eine wichtige Revolution in Glaubenssachen vorzubereiten, nicht benutzt werden sollte. Jetzt über die Reformation zu schreiben, und zwar in einem so allgemeingelesenen Buch, halte ich für einen großen politisch wichtigen Auftrag und ein fähiger Schriftsteller könnte hier ordentlich eine welthistorische Rolle spielen".7 Heine wird vierzig Jahre später in der protestantischen Reformation die erste Phase einer welthistorischen Revolution sehen und in der idealistischen Philosophie die deutsche Variante einer Umwälzung aller Dinge, die in Frankreich politische, in Deutschland theologisch-erkenntnistheoretische Folgen hatte. Hat Schiller für die politischen Dimensionen der Französischen Revolution vielleicht deswegen keine Augen gehabt, weil er längst an etwas anderes, nämlich an eine religiöse Revolution dachte, eben an eine "Revolution in Glaubenssachen"? In der Tat hat Schiller in dieser Zeit revolutionäres Gedankengut im Kopfe gehabt - bloß auf die Religion bezogen, nicht auf soziale Verhältnisse. Aus seinen historischen Vorlesungen sprach der Aufklärer Schiller, und
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Schiller hat in der Vorlesung bzw. in der Schrift "Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde" außerordentlich revolutionäre Ideen geäußert: er negiert die Lehre von der menschlichen Schuld und vom Sündenfall sowie von dem damit in die Welt gekommenen Bösen radikal, er interpretiert die christliche Geschichtsdeutung um zu einer aufgeklärten, geradezu rebellischen Sicht der Menschheitsgeschichte, die in theologischer Hinsicht für ihn nichts anderes war als Revolutionsgeschichte, Befreiungsgeschichte - von jenem Zeitpunkt an, an dem der Mensch sich seiner Autonomie bewußt wurde. Schiller hat sich damals rigoros und kompromißlos über die Lehre vom Sündenfall ausgelassen, sie gleichsam auf den Kopf gestellt und eine Art Gegentheologie entwickelt. Er schrieb: "Wenn wir also jene Stimme Gottes in Eden, die ihm den Baum der Erkenntniß verbot, in eine Stimme seines Instinktes verwandeln, der ihn von diesem Baume zurückzog, so ist sein vermeintlicher Ungehorsam gegen jenes göttliche Gebot nichts anders als - ein Abfall von seinem Instinkte - also, erste Aeußerung seiner Selbstthätigkeit, erstes Wagestück seiner Vernunft, erster Anfang seines moralischen Daseyns. Dieser Abfall des Menschen vom Instinkte der das moralische Uebel zwar in die Schöpfung brachte, aber nur um das moralische Gute darinn möglich zu machen, ist ohne Widerspruch die glücklichste und größte Begebenheit in der Menschengeschichte, von diesem Augenblick her schreibt sich seine Freiheit, hier wurde zu seiner Moralität der erste entfernte Grundstein geleget. Der Volkslehrer hat ganz recht, wenn er diese Begebenheit als einen Fall des ersten Menschen behandelt, und wo es sich thun läßt, nützliche moralische Lehren daraus zieht, aber der Philosoph hat nicht weniger Recht, der menschlichen Natur im Großen zu diesem wichtigen Schritt zur Vollkommenheit Glück zu wünschen". 8 Ein erster Schritt zur Freiheit - aber nur in Glaubensdingen, nicht in politischen. Schillers Protest richtet sich nicht gegen die Religion, wohl aber gegen die Interpretation der Geschichte durch die Kirche, und es ist unschwer zu sehen, daß hier Aufklärungsideen virulent werden, die bei Schiller schon lange vorgeprägt sind und die sich bis dahin nur in dramatischer oder lyrischer Form geäußert hatten. Schiller ist Aufklärer gewesen, auch wenn das wiederholt bestritten wurde; er war es seit der Karlsschule, und er hat schon früh nicht nur den kritischen Zweifel als Erkenntnisinstrument genutzt, sondern vor allem Selbstbestimmungsideen das Wort geredet. Aufklärerische Vorstellungen lassen sich bis in sein Jugendwerk hinein zurückverfolgen. Es ist gedankenlose Konvention, Schillers Erstlingsdrama "Die Räuber" in die Nähe des Sturm und Drang zu rücken: die aufklärerischen Züge sind im Grunde genommen viel deutlicher. Die aufklärerische Tendenz zeigt sich schon in der Wahrheitssuche: die Wahrheit soll ans Licht kommen, und
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Schiller wußte, wie er dem genügen konnte; so sah er sich als Dramatiker veranlaßt, "dem Menschen durch jede Dekoration des bürgerlichen Lebens zu folgen, in jedem Zirkel ihn aufzusuchen und, wenn ich mich des Bildes bedienen darf, die Magnetnadel an sein Herz hinzuhalten".9 Natürlich gab es auch Kritik am Absolutismus: aber doch nicht in der Form, daß hier die Rebellion gegen den Staat gepredigt wurde. Kein einziges der frühen Dramen Schillers ist in diesem Sinne ein Revolutionsdrama, und wenn im "Fiesko", jedenfalls in einer der Fassungen, auch der Republikaner das Drama beschließt, wenn die antike Geschichte hineinragt und von Brutus und Cäsar die Rede ist, wenn vor der Tyrannei einer Adelsclique gewarnt wird, so geht es doch niemals um die Revolution des Volkes gegen den Adel. Das hatte mehr noch seine literarischen als seine kulturgeschichtlichen Gründe: denn längst vor Schillers Zeit hatte sich in der dramatischen Literatur (und nicht nur dort) die Vorstellung durchgesetzt, daß Veränderungen in der absolutistischen Welt nicht von unten kommen müßten, sondern nur von oben: daher die zahlreichen guten Adeligen, die den Lauf der Welt verbessern möchten, und diese guten Adeligen bevölkern das Drama nicht nur bei Schiller. An politische Revolution wird nicht gedacht; die Veränderung von innen heraus, die Evolution von oben her mit Hilfe des Adels und durch den Adel ist ein politisches Konzept im weitesten Sinne, das die deutsche Literatur beherrscht und das auch Schillers Dramatik mitbestimmt. Erich Auerbach hat "Kabale und Liebe" einen Dolchstoß in das Herz des Absolutismus genannt. 10 Das läuft auf eine völlige Verkennung der damaligen Umstände und auch der Absichten Schillers hinaus. Sehr viel näher kommt Joachim Müller den tatsächlichen Verhältnissen, wenn er - die Bezeichnung mag unglücklich wirken oder in gewissem Sinne sogar widerspruchsvoll - Ferdinand in diesem Drama als einen "Adelsdemokraten" bezeichnet. 11 Das ist ebenfalls mißverständlich, soll aber besagen, daß hier ein Adeliger progressive Ideen nicht nur ausspricht, sondern auch verwirklichen möchte. Demokratisch ist das, was er will, durchaus nicht, aber aus Ferdinand spricht der gute Adelige, wie aus so vielen anderen, heute so gut wie vergessenen Dramen der Zeit. Aufklärung also, aber nicht primär in sozialkritischer Absicht gegen den Absolutismus gerichtet: die wichtigere Aufklärung schien Schiller in theologischen Fragen notwendig zu sein. So hat er sich früh für Freigeisterei ausgesprochen, und zwar bereits in seinen "Philosophischen Briefen". Schon dort ist von "Revolutionen" die Rede - es geht ihm "um einige Revolutionen und Epochen des Denkens, einige Ausschweifungen der grübelnden Vernunft". 12 Die "Philosophischen Briefe" zeigen deutlich, in welchem Bereich Schiller für Veränderungen offen ist: er weiß nur um solche des Bewußtseins, und die "Vorerinnerung" ist ein einziges Bekenntnis zu einer Aufklärung, von
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der allein her er sich die Durchsetzung der Wahrheit erhofft. Revolutionen sind für Schiller nur solche der rebellierenden Vernunft, und da die Aufklärung für ihn nichts anderes ist als "erwachende und fortschreitende Vernunft", sind sie Empörungen des Denkens, so wie denn der Revolutionsbegriff des vorklassischen Schiller alles andere als politisch umstürzlerisch gedacht ist. Aufklärung heißt in dieser Zeit: Befreiung vom Irrtum, und zunächst sind es die religiösen Konventionen, die kirchlichen Denkverhinderungen, die er als zu überwindende Schranken betrachtet. So heißt es bei ihm:
"Scepticismus
und
Freidenkerei
sind
die
Fieberparoxysmen
des
menschlichen Geistes, und müssen durch eben die unnatürliche Erschütterung die sie in gut organisirten Seelen verursachen, zulezt die Gesundheit bevestigen helfen. J e blendender, j e verführender der Irrthum, desto mehr Triumph für die Wahrheit, j e quälender der Zweifel, desto größer die Aufforderung zu Ueberzeugung und fester Gewisheit". 1 3 In dieser 1786 veröffentlichten "Vorerinnerung" ist in etwa bereits die Konzeption der späteren Briefe über die ästhetische Erziehung vorweggenommen, wenn Schiller schreibt: "Ein erleuchteter Verstand hingegen veredelt auch die Gesinnungen". 1 4 Nichts anderes wird Schiller später als ästhetische Erziehung verkünden. Ihr Programm ist schon hier in einem Satz entwickelt: "der Kopf muß das Herz bilden". Wenn beim vorklassischen Schiller revolutionäres Potential aufzuspüren ist, dann immer nur in Form evolutionärer Bemühungen um eine verbesserte Aufklärung. Sie richtet sich - wie es so markant in "Don Karlos" ausgedrückt ist - primär auf "Gedankenfreiheit", nicht direkt auf politische Freiheit und erst recht nicht auf soziale Gleichmacherei. Der Begriff "Gedankenfreiheit" stammt aus der europäischen philosophischen Tradition, 1 5 nicht aus politisch-revolutionären Ansprüchen vor 1789. In welchem Ausmaß die Forderung nach Gedankenfreiheit bei Schiller vor allem mit dem Protest gegen überkommene kirchliche Zwänge verbunden ist, zeigt die Figur des Großinquisitors - die Kirche erscheint als Macht, die Gedankenfreiheit verhindert. Gedankenfreiheit
und Glaubenszwang schließen sich aus, und
Schiller führt hier die Linie der "Philosophischen Briefe" weiter, wo er schon "Scepticismus und Freidenkerei" verteidigt hatte. Auch aus Schillers "Don Karlos" spricht der Aufklärer Schiller, und für Schiller konzentriert sich der vielschichtige, seit Jahrhunderten in Gang gekommene, j a mit der Idee der Menschheit schlechthin verbundene Vorgang der Aufklärung auf eine einzige Forderung: die nach geistiger Selbstbestimmung. Schiller dachte allerdings öffentlich genug, um darin mehr als eine Privatforderung zu sehen. Auch das zeigt das Beispiel des "Don Karlos": das Drama handelt nicht nur von den Autonomiebemühungen Don Karlos', son-
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dem zugleich von der versuchten Selbstbestimmung der Vereinigten Niederlande. Natürlich sind die politischen Dimensionen des Dramas nicht zu übersehen, und Schiller demonstriert drei Jahre vor der Französischen Revolution, daß Selbstbestimmung Freiheit bedeutet, auch Freiheit eines Volkes gegenüber den ihm auferlegten Zwängen einer Regierung. Posa entwirft das Bild eines freien Landes, in dem der Menschheit verlorener Adel wiederhergestellt ist; mit den Freiheitsforderungen verbinden sich bei Schiller eudämonistische Vorstellungen und die Idee, daß der Freiheitsstaat auch der glücklichste Staat auf Erden sein werde. Dennoch - und das ist für Schillers spätere Haltung zur Französischen Revolution entscheidend - ist dieses Drama kein handfestes politisches Rebellionsstück. Es ist ein Aufklärungsdrama, und zwar darin, daß Schiller eine menschheitliche Entwicklung nur als Zuwachs an Einsicht verstehen kann; Weltveränderungen gehen bei ihm immer über die allgemeine Anerkennung grundsätzlicher philosophischer Erkenntnisse. Nichts liegt Schiller in der Zeit des "Don Karlos" ferner als die Vorstellung, daß ein plötzlicher Umschwung der Verhältnisse, ein Aufruhr, ein Hinwegfegen der Fürsten die Welt verändern oder gar verbessern könnte. Die Notwendigkeit von Veränderungen kann sich als Unruhe darstellen, aber Schiller denkt viel zu evolutionistisch, als daß er sich von einem radikalen Umsturz der Dinge etwas zu erhoffen wagte. Andererseits weiß Schiller, daß Selbstbestimmungsideen sich in Völkern nicht von selbst verwirklichen. Hier aber setzt sein zweiter Vorbehalt gegenüber Revolutionen ein: auch dieses Drama lehrt, daß eine Veränderung der Verhältnisse nicht von unten kommen kann, also aus der Schicht der Niederen und Unterdrückten, sondern nur mit Hilfe eines einsichtigen oder einsichtig gewordenen Adels. Schiller hatte schon in "Kabale und Liebe" gezeigt, daß der Adelige ungleich flexibler und kompromißbereiter sein konnte als das bürgerliche Mädchen, und in "Don Karlos" ist die Aufklärung ebenfalls in den Köpfen Adeliger wirksam, nicht in den niederen sozialen Schichten. Hier erscheint der Adelige sogar als Lehrer: die Erziehung des Menschengeschlechts zu einem Staat der Eudämonie kann nur vom Adel ausgehen und über den Adel erreicht werden. Daß Posa mit seinem Erziehungsplan an König Philipp scheitert, ist verständlich; aber er gibt seine Absichten nicht auf, sondern versucht, Karlos zu erziehen, damit die Veränderung der Verhältnisse durch den aufgeklärten Fürsten kommen möge. Natürlich konnte Aufklärung im Reiche Philipps nicht möglich sein. Schiller hat allerdings mit keinem Wort zu verstehen gegeben, wie der Bezug von der Zeit Philipps II. zur eigenen Gegenwart herzustellen sei. Wollte Schiller den Stoff als historischen so verstehen, daß er die Möglichkeit einer raschen Evolution im Spanien König Philipps verneinte, für die eigene Zeit
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aber als ebenso denkbar wie wünschenswert hielt? War das Drama also eine Aufforderung an den Zeitgenossen, darüber nachzudenken, daß vor dem Hintergrund eines allgemeinen Aufklärungsenthusiasmus und im Bewußtsein der evolutionären Kraft der Menschheit 1786 möglich sein sollte, was zweihundert Jahre zuvor unmöglich war? Sollte die Gegenwart also leisten, was das Spanien König Philipps nicht leisten konnte, weil sich die Aufklärung inzwischen so sehr ausgebreitet hatte - oder enthielt das Drama die skeptische Einsicht in die fast unüberwindbaren Schwierigkeiten, erzieherisch und evolutionistisch Ideen der Selbstbestimmung durchzusetzen? Zeigte es das damalige Scheitern dessen, der Aufklärung praktizieren wollte, und den Sieg der restaurativen Kräfte, allem voran den der katholischen Kirche - verbunden mit der Befürchtung, daß jetzt, zu Schillers Zeiten, ebensowenig möglich sei, was damals unmöglich war? Auch Schillers "Briefe über Don Karlos" geben auf alle diese Fragen keine Antwort. Dort heißt es: "Unter beiden Freunden bildete sich also ein enthusiastischer menschlichen
Entwurf, den glücklichsten
Zustand
hervorzubringen,
der der
Gesellschaft erreichbar ist".16 Das ist ebenso aufklärerisch wie
evolutionistisch gedacht. Aber Schiller hat auch hier mit keinem Wort verraten, wie er sich die Anwendung dieses Entwurfes auf seine Zeit dachte. Sicher ist nur, daß er den Adel nicht nur für erziehbar, sondern auch als Erzieher ansah und daß er gegen überraschende Revolutionen von "unten" war. Durch Revolutionen ist Eudämonie nicht zu erreichen; die Träume von Freiheit verlangen eine andere Verwirklichung. Posa ist "Weltbürger", und ihm geht es um "die Befreiung eines unterdrückten Volks". 17 So geht der Marquis "seinen großen kosmopolitischen Gang", wie Schiller es nennt, fest und beharrlich, aber nicht als Revolutionär, sondern als Reformer. D a ß er scheitert, spricht nicht gegen Schillers Aufklärungsdenken und gegen seinen Aufklärungsoptimismus, beleuchtet andererseits aber etwas, was nicht nur für Schiller am Ende des 18. Jahrhunderts charakteristisch ist: den Zweifel, ob Ideen und Ideale ohne eine allgemeine Aufklärung politisch durchsetzbar seien. Es ist darüber hinaus das problematische, disparate, immer neu in Frage gestellte Verhältnis zur Wirklichkeit, was sich bei Schiller vielfach nachweisen läßt, und aus diesem Vorbehalt allem Realen und Tatsächlichen gegenüber ist möglicherweise der Pessimismus des Dramas zu erklären nicht so sehr aus der historischen Konstellation am Hofe Philipps II. Schiller hat als Angehöriger des 18. Jahrhunderts durchaus die Menschlichkeit des Menschen gesehen - er hätte sonst kaum gegen die Lehre vom Sündenfall so scharf opponiert. Aber er wußte auf der anderen Seite genau, daß Glückseligkeit ein nur mühsam zu erreichender Zustand war, und so sehr er von der Güte des Menschen überzeugt war, so sehr doch auch von der Schwierigkeit
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einer Verbesserung des Menschen. Schiller hat in den "Briefen über Don Karlos" ausdrücklich festgestellt, "daß die moralischen Motive, welche von einem zu erreichenden Ideale von Vortrefflichkeit hergenommen sind, nicht natürlich im Menschenherzen liegen und eben darum, weil sie erst durch Kunst in dasselbe hineingebracht worden, nicht immer wohltätig wirken, gar oft aber,
durch
einen sehr
menschlichen
Übergang,
einem
schädlichen
Mißbrauch ausgesetzt sind".18 Das liest sich wie ein Vorgriff auf Forderungen der Briefe über die ästhetische Erziehung, der Hinweis auf den "schädlichen Mißbrauch" moralischer Motive aber wie ein vorweggenommener Kommentar zu den Ereignissen der Französischen Revolution. Diese Bemerkungen zeugen ebenfalls davon, daß Schiller an einen direkten Umschwung der Verhältnisse nicht dachte. Er sah ihn sogar als gefährlich an. Aber bedeutsamer noch als sein Zweifel am Sinn abrupter Umwälzungen ist, daß er Aufklärung als Kampf gegen jede Form der spirituellen Heteronomie begriff. Von politischer Autonomie im Sinne der Französischen Revolution ist bei Schiller nicht die Rede. Auch die Arbeit an der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, 1790 begonnen, bestätigt, daß Aufklärung und Selbstbestimmung religiöse Aufklärung und Selbstbestimmung waren Schiller hat die Idee der Autonomie dort entwickelt und nicht auf dem Feld der politischen Bestimmungen. Die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges war für ihn die Geschichte der Reformation, der Dreißigjährige Krieg selbst eine Kirchenrevolution, der Weg zu einer "verbesserten Religion".19 Unter machtpolitischen Verhältnissen konnte Schiller den Dreißigjährigen Krieg nicht sehen; was ihn erklärlich machte, war allein der darin dokumentierte Versuch einer "Kirchentrennung",20 und es war der Religionskrieg, der ihn in Schillers Augen historisch legitimierte. Es ging um "Glaubensfreyheit". Die kämpfenden Parteien waren "Religionspartheyen",21 und im Ersten Buch der "Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs" kann man nachlesen, daß die Religion "dieses alles" bewirkte. 22 Schiller hat genau definiert, was er darunter verstand, wenn er schrieb: "Ein großer Antheil an der Kirchenrevolution gebührt unstreitig der siegenden Gewalt der Wahrheit, oder dessen, was mit Wahrheit verwechselt wurde. Die Mißbräuche in der alten Kirche, das Abgeschmackte mancher ihrer Lehren, das Uebertriebene in ihren Foderungen mußte nothwendig ein Gemüth empören, das von der Ahndung eines bessern Lichts schon gewonnen war, mußte es geneigt machen, die verbesserte Religion zu umfassen". 23 Nicht die politischen Verhältnisse bestimmten die religiösen; vielmehr hatten die religiösen Vorgänge ihre politische Bedeutung. Wallenstein aber erschien als Revolutionär in Glaubensdingen. Schiller schrieb über ihn abschließend: "Sein freyer Sinn und heller Verstand erhob ihn über die Religionsvorurtheile seines Jahrhunderts, und die Jesuiten ver-
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gaben es ihm nie, daß er ihr System durchschaute, und in dem Papste nichts als einen Römischen Bischof sah".24 Der Dreißigjährige Krieg als Geschichte der religiösen Aufklärung hier zeigt sich wiederum das große Interesse Schillers an religiösen Fragen der Vergangenheit, aber es wäre niemals allein wachgeworden, wäre nicht jenes andere emanzipatorische Interesse gewesen. Schiller - das macht bereits der Beginn des Ersten Buches deutlich - sah klar, daß dieser Dreißigjährige Krieg "den aufglimmenden Funken der Kultur in Deutschland auf ein halbes Jahrhundert verlöschte, und die kaum auflebenden bessern Sitten der alten barbarischen Wildheit zurück gab".25 Aber dennoch war er von vornherein entschlossen, diesen Krieg als aufklärerisches Ereignis darzustellen, als Fortschritt in der Kulturgeschichte der Menschheit, denn trotz der auf ein halbes Jahrhundert verlöschten Kultur war der Krieg letztlich ein Sieg der geistigen Autonomie. Schiller schreibt, ebenfalls zu Beginn des Ersten Buches: "Aber Europa ging ununterdrückt und frey aus diesem fürchterlichen Krieg, in welchem es sich zum erstenmal als eine zusammenhängende Staatengesellschaft erkannt hatte; und diese Theilnehmung der Staaten an einander, welche sich in diesem Krieg eigentlich erst bildete, wäre allein schon Gewinn genug, den Weltbürger mit seinen Schrecken zu versöhnen. Die Hand des Fleißes hat unvermerkt alle verderbliche Spuren dieses Kriegs wieder ausgelöscht, aber die wohlthätigen Folgen, von denen er begleitet war, sind geblieben". 26 Und Schiller gebraucht ein aufklärerisches Bild, um den Fortschritt dieses scheinbar so rückschrittlichen Krieges zu erläutern: "So wie die Flamme der Verwüstung aus dem Innern Böhmens, Mährens und Oesterreichs einen Weg fand, Deutschland, Frankreich, das halbe Europa zu entzünden, so wird die Fackel der Kultur von diesen Staaten aus einen Weg sich öffnen, jene Länder zu erleuchten"Ρ
Daß mit der Reformation auch
"ständische Freiheit" gemeint war, soll nicht verschwiegen werden. Wichtiger aber als das ist wohl, was Schiller zur Figur Wallensteins zu sagen hatte. Der entscheidende Hinweis zur Bewertung seines Charakters findet sich dort, wo er feststellt, daß sich die angebliche "Verräterei des Herzogs" nur auf Vermutungen gründen könne; ein Dokument habe sich nicht gefunden, das diese These belege, und Wallenstein erscheint hier schon als Friedensfürst: "Viele seiner getadeltsten Schritte beweisen bloß seine ernstliche Neigung zum Frieden; die meisten andern erklären und entschuldigen das gerechte Mißtrauen gegen den Kaiser, und das verzeihliche Bestreben, seine Wichtigkeit zu behaupten. [...] keine seiner Thaten berechtigt uns, ihn der Verrätherey für überwiesen zu halten". 28 Und Schiller bringt in einen zugespitzten Schlußsatz, was er von Wallenstein denkt: "so fiel Wallenstein, nicht weil er Rebell war, sondern er rebellirte, weil er fiel".29 Das aber heißt, daß Wallen-
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stein für Schiller kein Verräter war. Schiller zeichnet von ihm bei allen Schwächen des Charakters ein letztlich doch positives Bild, was im Grunde genommen allen späteren Deutungen, die in Wallenstein nur den Verräter sehen, von vornherein einen Riegel vorschiebt. Das ist der Wallenstein der historischen Darstellung - von dem des Dramas trennen uns noch zehn Jahre. Aber diese zehn Jahre sind im Grunde genommen ebenfalls Entstehungsgeschichte des Dramas. Schiller hat in einem Brief an Körner vom 28. November 1791 festgehalten, daß in die Geschichte der Reformation die "Geschichte der Menschheit" als eine unentbehrliche Episode hineingehöre, 3 0 und das zeigt, daß für ihn die Geschichte der Reformation nicht nur das Zentrum der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges war, sondern daß die Reformationsproblematik für Schiller ein Menschheitsproblem betraf und alles andere war als eine rein kriegerische Angelegenheit. Mehr als das: die Reformation war für ihn Emanzipation, Aufklärung.
War es also Schillers Präokkupation mit den Fragen religiöser Autonomie, die ihn blind machte für die Verhältnisse in Frankreich? War er von der Geschichte der Reformation zu besessen, als daß er einen Blick auf die Geschichte der Französischen Revolution werfen konnte? Wollte er von politischer Selbstbestimmung nichts wissen, weil er religiöse Selbstbestimmung für ungleich wichtiger hielt? Vieles spricht tatsächlich dafür. Die Beschäftigung mit Kant tat ein übriges, um ihn von politischen Überlegungen fernzuhalten. Die kritische Philosophie interessierte ihn mehr als die Französische Revolution. Schillers staatsgeschichtliche und staatstheoretische Vorstellungen liefen sogar auf eine deutliche Kritik an den französischen Veränderungen hinaus. Das zeigt bereits der Aufsatz über "Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon", der einer Vorlesung zugrunde lag, die Schiller am 11. oder 12. August 1789 in Jena gehalten hatte - also unmittelbar nach dem Ausbruch der Französischen Revolution. Schiller spricht sich für jene Gesetze aus, die alle Kräfte im Menschen zur Ausbildung bringen, darüber hinaus für solche, die "Fortschreitung der Cultur befördern, oder wenigstens nicht hemmen". 3 1 Das ist der alte Emanzipationsgedanke, hier auf die griechische Frühzeit übertragen. Wie sehr Aufklärung für ihn mit einer Befreiung von verkrusteten, nicht mehr glaubwürdigen religiösen Vorstellungen identisch war, zeigt der Satz "Ein Gesetz z. B. wodurch eine Nation verbunden würde, bey dem Glaubensschema beständig zu verharren, das ihr in einer gewissen Periode als das vor-
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treflichste erschienen, ein solches Gesetz wäre ein Attentat gegen die Menschheit, und keine noch so scheinbare Absicht würde es rechtfertigen können. Es wäre unmittelbar gegen das höchste Gut, gegen den höchsten Zweck der Gesellschaft gerichtet".32 Von einer solchen Kritik führte der Weg verständlicherweise zur Kantischen Philosophie, gewiß aber nicht zur Anerkennung der Französischen Revolution, und allenfalls indirekt findet sich in dieser Vorlesung eine Stellungnahme auch zu Revolutionsfragen, wie sie in Frankreich gerade behandelt wurden. Schiller schildert, um die Gesetzgebung des Solon würdigen zu können, den Zustand des atheniensischen Volkes, und er beschreibt ihn als äußerst beklagenswert. Bei Schiller heißt es: "Eine Klasse des Volks besaß alles, die andre hingegen gar nichts; die Reichen unterdrückten und plünderten aufs unbarmherzigste die Armen. Es entstand eine unermeßliche Scheidewand zwischen beyden. Die Noth zwang die ärmern Bürger zu den •Reichen ihre Zuflucht zu nehmen, zu eben den Blutigeln, die sie ausgesogen hatten; aber sie fanden nur eine grausame Hülfe bey diesen. Für die Summen die sie aufnahmen, mußten sie ungeheure Zinsen bezahlen, und wenn sie nicht Termin hielten, ihre Ländereyen selbst an die Gläubiger abtreten. [...] So schrecklich war der Zustand Athens. Wenn der Staat nicht zu Grunde gehen sollte, so mußte man dieses zerstörte Gleichgewicht der Güter auf eine gewaltsame Art wieder herstellen". 33 Ähnlichkeiten zum Zustand Frankreichs vor der Französischen Revolution sind zwar nur ungefährer Natur, aber dennoch auffällig. Denn eine ungerechte Verteilung der Güter gab es dort ebenfalls; auch sie führte ja zum Ausbruch der Revolution in Frankreich. Der Historiker Schiller hat nun genau verfolgt, wie die Entwicklung in Athen weiterging. Er sah drei Lösungsmöglichkeiten, wie man das zerstörte Gleichgewicht der Güter wiederherstellen könne: "Zu diesem Ende waren unter dem Volk drey Faktionen entstanden. Die Eine, welcher die armen Bürger besonders beytraten, foderte eine Demokratie, eine gleiche Vertheilung der Aecker, wie sie Lykurgus in Sparta eingeführt hatte; die andre, welche die Reichen ausmachten, stritt für die Aristokratie - Die dritte wollte beyde Staatsformen miteinander verbunden wissen, und setzte sich den beyden andern entgegen, daß keine durchdringen konnte". 34 Darin ist unschwer die Kräftekonstellation im Frankreich des Jahres 1789 wiederzuerkennen. Schiller nun weiß, wie sich das Problem in Athen löste; eine Einigung konnte so lange nicht möglich sein, ehe man "nicht einen Mann fand, dem sich alle drei Parteyen auf gleiche Weise unterwarfen, und ihn zum Schiedsrichter über sich anerkannten". Dieser Mann war Solon; und Schiller wird nicht müde, seine Leistungen zu preisen: den Ausgleich der krassen sozialen Unterschiede, die neue Konstitution der Republik mit dem Dreiklassenwahlrecht. Die Aufzählung der Solonschen Wohl-
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taten endet bei Schiller mit der Feststellung: "Athens Verfassung war auf diese Art in eine vollkommene Demokratie verwandelt; im strengsten Verstände war das Volk souverain, und nicht bloß durch
Repräsentanten
herrschte es, sondern in eigner Person und durch sich selbst"?5 Nicht genug damit: Solon verstand es, so Schiller, seine Gesetzgebung den veränderten Verhältnissen jeweils anzupassen, wenn sich nachteilige Folgen seiner Einrichtungen zeigten; und Schiller rühmt an ihm, daß er begriffen habe, "daß Gesetze nur Dienerinnen der Bildung sind, daß Nationen in ihrem männlichen Alter eine andere Führung nöthig haben als in ihrer Kindheit",36 Frankreich aber hatte keinen Solon. Schillers Kritik an den revolutionären Verhältnissen in Frankreich ist nicht zu überhören. Kein Zweifel, daß diese antike Staatsgeschichte aus der Perspektive des Aufklärers beschrieben ist und daß Schiller hier eine Staatsverfassung fand, die er für vorbildlich hielt. Schiller hat zwar auch die Schwächen der Solonschen Gesetzgebung gesehen; er wußte, daß Solon "dem Volk zu große Gewalt gegeben habe", der Klippe der "Anarchie" zu nahe gekommen sei; und er nannte als die Übel, "welche von einer Democratic unzertrennlich sind, tumultuarische und leidenschaftliche Entscheidungen". An dieser Stelle schlägt Schiller einen bezeichnenden Bogen zur Gegenwart. In Athen nämlich konnte man der Anarchie noch steuern, doch das schien um 1790 kaum möglich. Schiller schrieb: "Wenn man aber auf der andern Seite bedenkt, wie gut auch der gemeinste Athenienser mit dem gemeinen Wesen bekannt war, wie mächtig der Nationalgeist in ihm wirkte, wie sehr der Gesetzgeber dafür gesorgt hatte, daß dem Bürger das Vaterland über alles gieng, so wird man einen bessern Begriff von dem politischen Verstand des atheniensischen Pöbels bekommen, und sich wenigstens hüten von dem gemeinen Volke bey uns voreilig auf jenes zu schließen".37 Der moderne Pöbel also als unfähig, sich dem Ganzen zu beugen: auch das ist ein Urteil über die Französische Revolution. Und Schiller hat den Vergleich mit Athen stillschweigend noch dadurch weitergeführt, daß er die Athenienser als ein nahezu ideales Volk rühmte, "weichmüthig und sanft im Umgang, höflich aufgeweckt im Gespräch, leutselig gegen die Geringen, gastfrey und gefällig gegen den Fremden. [...] Delikatesse und Wohlanständigkeit wurden bey keinem Volke des Alterthums so getrieben, als bey diesem [...]. Der Athenienser war großmüthig im Glücke, und im Unglücke standhaft; - dann kostete es ihn nichts für das Vaterland alles zu wagen".38 Wird hier nicht schon ein Idealbild entworfen, zu dem Schiller sich später unter dem Eindruck der Französischen Revolution und ihrer Folgen in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung erneut bekannte? Soll die ästhetische Erziehung nicht eben das erreichen, was schon im Altertum vorweggenommen war? Schiller hat den direkten
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Vergleich zwischen Athen und der Gegenwart nur an einer einzigen Stelle gezogen - dennoch ist aus dieser Vorlesung abzulesen, daß er das gegenwärtige Frankreich so wenig wie das gegenwärtige Deutschland für eine Revolution vorbereitet sah. Das alles läßt erkennen, mit welcher Zurückhaltung Schiller auf das Ereignis der Französischen Revolution reagieren mußte, da sie zwangsläufig in ein Raster von Vorstellungen hineingeriet, das längst entwickelt und sowohl von Schillers historischen Kenntnissen mitgesteuert als auch von spezifischen Aufklärungsintentionen bestimmt war: Religion, Geschichte und Philosophie waren Schillers langjährige Interessensgebiete, nicht das Feld der zeitgenössischen Politik. Was wichtiger war: die Französische Revolution war nicht die spirituelle Befreiung, die Schiller proklamierte, und Paris nicht Athen. Ein Brief an Körner vom 6. November 1792, in dem er den Freund auffordert, über Cromwells Revolution zu schreiben, zeigt erneut Schillers deutliche Distanz, was nicht ausschließt, daß Schiller vieles für tatsächlich verbesserungswürdig hielt: "Es ist sehr interessant, gerade in der jetzigen Zeit ein gesundes Glaubensbekenntniß über Revolutionen
abzulegen; und da es
schlechterdings zum Vortheil der Revolutionsfeinde
ausfallen muß so können
die Wahrheiten, die den Regierungen nothwendig darinn gesagt werden müssen, keinen gehässigen Eindruck machen".39 Dieser Satz ist ein Schlüsselsatz zum Verständnis von Schillers politischer Haltung. Schiller sieht sich zwangsläufig in der Reihe der Revolutionsfeinde, selbst wenn er den Regierungen notwendige Wahrheiten sagen, und das heißt: die Regierungen kritisieren will. Aber auch eine Stellungnahme zur Revolution kann nur eine kritische sein, und darin ist bereits das Urteil enthalten, das Schiller der Revolution fortan entgegenbringen wird. Eine endgültige Kritik an der Französischen Revolution scheint sich Ende 1792 einzustellen, und zwar anläßlich der Vorgänge, die zur Hinrichtung Ludwigs XVI. führten. Schiller wollte für den französischen König eintreten, plante sogar, wie wir wissen, ein Memoire und schrieb an Körner am 21. Dezember 1792: "Mir scheint diese Unternehmung wichtig genug, um die Feder eines Vernünftigen zu beschäftigen; und ein deutscher Schriftsteller, der sich mit Freiheit und Beredsamkeit über diese Streitfrage erklärt, dürfte wahrscheinlich auf diese richtungslose Köpfe einigen Eindruck machen. Wenn ein Einziger aus einer ganzen Nation ein öffentliches Urtheil sagt, so ist man wenigstens auf den ersten Eindruck geneigt, ihn als den Wortführer seiner Classe, wo nicht seiner Nation anzusehen; und ich glaube, daß die Franzosen gerade in dieser Sache gegen fremdes Urtheil nicht ganz unempfindlich sind. [...] Hätte jeder freigesinnte Kopf geschwiegen, so wäre nie ein Schritt zu unserer Verbesserung geschehen. Es
26 gíebt Zeiten, wo man öffentlich sprechen muß, weil Empfänglichkeit dafür da ist, und eine solche Zeit scheint mir die jetzige zu sein". 40 Es war also nicht so sehr die Französische Revolution selbst, es waren die unmittelbaren Folgen der Revolution, die Schiller zu ihrem Kritiker machten. Die Hinrichtung Ludwigs XVI. am 21. Dezember 1793 dokumentierte für Schiller erneut das Scheitern der Französischen Revolution; von da an überwiegt die Ablehnung. Die politischen Ereignisse in Paris, die zur Hinrichtung Ludwigs XVI. führten, machten damals sein geplantes Memoire überflüssig. In welchem Ausmaß sich Schillers Revolutionsbegriff aber ohnehin im Bereich der Ästhetik und der Religion bewegte, zeigen die Briefe, die er an den Prinzen Christian von Augustenburg schrieb - die Vorläufer zu "Über Anmut und Würde". Schiller interessiert sich für die "Revolution in der philosophischen Welt", und die Erschütterung, die er registriert, ist eine solche der Ästhetik. Für ihn ist Kant der eigentliche Revolutionär, nicht Robespierre oder irgendeine Gestalt aus dem revolutionären Paris. Wenn Schiller sich zur Mitsprache aufgefordert sieht, dann als Philosoph, den die Zeitereignisse dazu bringen, auch über die Französische Revolution zu sprechen: "Die Ereignisse in diesem letzten Decennium des achtzehnten Jahrhunderts sind für die Philosophen nicht weniger auffordernd und wichtig, als sie sonst nur für den mithandelnden Weltmann sind". 41
Schillers endgültige Antwort auf die Greuel der Französischen Revolution, wie sie ihm die Ereignisse des Jahres 1792 vor Augen gebracht hatten, ist bekannt; er hat in dem Brief an den Augustenburger vom 13. Juli 1793 ausdrücklich davon gesprochen, daß der "Versuch des französischen Volks, sich in seine heiligen Menschenrechte einzusetzen, und eine politische Freiheit zu erringen", bloß "das Unvermögen und die Unwürdigkeit desselben an den Tag gebracht" habe: Frankreich, mit ihm ein beträchtlicher Teil Europas und dazu ein ganzes Jahrhundert seien "in Barbarey und Knechtschaft zurückgeschleudert". Vorher schon hatte Schiller seinen berühmten Satz hingeschrieben: "Ja, ich bin soweit entfernt, an den Anfang einer Regeneration im Politischen zu glauben, daß mir die Ereignisse der Zeit vielmehr alle Hoffnungen dazu auf Jahrhunderte benehmen". 4 2 Schiller hatte erkannt, daß die "Aufklärung der Begriffe" nicht ausreiche, die politischen Verhältnisse zu verbessern; es ist die Kunst, die allein "mitten unter einem barbarischen und unwürdigen Jahrhundert" reinigend wirken kann, und Schiller folgert daraus: "Politische und bürgerliche Freiheit bleibt immer und ewig das heiligste aller Güter, das würdigste Ziel aller Anstrengungen, und das große Centrum aller
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Kultur - aber man wird diesen herrlichen Bau nur auf dem festen Grund eines veredelten Charakters aufführen, man wird damit anfangen müssen, für die Verfassung Bürger zu erschaffen, ehe man den Bürgern eine Verfassung geben kann". 43 Das Ideal des atheniensischen Staates unter Solon schimmert hier deutlich durch das Konzept der ästhetischen Erziehung hindurch. Daß die Französische Revolution unter grundsätzlich anderen Voraussetzungen quasi wiederholt werden müsse, um "politische und bürgerliche Freiheit" zu erreichen: daran hat Schiller allerdings nicht gezweifelt; daß Freiheit erreicht werden könne, ist die Prämisse seines Schreibens über die Probleme der ästhetischen Erziehung. Die Revolution, die er aus den Berichten aus Paris kennenlernte, hatte ihn mit Abscheu erfüllt; daß die Revolution nötig sei, daß Selbstbestimmung weiterhin eine Forderung der Zeit bleiben müsse, davon ist Schiller dennoch überzeugt. Die Briefe über die ästhetische Erziehung wären sonst nicht geschrieben worden. Diese Briefe bekräftigen, was Schiller sich eigentlich von der Revolution erwartet: nicht politische Freiheit ist wichtig, sondern geistige Freiheit. Schiller hatte bereits in "Über Anmut und Würde" vom "freyen Principium im Menschen" gesprochen, 44 und Freiheit in politischer Hinsicht lag schon dort "zwischen dem gesetzlichen Druck und der Anarchie mitten inne". 45 Freiheit also als Zustand der Selbstbestimmung: eben davon handeln die Briefe über die ästhetische Erziehung. Schiller hat sie ausdrücklich gegen den Vorwurf verteidigt, er beschäftige sich hier, angesichts der Vorgänge in Frankreich, mit einem zeitfernen Thema. Schillers berühmte Frage lautet: "Ist es nicht wenigstens ausser der Zeit, sich nach einem Gesetzbuch für die ästhetische Welt umzusehen, da die Angelegenheiten der moralischen ein soviel näheres Interesse darbieten, und der philosophische Untersuchungsgeist durch die Zeitumstände so nachdrücklich aufgefordert wird, sich mit dem vollkommensten aller Kunstwerke, mit dem Bau einer wahren politischen Freyheit zu beschäftigen?" 46 Seine nicht weniger berühmte Antwort lautet: "Ich möchte nicht gern in einem andern Jahrhundert leben, und für ein andres gearbeitet haben. Man ist eben so gut Zeitbürger, als man Staatsbürger ist [...]". Im folgenden aber wird deutlich, daß es ihm nicht um Fragen der politischen Macht, sondern um Fragen der Vernunftherrschaft geht. Schiller weiß genau, daß Paris der "politische Schauplatz" ist, "wo jetzt, wie man glaubt, das große Schicksal der Menschheit verhandelt wird". Für ihn ist das französische Problem jedoch nicht eine Frage des "blinden Rechts des Stärkern", sondern soll "vor dem Richterstuhle reiner Vernunft anhängig gemacht" werden, 47 und hier zeigt sich wiederum, in welchem Ausmaß Schiller das politische Problem als Problem der Aufklärung und deren Forderung nach Autonomie betrachtet wissen will. Schiller interpretiert Freiheit immer nur als auf Vernunft
28 gegründete Freiheit; wie nun eine solche Vernunftfreiheit zu erreichen ist, eben das schildern die Ästhetischen Briefe. Nur die ästhetische Erziehung, so Schiller, kann die "Totalität in unsrer Natur" herstellen 4 8 oder vielmehr: wiederherstellen, da sie durch die Entwicklungsgeschichte der Menschheit verlorengegangen war. Der Staat, so lautet Schillers Gedankengang, kann diese Wiederherstellung nicht leisten, denn es war der Staat, der "das Uebel veranlaßt" hat, und Schiller stellt im Siebenten Brief noch einmal fest: "Das jetzige Zeitalter, weit entfernt uns diejenige Form der Menschheit aufzuweisen, welche als nothwendige Bedingung einer moralischen Staatsverbesserung erkannt worden ist, zeigt uns vielmehr das direkte Gegentheil davon. Sind also die von mir aufgestellten Grundsätze richtig, und bestätigt die Erfahrung mein Gemähide der Gegenwart, so muß man jeden Versuch einer solchen Staatsveränderung solange für unzeitig und jede darauf gegründete Hoffnung solange für schimärisch erklären, bis die Trennung in dem innern Menschen wieder aufgehoben, und seine Natur vollständig genug entwickelt ist, um selbst die Künstlerinn zu seyn, und der politischen Schöpfung der Vernunft ihre Realität zu verbürgen". 49 Wenn im folgenden von Freiheit die Rede ist, dann von der Freiheit des "Gemüths", 50 also von der inneren Freiheit des Menschen. Und Schillers Gedankengang führt am Ende nicht dahin, wo er hinführen sollte, also zur Übertragung seiner Freiheitslehre auf die gegenwärtigen Gesellschaftsverhältnisse. Wenn am Schluß vom "Staat des schönen Scheins" gesprochen wird, so ist dieser Begriff metaphorisch verstanden, und so der von der "reinen Kirche" und der "reinen Republik", 5 1 wo der Mensch "weder nöthig hat, fremde Freyheit zu kränken, um die seinige zu behaupten, noch seine Würde wegzuwerfen, um Anmuth zu zeigen"; der Entwurf des ästhetischen Staates bleibt reine Utopie. Gleichheit gibt es nur ersatzweise: "Hier also in dem Reiche des ästhetischen Scheins wird das Ideal der Gleichheit erfüllt, welches der Schwärmer so gerne auch dem Wesen nach realisiert sehen möchte; und wenn es wahr ist, daß der schöne Ton in der Nähe des Thrones am frühesten und am vollkommensten reift, so müßte man auch hier die gütige Schickung erkennen, die den Menschen oft nur deswegen in der Wirklichkeit einzuschränken scheint, um ihn in eine idealische Welt zu treiben". Und Schiller liefert sogar am Ende eine Rechtfertigung der adeligen Welt, im Glauben daran, daß "der schöne Ton", also das ästhetische Gespräch, die ästhetische Erziehung dort eher möglich sind als anderwo. Schiller ist bereit, dafür Einbußen in der Wirklichkeit
hin-
zunehmen, um den Menschen "in eine idealische Welt zu treiben" - ein erstaunlicher Satz, verständlich aber insofern, als hier der Geist des Aufklärers spricht und nicht der kritische Revolutionär. Im übrigen steht dieser Satz jenen Vorstellungen nahe, daß die Revolution von "oben", also aus dem Be-
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reich des Adels kommen müsse, nicht von "unten", also nicht durch die Herrschaft der plötzlich befreiten Bürger. Im ganzen belegen die Briefe über die ästhetische Erziehung erneut die Abkehr von den Ereignissen in Frankreich. Schiller versucht, gegründet auf die unendliche Macht der Kunst im 18. Jahrhundert, ein Erziehungsinstrument zu nutzen, um das zu ermöglichen, was in Frankreich hätte geschehen können. Aus den Ästhetischen
Briefen
spricht der Aufklärer,
der in
Frankreich nicht die Ideale der Aufklärung in die Wirklichkeit umgesetzt sah, sondern erkannt hatte, daß die Aufklärung hier denaturiert worden war. Allerdings zeigt sich, daß ein Aufklärungsdenken, wie Schiller es praktiziert hatte, kaum noch bereit war, auf die Bedingungen der Realität einzugehen. Wenn Aufklärung Geistesfreiheit bedeutet, religiöse Selbstbestimmung eingeschlossen, dann liegt es nahe, dort, wo sich ein Konflikt mit der wirklichen Welt
anbahnt,
gedankliche
Freiheit
unabhängig
von
ihrer
Realisie-
rungsmöglichkeit zu vertreten; Schiller hat hier keine Zugeständnisse gemacht, als wahrer Aufklärer wollte er von einer halben Freiheit nichts wissen. Es ist sicherlich kein Zufall, daß Schiller in seiner letzten großen Schrift, "Über naive und sentimentalische Dichtung", der Idylle
einen
höchsten kulturellen Wert zuschrieb, dem Wirklichkeit nicht mehr entsprach. Das Ende dieser Abhandlung liest sich fast wie ein Schlußwort zu den Ereignissen der Französischen Revolution - wenn vom Phantasten die Rede ist, der das Gesetz verleugnet. Da die Phantasterei, nicht eine "Ausschweifung der Natur sondern der Freyheit", einer "an sich achtungswürdigen Anlage entspringt, die ins unendliche perfektibel ist, so führt sie auch zu einem unendlichen Fall in eine bodenlose Tiefe, und kann nur in einer völligen Zerstörung sich endigen". 52 Sind das die Revolutionsfolgen, von Schiller nicht nur beschrieben, sondern auch bewertet? Mußte zur Phantasterei ausarten, was ohne die ästhetische Erziehung und deren Ideale in Frankreich angegangen worden war? Man hat die letzten Seiten dieser Schrift oft als Auslassungen Schillers über Realism und Idealism gelesen, aber es handelt sich hier wohl doch nicht um philosophische Spekulationen. Schiller hat auch an anderer Stelle ein sarkastisches Urteil über die Schwärmer und Phantasten abgegeben, als er in den Tabulae Votivae schrieb: Der Philosoph und der Schwärmer J e n e r steht auf der Erde, doch schauet das Auge zum Himmel, Dieser, die Augen im Koth, recket die Beine hinauf. 53
Sollte das Schillers letztes Wort zur Revolution und zu Revolutionsenthusiasten in Frankreich gewesen sein?
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Es sieht so aus, als habe Schiller sich mit seiner letzten großen Schrift entschlossen von der politischen Welt zurückgezogen, und manches spricht für die Annahme, als habe er danach von sich aus diese Distanz nur noch vergrößert. Die Balladen haben mit der Französischen Revolution nichts zu tun, die Xenien und Votivtafeln beschäftigen sich mit allem, also durchaus nicht primär mit politischen Dingen, der Briefwechsel mit Goethe befaßt sich mit poetologischen Fragen und mit gemeinsamen Werken. Schiller geht es um seinen "Wallenstein", also ein Drama aus einer Zeit, die wiederum nichts mit der eigenen Gegenwart zu tun hat. Vielmehr spricht zunächst alles dafür, daß Schiller mit seinem "Wallenstein" dadurch, daß er einen historischen Stoff aufgriff, den er vor der Französischen Revolution ja schon einmal als Historiograph behandelt hatte, sich von den Zeitereignissen noch einmal deutlich distanzieren wollte. Es kommt ein weiteres Bedenken hinzu: wenn Schiller sich in seinen späten Dramen historischer Sujets bedient, so tut er das nicht, um die Eigenwertigkeit geschichtlicher Ereignisse dramatisch vorzustellen. Das Historische ist oft nur ein poetischer Schleier, mit dessen Hilfe ein Stoff dichterisch fügsam gemacht werden soll: und die Abweichungen von geschichtlichen Begebenheiten, wie sie etwa in "Maria Stuart" und in der "Jungfrau von Orleans" besonders deutlich werden, weisen ebenfalls darauf hin, daß Schiller die Geschichte nutzen wollte, um sich damit ein poetisches Terrain zu schaffen; am Ende scheint er gerade die Andersartigkeit der dichterisch dargestellten Geschichte im Unterschied zur wirklichen, historiographisch überlieferten Geschichte betont zu haben. So spricht also eigentlich alles dafür, in der Beschäftigung mit dem Wallenstein-Stoff alles andere als eine erneute Antwort auf die Fragen und Probleme der Französischen Revolution zu sehen, zumal diese ja schon hinreichend in seinen Ästhetischen Briefen kommentiert zu sein schien. Doch stimmt die These vom weitabgewandten, der Geschichte zugekehrten Schiller, der damit Protest gegen die Zeit einlegte, wie Goethe das später auf andere und doch ähnliche Weise mit seinem "Westöstlichen Divan" getan hat, mit "Hermann und Dorothea" und mit seinen naturwissenschaftlichen Schriften, in denen die Französische Revolution naturgemäß keine Rolle spielte? Zwar scheint Schillers Absage an die Französische Revolution mit seinen Briefen über die ästhetische Erziehung, diesen fragmentarischen Stellungnahmen, abschließend und endgültig; er ist, wenn überhaupt, erst ganz spät, nämlich in "Wilhelm Teil", erneut das Problem der ästhetischen Erziehung angegangen - und sein letztes Drama "Demetrius" ist noch einmal eine Warnung vor den Geschichtsturbulenzen, die mit dem falschen Zaren in Rußland hochgekommen waren, eine Warnung vor falscher Geschichte, falscher Autorität, einer falschen Entwicklung eines
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ganzen Volkes. Wenn hier dennoch versucht werden soll, auch "Wallenstein" als Stellungnahme Schillers zur Französischen Revolution zu deuten, dann aus der Überzeugung heraus, daß Schiller sich zwar von den Ereignissen der Französischen Revolution abgewendet haben mochte, daß aber seine Aufklärungsphilosophie und seine Forderung nach geistiger Freiheit, oder, wie er auch gelegentlich zu sagen pflegte, nach "Gemüthsfreiheit" ungebrochen war; und daß es also der Aufklärer Schiller war, der sich fast gezwungenermaßen ebenfalls zu einer dramatischen Stellungnahme zur Französischen Revolution verstehen mußte, nachdem diese in seinen Augen gescheitert war. Stimmt man der These vom Aufklärer Schiller zu, für die so vieles spricht, dann folgt daraus eigentlich von selbst, daß für ihn die Aufklärung mit den französischen Ereignissen nicht etwa in sich selbst umschlug und wirkungslos wurde, sondern daß Schiller sich zu einer neuen Bewertung herausgefordert sah, die er in der Tat mit seinem "Wallenstein" gegeben hat - und das um so mehr, als die Ästhetischen Briefe ja in vieler Hinsicht Fragment geblieben waren. Eines aber waren sie nicht gewesen: eine zureichende abschließende Stellungnahme zur Französischen Revolution. Die Vorgeschichte zeigt, wie außerordentlich eng dieses Drama schon von den Anfängen an mit Schillers Sicht der Revolution zusammenhing, das heißt: wie sehr die Forderung nach religiöser Aufklärung, die von Schiller lange vor dem Ausbruch der Französischen Revolution erhoben worden war, auch noch zumindest die Anfänge des "Wallenstein" mitbestimmt hat. Damit soll nicht gesagt sein, daß das Drama sich dann später ganz anders entwikkelte und daß also gewissermaßen nur Relikte aus der vorrevolutionären Zeit in das Drama eingegangen seien, also aus einer Zeit, in der Schiller als Historiker tätig war und sich deswegen für den Wallenstein-Stoff interessierte. Man muß die Verhältnisse vielmehr umgekehrt sehen: weil Schillers Aufklärungsvorstellungen in der Zeit seiner Geschichtsprofessur sich völlig ausbildeten, ist verständlich, daß er an den Wallenstein-Stoff geriet, da die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges wie kaum ein anderes Kapitel aus der neueren Geschichte den Kampf von Religionsideen zeigte, mit anderen Worten: Freiheitsbestrebungen, die im philosophisch-religiösen Gebiet lagen. Dafür interessierte sich Schiller, wie wir bereits sahen, als Aufklärer besonders, und so ist es kein Zufall, daß er mit der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges in Berührung kam. Wenn aber seine Aufklärungsideen in Hinsicht auf eine theologische Selbstbestimmung gewissermaßen vorrevolutionäres Gebiet waren, dann versteht sich schon von daher, daß Schillers Drama (oder vorsichtiger gesagt: Schillers Beschäftigung mit der Geschichte oder Teilen der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges) in engstem Zusammenhang mit seinen Aufklärungsbestrebungen zu lesen ist. Anders gesagt: weil Selbst-
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bestimmungsideen in der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges eine so große Rolle spielten, ist Schiller überhaupt erst dazu gekommen, sich für diese Geschichte zu interessieren und auch als Dramatiker sich mit einem Zeitereignis bekanntzumachen, das - das wußte er schon vom "Don Karlos" her - zur eigenen Zeit in einer untergründigen Beziehung stand. Rebellion, Kirchenkritik, besonders Kritik an der Inquisition, Fremdbestimmung eines ganzen Volkes durch einen doktrinären, der Inquisition verfallenen Hof: das waren auch poetische Sujets erster Qualität, und schon von daher läßt sich folgern, daß allein die Tatsache, daß Schiller in den späten 90er Jahren den Wallenstein-Stoff wieder aufgriff, ein Argument dafür ist, daß dieses Thema, das ihn seit dem "Don Karlos" beschäftigt hatte, durchaus nicht erledigt war, auch nicht durch die Zustände in Frankreich und durch die fragmentarisch gebliebenen Briefe über die ästhetische Erziehung - sondern daß es weiterlebte, weil die Französische Revolution am Ende eher geeignet gewesen war, den Blick auf diese für Schiller entscheidenden Dinge zu verstellen als ihn dafür freizugeben oder gar zu schärfen. Die Französische Revolution hatte politisch gewirkt, hatte einen Umsturz der Verhältnisse bedeutet, hatte zu Hinrichtungen geführt, die gewiß nicht Schillers Beifall fanden. Im Grunde genommen hatte sie abgeleitet vom eigentlichen revolutionären Prozeß, der eben identisch war mit dem Prozeß der Aufklärung: von der geistigen Selbstbestimmung, von jener Forderung, die Schiller an Kant so sehr bewundert hatte, wenn er feststellte, daß noch kein größerer Satz je von einem menschlichen Geiste gesagt worden sei als dieser Kantische: "Bestimme Dich aus Dir selbst". Die Französische Revolution war der Versuch einer politischen Selbstbestimmung gewesen, einer Selbstbestimmung aus ständischen Überlegungen heraus, die auf eine tatsächliche Gleichheit des Menschen hinauslief oder doch hinauslaufen sollte: das war eigentlich nicht das, was Schiller erwartet hatte. Schiller wollte geistige Autonomie, eine Freiheit des Denkens, die Selbstbestimmung des Kopfes gewissermaßen; wirtschaftliche Verhältnisse interessierten ihn nicht. Weil nun die Französische Revolution aber seine eigentlichen Vorstellungen so sehr verschoben hatte, da sie gewissermaßen von dem abgelenkt hatte, was er selbst gewollt und was er seit den "Philosophischen Briefen" mit seiner "Freidenkerei" verfolgt hatte, lag es nahe, daß er die Revolution als politisches Phänomen am Beispiel Wallensteins darstellte und zugleich noch einmal - und nicht zum letzten Mal - das eigentliche Thema seines aufklärerischen Interesses aufgriff: Selbstbestimmung als geistige Selbstbestimmung, als Unabhängigkeitserklärung der eigenen Existenz. Das heißt: es gibt eine ungebrochene Kontinuität des Interesses vom Wallenstein der "Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs" bis zum Wallenstein der Trilogie. Die Geschichte der Reformation sollte auch
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hier von vornherein eine Rolle spielen - nicht zuletzt deswegen, weil sie eben ein Stück "Menschheitsgeschichte" war. Im Vordergrund des dramatischen Interesses stand für Schiller zwar ursprünglich die Gestalt Gustav Adolfs, also diejenige Figur, die die Seite der Reformation vertrat, mit anderen Worten: die für das Thema der religiösen Selbstbestimmung am ehesten zu gebrauchen war. Schiller ist jedoch davon abgekommen - nicht weil die geistliche Thematik ihn nicht mehr interessiert hätte, sondern weil er gesehen hatte, daß die Rolle Gustav Adolfs nicht eigentlich eine tragische war. Aber Wallensteins Schicksal war tragisch, gerade in seiner verhinderten Autonomie. Das Negative, das noch in der äußerlichen Charakteristik Wallensteins in der "Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs" gelegentlich deutlich wurde, war jetzt völlig abgefallen, das Interesse Schillers an seinem angeblichen "Verrat" gewachsen, aber das vermutlich aus keinem anderen Grunde als dem, daß Aufklärungsideen weiterhin virulent waren und nun die Gestalt Wallensteins eher noch schärfer profilierten, als das früher der Fall gewesen war. Hatte die "Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs" schon vorgezeichnet, daß Wallenstein auf keinen Fall ein Verräter war, so kamen jetzt noch andere Gründe hinzu, um Schiller zu fesseln: das war Wallensteins Verhältnis zum kaiserlichen Hof, seine angespannte Beziehung zur Obrigkeit, und eben davon handelt das Drama. So geht es denn auch nicht mehr um die Frage, ob Wallenstein Verräter gewesen sei; eigentliches Thema ist vielmehr die Frage der möglichen Selbstbestimmung und der auferzwungenen Heteronomie im politischen Bereich. Anders gesagt: "Wallenstein" ist die eigentliche Antwort Schillers auf die Französische Revolution. Hiermit stellen sich direkte Verbindungslinien nicht nur zur "Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs" her, sondern zugleich - und das ist das sehr viel Wichtigere - zur Geschichte der Aufklärungsideen bei Schiller selbst. Daß Aufklärungsvorstellungen
in
Frankreich ein in Schillers Augen so problematisches Ende gefunden hatten, war eine offene Herausforderung an Schillers
Selbstbestimmungsideen.
Schiller hat sie mit "Wallenstein" angenommen. Und daß das Drama tatsächlich aufs engste mit Zeitereignissen zu tun hatte, lehrt schon der "Prolog".
Der Prolog, "Gesprochen bei Wiedereröffnung der Schaubühne in Weimar im Oktober 1798", ist ein Musterstück eines weimarischen Kunstbekenntnisses, und es hätte gar nicht des Hinweises auf den heiteren Tempel der Kunst und auf den "harmonisch hohen Geist" bedurft, um das Klassizistische zu erkennen, auch die Bereitschaft, den "Sinn zu festlichen Gefühlen"
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anzuregen: die Kunst als Feier, das Drama als Weihespiel, nichts anderes will der Prolog besagen. War die Bürger-Rezension ein Manifest der frühklassischen Kunstauffassung, so ist es der Wallenstein-Prolog für die Hochklassik. Es gibt zumindest bei Schiller kein deutlicheres und eindringlicheres Kunstprogramm, auch kein nachdrücklicheres Bekenntnis zur "Menschheit", also zur veredelnden Rolle der Kunst, ihrer erzieherischen Aufgabe im Sinne einer Idealisierung des Wirklichen und einer Aufhebung der Zeit in der Kunst: und das Drama wird noch einmal eingeschworen auf die Aufgabe, nicht einen Einzelfall vorzustellen, sondern diesen "für alle Zeiten" zu transzendieren. Von daher muß es im Grunde genommen überraschen, wenn Schiller im weiteren Verlauf des Prologs das Thema der Überzeitlichkeit der Kunst verläßt und auf Aktuelles hinweist: auf "den Kampf gewaltiger Naturen um ein bedeutend Ziel"; Schiller hat also den Zeitbezug ausdrücklich betont. Um welchen handelt es sich? Nimmt man die Hinweise sehr wörtlich, bezieht man sie also auf Ereignisse um 1800, so liegt es nahe, mit den Versen den französischen General Dumouriez zu identifizieren, auf den Goethe im Brief an Meyer, geschrieben am 6. Juni 1797, verweist; dort verrät Goethe, daß Schillers "Wallensteiner, als Prolog" vorausgeschickt, das Drama eröffnen werde, und Goethe hat eine Erklärung für die zeitgenössischen Entsprechungen zum Wallenstein parat: "Es ist in einer viel pesantem, und also für die Kunst bedeutendem Manier, die Geschichte von Dumouriez". 54 Diese Äußerung darf allerdings nicht mißverstanden werden; sie bezieht sich auf "Wallensteins Lager", das ursprünglich "Prolog" sein sollte, nicht auf den Prolog, den wir heute als solchen kennen. Ist "Wallenstein" also die Geschichte des französischen Generals, der 1792 die auswärtigen Angelegenheiten in Paris übernommen und der sich zunächst der Revolution angeschlossen hatte, der aber dann mit der heimgekehrten Armee die Monarchie wiederherstellen wollte? 55 Sind damit die militärischen Mißerfolge Frankreichs im Frühjahr 1793 gemeint, an denen Dumouriez beteiligt war? Die Erklärung Goethes, in Kommentaren der Schiller-Ausgaben gerne zitiert, hat freilich entschiedene Schwächen. Zum einen ist mit keinem Wort erwähnt, daß das auch Schillers Ansicht war; zum anderen liegen die bedeutenden Jahre des Generals Dumouriez in den frühen 90er Jahren; schließlich - und das wiegt weit mehr - ist der Name Dumouriez in Schillers Briefen zwischen 1790 und 1800 nicht ein einziges Mal erwähnt. So hat man wohl davon auszugehen, daß diese Deutung eben Goethes Deutung ist, der versucht hat, die Wallenstein-Geschichte auf seine eigenen Jahre zu übertragen und dem Prolog einen spezifischen Sinn zu geben, da Schiller auf die Übertragbarkeit seiner Darstellung selbst hingewiesen hatte. Überzeugend aber ist das nicht, und so stellt sich die Frage, was sonst gemeint sein könnte, wenn von dem
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"Kampf gewaltiger Naturen um ein bedeutend Ziel", wie es im Prolog heißt, die Rede ist. Es liegt nahe, den Text anders zu verstehen, nicht so eng, wie das die Kommentatoren verschiedener Schiller-Ausgaben tun. 5 6 Einen wichtigen Hinweis darauf, wie diese Zeilen tatsächlich zu lesen sind, geben die folgenden Verse, wenn davon die Rede ist, daß "um der Menschheit große Gegenstände, / U m Herrschaft und um Freiheit wird gerungen": es ist absolut irreführend, darin die Geschichte des Generals Dumouriez zu sehen, und irreführend wohl auch, damit die kriegerischen Auseinandersetzungen im Gefolge der Französischen Revolution angesprochen zu finden. Vielmehr liegt schon von der Wortwahl Schillers her der Verdacht nahe, daß der Hinweis auf der Menschheit große Gegenstände nicht anders denn als Hinweis auf die Französische Revolution zu verstehen ist, zumal die Begriffe "Herrschaft" und "Freiheit" das schon von sich aus andeuten. Mit anderen Worten: da die Themen der Französischen Revolution so menschheitlicher Natur sind und da die Französische Revolution in der Tat nichts anderes ist als der "Kampf gewaltiger Naturen um ein bedeutend Ziel", tut man gut daran, den Prolog so zu lesen, daß das Wallenstein-Drama also mit diesem Menschheitsthema zu tun hat, und Schiller hat ausdrücklich betont, daß die Kunst "auf ihrer Schattenbühne" durchaus nicht weltfern zu agieren habe, sondern "höhern Flug versuchen" soll: auch sie hat das Thema des Jahrhunderts, die Französische Revolution, zu behandeln, "soll nicht des Lebens Bühne sie beschämen", und von daher gesehen ist das Drama nichts anderes als ein Gleichnis dessen, was in der historischen Wirklichkeit Europas sich abgespielt hat. Daß eine etwas weitere Sicht der Verhältnisse und der Anspielungen angemessener ist als etwa die Fixierung auf die spätesten Jahre des Jahrhunderts, das zeigen auch die folgenden Strophen des Prologs. Denn sie verknüpfen die Begebenheiten des Dreißigjährigen Krieges mit den Ereignissen der Gegenwart, indem sie die Vorgänge des 17. Jahrhunderts als Beginn einer Entwicklung charakterisieren, die jetzt, gegen Ende des 18. Jahrhunderts, zu Ende geht. Schiller spricht ausdrücklich und deutlich genug davon, daß in diesen Tagen die "alte feste Form" zerfallen ist, die die Verhältnisse in Europa bis dahin bestimmt hatte. Das kann sich kaum auf Ereignisse der späten 90er Jahre beziehen; selbst wenn das der Fall sein und etwa der französische Eroberungsfeldzug um 1799 gemeint gewesen sein sollte, so war doch auch dieser Folge der Französischen Revolution. Es geht, wie immer man die Zeilen auch lesen mag, um diese. Schiller aber sieht geradezu Kausalabhängigkeiten zwischen den Ereignissen des Dreißigjährigen Krieges und der Französischen Revolution, und auch von daher liegt es nahe, das Wallen-
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stein-Drama auf dieses zentrale Ereignis des späten 18. Jahrhunderts zu beziehen. Schillers Absicht ist eindeutig: er will "die düstre Zeit" noch einmal auf der Bühne vorstellen, um damit Gegenwarts- und Zukunftshoffnungen zu erwecken oder zu bestätigen. Zentrale Stelle des Prologs ist die Charakteristik Wallensteins, die Schiller hier gibt - indem er dem Zuschauer zu suggerieren scheint, daß dessen Bild, das ihm ohnehin bekannte, hier noch einmal vorgeführt wird: Ihr kennet ihn - den Schöpfer kühner Heere, Des Lagers Abgott und der Länder Geißel, Die Stütze und den Schrecken seines Kaisers, Des Glückes abenteuerlichen Sohn, Der, von der Zeiten Gunst emporgetragen, Der Ehre höchste Staffeln rasch erstieg Und, ungesättigt immer weiter strebend, Der unbezähmten Ehrsucht Opfer fiel.
Welcher Wallenstein ist das? Die erste Vermutung, daß es eben der bekannte Wallenstein sei, der hier nun auch wieder vorgestellt werde, ist insofern richtig, als es in der Tat der Wallenstein der historiographischen Überlieferung ist, oder genauer: der Wallenstein der Wallenstein-Legende. Aber das ist nicht Schillers Wallenstein. Denn schon Schillers Urteil in seiner "Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs" war nicht so negativ wie das hier in seinem Prolog zitierte, und Schiller hätte nicht angestanden, ihn "des Glückes abenteuerlichen Sohn" zu nennen, so wie er denn auch ihn nicht deswegen verurteilt hat, weil er "der unbezähmten Ehrsucht Opfer fiel". Bereits das Wallenstein-Bild seiner "Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs" ist anders, positiver, zumal Schiller Wallenstein dort ja ausdrücklich gegen den Vorwurf der Verräterei in Schutz nimmt. Der hier, im "Prolog", von Schiller charakterisierte Wallenstein ist offenbar ein sehr volkstümlicher Wallenstein, oder vielmehr: das ist das populäre Wallenstein-Bild, das ihn mit Glück und Abenteuern, mit Ehrgeiz und der Zeiten Gunst in Verbindung bringt: ein sicherlich nicht richtiges, aber allgemein bekanntes Porträt, eben das der Wallenstein-Legende. Daß derartiges gemeint sein muß, geht auch aus dem Hinweis hervor, daß das Charakterbild Wallensteins, "von der Parteien Gunst und H a ß verwirrt", in der Geschichte schwanke, mit anderen Worten: daß eben eine legendäre, in vielfachen Zügen mit vielfacher Konturierung überlieferte Wallenstein-Gestalt das eigentliche Wissen um Wallenstein trägt. "Ihr kennet ihn", so Schiller - und damit meint er eben das Wallenstein-Bild der legendären Überlieferung. Aber mit keinem einzigen Wort ist gesagt, daß dieses der Wallenstein ist, den Schiller in seinem Drama auf die Bühne zu stellen gedenkt. D a ß Schiller das nicht vorhat, zeigen die folgenden Zeilen, in denen davon die Rede ist, daß nun ein anderer Wallenstein erscheinen werde:
37 Doch euren Augen soll ihn jetzt die Kunst, Auch eurem Herzen, menschlich näher bringen. Denn jedes Äußerste führt sie, die alles Begrenzt und bindet, zur Natur zurück, Sie sieht den Menschen in des Lebens Drang Und wälzt die größre Hälfte seiner Schuld Den unglückseligen Gestirnen zu.
Das "Doch" zu Beginn dieses Satzes ist eindeutig genug: damit wird ein Gegensatz ausgedrückt, ein Widerspruch der nun folgenden Darstellung auf dem Theater zu dem Wallenstein-Bild, das die Wallenstein-Legende bereitgestellt hat und das der Zuschauer kennt, wie Schiller das von seinem so geschichtsorientierten und geschichtshungrigen Jahrhundert erwarten kann. Sieht man sich Schillers Verse noch einmal genau an, paßt das populäre Wallenstein-Bild, von dem Schiller sich offenbar distanzieren will, denn auch, wenn man Übertragungsmöglichkeiten in die eigene Gegenwart hinein sucht, sehr viel eher auf Robespierre oder auf Danton: von unbezähmter Ehrsucht läßt sich bei Robespierre durchaus sprechen, von dem Opfer dieser unbezähmten Ehrsucht bei Danton - wobei sein Schicksal bekanntlich das Robespierres vorweggenommen hat. Damit soll nicht gesagt sein, daß hier deutliche Anspielungen auf diese beiden herausragenden Figuren der Französischen Revolution gemacht worden sind. Aber wenn man schon die Geschichte Wallensteins übertragen will - und Goethes Beispiel hat dazu den Weg gewiesen, auch wenn er aus unserer Sicht falsch assoziiert hat -, dann liegt es nahe, in der Figur Wallensteins, sowohl in der legendären wie in der wirklichen, auch anderes wiederzuerkennen; zumindest sollte gesagt sein, daß Robespierre und Danton dieser Wallenstein-Figur der Legende, dieser problematischen, im Grunde genommen eher negativ zu beurteilenden Gestalt außerordentlich nahekommen. Schiller aber will anderes zeigen; er will vor allen Dingen nicht die Figur Wallensteins für ihren eigenen Sturz verantwortlich machen. Er ist nur in der Legende Opfer der unbezähmten Ehrsucht, nicht oder jedenfalls nicht uneingeschränkt bei Schiller. Schiller hat eine andere Idee: er will die größere Hälfte seiner Schuld den unglückseligen Gestirnen zumessen. Auch das ist nur auf den ersten Blick eindeutig. Wir wissen, daß das astrologische Motiv vor allem gegen Schluß des Wallenstein-Dramas eine bedeutende Rolle spielt, wir wissen auch, daß es auf Anregung Goethes erst recht spät hineinkam und daß Schiller dessen Hinweis aufgriff, um Wallenstein nicht etwa damit ein gewisses Barockkolorit zu geben, sondern um ihn zu entlasten - das heißt: um die Frage seines Sturzes nicht von seinem eigenen Charakter her zu beantworten. Überhaupt muß Schiller wohl alles daran gelegen haben, Wallensteins Charakter nicht zu sehr in den Vordergrund geraten zu lassen - nicht nur, weil diese Charak-
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terprobleme in der von Schiller als bekannt vorausgesetzten Wallenstein-Legende eine so große Rolle spielen. Schiller hatte o f f e n b a r vor, das G a n z e nicht als persönliches D r a m a eines Einzelnen zu beschreiben. Schiller will die Figur Wallensteins entpersonalisieren, will von Wallenstein alles fernhalten, was auf persönliche Charakterschwächen hindeuten u n d was auf diese Weise dann seinen Sturz verständlich, allzu verständlich machen könnte. Schiller möchte das vermeiden - und so wälzt er die größere H ä l f t e seiner Schuld den unglückseligen Gestirnen zu oder veranlaßt vielmehr die Kunst, das zu tun. Schillers Absicht geht also dahin, die "Schuld" oder zumindest d e n wesentlichen Teil dieser Schuld vom Charakter Wallensteins fortzunehmen. A b e r das b e d e u t e t noch nicht automatisch, daß Schiller in eine astrologische Abhängigkeit geraten sei. Schiller will zunächst einmal den C h a r a k t e r Wallensteins von d e m jahrhundertelangen Vorwurf reinwaschen, d e m er in der Legende seiner Person ausgesetzt gewesen war, und dieser Vorwurf lautete: Charakterschwäche. N u n aber soll etwas anderes an die Stelle dieser Begründung treten, was das H a n d e l n und d e n Mißerfolg Wallensteins angeht, und wenn es die Gestirne sind, so ist damit nicht automatisch gesagt, daß sie es, paradox gesprochen, wirklich sind. Nimmt m a n auch hier d e n Hinweis auf die Sterne in seiner übertragenen Bedeutung, so besagen die Zeilen, oder vielmehr: so können sie besagen, daß nichts anderes "schuld" ist als die Zeit, die Geschichte, der G a n g der Welt überhaupt. Der Kunst a b e r k o m m t die Aufgabe zu, das sichtbar zu machen; also die Geschichtslinien zu verdeutlichen, die sich zu einem bestimmten Ereignis erkennen lassen; und zugleich ist damit ausgesprochen, daß für Schiller hinter vordergründigen Ereignissen doch so etwas wie ein teleologisches Geschichtsprinzip wirksam ist, daß also eine Entwicklung im Verlauf der J a h r h u n d e r t e nicht etwa planlos, willkürlich oder zufällig ist, sondern daß sich dahinter eine Absicht, eben irgendeine Form von Providentia abzeichnet. Das muß nicht die Providentia Dei sein a b e r es liegt völlig auf der Linie eines aufgeklärten Geschichts- und Lebensbewußtseins, wie Schiller es mit seinen Zeitgenossen teilte, daß die G e schichte nicht als willkürlicher Vorgang erscheint, nicht als zusammenhanglose Folge von mehr oder weniger zufällig angeordneten Begebenheiten, sondern d a ß vielmehr in ihr gleichsam ein Prozeß - m a n wäre fast versucht, zu sagen, im Hegeischen Sinne ein Prozeß des Weltgeistes - sichtbar wird, der letztlich die Dinge entscheidet und der sie vor allem, soweit das einem aufgeklärten Geist möglich ist, verständlich macht. Die folgenden Verse des Prologs beziehen sich auf "Wallensteins Lager", sind Hinweis darauf, daß nicht "er" es ist, "der auf dieser Bühne heut erscheinen wird" - Wallenstein selbst tritt im "Lager" ja nicht auf. A b e r auch
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diese Verse sind, wie andere des Prologs, hintersinnig, und der Hinweis darauf, daß nicht er, also Wallenstein, es sein wird, der auf der Bühne erscheinen wird, ist ebenso doppeldeutig wie jener, daß der Zuschauer Wallenstein schon kenne. Denn diese Zeilen können auch so gelesen werden: nicht jener Wallenstein, der schon bekannt ist, also der Wallenstein der Legende, der Wallenstein, der von Schiller selbst als "des Glückes abenteuerlicher Sohn" bezeichnet worden ist - jener Wallenstein wird nicht auf der Bühne erscheinen; Schiller ist entschlossen, ein anderes Wallenstein-Bild zu entwerfen. Ähnliches gilt für die Zeilen: "Doch in den kühnen Scharen, / Die sein Befehl gewaltig lenkt, sein Geist / Beseelt, wird euch sein Schattenbild begegnen". Es ist das Schattenbild, das die Kunst präsentiert; im Unterschied zum wirklichen Wallenstein, zur historischen Figur. Damit ist die erste Deutung, daß nämlich nur "Wallensteins Lager" gemeint sei, durchaus nicht widerlegt; aber nichts hindert den Leser daran, die Zeilen doppelsinnig zu verstehen. Doppelsinnig sind schließlich auch die Verse: "Denn seine Macht ists, die sein Herz verführt, / Sein Lager nur erkläret sein Verbrechen". Nach alledem, was schon die "Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs" über Wallenstein gesagt hatte, kann von einer verbrecherischen Figur schlechterdings nicht die Rede sein, und die Zeile, daß nur sein Lager sein Verbrechen erkläre, kann so gedeutet werden, daß das Wort Verbrechen gewissermaßen in Anführungsstriche gesetzt ist, das heißt: daß von einem wirklichen Verbrechen nicht die Rede sein kann, zumal eben nur das Lager, mit anderen Worten: das Heer dieses sein sogenanntes Verbrechen erklärt. Die vorangehende Zeile - "Denn seine Macht ists, die sein Herz verführt" - ist gewissermaßen in Parenthese zu lesen, als eine Erklärung, die auf das gleiche hinausläuft. Wallenstein wird verführt durch die Macht, also durch sein Heer; wozu, ist mit keinem Wort gesagt. Betrachtet man die Zeile "Sein Lager nur erkläret sein Verbrechen" genau, so verkehrt sich sogar der Sinn, der beim ersten Lesen zutage zu treten schien, fast in sein Gegenteil. Liest man die Zeile zunächst, so sieht es so aus, als ob Wallenstein ein Verbrecher sei, der von der Macht verführt worden sei. Aber man kann den Sinn dieser Zeile auch so begreifen: sein ganzes "Verbrechen", also das, was man ihm von außen her als Schuld zuschieben könnte, wird allenfalls im ersten Teil der Trilogie, also in "Wallensteins Lager" abgehandelt, und dieses Lager, also sein Heer liefert die Erklärung für seine angebliche Missetat, das heißt: er selbst, seine Person und sein Handeln, sind frei davon - da es eben das Lager ist, dem die Schuld, wenn man von einer solchen überhaupt reden will, zugeschoben wird. Eine solche Erklärung ist sicherlich anfechtbar, aber sie ist nicht unmöglich. Doch selbst wenn man die drittletzte Strophe, in der von Wallensteins Lager die Rede ist, gar nicht auf das von Schiller gegen die historische
40 oder legendäre Überlieferung gemalte Porträt interpretieren will, so ist doch festzuhalten, daß es zwei Wallenstein-Bilder gibt: einmal das überlieferte, bekannte, von Schiller verdeutlicht durch das "Ihr kennet ihn" - und dann das Wallenstein-Bild, das er selbst entwirft. Daß Differenzen zwischen dem üblichen, vom ehrsüchtigen Wallenstein und dem von Schiller entworfenen Wallenstein-Bild auftreten, wird eben aus der Darstellung Wallensteins in der "Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs" deutlich; es ist unwahrscheinlich, als Argument also auch schlecht ins Feld zu führen, daß Schiller fast ein Jahrzehnt nach der Abfassung der "Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs" zu einem negativeren Bild Wallensteins gekommen wäre - zumal er ihn j a hier zum Helden einer Tragödie gemacht hat und auf der anderen Seite die G e stalt Gustav Adolfs von vornherein als nicht tragisch genug, aber auch als in diesem Sinne nicht groß genug wieder hat fallen lassen. Halten wir also fest, daß Schiller in seinem Prolog, wie man sein G e wicht auch einstufen will, eine historische Kontinuität zwischen der Zeit des Dreißigjährigen Krieges und den Zeitereignissen der eigenen Gegenwart herstellen will; daß die Übertragbarkeit nicht darin liegt, daß das Schicksal des französischen Generals Dumouriez hier dichterisch verklausuliert dargestellt wird, sondern das Ereignis der Französischen Revolution; daß Schiller den Wallenstein der Legende noch einmal deutlich beschreibt, aber nicht, um sein Bild in seinem eigenen Drama zu wiederholen, sondern offenbar deswegen, weil er seinen Wallenstein dagegensetzen will - den kennt noch niemand, und es wird ihn auch zunächst noch niemand kennen, da j a erst das "Lager" das Drama eröffnet. Selbst wenn man das alles immer noch als Spekulation abtun will, bleibt doch gewissermaßen ein Minimalkonsens übrig: nämlich der Hinweis darauf, daß das Wallenstein-Drama nicht als historisches Drama zu lesen ist, sondern daß Schiller sehr bewußt Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges und Ereignisse seiner eigenen Zeit aufeinander bezieht. Wenn Schiller ein Stück Geschichte poetisiert, so darf das also nicht heißen, daß es damit der Geschichte enthoben ist. Es bedeutet vielmehr: hier wird, im Bereich der Kunst, Geschichte in der Parallelität ihrer Ereignisse und die Aussagekraft früherer historischer Begebenheiten für die Gegenwart noch einmal oder vielmehr erst jetzt gedeutet und bewertet. "Wallenstein" ist also alles andere als ein zeitferner Stoff, sondern vielmehr ein auf die politischen Ereignisse bezogenes Gegenwartsdrama, bei dem das Historische nur allegorische Funktion hat, nicht aber distanzierende, transzendierende oder rein poetische Kraft. Und mit dieser Einsicht ist für die Deutung der Wallenstein-Trilogie schon viel gewonnen. *
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"Wallensteins Lager" hat auf den ersten Blick freilich nichts mit den Zeitereignissen und nichts mit der Französischen Revolution zu tun. Schiller schildert das Leben und Treiben in einem Soldatenlager des 17. Jahrhunderts, und im Gegensatz zur sich immer stärker steigernden Fallgeschwindigkeit im zweiten und dritten Teil der Trilogie wird hier im Grunde genommen nur ein Zustandsbild gegeben, nicht einmal eine Exposition der dramatischen Handlung der späteren Teile. Dramatik entsteht allenfalls durch einige Einlagen - so, wenn ein neuer Soldat rekrutiert worden ist oder wenn die Soldaten dem Kapuziner an den Hals wollen. Aber das sind nur momentane Konflikte,
im Grunde genommen schnell vergessen. Das gilt auch für den
betrügerischen Bauern, der gefangen wird, aber entwischt, und von dieser Art Situationsdramatik gibt es manches - aber nichts davon ist tragfähig, um dramatische Spannung in das "Lager" zu bringen. So wird uns in wechselnden Farben ein Zustandsbild des Wallensteinschen Heeres gegeben, darüber hinaus das Schattenbild Wallensteins selbst - mit Bewunderung betrachtet, was seine Soldaten angeht, zugleich mit einigen Charakteristika versehen, was seine eigene Position betrifft und seine offenbar unabhängige Haltung zum Kaiser. Auch das Thema der Rebellion gegen den Kaiser wird hier schon präludiert, und zwar mehrfach - bis hinunter zu den Soldaten, die darüber sprechen, "ob der Kaiser unser Gebieter ist?" 57 Entscheidend aber ist der Auftritt des Kapuziners. Der Kirchenvertreter enthüllt sich als der eigentliche Gegenspieler Wallensteins, und zwar nicht nur darin, daß er ein Menetekel ausmalt von einer zerstörten Welt: D e r RJieinstrom ist worden zu einem Peinstrom, Die Klöster sind ausgenommene Nester, Die Bistümer sind verwandelt in Wüsttümer, Die Abteien und die Stifter Sind nun Raubteien und Diebesklüfter, Und alle die gesegneten deutschen Länder Sind verkehrt worden in Elender,58
Bedenkt man, welche Rolle die Kirchenkritik in Schillers vorangegangenen Schriften seit den "Philosophischen Briefen" gespielt hat, so wird klar, daß es sich hier nicht etwa um ein wenig Lokalkolorit handelt, auch nicht darum, die Kritik Wallensteins am kaiserlichen Hof indirekt zu formulieren das hätte sehr gut ohne den Kapuziner geschehen können. Schiller setzt hier seine Kirchenkritik fort, wie er sie schon im "Don Karlos" und anderswo so scharf geübt hatte, und Kritik an der Kirche heißt auch in diesem Drama: Kritik an einer gegenaufklärerischen Macht, die Furcht und Schrecken verkündet, wo es (im Zusammenhang des Dreißigjährigen Krieges) um den Frieden und um eine neue Welt, ein neues Leben geht. Der Kapuziner und mit ihm die Kirche sind die eigentlichen Verhinderer einer solchen Ent-
42 wicklung, und hier zeigt sich erneut, daß Schiller als Aufklärer die Kirche verantwortlich macht für den nicht zu Ende geführten Prozeß der Aufklärung, ja, für das Scheitern aufklärerischer Bestrebungen überhaupt oder zumindest dafür, daß die Aufklärung Hindernisse in den Weg gelegt bekommen hat, die eines nicht ermöglichte: Selbstbestimmung. Natürlich sind das ebenfalls Themen des 17. Jahrhunderts, aber es ist nicht zufällig, daß Schiller in einem Krieg, den er im wesentlichen als Religio'iskrieg sieht, nicht Machtfragen in den Vordergrund schiebt, sondern solche der religiösen Freiheit und Autonomie. Daß der Kapuziner zugleich Kritik an Wallenstein übt, macht ihn um so mehr suspekt - denn wenn Wallenstein auch nur aus der Sicht seiner ihm mehr oder weniger treu ergebenen Soldaten geschildert wird, so doch eindeutig in heroisierender Absicht. Das ist ein nicht sonderlich einfallsreicher, aber außerordentlich wirkungsvoller Kunstgriff, den Schiller hier nutzt: die Konturierung einer Figur durch ihr Gegenbild und die Abqualifizierung dieser Figur durch ihr positives Gegenüber. Der Kapuziner wird noch zusätzlich dadurch negativ beleuchtet, daß er keine einzige Zukunftsidee anzubieten hat, sondern Schreckbilder ausmalt. Seine
Rede
schließt mit der Voraussage, daß unter Wallensteins Ägide kein Friede im Land sein werde. Gegen die Kapuziner-Ideologie wird die Idee der eigenen Selbstbestimmung gesetzt, verbunden mit Zukunftshoffnungen ("Wer nicht waget, der darf nichts hoffen"). 5 9 Indirekt wird auch Wallenstein vom Vorwurf der moralischen Fragwürdigkeit insofern freigesprochen, als seine Soldaten nicht von ihm lassen wollen, also an einer Bindung festhalten, die gewiß nicht nur auf materielle Vorteile gegründet ist. Damit wird aber seine hier schon sichtbare Rebellion gegen den Kaiser zur Geste eines Selbstbestimmungswillens, die eben dadurch möglich wird, daß der Hof in Wien nicht mehr die absolute Verfügungsgewalt über Wallenstein und sein Heer hat. "Werden uns viel um den Kaiser scheren", meint spöttisch der Trompeter. 6 0 Selbstbestimmung wird, wenn auch nur schattenhaft, sichtbar in den Versen des Soldaten: "Sagt mir, was hat er an Gut und Wert, / Wenn der Soldat sich nicht selber ehrt?" 6 1 Gegen Ende des "Lagers" nehmen die Hinweise auf den kommenden Frieden zu, 6 2 ebenso aber die auf die "Freiheit"; daß Freiheit allein bei Wallenstein sei, wird ausdrücklich vom zweiten Jäger betont, und der Freiheitsenthusiasmus, also das Verlangen nach Selbstbestimmung, kommt zu einem Höhepunkt im am Schluß des "Lagers" gesungenen Reiterlied, wenn es heißt: Aus der Welt die Freiheit verschwunden ist, Man sieht nur Herren und Knechte;
43 Die Falschheit herrschet, die Hinterlist Bei dem feigen Menschcngeschlechtc. 6 3
"Freiheit" hat hier geradezu revolutionäre Züge, sie ist als Protest gegen die "Herren" gedacht. Im Rahmen des gesamten Dramas kommt dem "Lager" natürlich allenfalls initiatorische Bedeutung zu. Aber einige Themen, die die Verbindung zur Französischen Revolution herstellen, sind doch schon deutlich genannt: die Selbstbestimmungsidee, Freiheitsüberlegungen, schließlich die außerordentlich scharfe Kritik an der Institution der Kirche. Alles in allem sind das sicherlich nicht nur zeitkoloristische Charakteristika, sondern führen in die Essenz des Dramas ein. In manchem nimmt sich das "Lager" so aus, als sei die Französische Revolution noch nicht erschienen, also als Vorbereitungsphase auf das, was kommen wird - ähnlich, wie im "Lager" Wallenstein selbst noch nicht erscheint, wohl aber alles auf ihn hindeutet. Die eigentliche Beweiskraft einer solchen Deutung liegt dabei nicht so sehr in einzelnen Figuren des Lagers, sondern vielmehr in Anspielungen, Idealen und Werten. Das gilt etwa für die Hinweise auf den "Nährstand". Sie sind, im Zusammenhang eines Soldatenlagers ausgesprochen, im Grunde fehl am Platze. So verständlich die Forderung der Kürassiere ist: "Der Wehrstand soll leben", so deplaciert, zumal im Munde derjenigen, die Forderung: "Der Nährstand soll geben". Die Forderung wird auch nicht dadurch überzeugender, daß gelegentlich hier, in den Szenen des "Lagers", Bauern auftauchen. Daß der Nährstand in Schimpf geraten ist, wird auch von dem Ersten Arkebusier festgestellt. Natürlich haben derartige Bemerkungen im Zusammenhang mit den Ereignissen des Dreißigjährigen Krieges ihre grundsätzliche Bedeutung, aber daß darüber ein Gespräch im Lager geführt wird, ist unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher wird es erst dann, wenn man bedenkt, daß im vorrevolutionären Frankreich die Existenzbedingungen des Volkes schlecht waren und sich in den Jahren vor der Französischen Revolution noch rapide verschlechterten. Der Rückgang der Reallöhne betrug mehr als die Hälfte, 6 4 der Preisanstieg für Lebensmittel verstärkte die Schwierigkeiten. Die Sansculotten wurden durch die schlechten Lebensbedingungen mobilisiert, 65 und in den Jahren 1788/89 entwickelte sich eine schwere ökonomische Krise. Sie war landwirtschaftlich bedingt, wirkte sich aber vor allen Dingen auf die Menge des Volkes aus, und so konnte ein Historiker eindeutig feststellen: "Die Hauptforderung des Volkes aber blieb das Brot". 6 6 Von dieser Krise in der Versorgung mit lebenswichtigen Nahrungsmitteln war die Französische Revolution mitgesteuert - und wenn in "Wallensteins Lager" derart vom Nährstand die Rede ist, dann muß man das nicht nur auf die wirt-
44 schaftlichen Verhältnisse des 17. Jahrhunderts beziehen, es können hier auch Parallelen zum vorrevolutionären Frankreich gezogen werden. Auf der anderen Seite ist die Friedensforderung eine genuine Forderung des Dreißigjährigen Krieges - dehnt man den Begriff aber aus, bezieht man ihn auf Ordnung und geordnete Verhältnisse, gilt er auch für das revolutionäre Frankreich. Jedenfalls wird das Thema der Rebellion, der rechtmäßigen Herrschaft und der Notwendigkeit des Gehorsams einem unrechtmäßigen Herren gegenüber leitmotivartig im "Lager" immer wieder zur Sprache gebracht. Zugleich kommt zum Ausdruck, daß die Weltverhältnisse auf grauenhafte Weise in Unordnung geraten sind - verständlicherweise innerhalb des Dreißigjährigen Krieges, aber auch das bezieht sich nicht weniger auf den Zustand unmittelbar vor der Französischen Revolution. Schließlich gilt ähnliches für die außerordentliche Macht des Klerus im Staat, für seine "politischen, juristischen und fiskalischen Privilegien". 67 Daß der französische Klerus in sich gespalten war, daß Reich und Arm sich dort scharf gegenüberstanden, liegt auf einer anderen Ebene. Daß der Klerus, der hohe Klerus "sich das Monopol für militärische, juristische und geistliche Ämter" vorbehielt, 6 8 zeigt die außerordentliche Macht und zeigt die Verknüpfung mit dem Staat - wie in Schillers "Wallenstein". Daß "Wallensteins Lager" mit dem Freiheitslied endet, ist ebensowenig ein Zufall. Auch hier gilt gleichermaßen: die Verhältnisse stimmen für die Welt des 17. Jahrhunderts, aber nicht weniger für die vorrevolutionäre Welt in Frankreich. Wenn der Dragoner singt: "Aus der Welt die Freiheit verschwunden ist, / Man sieht nur Herren und Knechte", dann ist damit ziemlich exakt die Situation im vorrevolutionären Frankreich beschrieben. Wie eine Revolutionsaufforderung wirken denn auch die letzten Zeilen des Chores, mit denen "Wallensteins Lager" schließt: "Und setzet ihr nicht das Leben ein, / Nie wird euch das Leben gewonnen sein".
Setzen die "Piccolomini" fort, was in "Wallensteins Lager" begonnen wurde? Der Anfang des Dramas ist sprichwörtlich geworden. Man hat den Hinweis auf die Zeitverzögerung, die für Schiller in diesem Drama so charakteristisch ist, immer als dramentechnisches, als dramaturgisches Mittel gesehen, um "Präcipitation", wie es bei Schiller heißt, in das Drama zu bringen, um also eine Fallhöhe wenigstens künstlich zu schaffen, da der Zauderer Wallenstein zu einem tragischen Sturz von sich aus offenbar nicht geeignet schien. Daran ist sicherlich etwas Richtiges. Im übrigen ist dieser Hinweis zugleich als ein solcher auf die Verschwörung des Piccolomini zu sehen, als
45 ein Vorgriff auch auf das Drama, in dem alles immer fast zu spät zu kommen scheint, aber doch nicht spät genug, um die Dinge gegen Wallenstein ins Rollen zu bringen - während Wallenstein, der Zögerer, die Zeit nicht für sich zu nutzen weiß. So hat der Drameneingang seine mehrfache funktionelle Bedeutung im Zusammenhang des ganzen zweiten Teils. Aber man kann diesen Anfang auch anders lesen. Sieht man ihn im Zusammenhang der Revolutionsthematik, so bekommt der Hinweis eine entsprechende Bedeutung: er ist ein Zeichen dafür, daß Revolutionäres oder zumindest die Möglichkeit dazu, die schon in "Wallensteins Lager" so deutlich angesprochen war, unmittelbar bevorsteht, daß die Zeit also eine erhebliche Rolle in diesem Drama und nicht nur in diesem Drama spielt: ist es doch die Zeit vor Ausbruch eines Aufstandes. Schon die erste Zeile der "Piccolomini" macht deutlich, daß es spät ist, fast zu spät, und das gibt der hier verborgenen Revolutionsthematik eine weitere Nuance. Ebensowenig zufällig ist, daß Questenberg, der Überbringer kaiserlicher Befehle, in diesem Drameneingang auftaucht; in den Gesprächen mit ihm kommt sofort das Freiheitsthema wieder auf den Plan, wenn Ilio sagt: "Gefährlich wars, die Freiheit uns zu geben", und Questenberg ("mit Ernst", wie es heißt) antwortet: "Genommen ist die Freiheit, nicht gegeben, / Drum tut es Not, den Zaum ihr anzulegen". 69 Jedenfalls ist mit dem Freiheitsthema auch das Thema der Rebellion, der Aufstand gegen den Hof, gegen Wien angesprochen; das kommt noch deutlicher zum Ausdruck, und Questenberg erkennt richtig das revolutionäre Potential, das in Wallensteins Lager sich aufgebaut hat, wenn er sagt: "Hier ist kein Kaiser mehr. Der Fürst ist Kaiser!" 7 0 Das Thema des militärischen Gehorsams und der Verpflichtung, der Obrigkeit zu dienen einerseits, andererseits die moralische Aufforderung zum Aufstand: sie bestimmen den Anfang der "Piccolomini". Octavios Wort: "das deutet uns / Auf einen nahen Ausbruch der Empörung" ist zunächst auf Wallenstein gemünzt, weil er seine Familie ins Lager kommen ließ, richtet sich aber in zweiter Linie natürlich auch auf die Verhältnisse in Frankreich, und das heißt wiederum, daß auch hier ein vorrevolutionärer Zustand beschrieben wird, wie er dann zum unmittelbaren Abfall von der Obrigkeit, also zur Revolution führen muß. Questenberg gibt einen Zustandsbericht der inneren Verhältnisse des Staates, der an Drastik nichts zu wünschen übrig läßt, wenn er sagt: Weh uns! und wie dem Ungewitter stehn, Das drohend uns umzieht von allen Enden? Der Reichsfeind an den Grenzen, Meister schon Vom Donaustrom, stets weiter um sich greifend Im innern Land des Aufruhrs Feuerglocke Der Bauer in Waffen - alle Stände schwierig Und die Armee, von der wir Hilf erwarten, Verführt, verwildert, aller Zucht entwohnt -
46 Vom Staat, von ihrem Kaiser losgerissen, Vom Schwindelnden die schwindelnde geführt, Ein furchtbar Werkzeug, dem verwegensten D e r Menschen blind gehorchend hingegeben. 71
Das sind die Verhältnisse in Wallensteins Lager - das sind in etwa auch die Verhältnisse in Frankreich vor dem 14. Juli 1789. Besonders auffällig ist, daß Schiller hier bereits die sich anbahnende Empörung mit Hilfe einer Metaphorik beschreibt, die später dann immer wieder gebraucht wurde, wenn von der Französischen Revolution die Rede war: wenn er vom Ungewitter spricht, das drohend alle von allen Seiten umzieht. Diese Vorstellung vom Ungewitter der Französischen Revolution läßt sich bis tief in die 30er Jahre des nächsten Jahrhunderts hinein verfolgen, und offenbar handelt es sich, da Vorläufer dieser Metaphorik nicht bekannt sind, um ein Naturgleichnis, das nahelag und das Schiller in der Rede Questenbergs nutzte, ohne daß er Vorbilder nötig gehabt hätte. Schiller könnte es allenfalls aus der Barockdichtung oder von Kant übernommen haben, der in seiner "Kritik der Urteilskraft" (I, 1, § 28) von Krieg, Erdbeben, Ungewitter und Sturm als erhabenen Phänomenen spricht. Die Bilder sind um so auffälliger, als auch später die Herzogin zu Wallenstein unter Hinweis auf die bedrohliche Situation sagt: "Ein Ungewitter zieh sich über Ihnen / Zusammen, noch weit drohender als jenes, / Das Sie vordem zu Regenspurg gestürzt" - das bezieht sich darauf, was man am Wiener Hof über Wallenstein sagt, aber darüber hinaus ist es ein Hinweis auf die kommende Revolution, oder, um es noch deutlicher zu sagen: auf den Untergang, in den diese Revolution hineinführt. In den Kreis der Feuer- und Lichtmetaphorik gehört ebenfalls Wallensteins Satz: "Die Sonnen also scheinen uns nicht mehr, / Fortan muß eignes Feuer uns erleuchten". 72 Das ist nun ohne alle Schwierigkeit auch auf den Sonnenkönig zu übertragen, und daß das eigene Feuer ihn erleuchten muß, nimmt die R e volutionsmetaphorik einerseits wieder auf, deutet andererseits hier auf die Selbstbestimmungsforderung und das Verlangen nach eigener Freiheit hin. Im Verlauf der "Piccolomini" wird immer deutlicher, daß sich in dem Drama
ordnungsliebende,
konservative,
rebellionsfeindliche
Charaktere
gegenüberstehen und Aufrührer, die die Zeit verändern wollen. Octavio Piccolomini sagt zu seinem Sohn: L a ß uns die alten, engen Ordnungen Gering nicht achten! Köstlich unschätzbare Gewichte sinds, die der bedrängte Mensch An seiner Dränger raschen Willen band; Denn immer war die Willkür fürchterlich Der Weg der Ordnung, ging er auch durch Krümmen, E r ist kein Umweg. 7 3
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Der Weg der Ordnung: das ist hier die Welt des Kaisers, des Wiener Hofes, der Kirche - und Questenberg sekundiert seinem Vorredner aufs nachdrücklichste. Max Piccolomini plädiert für Wallenstein, für dessen verständigen Gebrauch des Verstandes, wie es heißt, für dessen Freiheits- und Demokratieverständnis, wenn er sagt: "Jedwedem zieht er seine Kraft hervor, / Die eigentümliche, und zieht sie groß, / Läßt jeden ganz das bleiben, was er ist". 74 Es ist sicherlich kein Revolutionsideal, das er in Wallenstein verkörpert sieht, aber es sind hohe Werte, die er dem Rebellen Wallenstein unterstellt. Max entwirft auch ein Idealbild einer besseren Welt, fast wäre zu sagen: die Utopie einer gelungenen Revolution, wenn er jenen "schönen Tag" lobt, "wenn endlich der Soldat / Ins Leben heimkehrt, in die Menschlichkeit": 75 Ein Fremdling tritt er in sein Eigentum, Das längstverlaßne, ein, mit breiten Ästen Deckt ihn der Baum bei seiner Wiederkehr, D e r sich zur Gerte bog, als er gegangen, Und schamhaft tritt als Jungfrau ihm entgegen, Die er einst an der A m m e Brust verließ.
Ein Wunschbild im Idyllenstil des 18. Jahrhunderts; Max weiß, daß an der mangelnden Verwirklichung dieses Wunschbilds vor allen Dingen "Wien" schuld ist, der kaiserliche Hof, die Kirche. Und hier wiederholt sich - und aus dem Munde des Max ist das ebenso überzeugend wie gerechtfertigt - das Urteil über Wallenstein, das ihn von jeder Rebellion freispricht, ihn auf der anderen Seite aber zum Friedensfürsten macht: Dem Fürsten macht ihr's Leben sauer, macht Ihm alle Schritte schwer, ihr schwärzt ihn an Warum? Weil an Europas großem Besten Ihm mehr liegt als an ein paar Hufen Landes, Die Ostreich mehr hat oder weniger Ihr macht ihn zum Empörer, und, Gott weiß! Zu was noch mehr, weil er die Sachsen schont, Beim Feind Vertrauen zu erwecken sucht, Das doch der einzge Weg zum Frieden ist; Denn hört der Krieg im Kriege nicht schon auf, Woher soll Friede kommen?
Wallenstein als Friedensfürst, die Rebellion gegen den Hof als einziger Weg zum Frieden, und mehr als das: die Idee der Eudämonie, der Glückseligkeit, dem Denken des 18. Jahrhunderts so tief verwurzelt, scheint hier auch in politischer Hinsicht erreichbar zu sein; daß Max Wallenstein diese Fähigkeit zuspricht, zeigt noch einmal deutlich, daß der Vorwurf der Verräterei, von dem im "Prolog" die Rede war, gewiß nicht auf diesen Wallenstein, sondern eben nur auf den Wallenstein der (falschen) Wallenstein-Legende zutrifft. Wallensteins Verbrechen - das mag sein Heer sein, aber sicherlich be-
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steht es nicht in seinen bösen Absichten. Wallenstein erklärt sich selbst, wenn er sagt, daß er den Stab des Feldherrn, vom Kaiser verliehen, "zur Wohlfahrt aller, zu des Ganzen Heil" führe "und nicht mehr zur Vergrößerung des Einen".78 Die Wohlfahrt aller! Ein größeres und in den Augen des 18. Jahrhunderts erhabeneres Ziel konnte es nicht geben, und hier wird noch einmal sichtbar, daß Wallenstein ein Aufklärungsideal verfolgt, wie es deutlicher kaum zu skizzieren ist. Dieses freilich ist nur möglich in einer Rebellion gegen den Wiener Hof, gegen den Absolutismus, gegen die Fremdbestimmung - um in den Worten Schillers zu sprechen. Daß es sich hier nicht um eine beliebige Rebellion in der Geschichte des Abendlandes handelt, sondern um eine entscheidende, wird im weiteren Verlauf des "Piccolomini"-Dramas immer deutlicher, und zwar an den Hinweisen auf die Zeit, darauf, daß "eben jetzt viel Wichtiges" geschieht. 79 Damit verbindet sich die Hoffnung, daß das düstere Reich des Mars bald zu Ende sein wird - eine utopische Variante jener Glückseligkeitserwartungen, von denen vorher schon im Drama die Rede war. Von neuem Leben spricht auch Thekla, und wenn damit zunächst nur ihr persönliches neues Leben gemeint ist, so ist es doch zugleich die vita nuova, eine abendländische Idee von langer Tradition. Freiheitliches kommt selbst in der Rede des Kellermeisters zum Ausdruck, wenn er sagt: Des Menschen Zierat ist der Hut, denn wer Den Hut nicht sitzen lassen darf vor Kaisern Und Königen, der ist kein Mann der Freiheit. 80
Max Piccolomini hat schon den Anspruch auf Selbstbestimmung insofern verwirklicht, als er feststellt, daß er "in solchen Sachen" - gemeint ist der fatale Brief - nur "dem eignen Licht, / Nicht fremdem folgen" kann. 81 Der Gegner der Revolution, Octavio Piccolomini, sieht in der Revolution, in der "Meuterei im Lager" allerdings nur Aufruhr und Weltuntergang: Aufgelöst Sind alle Bande, die den Offizier An seinen Kaiser fesseln, den Soldaten Vertraulich binden an das Bürgerleben. Pflicht- und gesetzlos steht er gegenüber Dem Staat gelagert, den er schützen soll, U n d drohet, gegen ihn das Schwert zu kehren. 8 2
Und er sieht auch, was der Rebellion gegen den Kaiser folgen wird: Es ist kein Wahn. Der bürgerliche Krieg Entbrennt, der unnatürlichste von allen, Wenn wir nicht, schleunig rettend, ihm begegnen. 8 3
Max Piccolomini, sein Sohn, weiß den Untergang der Welt aber auf andere Weise nahe, wenn er über Wallenstein sagt:
49 Denn dieser Königliche, wenn er fällt, Wird eine Welt im Sturze mit sich reißen, Und wie ein Schiff, das mitten auf dem Weltmeer In Brand gerät mit einem Mal, und berstend Auffliegt, und alle Mannschaft, die es trug, Ausschüttet plötzlich zwischen Meer und Himmel, Wird er uns alle, die wir an sein Glück Befestigt sind, in seinen Fall hinabziehn. 84
Alles das sind Einzelbelege, Textstellen, die sich vielleicht
beim
oberflächlichen Lesen dem Verständnis verschließen, j a die gar nicht als relevant in Erscheinung treten mögen. Aber zusammengenommen ergeben sie doch eine erstaunliche Anzahl von Hinweisen darauf, daß hier das Thema der Rebellion, des Aufruhrs, durchmeditiert wird, mit einem eindeutigen Bekenntnis sowohl des Autors wie auch der integren Figuren des Dramas zur Revolution, zu Wallenstein - die in diesem Fall ein und dasselbe sind. Wallenstein als personifizierte Revolution? Das ist nicht so gesagt und ist auf der anderen Seite nicht von der Hand zu weisen. Jedenfalls spitzt sich im Verlauf des Dramas das Revolutionsthema immer weiter zu, die Rebellion nimmt konkrete Züge an, und es ist allein die Zeit, also dits durch die Sterne Versinnbildlichte, was Wallenstein davon abhält, den Aufstand gegen den Kaiser in die politische Tat umzusetzen. Die Zeit ist noch nicht reif für eine solche Tat, so findet er; und wir mögen im geheimen daran denken, daß Schiller zuvor die Zeit, seine eigene Gegenwart, auch noch nicht reif fand für die Französische Revolution und eben deswegen erst eine ästhetische Erziehung forderte, damit eine solche Revolution ihren Sinn habe, und das heißt: die Aufklärungsideale des 18. Jahrhunderts tatsächlich in die Wirklichkeit umsetzen könne. Natürlich bleibt die Differenz zwischen der Realität des Dreißigjährigen Krieges und der Realität der Französischen Revolution - aber Revolutionäres ist beidemale thematisch, und Schillers Sympathie ist, was die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges angeht, eindeutig auf Seiten Wallensteins, aus seiner antiklerikalen Einstellung heraus, für die es j a im Laufe seiner eigenen Entwicklungsgeschichte mehr als genug Belege gibt. Wie endet die versuchte Rebellion?
"Wallensteins Tod" gibt darauf Antwort. "Mars regiert die Stunde", sagt Wallenstein, und das ist ein Hinweis auf den Kriegszustand, der unmittelbar bevorsteht. Jupiter herrscht, meint Wallenstein kurz darauf, "und zieht das dunkel zubereitete Werk / Gewaltig in das Reich des Lichts", 85 und hier ist erneut zu bedenken, daß "Licht" nicht nur eine Aufklärungsmetapher ist, sondern auch eine Revolutionsmetapher. Wallenstein bleibt zunächst noch in
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seinem Zweifelsdenken, wenn er sich fragt, ob er die Tat vollbringen muß, weil er sie gedacht habe, auf die Zukunft hin orientiert: Nicht was lebendig, kraftvoll sich verkündigt, Ist das gefährlich Furchtbare. Das ganz Gemeine ists, das ewig Gestrige, Was immer war und immer wiederkehrt, U n d morgen gilt, weils heute hat gegolten! 8 6
Das ewig Gestrige! Wallenstein aber will - und darin ist er ein unzeitgemäßer Aufklärer - das Morgige, die Zukunft, die Verbesserung der Welt auf ihre allgemeine Glückseligkeit hin, und der Zwang der Verhältnisse bringt ihn dazu, nicht mehr zurück zu können. Die Einzigartigkeit seines Aufruhrs gegen den Kaiser wird von anderen durchaus gesehen, so etwa, wenn Wrangel sagt: "Solch eine Flucht und Felonie, Herr Fürst, / Ist ohne Beispiel in der Welt Geschichten". 87 Gab es etwas Einzigartigeres in der Welt Schillers als die Französische Revolution? Der schwedische Unterhändler spricht von "des Glaubens Freiheit"; 88 Wallenstein ist in der Tat bereit, sich vom katholischen Wien ab- und dem protestantischen Schweden zuzuwenden, und die Diskussion geht nur darüber, ob die Treue gebrochen werden dürfe und unter welchen Bedingungen Verrat kein Verrat mehr sei. Auffällig, daß Wallenstein, wenn vom Treuebruch die Rede ist, vom "wilden Tier" spricht, "Das mordend einbricht in die sichre Hürde, / Worin der Mensch geborgen wohnt" 89 - eine frühe Vorwegnahme des Bildes vom wilden Tier, das in der Brust des Menschen wohnt und vor dessen Ausbruch man sich zu hüten habe, wie das Joseph von Eichendorff in seine Revolutionsdarstellung vom Schloß Dürande einbringt, aber auch revolutionären Figuren wie Heinrich von Kleist zuordnet. Der Krieg entzündet sich "zwischen deinem Freund und deinem Kaiser", wie Wallenstein zu Max, der reinen Seele sagt; Max warnt ihn vor Verräterei 90 und vor den "falschen Mächten", 91 den Lügengeistern, "Die dich berückend in den Abgrund ziehn. / Trau ihnen nicht! Ich warne dich O! kehre / Zurück zu deiner Pflicht". Er ist die warnende Stimme des Gewissens, aber Wallenstein entgegnet sein "Es ist zu spät". 92 Er wiederholt dieses "Es ist zu spät", und er sieht sich gleichsam als den Vollstrecker einer geschichtlichen Notwendigkeit, eines geschichtlichen Zwanges, wenn er sagt: - Ergib dich drein. Wir handeln, wie wir müssen. So laß uns das Notwendige mit Würde, Mit festem Schritte tun - was tu ich Schlimmres, Als jener Cäsar tat, des Name noch Bis heut das Höchste in der Welt benennet? 9 3
Das zeigt die Übertragbarkeit der Wallensteinhandlung. "Er führte wider Rom die Legionen, / Die Rom ihm zur Beschützung anvertraut" 94 - hier
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ist etwas von der Beispielhaftigkeit auch des Wallenstein-Schicksals sichtbar, denn so wie Wallenstein die Geschichte Casars wiederholt, so wiederholt, weitergedacht, die Französische Revolution die Geschichte Wallensteins: eine historische Parallelität, für die Schiller und nicht nur er in seinem Zeitalter außerordentlich aufgeschlossen war: man denke nur an das Motiv der neuen Medea, an den Virginia-Mythos - seit Lessing wohlvertraute mythologische oder prähistorische Klischees, zur Aussage eigener Anliegen nachdrücklich genutzt. Wer aber die historische Parallelität zur Erklärung geschichtlicher Vorgänge bemüht, erklärt sich zwangsläufig damit einverstanden, daß auch sein eigener Fall, seine eigene Geschichte exemplarisch erscheint - und eben das legitimiert, sofern eine solche Legitimation überhaupt nötig ist, die Übertragung des Wallenstein-Geschehens auf die eigene Gegenwart Schillers. Max Piccolomini, der den aufrührerischen Wallenstein an seine Treueverpflichtung erinnert hat, sagt sich dennoch von seinem Vater los: "Dein Weg ist krumm, er ist der meine nicht", 95 und damit bringt er vielleicht ein stärkeres Bekenntnis zu Wallenstein, als das ein direktes Wort von ihm hätte tun können. Und es ist in Max die Stimme des Herzens, nicht die Stimme der Vernunft - wiederum spricht das für Wallenstein, nicht gegen ihn. Der Vertreter von Recht, Ordnung, Überlieferung und Tradition, Octavio Piccolomini, aber wird von Wallenstein verurteilt: Er folgt dem Gott, dem er sein Leben lang Am Spieltisch hat gedient. Mit meinem Glücke Schloß er den Bund und bricht ihn, nicht mit mir. War ich ihm was, er mir? Das Schiff nur bin ich. Auf das er seine Hoffnung hat geladen, Mit dem er wohlgemut das freie Meer Durchsegelte; er sieht es über Klippen Gefährlich gehn und rettet schnell die Ware. Leicht wie der Vogel von dem wirtbarn Zweige, Wo er genistet, fliegt er vor mir auf, Kein menschlich Band ist unter uns zerrissen. Ja, der verdient, betrogen sich zu sehn, Der Herz gesucht bei dem Gedankenlosen! 96
Und noch einmal: "dies falsche Herz / Bringt Lug und Trug in den wahrhaftgen Himmel". 9 7 Wir kennen das Ende. Wallenstein stirbt unter den Dolchen der Verräter, er weiß: "Aufgeopfert hat mich / Der Kaiser meinen Feinden", 9 8 und er gibt noch einmal Rechenschaft - dem Zuschauer und sich selbst, wenn er sagt: "Weil ich den Frieden suche, muß ich fallen". Das ist ein noch besserer Wallenstein als der der "Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs", über den Schiller abschließend schrieb: "so fiel Wallenstein, nicht weil er Rebell war, sondern er rebellirte, weil er fiel". So liest es sich im Vierten Buch der "Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs". Aber nun fällt Wallenstein, weil er den
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Frieden suchte - die Vorstellung vom Friedensfürsten ist ihm unterlegt, und sie hat eine religiöse Grundbedeutung. Umso negativer erscheint seine Gegenwelt, die Welt des Kaisers und des Wiener Hofes. Und Wallenstein spricht das auch aus, wenn er sagt: "Was kiimmerts Ostreich, ob der lange Krieg / Die Heere aufreibt und die Welt verwüstet, / Es will nur wachsen stets und Land gewinnen".99 Max zerbricht an dem Zwiespalt zwischen Treuegelöbnis und der Liebe zu Wallenstein, er sucht seinen Untergang - "In mir ist Nacht, ich weiß das Rechte nicht zu wählen". 100 Derjenige, der an Recht, Ordnung und Überlieferung, an seinem Treuegelöbnis dem Wiener Hof gegenüber festhält, wird aus der Sicht der Gräfin Terzky zum eigentlichen Verräter, und sie bemerkt zu Max: Ihr Vater hat den schreienden Verrat An uns begangen, an des Fürsten Haupt Gefrevelt, uns in Schmach gestürzt, daraus Ergibt sich klar, was Sie, sein Sohn, tun sollen, Gutmachen was der Schändliche verbrochen, Hin Beispiel aufzustellen frommer Treu, Daß nicht der Name Piccolomini Ein Schandlied sei, ein ewger Fluch im Haus Der Wallensteiner. 101
Das Ende ist Mord, und Buttler sagt ungewollt etwas metaphorisch Richtiges, wenn er feststellt: "Der Sonne Licht ist unter". 102 Ist, metaphorisch gesprochen, die Aufklärung mit Wallensteins nahe bevorstehendem Tod an ein Ende gekommen? Die Losung des Schlusses lautet: "Es lebe der Kaiser", und auf die Frage des Hauptmanns Deveroux "Ists nicht der Friedland, dem wir Treu geschworen?" entgegnet Buttler: "Wir einen Reichsfeind und Verräter schützen?" 103 Wallenstein muß noch vom Tode Max Piccolominis hören, und mit ihm ist der Stern, ist die Morgenröte aus seinem Leben hinweggegangen. 104 Wallensteins Rebellion ist gescheitert. Das Drama endet mit den berühmten Worten "Dem Fürsten Piccolomini": mit der Restauration, der Wiederherstellung der alten Verhältnisse, der Anerkennung dessen, der sich gegen jede Veränderung der Welt ausgesprochen hatte.
Niemand ist verpflichtet, das Drama allegorisch zu lesen; es bleibt auch als dramatischer Bericht über den Sturz Wallensteins und über die Vorgänge des Dreißigjährigen Krieges eine eindrucksvolle Lektüre. Aber hier ist verständlicherweise - so häufig von Ideen des ausgehenden 18. Jahrhunderts die Rede, daß es geboten erscheint, das Drama als ganzes auf die Französi-
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sehe Revolution zu beziehen. Zu viel kommt von Freiheit und Selbstbestimmung vor, als daß man diese Hinweise überlesen dürfte, zumal sie im Deutschland des Dreißigjährigen Krieges eigentümlich anachronistisch wirken. Unbestreitbare Gemeinsamkeiten schafft das Generalthema: die Frage der erlaubten oder unerlaubten Rebellion. Natürlich lassen sich nicht Einzelheiten übertragen. Aber im Ganzen kann die Geschichte - und Schiller hat sie ja als solche ausdrücklich auch sonst genutzt - als Exempelfeld betrachtet werden, als Beispielfall, gewissermaßen aus dem Geist der Aufklärung heraus, der Vergleichbarkeiten überall sah - das historische Bewußtsein, das hochdifferenzierte und auf die Individualität einzelner Epochen hin orientierte Geschichtsdenken des 19. Jahrhunderts spielt hier noch keine Rolle. Die Übertragbarkeit vorausgesetzt, was lehrt dieses Drama dann? "Wallenstein" ist die Geschichte einer gescheiterten Revolution, die Tragödie einer verhinderten Selbstbestimmung. Sie endet in tiefem Pessimismus, denn vor der Botschaft "Dem Fürsten Piccolomini" ruft Gordon aus: "O Haus des Mordes und Entsetzens" - und das ist das historische Fazit, die Schlußzeile zu einer gescheiterten Rebellion. Was hat Schiller mit seiner Analogie, sofern sie zutrifft, sagen wollen? Das Drama läßt sich als Revolutionskommentar lesen, und die Botschaft ist dann in etwa die gleiche, die auch schon die Ästhetischen Briefe verkünden: die Französische Revolution mußte scheitern, trotz ihrer guten Zielsetzung, weil die restaurativen Kräfte, der Klerus, die traditionellen Ordnungsmächte zu groß waren. Freilich gibt es einen bedeutsamen Unterschied: 1794 war Schiller noch bereit, einer ästhetischen Erziehung eine Verbesserung zuzugestehen oder glaubte, daß eine solche Erziehung die Voraussetzung für eine echte Revolution schaffen könne. Davon kann im "Wallenstein" nicht mehr die Rede sein. Hier geht die bessere Welt unter, die schlechtere lebt weiter, und das heißt: ein problematischer, ja gefährlicher Absolutismus bestimmt weiterhin die französische, die europäische Kultur. Die Selbstbestimmung Wallensteins ist gescheitert, mußte scheitern, weil die entgegenwirkenden Kräfte zu groß waren und weil sich Autonomie im politischen Raum nicht verwirklichen ließ. Selbstbestimmung eines Einzelnen aber konnte es auch nicht geben. Wollte man etwas überpointiert formulieren, ließe sich sagen: "Wallenstein" ist die ins Historische übersetzte Dramatisierung der Geschichte der Französischen Revolution, so wie sie sich Schiller um 1800 darstellte. Liest man das Drama so, ist es zugleich ein Hinweis darauf, daß Schiller mit den Freiheitsidealen der Französischen Revolution und vor allen Dingen mit der Selbstbestimmungsidee, mit der Kritik am Klerus und an der Machtrolle des Klerus auch nach den Ästhetischen Briefen nicht hinter dem Berge zurückhielt. Eine solche Deutung wird verstärkt durch die Analyse der vielen vorangegangenen
54 antiklerikalen Aussagen Schillers, wie sie hier durchaus nicht lückenlos, aber doch in ihren wichtigsten Beispielen genannt worden sind. Religiöse Themen und politische Selbstbestimmung hängen bei Schiller in einem viel höheren Ausmaß zusammen, als man das bisher gesehen hat. Das aber macht noch einmal deutlich, daß es Schiller gar nicht so sehr um politische und reale Lebens- und Selbstbestimmung ging, sondern um geistige Freiheit. Die ist zwar hier in den politischen Spielraum übertragen worden, aber man kann aus "Wallenstein" am Ende sogar auch noch etwas herauslesen über die Ohnmacht des Real-Politischen, über das wirkliche Scheitern eines wirklichen Revolutionsversuchs. Schiller hat das mit der ihm eigentümlichen Prophetie, die sich j a auch darin äußerte, daß er das Ende der Französischen Revolution schon 1793 so negativ gesehen hat, mit seinem Hinweis auf den kommenden großen Mann (also auf Napoleon) verbunden, und offenbar ist auch in "Wallenstein" etwas von der Skepsis einer wirklichen Machtveränderung gegenüber eingegangen. Um so großartiger bleibt aber der ideelle Versuch einer Selbstbefreiung - und daß Schiller ihn in das 17. Jahrhundert verlegte, nimmt ihm nichts an Gewicht, sondern macht ihn nur um so eindrucksvoller, denn daß in diesem Jahrhundert die Selbstbestimmung natürlich eine ebenso umkämpfte wie problematische Forderung war, das wußte er als Historiker genau. Die Geschichte vom Tode Wallensteins also als Gleichnis für den raschen Untergang der Französischen Revolution, für die Fragwürdigkeit politischen Handelns, für die Unmöglichkeit, die realen Machtverhältnisse zu ändern, für die Notwendigkeit aber auch, sich geistige Freiheit zu bewahren, gegen absolutistische Herrschaft, Klerus und jede Art von Fremdbestimmung überhaupt? Damit wäre zugleich die These widerlegt, daß Schiller sich nach dem Scheitern der Französischen Revolution und nach seinen Ästhetischen Briefen gründlich von der Wirklichkeit abgewandt habe, um sich in das Reich des Poetischen bzw. des Historischen zu begeben. Letzteres hat er zweifellos getan - jedoch mit deutlichen Hinweisen darauf, daß dieses historische Drama auf seine eigene Gegenwart zu beziehen sei. "Wallenstein" also als Schillers dramatische Antwort auf die Französische Revolution, als Anklage gegen die Kräfte, die Selbstbestimmung verhinderten, aber auch als Einsicht in die Undurchführbarkeit der Revolution: Schiller hat die Geschichte der Französischen Revolution noch einmal erzählt, so deutlich, wie eine allegorische Darstellung es zuließ. Das Drama ist ein Nekrolog: Wallenstein ist einer mißgünstigen Legende gegenüber rehabilitiert, aber er scheitert, weil seine Zeit für Selbstbestimmungsforderungen nicht reif war. Oder besser: Die Geschichte selbst hat die Französische R e volution widerlegt. Das hat Schillers Überzeugung von der Notwendigkeit der Selbstbestimmung aber nicht zurückgedrängt, sondern eher noch bekräf-
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tigt. Aber zugleich hat sich hier der Konflikt aufgebaut, der in den folgenden Dramen immer stärker eine Rolle spielen wird: der zwischen dem tatsächlichen Scheitern des Menschen an der Wirklichkeit und seiner inneren Freiheit, die die Wirklichkeit am Ende überspielen und negieren kann. Von ästhetischer Erziehung ist hier und fortan nicht mehr die Rede - insofern nimmt Schiller seine Ästhetischen Briefe mit "Wallenstein" zurück. Und Freiheit zeigt sich künftig auch nicht mehr im Spiel, sondern in der tragischen und tödlichen Konfrontation mit der Wirklichkeit. "Maria Stuart" und "Die Braut von Messina" bezeugen das hinreichend, aber auch, daß Freiheit dennoch möglich ist.
Anmerkungen
Zu Schillers Verhältnis zur Französischen Revolution existieren verständlicherweise schon längst Arbeiten. Adolf Stern ist in seinem bereits erwähnten Buch darauf eingegangen, eine ältere Darstellung stammt von W. Baumecker: Schiller und die Französische Revolution, Berlin 1939. Das Thema behandelt auch Benno von Wiese (Schiller und die Französische Revolution), in: B. v. W., Der Mensch in der Dichtung. Studien zur deutschen und europäischen Literatur, Düsseldorf 1958, S. 148-169; von Wiese geht auch ausführlicher auf die Beziehung der Revolutionskritik Schillers zu seinen philosophischen Schriften ein. Ebenfalls eine ältere Arbeit ist die von Ursula Wertheim: Schillers Auseinandersetzung mit den Ereignissen der Französischen Revolution, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Schiller-Universität Jena, Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe, 8, 1958/59, S. 429-449. Aus ähnlicher Sicht schrieb Hans Thalheim: Über Schillers Stellung zur Französischen Revolution und zum Revolutionsproblem, in: Festschrift zur 150-Jahr-Feier der Humboldt-Universität zu Berlin 3, 1960, S. 193-211. Über Schillers Verhältnis zur Französischen Revolution in einem allgemeineren Rahmen informiert auch Norbert Oellcrs: Idylle und Politik. Französische Revolution, Ästhetische Erziehung und die Freiheit der Urkantone, in: Friedrich Schiller. Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung. Ein Symposium. Hrsg. von Wolfgang Wittkowski, Tübingen 1982, S. 114-133. Immer noch lesenswert ist auch das Kapitel: Politik und Ästhetik in Schillers Denken, in: Benno von Wiese: Friedrich Schiller, Stuttgart 1959, S. 446-506. Verständlicherweise haben sich die Arbeiten, die Schillers Verhältnis zur Politik bzw. zur Französischen Revolution behandeln, vor allem auf "Wilhelm Teil" konzentriert; charakteristisch ist etwa der Aufsatz von Gerhard Kaiser: Idylle und Revolution. Schillers "Wilhelm Teil", in: Deutsche Literatur und Französische Revolution, Göttingen 1974, S. 87-128. Kaiser weist im übrigen darauf hin, daß die Beziehung des "Wilhelm Teil" zur Französischen Revolution "am eindringlichsten von der marxistischen Schiller-Forschung thematisiert worden" sei (S. 118); Kaiser hat die Diskussion dort entsprechend nachgezeichnet. Auf der anderen Seite ist Schillers Verhältnis zur Französischen Revolution mit Recht immer wieder mit seinem Begriff der Ästhetischen Erziehung in Zusammenhang gebracht worden; dazu etwa Dieter Borchmeyer: Die Weimarer Klassik. Eine Einführung. Bd. 2, F r a n k f u r t / M . 1980, S. 202-211, mit weiteren Literaturhinweisen. Über die Beziehung der Ästhetischen Briefe zur Französischen Revolution handelt auch Heinrich Mettler: Entfremdung und Revolution: Brennpunkt des Klassischen. Studien zu Schillers Briefen "Über die ästhetische Erziehung des Menschen" im Hinblick auf die Begegnung mit Goethe, Bern/München 1977. Schillers Wallenstein-Drama ist oft als Geschichtsdrama, aber eigentlich nie ausdrücklich als Revolutionsdrama gelesen worden. In letzter Zeit hat sich zudem die Diskussion vor allem an der Frage entzündet, ob Wallenstein ein Verkünder des neuen Lebens oder schlichtweg ein Verräter sei. Walter Müller-Seidel hat eine Studie über: Die Idee des neuen Lebens: eine Betrachtung über Schillers "Wallenstein" vorgelegt (in: The Discontinuous Tradition. Studies in
56 German Literature in Honour of Ernest Ludwig Stahl. Edited by P. F. Ganz, Oxford 1971, S. 79-98), die für Wallenstein Partei nimmt: Wallenstein sei von der Idee des Friedens bestimmt. Müller-Seidel hat auch auf die Beziehung zur Französischen Revolution insofern hingewiesen, als er feststellt: "In dem Maße, in dem sich der Held des Dramas als Anwalt des Neuen gegen die Macht der Gewohnheit und gegen das Recht der Besitzenden wendet, nur weil es ein Gewohnheitsrecht ist, spürt man die Nähe zur Ideenwelt der Französischen Revolution. Die Idee des Neuen im Denken Wallensteins gewinnt Gestalt in einem neuen Reich, das er schaffen will, um das veraltete des Kaisers abzulösen." Dem kann man nur zustimmen. Kritik daran hat allerdings Wolfgang Wittkowski geäußert, in einem Aufsatz: Theodizee oder Nemesistragödie? Schillers "Wallenstein" zwischen Hegel und politischer Ethik, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1980, S. 177-237; für Wittkowski ist Wallenstein alles andere als der Vertreter der Idee eines neuen Lebens, vielmehr ein "irrational-despotischer Revolutionär"; Wittkowski schreibt: "Das Leben soll sich erhalten und erneuern - aber nicht im Sinne von Emporkömmlingen wie Wallenstein, die vornehmlich nach Besitz, Macht, Geltung streben, sondern in dem Sinne, wie Max und Thekla ihr Leben erfüllen möchten, was ihnen Wallenstein verwehrt und wozu Octavio die Möglichkeit, die Freiheit schützen will vor dem zerstörerischen Zugriff des Diktators" (S. 237). Eine Vermittlung dazwischen scheint kaum möglich zu sein. Die hier vorgelegte Analyse schließt sich aus Gründen, die genannt worden sind, sehr viel mehr der Deutung Müller-Seidels an. Über die neuere Diskussion zu Wallenstein unterrichtet Verf.: Schillerforschung 1970-1980. Ein Bericht. Deutsche Schillergesellschaft, Marbach a. N. 1982, S. 95-111. Über wichtige Einflüsse der politischen Philosophie der französischen Aufklärung zur Zeit der Revolution auf Schiller vgl. Otto W. Johnston: Schiller und das bourgeois-liberale Programm der Französischen Revolution, in: Verlorene Klassik? Ein Symposium. Hrsg. von Wolfgang Wittkowski, Tübingen 1986, S. 328-349.
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: Werke, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1986, Bd. 12, S. 535. Schillers Werke Nationalausgabe. (NA), 25. Bd., Briefwechsel, Schillers Briefe 1. 1. 1788 - 28. 2.1790. Hrsg. von Eberhard Haufe, Weimar 1979, S. 268. Ebd., S. 286. Ebd., S. 300. Ebd. S. 304. Karoline von Wolzogen: Schillers Leben, Stuttgart o. J., S. 184. Dazu auch Benno von Wiese: Schiller und die Französische Revolution, in: B. v. W.: Der Mensch in der Dichtung, Düsseldorf 1958, S. 148-169, bes. S. 156, und Benno von Wiese: Friedrich Schiller, Stuttgart 1959, S. 449f. Schillers Briefe. Hrsg. und mit Anmerkungen versehen von Fritz Jonas. Kritische Gesamtausgabe. 3. Bd., Stuttgart u. a . , o. J. (1893), S. 220. NA, 17. Bd., Historische Schriften. Erster Teil. Hrsg. von Karl-Heinz Hahn, Weimar 1970, S. 399f. NA, 22. Bd., Vermischte Schriften. Hrsg. von Herbert Meyer, Weimar 1958, S. 95. Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern 1946, S. 387. Joachim Müller: Schillers "Kabale und Liebe" als Höhepunkt seines Jugendwerks, in: J. M.: Wirklichkeit und Klassik, Berlin 1955, S. 127. NA, 20. Bd., Philosophische Schriften, Erster Teil. Unter Mitwirkung von Helmut Koopmann hrsg. von Benno von Wiese, Weimar 1962, S. 108. Ebd., S. 108. Ebd., S. 107. Dazu Paul Böckmann: Schillers Don Karlos. Edition der ursprünglichen Fassung und entstchungsgeschichtlicher Kommentar, Stuttgart 1974, bes. S. 508ff. NA, 22. Bd., S. 164. Ebd., S. 151. Ebd., S. 171. NA, 18. Bd., Historische Schriften. Zweiter Teil. Hrsg. von Karl-Heinz Hahn, Weimar 1976, S. 11.
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Ebd., S. 10. Ebd., S. 26. Ebd., S. 10. Ebd., S. 11. Ebd., S. 329. NA, 18. Bd., S. 10. Ebd. Ebd. Ebd., S. 329. Ebd. Schillers Briefe. Hrsg. von Fritz Jonas, 3. Bd., S. 170. NA, 17. Bd., S. 424. Ebd. Ebd., S. 430. Ebd., S. 431. Ebd., S. 434. Ebd., S. 439. Ebd., S. 440. Ebd., S. 441f. Schillers Briefe. Hrsg. von Fritz Jonas, 3. Bd., S. 225. Ebd., S. 233f. Ebd., S. 330. Ebd., S. 332. Ebd., S. 336. NA, 20. Bd., S. 263. Ebd., S. 282. Ebd., S. 311. Ebd., S. 312. Ebd., S. 328. Ebd., S. 328f. Ebd., S. 376. Ebd., S. 412. Ebd., S. 503. NA, 1. Bd., Gedichte in der Reihenfolge ihres Erscheinens 1776-1799. Hrsg. von Julius Petersen und Friedrich Beißner, Weimar 1943, S. 297. Goethes Werke, Weimarer Ausgabe, IV. Abteilung, Bd. 12, S. 143. Vgl. Albert Soboul: Die Große Französische Revolution, Frankfurt/M. 21973, S. 211. So NA, 8. Bd. Hrsg. von Hermann Schneider und Lieselotte Blumenthal, Weimar 1949, S. 474. V. 889. V. 516ff. V. 424. V. 842. V. 929f. V. 992. V.1060ff. So Soboul, a. a. O., S. 32f. Ebd., S. 33. Ebd. Ebd., S. 15. Ebd., S. 19. V. 201f. V. 294. V. 319ff. V. 685f. V. 463ff. V. 428ff. V. 534ff. V. 551ff.
58 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104
V. 567ff. V. 1182f. V. 1450. V. 2076ff. V. 2072Í. V. 2347ff. V. 2364ff. V. 2639ff. V. 31f. V. 206ff. V. 325f. V. 360. V. 431ff. V. 773ff. V. 810ff. V. 820. V. 833ff. V. 838f. V. 1192. V. 1623ff. V. 1670f. V. 1913f. V. 1951ff. V. 2281. V. 2287ff. V. 2847. V. 3225ff. V. 3448.
III. "Diese große intellektuelle Wiedergeburt und neue Belebung" Friedrich Schlegels Revolutionsverständnis und die Zerstörung traditioneller poetischer Formen
Die Frühromantik hat die Französische Revolution im allgemeinen freundlich, teilweise sogar enthusiastisch begrüßt. Die Äußerungen sind mehrfach gesammelt und vielfach bekannt gemacht worden; stellvertretend seien hier einige zitiert. Ludwig Tieck schreibt in einem Brief an Wilhelm Heinrich Wackenroder am 28. Dezember 1792: "Du sprichst j a gar nichts von den Franzosen? Ich will nicht hoffen, daß sie Dir gleichgültig geworden sind, daß Du wirklich Dich nicht dafür interessierst? Oh, wenn ich izt ein Franzose wäre! Dann wollt' ich nicht hier sitzen, dann —
Doch leider, bin ich in einer
Monarchie geboren, die gegen die Freiheit kämpfte, unter Menschen, die noch Barbaren genug sind, die Franzosen zu verachten. [...] Frankreich ist jetzt mein Gedanke Tag und Nacht, - ist Frankreich unglücklich, so verachte ich die ganze Welt und verzweifle an ihrer Kraft, dann ist für unser Jahrhundert der Traum zu schön, dann sind wir entartete, fremde Wesen, mit keiner Ader denen verwandt, die einst bei Thermopylä fielen, dann ist Europa bestimmt, ein Kerker zu sein". 1 Wackenroder respondiert im Januar 1793 getreulich: "Ich habe mich schon lange gewundert, daß Du mich nicht gefragt hast, was ich von den Franzosen denke. Ich denke ganz mit Dir gleich von ihnen, und stimme von ganzem Herzen in Deinen Enthusiasmus ein, das versichere ich Dich". 2 Allerdings macht Wackenroder einige Einschränkungen. So berichtet er, daß er mit keinem Menschen von den Franzosen spreche, weil jeder darüber spreche; er lese die Zeitung nicht, weil er dazu keine Zeit habe, und er würde auch, selbst wenn er Franzose wäre, "gewiß nicht Soldat werden, und den Säbel oder das Gewehr in die Hand nehmen, weil ich mein Leben und meine Gesundheit zu sehr liebe, und zu wenig körperlichen Mut besitze". Wackenroder nimmt Tiecks mögliche Reaktion dadurch vorweg, daß er ihm mitteilt, er werde sich vielleicht wundern, "wie man in der Tat von dieser Sache begeistert sein kann, ohne auch Mut genug in sich zu fühlen, dabei selbst mitzuwirken". "Heldenmut und Tapferkeit", so Wackenroder, seien aber nun einmal nicht seine Stärken - und deswegen ist bei ihm die Be-
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geisterung
für Frankreich
eher
theoretischer
Natur.
Ähnliche
Ein-
schränkungen folgen auch später, als Ludwig XVI. hingerichtet worden ist; Wackenroder erklärt zwar, daß er noch über die Sache der Franzosen wie sonst denke, aber: "Ob sie die rechten Mittel dazu anwenden, verstehe ich nicht zu beurteilen, weil ich von dem Historischen sehr wenig weiß".3 Zwei Äußerungen unter vielen - Enthusiasmus und eine vorsichtige Zurücknahme der Revolutionsbegeisterung auf das Ideelle hin, was den freundschaftlichen Briefwechsel zwischen Tieck und Wackenroder betrifft. Aber im allgemeinen ist an zustimmenden Reaktionen kein Mangel. Friedrich Schlegel schreibt im Oktober 1793 an August Wilhelm über Briefe Carolines: "Diese Begeistrung für eine große öffentliche Sache macht trunken und thörigt für uns selbst und unsre kleinen Angelegenheiten, muß es machen, wenn sie acht ist. [...] Seit einigen Monaten nun ist es meine liebste Erhohlung geworden, dem mächtigen räthselhaften Hange der Zeit-Begebenheiten zu folgen; und davon fängt sich eine Denkart an in mir zu bilden, die es tollkühn wäre, nicht zu verschließen".4 Der berühmteste Kommentar zur Französischen Revolution ist sicherlich der von Friedrich Schlegel: "Die Französische Revolution, Fichte's Wissenschaftslehre, und Goethes Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters". Sein Bruder hatte damals zwar einen Einwand gemacht, nämlich den, "die Parallele des Meister mit der W.[issenschafts]l[ehre] pp. würde Goethe unangenehm seyn".5 Friedrich aber fand nichts sonderlich Bedenkenswertes oder Problematisches daran, und so wurde das Fragment denn am Ende so gedruckt, wie es geschrieben war. Doch auch vorher schon hatte es überbordende Bekenntnisse zur Französischen Revolution gegeben. Johann Gottlieb Fichte hatte 1793 in seiner Schrift "Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens, die sie bisher unterdrückten" geschrieben: "Hemmt man den Fortgang des menschlichen Geistes, so sind nur zwei Fälle möglich: der erstere unwahrscheinlichere - wir bleiben stehen, wo wir waren, wir geben alle Ansprüche auf Verminderung unseres Elendes, und Erhöhung unsrer Glückseligkeit auf; wir lassen uns die Gränzen setzen, über die wir nicht schreiten wollen: - oder der zweite, weit wahrscheinlichere; der zurückgehaltene Gang der Natur bricht gewaltsam durch und vernichtet alles, was ihm im Wege steht, die Menschheit rächt sich auf das grausamste an ihren Unterdrückern, Revolutionen werden nothwendig".6 Die Revolution lasse sich nicht, so meinte Fichte, durch Dämme verhindern, die man der menschlichen Entwicklung, "dem Gange des menschlichen Geistes entgegensetzt", und Fichte adressiert alle europäischen Völker, wenn er sagt: "Nein, ihr Völker, alles, alles gebt hin, nur nicht die Denkfreiheit". 7 Und an die Fürsten gewendet meint Fichte: "Ihr seyd gröblich irre geleitet; Glückseligkeit erwarten wir nicht aus eurer Hand,
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wir wissens ja, daß ihr Menschen seyd - wir erwarten Beschützung und Rückgabe unsrer Rechte, die ihr uns doch wohl nur aus Irrthum nahmt. Ich könnte euch beweisen, daß Denkfreiheit, ungehinderte uneingeschränkte Denkfreiheit allein das Wohl der Staaten gründe, und befestige". 8 Es ist verständlich, daß aus diesem Geiste auch seine "Beiträge zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution" 1793 geschrieben wurden. In deren Vorrede heißt es: "Die französische Revolution scheint mir wichtig für die gesammte Menschheit. Ich rede nicht von den politischen Folgen, die sie sowohl für jenes Land, als für benachbarte Staaten gehabt, und welche sie, ohne das ungebetene Einmischen, und das unbesonnene Selbstvertrauen dieser Staaten wohl nicht gehabt haben würde. [...] so scheint mir die französische Revolution ein reiches Gemälde über den großen Text: Menschenrecht und Menschenwerth".9 Zustimmung findet sich auch sonst. Schelling schreibt an Hegel am 4. Februar 1795: "Wir wollen beide weiter, - wir wollen beide verhindern, daß nicht das Große, was unser Zeitalter hervorgebracht hat, sich wieder mit dem verlegnen Sauerteig vergangner Zeiten zusammenfinde; - es soll rein, wie es aus dem Geist seines Urhebers ging, unter uns bleiben". 10 Friedrich Schleiermacher berichtet einem Freund am 27. August 1791: "Frankreich ist mir eben so interessant, als es Dir nur seyn kann und ich möchte wol wißen was die 3 hohen Häupter welche dieser Tage in Dresden versammelt gewesen sind (oder vielmehr diejenigen welche die Mühe übernommen haben für diese 3 Herrn zu denken) gegen das gute Volk ausgeheckt haben. Gott verdamme ihre despotischen Absichten". 11 Er gesteht in einem Brief an den Vater, daß er "die französische Revolution im Ganzen genommen sehr liebe".12 Novalis spricht von "Freiheitsglut", von "Menschenrecht", "Sklaverei", "Tyrannenhaß", und er scheint 1797 von der revolutionären Begeisterung geradezu fortgetragen zu sein, wenn er im Dezember zu Friedrich Schlegel bemerkt: "Deine Fragmente sind durchaus neu - ächte, revolutionäre Affichen". 13 Vom dritten Stand ist nicht die Rede. Nur auf den citoyen gründen sich die aufklärerischen Hoffnungen. Die Bereitschaft auf Seiten der jungen Generation in den späten 90er Jahren, sich den Ideen der Französischen Revolution zu öffnen, war groß. Friedrich Schlegel schreibt - und das klingt wie eine Zusammenfassung vieler frühromantischer Stellungnahmen zur Französischen Revolution - 1798 in seinen Athenäums-Fragmenten: "Man kann die Französische Revolution als das größte und merkwürdigste Phänomen der Staatengeschichte betrachten, als ein fast universelles Erdbeben, eine unermeßliche Überschwemmung in der politischen Welt; oder als ein Urbild der Revolutionen, als die Revolution schlechthin".14 Die Romantik scheint die Französische Revolution als
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die ihrige anzusehen, und für sie sind die Vorgänge in Frankreich nicht eine Nationalangelegenheit, sondern eine menschheitliche, wie es dem Verständnis der ausgehenden Aufklärung nur zu angemessen ist. Dennoch kamen damals schon Zweifel hoch; wer über die Revolutionsbegeisterung der Frühromantiker spricht, muß auch die dazugehörigen Bedenken erwähnen. Das Bild, das die frühromantische Literatur von der Französischen Revolution entwirft, ist nicht immer nur glänzend, sondern gelegentlich von negativen Äußerungen befrachtet, zuweilen auch geprägt vom Desinteresse an den tatsächlichen politischen Vorgängen in Frankreich, und damit zeichnet sich für die Frühromantik im Grunde genommen das gleiche ab, was schon für die Klassiker zu beobachten war, was überhaupt für die Rezeption der Französischen Revolution in Deutschland gilt: mit dem Enthusiasmus kommt Kritik hoch. Auch wenn die Revolution später noch favorisiert oder als das größte Ereignis des Jahrhunderts gepriesen wird, bleiben Einschränkungen, Berichtigungen, Vorbehalte, die schließlich die ganze Revolutionsdiskussion zu einer Erörterung über Fragen macht, die sehr viel grundsätzlicherer Natur sind, als sie anfänglich aufgeworfen waren. Eine erste Ahnung vom tief problematischen Charakter der Revolution überhaupt wird hier wach, ebenso das Bewußtsein, daß es nicht um eine rasche oder auch grundsätzliche Parteinahme für oder gegen die aktuell erreichten Ziele in Frankreich gehen kann. Im Gegenteil: davon wenden sich die Romantiker zunehmend stärker ab, so wie denn auch der frühe Revolutionsenthusiasmus eigentlich nur ein kurz aufflackerndes Feuer ist, dem später sehr viel differenziertere, nachdenklichere, abwägendere Stellungnahmen folgen. Diese freilich erstrecken sich über den Gesamtbereich des "bürgerlichen" Lebens, also zugleich auf die Frage nach dem gerechten und zulässigen Staat wie auf die nach der moralischen Verantwortung des Einzelnen in einer res publica. Mehr als das: auch die Geschichte wird herbeizitiert, um entweder mit Vorbildern zu dienen oder um Bedenklichkeiten an historischen Beispielen zu verifizieren. Die Diskussion darüber beherrscht das Denken der Frühromantiker gegen Ende des Jahrhunderts sicherlich nicht ausschießlich, aber doch in erheblichem Ausmaß. Wie janusgesichtig die Französische Revolution in den Augen der Frühromantiker tatsächlich war, zeigt schon jene eben zitierte Äußerung Friedrich Schlegels im "Athenäum". Denn auf die Bemerkung hin, daß die Französische Revolution als größtes und merkwürdigstes Phänomen der Staatengeschichte betrachtet werden könne, als ein fast universelles Erdbeben und unermeßliche Überschwemmung in der politischen Welt - Hinweise, die mit der Revolutionsmetaphorik zu tun haben, die in dieser Zeit überall hochkommt und in der sich Naturphänomene gehäuft finden - im Anschluß
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an diese Bemerkung folgt ein Zusatz, der für das richtige Verständnis derartiger Sätze unerläßlich ist: "Das sind die gewöhnlichen Gesichtspunkte. Man kann sie aber auch betrachten als den Mittelpunkt und den Gipfel des französischen Nationalcharakters, wo alle Paradoxien desselben zusammengedrängt sind; als die furchtbarste Groteske des Zeitalters, wo die tiefsinnigsten Vorurteile und die gewaltsamsten Ahndungen desselben in ein grauses Chaos gemischt, zu einer ungeheuren Tragikomödie der Menschheit so bizarr als möglich verwebt sind. Zur Ausführung dieser historischen Ansichten findet man nur noch einzelne Züge". 15 Man kann sich fragen, ob das nur Antworten der Romantik auf die Wirren und Schrecknisse der Französischen Revolution sind oder ob es sich hier nicht vielmehr um eine Stellungnahme grundsätzlicher Natur zur Revolution, ihren Möglichkeiten und ihren Gefahren handelt. Von ähnlicher Zweideutigkeit ist übrigens auch jenes Fragment über die Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre und Goethes Meister als die "größten Tendenzen des Zeitalters". Schon die Zusammenstellung dreier sehr heterogener Ereignisse, die zudem höchst unterschiedlichen Realitätsebenen angehören, muß im Grunde genommen verwundern. Der Zusatz Schlegels lautet: "Wer an dieser Zusammenstellung Anstoß nimmt, wem keine Revolution wichtig scheinen kann, die nicht laut und materiell ist, der hat sich noch nicht auf den hohen weiten Standpunkt der Geschichte der Menschheit erhoben. Selbst in unsern dürftigen Kulturgeschichten, die meistens einer mit fortlaufendem Kommentar begleiteten Variantensammlung, wozu der klassische Text verloren ging, gleichen, spielt manches kleine Buch, von dem die lärmende Menge zu seiner Zeit nicht viel Notiz nahm, eine größere Rolle, als alles, was diese trieb". 16 Die Kombination der Französischen Revolution mit Fichtes Wissenschaftslehre und Goethes Roman ist, mit anderen Worten, nur möglich, weil hier die Revolution als geistiges Phänomen betrachtet wird; sie wird - das macht eben der Hinweis auf jene Werke deutlich - als Idee begriffen, nicht als politisches Faktum. Schlegel hat, so scheint es, den Revolutionsbegriff substantialisiert, auf jeden Fall vom Herkömmlichen, das heißt: von der Vorstellung einer politischen, tatsächlich sich ereignenden Revolution distanzieren wollen; und so erscheint als gedankliche Leistung, was als wirkliches Geschehen in diesem Zusammenhang mißverstanden werden könnte. Darin spricht sich etwas für die romantischen Überlegungen zur Französischen Revolution sehr Entscheidendes aus: der hier geäußerte Vorbehalt deutet hin auf Revolutionsideen, bei denen es nicht in erster Linie um eine wirkliche Veränderung der zeitgenössischen Gesellschaft ging; die Revolution ist vielmehr geistiger Natur, und es sind spirituelle Bewegungen, die von den Frühromantikern vor allem registriert werden. Das soll nicht
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Von einem überall gleichen frühromantischen Revolutionsverständnis und einer ebenso homogenen Kritik kann man natürlich nicht sprechen. Dennoch gibt es bei den Frühromantikern Übereinstimmungen, und Friedrich Schlegel hat wohl am deutlichsten für die Romantiker-Generation gesprochen und das Phänomen der Revolution exemplarisch analysiert. Die frühesten Äußerungen Friedrich Schlegels zur Französischen Revolution waren zwar noch von einiger Laxheit, und es war offenbar das Schicksal Carolines, das ihn für die Revolution überhaupt sensibilisierte. 17 Erst im Oktober 1793 ist dann von "Begeistrung für eine große öffentliche Sache" die Rede und davon, daß es seit einigen Monaten seine liebste Erholung gewesen sei, "dem mächtigen räthselhaften Hange der Zeit-Begebenheiten zu folgen". 1 8 An eine persönliche Teilnahme an der Revolution denkt er aber nicht. Für Schlegel ist vielmehr charakteristisch, daß er, ähnlich wie Schiller, wenn auch aus ganz anderen Gründen, es für wichtiger hält, sich mit der griechischen Dichtung und der Geschichte zu beschäftigen. Er verfaßt eine "Abhandlung über antiken und modernen Republikanismus"; sie ist allerdings nicht erhalten geblieben. Im Sommer 1794 erwähnt er Novalis gegenüber eine "Geschichte der griechischen Dichtkunst", die er zu schreiben gedenke. Von einer dritten Schrift wissen wir nur, daß sie als Plan existiert hat: "Über die politische Revoluzion der Griechen", die für Wielands "Merkur" ausgearbeitet werden sollte. Aber alle diese Pläne und Arbeiten sind nicht antiquarischen Charakters. Daß Friedrich Schlegel sich in ihnen nicht nur über die Antike,
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sondern ausdrücklich auch über die Gegenwart zu äußern gedachte, geht aus einem Brief an seinen Bruder August Wilhelm hervor, in dem er diesem mitteilt: "Bey der Griechischen] Pol.[itik] ist dem Himmel sey Dank keine Gefahr [...]. Die Obskurität der abstrakten Metaphysik wird mich schützen, und wenn man nur für Philosophen schreibt, so kann man unglaublich kühn seyn, ehe daß jemand Notiz davon nimmt, oder die Kühnheit auch nur versteht". 19 Das spricht für deutliche Revolutionserklärungen; aber auch für Furcht vor der Zensur. Diese Äußerungen werden durch einen berühmt gewordenen Brief bestätigt; Friedrich Schlegel berichtet an seinen Bruder: "Ich bin der Kritik herzlich satt, und werde mit unglaublichem Enthusiasmus an den Revoluzionen arbeiten. Ich werde zu gleicher Zeit etwas Populäres über den Republikanismus schreiben. Ich werde glücklich seyn wenn ich erst in der Politik schwelgen kann". 20 Und es folgt der Hinweis: "Ich will Dirs nicht läugnen, daß mir der Republikanismus noch ein wenig näher am Herzen liegt, als die göttliche Kritik, und die allergöttlichste Poesie".21 Die erhaltenen politischen Jugendschriften zeigen, in welchem Ausmaß Schlegel tatsächlich an der Diskussion um Staatsformen und neue politische Ideale teilgenommen hat, gerade wenn er von der Antike sprach. Zwar nimmt die Rezension eines historischen Werkes von Condorçet, die 1795 erschien, 22 noch keine sehr gewichtige Stellung ein; dennoch ist sie aufschlußreich. Denn aus Schlegels Sicht ist Condorçets Arbeit ein Produkt des Aufklärungsdenkens, und Schlegel nennt das Buch einen "interessanten Versuch, zu beweisen: die bisherige Geschichte der Menschheit sei ein stetes Fortschreiten gewesen, und der künftige Gang des menschlichen Geschlechts werde ein grenzenloses Vervollkommnen sein"23. Das klingt nach Anerkennung, aber Schlegel teilt nicht mehr den Optimismus des 18. Jahrhunderts; er kritisiert Condorçets Vorstellung von einer "steten Vervollkommnung der Menschheit" 24 als eines geradlinigen, gleichmäßigen Prozesses. Nach der Französischen Revolution konnte man wohl kaum anders urteilen. Auch Schlegel legt noch einen universalhistorischen Maßstab an, weiß jedoch den Gang der Geschichte anders bestimmt, nämlich geprägt von divergenten Kräften und gekennzeichnet durch einen Ablauf von Epochen, der alles andere als homogen ist. Schlegel schreibt: "Das eigentliche Problem der Geschichte ist die Ungleichheit der Fortschritte in den verschiedenen Bestandteilen der gesamten menschlichen Bildung, besonders die große Divergenz in dem Grade der intellektuellen und der moralischen Bildung; die Rückfälle und Stillstände der Bildung, auch die kleineren partiellen; besonders aber der große totale Rückfall der gesamten Bildung der Griechen und Römer". 25 Damit ist ausgesprochen, was das Geschichtsdenken wie die politischen Überlegungen Schlegels fortan bis
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zum Ende des Jahrhunderts wesentlich bestimmen wird: die Bewertung aller, selbst politischer Ereignisse der Neuzeit an der Antike, genauer: an antiken Staatsvorstellungen. Condorçet hatte geschrieben: "Wie sehr gewährt dieses Gemälde des von seinen Ketten befreiten, der Herrschaft des Zufalls und aller Feinde seiner Fortschritte entrißenen, auf der Bahn der Wahrheit der Sittlichkeit und Glückseligkeit mit festem und sicherem Schritt wandelnden menschlichen Geschlechts dem Philosophen ein Schauspiel, welches ihn über die Irrtümer, Verbrechen und Ungerechtigkeiten, von denen die Erde noch befleckt ist, tröstet?" 26 - und Friedrich Schlegel setzt hinzu, daß dieser Schluß des Werks von Condorçet "noch größer und erhabener" sei als jene Abschnitte, in denen etwa "die Mittel der künftigen Gleichheit entwickelt" werden. Schlegel bezweifelt aber, daß "unendliche Perfektibilität" ein "hinreichendes Prinzip der Geschichte der Menschheit sei". Vor allem jedoch bemängelt er Condorçets "völlige Unkenntnis der Griechen und Römer". 27 Ein Aufruf zum politischen Handeln ist diese Rezension aber gewiß nicht, Condorçets Schrift hingegen ein Filter, das die eigenen Gedankengänge Schlegels hat abklären helfen. Von den geplanten oder geschriebenen republikanischen Schriften ist nur der "Versuch über den Begriff des Republikanismus" aus dem Jahre 1796 erhalten. Er knüpft an Kants Schrift "Zum ewigen Frieden" von 1795 an und ist ein Versuch, staatstheoretisch das Ideal einer Republik als einer res publica zu beschreiben, in der der Wille des Volkes ausdrücklich als "heilig" apostrophiert wird; Schlegel will zwar "politische Repräsentazion",28 er spricht dem Volk völlige Selbstbestimmung zu, erklärt sich schließlich sogar für einen Völkerstaat, in Übereinstimmung mit Kant; und die Schrift gipfelt in der Feststellung: "Die Idee einer Weltrepublik hat praktische Gültigkeit und charakteristische Wichtigkeit" 29 Freiheit und Gleichheit sind für Schlegel aber letztlich moralische Kategorien, das Wesen des Staates "vollständige Gemeinschaft", und man würde irren, sähe man hier in irgendeiner Form ein Bekenntnis zur politischen Revolution oder zu den Entwicklungen in Frankreich. Friedrich Schlegel kritisiert vielmehr den Sansculottismus als einen "Despotismus der Mehrheit über die Minorität". Über die rein theoretische Berechtigung des Republikanismus hat bei Schlegel gewiß nie Zweifel bestanden. Wenn Schlegel formuliert: "Der politische Wert eines republikanischen Staates wird bestimmt durch das extensive und intensive Quantum der wirklich erreichten Gemeinschaft, Freiheit und Gleichheit", so schimmern die Ideale der Französischen Revolution deutlich hindurch. Aber: Frankreich wird nicht als Vorbild hingestellt - das sind vielmehr die "alten Republiken", vor allem Athen. So gesehen ist die Schrift über den Republikanismus also nicht etwa eine Verteidigung der Französischen
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Revolution und ihrer Ziele, sondern etwas ganz anderes: eine Kritik der Verhältnisse in Frankreich, wie sie sich Schlegel darstellen, und ein Versuch, mit Hilfe antiker Modelle eine Vorstellung zu berichtigen, die wie kaum eine andere revisionsbedürftig war. Die Forschung hat betont, 30 daß es sich in Schlegels Abhandlung um eine Darstellung grundlegender Anschauungen der politischen Frühromantik handele, um einen Übergang des romantischen Denkens von der Literatur zur Politik und zur Gesellschaftslehre. Eigentliches politisches Profil gewinnt Schlegels Schrift aber nicht. Das zeigen die Akzente, die er hier setzt. Freiheit und Gleichheit gelten ihm zwar als Ideen einer weltbürgerlichen Grundsatzerklärung, aber sie müssen es sich gefallen lassen, wie die modernen Vorstellungen zum Republikanismus an der Antike und ihren Idealen gemessen zu werden - und das läßt erkennen, wie nachdrücklich die Antike Schlegels politische Überlegungen prädisponiert hat. Schlegel schreibt: "An Gemeinschaft der Sitten ist die politische Kultur der Modernen noch im Stande der Kindheit gegen die der Alten [...]. Die Unkenntnis der politischen Bildung der Griechen und Römer ist die Quelle unsäglicher Verwirrung in der Geschichte der Menschheit, und auch der politischen Philosophie der Modernen sehr nachteilig, welche von den Alten in diesem Stücke noch viel zu lernen haben". 31 Damit erscheinen antike Staatsformen und antike Überlegungen zur politischen Kultur in ihrer ganzen Vorbildhaftigkeit und in ihrer Verpflichtung auch für die Moderne, und letztlich ist es nicht die Stringenz oder auch mangelnde Stringenz der Kantischen Vorstellungen in sich selbst, die Schlegel hier bespricht und kritisiert, sondern das immer wieder angedeutete Mißverhältnis der Kantischen Überlegungen in bezug auf antike Staatsvorstellungen. Jede überzeugende politische Theorie, das will Schlegel eigentlich sagen, hat sich an der Staatsform der Alten zu orientieren, denn dort sind nicht nur Muster genannt, nach denen sich die Moderne zu richten hat, sondern auch Prinzipien und Mechanismen aufgezeigt, die durch ihr geschichtliches Beispiel gewirkt haben und also ebenfalls für die politische Gesetzgebung der Moderne verpflichtend sind. Republikanismus ist für Friedrich Schlegel nicht eine Staatsform unter mehreren möglichen, auch nicht auf die Entscheidung von Einzelnen zum Republikanismus bezogen, sondern ein Formelwort für eine politische Gemeinschaftskultur, für die es eben vorbildliche Beispiele nur in der Antike gab. Es versteht sich fast von selbst, daß Schlegel die gegenwärtigen Verhältnisse, an diesen Idealen gemessen, in jeder Hinsicht mangelhaft und damit verbesserungswürdig erscheinen müssen. Sie sind so mangelhaft, daß der Republikanismus in der Gegenwart nicht erreichbar erscheint; er wird bei Schlegel zu einer regulativen Idee, möglich "nur durch eine ins Unendliche fortschreitende Annäherung", 32 wie
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Schlegel das von Idee der bürgerlichen Freiheit feststellt. Schlegel spricht auch von der "unendlichen Progression zur unerreichbaren Idee der politischen Gleichheit",33 Hier mischt sich Aufklärungsdenken mit romantischen Forderungen. Aber auffälliger ist die Kritik an der fehlenden Realisierbarkeit der republikanischen Erwartungen. Die Idee der Evolution ist noch vorhanden, aber dennoch ist sie gleichzeitig an ihr Ende gekommen: denn sie ist dort, wo sie ihr Ziel gewissermaßen erst in der Unendlichkeit findet, absurd geworden. Wenn Republikanismus nur noch als bloße Idee bestimmt werden kann, wenn der Prozeß der Geschichtsentwicklung, was den Wirklichkeitsgrad von Vorausentwürfen oder vorgestellten Ideen angeht, gewissermaßen ins Leere hineinläuft, dann ist ein Zustand erreicht, der nicht mehr durch seinen Stellenwert innerhalb einer endlichen Progression erhellt, sondern der gleichsam dauerndes Durchgangsstadium wird: ein Paradox, auf das Schlegels politische Überlegungen am Ende hinauslaufen. Wenn ein politisches Ideal nur noch aufgestellt, aber nicht mehr verwirklicht werden kann, dann definiert sich der Rang und die Bedeutung der jeweiligen Gegenwart neu: nämlich nicht mehr als Schritt auf eine sicher oder im unglücklichsten Falle wenigstens wahrscheinlich zu erreichende Zukunft hin, sondern gleichsam als Dauer ohne Ende. Schlegel nun hat mit dieser Vorstellung der unendlichen Dauer des Gegenwärtigen, die sich vom Bewußtsein der nicht mehr erreichbaren Idee ableitet, bezeichnenderweise Kant folgend den Begriff der Anarchie verbunden. Anarchie ist die Formel für einen Zustand, in dem eine teleologisch orientierte Entwicklung gewissermaßen sich selbst aufgehoben hat, da das telos nicht mehr in seiner Realisierbarkeit vorgestellt werden kann: die politische Entwicklungskraft der Gegenwart ist damit obsolet geworden, die scheinbare Erreichbarkeit eines telos zur tatsächlichen Nicht-Erreichbarkeit. Damit aber ist zugleich der Sinn geschichtlicher Entwicklungen bedroht und fragwürdig geworden. Anarchie bedeutet, daß Ziel und Ende des Übergangs von der Gegenwart in die Zukunft dunkel geworden sind, daß damit also ein Zustand der Ungewißheit begonnen hat. Was bleibt, ist eine Gegenwart, in der alles möglich, aber so gut wie nichts mehr realisierbar ist. Am Ausgang des 18. Jahrhunderts sind überall Wegzeichen aufgestellt, die in eine Zukunft weisen, die es nicht mehr geben kann. Ist die Vorstellung der Anarchie einmal akzeptiert, ist mithin auch die Idee von der Realisierbarkeit des Republikanismus fragwürdig, ja unglaubwürdig geworden, so folgt für Schlegel daraus, daß die Idee der Revolution aufkommen kann, und am Ende seines "Versuchs über den Begriff des Republikanismus" spricht er denn auch von der "Insurrektion ",34 Sie ist, so erklärt er, "nicht politisch unmöglich oder absolut unrechtmäßig"; das ist zunächst wiederum in Auseinandersetzung mit den Kantischen Ideen zum
69 ewigen Frieden gesagt. Aber im Gedankengebäude des jungen Friedrich Schlegel nimmt die Idee der Insurrektion eine wichtigere Stelle ein, als das die Kontroverse mit Kant hätte bewirken können. Da der Republikanismus ein in der zeitgenössischen Wirklichkeit unerreichbares Ziel ist, denkt Schlegel über den Aufstand als notwendiges Mittel der Durchsetzung der sonst nicht durchsetzbaren Idee des Republikanismus nach. Die Idee der Insurrektion hängt mit der Vorstellung vom zu überwindenden Übergangscharakter der eigenen Zeit eng zusammen, und Schlegel spricht das auch aus, wenn er am Schluß seiner Abhandlung feststellt: "die echte und politisch mögliche [Insurrektion] ist notwendig transitorisch". 35 Mit anderen Worten:
die
Insurrektion, die Rebellion, die Revolution wird hier zu einer Notwendigkeit erklärt, die sich daraus ableitet, daß das politische Ziel nur noch als regulative Idee denkbar, seine Verwirklichung also in eine unabsehbare Ferne gerückt und damit praktisch unmöglich geworden ist. Kann die Gegenwart aber nicht mehr als Schritt auf dem Wege zu einer vom 18. Jahrhundert immer noch und überall für möglich gehaltenen Vollendung, zum tatsächlichen Erreichen des Ideals gesehen werden, dann hat jede Entwicklung ihren Sinn verloren: die Revolution wird unvermeidlich. Die eigene Zeit als Übergang, die politischen Ideen und Ziele dieser Zeit als allein revolutionär erreichbar: das sind die ambivalenten Überlegungen, die Friedrich Schlegel hier anstellt und auszudrücken versucht. Selbst wenn man davon ausgeht, daß eine Reihe von Argumenten nur deswegen ins Feld geführt wird, weil es sich in dieser Schrift um die Auseinandersetzung mit Kantischen Ideen handelt und Schlegel einem von der Antike her überkommenen Staatsideal anhängt, so ist seine Analyse der Gegenwart doch grundsätzlicher Natur. Schlegel sieht die Notwendigkeit einer revolutionären Umwälzung der gegenwärtigen Verhältnisse, um das Ziel - den Republikanismus - zu erreichen. Die Idee der Insurrektion als Versuch einer grundsätzlichen Veränderung der Zeit gewinnt demnach untergründig in seiner Schrift immer mehr an Bedeutung. Schlegel erweist sich in seinen Jugendschriften ja zunächst durchaus noch als Anhänger evolutionären Fortschrittsglaubens, so wie ihm das von der Aufklärung her nahegelegt worden war. Aber wenn die Evolution in sich selbst fragwürdig wird, erscheint am Horizont des Denkens eben jene Idee der Revolution, mit der allein das Ziel, der Republikanismus, zu erreichen ist. Klare Vorstellungen über das Wesen der Revolution hat Schlegel jedoch nicht entwickelt, wohl aber gesehen, daß alle Revolutionsüberlegungen ein intellektuelles Spiel bleiben mußten. In diesem Spiel ist ein Faktor stets wichtig geblieben: die Bedeutung antiker Vorbilder für das gegenwärtige Denken. Das zeigt etwa auch seine Schrift "Caesar und Alexander. Eine
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welthistorische Vergleichung" aus dem Jahre 1796. Schlegel war freilich Historiker genug, um zu wissen, daß es mit der Vergleichbarkeit im Bereich der Weltgeschichte seine Grenzen hat, und in dieser Arbeit warnt er denn auch ausdrücklich vor einer Parallelisierung zwischen einander zu fernen Geschichtsperioden. Was Cäsar und Alexander aber dennoch miteinander verbindet, ist nicht nur ihre Wirkung "bis auf die spätesten Zeiten", sondern auch, daß jeder von ihnen "die entscheidende Epoche eines allgemeinen Umschwunges in Sitten, Geist und Denkart, und eines ganz veränderten Zustandes der Dinge" inauguriert hat. Umbruchszeiten also sind es, die Schlegels Interesse erwecken, und das nicht nur in politischer Hinsicht. Umbruch ist für ihn Umorientierung als fundamentaler Vorgang, und vor allem: er ist wesentlich geistiger Natur. Mit der Schrift über "Caesar und Alexander" endet die Reihe der frühen politischen Arbeiten Friedrich Schlegels. Schlegel hat auch die Idee der politischen Insurrektion dann nicht mehr verfolgt - möglicherweise aus der Erkenntnis heraus, daß sie zu nichts führen würde. Es sind fortan philosophische, theoretische, moralische Probleme, die ihn interessieren und an die Stelle politischer Veränderungsgedanken treten. Eine Lösung der Probleme hat Schlegel nicht, wohl aber weiß er, daß die Insurrektion zu den Denkmöglichkeiten seiner Zeit gehört. Doch sie bleibt eine geistige Insurrektion, und es ist die Übertragung politischer Ideen auf die Staatstheorie, auf Philosophie und Literatur, die Schlegels Beitrag zur Diskussion der Idee der Revolution, ihrer Möglichkeiten und Grenzen darstellt.
Seine späteren Äußerungen zur Französischen Revolution, zu der ihr vorangegangenen Zeit und ihren Folgen sind bekannt; Schlegel hat schon die vorrevolutionäre Ära als "Periode der Vorbereitung aller nachher zum Ausbruch gekommenen Übel" bezeichnet, und er hat "in der immer um sich greifenden moralischen Auflösung aller Stützen, Bande und Verhältnisse der politischen wie der intellektuellen Welt" 36 die Voraussetzungen gesehen, die die Revolution dann auslösen mußten. Von ihr hat er sich 1797 deutlich distanziert. Man kann darin eine Wandlung Schlegels erkennen, die Absage an die frühen Revolutionsideen, das Ende eines juvenilen Enthusiasmus für Veränderungen überhaupt. Aber es ist wohl richtiger, hier nicht so sehr eine radikale politische "Bekehrung" zu konstatieren, die dann unvermeidlich die Legende von einem tiefen "Bruch" in der geistigen Existenz Schlegels mit sich bringen würde. Die Abwendung von der politischen Revolution ist sehr viel
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einsichtiger, wenn man bereit ist, Schlegel eine ganz andere Umorientierung zuzuerkennen, die schon viel früher eingesetzt hatte und die zumindest beim jungen Schlegel durchaus nicht zu einer Absage an die Revolution geworden war: seine eigentliche Leistung ist der Transfer der Revolutionsideen aus dem politischen in den literarisch-ästhetisch-philosophischen Bereich. Das hat mit einer Ästhetisierung der Revolutionsideen nichts zu tun, sondern ist vielmehr Ausdruck eines produktiven Weiterdenkens der revolutionären Vorstellungen, Kennzeichen auch der Fähigkeit, ein politisches Geschehen auf seine Grundbedingungen hin zu analysieren und folgerichtig auf eigene Gebiete anzuwenden. Nimmt man Schlegels Bekenntnis zur Revolution ernst, so ist also auch sein literarisch-ästhetisches Werk darunter zu begreifen; und die Schriften antiquarischen Inhalts, also vor allem der große Studiumsaufsatz, bezeugen nicht nur, wie lebendig die Antike hier noch war, sondern besagen auch, daß die Umwertung aller Werte, die das Wesen der Revolution ausmachte, für Friedrich Schlegel auf eine Neuorientierung im gesamten ästhetischen G e füge hinauslief, nicht zuletzt aber auf eine Neuordnung auch in der Literatur selbst. Und es gibt Beispiele, die deutlich erkennen lassen, wie sehr die R e volution für Friedrich Schlegel eine ästhetische Revolution wurde, die in ihren Ausmaßen, sofern das überhaupt vergleichbar ist, den Spielraum der Umwälzungen und Umorientierungen in der politischen Welt weit übertraf. Schlegel ist der erste Verkünder der Moderne, und diese beginnt mit einer Umakzentuierung der Anschauungen auch in der Literatur. Eine erste große Stellungnahme findet sich in einer Schrift, die äußerlich gesehen nichts mit der Französischen Revolution zu tun hat und die Schlegel 1795 schrieb: in dem Aufsatz "Über das Studium der griechischen Poesie". Sie ist trotz des antiquarischen Themas eine Schlüsselschrift zum Verständnis der Revolution bei Friedrich Schlegel. Es empfiehlt sich ohnehin, Schlegels Arbeit nicht oder jedenfalls nicht ausschließlich in poetologischem Kontext zu sehen, sondern sie wie auch Schillers Abhandlung als zeitkritische Stellungnahme zu werten. Schlegels Begriff der Moderne, den er hier ausführlich entwickelt, ist ohnehin kein dichtungstheoretischer, sondern ein kulturanalytischer. Schon die Vorrede macht
darauf
aufmerksam,
daß
im
Hintergrund
nicht
Fragen
der
Dichtungsgeschichte, sondern solche der historischen Entwicklung überhaupt stehen, daß also hier ein Stück Universalgeschichte erscheint, wie das am Ende des aufgeklärten Zeitalters j a fast noch selbstverständlich war. Zum Wesen der Universalgeschichte gehört im 18. Jahrhundert die Vorstellung von der unmittelbaren Vergleichbarkeit einzelner historischer Phasen, die im modernen Geschichtsverständnis viel zu weit voneinander
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entfernt liegen, als daß man sie gemeinsam betrachten könnte. Und so wie Schiller sehr bewußt Verbindungslinien zwischen der Gesetzgebung des Lykurgus und des Solon einerseits und der eigenen revolutionären Gegenwart andererseits zog, so begibt sich auch Friedrich Schlegel in dieser Schrift in die Geschichte - nicht, um die Eigenwertigkeit einzelner historischer Epochen aufzuzeigen, sondern in der Absicht, bestimmte Phasen dieser allgemeinen Geschichte der Menschheit aufeinander zu beziehen. Friedrich Schlegel hat einmal gesagt, daß man "revoluzionäres Genie" haben müsse, "um den politischen Geist der Alten" zu verstehen; 37 daß sich für ihn enge Beziehungen zwischen der Antike und der eigenen Gegenwart herstellten, war also auch aus seinem persönlichen Verständnis heraus nichts Ungewöhnliches. Wie zeittypisch das aber zugleich war, zeigt eine Äußerung Tiecks, der schon 1792 an Wackenroder schrieb: "Ich begrüße den Genius Griechenlands mit Entzücken, den ich über Gallien schweben sehe". 38 Das alles war auch insofern nichts Auffälliges, als sich die Französische Revolution ja selbst aus der Parallelität zur Antike heraus verstand, und so lag es nahe, daß Friedrich Schlegel, wenn er über die Griechen schrieb, dieses mit einem Blick auf seine eigene Zeit tat. Das gilt auch für den Aufsatz "Über das Studium der griechischen Poesie". In der Tat ist es vor allem ein Aufsatz zur zeitgenössischen Situation. Aber seine Intentionen gehen nicht dahin, etwa das Vokabular oder einzelne Ideen der Französischen Revolution in die Darstellung des Griechischen hineinzutragen. Ebensowenig werden Realverhältnisse Griechenlands auf die Gegenwart Schlegels bezogen. Der Aufsatz über das Studium der griechischen Poesie ist aus einem ganz anderen Grunde wichtig, wenn man nach den Umsetzungen der Ideen der Französischen Revolution in den Werken der Frühromantiker fragt. Es ist, mit einem Wort, Schlegels Vorstellung vom Wesen der modernen Poesie, die hier entwickelt wird; sie erscheint, wie Schlegel sie charakterisiert, als quasi revolutionäre Poesie. Bei genauem
Hinsehen
ist sehr leicht zu erkennen, daß
Re-
volutionsvorstellungen Schlegels Standortbestimmung der modernen Dichtung entscheidend mitbestimmt haben. Schlegel macht sogar auf direkte Parallelen zwischen politischer und äthetischer Revolution aufmerksam, wenn er sagt: "Schon oft erzeugte ein dringendes Bedürfnis seinen Gegenstand; aus der Verzweiflung ging neue Ruhe hervor, und die Anarchie ward die Mutter einer wohltätigen Revolution. Sollte die ästhetische Anarchie unsres Zeitalters nicht eine ähnliche glückliche Katastrophe erwarten dürfen? Vielleicht ist der entscheidende Augenblick gekommen, wo dem Geschmack entweder eine gänzliche Verbesserung bevorsteht, nach welcher er nie wieder zurücksinken kann, sondern notwendig fortschreiten muß; oder die Kunst wird auf immer fallen, und unser Zeitalter muß allen Hoffnungen auf Schönheit und Wie-
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derherstellung echter Kunst ganz entsagen". Schlegel erwartet also im Gegensatz zur politischen Anarchie von der Anarchie der ästhetischen Welt, daß die damit begonnene Revolution doch zu einem guten Ende kommen möge, und es ist deutlich zu sehen, daß die Anarchie des Zeitalters nicht etwa, wie bei Schiller, kritisiert wird, sondern Voraussetzung ist zu einer ästhetischen Neuordnung überhaupt. Wenn auch sein Aufsatz über das Studium der griechischen Poesie außerordentlich viele Verbindungslinien zu Schillers Schrift über naive und sentimentalische Dichtung und zu den Ästhetischen Briefen erkennen läßt, ja wenn die ersten Seiten der Schrift eine Umsetzung von Ideen Schillers aus den Briefen über die ästhetische Erziehung, vor allem aus dem 9. Brief über das Wesen des Künstlers zu sein scheinen, so hat Schlegel auf der anderen Seite den Begriff der Revolution in völligem Gegensatz zu Schiller auf eine Weise in seinen Aufsatz eingebracht, die darauf hindeutet, daß er hier nichts Geringeres versuchte als eine Übertragung von Revolutionsprinzipien auf die Poetologie. Daß die Dichtung ihm in einem vorrevolutionären Zustand erscheint, zeigen die wiederholten Hinweise auf die "durchgängige Anarchie in der Masse der modernen Poesie". 39 Freilich sieht er dahinter eine lange Vorgeschichte; so wie er schon in den frühesten Zeiten der europäischen Bildung "unverkennbare Spuren des künstlichen Ursprungs der modernen Poesie" erkennt, 40 so stellt sich für ihn die Revolution als eine langzeitig vorbereitete Veränderung in der poetologischen Welt dar. Schlegel spricht von "regierenden Begriffen", die der Geschichte hier ein gleichsam teleologisches Prinzip unterlegen. Und wie sehr er die Geschichte der Neuzeit ohnehin als Aufklärungsgeschichte sieht, geht aus dem Hinweis hervor: "Daß aber der Mensch nach diesen Begriffen sich selbst bestimmte, den gegebnen Stoff ordnete, und die Richtung seiner Kraft determinierte; das war ein freier Aktus des Gemüts". 41 Daß auch für Schlegel Aufklärung und Freiheit als Ziel der Aufklärung zusammengehören, zeigt der Satz: "Dieser Aktus ist aber eben der ursprüngliche Quell, der erste bestimmende Anstoß der künstlichen Bildung, welcher also mit vollem Recht der Freiheit zugeschrieben wird".42 Zunächst aber ist noch "durchgängige Anarchie" 43 das Signum der Moderne. Schlegel interpretiert diesen Zustand der ästhetischen Anarchie positiv, und wenn er in der "Herrschaft des Interessanten" auch nur eine "vorübergehende Krise des Geschmacks" sieht, 44 ist sie doch notwendig. So ist denn von einer "vorübergehenden wohltätigen Krise des Interessanten" die Rede. 45 Daß Revolutionsideen gerade im Bereich der Ästhetik präsent sind, wird vor allem dort deutlich, wo Schlegel davon spricht, daß die ästhetische Bildung nach der Krise des Interessanten einen Punkt erreicht habe, "wo sie sich selbst überlassen nicht mehr sinken, sondern nur durch äußre Gewalt in ih-
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ren Fortschritten aufgehalten, oder (etwa durch eine physische Revolution) völlig zerstört werden kann. Ich meine die große, moralische Revolution, durch welche die Freiheit in ihrem Kampfe mit dem Schicksal (in der Bildung) endlich ein entschiedenes Übergewicht über die Natur bekommt". 4 6 Ziel dieser moralischen Revolution ist also die Durchsetzung der "Freiheit" im Kampf mit dem Schicksal - mit dem Vorherbestimmten, dem durch Tradition Angelegten. Schlegel überträgt damit die Ideen der Revolution vorbehaltlos auf den Bereich der Ästhetik; in ihr findet sie eigentlich statt, von ihr aus sind denn auch die wesentlichen Veränderungen in der Moderne zu erwarten. Schlegel setzt wenig später hinzu: "Es ist auch kein Wunder, daß die Freiheit in jenem harten Kampf endlich den Sieg davonträgt, wenngleich die Überlegenheit der Natur im Anfange der Bildung noch so groß sein mag. Denn die Kraft des Menschen wächst mit verdoppelter Progression, indem jeder Fortschritt nicht nur größere Kräfte gewährt, sondern auch neue Mittel zu fernem Fortschritten an die Hand gibt. Der lenkende Verstand mag sich, so lange er unerfahren ist, noch so oft selbst schaden: es muß eine Zeit kommen, wo er alle seine Fehler reichlich ersetzen wird. Die blinde Übermacht muß endlich dem verständigen Gegner unterliegen". 47 Es ist unschwer zu erkennen, daß Friedrich Schlegel sich in ähnlichen Gedankenbahnen wie Schiller bewegt: die entscheidenden Veränderungen in der modernen Welt werden der Philosophie und der Ästhetik zugeschrieben. Aber während Schiller eine künftige politische Revolution erst durch eine ästhetische Erziehung vorbereiten will, sieht Schlegel die Revolution in der Ästhetik selbst angesiedelt. Die Feststellung, daß die Revolution in Deutschland eine philosophische Revolution gewesen sei, ein phasengleiches Gegenstück zur Französischen Revolution, diese von Heine später getroffene Bemerkung liegt in etwa auch schon den Überlegungen Schlegels zugrunde. Bei ihm verbinden sich Revolutionserwartungen und Aufklärungsideen, und wenn einerseits von der Französischen Revolution die Vorstellung von einer Umwertung aller Werte kommt, so andererseits aus der Aufklärung der für Schlegel nicht weniger wichtige Gedanke, daß die Geschichte auf ein telos hinauslaufe, daß sie "vernünftig" sei und letztlich, in der Frage der Bestimmbarkeit des Einzelnen, in "Freiheit" ende, im ästhetischen Bereich im "Objektiven" - eine nur ungenau umschriebene Kategorie Schlegels, die sich auch bei Schiller schon findet und die in vielem wie eine Projektion der Idee vom Goldenen Zeitalter in die Zukunft wirkt. Dieses zu erreichende "Objektive" ist denn auch das Ziel der Entwicklung in der Kunst. Das "Objektive" ist gleichsam das ästhetische Korrelat zur Idee des Republikanismus in den frühen politischen Schriften.
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Es ist bezeichnend, daß Schlegel hier nicht mehr auf die Idee der Evolution baut, sondern das Erreichen des "Objektiven" mit der Revolution in Zusammenhang bringt. Er schreibt: "Der Augenblick scheint in der Tat für eine ästhetische Revolution reif zu sein, durch welche das Objektive in der ästhetischen Bildung der Modernen herrschend werden könnte." 48 So gesehen ist der Zustand der Anarchie zwar notwendig, aber auch zu überwinden, und zusätzliche Erklärungen deuten an, daß es sich bei dem "Objektiven" wie in anderen Bereichen des Lebens letztlich um erweiterte Selbstbestimmung handelt. Schlegel setzt hinzu: "Es würde ein sich selbst bestrafender Irrtum sein, wenn wir die Hände in den Schoß legen und uns überreden wollten, der Geschmack des Zeitalters bedürfe gar keiner durchgängigen Verbesserung mehr. So lange das Objektive nicht allgemein herrschend ist, leuchtet dies Bedürfnis von selbst ein. Die Herrschaft des Interessanten, Charakteristischen und Manirierten ist eine wahre ästhetische Heteronomie in der schönen Poesie." 49 Wenn Schlegel im folgenden dann den problematischen, aber notwendigen Zustand der "chaotischen Anarchie der Masse der modernen Poesie" beschreibt, auch hinzufügt: "Dazu bedarf es einer völligen Umgestaltung, eines totalen Umschwunges einer Revolution", 50 dann ist aus der Klage über die Heteronomie abzulesen, daß vollkommene Autonomie das Wesen des "Objektiven" ausmacht und am Ende also jener Revolution steht, die Schlegel hier visionär bereits vor sich sieht. Schlegels Theorie der revolutionären Umwertung der ästhetischen Werte ist immer mit der Vorstellung von einem nur dadurch zu erreichenden Ziel gekoppelt - Schlegel hat auch hier die Anarchie als ein Übergangsstadium gesehen, aus dem heraus sich die Revolution entwickeln müsse, um das Chaos der Moderne zu überwinden und an ein sinnvolles Ende zu gelangen. So ruft er zur revolutionären Tat auf; dem evolutionistischen Denken Schillers völlig fremd, der Revolutionsfreudigkeit der jüngeren Generation in der Mitte der 90er Jahre nur zu angemessen. Wie sehr die Revolution gerade den Bereich der Kunst angeht, zeigt sich dort, wo Schlegel von der "ästhetischen Revolution" spricht 51 und wenig später hinzusetzt: "Eine entartete und mit sich selbst uneinige Kraft bedarf einer Kritik, einer Zensur, und diese setzt eine Gesetzgebung voraus. Eine vollkommne ästhetische Gesetzgebung würde das erste Organ der ästhetischen Revolution sein. Ihre Bestimmung wäre es, die blinde Kraft zu lenken, das Streitende in Gleichgewicht zu setzen, das Gesetzlose zur Harmonie zu ordnen; der ästhetischen Bildung eine feste Grundlage, eine sichre Richtung und eine gesetzmäßige Stimmung zu erteilen". 52 Das ausführende Organ einer derartigen ästhetischen Gesetzgebung ist für Schlegel - nichts könnte den spätaufklärerischen Grundzug seines
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Denkens besser verdeutlichen - "die Theorie", und er setzt hinzu: "denn der Verstand war ja von Anfang an das lenkende Prinzip dieser Bildung".53 Das Ziel der Revolution läßt sich freilich auch im ästhetischen Bereich nur ersatzweise formulieren - ein derart genau umschriebenes telos wie den Republikanismus gibt es nicht. Aber Schlegel versucht sich auch hier auf die Antike, die griechische Kunst zu beziehen. Wenn er von der "Heiligkeit schöner Spiele" spricht, so steht das in unmittelbarer Beziehung mit Schillers Begriff des Spiels, wie der ihn in den Briefen über die ästhetische Erziehung entwickelt hatte. Im Spiel ist hier ähnlich wie bei Schiller das anwesend, was das Entscheidende der griechischen Welt in den Augen Schlegels wie auch Schillers ausmachte. Es ist die "Freiheit der darstellenden Kunst", die er als "die eigentlichen Kennzeichen echter Griechheit" preist. 54 Schlegel hat verschiedene Determinationen zur Verfügung, wenn es um die Darstellung des Zieles geht, das er, darin in der Tat ein rückwärtsgewandter Prophet, in der Antike sieht: er spricht von "Vollendung", von "Vollständigkeit des Ganzen", vom "Goldnen Zeitalter", vom "Urbild der Kunst und des Geschmacks",
vom
"höchsten Schönen",55 Das alles wird erreicht durch "die freieste Entwicklung der glücklichsten Anlage" - ein Idealzustand, in dem Freiheit das entscheidende Signum ist. Schlegel denkt darin nicht anders als seine aufgeklärten und aufklärerischen Vorgänger. Doch die Vorstellung, daß die Kunst "unendlich perfektibel" 56 sei, ist nicht nur ein Versuch, aus der Formelhaftigkeit der griechischen Kunst herauszukommen und sie, die vergangen ist, für die Zukunft fruchtbar zu machen, sondern spiegelt wiederum das Bemühen, das Ideal der vollkommenen Autonomie aus der Vergangenheit in die Zukunft hinüberzuspielen. Allein die Bestandteile des Schönen "sind einer gränzenlosen Vervollkommnung fähig",57 über den Weg der ästhetischen Revolution. Schlegel wird nicht müde, sein Ideal am Beispiel griechischer Vollkommenheit zu beschreiben, wobei er aber ebenso wie sein Leser natürlich weiß, daß das alles nur Hilfskonstruktionen sind, Wegzeichen zu einem neuen Zustand, den Schlegel hier, wie es in seiner Umgebung üblich war, mit Bestimmungen aus der Vergangenheit bezeichnet; die aber haben sich gewissermaßen bereits aus der Geschichte gelöst und schon die Kraft einer regulativen Idee. So entwickelt Schlegel eine Theorie der ästhetischen Moderne und damit zugleich eine Theorie des zu erreichenden Zieles, und die Revolution spielt als Wegbereiter eine wichtige Rolle. Zwar ist gelegentlich von den steten "Evolutionen des Bildungstriebes" die Rede - aber das ist der Antike zugeordnet, dem "organischen Keim".58 Man darf sich von klassizistisch anmutenden Formulierungen nicht blenden lassen. Eine solche lautet etwa, in völliger Übereinstimmung mit
TI Schillers Ideen: "die reine Griechheit soll der moderne Dichter, welcher nach echter schöner Kunst streben will, sich zueignen".59 Doch am Schluß der Schrift wird noch einmal deutlich, worauf es ankommt: auf die ästhetische Revolution, die zugleich eine philosophische Revolution ist. Schlegel schreibt: "Aber seit durch Fichte das Fundament der kritischen Philosophie entdeckt worden ist, gibt es ein sichres Prinzip, den Kantischen Grundriß der praktischen Philosophie zu berichtigen, zu ergänzen, und auszuführen; und über die Möglichkeit eines objektiven Systems der praktischen und theoretischen ästhetischen Wissenschaften findet kein gegründeter Zweifel mehr statt". 60 Die kritische Philosophie also nicht nur als Instrument der Aufklärung, sondern zugleich als Hilfsmittel der Revolution in der Umwertung der bisherigen Werte: Schlegel nimmt auch hier eindeutig Ideen Heines vorweg, die jener später in seiner "Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland" weiterverfolgen wird. Alles in allem ist die Schrift "Über das Studium der Griechischen Poesie" eine Revolutionsschrift; sie bejaht die Notwendigkeit des Umsturzes im Bereich der Kunst. In der Linearität seines Geschichtsdenkens erweist sich Schlegel zwar noch als Aufklärer, als Aufklärer auch darin, daß er die Geschichte als teleologisch bestimmt sieht. Neu aber ist die Idee der ästhetischen Revolution. Neu ist auch die positive Bewertung des modernen Zustandes der Anarchie, weil sie Voraussetzung ist für die ästhetische Revolution. Erst die Anarchie der Begriffe und Vorstellungen, das Chaos in der ästhetischen Welt machen den Weg frei für eine revolutionäre Umwertung der Werte: die revolutionäre Tat besteht im Überwinden alter Vorstellungen wie in der Bewältigung der Anarchie, die als gesetzloser Zustand die Gegenwart charakterisiert. Das zeigt, in welchem Ausmaß Revolutionsvorstellungen beim jungen Friedrich Schlegel in die Kunstüberlegungen eingebrochen sind, und es zeigt etwas noch Wichtigeres: die Umsetzungsmöglichkeiten vom Feld der Politik in den Bereich der Ästhetik. Von Ideenschmuggel, um der Zensur zu entgehen, kann man hier gewiß nicht sprechen, Zensurfragen spielen in diesem Aufsatz keine Rolle. Schlegel hat hier nichts geringeres versucht als eine Anwendung der Ideen der Französischen Revolution im Bereich der Kunst.
Eine zweite Schrift zeigt, wie sehr das allgemeine Revolutionsdenken Schlegels, das sich im Politischen trotz aller Bemühungen um den Republikanismus nicht recht verankern konnte, in der Ästhetik sein eigentliches Feld fand. Es wäre ein leichtes, die Aura der Insurrektion in Schlegels "Gespräch
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über die Poesie" bereits auf der verbalen Ebene nachzuweisen. Schlegel spricht häufig von der Revolution, und zwar schon im übertragenen Sinne. Von Ludoviko wird gesagt, daß er "mit seiner revolutionären Philosophie das Vernichten gern im Großen trieb" 61 - wir wissen nicht genau, ob Friedrich Schlegel damit sich selbst meint, aber die Schlegelforschung tendiert ohnehin zu der Annahme, daß die wechselnden Positionen im Gespräch mit Freunden letztlich doch wohl nur Schlegels eigene Meinung wiedergeben. 62 Eine revolutionäre Philosophie! Damit ist nicht eine Revolutionsideologie gemeint, sondern die Neigung dieses Philosophen, revolutionär zu argumentieren, also, wie Ludoviko das dann im folgenden tut, ein "System der falschen Poesie" zu entlarven. Wichtig daran ist der grundsätzlich revolutionäre Zug, die Neigung und Bereitschaft zur Umwertung, also das revolutionäre Potential im Denken. Revolutionsäußerungen in diesem Sinne finden sich noch mehrfach. Revolution kann auch nur Wandlung heißen, die tiefe Veränderung, so etwa, wenn es von Shakespeare heißt: "Liebe, Freundschaft und edle Gesellschaft wirkten nach seiner Selbstdarstellung eine schöne Revolution in seinem Geiste". 63 Hier heißt Revolution also nicht unbedingt Aufstand oder Empörung. Aber dann wird die Revolution auch "diese große intellektuelle Wiedergeburt und neue Belebung" genannt; das ist nicht in bezug auf die Französische Revolution gesagt, sondern auf die revolutionäre Umwertung überhaupt, und Schlegel prognostiziert: "Alle Wissenschaften und alle Künste wird die große Revolution ergreifen". 64 Was ist gemeint? Schlegel spricht hier von der neuen Mythologie, und was immer er unter diesen neuen Mythologie versteht: sie ist mehr als eine Botschaft, sie ist Ausdruck einer neuen Weltbeziehung, und vor allen Dingen hat sie einen festen Punkt "konstituiert", von "wo aus die Kraft des Menschen sich nach allen Seiten mit steigender Entwicklung ausbreiten kann". Da mag die Idee von der Perfektibilität des Menschen noch mit hineinspielen, aber es fällt schwer, diesen Satz nicht als Zustimmung zur eigenen Autonomie zu lesen, die als Ergebnis der großen Revolution winkt. Revolution ist also Umwälzung der Dinge und Verhältnisse schlechthin, und wenn das auch so klingen mag, als sei hiermit die Revolution zur Aufforderung nach generationsbedingter Veränderung geworden, so ist sie hier wie auch sonst bei Schlegel doch unabänderlich mit Selbstbestimmungsideen verbunden. Schlegel schreibt: "Der Idealismus, in praktischer Ansicht nichts anders als der Geist jener Revolution, die großen Maximen derselben, die wir aus eigner Kraft und Freiheit ausüben und ausbreiten sollen, ist in theoretischer Ansicht, so groß er sich auch hier zeigt, doch nur ein Teil, ein Zweig, eine Äußerungsart von dem Phänomene aller Phänomene, daß die Menschheit aus allen Kräften ringt, ihr Zentrum zu finden. Sie muß wie die Sachen stehn, untergehn oder sich verjüngen". 65 Letzt-
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lieh ist es die abendländische Idee des neuen Lebens, die auch für Schlegel mit Revolutionsvorstellungen verbunden ist. Und er nennt es als "Wesen des Geistes", "sich selbst zu bestimmen und im ewigen Wechsel aus sich heraus zu gehn und in sich zurückzukehren". 66 Wenn Schlegel den Idealismus gewissermaßen als "ein Beispiel für die neue Mythologie" betrachtet, darüber hinaus darin sogar die Quelle der neuen Mythologie sieht, so zeigt das, welch hoher Rang für ihn Revolution und Revolutionsgeschehnisse haben. Schlegel hat Weltveränderungen nicht geleugnet, sondern sie in Verbindung mit ihren Möglichkeiten gesehen, und die Revolution als Weg zur eigenen Identität, zur Sicherung des Ich: das ist hier alles mitangesprochen. Hinweise wie diese lassen das "Gespräch über die Poesie" fast wie ein Manifest einer ästhetischen Revolution lesen, als Versuch, die überkommenen Vorstellungen vom Wesen der Dichtung in ihren Grundfesten zu erschüttern, um damit den Weg frei zu machen für das Aufkommen neuer Ideale. Schlegel geht allerdings in gewissem Sinne nicht weiter, als er vom politischen Weltzustande her gehen konnte: man darf das "Gespräch über die Poesie" nicht so lesen, als wäre dort schon ein neues Freiheitsdogma verkündet, geht es doch vielmehr darum, entsprechend den Vorstellungen über die fruchtbare Anarchie diesen anarchischen Zustand als einen produktiven, verheißungsvollen, erwartungsreichen Zustand zu beschreiben: ist die Revolution tatsächlich "diese große intellektuelle Wiedergeburt und neue Belebung", so gilt das - das macht gerade der Hinweis auf die Intellektualität deutlich - zwangsläufig auch für die ästhetischen Überlegungen Schlegels. Von hierher gesehen wird man auch den Begriff der neuen Mythologie nicht so interpretieren, daß damit nur eine der üblichen Erneuerungen der Dichtung und ihrer poetischen Stoffe und Möglichkeiten gemeint sei. Eine neue Mythologie ist auch eine neue Weltordnung, und es ist der Rang mythologischer Bilder und Vorstellungen, der deutlich machen soll, daß die Revolution tatsächlich tief in die Ästhetik eingedrungen ist. Die Möglichkeit einer neuen Mythologie: das ist der Entwurf einer besseren Welt, ein Protest gegen die alten Götter, wie er direkter gar nicht vorgebracht werden könnte. In der Forderung nach einer neuen Mythologie spricht sich die Einsicht in die grundsätzliche Differenz der modernen zur alten Poesie aus, in die Andersartigkeit der eigenen Vorstellungen, in die unbedingte Notwendigkeit, etwas der vergangenen Zeit Analoges zu schaffen. Dieser Wunsch nach einer neuen Mythologie ist das Gegenteil einer Restitution der alten Welt, und sie ist Teil jener Einsicht, daß die Menschheit, "wie die Sachen stehn, untergehn oder sich verjüngen" muß. 67 Daß hier eschatologische Hoffnungen mit hineinspielen, ist offenkundig, aber wenn Schlegel von den "Prinzipien der ewigen Revolution" spricht, von dem "großen Prozeß allgemeiner Verjüngung", 68
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dann bedeutet das nicht unbedingt, daß eine Veränderung der Welt erst in ferner oder fernster Zukunft erwartet wird. Vielmehr liegt es nahe anzunehmen, daß eben jener "große Prozeß allgemeiner Verjüngung" hier nicht als unverbindliche Idee vorgetragen, sondern mit allen Konsequenzen auf den Bereich bezogen ist, der Schlegel der gegenwärtigste war: die Poesie. Hier wird nicht aus der Dichtung eine in kommenden fernen Zeiten zu erwartende Revolution abgeleitet, sondern aus der Revolution eine Veränderung der Dichtung, und das "Gespräch über die Poesie" selbst ist bereits ein erster Schritt in die Revolution hinein, wird hier doch schon demonstriert, in welchem Ausmaß die Veränderung, die allgemeine Verjüngung, die ästhetische Rebellion stattfindet. Rebellion, ästhetische Revolution - das heißt nicht nur, daß neue Inhalte in die Literatur hineinkommen. Die wichtigere Veränderung ist formaler Natur: die Geschlossenheit des klassischen Kunstwerks, so wie sie noch wenige Jahre zuvor immer wieder betont worden ist, sie ist dahin, so sehr, daß nicht einmal mehr die Notwendigkeit einer solchen klassizistischen Harmonielehre diskutiert wird. So ist auch der "Brief über den Roman" eine einzige Attacke auf die Vorstellung von der geschlossenen Form in dieser Gattung, das Ganze tatsächlich eine "kritische Epistel über den Gegenstand", 69 und nur schattenhaft werden noch die Konturen einer veralteten Romanauffassung sichtbar, die aber am Ende bestenfalls eine Folie dafür liefern, daß die neuen Ideen sich um so schärfer profilieren können. Das wird etwa dort deutlich, wo der Brief, ein vergangenes imaginäres Gespräch wiederholend, die Meinung einer "lieben Freundin" zitiert, die Jean Pauls quasi antiklassische Romane attackiert hatte; hatte sie doch behauptet, "Friedrich Richters Romane seien keine Romane, sondern ein buntes Allerlei von kränklichem Witz. Die wenige Geschichte sei zu schlecht dargestellt um für Geschichte zu gelten, man müsse sie nur erraten". 7 0 Friedrich Schlegel hat durch den Mund des imaginären Kontrahenten die Romane Jean Pauls und damit die scheinbare Formlosigkeit, Anarchie und innere Berechtigung dieses antiklassischen Romans verteidigt, als er sagte: "Das bunte Allerlei von kränklichem Witz gebe ich zu, aber ich nehme es in Schutz und behaupte dreist, daß solche Grotesken und Bekenntnisse noch die einzigen romantischen Erzeugnisse unsers unromantischen Zeitalters sind". 71 Das heißt: nur so können gegenwärtig Romane geschrieben werden, alle anderen sind anachronistisch, für die Gegenwart untragbar - und indem der Roman damit als "romantisch" gekennzeichnet wird, wird er zugleich zu einem Gegenroman zum Roman der Klassik. Der neue Roman wird zum neuen Roman, weil er das genaue Gegenteil des alten Romans sein will, und darin ist eine Revolution ausgesprochen, das immer wieder bekundete Ungenügen an jener
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alten Welt, auch an den Formen der alten Welt, also eben am traditionellen Roman. Nichts mehr von leitenden Ideen, formaler Strenge, gradlinigen Bildungsgängen, Entwicklungen nach einem inneren Gesetz, Metamorphose, organologischen Prinzipien, nichts mehr von wohlgeordneter Weltreise, von einer sorgfältig geplanten Lebensfahrt, die die Biographie eines derart Beschriebenen zum exemplarischen Fall macht, keine Providentia Dei und kein keimhaftes Entwickeln zu der schon von Anfang an vorbestimmten Form. Schlegel will einen anderen Roman, und er benutzt eine Formulierung der Klassik, um sie zu widerlegen. Sie ist der klassischen Dokumentation der Kunstauffassung entnommen, dem poetologischen Lehrbuch, in dem die Normen gesetzt oder noch einmal wiederholt werden, in dem aber auch sonst so gut wie alles vorkommt, was zur Literatur der gebildeten Welt damals gehörte, mit dessen Hilfe alles, was nicht den strengen klassischen Normen genügt, mehr oder weniger scharf, mehr oder weniger grundsätzlich verurteilt wird. Es ist Schillers Schrift "Über naive und sentimentalische Dichtung", die Literaturkritik und Literaturtheorie in einem ist, die Generalabrechnung mit der in Schillers Augen so verlotterten Literatur seiner eigenen Zeit und zugleich Grundsatzerklärung in Literaturfragen - nur daß Schiller die neue Literatur nicht einmal ahnungsweise hochkommen sieht, sondern sein klassizistisches Regelwerk gewissermaßen in den luftleeren Raum hineinkonstruiert. Die Auseinandersetzung wird immer nur mit der Vergangenheit geführt, retrospektiv wird gesichtet, was von der Antike her an Bildungsbestand, an Bildungswissen überkommen ist, und je weiter es in die Moderne hineingeht, desto schärfer wird sein Urteil, desto unerbittlicher die Ablehnung einer Literatur, die mit seinen Prinzipien nicht mithalten konnte. Eigentlich bleiben nur zwei Autoren völlig ungeschoren, weil sie jenseits vom poetologischen Gut und Böse sind: Goethe - und Schiller selbst. An nahezu allen anderen hat Schiller etwas auszusetzen, weil sie seiner Formenstrenge nicht genügen, weil sie den Veredelungsvorschriften nicht entsprechen, weil sie nicht idealisieren, sondern sich auf mannigfache Weise in die gemeine Welt hinunterbegeben oder genauer: sich nie über diese hinausbegeben haben. Und so kommt es zum Generalverdikt, zum literaturkritischen Rundumschlag, der die Literatur der Gegenwart so hart trifft, und weil da ohnehin nicht mehr viel übrigbleibt, ist verständlich, daß Schiller für Zukunftsaspekte der Literatur am Ende so gut wie nichts mehr anzubieten hat. Die Kritik überwiegt, Mut hat seine Schrift zeitgenössischen Schriftstellern gewiß nicht gemacht. Dafür waren zu viele getroffen worden, die durchaus ihren Rang hatten, dazu waren die Forderungen an eine neue Literatur zu hoch geschraubt, so hoch, daß Schiller ihnen, wie im Falle der Komödie und der Idylle, eigentlich selbst nicht mehr genügen konnte.
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Schlegel zieht gegen alles das zu Felde. Er entwirft ein Gegenbild, ein antiklassizistisches Modell, um damit seine Revolution gegen die Klassik deutlich zu machen. Seine ganze Kritik ist in einem einzigen Satz enthalten, und der lautet, zunächst alles andere als aggressiv klingend, in scheinbarer Harmlosigkeit: "Denn nach meiner Ansicht und nach meinem Sprachgebrauch ist eben das romantisch, was uns einen sentimentalen Stoff in einer fantastischen Form darstellt". 72 Der Satz könnte mißverstanden werden, und Schlegel weiß das nur zu gut. Seine Feststellung ist eingebaut in eine größere Argumentationskette, in der er sich mit seiner Kritikerin auseinandersetzt, die an Jean Paul "mit einer fast wegwerfenden Art" getadelt hatte, "daß er sentimental sei". Der Begriff war damals schon mißverständlich, und Schlegel verwahrt sich gegen den vulgären Sinn von "sentimental", wenn er seiner Gegnerin antwortet: "Vergessen Sie auf einen Augenblick die gewöhnliche übel berüchtigte Bedeutung des Sentimentalen, wo man fast alles unter dieser Benennung versteht, was auf eine platte Weise rührend und tränenreich ist, und voll von jenen familiären Edelmutsgefühlen, in deren Bewußtsein Menschen ohne Charakter sich so unaussprechlich glücklich und groß fühlen". 7 3 Schlegel will mit dem landläufigen Begriff des Sentimentalen nichts zu tun haben, und er verweist auf Petrarca und Tasso, also auf Vorbilder, die über das Etikett des bloß Rührseligen weit erhaben sind. Damit rückt er automatisch in die Nähe der Schillerschen Definition. Er schließt sich ihr aber nicht völlig an. Für ihn hat das Sentimentale durchaus mit Gefühl zu tun, aber - und hier wird sichtbar, daß Schlegel zwar Schillers Bedeutung übernimmt, sie jedoch auf charakteristische Weise abwandelt - mit dem geistigen Gefühl, nicht mit einem sinnlichen. Wenn Schlegel seine eigene Zeit mit dem Begriff des "Sentimentalen" bzw. des "Sentimentalischen" bezeichnet, so folgt er darin Schiller. Aber das Sentimentale (oder Sentimentalische) ist für ihn nicht ein Zustand, der sich vom verlorengegangenen Naiven her definiert. Entscheidend ist auch nicht das Gefühl, sondern die Darstellung des (geistigen) Gefühls "in einer phantastischen Form", also die Präsentation des Sentimentalischen in einer Gestalt, die nicht bestimmt ist durch klassisches Ordnungsdenken oder traditionelle Harmonievorstellungen. Phantastisch heißt bei ihm, wie eine Variante deutlich macht, "durch die Fantasie bestimmt", 74 und das bedeutet, einer anderen Regel zu folgen als der, die der Verstand aufgestellt hat. U m das Neue gegen das Klassische abzusetzen, nennt Schlegel diese Kombination von sentimentalem (also geistigem) Gefühl und phantastischer Form "romantisch". Wenn er kurz darauf den Satz formuliert: "Ein Roman ist ein romantisches Buch", dann heißt das in Verbindung mit jener anderen Definition, daß der Roman einen sentimentalen Stoff in einer phantastischen Form darstellt - und die
83 Revolution liegt nicht nur darin, daß hier neue Stoffe gewählt werden, sondern vor allem in deren formaler Präsentation. Die phantastische Form: das ist die "Arabeske", also die endlose Reihe nicht mehr organisch miteinander verbundener Bauteile des Ganzen. Die Arabeske hat er "witzige Spielgemälde" 7 5 genannt, in denen die Phantasie herrscht. In der Arabeske ist nicht nur ein Nebeneinander verschiedener Stoffe auffällig, sondern auch eine nach außen hin chaotisch scheinende Vielfalt von Formen. Schlegel hat bekanntlich zur neuen Romanform vieles gerechnet, ohne dabei die Integrationsmöglichkeiten des Romans, die er spätestens seit 1780 bot, zu nutzen. 7 6 Seine berühmte Formulierung lautet: "Ja ich kann mir einen R o m a n kaum anders denken, als gemischt aus Erzählung, Gesang und andern Formen. Anders hat Cervantes nie gedichtet, und selbst der sonst so prosaische Boccaccio schmückt seine Sammlung mit einer Einfassung von Liedern". 77 Die zersprengte Form: das ist das poetologische Programm Friedrich Schlegels, das ist die heilsame Anarchie, die ästhetische Revolution. An die Stelle der epischen Geschlossenheit, an die Stelle einer erzählerischen Ganzheit, in der das Einzelne seine funktionelle Bedeutung hat, indem es auf eine dem Organischen analoge Weise zu einem Ganzen verbunden ist, an die Stelle dieses geordneten und wohldurchdachten Gebildes, in dem auch noch jede Zeile, jedes Gedicht zu einem höheren Ganzen integriert ist, tritt jetzt ein Roman, der nicht nur unvollendbar ist und damit der Theorie der nicht zu erreichenden Perfektibilität, der Progressivität und Universalität entspricht, sondern auch ein Gebilde, das seine Einheit erst in der Heterogenität der Teile findet. Erzählung, Gesang und andere Formen: Schlegels "Lucinde" lehrt uns, wie mannigfach diese Formen sein können, wie der Formenreichtum eines solchen Romans de facto sich präsentieren kann. Schlegels Theorie ist ein einziger Protest gegen alle überkommenen Gattungseingrenzungen, und so enthüllt sich die neue Romanform auf den ersten Blick als Zerstörung der alten, bei genauerem Zusehen jedoch als eben die Anarchie, die zu einem formalen Ausdruck gefunden hat: das unvollendbare, unvollendete Gebilde, das über die eigenen Grenzen hinausverweisende anspielungsreiche Schreiben wird jetzt zu einem literarischen Ideal. Es versteht sich von selbst, daß damit die Theorie ebenfalls nicht mehr als solche vorgebracht werden kann: auch sie muß fragmentarisch, arabesk, romantisch sein, und Schlegel hat in völliger Konsequenz seiner Überlegungen zur Theorie des Romans formuliert: "Eine solche Theorie des Romans würde selbst ein Roman sein müssen, der jeden ewigen Ton der Fantasie fantastisch wiedergäbe, und das Chaos der Ritterwelt noch einmal verwirrte". 78 Es gibt also im Grunde genommen auch nicht mehr den Roman, sondern nur noch eine im Prinzip unendliche Vielfalt von Romanformen, und was sie verbindet, ist das, was sie von der
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traditionellen Romanform trennt. Die Grenzen des Romans sind nicht mehr auszumachen, es sei denn, man sähe in der Unendlichkeit, in der potentiellen Universalität des Romans eine neue Grenzziehung. Auf diese Weise wird der Roman zu einem paradoxen Gebilde - aber in dieser Paradoxie, in der hier fruchtbar gemachten Anarchie, in der Grenzenlosigkeit und Imperfektibilität des Romans spricht sich die ästhetische Revolution Friedrich Schlegels aus, sein Versuch, revolutionäres Denken auf die Kunstform zu übertragen, die sich der Revolution am ehesten zu öffnen schien. Schlegels Gespräch über die Poesie schließt folgerichtig mit einem weiteren quasi revolutionären Schritt: mit dem Abschnitt "Versuch über den verschiedenen Styl in Goethes früheren und späteren Werken". 79 Goethe konnte seiner von Friedrich Schlegel durchaus zugegebenen und bewunderten "Universalität" wegen sehr wohl in dieser neuen Positionsbestimmung der Literatur seinen Platz finden, und mehr als das: er konnte in gewissem Sinne zum Vorbild werden. Die Unterschiedlichkeit der Goetheschen Werke in seinen früheren und späteren Epochen trug zu diesem Eindruck der tatsächlich fast grenzenlosen Schreibfähigkeit, zur Universalität seines Wirkens nur noch bei. Allein die Tatsache, daß Friedrich Schlegel einen so großen Wert auf die Abkehr Goethes von seinem Frühwerk und die Zuwendung zu späteren Werken legt, läßt erkennen, daß er das Umbruchsdenken nicht nur für sich in Anspruch nahm, sondern es offenbar auch seinem bewunderten großen Vorbild Goethe zubilligen wollte. Goethe mußte für die Revolution ein um so willkommeneres Beispiel sein, als er ja selbst stets auf dem Weg zu immer größerer Perfektionierung seines Werkes, wie Schlegel meinte, war, und so ist Goethes Kunst für Schlegel eine Kunst, die "den Keim eines ewigen Fortschreitens enthält". Schlegel hat durchaus - und hierin griff er seiner eigenen Zeitentwicklung nicht vor, sondern synchronisierte gewissermaßen den ästhetischen Zustand und den politischen Zustand seiner Welt - gesehen, daß dieser gegenwärtige Zustand (in der Politik und in der Ästhetik) von einer Erfüllung, einem erreichten oder erreichbaren Ziel noch denkbar weit entfernt war - und das hatte bei ihm ja zur Idee von der unendlichen Progression der Literatur wie auch des Lebens geführt. Dennoch hat Goethe aus der Sicht Schlegels ein Ziel gewissermaßen schon vorgezeichnet, und Schlegel benennt es so, wie er das auch früher schon getan hat, wenn er von der "Objektivität" Goethes spricht. Der Begriff ist auch hier aus der klassischen Ästhetik übernommen, Goethe und Schiller abgewonnen. Man darf aber nicht in den Fehler verfallen, mit dem übernommenen Begriff auch die Füllung dieses Begriffes als gegeben anzunehmen. Wenn Schlegel Goethes letzte Werke als objektive Werke rühmt, dann sieht er in ihnen gewissermaßen Vorentwürfe auf etwas, was eigentlich
85 nie verwirklicht werden kann, nämlich eine "Wiedervereinigung der letzten Stufe mit der Kraft und Wärme der ersten". Es ist gewissermaßen eine coincidentia oppositorum, die Schlegel hier markiert, wohl wissend, daß sie im Grunde nicht zu erreichen war. Am Ende stellt sich denn auch für Goethe als viel wichtiger eben dieses "ewige Fortschreiten" heraus. Es geht Schlegel gar nicht so sehr darum, die letzte Stufe als Endpunkt oder als Eschaton zu charakterisieren, sondern die Idee des Veränderns, der ständigen Mutation zu verdeutlichen, und so liefert die Kette der Werke Goethes gleichsam ein Sinnbild für die ins Unendliche reichende, stets notwendige Perfektionierung und damit auch Überwindung der einmal erreichten Form. Perfektion ist ein wesentlicher Bestandteil der Goetheschen Werke, und damit ist ein Maß an Selbstkritik verbunden, das dazu führt, das einmal Erreichte nicht als das letztgültig Erreichte anzusehen. Nicht zufällig ist in dem Gespräch von "zukünftigen Gedichten" die Rede, 8 0 von einer Verjüngung, von einer Tragödie, in der alles antik und doch zugleich alles unendlich zeitgemäß sei, von einer besseren Zukunft, der man sich entgegenzuarbeiten habe, 8 1 und alle diese mehr beiläufig, aber dennoch unisono ausgesprochenen Hinweise deuten in die gleiche Richtung: daß das Unmögliche versucht werden soll, die "Vereinigung des Antiken und des Modernen"; 8 2 eben dieses Ziel bedeutet schon ewige Wanderschaft, literarische Perfektion, die immer wieder um einer noch höheren Perfektion willen durchbrochen werden muß, eine Unendlichkeit des literarischen Werkes, eine stets aufs neue zersprengte Form. Nirgendwo konnte der Geist der klassischen Geschlossenheit deutlicher widerlegt werden als in diesem "Versuch über den verschiedenen Styl in Goethes früheren und späteren Werken". Und wenn Schlegel auch noch scheinbar einem Ideal der Klassik folgt, das gelegentlich sehr nach einer Restitution der Antike in der Moderne aussieht, wenn er vom "Objektiven" spricht, das nicht mehr das ist, was Schiller und Goethe darunter verstanden, so entwirft er doch genau besehen ein Ziel, das eine regulative Idee ist: es muß stets anvisiert werden, ist aber nie erreichbar. Auch hier ist die Idee der Revolution aus der Zeitgenossenschaft in die Ästhetik übertragen. Das ist nicht nur eine Rebellion in bezug auf Formen, sondern auch eine solche des Denkens, ein Aufstand gegen überkommene Grenzziehungen, gegen klassische Vollendung und gegen die Geschlossenheit des klassischen Kunstwerks, mag es sich nun um den Roman, das Gedicht oder um ein Drama handeln. Grenzziehungen und klare Definitionen sind nicht möglich, die Gattungen selbst mutationsfähiger, als Goethe und Schiller sich das je träumen ließen, und es ist der Aufbruch, der Protest gegen die traditionelle überkommene Poetik, es ist tatsächlich die ästhetische Revolution, die dieses "Gespräch über die Poesie" prägt. Es enthält eine Absage an Goethes "Wilhelm Meister", aber ebenfalls
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eine an den Regelkanon der klassischen Kunstkonzeption. Wenn dennoch dünne Verbindungsfäden zu dem Denken der Klassik hin laufen, dann in der Idee der Perfektibilität - Schiller hat dafür die Begriffe der Idealisierung und der Veredelung gewählt. Beides schien ihm am Ende erreichbar zu sein, aber Schlegel hat den Perfektionierungsglauben der Klassik genutzt, um ihn zu übersteigern, um daraus eine Lehre zu formulieren, die nur noch revolutionär erreichbar war. Das sollte jedoch nicht nur theoretisch programmiert, sondern auch praktisch dargestellt, ins Formale übersetzt werden. Und so kam es denn bei ihm zu dem fruchtbaren Chaos der Formen - kein Wunder, daß Jean Paul zum Musterfall des neuen Denkens, der neuen Formenvielfalt und Formenmöglichkeiten geworden ist. Die ästhetische Revolution Schlegels findet zwar nach der Französischen Revolution statt, aber nicht sehr viel später: die Aufbruchsstimmung, die Lust, alte einengende Normen und Denkweisen zu überwinden, spricht unübersehbar deutlich aus diesem "Gespräch über die Poesie", und so ist denn hier tatsächlich das Programm einer neuen Literatur entwickelt, die im Grunde genommen sich jeder Programmatik zugleich wieder entzieht. Eine für alle verbindliche Form und Regel das geht aus dem Denken Friedrich Schlegels zwangsläufig hervor - existiert nicht mehr. Das macht verständlich, warum Schlegel in seinem Brief über den Roman, in seiner neuen "Theorie des Romans" eines besonders betont, das bis dahin nicht unbedingt zum wesentlichen Kennzeichen des Romans gerechnet worden war, das jetzt aber unverzichtbar und konsequent aus der Theorie der Arabeske, der unendlichen Perfektibilität des Kunstwerks hervorgeht: das ist die Rücksichtnahme auf "Bekenntnisse".83 Neben den wahren Arabesken, also neben der Formenvielfalt romanhafter Gebilde, neben dem erzählerischen Chaos sind Bekenntnisse, behauptet Friedrich Schlegel, "die einzigen romantischen Naturprodukte unsers Zeitalters" 84 - und hier wird erneut ein Moment der ästhetischen Revolution im Zeitalter Friedrich Schlegels sichtbar, das sogar einen wesentlichen Teil der Rebellion ausmacht und das vielleicht am Ende noch schärfer als alles andere andeutet, worin der Protest gegen das Überkommene bestand. Im Hinweis auf die Bekenntnisse steckt ein weiteres revolutionäres Element, das nicht nur auf den Roman beschränkt blieb: auch hier vollzog sich ein Stück Revolution, ästhetisch-literarischer Rebellion. Friedrich Schlegel hat die Romane Jean Pauls noch aus einem weiteren Grund verteidigt - ebenfalls ein Hinweis auf die ästhetische Revolution. Die fiktive Kritikerin, die dieser Romanwelt vorhielt, daß sie ein "buntes Allerlei von kränklichem Witz" sei, 85 hatte noch als Argument gegen Jean Paul ins Feld geführt, die Romane würden "doch höchstens Bekenntnisse geben. Die Individualität des Menschen sei viel zu sichtbar, und noch dazu eine sol-
87 che!" 86 Das war als Vorwurf gemeint, dient Friedrich Schlegel aber als weiteres Argument, um seine neue Theorie des Romans zu fixieren. Der kritische Kontrahent entgegnet: "Das letzte übergehe ich, weil es doch wieder nur Sache der Individualität ist" 87 - aber er übergeht es hier nur kurz, weil es einer anderen Argumentationskette vorbehalten ist. Denn wenig später, als an entscheidender Stelle vom Roman als einer wahren Arabeske die Rede ist, taucht der Begriff der Individualität wieder auf. Es seien, so Schlegel, zugleich die Bekenntnisse mit jenen Arabesken zusammen "die einzigen romantischen Naturprodukte unsers Zeitalters". 88 Aber das ist nicht nur ein Nebengewinn. "Das beste in den besten Romanen" sei nichts anderes, so führt Schlegel seine Argumentation weiter, "als ein mehr oder minder verhülltes Selbstbekenntis des Verfassers, der Ertrag seiner Erfahrung, die Quintessenz seiner Eigentümlichkeit" - und Schlegel hat damit zugleich ein Kriterium der literarischen Wertung gewonnen, denn er schätzt die Romane ein "nach der Masse von eigner Anschauung und dargestelltem Leben, die sie enthalten". Was sich hier abzeichnet, ist nicht etwa ein Plädoyer für eine periphere Form des Romans, eben für "Bekenntnisse". Es geht um die Proklamation der eigenen Individualität, der Subjektivität, der erreichten Selbstbestimmung, und wenn es auch auf den ersten Blick so aussehen mag, als sei das nach dem Zeitalter des Stum und Drang alles andere als etwas Ungewöhnliches, so hat Schlegel hier bei genauerem Zusehen den zweiten revolutionären Schlag gegen die Kunstauffassung der Klassik geführt. Denn hier wird das Subjektive höher gestellt als alles andere, und das ist ein Frontalangriff gegen die klassische Lehre von der Notwendigkeit des Objektiven. Schiller hatte immer wieder auf das Objektive hingewiesen, das Individuelle als etwas zu Überwindendes dargestellt - bei Schlegel aber wird der ganze Kanon der klassischen Normen, die Auffassung von der notwendigen Überindividualität der Kunstwerke, die vom minderen Rang alles bloß Subjektiven gründlich über Bord geworfen. Daß eine innere Verwandtschaft zwischen Bekenntnissen und Arabesken besteht, hat Schlegel ausdrücklich betont; und so schält sich als Ideal der frühromantischen Kunstauffassung ein zwangsläufig fragmentarisches Werk heraus, in dem die sich selbst regierende Individualität als die einzig verbindliche Wahrheit des Lebens einen höchsten Wert hat; der Roman oder vielmehr die Arabeske legitimiert sich erst dadurch, daß sie zugleich Bekenntnisbuch ist. So wird, wenn auch noch etwas undeutlich, ein erster Schritt von der Idealität weg zur Realität hin getan, wenn Schlegel von dem Maß an eigener Anschauung und dargestelltem Leben spricht, nach dem er ein Bekenntnisbuch zu beurteilen gedenke. Die Wirklichkeit dringt in die Kunst hinein, und es ist die Wirklichkeit des Individuums, die Realität des
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Einzellebens, die höher steht als alle idealistische Norm. Beide Attacken auf das Überkommene hängen miteinander zusammen: das harmonische Kunstwerk war stets auch ein objektives Werk, stellte Objektives dar - während das romantisch Willkürliche der Formen zugleich der Subjektivität des Darzustellenden entspricht. Schlegel folgt hier nicht nur einem augenblicklichen Einfall; auch in dem "Versuch über den verschiedenen Styl in Goethes früheren und späteren Werken" spricht Schlegel von der "Beziehung auf eine bestimmte Individualität" - wenngleich in Goethes dritter Epoche alles "durchaus objektiv" sei. Aber auch das ist kein Hinweis darauf, daß nicht Veränderungen möglich wären; am Schluß der ersten Fassung wird das Vorbild dadurch gerechtfertigt, daß es ermöglicht, "der bessern Zukunft entgegen zu arbeiten". 89 Die Wendung vom Objektiven zum Subjektiven, vom Allgemeinen zum Individuellen hat in der Geschichte der literarischen Ästhetik eine ungeahnte Langzeitwirkung gehabt. Sie beförderte besonders einen Bereich: die literarische Kritik. Hatte diese im Zeitalter Schillers, wie das seine Bürger-Rezension erkennen läßt, vor allem normierende und richtende Bedeutung, weil der Kritiker zugleich Kunstrichter war, so beginnt mit der Frühromantik eine grundsätzliche Umorientierung in der Frage der Bedeutung und der Rolle der Kritik. Friedrich Schlegels Rezension über "Goethes Werke" nach der Cottaschen Ausgabe von 1806 enthält durchaus nicht höchstrichterliche Urteile, und der Kritiker weiß sich auch nicht über den Poeten gestellt; um so stärker versucht die literarische Kritik verstehend an die Dichtung selbst heranzukommen. Auch dabei geht es wiederum nicht um verstandesmäßige Kategorien, sondern eher um ein intuitives Erkennen und Verstehen, und damit ist ein entscheidender neuer Faktor in die Geschichte und Praxis der literarischen Kritik hineingekommen. Schlegels Rezensionen sind dabei durchaus nicht willkürlich; die verstehende Kritik hat hier eine echte Erkenntnisfunktion, da sie sich zu ergründen bemüht, worum es einer Dichtung eigentlich geht, worin die eigentümliche Individualität einer Dichtung besteht. Das neue rezensorische Programm Schlegels, das in der Goethe-Besprechung formuliert ist, ist ein normenfernes Programm, dem es vor allem um eines zu tun ist: um die Individualität des besprochenen Werkes. Schlegel versucht, was Goethes "Wilhelm Meister" etwa angeht, die kritische Mitte auszumachen, von der her das Ganze zu verstehen ist, die innere Einheit und Singularität des Werkes aufzuspüren. So wird die Rezension zur Interpretation der Individualität. Daß diese nicht mehr wertende, sondern sehr viel mehr interpretierende Kritik zugleich auch eine verstehende Kritik ist, das zeigt, in welchem Ausmaß sich die literarische Kritik zur Zeit Schlegels von der an Normen orientierten der Klassik entfernt hat. Damit entspricht Schle-
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gel den Forderungen, die er selbst in seinem "Gespräch über die Poesie" an die neue Ästhetik gestellt hat. Von dorther war der Weg auch frei für eine viel stärker historisierende Kritik, für eine Rezensionspraxis, die das Einzelne innerhalb seiner geschichtlichen Umgebung sah. Was sich hier als Umwertung darstellt, ist aber nur Teil jener größeren Neuorientierung, zu der Friedrich Schlegel schon mit seinem Aufsatz "Über das Studium der Griechischen Poesie" aufgerufen hatte. Dort ist so deutlich von der "ästhetischen Revolution" die Rede, auch davon, daß der Augenblick dafür reif sei, daß eigentlich wenig Zweifel daran herrschen kann, wie sehr hier die Französische Revolution auf einem Gebiete wirksam geworden ist, das weit von der Politik entfernt lag, in dem die Revolution aber nun, nach einer langen Herrschaft der Begriffe und Vorstellungen des 18. Jahrhunderts, mit der Gewalt einer völligen Weltveränderung hineinbrach. "Verkehrte Begriffe haben lange die Kunst beherrscht, und sie auf Abwege verleitet; richtige Begriffe müssen sie auch wieder auf die rechte Bahn zurückführen" 90 - Schlegel sieht es als seine Aufgabe an, diese verkehrten Begriffe zu rektifizieren. Er spricht ausdrücklich von der "großen, moralischen Revolution, durch welche die Freiheit in ihrem Kampfe mit dem Schicksal [...] endlich ein entschiedenes Übergewicht über die Natur bekommt". 91 Doch diese moralische Revolution ist zugleich eine Literaturrevolution. Daß bei Schlegel hin und wieder vaterländische Töne aufkommen, darf nicht mißverstanden werden: nach einem universalistisch gesonnenen 18. Jahrhundert war das Nationale das Moderne, auch das etwas Individuelles, und im Gefolge der Herderschen Ideen über die Eigentümlichkeit und Verschiedenheit der Völker war dieses Nationale der ästhetischen Revolution nicht entgegengesetzt, sondern selbst noch ein Ausdruck, eine Ausformung der Rebellion, nationale Selbstbestimmung. Aber am stärksten prägt das Revolutionsverständnis wohl die Vorstellung, daß das Chaos ein fruchtbarer Zustand sei. "Nur diejenige Verworrenheit ist ein Chaos, aus der eine Welt entspringen kann", 92 lautet ein Fragment aus den "Ideen". Nicht jede Verworrenheit ist ein fruchtbarer Zustand; aber das Neue ist nicht ohne das fruchtbare Chaos zu schaffen. Über die einzelnen Aspekte des neuen Lebens, das mit der Revolution Schlegels eingeläutet werden soll, unterrichten die Athenäums-Fragmente vielleicht am deutlichsten. Aber wie die Veränderung im einzelnen auch bestellt sein mag: das revolutionäre Potential bei Schlegel ist nicht zu bezweifeln, und wenn er sich auch noch nicht völlig von der Nomenklatur der vorausgegangenen Jahrzehnte befreien konnte, also noch mit dem Begriff des "Objektiven" operiert, so ist der Hauptschlag seiner revolutionären Literaturphilosophie doch gegen die klassischen Zentralwerte gerichtet: gegen Harmonie, Ordnung, Organismus, Veredelung, Objektivität. Die Subjektivität ei-
90 ner arabeskenhaften Form, das Chaos als das eigentlich Fruchtbare, um Neues zu schaffen, die Dynamik gegen die Statik gesetzt, die Ironie gegen das Feste und unverbrüchlich Bestehende, die Zukunft gegen die Gegenwart: das alles ist Kennzeichen seiner Revolution. So gesehen ist seine "Lucinde" denn auch eines der revolutionärsten Bücher, das geschrieben werden konnte. Mit Friedrich Schlegel hat das Zeitalter der Nachahmung, unter der das 18. Jahrhundert so vieles begriff, ein Ende gefunden.
Anmerkungen
Eine ältere Darstellung findet sich bei Andreas Müller: Die Auseinandersetzung der Romantik mit den Ideen der Revolution, in: Romantik-Forschungen, DVjs-Buchreihe 16, Halle 1929, S. 243-333. Materialreich ist auch die Arbeit von Adolf Stern: Der Einfluß der Französischen Revolution auf das deutsche Geistesleben, Stuttgart u. Berlin 1928. Eine gute und mit vielen Belegen bestückte Darstellung bei Richard Brinkmann: Deutsche Frühromantik und Französische Revolution, in: Deutsche Literatur und Französische Revolution, Göttingen 1974, S. 172191. Zu nennen ist ebenfalls Claus Träger: Geschichte und Romantik, F r a n k f u r t / M . 1984, bes. Kap. II: Zum philosophisch-politischen Geschichtssinn der Frühromantiker, S. 26-42. Wenig brauchbar ist die Arbeit von Gerd Peter Hendrix: Das politische Weltbild Friedrich Schlegels, Bonn 1962; sehr ertragreich hingegen das schmale Buch von Werner Weiland: Der junge Friedrich Schlegel oder Die Revolution in der Frühromantik, Stuttgart 1968 (Studien zu Poetik und Geschichte der Literatur, hrsg. von Hans Fromm u. a., Bd. 6). Hinzuzuziehen sind auch der Aufsatz von Richard Brinkmann: Romantische Dichtungstheorie in Friedrich Schlegels Frühschriften und Schillers Begriffe des Naiven und Sentimentalischen. Vorzeichen einer Emanzipation des Historischen, in: DVjs 32, 1958, S. 344-371, sowie von Hans Eichner: Friedrich SchlegePs Theory of Romantic Poetry, in: PMLA 71,1956, S. 1018-1041. Zu den hier nicht abgehandelten Überlegungen des Novalis vgl. Wilfried Malsch: "Europa". Poetische Rede des Novalis. Deutung der Französischen Revolution und Reflexion auf die Poesie in der Geschichte, Stuttgart 1965, sowie Hans Wolfgang Kuhn: D e r Apokalyptiker und die Politik. Studien zur Staatsphilosphie des Novalis, Freiburg/Brg. 1961. Zu vergleichen ist auch Ernst Behler: Die Auffassung der Revolution in der Frühromantik, in: Essays in European Literature. In Honor of Lieselotte Dieckmann, St. Louis 1972, S. 191-215; von Ernst Behler stammt auch der wichtige Aufsatz: Französische Revolution und Antikekult, in: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 14, hrsg. von Karl Robert Mandelkow Wiesbaden 1982, S. 83-112. Hinzuweisen ist ferner auf die Arbeit von Ralph-Rainer Wuthenow: Revolution und Kirche im Denken Friedrich Schlegels, in: Deutscher Katholizismus und Revolution im frühen 19. Jahrhundert, hrsg. von Anton Rauscher, Paderborn 1975, S. 11-32, sowie auf Susan L. Cocalis: Prophete rechts, Prophete links, Ästhetik in der Mitten. Die amerikanische und die französische Revolution in ihrem Einfluß auf die Romanform der deutschen Klassik und Romantik, in: Der deutsche Roman und seine historischen und politischen Bedingungen, hrsg. von Wolfgang Paulsen, Bern / München 1977, S. 73-89 (Amherster Kolloquium zur deutschen Literatur, 9). Einen umfassenden Überblick über die Romantik bietet der Band: Romantik in Deutschland. Ein interdisziplinäres Symposion, Hrsg. von Richard Brinkmann, Stuttgart 1978 (Sonderband der DVjs); dort finden sich vor allen Dingen im Abschnitt: Romantik - im Spannungsfeld von sozialem Wandel und Stagnation für das Thema relevante Aufsätze; so etwa von Günter Birtsch: Aspekte und Wandlungen des Freiheitsbegriffs in der deutschen Romantik zwischen naturrechtlichem Rationalismus und Traditionalismus, S. 47-58, KarlGeorg Faber: Zur Machttheorie der politischen Romantik und der Restauration, S. 59-69, und Ulrich Scheuner: Staatsbild und politische Form in der romantischen Anschauung in Deutschland, S. 70-89.
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Werke und Briefe von Wilhelm Heinrich Wackenroder, Berlin [1938], S. 405. Ebd., S. 411. Ebd., S. 435. Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel. Bis zur Begründung der Romantischen Schule 15. September 1788 - 15. Juli 1797. Mit Einleitung und Kommentar hrsg. von Ernst Behler, Paderborn u. a. 1987 (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, 23. Bd.), S. 144f. Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel. Die Periode des Athenäums 25. Juli 1797 - Ende August 1799. Mit Einleitung und Kommentar hrsg. von Raymond Immerwahr, Paderborn u. a. 1985 (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, 24. Bd.), S. 99. Johann Gottlieb Fichte: Werke 1791-1794, hrsg. von Reinhard Lauth u. a., Stuttgart-Bad Cannstatt 1964 (J. G. Fichte-Gesamtausgabe), Werke Bd. 1, S. 169f. Ebd. S. 170. Ebd., S. 186. Ebd., S. 203. F. W. J. Schelling: Briefe und Dokumente, Bd. II, 1775-1803, Zusatzband, hrsg. von Horst Fuhrmans, Bonn 1973, S. 63. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Briefwechsel 1774-17% (Briefe 1-326), hrsg. von Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, Berlin/New York 1985 (Kritische Gesamtausgabe V, 1), S. 229. Ebd., S. 280. Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel, Werke, 24. Bd., S. 69. Friedrich Schlegel: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801). Hrsg. und eingeleitet von Hans Eichner, München u. a. 1967 (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, 2. Bd.), S. 247. Ebd., S. 248. Ebd., S. 198f. Dazu Werner Weiland: Der junge Friedrich Schlegel, a. a. O., S. 8. Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel, Werke, 23. Bd., S. 144f. Ebd., S. 275. Ebd., S. 304. Ebd., S. 305. Es handelt sich um das Werk "Esquisse d'un tableau historique des progrès de l'esprit humain. Ouvrage posthume de Condorçet" aus dem Jahre 1795. Friedrich Schlegel: Studien zur Geschichte und Politik. Eingeleitet und hrsg. von Ernst Behler, München u. a. 1966 (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, 7. Bd.), S. 3. Ebd., S. 7. Ebd., S. 9f. Ebd., S. 8. Ebd. Ebd., S. 17. Ebd., S. 13. Ernst Behler, Ebd., S. XXXII. Ebd., S. 18. Ebd., S. 12. Ebd. Ebd., S. 24. Ebd., S. 25. Ebd., S. 499. Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel, Werke, 23. Bd., S. 284. Werke und Briefe von Wilhelm Heinrich Wackenroder, Berlin [1938], S. 405. Friedrich Schlegel: Studien des klassischen Altertums. Eingeleitet und hrsg. von Ernst Behler, Paderborn u. a. 1979 (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, 1. Bd.),S. 225. Ebd., S. 232. Ebd., S. 232f. Ebd., S. 233. Ebd., S. 238. Ebd., S. 254.
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Ebd., S. 258. Ebd., S. 262. Ebd., S. 263. Ebd., S. 269. Ebd., S. 270. Ebd. Ebd., S. 271. Ebd., S. 272. Ebd. Ebd., S. 275. Ebd., S. 287 bzw. 288. Ebd., S. 288. Ebd., S. 290. Ebd., S. 306. Ebd., S. 347. Ebd., S. 357f. Friedrich Schlegel, Werke, 2. Bd., S. 290. Vgl. Hans Eichner, ebd., S. LXXXVIII. Ebd., S. 301. Ebd., S. 314. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 322. Ebd., S. 329. Ebd. Ebd., S. 330. Ebd., S. 333. Ebd. Ebd. Ebd., S. 330f. Ebd. Ebd., S. 336. Friedrich Schlegel, Werke, 2. Bd., S. 336. Ebd., S. 337. Ebd., S. 339f. Ebd., S. 350. Ebd. Ebd., S. 348. Ebd., S. 337. Ebd. Ebd., S. 329. Ebd. Ebd., S. 330. Ebd., S. 337. Ebd., S. 350. Friedrich Schlegel, Werke, 1. Bd., S. 272. Ebd., S. 262.
IV. Das Nachbeben der Revolution. Heinrich von Kleist: Das Erdbeben in Chili.
Kleists Erzählung "Das Erdbeben in Chili" hat immer schon seine begeisterten Leser gefunden, aber nur die wenigsten haben genau sagen können, was sie daran so fesselte. War es das schlechthin Unwahrscheinliche dieser Geschichte, freilich so glaubhaft erzählt, daß jeder es dem Dichter am Ende dann doch ohne viel Widerstreben, ja im Grunde mit Zustimmung, wenn nicht gar mit atemloser Spannung abnahm? "Aufregend, kurios im Extrem, sensationell durchaus, - unter dem ganz Ausgefallenen, ja Krassen, tut dieser Dichter es nicht" - so hat kein Geringerer als Thomas Mann seine Ergriffenheit zum Ausdruck gebracht. 1 An Außerordentlichkeit läßt es der Bericht über das Erdbeben in Chili in der Tat nicht fehlen - aber außerordentlich sind viele Geschichten, und es ist die Frage, was die Eigentümlichkeit gerade dieser Erzählung tatsächlich ausmacht und worüber Kleist damit hat berichten wollen. Ist es das, was Thomas Mann noch unter Humanität verstanden hat, die dann freilich auf so fürchterliche Weise in Frage gestellt wird? So kann man die Novelle zweifellos lesen, oder, um noch einmal ihren berühmtesten Interpreten zu zitieren: er spricht von "einer prachtvollen Erzählung, worin alles Glück und Verzeihen, alle Güte, seelische Reinigung und Menschenverbrüderung,
die aus der gemeinsam >n Heimsuchung,
der
fürchterlichen Naturkatastrophe wie eine schöne Blume aufgehen, zerstört und in mörderische Sühn- und Strafwut verkehrt werden durch den Fanatismus eines Dominikaner-Predigers". 2 Niemand wird dem zu widersprechen wagen; dennoch bleibt die Frage, ob das alles war, was Kleist mit ihr hat sagen wollen. Ein wenig deutlicher wird Thomas Mann freilich schon, dort nämlich, wo er auf den Fanatismus des Dominikaner-Predigers zu sprechen kommt, und er setzt mit einem Blick auf die zweifelhafte bischöfliche Lebensweise in "Der Findling" hinzu: "Das alles sind Invektiven gegen römisches Priestertum und Kuttenmoral". 3 Also eine antiklerikale Novelle, Ausdruck eines Pfaffenhasses, dem Kleist hier erzählerisch nachgegeben hat? Auch das kann nur sehr eingeschränkt gelten. Denn Thomas Mann selbst liefert fast im gleichen Atemzuge ein Gegenargument, das die These von der fast besinnungs- und
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schrankenlosen Antipathie gegen den Katholizismus wieder einschränkt, wenn nicht gar obsolet werden läßt; er spricht nämlich vom "seraphischen Zauber katholischen Gottesdienstes" in "Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik", und er muß konzedieren: "Kleist ist in der Heiligen Cäcilie so fromm, wie er sich anderwärts gegen die katholische Welt nordisch spröde verhält". Das ist richtig, und diese Beobachtung verliert auch nicht wesentlich an Gewicht dadurch, daß die fromme und gottergebene Haltung eigentlich der Kunst, eben der "Gewalt der Musik" gilt und nicht so sehr dem Katholizismus. Als zureichend will aber auch diese Erklärung nicht gelten, und so bleibt es denn im Grunde genommen dabei, daß hier offenbar allgemeinste Menschheitsthemen angerührt werden. Die sind zwar auf höchst spezifische Weise erzählerisch abgehandelt; doch zufriedenstellen will uns diese Exegese letztlich nicht, da Glück und Verzeihen, Güte, seelische Reinigung und Menschenverbrüderung ja anderweitig ebenfalls sichtbar werden und bei aller Dignität dieser Werte die Erzählung dann doch viel zu allgemeine Züge erhält. Pfaffenhaß und Priesterkritik können es ebenfalls kaum sein, die diese Novelle vorangebracht haben; dafür fehlen bei Kleist selbst die Belege, und so bleibt am Ende denn ein gelinder Zweifel, was das Wesen dieser Geschichte wirklich ausmacht. Ist es also doch das Unheimliche, auf großartige Weise Schreckliche, das hier hervorbricht und an einem Einzelfall demonstriert wird, der auch anders hätte begegnen können, zu einer anderen Zeit, mit anderen Personen, aus anderem Anlaß? Thomas Mann selbst hat am Ende das für ihn offenbar Unerklärliche dieser Geschichte - und der Kleistischen Geschichten überhaupt - erkannt und sich dann auch mehr auf einen Leseeindruck zurückgezogen, als daß er zu überzeugenden Exegesen gekommen wäre. Er schreibt: "Man kommt beim Lesen dieser Geschichten aus dem Schrecken, der Aufregung, der Bangigkeit vor dem Ungeheuerlichen, aus dem Bann geteilten Gefühls nicht heraus".4 Niemand wird dem widersprechen - aber warum das so ist und ob das alles ist, diese Frage bleibt offen. Thomas Mann hat denn auch seine Kritiker gefunden. "Was Thomas Mann", so heißt es in einer neueren Darstellung, "als er über Kleists prachtvolle Erzählung seine üblichen prachtvollen Deutungen ablieferte, den Fanatismus eines Dominikaner-Predigers nannte, ist schlicht und einfach eine schulmäßige Seitenwendung, wie Priester sie im Seminar gelernt haben, um nicht immer und nur vom Abwesenden zu diskurrieren".5 Also eine Fehlinterpretation Thomas Manns, wie der Verfasser zu verstehen gibt; eine verständliche freilich. Ob diejenige, die sein Kritiker vorschlägt, überzeugender ist, sei dahingestellt. Wenn es denn aber nicht die Theologenschelte gewesen sein
95 sollte, die Heinrich von Kleist zu seiner ebenso unglaublichen wie einleuchtenden Erzählung veranlaßte - was war es dann?
Auch die Forschung stand der Kleistschen Novelle seit je einigermaßen hilflos gegenüber. Unsicher wie bei keiner anderen Geschichte schien der Sinn des Erzählten zu sein, und sicher war nur eines: daß es tatsächlich ein Erdbeben gegeben hatte, das 1647 Santiago getroffen hatte. Aber ganz sicher ist nicht, ob Kleist sich tatsächlich darauf bezieht. Denn er kannte natürlich auch die Berichte über das Erdbeben von Lissabon aus dem Jahre 1755, wenn nicht aus historischen Quellen, dann aus Voltaires "Candide", wo in Kapitel V bzw. VI davon berichtet wird, daß Dreiviertel der Stadt Lissabon zerstört worden waren, Anlaß zu einem Autodafé, vollstreckt an der Universität von Coimbra. Mehr ist nicht bekannt - und ob Kant, wie man vermutet hat, mit seinem Hinweis, daß ein Erdbeben einen "rührenden" Stoff zum Erzählen bieten könne, dessen moralische Wirkung bei alledem in Rechnung zu stellen sei, Kleists Geschichte beeinflußt hat - das alles gehört schon zu den Unsicherheitszonen rings um die Erzählung herum. Die Mehrzahl der Deutungen flüchtet sich denn auch in Überlegungen, die darauf hinauslaufen, daß hier ein Exempel statuiert werde, bei dem nichts Geringeres als die Weltordnung schlechthin thematisiert worden sei. Dabei ist die Zahl derer, die keinen rechten Sinn in der wunderbaren Rettung der Liebenden sehen, da diese dann doch wieder zunichte gemacht wird, sehr viel geringer als die Menge jener Interpreten, die hier metaphysische Themen zur Diskussion gestellt finden. Von reichlich zweifelhafter Berühmtheit ist die vielleicht bekannteste Deutung, die von Hermann Pongs geworden, der in "Das Bild in der Dichtung" sich zu einer enthusiastischen Auslegung hinreißen ließ, die entschlossen war, Sinn selbst noch im offensichtlich Sinnlosen zu finden. Pongs schrieb in seiner Studie: "Hier ist die kosmische Katastrophe herausgestellt, die in das individuelle Schicksal ebenso einbricht wie in Gefüge und Gesetz der Gesellschaft. In dieser Übergewalt wirkt das Erdbeben als höhere Macht, vor der die Gesellschaftswerte zunichte werden, damit der von ihnen verdeckte und verkannte absolute Wert der Liebe in einem beispielhaften Fall um so reiner strahlt. [...] Zwischen beide ist als Schicksalsverhängnis die Gesellschaft gestellt. Sie verurteilt den als sündig empfundenen Liebesbund mit den grausamsten Strafen [...]. Die Vorsehung aber, die in der kosmischen Katastrophe beide Liebenden wie durch ein Legendenwunder vom sicheren Tode rettet und zusammenführt, läßt schließlich auch im Untergang der Lie-
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benden den absoluten Wert, der sich in dieser unbedingten Liebe erfüllt, nicht untergehen". 6 Der Enthusiasmus mag heute als reichlich fadenscheinig empfunden werden, aber Pongs war sich seiner Sache sicher; nicht nur, daß vom "Wert der Liebe" die Rede war, sondern auch noch vom reinen Strahlen dieses Wertes. Endgültige Aufschlüsse also über metaphysische Fragen, Wertsetzungen angesichts eines Vorganges, der eher Zweifel an der Glaubwürdigkeit von Werten aufkommen lassen könnte, das Erdbeben als Ausdruck einer überirdischen Gewalt, die am Ende das Unmögliche zuwege bringt: nämlich die Macht einer Instanz zu verdeutlichen, von der Kleist selbst, wie wir wissen, nicht allzu viel mitbekommen hat. Glaubt man Pongs, wird die Weltordnung nicht angezweifelt, sondern auf glanzvolle Weise verteidigt; hier wird das Schicksal greifbar, dazu noch "Weltsinn", und so stellt sich die Erzählung in seiner Exegese als prachtvolle Demonstration höherer Werte und Gewalten dar, die sich gerade dort bewahrheiten, wo sie durch das niedrige Weltgeschehen so nachdrücklich in Frage gestellt werden. Hätte es auch etwas anderes als ein Erdbeben sein können, das diese Demonstration ermöglicht hätte? Das wird von Pongs natürlich nicht diskutiert, aber im Grunde genommen spielt dieses Naturereignis bei ihm nur die Rolle einer initiatorischen Begebenheit, nicht mehr; so wie aus einer solchen Sicht auffällig belanglos ist, daß es sich um ein historisch überliefertes Erdbeben handelt. Denn das Historische wie überhaupt alles Irdische wird am Schluß beiseitegeschoben, damit transzendenten Ideen zu ihrer Geltung verholfen werde. Daß es nicht ohne Menschenopfer, Folge eines tödlichen Mißtrauens und eines im entscheidenden Moment nicht mehr funktionierenden "innersten Gefühls", abgeht, ist der bittere Preis solcher Demonstration - Pongs erwähnt das nicht ausdrücklich, da es Zweifel aufkommen lassen könnte, ob es hier wirklich um das reine Strahlen eines absoluten Wertes gehe. Denn was nützt es, ihn so glorios zu bestätigen, wenn diejenigen, die seiner bedurft hätten, Opfer eines sehr irdischen, zwar verständlichen, aber wenig idealistischen Mißtrauens geworden sind? Doch Pongs war bereit, der Geschichte dennoch einen höheren Sinn abzugewinnen, und darin glücklicher etwa als Friedrich Gundolf, der hier nur "die getürmten Unglücksfälle" sah, im übrigen aber psychische Komponenten betont fand; an die Stelle der Schicksalsmächte und des Weltsinns treten bei diesem denn auch die "gräßlichen Ereignisse, Taten und Wunder". Er deutete sie als "Chiffern für den Glanz und den Schmerz seiner Seele". Und so las er die Geschichte vom Erdbeben in Chili als Emanation psychischer Bedrohungen und Qualen: "Was an rasendem Jammer über des Schicksals Groll an ihm rüttelte das erleichterte er, wenn er unter den Trümmern von Santiago die unseligen Liebenden sich vorstellte: auch hier die bis an die Grenzen
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menschlichen Fassungsvermögens gedehnte Spannung zwischen Seligkeit, Verzweiflung, Grausen und Süße im engsten Raum, in kürzesten Stunden: Ausmalung der martervollsten Lagen, der fürchterlichsten Verwüstung, der scheußlichsten Taten, Keil auf Keil".7 Alles in allem also nicht mehr als "das Gleichnis der Kleistischen Qual"; wobei wir nicht erfahren, worin diese bestehe. O b aber nun ewige Schicksalsmächte oder ewige Seelenmächte: die Unterschiede sind gradueller Natur, das Zeitlose soll durch das Zeitliche hindurchschimmern, und der Gleichnischarakter der Geschichte ist in beiden Interpretationen offenbar. Aber ist das Thema der Novelle tatsächlich transzendenter Natur? Geht es hier um etwas jederzeit Gültiges oder um etwas allezeit vergeblich Herbeigesehntes, um höchste Werte oder Mächte, die Kleist in eine Erzählung gebracht hat, die dadurch nicht einleuchtender, sondern eher noch unverständlicher wird? Metaphysische Deutungen, wenn man einmal so die größere Menge der Kleist-Interpretationen benennen will, lassen dabei einen weiten Spielraum offen zwischen dem Lob zeitloser Werte und der Furcht vor unbegreiflichen Mächten. Sympathischer sind freilich die Exegesen, die offen zugeben, daß eine eindeutige Lehre aus dieser tragischen Begebenheit, die Kleist schildert, nicht abzulesen sei. So heißt es in einer Interpretation: "Es entzieht sich unserer menschlichen Ausdeutung, warum das eine Kind gerettet wird, das andere aber zugrunde gehen muß. Jedoch auch hier soll sich der Mensch, wie es durch Don Fernando geschieht, der so oder so über ihn verhängten Einrichtung der Welt gefangen geben. Nur so kann er vernehmen, was inmitten des täuschenden Scheins der Wirklichkeit der unbegriffene Gott von ihm will und fordert". 8 Das ist zugleich das Eingeständnis, daß eine plausible Deutung sich nicht ergeben wollte; einleuchtender wird die Geschichte dadurch natürlich auch nicht. Was hier als das unbegreifliche Walten eines unbegriffenen Gottes erscheint, läßt sich freilich auch skeptischer beurteilen, nämlich als vom Erzähler erzwungene Einsicht in das Unvorhersagbare des Weltlaufs, das jeder Deutung denn auch widerspricht. Wollte Kleist uns Gleichgültigkeit allem äußeren Geschehen gegenüber lehren, oder, wie es in einer anderen Deutung heißt:"It is the suggestion that Don Fernando is the central figure of the story [...]. In his behaviour is implicit the feeling that the structure of the world is unknowable, and that its blessings and disasters are equally unpredictable". 9 Soll das Ganze also in eine Haltung einüben, die letztlich stoischen Charakters ist? Oder soll die Geschichte über die Fragwürdigkeit menschlicher Verhältnisse und die Ungewißheit des Lebens unterrichten? Ist das Paradies am Ende bloß ein Schein, oder, wenn doch realisierbar, von allzu kurzer Dauer? Bleiben am Ende nur Fragen? Die "tiefgründigste dieser Fragen", so meinte ein Interpret, "ist die
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nach dem Wesen Gottes". 10 Aber Antworten darauf gibt er nicht. Der Schluß dieser Deutung - "Kleist scheint niemals das Dasein eines höchsten Wesens bezweifelt zu haben, aber er hatte tiefsitzende Zweifel in bezug auf Gottes Natur und unsere Fähigkeit, ihn zu erkennen" - gibt auch keine Antwort, und der letzte Satz ("Auch in dieser Beziehung ist die Erzählung eine charakteristische Schöpfung Kleistischen Geistes") ist denn auch eine exegetische Bankrotterklärung. Da hilft es auch nicht viel, daß ein anderer Interpret die Bedeutung der Erzählung innerhalb des Kleistschen Gesamtwerks damit erklärt, daß hier "die Welt zwar ein furchtbares Rätsel bleibt, aber eines, das den Menschen stärker macht. Er ist das Opfer der undurchschaubaren Schöpfung, aber auch ihr Held". 11 Das ist nun ein interpretatorisches Paradox, das noch weniger überzeugen kann. Über die Anerkennung solch dunkler Unbegreiflichkeiten sind aber auch andere Analysen nicht recht hinausgekommen. "All teleological arguments are muted before a mutual self-giving which transcends the limits of human nature itself and allows an ungrounded faith, to which the grateful heart may give its absolutely free assent, to flower from devastation", schreibt Ilse Graham, 12 und: "Living with ambiguity and revering it as God's own incognito: such enfranchisement from the death of doubt and intellectual certainty, to one as beholden to both as was Kleist, in the end meant heaven on earth." Aber ob Kleist nicht vom Himmel eine doch etwas freundlichere Vorstellung hatte, selbst noch im Wissen um dessen Unerreichbarkeit? Da will noch eher einleuchten, was Walter Müller-Seidel schreibt, daß nämlich im "Erdbeben in Chili" die Gottesfrage "noch um vieles dunkler und undurchdringlicher" sei als etwa im "Zweikampf: "wenn in einem Urteil Gottes derart Gerechte und Ungerechte, Schuldige und Unschuldige getroffen werden, so verwandelt sich die Rätselhaftigkeit seines Tuns leicht in den Zweifel an diesem Tun. Dennoch richtet Gott hier so wenig eindeutig wie sonst bei Kleist".13 Mit anderen Worten: Gott und Gottes Tun bleiben ein Rätsel. Die Reihe bemühter Interpreten, die hier ein metaphysisches Problem wittern und doch nicht recht dingfest machen können, ist eindrucksvoll. Aber das kann, ernsthaft betrachtet, den Leser kaum von dem Unbehagen befreien, das ihn überfällt, vergleicht er die angebotenen Lösungen miteinander. Überzeugend ist keine, weil es an Evidenz mangelt, und es mangelt an Evidenz, weil alle diese Exegesen nicht auf die Wirklichkeit der Erzählung hinführen, sondern von ihr fort. Kleist ist, wie wir wissen, ein sehr genauer, sehr realistischer Erzähler, und so muß von vornherein Skepsis aufkommen angesichts von Deutungen, die zwangsläufig ins Ungenaue geraten müssen, wenn vom Himmel, dem menschlichen Schicksal, von ewigen Werten oder von der Unbegreiflichkeit eines unbegreiflichen Wesens, das uns und alle un-
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sere Taten steuert, die Rede ist. So sehr Kleist zu metaphysischen Deutungen einladen mag: hier ist größte Vorsicht geboten. Hätten die Metaphysiker recht, so käme sofort die Frage hoch, warum denn aber gerade diese so unglaubliche Begebenheit dazu habe herhalten müssen, um das Walten des Himmels oder auch die Unvernünftigkeit höherer oder niederer Einwirkungen auf das Tun des Menschen zu demonstrieren. Wäre nicht weniger Unwahrscheinlichkeit überzeugender gewesen? Hätte sich nicht das Unfaßbare eines überirdischen Wirkens auch plausibler und mit weniger zahlreichen Dunkelzonen darstellen lassen? Das Unbehagen an metaphysischen Deutungen ist nicht neu; wiederholt haben Interpreten gegen die angebliche Metaphysik der Geschichte Front gemacht. Der relativ großen Zahl der Deutungen, die hier ewige Werte oder das Numinose im Spiele sahen, steht allerdings eine relativ kleine Zahl von Exegesen gegenüber, die Kleist realistischer auslegen möchten und hier soziale Probleme im Vordergrund der Geschichte finden. Schon 1945 hat Hans M. Wolff darauf aufmerksam gemacht, daß sich die Geschichte gegen soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Vorurteile wende, denn das seien die Faktoren, die am zerstörerischen Untergang derer, von denen die Geschichte handelt, schuld seien. Wolff hat damals ohne Wenn und Aber und ohne Regreß auf irgendwelche höheren Mächte erklärt: "Die soziale Ungleichheit anzuklagen und die Sinnlosigkeit der Standesunterschiede zu entlarven ist das Ziel des Dichters". 14 Und er hat auf die "Nouvelle Héloïse" hingewiesen, um anzudeuten, woher der tatsächliche Einfluß auf Kleist stamme: von Rousseau und dessen Interpretation des Sündenfalls. Wolffs Hinweis war ein wichtiger Fingerzeig, und ihm ist Harry Steinhauer in seiner eigenen Deutung der Kleistschen Erzählung, einer der sehr wenigen gründlichen Interpretationen, gefolgt. Und er hat in deutlicher Kritik an den metaphysischen Interpretationen zu Recht erklärt: "Das Motiv des Erdbeben ist zwar abstrakter als die meisten der anderen Werke, aber es ist trotzdem ein soziales Thema, kein metaphysisches, das darin behandelt wird". 15 Dem ist zunächst einmal deswegen zuzustimmen, weil die metaphysischen Exegesen allesamt nicht überzeugen, mögen sie noch so enthusiastisch oder noch so skeptisch vorgebracht worden sein. Wie aber soll das soziale Thema beschaffen sein, das im "Erdbeben in Chili" abgehandelt wird? Auch hier hat es verschiedene Antworten gegeben. Die deutlichste stammt von Harry Steinhauer: Kleist sei "dem Zauber des Rousseau-Mythos" erlegen, er wie viele andere. Mag die Kant-Krise nun stattgefunden haben oder nicht - der Einfluß Rousseaus ist in der Tat nicht zu bestreiten, zumal Briefe am Wilhelmine von Zenge aufs deutlichste zeigen, in welchem Ausmaß er selbst mit ihr ein einfaches Leben plante. 1 6 Frei-
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lieh war er, als er 1801 nach Paris reiste, sich sehr wohl darüber im klaren, daß die Vision Rousseaus sich im nachrevolutionären Frankreich gewiß nicht verwirklicht hatte: "Rousseau ist immer das 4. Wort der Franzosen; und wie würde er sich schämen, wenn man ihm sagte, daß dies sein Werk sei?" - so berichtete er einer Freundin. 1 7 Rousseau hatte einen Mythos entworfen, aber an dessen Verwirklichung war nicht zu denken. Die Erzählung Kleists nun handle, so Steinhauer, von eben dieser skeptischen Erfahrung, daß Rousseaus Lehre absolut utopischen Charakters gewesen sei. Er schreibt: "Gesetzt, man könnte den Zustand der verdorbenen Kultur sozusagen mit der Hand wegfegen und die Menschheit wieder zur reinen Natur zurückführen, was würde geschehen? Diese Frage zu beantworten, ist die Aufgabe, die sich Kleist setzte. Er hat eine Robinsonade verfaßt. Er schildert eine Kulturgesellschaft im Zustand der Korruption, dann ein kurzes Zwischenspiel, in dem einige Menschen in Rousseaus idealem Naturzustand leben". 18 Kleist habe sich einer Form der kritischen Ironie bedient, mit deren Hilfe allein dann das zu formulieren war, was er aussagen und erzählen wollte: "Diese Ironie will uns sagen, daß man dem Unbehagen in der Kultur nicht entkommen kann, weil es in jeder Gesellschaft zuviele Menschen gibt, die zu blind, bigott und verdorben sind, um ein Leben in Eintracht zu ermöglichen; auch im Paradies hat es ein Schlange gegeben. Das ist die desillusionierende Erfahrung, die Kleist in Paris 1801 machen mußte". 19 Daran, daß Kleist in seiner Erzählung eine desillusionierende Erfahrung beschrieben hat, kann kein Zweifel sein, ebensowenig daran, daß er selbst ähnlich ernüchternde Erlebnisse in Paris hatte. Enthält die Geschichte also seine Auseinandersetzung mit Rousseaus kühner Utopie? Und endet diese Auseinandersetzung mit der Einsicht, daß die Utopie leider nicht zu verwirklichen sei? Ist die Novelle Kulturkritik in erzählerischer Form, gibt sie Aufschlüsse über das Desolate moderner Kulturzustände? Nicht nur das, so meint Steinhauer; "Das Erdbeben in Chili" habe den Rousseau-Mythos zerstört, der freilich zerstört werden mußte, damit nach diesem Sündenfall wirkliche Erkenntnis erst möglich werde. Wie die beschaffen sei, zeige das Marionettengleichnis: ein Weg zurück zur Natur sei unmöglich, das Tor zum primitiven Paradies sei verriegelt. Aber Steinhauer sieht in Kleists späteren Werken wie in seinem Marionettengleichnis dennoch einen besseren Zustand entworfen. Wie in der Marionettengeschichte "die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist", 20 wenn sich die verlorene Grazie wieder einstellen soll, so hat der Mensch auf ähnliche Weise sein Bewußtsein gewissermaßen wieder mit dem Instinkt zu versöhnen. So lautet die Lehre, die Steinhauer aus der Geschichte zieht, folgendermaßen: "Auf den Menschen angewendet heißt das: wenn der Verstand tiefschürfend ist, hört er auf,
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kalte, dürre Logik oder beschränkter Menschenverstand zu sein. Es ist nicht mechanische Vernunft, nach Art der Wolffianer, die Revolutionen des Gefühls zum Gären bringt, sondern eine Vernunft, die Anschauung, Gefühl, Intuition in sich aufnimmt und harmonisch vereint". 21 Im "Erdbeben in Chili", so Steinhauer, sei freilich von dieser Utopie noch nicht die Rede; denn die Botschaft Kleists sei hier eine andere, da er verkünde: "Die Rückkehr zur Natur ist offensichtlich gescheitert". So sei die Novelle denn auch "eine tragische Erzählung ohne versöhnlichen Schluß"; von einer höheren Natur könne erst in den späteren Werken gesprochen werden, die Einblicke in diese gäben. So berechtigt es ist, daß Steinhauer die Metaphysiker unter den KleistInterpreten bekämpft und auf die soziale Komponente dieser Erzählung hinweist, so wenig will jedoch auch seine Deutung am Ende überzeugen, weil sie in eben denselben Fehler zu verfallen droht, den er mit Recht bei anderen gerügt hatte: in eine allgemeine, universal gültige, aber damit eben auch außerordentlich blasse und wirklichkeitsferne Lehre, die Kleist hier erteilt habe. Wollte er tatsächlich den tiefschürfenden Verstand anpreisen, wollte er der kalten, dürren Logik oder dem beschränkten Menschenverstand seinen Krieg erklären? Und wie sollte die Vernunft beschaffen sein, die Anschauung, Gefühl, Intuition in sich aufnimmt und harmonisch vereint? Auch wenn Kleists Erzählung gerade das Gegenteil dessen beschreibt, was Kleist in der Schrift über das Marionettentheater "das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt" nennt: sollte das die tiefere ratio legis dieser Erzählung sein? Sollte Kleist tatsächlich eine ebenso unwahrscheinliche wie großartige Geschichte ersonnen haben, um den Rousseau-Mythos zu widerlegen? Auch andere Bedenken müssen aufkommen. So ist nicht einzusehen, warum Kleist im Jahre 1807, als die Erzählung zuerst im "Morgenblatt für gebildete Stände" erschien, noch einmal Stellung genommen haben sollte zu einem Erlebnis, das er offensichtlich 1801 hatte, als er nach Paris ging. Wäre die Novelle früher entstanden - es wäre sinnvoll, sie auf Rousseau zu beziehen. Aber ist es wahrscheinlich oder gar überzeugend, daß Kleist, der sich im August des Jahres 1801, während seiner Paris-Reise, mit Rousseaus Ideengut auseinandersetzte und sehen mußte, wie wenig davon in Frankreich verwirklicht worden war, das erst im Jahre 1807 erzählerisch ausgewertet hat? Steinhauer bemerkt: "In dieser Geistesfassung [von 1801!] ersann seine dichterische Phantasie die Erzählung vom Erdbeben in Chili",22 Sollte sie sechs lange Jahre angehalten haben? Das ist, bei aller Konstanz philosophischer Themen bei Kleist, nicht sehr wahrscheinlich. So wird man also zögern, die Erzählung des Jahres 1807 mit den Reiseerfahrungen des Jahres 1801 in eine allzu direkte Verbindung zu bringen. In einem hat Steinhauer jedoch auch wieder
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recht: verborgene Fäden laufen durchaus vom "Erdbeben in Chili" nach Frankreich hinüber; auf einem Umweg freilich. Nicht das "Erdbeben in Chili", wohl aber die diesem Thema verwandteste Erzählung, nämlich die "Verlobung in St. Domingo", spielt im Bereich der französischen Kolonien; daß beide Novellen insofern miteinander zu tun haben, als sie gesellschaftskritische Novellen sind, ist von der Forschung wiederholt betont worden. 23 Allerdings: eine überzeugende Deutung ist auch damit nicht gegeben. Gegen Steinhauers These, daß Kleist sich kritisch mit dem RousseauMythos auseinandergesetzt habe, ist nichts einzuwenden. Nur: sie erklärt diese Geschichte nicht hinreichend, sondern bringt sie in ein wiederum so allgemeines Fahrwasser hinein, daß Einzelheiten sich, so gesehen, als nicht deutbar erweisen. Hat der so realistisch und genau schreibende Erzähler nicht Eindeutigeres gemeint, ist die Wahrheit hier nicht sehr viel konkreter, als es zunächst angesichts der Unbegreiflichkeit einer solchen Geschichte zu sein scheint? Hat Steinhauer recht, wenn er feststellt: "Das Motiv des Erdbebens ist [...] abstrakter als die meisten der anderen Werke?" 24 Den Hinweis von Hans M. Wolff auf die sozialen, ja sozialpolitischen Konnotationen der Kleistschen Novelle hat man nicht ernst genug genommen; jedenfalls finden sich nur wenige Arbeiten zur nichtmetaphysischen Interpretation des "Erdbeben in Chili". Dennoch gibt es einige neuere Studien auch aus dieser Sicht. Die ausführlichste stammt von Peter Horn, der sich kritisch damit beschäftigt, "wie die Brutalität der Masse durch demagogische Manipulation hervorgerufen wird".25 Dagegen setze Kleist nicht etwa den Staat oder den Staatsvertrag, aber auch nicht Rousseaus Optimismus, den er - wie auch Horn zu Recht betont - nicht teile, sondern den Naturzustand einer "Gemeinschaft, die alle zu einer Familie macht, in der der Mensch seine individuelle Freiheit dadurch verwirklicht, daß er sich in allen Individuen, die ihn umgeben, vervollständigt, und nicht dadurch, daß er sich von aller Menschengemeinschaft isoliert".26 Es sei der Zustand einer herrschaftsfreien, damit anarchischen Gesellschaft, und diese schöne Anarchie sei der Mobherrschaft aus der unheiligen Allianz von Staat und Kirche aufs gründlichste entgegengesetzt. Doch führt uns das nicht wiederum zu Rousseau hin? Ist der derart positiv belegte Zustand der Anarchie nicht am Ende doch wieder nur der Naturzustand Rousseaus? Wollte Kleist die Überwindung des Staates und der Staatsidee zugunsten einer Gemeinschaft, die also offenbar nichtstaatlichen Ordnungen untersteht, und zugunsten einer Anarchie, die sich nur durch den Zustand der Zufriedenheit von der Mobherrschaft zu unterscheiden scheint? Und was bedeutet in diesem Zusammenhang das Erdbeben? Horns Antwort ist unbefriedigend: es wird als Synonym für "Zufall" gedeutet,
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so wie auf der anderen Seite die Herrschaft des Staates und des Mobs als "Willkür". Aber wirken hier Willkür und Zufall tatsächlich zusammen, um die Selbstverwirklichung der menschlichen Gemeinschaft zu gefährden, und steht am Ende die Anarchie als "autonome Gesetzlichkeit" eines neuen, "verantwortlichen Selbstbewußtseins", als erreichte "Selbstverwirklichung des Menschen"? Verwirklicht sich nicht der Mensch ebenfalls im Mob, wenn auch auf animalische Weise? Überlegungen dieser Art führen wieder in jene abstrakte Sphäre zurück, aus der Horns Exegese den Leser gerade befreien wollte. Kleist war wohl doch nicht versponnener Idealist genug, um in der völligen Befreiung des Menschen "von Staat und Gesetz" eine utopische Alternative zu sehen, die ermöglichen sollte, was in einer Rousseau-gläubigen Zeit jedermann als Notwendigkeit einleuchten mußte: "Die Rückkehr zur wahren Natur des Menschen". Richtig ist an Horns Beobachtungen, daß er Beziehungen zur damaligen Gesellschaft herstellt, daß er also Kleists Erzählung nicht als Bericht über irgendeine irgendwie geartete Seelenlage erkennt - so wie Johannes Klein einst schrieb: "Das Erdbeben im Menschen ist ausgebrochen". 2 7 Ein solcher Satz konnte nur in der Zeit einer in die Innerlichkeit verliebten Germanistik geschrieben werden. Doch: daß das Erdbeben ein purer Zufall sei, will nicht einleuchten. Wie aber, um nun zur Sache selbst zu kommen, hat eine Deutung der Kleistschen Erzählung denn nun auszusehen, wenn sie nicht wieder in metaphysisches Fahrwasser verfallen will und Wolffs Hinweis auf die sozialpolitischen Konnotationen folgt?
Befragen wir den Text selbst, so zeigt sich zunächst, daß Hinweise auf eine zeitgenössische, soziale oder politische Aussage fehlen - erfreulicherweise, denn sonst wäre die Erzählung möglicherweise längst als Schlüsselnovelle aller Erzählkunst zum Trotze eingestuft und abgetan worden. Das Erdbeben selbst erscheint als "allgemeines Verderben"; und der Hinweis darauf, daß dieses unter einem "Gekrache" geschah, "als ob" das Firmament einstürze, zeigt allerdings die einzigartige Bedeutung dieses Geschehens. Es wird im weiteren Verlauf der Erzählung mit der "zerstörenden Gewalt der Natur" in eins gebracht, jedenfalls von Jeronimo. Wir erfahren im übrigen nur noch, daß wie viele andere Gebäude auch die Kathedrale zu Schutt zusammengefallen und der Palast des Vizekönigs versunken, der Gerichtshof in Brand gesetzt worden ist. An der eindeutig zerstörerischen Macht des Erdbebens kann kein Zweifel herrschen - so rätselhaft allerdings bleibt, warum der Erzähler Kleist dieses Schauspiel inszeniert hat. Daß derart umständlich,
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wenn auch eindrucksvoll die Macht des Zufalls demonstriert werden soll, will zunächst nicht recht einleuchten, ebensowenig, daß die Natur als zerstörerisch allem Optimismusglauben des Jahrhunderts zum Trotze dargestellt werde. Warum also ein so furioser Weltuntergang? Eine erste Erklärung liefert die Geschichte selbst - und zwar in jenem Abschnitt, wo von den Geretteten und ihrem Leben im Tal die Rede ist. Denn den dort versammelten Menschen wird bewußt, daß es keinen Vizekönig von Chili mehr gibt, und mehr noch: der zerstörerische Tag erscheint als Wohltat, der die Schranken und Standesunterschiede plötzlich hinweggewischt hat. Der Kernsatz der Erzählung, der dieses Dasein jenseits des katastrophalen Naturgeschehens schildert, sei noch einmal zitiert: "Auf den Feldern, so weit das Auge reichte, sah man Menschen von allen Ständen durcheinander liegen, Fürsten und Bettler, Matronen und Bäuerinnen, Staatsbeamte und Tagelöhner, Klosterherren und Klosterfrauen: einander bemitleiden, sich wechselseitig Hülfe reichen, von dem, was sie zur Erhaltung ihres Lebens gerettet haben mochten, freudig mitteilen, als ob das allgemeine Unglück alles, was ihm entronnen war, zu einer Familie gemacht hätte". 28 Kein Zweifel, hier sind die Standesgrenzen aufgehoben, ist eine menschliche Gleichheit hergestellt, die nur unter diesen Umständen zustande kommen konnte. Und Kleist spricht beziehungsvoll von der "Summe des allgemeinen Wohlseins", die nichts anderem zu verdanken sei als dem "Umsturz aller Verhältnisse" - Hinweise, die den fast unwahrscheinlichen Ausnahmezustand in jenem Tal, das dem Tal von Eden gleicht, verdeutlichen. Erstaunlicherweise ist diese Passage mehr oder weniger immer nur auf ihren utopischen Gehalt hin gelesen worden, nicht auf ihre konkrete soziologische Bedeutung hin: also darauf, daß hier die Standesunterschiede gefallen sind. Hier müssen sich eigentlich Assoziationen zu den Vorgängen und Zielen der Französischen Revolution einstellen. Denn wo anders als in ihr wären zeitgenössische Vorstellungen von der Aufhebung der Standesgegensätze verfochten worden? Und wo sonst gab es plötzlich keinen König mehr? Wo sonst konnte "Römergröße" gezeigt werden als eben in der Französischen Revolution? Zwar sind die zahllosen Anspielungen auf römische Haltungen, die römische Republik Bestandteil der deutschen Literatur schon seit den Anfängen der Aufklärung, aber Hinweise auf das republikanische Rom gehören wesentlich zu den Identitätsbestimmungen der französischen Revolutionäre, und in Büchners "Dantons Tod" sind sie dann ja auch gebührend eingesetzt worden. Daß diese Welt einer ständelosen Gesellschaft sich aber als nicht lebensfähig erwies, zeigt der dritte Teil der Erzählung: die zerstörerischen Kräfte, die die Welt vor dem Erdbeben beherrscht hatten, setzten sich wieder durch, und Kleist bemüht eindringlichste Vergleiche, wenn er durch den Mund des Pre-
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digers von Sodom und Gomorrha und von allen Fürsten der Hölle spricht und selbst, als Erzähler, von dem fanatischen Mordknecht und der satanischen Rotte. Es ist verwunderlich, daß angesichts der "als ob"-Struktur des Textes, also der ständigen Präsenz von Vergleichen, die das reale Geschehen immer wieder transparent machen, nur Teile des Geschehens selbst auf ihren quasi allegorischen Charakter hin ausgedeutet worden sind. Kleist ist ein überaus genauer Erzähler; aber nur wenig darf so genommen werden, wie es berichtet wird, zumal er j a selbst genug Hinweise zum allegorischen Zeichensystem seiner Erzählung gegeben hat. Es ist unübersehbar, daß seine Vergleiche, die den transrealen Gehalt der vordergründig erzählten Realien betonen, aus dem biblisch-theologischen Bereich stammen - vermutlich deswegen, weil hier die Sprache am bedeutungsträchtigsten war; mit Hilfe biblischer Gleichnisse und Redewendungen konnte das Vordergründige der dargestellten Begebenheiten besonders deutlich gekennzeichnet werden, konnte auch besonders eindringlich darauf hingewiesen werden, daß es nicht um die Sache ging, sondern um deren Interpretation. Die Realien haben Vorläufigkeit; sie weisen auf etwas hin, das eben nur mit Hilfe der dichterischen Sprache selbst deutlich gemacht werden kann. Niemand wird auf die Idee kommen, die Abendsonne, die das Mordgeschehen in der Kirche beleuchtet, als puren Hinweis auf die Tageszeit zu verstehen; hier ist mehr gemeint als nur die Tageszeit, wenn von der Tageszeit die Rede ist, und daß der Weltuntergang jetzt erst eigentlich stattfindet, obwohl alle Welt das Erdbeben dafür gehalten hatte, dürfte jedem aufmerksamen Leser auch ohne ausdrückliche Hinweise darauf verständlich sein. Und wenn im letzten Absatz von der "Finsternis der einbrechenden Nacht" die Rede ist, dann erkennen wir ebenfalls ohne große Erklärungen, wie das zu verstehen ist: das ist die Nacht des Untergangs, des Aberglaubens, der geistigen Verfinsterung, oder, um es kurz zu sagen: das Ende der Aufklärung. Denn wir wissen j a nur zu gut, wie sehr und wie lange die Aufklärung mit dem Tage identifiziert worden ist, die Nacht hingegen ein beliebter Tummelplatz obskurantistischer, antiaufklärerischer Bemühungen war. Wenn aber verschiedene Einzelheiten dieser Erzählung offensichtlich ihre allegorische Bedeutung haben, liegt es nicht nahe, auch das Erdbeben so zu verstehen? Man hat es bislang immer nur als Synonym für den Zufall genommen, verführt durch die zahllosen Zufälle in Kleists Erzählungen, die dann ganze Ereignisketten in Gang zu setzen vermögen. Doch gibt es den Zufall tatsächlich? Sieht es nicht nur so aus, als ob manches rein zufällig geschieht? Aber wie dem auch sei: vom Text her gesehen liegt die Annahme nahe, daß mit dem Erdbeben in Chili im Jahre 1647 nichts anderes gemeint ist als die Französische Revolution. Wenn dem so ist, beschreibt
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Kleist hier nicht irgendeine zu Herzen gehende und rührende Liebesgeschichte; dann geht es ihm auch nicht um die Demonstration ewiger Werte einer freundlich gesehenen Menschheit oder um die Widerlegung eines philosophischen Mythos, sondern um nichts mehr und nichts weniger als um eine Geschichte der Französischen Revolution, in ihren Folgen beschrieben. Mit anderen Worten: Kleists "Erdbeben in Chili" ist seine Geschichte der Französischen Revolution, und eben diese ist das geheime Thema dieser Novelle.
Die bisherige Kleist-Analyse hat - was die Deutung des Erdbebens angeht - oft die gleichsam allegorische Bedeutung dieses Naturereignisses übersehen. Dabei hätte ein Blick auf die zeitgenössische Literatur deutlich genug zeigen können, daß im politischen Kontext das Erdbeben immer eindeutig konnotiert war: als Chiffre für das Ereignis der Französischen Revolution. Es gibt wiederholt Beispiele. Wilhelm Heinse notierte 1792 in sein Tagebuch: "Das bürgerliche Gebäude befindet sich bis dato noch in einem Erdbeben; ein Stück fällt nach dem andern, und was neu gebaut wird, und worden ist, desgleichen. Alles muß dem Erdboden gleich gemacht werden; alles nackter Mensch werden". 29 Offenbar völlig unabhängig davon schrieb Jean Paul in seinem "Freiheitsbüchlein" 1804: "Das stumme Frankreich bekam plötzlich eine Zunge, wie der stumme Sohn des Krösus; nur anders, theils vor einem Morde des Vaterlands, theils zu einem eines Vaterlandsvaters. Aber desto schlimmer, wenn die ungestüme Nothwendigkeit spricht, nicht die lange sanfte Freiheit, wenn nicht der fromme Kirchner, sondern ein Erdbeben die Glocken läutet". 30 Das Bild des Erdbebens bot sich damals an, weil dieses Naturgleichnis allein geeignet schien, das Außergewöhnliche der französischen Umwälzungen sichtbar zu machen. Auch nach Kleist ist das Bild vom Erdbeben relativ weit verbreitet. Die Julirevolution schärfte 1830 das Bewußtsein, am Rande einer Zeitenwende zu stehen, und Heine hat die Julirevolution ein politisches Erdbeben genannt, ein Ereignis, das die Zeit in zwei Hälften auseinandersprengte und Himmel und Erde in Bewegung brachte "Sterne und Menschen, Engel und Könige, ja der liebe Gott selbst, wurden ihrem Friedenszustand entrissen, haben wieder viel Geschäfte, haben eine neue Zeit zu ordnen, haben weder Muße noch hinlängliche Seelenruhe, um sich an den Melodien des Privatgefühls zu ergötzen". 31 Das Bild vom Erdbeben ist dort noch radikalisiert, wo die Revolution als jüngstes Gericht erscheint. Wiederum sprach Heine davon, daß der Widerschein des französischen Sturmgewitters auch auf Deutschland gefallen sei und sowohl Hoff-
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nungen wie Befürchtungen außerordentlicher Art hervorgerufen habe: "Da blitzte es plötzlich auf im Westen, ein ungeheurer Donnerschlag und ein Krachen ertönte, als wollte die Welt untergehen - Und bald kamen auch die Weltuntergangsnachrichten, die Kunde von den drey jüngsten Gerichtstagen aus Paris, und es nahm wirklich den Anschein, als sey die Götterdämmerung herangebrochen, wovon einst die skandinavischen Skalden mit Zittern und Zähneklappern gesungen, als öffne schon der Wolf Fenris das Maul um den Mond zu verschlingen", 32 Die Vorstellung von der Julirevolution als einem kulturgeschichtlichen, geistig-literarischen und politischen Erdbeben gehört in den größeren Zusammenhang der Bilder, die Naturereignisse außerordentlicher Art bemühen, um das nicht weniger Außerordentliche der Französischen Revolution zu beschreiben. Heine notierte 1830, als er seine innere Befindlichkeit beim Ausbruch der französischen Julirevolution erläutern wollte: "Wie es Vögel giebt die irgend eine physische Revoluzion, etwa Gewitter, Erdbeben, Ueberschwemmungen etc vorausahnen, so giebts Menschen denen die sozialen Revoluzionen sich im Gemüthe voraus ankündigen, und denen es dabey lähmend betäubend und seltsam stockend zu Muthe wird. So erkläre ich mir meinen diesjährigen Zustand bis zum Ende July". 3 3 Die in Deutschland erwartete Revolution will ihm wie ein "deutscher Donner" erscheinen, also auch wieder als Naturkatastrophe. Daß das Erdbeben der Revolution die Dome und Kirchen zerstöre, findet sich bei Heine ebenfalls; wenn die alten steinernen Götter aus dem Schutt der Zeiten emporsteigen, dann ist das Ende der Zeiten und der Beginn einer neuen Zeit da; sie "reiben sich den tausendjährigen Staub aus den Augen, und Thor mit dem Riesenhammer springt endlich empor und zerschlägt die gothischen Dome". 3 4 In "Zur G e schichte der Religion und Philosophie in Deutschland" heißt es, wieder in bezug auf die Französische Revolution: "Der Gedanke geht der That voraus, wie der Blitz dem Donner. Der deutsche Donner ist freylich auch ein Deutscher und ist nicht sehr gelenkig und kommt etwas langsam herangerollt; aber kommen wird er, und wenn Ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wißt, der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht. Bey diesem Geräusche werden die Adler aus der Luft todt niederfallen, und die Löwen in der fernsten Wüste Afrikas werden die Schwänze einkneifen und sich in ihren königlichen Höhlen verkriechen". 3 5 Das alles sind Versuche, mit Hilfe einer Untergangsmetaphorik, mit Hilfe eindringlichster Vergleiche aus dem Bereich der Natur ein Ereignis zu beschreiben, das sich der Beschreibung fast schon zu entziehen schien. Noch weiter verbreitet sind Bilder vom Unwetter, vom Gewitter, und Börne steht Heine in der Beschreibung der Zeitenwende mit Hilfe dieser politischen Me-
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taphorik nicht nach. Am ausführlichsten aber hat vielleicht Eichendorff die Gewittermetaphorik genutzt, um das Ereignis der Französischen Revolution zu visualisieren. In seiner Novelle "Das Schloß Dürande" zieht sich das "wirre Wetterleuchten" leitmotivisch durch die ganze Erzählung hin, und am Ende kommt das Unwetter auch über das Schloß Dürande: "Da tat es gleich darauf einen furchtbaren Blitz, und donnernd stürzte das Schloß hinter ihnen zusammen": 3 6 die Französische Revolution hat auch das südliche Frankreich erreicht, und sie hat eine Spur der Verwüstung hinter sich hergezogen, die mit dem symbolischen Zusammensturz des alten Schlosses ihren Höhepunkt und ihr Ende zugleich findet. Ähnliche Bildfelder finden sich bei Eichendorff in "Robert und Guiscard", wo die Revolution ebenfalls als "feurig Wetter" dargestellt ist: 3 7 eine Naturkatastrophe auch dort. Eichendorff verdankt das Bild offensichtlich Joseph Görres, der in seinen Schriften zur Revolution diese ebenfalls mit einer Naturkatastrophe europäischen Ausmaßes verglichen hatte. 3 8 Wenn Kleist die Erdbebenmetapher benutzt, so hat er also nur radikalisiert, was seine Zeitgenossen auf ihre Weise, aber ähnlich beschrieben haben. Noch der späte Eichendorff hat vom "flammenden Krater" der Revolution gesprochen, von der "unheimlichen Gewitterluft", die vor 1789 über dem Lande gelegen habe. 3 9 Zieht man den metaphorischen Kontext hinzu, so verliert das Bild vom Erdbeben
seine
Rätselhaftigkeit
und
erscheint
stattdessen
in
dem
Zusammenhang, in den es hineingehört: den der Französischen Revolution. Fast überflüssig zu erwähnen, daß auch andere Naturbilder in Kleists Erzählung metaphorischen Charakter haben: wenn es von dem göttlichen Helden Fernando heißt, daß er mit jedem Hieb einen zu Boden "wetterstrahlte", 40 dann hat sich auch hier die Gewittermetaphorik eingeschlichen; Kleist reicht ein einziges Wort, um das Gewitterbild zu evozieren. Daß mit dem Erdbeben nichts Geringeres als ein "Weltgericht" eingetreten sei, wird ausdrücklich bemerkt; vom Prediger, aber gleichermaßen vom Erzähler selbst. So stellt sich Kleist das Ereignis der Französischen Revolution dar, oder vielmehr: so beschreibt er die Folgen jenes Ereignisses. Um eben diese freilich geht es sehr viel mehr als um die Revolution selbst; so wie die Erzählung j a auch von dem handelt, was auf das Erdbeben folgte, nicht so sehr vom Erdbeben selbst. Daß ein Ereignis wie die Revolution auf das Ende der überlieferten Verhältnisse hinauslaufen müsse, brauchte Kleist nicht umständlich und langwierig zu erklären; das war jedem Zeitgenossen nur zu sehr bewußt. Und daß die Zerstörung der überkommenen Welt im Tod des Vizekönigs, oder sollen wir sagen: in der Absetzung des Monarchen endete und gleichzeitig in der Zerstörung der klerikalen Vorherrschaft, leuchtete
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ebenso ein; war doch, vorher und nachher, die Kirche staatstragende Macht von nicht zu überschätzender Bedeutung. Es ist Zufall und will doch nicht ganz zufällig scheinen, daß auch Heine in seinem Reisebericht auf seiner Reise nach München eine Menge gotischer Dome wackeln sah, auf dem Weg von Augsburg nach München 4 1 - so wenig es dort freilich gotische Dome gibt, so wenig dürften sie auf natürliche Weise in Schwingungen geraten sein; auch hier ist noch das Erdbebenbild untergründig präsent. Was Kleist nun offenbar besonders interessiert, ist die Realisation jener Ideale der Französischen Revolution, die hier allegorisch in das nächtliche Tal verlegt wird, in dem über jene Seligkeit hinaus, die die Liebenden genießen, ein wundersames Porträt
einer
menschlichen
Gesellschaft
ausgemalt
wird,
in
dem
"Vertraulichkeit und Güte" oberste Lebensprinzipien sind und in dem die Stände
"durcheinander
liegen",
in dem
also Gleichheit,
Freiheit
und
Brüderlichkeit auf eindringliche Weise vor Augen gestellt werden. Ist man bereit,
die
Novelle
allegorisch
zu
deuten,
wird
man
hier
die
Zukunftserwartungen der Französischen Revolution materialisiert finden, erzählerisch ausgemalt in jener unvergleichlichen Szene in jenem Tal, "als ob es das Tal von Eden gewesen wäre", nicht nur für die Liebenden, sondern für die Menschheit im nachrevolutionären Zustand überhaupt. Gleichheit, Güte, Gerechtigkeit, auch völlige Freiheit: hier scheinen sie erreicht zu sein; und es sind nicht nur die Ideale der Französischen Revolution, die in jenem Tal verwirklicht worden sind, sondern es ist auch angewandter Rousseauismus, das Bild einer nachrevolutionären Gesellschaft, die sich auf das, was sie zur menschlichen Gesellschaft macht, zurückbesonnen hat. Ein Traumbild, ein ebenso malerisches wie verführerisches, das angebrochene Goldene Zeitalter nach dem "Umsturz aller Verhältnisse"; und es ist verständlich, daß die Gesellschaft dort "die heiteren Momente der Zukunft" überfliegt, da sich ein so heiterer Prospekt in dieselbe eröffnet hat. Lassen sich die Ideale der Französischen Revolution verwirklichen, so rasch und problemlos? Nicht nur Kleist wußte, daß dieses ein schöner Traum war, und es ist mehr als rhetorisches Beiwerk, wenn er die Beschreibung jener Nacht und jenes Traumes, wie er sich im Tal von Eden darstellt, nur dem Dichter zubilligt; allein der vermag davon zu träumen, von dieser schönsten Nacht, in der sich die Zukunft des Menschen, der Menschheit als die einer großen friedlichen Familie darstellt. Alte Sozialideale des 18. Jahrhunderts werden hier lebendig, zum ersten Mal scheint das Menschengeschlecht sich hier als solches versammelt zu haben, denn Rache, Raubtiergelüste, Egoismus sind ausgeschlossen. Aber Kleist hat die Geschichte nicht um des utopischen Blickes in ein schöneres Land willen erzählt; er erzählt sie zugleich, um das Irreale, ja
110 Illusionäre jener Erwartung auf nicht weniger eindringliche Weise zu verdeutlichen. Lesen wir auch den letzten Teil der Geschichte allegorisch, so ist dort das finstere Bild der Restauration ausgemalt, und dem Klerikalismus ist in Deutschland jene Macht wieder zugekommen, die vorübergehend beendet zu sein schien. Himmel und Hölle werden metaphorisch bemüht, aber nicht nur, um das ganze Ausmaß der Zerstörungen zu zeigen, sondern auch, um eine in Kleists Augen irregegangene Katholizität zu brandmarken. Die Wiederherstellung der Verhältnisse läuft auf eine Wiederherstellung der alten Zustände zurück, also auf vorrevolutionäre Grausamkeit, Unterdrückung und Zwänge. Die Revolution hatte das kühne Wunschbild eines besseren Staates freigesetzt, und die Geschichte hatte jedermann demonstriert, daß dieses Wunschbild nicht lebensfähig war. Sie hat sich stattdessen in einen Kreislauf hineinbegeben, der wieder dorthin zurückführt, von wo er ausging; die Rache der Kirche wird gestillt, wenngleich Kleist sie beziehungsreich nicht völlig zum Ziel kommen läßt: überlebt doch der kleine Fremdling das Massaker. Für Kleist mag es ein Bild dessen gewesen sein, was nicht durch die Revolutionsfolgen zu zerstören war. So behandelt die Novelle denn also nicht so sehr die Geschichte der Französischen Revolution, sondern vielmehr deren Nachgeschichte und den Einbruch einer Restauration, mit der sich die Blütenträume der damaligen Menschheit von selbst erledigten.
Was mochte Kleist veranlaßt haben, dieses alles zu beschreiben? 1806, also vor Kleists "Erdbeben in Chili", waren Fichtes "Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters" erschienen, Vorlesungen, die Fichte schon im Winter 1804/05 gehalten hatte. Es wäre möglich, daß Kleist sie zum Anlaß nahm, seine nachrevolutionäre Geschichte darzustellen. Man hat auch auf Kants "Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens" von 1755, unmittelbar nach dem Erdbeben von Lissabon erschienen, aufmerksam gemacht. 4 2 Darüber hinaus aber hat Kleist offenbar hier auch noch eine literarische Antwort gegeben. Nur leicht verschlüsselt findet sich ihr Adressat: dort, wo davon die Rede ist, daß Don Fernando "die ganze Würdigkeit und Anmut" der Josephe sehr gefiel. Das ist vermutlich ein Hinweis auf Schiller, obwohl wir wissen, wie weit die Formel von Anmut und Würde schon vor Schiller im 18. Jahrhundert verbreitet war. Aber es dürfte schwer fallen, diese Anspielung nicht als auf Schiller bezogen zu lesen; und Schiller ist in der Tat derjenige, mit dem Kleist sich hier möglicherweise auseinandersetzt, weniger freilich in Sachen jenes Begriffspaars als vielmehr
Ill in Hinblick auf die Französische Revolution. Auch Schiller hatte bekanntlich zu ihr Stellung genommen, in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung, in denen er das Programm einer Volksverbesserung so ausführlich wie umständlich begründete, um zu demonstrieren, woran es der Französischen Revolution gefehlt hatte. Die Briefe blieben bekanntlich Fragment; am Schluß finden sich nur vage Hinweise auf die reine Kirche und die reine Republik, auf einige wenige auserlesene Zirkel, "wo nicht die geistlose Nachahmung fremder Sitten, sondern eigne schöne Natur das Betragen lenkt, wo der Mensch durch die verwickeltsten Verhältnisse mit kühner Einfalt und ruhiger Unschuld geht, und weder nöthig hat, fremde Freyheit zu kränken, um die seinige zu behaupten, noch seine Würde wegzuwerfen, um Anmuth zu zeigen"43 - Anmut und Würde also auch im politischen Kontext, als Ideal einer menschlichen Existenzform, die Heteronomie ebenso verabscheut wie die Eingrenzung auf sich selbst. Sollte nicht Kleists Novelle eine Antwort, auch eine Antwort sein auf Schillers Idealbild, wie der es hier im Zusammenhang mit seiner ästhetischen Erziehung des Menschen, der Menschen so freundlich entworfen hatte? Entschließt man sich, Kleist so genau zu lesen, wie er geschrieben hat, dann ist der Hinweis auf "Würdigkeit und Anmut" ernstzunehmen. Es gibt zweifellos auch Beziehungen zu Schillers Schrift "Über Anmut und Würde". Oder vielmehr: der von Kleist geschilderte Zustand in jenem nächtlichen Tal scheint etwas zu verwirklichen, was Schiller sehr viel theoretischer dargestellt hatte. Es ist die von Anmut bestimmte Person "oder das freye Principium im Menschen", das es auf sich nimmt, "das Spiel der Erscheinungen zu bestimmen", schreibt Schiller;44 und wenn er sich auch vorwiegend mit der Schönheit der Person, der Anmut als Ausdruck der Freiheit beschäftigt, so läuft seine Schrift doch auf einen großen Menschheitsentwurf hinaus; es ist deutlich genug von der "Gesinnung des Herrschers" die Rede und von dem Volk "unter dem Zwang eines fremden Willens". Schönheit und damit Freiheit ist nur dort möglich, so erfahren wir, "wo Vernunft und Sinnlichkeit - Pflicht und Neigung - zusammenstimmen"45 - und wenn alles auch auf anthropologische Bestimmungen hinausläuft und gegen die Kantische Moralphilosophie gerichtet ist, so sind Schillers Vorstellungen doch nicht individualisiert, sondern beziehen sich auf Idealzustände des Menschen, der Menschheit selbst. Auffälliger aber ist die Darstellung eines Reichs des schönen Scheins, wie Schiller es nennt, zum Schluß der Briefe über die ästhetische Erziehung, wo so ausdrücklich von Würde und Anmut die Rede ist. "Kein Vorzug, keine Alleinherrschaft wird geduldet", so heißt es in Schillers Bestimmungen, und lesen wir seine Schlußpassagen auf ihre sozialen Konnotationen hin, so ist dort das Idealbild eines Staates oder besser: das einer neuen Gemeinschaft ent-
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worfen, wie Schiller sie sich wünschte - daß dieses Idealbild den tatsächlichen Verhältnissen der Französischen Revolution völlig entgegengesetzt ist, ist für den Leser ebenso selbstverständlich wie das Wissen darum, daß sich dieser neue Entwurf natürlich nur durch Einsichten in das Wesen und die Möglichkeiten der Französischen Revolution entwickeln konnte. Denn Schiller hat die Briefe ja geschrieben, um einer Erkenntnis zu steuern, die zu den unliebsamsten Begleiterscheinungen der Französischen Revolution in der Sicht Schillers gehörte; waren seine Briefe, so hieß es schon in seiner dem Herzog von Augustenburg zugeeigneten "Philosophie des Schönen" am 13. Juli 1793, 46 doch gedacht, um die Nachteile und Unzulänglichkeiten zu erklären, die "das politische Schöpfungswerk, was beynahe alle Geister beschäftigt", begleitet hatten. Schillers Erklärung lautete ebenso einfach wie eindringlich, daß "der Versuch des französischen Volks, sich in seine heiligen Menschenrechte einzusetzen, und eine politische Freiheit zu erringen", schließlich nur "das Unvermögen und die Unwürdigkeit desselben an den Tag gebracht" habe. Die ästhetische Erziehung, so hieß es schon damals, könne allein den "Karakter der Menschheit von seinem tiefen Verfall" wieder emporheben. Unter diesen Prämissen ist also auch der Schluß des 27. Briefes über die ästhetische Erziehung zu lesen. Und dort wird eben, skizzenhaft wenigstens, das Bild einer neuen Gemeinschaft entworfen. "Die ungesellige Begierde muß ihrer Selbstsucht entsagen", so heißt es, 47 und es ist von der Erkenntnis unter dem "offenen Himmel des Gemeinsinns" die Rede: das Eigentum der Schulen sei dort "in ein Gemeingut der ganzen Menschengesellschaft" verwandelt. Das Idealbild könnte schöner nicht ausgemalt sein: "In dem ästhetischen Staate ist alles - auch das dienende Werkzeug ein freyer Bürger, der mit dem edelsten gleiche Rechte hat". In ihm ist "das Ideal der Gleichheit erfüllt, welches der Schwärmer so gern auch dem Wesen nach realisiert sehen möchte". Es folgt die Schlußbemerkung, daß dieser "Staat des schönen Scheins" der Tat nach nur "in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln" zu finden sein möge, "wo nicht die geistlose Nachahmung fremder Sitten, sondern eigne schöne Natur das Betragen lenkt, wo der Mensch durch die verwickeltsten Verhältnisse mit kühner Einfalt und ruhiger Unschuld geht, und weder nöthig hat, fremde Freyheit zu kränken, um die seinige zu behaupten, noch seine Würde wegzuwerfen, um Anmuth zu zeigen". 48 Die verwickeltsten Verhältnisse: das ist von Schiller vermutlich nicht als Hinweis auf ein reales Ereignis gedacht gewesen. Aber nirgendwo anders könnten die verwickeltsten Verhältnisse besser illustriert sein als in dem Zusammenbruch der irdischen und kirchlichen Ordnung nach dem Erdbeben in Chili. Doch auch wenn man den Hinweis auf "Würdigkeit und Anmut" in Kleists Novelle nicht auf den Schluß der Briefe über die ästhetische Erzie-
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hung beziehen will - die Parallelität zwischen dem bei Schiller entworfenen Staat des schönen Scheins unter dem "offenen Himmel des Gemeinsinns" und der Darstellung jener "schönsten Nacht" ist auffällig. Aber Kleist geht einen entscheidenden Schritt weiter als Schiller und jene Verherrlicher idealer Menschheitszustände, wie sie als Folge der Französischen Revolution erhofft worden waren. Kleist zeigt nichts Geringeres als das trostlose Versinken in vorrevolutionäre Zustände, und in der Verfolgungswut des "fanatischen Mordknechts" werden auch die Ideale der Französischen Revolution hingerichtet: sie sind nicht realisierbar, weil die Macht der Verhältnisse, der staatlichen und kirchlichen Institutionen ihnen entgegensteht. Hier spätestens sollte deutlich werden, daß auch jener Satz Kleists "Indessen war die schönste Nacht herabgestiegen, voll wundermilden Duftes, so silberglänzend und still, wie nur ein Dichter davon träumen mag", ernstgenommen und genau gelesen zu werden verdient. Gewiß berichtet Kleist von dem Menschenlager in jenem Tal so, als habe es tatsächlich diese Gemeinschaft, als habe es "Vertraulichkeit und Güte" in einem fast überirdischen Ausmaß gegeben. Aber es ist genau besehen tatsächlich nicht mehr als der Traum eines Dichters, von dem nur eines sicher ist: daß seine Vision sich nicht erfüllen kann. Sie wird darum nicht unwirklich oder widerlegt. Die Wirklichkeit kann Träume nie widerlegen, aber die Träume können auch nicht Wirklichkeit werden; jedenfalls nicht in einer Generation, der die hier Versammelten angehören. Von hier aus mag es nicht ohne tieferen Sinn sein, daß der kleine Fremdling als Kind der Liebe allein von allen Verdächtigten und Angeklagten mit dem Leben davonkommt. In dessen Generation, so mochte Kleist gehofft haben, konnte jener Traum nicht nur noch einmal geträumt, sondern vielleicht auch verwirklicht werden. Überlegungen wie diese führen über den Text hinaus; doch es wäre voreilig, sie als nicht zur Sache gehörig abzuweisen. Sofern Kleist tatsächlich hier eine Geschichte der Französischen Revolution hat schreiben wollen, so hat er die Geschichte ihres Scheiterns dargestellt; und gescheiterte Revolutionen pflegen von schrecklicheren Folgen begleitet zu sein als jene, die gar nicht stattgefunden haben. August von Hennings fragte 1799: "Hat die französische Revolution der Sache der Freiheit genützt?" 49 Er meinte damals, daß "bei diesem Zustande der Sachen" eine "Disquisition" über diese Frage "noch sehr zu früh sein" möchte. Bei Kleist war sie fast schon zu spät; seine Antwort fiel in dieser Geschichte negativ aus, wenngleich er erzählerisch nicht geleugnet hat, daß sie der Menschheit genützt hat - da sie doch eben jenen Traum des Dichters ermöglicht hatte, der am Ende wichtiger war als die Überwältigung dieses Traumes durch die Wirklichkeit der Restauration. Und Hennings dürfte im Sinne Kleists gesprochen haben, als er schrieb: "Es
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ist zu allgemein als wahr vorausgesetzt, daß jählings Revolutionen nichts taugen, weil sie eine allgemeine Erschütterung verursachen, von der sich die Menschheit erst in mehreren Generationen wieder erholen kann". 50
Kleists eigene Berichte über seine nachrevolutionären Erlebnisse sind alles andere als von erfreulicher Zustimmung durchtränkt. A m 18. Juli 1801 schrieb er an Karoline von Schlieben über seine Erfahrungen mit dem nachrevolutionären Paris: "Seit 8 Tagen sind wir nun hier in Paris, und wenn ich Ihnen alles schreiben wollte, was ich in diesen Tagen sah und hörte und dachte und empfand, so würde das Papier nicht hinreichen, das auf meinem Tische liegt. Ich habe dem 14. Juli, dem Jahrestage der Zerstörung der Bastille beigewohnt, an welchem zugleich das Fest der wiedererrungenen Freiheit und das Friedensfest gefeiert ward. Wie solche Tage würdig begangen werden könnten, weiß ich nicht bestimmt; doch dies weiß ich, daß sie fast nicht unwürdiger begangen werden können, als dieser. Nicht als ob es an Obelisken und Triumphbogen und Dekorationen, und Illuminationen, und Feuerwerken und Luftbällen und Kanonaden gefehlt hätte, o behüte. Aber keine von allen Anstalten erinnerte an die Hauptgedanken, die Absicht, den Geist des Volks durch eine bis zum Ekel gehäufte Menge von Vergnügen zu zerstreuen, war überall herrschend f...]".51 Und fast gleichlautend im Ton schrieb er an Wilhelmine von Zenge am 15. August 1801: "Wohin das Schicksal diese Nation führen wird - ? Gott weiß es. Sie ist reifer zum Untergange als irgend eine andere europäische Nation. Zuweilen, wenn ich die Bibliotheken ansehe, wo in prächtigen Sälen und in prächtigen Bänden die Werke Rousseaus, Helvetius', Voltaires stehen, so denke ich, was haben sie genutzt? Hat ein einziges seinen Zweck erreicht? Haben sie das Rad aufhalten können, das unaufhaltsam stürzend seinem Abgrund entgegeneilt? [...] Warum verschwendet der Staat Millionen an alle diese Anstalten zur Ausbreitung der Gelehrsamkeit? Ist es ihm um Wahrheit zu tun? Dem Staate? Ein Staat kennt keinen andern Vorteil, als den er nach Prozenten berechnen kann". 52 Etwas anderes als das, was er hatte sehen wollen, hatte er seiner introvertierten Gemütsverfassung wegen auch gar nicht sehen können, schreibt Claude David 5 3 - "Dazu kommt der ihm eigene Hang, das ihm Gebotene zu schmähen und in die Vergangenheit oder in die Zukunft zu fliehen." Aber wie dem auch sei: Kleists Kommentare sind deutlich genug; sie entsprechen nur zu genau der späteren Erzählung vom Erdbeben in Chili und den dort beschriebenen Folgen der Revolution. U m eine kleine Ewigkeit ist dieser Bericht
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entfernt von dem, was Kleist in "Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" über den "Umsturz der Ordnung der Dinge" berichtete: daß nämlich Mirabeau den königlichen Zeremonienmeister mit einem "Donnerkeil" abfertigte, als er ihm zu verstehen gab, daß die Stände die Repräsentanten der Nation seien, nicht hingegen der König, und als er nach dieser Erklärung unverzüglich vorschlug, 1) sich sogleich als Nationalversammlung, und 2) als unverletzlich, zu konstituieren". 54 Andere Schriften Kleists legen es auf ihre Weise nahe, in der menschlichen Lebensgemeinschaft in jenem nachtdunklen Tal nicht eine beliebige Gesellschaft zu sehen, sondern "die Deutschen". Zwei Jahre nach der Geschichte vom "Erdbeben in Chili" hat Kleist den "Katechismus der Deutschen" nach der Schlacht von Regensburg niedergeschrieben, also vermutlich zwischen dem 23. April 1809 und dem 22. Mai 1809, dem österreichischen Sieg bei Aspern. Die Gemeinschaft der menschlich gewordenen Menschen ist zwar real, enthüllt sich letztlich aber doch nur als Vision, da sie von der wirklichen Zeit so grauenhaft überrollt wird. Dem entspricht in gewissem Sinne das Doppelspiel mit dem Begriff Deutschland, das im "Katechismus" getrieben wird: dieses Deutschland existiert auf der Karte, aber nicht in Wirklichkeit, oder vielmehr: noch nicht in Wirklichkeit. Es würde zu weit führen, die Gestalt Napoleons im "Erdbeben in Chili" zu suchen oder wiederfinden zu wollen - allegorisches Erzählen heißt nicht, daß für alles und jedes ein Äquivalent in der wirklichen Welt vorhanden sein muß. Dennoch laufen untergründige Verbindungsfäden vom "Katechismus der Deutschen" zu Kleists Erzählung hin. Am Schluß des "Katechismus" werden die gerühmt, die ihrer Freiheit wegen sterben, und jene verdammt, die als Sklaven leben: Autonomieüberlegungen auch hier, wie in Kleists Erzählung. Kleists bedenkliche Kritik an den Franzosen spricht sich nicht weniger deutlich im "Lehrbuch der französischen Journalistik" aus, das die Kunst lehrt, "das Volk glauben zu machen, was die Regierung für gut findet". 5 5 Kleists besondere Kritik gilt den Lügen und Unterstellungen der französischen Presse; verborgene Beziehungen mögen zur Predigt vor der Ermordung der Unschuldigen in Kleists "Erdbeben in Chili" hinüberlaufen. So wie der satirische "Brief eines rheinbündischen Offiziers an seinen Freund" und der "Brief eines jungen märkischen Landfräuleins an ihren Onkel" von Kleists Franzosenverachtung zeugen, die immer eine Verachtung der gegenwärtigen Zustände und Verhältnisse ist, so die Einleitung zur Zeitschrift "Germania" für seinen ebenso unheimlichen wie ungebrochenen Patriotismus. "Diese Zeitschrift soll der erste Atemzug der deutschen Freiheit sein. Sie soll alles aussprechen was, während der drei letzten, unter dem Druck der Franzosen verseufzten, Jahre, in den Brüsten wackerer Deutscher, hat verschwiegen bleiben müssen: alle Besorgnis, alle Hoffnung, alles Elend und
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alles Glück". 56 Von hier aus wird die Nähe Kleistscher politischer Überlegungen zum "Erdbeben in Chili" noch deutlicher. "Jetzt, oder niemals, ist es Zeit, den Deutschen zu sagen, was sie ihrerseits zu tun haben", 57 schreibt Kleist in seiner patriotischen Proklamation. Konnten nicht hellhörige Ohren auch das "Erdbeben in Chili" als Aufruf lesen, gegen die so fatal gewordenen Zustände anzugehen? In "Was gilt es in diesem Kriege?" heißt es: "Eine Gemeinschaft gilt es, deren Wurzeln tausendästig, einer Eiche gleich, in den Boden der Zeit eingreifen; deren Wipfel, Tugend und Sittlichkeit überschattend, an den silbernen Saum der Wolken rührt; deren Dasein durch das Dritteil eines Erdalters geheiligt worden ist. Eine Gemeinschaft, die unbekannt mit dem Geist der Herrschsucht und der Eroberung, des Daseins und der Duldung so würdig ist, wie irgend eine; die ihren Ruhm nicht einmal denken kann, sie müßte denn den Ruhm zugleich und das Heil aller übrigen denken, die den Erdkreis bewohnen; deren ausgelassenster und ungeheuerster Gedanke noch, von Dichtern und Weisen, auf Flügeln der Einbildung erschwungen, Unterwerfung unter eine Weltregierung ist, die, in freier Wahl, von der Gesamtheit aller Brüdernationen, gesetzt wäre. Eine Gemeinschaft gilt es, deren Wahrhaftigkeit und Offenherzigkeit, gegen Freund und Feind gleich unerschütterlich geübt" 58 - so geht es noch weiter, und es fällt nicht allzu schwer, diese hier theoretisch so hochidealisierte Gemeinschaft mit jener in Verbindung zu bringen, von der Kleists Erzählung handelt. Aber auch wenn dem nicht so sein sollte: die gedankliche Nähe der kleinen Schriften, vor allem der politischen, zu einem politisch und zeitkritisch gedeuteten "Erdbeben in Chili" ist offenkundig. Bezieht man diese Schriften auf die Erzählung, so bekommt sie sogar noch einen besonderen Akzent: nicht die Wirkungsgeschichte der Französischen Revolution ganz allgemein wird in Kleists Novelle geschrieben, sondern die französische Wirkungsgeschichte der Französischen Revolution, während die kleine Lebensgemeinschaft in jenem Tal einerseits zwar ein Wunschbild bleibt, andererseits aber wenigstens entfernt auch ein Wunschbild eines vereinten und freien Deutschland sein könnte. Wäre im Ernst denkbar, daß Kleist eine Geschichte eines historisch bezeugten Erdbebens schreibt, aus keinem anderen Interesse heraus als aus dem an der sonderbaren Liebesgeschichte, während er gleichzeitig in seinen politischen Schriften fast überdeutlich zum Zeitgeschehen Stellung nimmt und mit Franzosenkritik ebensowenig wie mit zukünftigen Deutschlandbildern zurückhält? Im übrigen findet sich auch unter den kleinen Schriften noch eine weitere Attacke auf Schiller und seine ästhetisch-politische Weltkonzeption. Im Oktober 1810 schreibt Kleist in seinen "Betrachtungen über den Weltlauf': "Es gibt Leute, die sich die Epochen, in welchen die Bildung einer Nation fortschreitet, in einer gar wunderlichen Ordnung vorstel-
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len. Sie bilden sich ein, daß ein Volk zuerst in tierischer Rohheit und Wildheit daniederläge; daß man nach Verlauf einiger Zeit, das Bedürfnis einer Sittenverbesserung empfinden, und somit die Wissenschaft von der Tugend aufstellen müsse; daß man, um den Lehren derselben Eingang zu verschaffen, daran denken würde, sie in schönen Beispielen zu versinnlichen, und daß somit die Ästhetik erfunden werden würde: daß man nunmehr, nach den Vorschriften derselben, schöne Versinnlichungen verfertigen, und somit die Kunst selbst ihren Ursprung nehmen würde: und daß vermittelst der Kunst endlich das Volk auf die höchste Stufe menschlicher Kultur hinaufgeführt werden würde". 59 Kann man sich eine mokantere, boshaftere, letztlich aber auch treffendere Charakteristik der Schillerschen Schönheitslehre und seiner politischen Anwendbarkeit vorstellen als durch diese Darstellung? Daß man durch die Kunst ein Volk auf die höchste Stufe menschlicher Kultur hinaufführen könne, das war Schillers großartiger und auch anfechtbarer Glaube; daß Kleist ihn nicht teilt, nicht teilen kann, zeigt das "Erdbeben in Chili" gerade dort, wo das Hinaufführen des Volkes auf die höchste Stufe menschlicher Kultur so gräßlich ad absurdum geführt wird. Auch so gesehen mußte Kleist allen Anlaß haben, Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung als fatal zu empfinden. Und daß man vom Baum der Erkenntnis essen müsse, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen, wie es die Schrift über das Marionettentheater als Resümee festhält, ist durchaus nicht Schillers Erkenntnisideal. Denn in den Stand der Unschuld zurückzufallen: das scheint widersinnig und gar nicht möglich zu sein, da der Weg dahin, um eine vielzitierte Formel zu gebrauchen, von Arkadien nach Elysium führt, niemals aber von Arkadien über das Bewußtsein und die Erkenntnis wieder nach Arkadien zurück. Hier deuten sich tiefgreifende Differenzen an - daß sich diese Differenzen auch auf den politischen Bereich ausdehnen, ist alles andere als verwunderlich.
Im Grunde entscheidet über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit einer derartig politischen Interpretation des "Erdbeben in Chili" die Bereitschaft, bei Kleist das zu erkennen, was auch andere Autoren bis hin zur unauffälligen Perfektion geübt haben: ein allegorisches Erzählen. Eichendorff hat es nicht nur in seiner Geschichte vom Schloß Dürande praktiziert, sondern auch in seinen Satiren, aber bereits ebenfalls in seinem Roman, der unmittelbar nach dem Tode Kleists fertiggestellt worden ist: in "Ahnung und Gegenwart". Schon der Romaneingang mit dem Bild des Flusses, mit dem Kreuz auf dem Felsen im prächtigen Sonnenaufgang, dem der Schluß des Romans so genau
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entspricht, deutet auf die allegorische Erzählkunst Eichendorffs hin, das heißt: auf den eminent deutlichen Zeitbezug, den auch seine scheinbar romantischsten Dichtungen haben. Allegorisch erzählt Chamisso, ohne allegorische Deutung kommt auch Brentanos Erzählen nicht aus. Schon Novalis verfährt streckenweise im "Heinrich von Ofterdingen" so, und Kleist tut es im übrigen ja auch in seiner Erzählung vom Marionettentheater. Allegorisches Erzählen heißt ein Erzählen mit Absichten, mit intellektuellem Einsatz, mit Wertvorstellungen im Hintergrund, die verteidigt werden müssen, oft in dieser Zeit auch: mit Gegenwartskritik. Angesichts der zahlreichen metaphysischen Interpretationen der Kleistschen Novelle schien es geboten, ihren verborgenen und durch die Metaphorik, die Kleist genutzt hat, so eindeutigen politischen Gehalt vorzustellen - und sei es auch nur versuchsweise. Rudolf Vierhaus hat in seiner Studie über "Kleist und die Krise des preußischen Staates um 1800" 60 das prekäre, ambivalente Verhältnis Kleists zu Preußen herausgestellt, eine Beziehung geschildert, die nicht frei ist von Paradoxien, von Hoffnungen und Enttäuschungen. Es darf als gesichert gelten, daß die schwierige Lage Preußens gewissermaßen einen direkten Widerhall in Kleist fand und daß die Dissonanzen und Schwierigkeiten in seinem eigenen Verhältnis zu Preußen solche Preußens in bezug auf seine eigene Identität sind. Es gibt also etwas wie eine geheime Sympathie, eine untergründige Wahlverwandtschaft zwischen den Zuständen der Zeit, denen des Preußenstaates einerseits und den Hoffnungen und Verzweiflungen Kleists selbst andererseits. Es liegt nicht allzu fern, gerade die Ubersteigerungen in der Geschichte vom Erdbeben in Chili auch auf das dissonante und hin und herschwankende Verhältnis Kleists zu Preußen zu übertragen. Kleists begeisterte Zustimmung zu Gneisenaus Ideen, in Verbindung mit Rußland einen Volksaufstand zu wagen, seine tiefe Enttäuschung am Ende seines Lebens: das alles paßt in die Atmosphäre und auch in die Erzählrhythmik der Kleistschen Geschichte vom Erdbeben in Chili. Z u m allegorischen Erzählen gehört, daß nicht direkte Gegenbilder der Wirklichkeit in der Literatur zu finden sind und umgekehrt: daß die Literatur nicht direkt und unverändert die Wirklichkeit projiziert. Im frühen 19. Jahrhundert ist das allegorische Erzählen vielmehr dadurch gekennzeichnet, daß es übertreibt, in Extreme führt, gelegentlich auch miniaturisiert, aber niemals etwas in Lebensgröße abbildet. Auch Kleist hat geradezu maßlos übertrieben, als er, gestützt freilich auf die Metaphorik der Zeit, die Französische Revolution als Erdbeben schilderte; noch maßloser hat er die schöne Nacht seines Dichtertraumes beschrieben; maßlos war er aber auch in seiner Darstellung des schrecklichen Endes. Es mag sein, daß die Theodizeefrage Kleist in der Geschichte ebenfalls beschäftigt hat, wie Susanne Ledanff in ihrem Aufsatz über
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"Kleist und die beste aller Welten" es dargestellt hat.
61
Aber die Naturkata-
strophe, das Verderben so vieler Tausender von Menschen erschütterte nicht nur das philosophische Gleichgewicht Kleists. Er ist seinen eigenen Jahrzehnten und deren Problemen viel tiefer verhaftet als dem aufgeklärten 18. Jahrhundert. Kleists metaphysische Spekulationen über Für und Wider der "besten aller Welten" mögen im Hintergrund stehen; sie widersprechen nicht der hier versuchten Deutung. Aber im Vordergrund steht Dringlicheres, nicht das Lissaboner Ereignis, sondern das französische und seine Folgen. Sie zeigten Kleist nur zu deutlich, daß die Menschheitsträume der Aufklärung nach der Revolution nicht verwirklicht waren. "Damit wird die Kritik Rousseaus an der absolutistischen Gesellschaft von Kleist auch nach der bürgerlichen Revolution als eine Kritik an der Gesellschaft schlechthin beibehalten", meinte Siegfried Streller. 62 Aber Kleist kritisiert mehr: nämlich die Bereitschaft vieler, den Institutionen des Absolutismus -wieder zu folgen. Streller hält noch eine Erklärung besserer Art für Kleists Kritik bereit, wenn er feststellt: "Da er die Triebkräfte des gesellschaftlichen Prozesses nicht durchschaut, hält er sich an die negativen, unmenschlichen Seiten der Klassengesellschaft, die nun mit der ungehemmten Entwicklung des Kapitalismus unverhüllt offenbar werden". Hätte Kleist nur Marx gelesen! Dem genauen Leser wird freilich von selbst auffallen, daß von einer solchen Klassengesellschaft nirgendwo in Kleists Erzählung die Rede ist - macht er doch, wenn überhaupt, menschliche Eigenschaften letztlich für das Scheitern des Befreiungsversuchs von 1789 verantwortlich - die Mordbrennergelüste in Fanatikern, die sich als mächtiger erwiesen denn die Tapferkeit eines Einzelnen, mochte der auch wie ein "göttlicher Held" kämpfen. Über die Auswirkung der Französischen Revolution auf das Denken und das dichterische Werk Kleists kann kein Zweifel bestehen. Mit Recht schrieb Lawrence Ryan, daß "die Möglichkeit und zugleich Bedrohlichkeit eines gesellschaftlichen Umsturzes, wie sie ihm die Französische Revolution vor Augen führte, zu der Rechtsproblematik, die das spätere Werk beherrscht, den Grund gelegt habe". 63 Sollte nicht auch anderes in den Strahlungsbereich der Französischen Revolution gehören? Am Ende spricht vieles dafür, hinter dem "Erdbeben in Chili" eine Stellungnahme Kleists zur Geschichte seiner Zeit und zu dem wichtigsten Ereignis dieser Geschichte zu sehen. Wer die Naturkatastrophe nur als Naturkatastrophe betrachtet, hat den allegorischen Charakter der Erdbebenschilderung nicht erkannt. Das eigentliche Erdbeben fand in Paris statt, im Jahre 1789.64
120
Anmerkungen
Heinrich von Kleists Verhältnis zur Französischen Revolution ist nie Gegenstand einer eigenen größeren Darstellung gewesen; sein Name taucht in der Bibliographie zum Thema "Französische Revolution und deutsche Literatur" nicht auf. Das schließt nicht aus, daß gelegentlich in Kleist-Darstellungen von seinem Verhältnis zur Französischen Revolution die R e d e ist. Einzelne Hinweise auf Kleists Beziehung zu Frankreich bei Heinz Ide: Kleist im Niemandsland? In: Kleist und die Gesellschaft, hrsg. von Walter Müller-Seidel, Berlin 1965, S. 33-66. Dort ist das Erbeben letztlich aber nur eine Chiffre für das Zeitbewußtsein Kleists und ein Bild für eine verdorbene Welt, die "unter einem Gottesgericht in sich zusammenstürzt". Dem ist in der neuesten Darstellung zu Heinrich von Kleist widersprochen worden, nämlich von Thomas Wichmann: Heinrich von Kleist, Stuttgart 1988, S. 96-104, bes. S. 97f. Für Wichmann beschreibt die Novelle einen revolutionären Zustand, "eine Masse im Aufruhr", wobei wenig zur Sache tue, "ob in der Revolution oder im Volkskrieg" (S. 103). Wenn Wichmann feststellt: "Der erste Teil der Novelle schildert also die Situation zweier Opfer einer Gesellschaft, die aufgrund deren unmenschlicher Gesetze, wobei Kleist nicht übertreibt, verurteilt worden sind. Eine Revolution läßt nun in der ganzen Breite ihrer Metaphorik die Herrschaftsinstanzen dieser Gesellschaft der Reihe nach untergehen, nichts ist ausgelassen [...]", dann wird hier allerdings zu einem allgemeinen revolutionären Ereignis, was doch wohl überzeugender als erzählerischer Bericht über das revolutionäre Geschehen in Europa im ausgehenden 18. Jahrhundert gedeutet werden kann. Hinzuweisen ist noch auf die Arbeit von Werner Hamacher: Das Beben der Darstellung, in: Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists "Das Erdbeben in Chili", hrsg. von David E. Wellbery, München 1985, S. 149173.
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Thomas Mann: Heinrich von Kleist und seine Erzählungen, in: Nachlese. Prosa 19511955, F r a n k f u r t / M . 1956, S. 19 (Stockholmer Gesamtausgabe der Werke von Thomas Mann). Ebd., S. 23. Ebd. Ebd., S. 24. So Friedrich A. Kittler: Ein Erdbeben in Chili und Preußen, in: Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists Das Erdbeben in Chili, hrsg. von David E. Wellbery, München 1985, S. 32. Kittlers "Diskursanalyse" erklärt Deutungen ohnehin für obsolet: "Was hermeneutischen Interpretationen am Erdbeben in Chili ein Rätsel bleiben muß, ist einfach die Gewalt seines Geschriebenseins selber. Diskursanalysen dagegen brauchen nicht zu deuten" (S. 38). H e r m a n n Pongs: Das Bild in der Dichtung. II. Band: Voruntersuchungen zum Symbol, Marburg 1969, S. 152. Ähnlich auch S. 106f. Friedrich Gundolf: Heinrich von Kleist, Berlin 1922, S. 166. So Benno von Wiese: Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Interpretationen II, Düsseldorf 1962, S. 70. So John M. Ellis: Narration in the German Novelle. Theory and Interpretation, Cambridge University Press, London 1974, S. 73. Walter Silz: Das Erdbeben in Chili, in: Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays, hrsg. v. Walter Müller-Seidel, Darmstadt 1973, S. 351-366 (zuerst in: Monatshefte für Deutschen Unterricht, Bd. 53,1961, S. 229-238). Günter Blöcker: Heinrich von Kleist oder Das absolute Ich, Berlin 2 1960, S. 137. Ilse Graham: Heinrich von Kleist. Word into Flesh: A Poet's Quest for the Symbol, Berlin/New York 1977, S. 167. Walter Müller-Seidel: Versehen und Erkennen. Eine Studie über Heinrich von Kleist, Köln/Wien 3 1971, S. 96. So Hans M. Wolff: Heinrich von Kleist. Die Geschichte seines Schaffens, University of California Press, Berkeley/Los Angeles 1954, S. 42.
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Harry Steinhauer: Heinrich von Kleists Das Erdbeben in Chili, in: Goethezeit. Studien zur Erkenntnis und Rezeption Goethes und seiner Zeitgenossen. Festschrift für Stuart Atkins, hrsg. v. Gerhart Hoffmeister, Bern/München 1981, S. 281-300, hier S. 291. Es ist die gründlichste Studie zu Kleists Erzählung. Brief an Wilhelmine von Zenge, 15. August 1801, in: Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. v. Helmut Sembdner, München 1984, Bd. 2, S. 680ff. Brief an Karoline von Schlieben, 18. Juli 1801; ebd., S. 664f. Steinhauer, a. a. O., S. 294. Ebd., S. 296f. Kleist, Werke, Bd. 2, S. 345. Steinhauer, a. a. O., S. 298. Steinhauer, a. a. O., S. 294. Vgl. Steinhauer, a. a. O., S. 300. Steinhauer, a. a. O., S. 291. Peter Horn: Heinrich von Kleists Erzählungen. Eine Einführung, Königstein/Ts. 1978, S. 114. Ebd., S. 128. Johannes Klein: Kleists Erdbeben in Chili, in: Der Deutschunterricht 1956, Heft 3, S. 511, hier: S. 9. Kleist, Werke, Bd. 2, S. 152. Wilhelm Heinse: Sämmtliche Werke, hrsg. v. Carl Schüddekopf, Bd. 8/II: Aphorismen: Von der italienischen Reise. Aus Düsseldorf. Aus Mainz. Aus Düsseldorf, hrsg. von Albert Leitzmann, Leipzig 1925, S. 426. Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von Eduard Berend, Bd. 1/12: Freiheits-Büchlein. Levana. Ergänzungsblatt zur Levana, Weimar 1937, S. 38. Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hrsg. von Manfred Windfuhr, Bd. 12/1: Französische Maler. Französische Zustände. Über die französische Bühne, bearbetet von Jean-René Derré und Christiane Giesen, Hamburg 1980, S. 275. Ebd., Bd. 11: Ludwig Börne. Eine Denkschrift und Kleinere politische Schriften, bearbeitet von Helmut Koopmann, Hamburg 1978, S. 213. Ähnlich in der französischen Fassung; ebd., S. 194. Heinrich Heine: Säkularausgabe, Bd. 20: Briefe 1815-1831. Bearbeiter Fritz H. Eisner, Berlin/Paris 1970, S. 421f. Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hrsg. von Manfred Windfuhr, Bd. 8/1: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Die Romantische Schule, bearbeitet von Manfred Windfuhr, Hamburg 1979, S. 118. Ebd., S. 118f. Joseph Freiherr von Eichendorff: Romane. Novellen. Märchen. Erlebtes, hrsg. von Gerhart Baumann in Verbindung mit Siegfried Grosse, Stuttgart (1953), S. 849. Joseph Freiherr von Eichendorff: Gedichte. Epen. Dramen, hrsg. v. Gerhart Baumann in Verbindung mit Siegfried Grosse, Stuttgart (1957), S. 459. Joseph Görres: Gesammelte Schriften, hrsg. im Auftrage der Görres-Gcscllschaft von Wilhelm Schellberg, Bd. 13: Politische Schriften (1817-1822), hrsg. von Günther Wohlers, Köln 1929, S. lOlf. Joseph Freiherr von Eichendorff: Romane. Novellen. Märchen. Erlebtes, a. a. O., S. 1034. Kleist, Werke, Bd. 2, S. 158. Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe, a. a. O., Bd. 11, S. 52. Helmut Sembdner, in: Kleist, Werke, Bd. 2, S. 902f. Schillers Werke, Nationalausgabe, 20. Bd.: Philosophische Schriften. 1. Teil. Unter Mitwirkung von Helmut Koopmann hrsg. v. Benno von Wiese, Weimar 1962, S. 412. Ebd., S. 263. Ebd., S. 282. Schillers Briefe, hrsg. von Fritz Jonas, Stuttgart u. a. o. J., 3. Bd., S. 330. Schillers Werke, Nationalausgabe, 20. Bd, S. 411. Ebd., S. 412. August von Hennings: Annalen der leidenden Menschheit. In zwanglosen Heften, 6, 1799, S. 88ff. Ebd.
122 51
Kleist, W e r k e , Bd.2, S. 664.
52
Ebd., S. 681.
53
Claude David: Kleist und Frankreich, in: Kleist und Frankreich. M i t Beiträgen von Claude David, W o l f g a n g Wittkowski, Lawrence Ryan, hrsg. von Walter Müller-Seidel, Berlin 1969, S. 9-26, hier S. 16.
54
Kleist, W e r k e , Bd. 2, S. 321.
55
Ebd., S. 361.
56
Ebd., S. 375.
57
Ebd., S. 376.
58
Ebd., S. 378.
59
Ebd., S. 326.
60
In: Kleist-Jahrbuch 1980, Berlin 1982, S. 9-33.
61
In: Kleist-Jahrbuch 1986, Berlin 1986, S. 125-155.
62
Siegfried Streller: Heinrich von Kleist und Jean-Jacques Rousseau, in: Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays, hrsg. von Walter Müller-Seidel, a. a. O., S. 635-671, hier S. 640. (Zuerst in: Weimarer Beiträge, Bd. 8,1962, S. 541-566).
63
Lawrence Ryan: Zur Kritik der Gewalt bei Heinrich von Kleist, in: Kleist-Jahrbuch
64
Soweit ich sehe, hat neben Thomas Wichmann allein Helmut J. Schneider in seiner
1981/82, Berlin 1983, S. 349-357, hier S. 357. "sozialgeschichtlichen Werkinterpretation" auf die mögliche Beziehung der Novelle zur Französischen Revolution aufmerksam gemacht. Schneider schreibt: "Wenig beachtet worden ist von der Forschung ein möglicher Bezug der dargestellten Katastrophe zur Französischen Revolution. Für ihn gibt es auch kaum einen direkten gegenständlichen Hinweis. U m so wichtiger scheint mir die innere Übereinstimmung. Sie besteht im Zusammenfall
von
Zerstörung
und
Neubeginn
und
dem
Bewußtseinsschock
der
ruckartigen Zeitbeschleunigung, die das Erleben der Ereignisse von 1789 und der Jahre danach charakterisieren und seitdem als Charakteristikum der modernen Erfahrung von Geschichte gelten kann". D i e vorliegende Analyse versuchte, mehr als nur eine indirekte
innere
Ubereinstimmung
aufzuzeigen.
Die
Arbeit
Schneiders,
"Sozialgeschichtliche Werkinterpretation. D e r Zusammensturz des Allgemeinen", in: Positionen der Literaturwissenschaft, a. a. O., S. 110-129, bes. S. 115f.
V. Weltenbrand hinterm Berg Eduard Mörike, Der Feuerreiter
Mörikes berühmte Ballade gilt seit jeher als naturmythisches Gedicht, das Dämonisches, Magisches, Elementares beschreibt. Selten ist sich die Forschung, mit nur geringer Variationsbreite, über einen Text so einig gewesen. Diese Exegese ist dabei alles andere als modern; schon Friedrich Theodor Vischer hat Mörikes Ballade ein Gedicht genannt, "worin der angstvoll wilde Geist der Feuersbrunst in einem wahnsinnigen Feuerreiter personifiziert ist". 1 Der wahnsinnige Feuerreiter geistert auch sonst durch die Deutungen hindurch. So hat man von der "elementar-symbolischen Konzeption" gesprochen; 2 Feuerreiter, Jammerglöcklein und Feuer bildeten eine Art "magische Einheit", 3 die für die dämonische Ausstaffierung des Gedichtes völlig ausreiche. "Der Vorgang bleibt fragmentarisch und dunkel. In nur drei Visionen leuchtet ein dämonisch-unglückliches Menschenleben auf', so hat ein anderer Interpret dieses Gedicht dargestellt. 4 Wer ganz sicher gehen will, bettet Mörikes Gedicht ein in den zeitgenössischen Glauben an Wunder, Geheimnisvolles, Somnambules. So heißt es einmal: "Man darf sogar den Versuch machen, den Feuerreiter unmittelbar aus der zeitgenössischen Theorie von den übernatürlichen Kräften des Menschen zu verstehen": 5 Romantischer Geisterspuk, ein dämonisches Schicksal, allerhand Dunkelheiten, die dem Gedicht aber nichts von seinem Reiz nehmen, sondern ihn eher noch verstärken. Abgründiges und Wahnsinniges, der Tod und die Unabweisbarkeit seiner Attraktion, das alles scheint dieses Gedicht zu prägen und hat es in der Wirkungsgeschichte Mörikes auch tatsächlich geprägt. Die Versuchung sei groß, so kann man lesen, 6 "den Feuerreiter und sein Schicksal mythischsinnbildlich zu nehmen. Sie geht von der Form der Ballade aus. Mörike hat das Schicksal des Feuerreiters fast ganz hineinkomponiert in den zeitlichen Verlauf einer einzigen Feuersbrunst, die Feuerglocke durchtönt den ganzen Vorgang". In der Tat gibt es genug aus der romantischen Aura, was den Leser das Gruseln lehren kann. "Nicht geheuer muß es sein", so meldet schon die dritte Zeile der Ballade, und Mörike tut alles, diese Wirkung des Nichtgeheuren in den folgenden Strophen noch zu verstärken. Zur magisch-dämonischen Aura
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der Ballade gehört, daß der Feuerreiter gewissermaßen antizipiert, was tatsächlich jeweils erst später einzutreten pflegt; er weist voraus, er wittert das künftige Feuer, und taucht er auf, so weiß jeder, was die Feuerglocke geschlagen hat. Weil dem so ist und weil dem immer so ist, kommt dem Ausritt des Feuerreiters denn auch nicht die Qualität einer einmaligen Handlung zu; vielmehr pflegt dergleichen, wie wir hören, öfters zu geschehen. Aber diesmal - und das gibt dem Gedicht seine besondere Zuspitzung - ist es das letzte Mal, daß er derart das Feuer verkündet; der Feuerreiter, oft auf einem Weg ohne Rückkehr durch die Straßen rennend, hat sich nun in die Nähe des Elementes begeben, und so grausig schon die Vorgeschichte war - der Bericht über das Ende des Feuerreiters ist noch grausiger, wird er doch tot aufgefunden, als Gerippe "aufrecht an der Kellerwand / Auf der beinern Mähre sitzen": ein Menetekel, nicht zuletzt auch zündelnden Pyromanen vorgehalten mit der alten Lehre, daß der, der sich in Gefahr begibt, darin umzukommen pflegt. Das besonders Gruselige dieser Geschichte macht nun aus, daß es nicht irgendeine Gefahr ist, sondern eben der Untergang im Feuer, und es ist die magische Anziehungskraft dieses Elements, die dem Feuerreiter offenbar nicht die geringste persönliche Entscheidung läßt, sondern ihn zu dem Brand hinzwingt, mag er nun wollen oder nicht. Jedenfalls ist das Feuer nicht nur als Unglück beschrieben, sondern als Ausbruch des
Elementaren
schlechthin, der sich freilich nicht in unmittelbarer gefährdender Nähe, sondern eben "hinterm Berg" ereignet. So kann der Zuschauer, der hier zugleich der balladeske Erzähler ist, das Unheil durchaus noch aus halbwegs sicherer Entfernung betrachten; allerdings ist sie nicht groß genug, um völlig unbesorgt das Gesehene aufzunehmen. Daß es "nicht geheuer" sei, ist nicht nur verbale Zutat des Erzählers, sondern läßt etwas von der unheimlichen Aura spürbar werden, mit der auch der Betrachter und darüber hinaus schließlich selbst der Leser in Berührung kommt. Das Spektakel erhält seinen Höhepunkt durch den Tod des Feuerreiters, der der ganzen spukhaften Laufbahn dieses sonderbaren Feuerpropheten ein für allemal ein Ende setzt: künftig, nach diesem mehr als gewöhnlichen Feuer, wird er nicht mehr erscheinen, und wenn es auch vermessen wäre, anzunehmen, daß es jetzt mit den Feuersbrünsten ein Ende haben werde, so sind sie doch nicht mehr auf derart magische Weise prognostizierbar. So wird mit diesem Feuer erst einmal Schluß mit den Unheimlichkeiten gemacht; niemand ist da, die nächsten Brände zu verkünden; kämen sie tatsächlich, so wären sie eben schlichte Betriebsunfälle, alles andere als dämonische Geschehnisse, das Feuer zur physikalischen Macht heruntergewürdigt, zu einem bestenfalls nur noch amtlich zu registrierenden Ereignis - während hier, in der Geschichte vom Feuerreiter, das Erzählte dem gründlich entgegengesetzt ist. Nicht nur, daß der Feu-
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erreiter den Weg zum Unheil weist; er selbst ist tatsächlich so etwas wie eine Personifikation dieser dämonischen Macht, die im Feuer dann ausbricht wenn er erscheint, entzündet sich ein Brand, der in der Provinzialität der damaligen Welt durchaus schon den Rang eines Weltenbrandes einnehmen konnte. Am Ende aber kommt er im Feuer um, so wie Saturn seine Kinder frißt, und damit ist auch die Geschichte an ein Ende gelangt; der wilden Aufgeregtheit der ersten Strophe entspricht das "Ruhe wohl, / Ruhe wohl, / drunten in der Mühle", mit der ein Friedenszustand wiederhergestellt ist, der, so darf man annehmen, wohl auf längere Zeit erhalten bleiben wird und der die Dämonisierung der Welt, wie sie durch den Feuerreiter und seinen schaurigen Ausritt demonstriert wird, beendet. Die Geschichte vom Feuerreiter ist auch die Geschichte vom Ende des Feuerreiters, und dem Leser wird nahegelegt, sich darüber nicht etwa zu ärgern, weil es nun an weiterem pyrotechnischen Spektakel fehlt, sondern darüber erfreut zu sein: die Ordnung scheint restituiert, und zwar durch nichts anderes als durch das schlichte Verschwinden des Unglücksboten in dem Element, das er selbst personifiziert hat. Eine dämonische, eine dämonisierte Geschichte also; Benno von Wiese hat hier sogar eine "mythische Verkörperung" des Feuers gesehen. 7 Eine ganze Reihe von Mörike-Interpreten hat aus der Ballade ähnliches herausgelesen. Schon Harry Maync hat in seiner Monographie vom "Mangel an Deutlichkeit des Geschehens" gesprochen, 8 aber das durchaus nicht als Nachteil verstanden, sondern hinzugesetzt: "Der Reiz Mörikescher Balladen liegt dennoch weniger im Geschehen als in dem darüber ausgegossenen Stimmungszauber, also im rein Lyrischen". Viel hat Maync zu dieser Ballade nicht zu sagen, er rechnet sie nur zu "einer der gelungensten unter Mörikes Balladen". 9 Nun konnte die naturmagische Deutung sich immer darauf berufen, daß es im Volksglauben etwas ähnliches gab, "das Vorauswissen und Bannen von Feuersbrünsten", wie Benno von Wiese das in seiner Mörike-Darstellung geschrieben hat. 1 0 Von Wiese sieht hier sogar das Dämonische auf zweifache Weise am Werk: "das Dämonische der zauberhaften Bekämpfung und das Dämonische des Elements, das sich am Ende stärker erweist und den Feuerreiter mit zerstört". Es liegt in der Konsequenz einer solchen Deutung, daß das Magische als Stimmung erfahren wird, und auch bei von Wiese geht es "als Stimmung durch das ganze Gedicht hindurch". 11 Am Eingang schon sei "bildhaft mit der roten Mütze" diese Stimmung evoziert. Ein Mythos des Feuers also, der Feuerreiter letztlich "der gespensterhafte Doppelgänger des Feuers", "Dämonen-Wirklichkeit", die Faszination des Elementaren, das in Worte gebannte Spukhafte einer Erfahrung, die gewiß nicht zu den Alltagserfahrungen der damaligen Welt gehörte. In der Tat muß vieles undeut-
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lieh sein, denn nur so bleibt die Stimmung gewahrt; der Reiz des Gedichtes besteht aus einer solchen Sicht in der Berührung mit dem Nichtgeheuren, in dem Durchbrechen der biedermeierlichen Grenzen, die sonst vor dem Geheimnisvollen und Gefährlichen aufgerichtet sind. Mörike, vom Ungeheuren affiziert, scheint dennoch die nötige Distanz zu dem Unwesen zu wahren; es ist das Grauen durch die Fenster der bürgerlichen Stube gesehen, und wenn es auch zur poetischen Teilnahme auffordert, so doch zur sehr bedachten, distanzierten und überlegenen. Letztlich offenbart sich das Magische denn auch nur als "Stimmung", und mag der Leser auch ein wenig schaurig angerührt werden - er erlebt Ungeheures, Ungeheuerliches aus sicherer Entfernung heraus; er erfährt es nachfühlend als einen tollen Feuerzauber, der Unheimliches mit sich führt, aber es bleibt beim Gefühl des Schauerlichen; wirklich bedrohlich ist es am Ende nicht. Doch kommt tatsächlich das Elementare hier zur Sprache? War das Ganze ein eindrucksvoller, aber letztlich eben doch auch wieder nur momentaner Protest gegen den Rationalismus? Sollte hier insbesondere der Spätrationalismus Berliner Prägung getroffen werden, also ein mehr als schal gewordenes Aufklärungsdenken, das sich nichtsdestoweniger in den 20er Jahren noch so kräftig breitgemacht hatte? Wir wissen es nicht, aber es ist für das Nacherleben dieses Gedichtes - denn das ist der Rezeptionsmodus, auf den sich die Mörike-Forschung mehr oder weniger unausgesprochen geeinigt hat - auch gar nicht so sehr wichtig: das Mythische ist ins Gefühl eingesickert, und dort wird es zwar noch als bedrohlich empfunden, aber auch wieder neutralisiert: es ist eben letztlich doch nur eine Stimmung, ein Schauder, also etwas nur sensuell Bedrohliches, dazu noch aus relativer Ferne gesehen: so kann man zwar beeindruckt sein, aber nicht bedroht. Es war offenbar das nicht ganz Geheure, die unheimliche Stimmung, die die Interpreten bewogen hat, in ihren Deutungen gleichsam die Kurve des Gefühlsverlaufes aufzuzeigen. Für Gerhard Storz liefert schon die erste Strophe "ein faszinierendes Gedränge von Deutlichkeit und Undeutlichkeit, von scharf erfaßten Einzelheiten - rote Mütze, rastloses Auf und Ab des er, des Ungenannten, aber Wohlbekannten - und von undurchsichtigem, erregenden Ganzen: es ist wahrhaftig nicht geheuer"}2
Zweifellos verführt diese
Ballade dazu, die unheimliche Aura wie das bedrohliche Geschehen nachzuzeichnen, das Grauen zu verbalisieren: vermutlich möchte so mancher Interpret es dem Dichter selbst gleichtun oder ihm doch zumindest nahekommen, was die Verdeutlichung jener Aura des Unheimlichen angeht, die Mörike so blendend in äußerlich ganz anspruchslose Zeilen gefaßt hat. "Stimmungsstarke Gedrängtheit", "rhapsodische Stimmung", "Stigmata der transrationalen Konzeption", "Stimmungseffekt", der Feuerreiter "als Zauberer,
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als dämonisch verruchte Gestalt": das sind Leitworte einer Interpretation, die zwar die sensible Artistik der Strophen durchleuchtet, es aber bei der Reproduktion des Numinosen beläßt. Sollte Mörike wirklich nur ein kunstvolles Schauermärchen gedichtet haben? Von der "dämonischen Kraft des elementaren Geschehens" sprechen auch andere Interpreten. 1 3 Gewiß: hier ist "lyrische Unmittelbarkeit" in fast überreichem Maß zu beobachten. 1 4 D a ß dabei ein raffiniertes Wechselspiel von sicherer Distanz und dem Anschein der unmittelbaren Beteiligung aufgebaut wird, macht vielleicht den besonderen Reiz dieses Gedichtes aus; zugleich aber scheint die Begebenheit entrückt zu sein, "mythisch" geworden. Ist das Mythische aber nur das Entfernte, hat es hier etwas von seiner Unmittelbarkeit verloren? Der Schluß der Ballade scheint in der Tat über die Zeit hinauszugreifen, aber die Geschichte ist, wenn sie ans Ende kommt, doch gebändigt, hat ihre Bedrohlichkeit verloren und ist tatsächlich beendet. Aber ist der Interpret damit auch aus seiner Aufgabe entlassen? Nun können sich Deutungen dieser Art immer wieder darauf berufen, daß hier ein Sagenstoff bearbeitet worden, also von Haus aus bereits Legendäres in Verse gebracht worden sei - schon das Thema hat ja mit Unheimlichem zu tun, das es geblieben wäre, auch wenn Mörike es nicht zum Stoff seiner Ballade gemacht hätte. Deshalb kommt man auch vom Formalen her dieser Ballade nicht recht bei. Über bestimmte generelle Charakteristika der Mörikeschen Balladendichtung hinaus geben derartige Analysen wenig her. "Stärkere Akzentuierung der Handlungsmomente, Anklänge an Sagen [...] oder ein pseudohistorischer Stoff' 1 5 - damit wird man dieser Ballade natürlich auch nicht gerecht, so richtig diese Beobachtungen an sich sind. Man kann sich nicht des Verdachtes erwehren, als sei die Konzentration der literaturwissenschaftlichen Forschung auf die Erlebnisdichtung Mörikes nicht zuletzt auch eine Ursache dafür, daß die Balladen und damit auch "Der Feuerreiter" so vergleichsweise stiefmütterlich behandelt worden sind. Oder vielmehr: daß die Interpreten über die erlebnisanaloge Nachzeichnung dessen, was das Gedicht von sich aus bereits sagt, nicht recht hinausgekommen sind. Der biographische Hintergrund, die Liebesgeschichte mit Maria Meyer und anderes, was im Jahre 1824 noch an persönlichen Dingen hinzutrat, schien die These von der Prädominanz der Erlebnisdichtung bei Mörike nur noch zu unterstützen. Von der Nachzeichnung der Erfahrung bis zur Rubrizierung der Ballade als magisch-dämonischer Dichtung war es nur noch ein kurzer Schritt. Daß eine solche Deutung der Mörikeschen Gedichte überhaupt gelegentlich bis ins Impressionistische abgleiten kann, also bis in die die eigenen Beobachtungen und Empfindungen nur auswertende Betrachtung ohne eigentliche innere Kohärenz, ist schon bemerkt worden. 1 6 Zwar
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muß man derartigen Deutungen zugute halten, daß der literarhistorische Kontext, also die Romantik vor allem, eine Interpretation Mörikescher Gedichte nach Stimmungskriterien nahelegte. Die Aura des Unheimlichen gab es auch im romantischen Gedicht, Volksliednähe und die Hinwendung zu Sagenstoffen nicht weniger, schließlich auch Phantastisches und daneben hohe formale Kunst: so konnten selbst einfache, dem Volksglauben oder auch Volksaberglauben nahestehende Stoffe poetisch gesteigert werden, so konnte es aber auch dahin kommen, daß ein Gedicht wie "Der Feuerreiter" als magische Ballade, als Elementargedicht, als Schauerpoem gelesen wurde. Der Spielraum der Auslegungen ist hier und da um ein weniges erweitert worden: so hat man auf den zeitgenössischen Somnambulismus hingewiesen, auf den romantischen "Wahnsinn", auf die damalige Naturwissenschaft und die Erkundung ihrer Nachtseiten, wie das G. H. Schubert seit 1808 angeregt hatte. Hellseherei, Vorausahnungen, übernatürlicher Spürsinn für Irreales und Transreales, "Magnetismus", das alles gehört in den Umkreis dieser Überlegungen, und man hat denn auch zur zeitgenössischen Theorie vom supranaturalen Vermögen des Menschen festgestellt: "Wenn es auch nicht möglich ist, Mörikes Bekanntschaft mit ihr im einzelnen zu belegen - immerhin nennt er Kerners Schriften ein eigentümliches und unzertrennliches Ingredienz seiner Tübinger Jahre (an Kerner 26. 10. 1826) - , so ist jedenfalls die Parallele erhellend". 17 Das alles ist einleuchtend, verändert allerdings die These von der magisch-dämonischen Gewalt, die dieses Gedicht beschreibt, nicht wesentlich. Neue Aufschlüsse über die Ballade und die eigentlichen Absichten Mörikes stammen aus einer quasi komparativen Literaturbetrachtung. So hat man darauf aufmerksam gemacht, daß der visuelle Eindruck des hin- und hergeisternden Feuerreiters nicht nur auf Hölderlins unruhiges Dasein in seinem Turm in Tübingen zu beziehen sei, 18 sondern auch in eine literarische Reihe hineingehöre; die Ballade sei eine Replik auf den "Phaeton" des Freundes Waiblinger, und darüber hinaus habe Mörike sich mit seiner Ballade in eine "Identifikationsreihe" eingeschrieben, die durch Schiller, Hölderlin und Waiblinger gekennzeichnet sei. 19 Die "Katastrophe Feuerreiter" sei "ihrem Verlauf nach von der Art der Katastrophe Phaéton"; dessen Sturz sei hier in volksballadesker Nachbildung noch einmal durchgespielt. Das Ganze also ein mehr psychisches Unglück denn ein magisierter Balladenvorgang - Hinweise auf das Feuermotiv in Mörikes "Malter Nolten" könnten solche Überlegungen in der Tat nahelegen. Die Elemente der Feuerreiter-Ballade tauchen dort ja tatsächlich auf. Allerdings: die Beziehungen zwischen dem "Geigenspiel" und der "Jung-Volker-Sage" sind doch wohl eher etwas lockerer Natur. Und es ist auch nicht unbedingt einleuchtend, wenn festge-
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stellt wurde: "Die Stellung der Feuerreiterballade im Kontext des Maler Nolten ist erkennbar geworden, die Ballade enthält den Schicksalsplan des Romans in nuce".20 Am fragwürdigsten aber mag sein, in der Figur des Feuerreiters ein "charakteristisches Ich" erkennen zu wollen, hinter dem Vorgang der Ballade also ein individuelles psychisches Handlungsschema, in das zwar überindividuelle Bezüge hineinreichen, das sich aber letztlich auf das "literarische Individuum" konzentriert. Wie sollte das aus der Ballade selbst zu erschließen sein? Vom Individuum ist so wenig die Rede wie von einer psychischen Ausnahmesituation oder Sonderbarkeit, und wenn auch eine entfernte, allerdings wirklich nur sehr blasse Verwandtschaft mit Waiblingers "Phaéton" noch andeutungsweise vorhanden sein sollte, so wendet sich das Gedicht doch mit keinem Wort dem Waiblingerschen Text zu. So scheint die angebliche psychische Erfahrung in die Ballade hineininterpretiert zu sein. Eine solche Betrachtung vergißt in der Regel auch, daß die Ballade ja an ein Publikum gerichtet ist, das in eigentlich jeder Strophe vertreten ist. Sollte das nur den Schaurahmen abgeben für psychische Entladungen, wie sie das Gedicht angeblich beschreibt? Das alles vermag nicht zu überzeugen. Hier kehrt man am Ende denn doch lieber noch zur naturmagischen, dämonischen Deutungslinie zurück, wiewohl auch diese ein wenig zu simpel ist, um befriedigend zu wirken. Denn von einer solchen Deutung her läßt sich die eigentümliche Magie der Feuerreiter-Ballade nun einmal nicht zureichend erklären. Die Forschung ist sich also ziemlich einig gewesen. Es gab allerdings einige etwas zaghafte Versuche, die reichlich einfallslos gewordene These von der magisch-dämonischen Aura dieses Gedichtes zu überwinden. Natürlich liegt es nahe, auf den Zusammenhang mit der Romantik hinzuweisen; das ist auch geschehen, und eine Deutung geht dahin, im Feuerreiter "den Zerrissenen der romantischen Romane, die gleich der Flamme sich selbst verzehren", zu sehen. 21 Pyromanen gibt es in der romantischen Literatur in der Tat in einiger Fülle, auch Figuren, die sich nicht bewahren wollen und untergehen möchten, also jene am Ende ausgebrannten Gestalten, die sich vornehmlich bei Eichendorff finden. Träfe das auch bei Mörikes "Feuerreiter" zu, wäre die Ballade die quasi biedermeierliche Variante der zahlreichen Darstellungen, die den Malkontenten, den Zerrissenen, den Unzufriedenen, den Nihilisten, den vom Ennui geplagten Zeitgenossen beschreiben. Ihrer sind Hunderte. Nimmt man noch die Wahnsinnigen, die Geisterseher und die potentiellen Selbstmörder hinzu, so steigt die Zahl noch um ein weiteres beträchtlich an. Dafür gibt es in der Literatur der 20er und der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts zahlreiche Beispiele. Hier scheinen andere Nachtseiten der Romantik deutlich zu werden, sind es doch die Kräfte einer gleichsam exi-
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stentiellen Unheimlichkeit, die nicht mehr zu bändigen sind und von denen sich der Bürger fernzuhalten hat, will er nicht selbst mitverbrennen. Eine solche Deutung ist schon deswegen reizvoll, weil sie darauf abzielt, der arg traditionellen Lesart von der bloß magischen Komponente der Feuerreiter-Ballade zu entkommen. Das Gedicht wäre dann eine Variante der Darstellung verschrobener Genies, suizidverdächtiger Künstler und Pseudokünstler, wahnsinniger Todessucher und todeslüsterner Schizophrener. Aber auch eine solche Interpretation will, so naheliegend sie sein mag, am Ende nicht überzeugen. Denn nicht nur, daß hier ein ganz konkreter Vorgang beschrieben wird, der mit der Todessucht und dem Selbstverbrennungsmotiv anderer romantischer Figuren, wie sie Eichendorff kennt, nichts zu tun hat - von Wahnsinn, Selbstzerstörung, Zerrissenheit und ähnlichen romantischen Phänomenen ist in Mörikes Ballade mit keinem Wort die Rede. Und abgesehen davon, daß es in romantischen Romanen sehr viele Spielarten der Zerrissenheit gibt, aber niemals den Zerrissenen, wäre das Bezugsfeld auch zu weit: was sollte Mörike veranlaßt haben, eine solche Figur ins Gedicht zu bringen? Wo immer derartige Gestalten in der romantischen Dichtung sonst auftauchen, erscheinen sie in der Regel wiederholt oder gehäuft - auch dafür ist Eichendorff ein symptomatisches Beispiel. Aber bei Mörike wissen wir von ähnlichen Figuren oder Anlässen, ja von der Wiederkehr dieser Zerrissenheitsmotivik zumindest im Bereich der Ballade gar nichts, und das legt wiederum den Verdacht nahe, daß wir es hier nicht mit einer mehr oder weniger zeitlos-romantischen Modeerscheinung zu tun haben, sondern vielmehr mit einem eher genau beschreibbaren und in sich konsistenten Vorgang, der als solcher von Mörike auf die Bühne der Poesie gebracht worden ist. Es hat andere Erklärungsversuche gegeben: so einen weiteren, der im "Feuerreiter" nichts anderes sieht als einen Frevler, einen schuldig Werdenden, der auf eindrucksvolle Weise bestraft wird. Dieses gilt allerdings erst für die zweite Fassung, in der jene dritte Strophe eingefügt worden ist, die in der Tat die Aussage des Gedichtes vollkommen verändert. Der Feuerreiter als Personifikation einer christlichen Sündertat, die aber doch gesühnt werden kann? Mit der Frühfassung von 1824 hat eine christliche Deutung mit Sicherheit nichts zu tun. 22 Doch so wenig diese Lesart also für die Fassung von 1824 gilt - eine solche Interpretation geht darauf hinaus, hier nicht etwa vordringlich den "Mythos der Feuersbrunst" zu sehen, und Mundhenk stellt ausdrücklich fest: "Das Gedicht sträubt sich jetzt vermutlich noch mehr als vorher gegen eine natursymbolische Auslegung". Das ist der Standpunkt einer nichtmagischen Exegese; er läßt erkennen, daß man sich doch von der na-
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hezu übermächtigen Deutung der Ballade als magisch-dämonischen Naturstoffes freimachen kann. Aber noch einmal: läßt sich nicht die Ballade konkreter, zeitgenössischer, letztlich auch überzeugender lesen? Soll man es wirklich bei der Feststellung belassen, daß es sich hier um ein "faszinierendes Gedränge von Deutlichkeit und Undeutlichkeit" handelt, oder ist es nicht gerade die Bankrotterklärung des Interpreten, hier so viel Undeutlichkeit zu sehen, wo doch vom bloßen Vorgang, den Mörike beschreibt, durchaus nicht zu sagen ist, daß er undeutlich bleibt? Überlegungen dieser Art können als Vorüberlegungen für eine politische Deutung gelten, die sich von der bloßen Lektüre des Textes her ergibt - und für die freilich auch einige zusätzliche Erkenntnisse sprechen, die mit Mörike selbst, seiner Biographie und den Verhältnissen in der Mitte der 20er Jahre zu tun haben. Denn die Ballade enthält bei unvoreingenommenem Lesen Reizworte, die den Verdacht aufkommen lassen müssen, daß hier alles andere, nur kein letztlich simpler naturmagischer oder undeutlich bleibender Vorgang beschrieben worden ist, also nicht das, was die meisten Interpreten aus dem Gedicht herauslesen zu können glaubten. Das entscheidende Formelwort ist das von der "roten Mütze"; darin nicht ein revolutionäres chapeau rouge, ein bonnet rouge zu sehen, das fällt im Zeitalter nach der Französischen Revolution und vor der Julirevolution, das fällt in der Epoche einer hochsensibilisierten politischen Chiffrensprache und einer landauf, landab bei jeder Gelegenheit gebrauchten Bildlichkeit im Grunde genommen schwer. Wie müßte eine politische Deutung aussehen? Die rote Mütze ist das auffälligste Kennzeichen einer jakobinischen Gesinnung, und sie war den Zeitgenossen nur zu vertraut. Die rote Mütze war ein Revolutionssymbol, wie das der gallische Hahn war, die Sonne oder andere Zeichen. Diese Symbole waren so bekannt, daß Heine etwa in seiner Einleitung zu der Schrift "Kahldorf über den Adel" ironisch auf die "armen Rothkäppchen
der
Freyheit" anspielen konnte - und jedermann verstand, daß hier bonnet rouge, also die rote Mütze als Parteiabzeichen aller Radikalen in der Französischen Revolution gemeint war. 2 3 Heine konnte auch von den "deutschen Rothköpfchen" sprechen, und seine Leser dürften ihn ebenfalls genau verstanden haben. Bilder wie diese gehören zur Revolutionsmetaphorik, die jedermann vertraut war. Sie war so allgemein, daß zusätzliche Erklärungen völlig überflüssig gewesen wären; die Bilder sind Zeichen, die eines Kommentars nicht bedürfen. So wird in Mörikes Gedicht schon von der zweiten Zeile an, vom ersten Satz an dem Leser nahegelegt, das nun folgende Geschehen mit der Französischen Revolution in Verbindung zu bringen, und es gibt nichts, was diese Verbindung stören könnte. Es folgt die Beschreibung des Aufruhrs (Und auf einmal welch Gewühle / Bei der Brücke, nach dem Feld!), und
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dem Leser ist freigestellt, den Hinweis darauf, daß das Feuergeschehen "hinterm Berg, hinterm Berg" seinen Lauf nehme, auf jenes Land Frankreich zu beziehen, in dem der Brand der Französischen Revolution ausgebrochen war. Daß die Feuersbrunst den Feuerreiter verschlingt, mag in den Bereich jener oft mythologisch begründeten Vorstellungen gehören, daß die Revolution ihre eigenen Kinder fresse, wie sie sich ebenfalls als Konnotationsschicht in der Sprache jener Zeit wiederholt findet - bis hin zu Büchners "Dantons Tod". Daß der Brand schließlich erstickt, der Feuerreiter mit dem bonnet rouge darin zugrunde geht - auch das macht keine interpretatorischen Schwierigkeiten, sah man doch die Französische Revolution in Deutschland vielfach als gescheitert an. Und so endet in Zerstörung, was als Naturereignis begann - die Geschichte einer mißlungenen Revolution, gesehen aus den Augen eines Revolutionskritikers, der gar nicht einmal zu den Zielen und Erklärungen der Revolution Stellung nimmt, sondern der sich begnügt, das Ereignis so zu beschreiben, wie es ihm und nicht nur ihm tatsächlich erschienen sein mochte: als Elementargeschehen, als Feuersbrunst, als ein eruptives Aufbrechen von Elementen, die nur Zerstörung bedeuten. Und so macht es denn also nicht die geringste Mühe, hier ein Bild der Französischen Revolution und ihres Scheiterns zu sehen - wobei es sich um die Fassung von 1824 handelt, also ohne jene mit Klerikal-Symbolen arbeitende dritte Strophe, die spätere Zutat ist. Ist der Feuerreiter also eine Revolutionsballade? Man darf die Ballade nicht wörtlich nehmen: natürlich hat es einen Feuerreiter in der Französischen Revolution nicht gegeben. Aber es geht hier ja auch nicht um eine genaue Reproduktion der französischen Vorgänge, sondern um eine Übertragung, eine deutende Übersetzung der Ereignisse in Frankreich in eine Bildlichkeit, die aus sich heraus wirkt. Dabei ist zu bedenken, daß Mörike hier nicht eine beliebige Phase der Französischen Revolution herausgreift, um daran ihren in sich selbst beschlossenen Untergang zu demonstrieren, sondern den Höhepunkt der Französischen Revolution, die Jakobinerdiktatur. Die Jakobinerherrschaft, also die Diktatur des Wohlfahrtsausschusses, gilt auch heute noch als Kulminationspunkt der Französischen Revolution, und es war die Terreur, die Schreckensherrschaft, die besonders in den Jahren 1793/94 spürbar wurde. 24 Insofern hat Mörike eben nicht einen beliebigen Abschnitt der Französischen Revolution beschrieben, sondern ihren Gipfel, der gleichzeitig - und darin ist die Geschichte vom Feuerreiter nun allerdings eine hervorragend geeignete Explikation - der Umschlag, der Beginn ihres Endes war. Daß wider alle Logik und Wahrscheinlichkeit in der vierten Strophe das Gerippe "samt der Mützen" beschrieben wird, sollte auch wohl als Hinweis auf eine derartige Deutung gelesen werden: denn daß die Mütze noch, als solche kenntlich, nach dieser Feu-
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ersbrunst vorhanden gewesen sein sollte, ist wider alle tatsächliche Wahrscheinlichkeit und kann denn wohl auch nur symbolische Bedeutung haben, es sei denn, man wolle die Beschreibung mit Hilfe der dichterischen Freiheit Mörikes erklären. Aber damit würde man der symbolischen Reichweite dieser Strophe überhaupt nicht gerecht. Die Revolution als Jakobinerherrschaft, die Jakobinerherrschaft auf ihrem Höhepunkt als Schreckensherrschaft, die dann an sich selbst erstickt: historische Entsprechungen gibt es also durchaus. Aber viel bedeutsamer ist noch, daß Mörike die Revolution mit etwas Elementarem in Verbindung bringt, mit der Feuerkatastrophe. Das ist alles andere als ungewöhnlich: es gibt in der Zeit nach der Französischen Revolution eben eine primäre politische Metaphorik, und ihr Kennzeichen ist die Erläuterung der politischen Vorgänge durch möglichst elementare Bilder, zumeist durch Naturmetaphern. Dazu gehört nicht nur jener Bildbereich
aus der
Geschichte
Frankreichs, der durch Staatsembleme gekennzeichnet ist, also durch den Adler, die Sonne, den gallischen Hahn; viel wichtiger ist, vor allem bei den Kritikern der Revolution, eine Natursymbolik, die das Ereignis der Revolution quasi auf indirekte und doch auf die direkteste Weise zu verdeutlichen sucht. Zu den immer wiederholten Bildern zählt das des Gewitters, der elementaren elektrischen Entladung, und es ist von Heine bis Eichendorff reichlich genutzt worden. Dazu gehört ferner die Vorstellung vom Erdbeben, die sich von Kleist bis wiederum Heine findet, dazu gehört schließlich das Bild vom Sturm der Revolution, vom Donner der Julitage. Hält man die Naturbilder nebeneinander, so stellt sich heraus, daß sie alle etwas Elementares beschreiben, gewissermaßen Grundvorstellungen, Grunderfahrungen zum Bewußtsein bringen, wobei diese Bildlichkeit zwar vorherrschend, aber nicht nur bei den Revolutionskritikern und den durch die Revolution verschreckten Zeitgenossen auftaucht. Die Bilder sind Versuche, das Ereignis der Revolution auf das Ursprüngliche hin auszuloten, und zugleich werden sie oft in demagogischer Absicht, zu Überzeugungszwecken oder auch aus Gründen einer Warnung gebraucht. Sie wirken um so unmittelbarer, je weniger sie mit aktuellem Sinn befrachtet sind; es ist das Grundsätzliche daran, was benannt werden soll, und es ist eine Elementarbildlichkeit, die weit über das Bewußtsein des Einzelnen hinaus wirken will und das Ereignis der Revolution visualisieren soll. Es versteht sich, daß diese Naturmetaphorik zumindest indirekt auch Wertungen enthält; und es ist häufig das Zerstörerische der Revolution, was in diesen Visualisierungen zum Ausdruck kommt. Daß die von Mörike wie von seinen Zeitgenossen verwandten Bilder weder originell sind noch in einer elaborierten Sprache vorgebracht werden, daß sie sich in allen möglichen Kontexten finden und oft nur zu verständlich sind, das alles mindert
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nicht die Gewalt ihrer Darstellung, auch nicht den verborgenen Explikationsanspruch hinter ihnen. Die Bilder sind nicht intellektuelle Erklärungsversuche, sondern fast arationale Verdeutlichungen des Revolutionsgeschehens, aber gerade deswegen gelingen ihnen Konnotationen, die eine gedankliche Analyse kaum bereitstellen könnte. Bilder vom Feuer und Erdbeben, vom Sturm und Gewitter verstand jeder. Noch einige andere Beobachtungen schließen sich an. Der Auftritt des Feuerreiters ist nicht der eines Einzelnen, kein theatralischer Vorgang ohne Zuschauermenge. Diese ist vielmehr reichlich vorhanden, und daß das Erscheinen des Feuerreiters von Emotionen und Aufruhr, von "Gewühle", von einem aufgeregten Publikum begleitet wird, das macht die FeuerreiterBallade nur zu deutlich. Mehr als das: die Ballade ist an den Leser adressiert, zwar nicht an den Einzelnen, sondern an eine Gesamtheit, an alle, die hier, indem sie lesen, zu Zuschauern, zu miterlebenden Betrachtern des Feuerereignisses werden. Die Revolution, wenn man sie denn hinter der Ballade erkennen will, ist nicht Sache eines Einzigen, sie bedeutet Aufruhr überhaupt, und sie bedeutet zugleich Schrecken: Mörike spricht vom "Graus", davon, daß die Mühle in Trümmer bricht - später wird Eichendorff ähnlich von den Trümmern des Revolutionsschlosses Dürande handeln. Wenn das Glöckchen ertönt, ist natürlich zunächst einmal die Feuerglocke gemeint, aber die Assoziation zu Kirchenglocken stellt sich ohne Schwierigkeiten her. D a ß sich die Feuersbrunst rasend ausbreitet, daß sie dort, wo sie ausgebrochen ist, nichts verschont - auch das läßt sich auf die Französische Revolution beziehen oder vielmehr darauf, wie sie von den Zeitgenossen erlebt wurde, und es ist gerade die rasende Folge der Vorgänge, die aus der Sicht der Zeitgenossen als weiteres beunruhigendes Moment hinzukam. Hier spricht ohne jeden Zweifel einer, der das Zerstörerische der Revolution sieht; und er spricht es nicht nur für sich aus, sondern will auch seine Leser - das zeigen die vielen deiktischen Hinweise - überzeugen und belehren. Hier werden Revolutionswarnungen vorgebracht, wobei die Faszination des außergewöhnlichen Vorgangs wie auch die Angst davor sich am Ende in etwa die Waage halten. Hinzu kommt das Unerklärliche dieses Feuerausbruchs: zwar hat sich atmosphärisch einiges vorbereitet, aber in der Plötzlichkeit der Ereignisse wird etwas Elementares deutlich, zeigt sich das eigentümlich Naturhafte dieser Begebenheiten. So erscheint der Feuerreiter als personifizierte Revolution, als bildlicher Mythos, der sich naturmagischer Eindrücke bedient. Von daher gesehen sind die vielen Interpretationen, die unisono das Magisch-Dämonische der Feuerreiterballade betonen, nicht falsch; sie reichen nur nicht aus, da sie nicht über die Beschreibung zur Deutung vorstoßen. Natur und magische Kräfte der Natur sind ja durchaus mit im Spiel - aber es sind Chiffren,
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symbolische Vergegenwärtigungen und Verdeutlichungen eines Geschehens, das nicht nur Mörike, sondern auch vielen seiner Zeitgenossen gar nicht anders als dämonisch erschien. Und es ist die politische Metaphorik der Zeit, die am überzeugendsten eine politische Deutung dieser Ballade nahelegt. Daß sechs Jahre später Heinrich Heine, als er von der neuen Revolution in Frankreich hört, seine Seele entflammt sieht "bis zum wildesten Brand", daß er von den warmen Neuigkeiten spricht, daß er schreibt: "Mir war als könnte ich den ganzen Ocean bis zum Nordpol anzünden mit den Gluthen der Begeisterung und der tollen Freude, die in mir loderten", das zeigt den gleichen Sachverhalt von einer anderen Seite aus beschrieben: aber auch hier ist die Revolution ein Brand, eine Naturerscheinung. 25
Mörikes "Feuerreiter" als Revolutionsballade zu interpretieren bedeutet, sie ohne flankierende Selbsterklärung des Dichters lesen zu müssen. Denn es gibt so gut wie nichts, was diese Lesart stützen könnte, hingegen manches, was der gängigen Lesung, daß es sich hier nämlich um eine naturmagische Ballade handle, entgegenkommt. Nichts ist über die Entstehungsumstände bekannt. Daß die Ballade "auf einem schönen Rasenplätzchen beim Philosophenbrunnen" in Tübingen niedergeschrieben worden sei, berichtet Mörike in einem Brief an Hartlaub am 3. Dezember 1841; aber das ist mehr als ein halbes Menschenalter nach der Niederschrift. 26 Mörikes Briefe aus dem Jahre 1824 geben nichts her. Noch 1838 heißt die Ballade in der ersten Ausgabe der Gedichte "Romanze vom wahnsinnigen Feuerreiter". Mit mehr oder minder wahnsinnigen Zeitgenossen kam Mörike gelegentlich in Kontakt; so berichtet er am 15. Februar 1824 an seine Schwester, daß ihm im Stift "ein sehr merkwürdiger, überaus liebenswürdiger guter Mensch, (er sollte nächstens zum Vikarius werden) dem man schon lange eine stille Neigung zum Wahnsinn anspüren will", aufgefallen ist. 2 7 Eine Beziehung zur Ballade stellt sich aber so natürlich nicht her. Daß Mörike zu der Ballade durch den unruhig in seinem Haus auf- und abgehenden wahnsinnigen Hölderlin angeregt worden sei, ist zwar von Rudolph Lohbauer, einem Freund Mörikes, 1840 geäußert worden - aber selbst wenn die Legende einen historischen verbürgten Kern haben sollte, so ist damit bestenfalls der Anlaß gekennzeichnet, aber der wiederum sagt nichts über die Deutung der Ballade aus. 2 8 Das gleiche gilt für die Fußnote, die Mörike seiner Ballade in einer Sammelhandschrift, dem "Grünen Heft", angefügt hat; dort wird die G e schichte quasi noch einmal erzählt, ohne daß irgendetwas zur Deutung gesagt
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wäre, und der Hinweis "Ist aus einer unvollendeten Novelle" führt nicht weiter. 2 9 Das Jahr 1824 ist allenfalls durch wichtige persönliche Erfahrungen gekennzeichnet: im Sommer starb plötzlich sein Lieblingsbruder, in das gleiche Jahr 1824 fällt die Liebesgeschichte zu "Peregrina". Man wird Rainer Pohl zustimmen dürfen, wenn er sagt: "So gewiß man Maria Meyer nicht als auslösendes Moment für den Feuerreiter ansehen darf, so sicher stehen doch Unruhe und geheimnisvolle Ruhe, wie die Ballade sie impliziert, im Zusammenhang mit der damaligen Seelenlage des Tübinger Stiftlers". 30 Eine gewisse seelische Disposition für Unerwartetes, eine innere Labilität und damit verbunden auch eine gesteigerte Sensibilität: das alles macht Mörikes psychische Situation in diesem Sommer des Jahres 1824 aus. Dennoch gibt die Tübinger Zeit einige wichtige Aufschlüsse, was die Deutung der Ballade als Revolutionsgeschichte angeht. Denn wenn auch der Begriff "Feuerreiter" offenbar in Schwaben in der damaligen Zeit nicht unbekannt war, ein Feuerreiter "ein berittener Bote zum Feuermelden in andere Ortschaft" war, so dürfte das dennoch nicht den Titel dieser Ballade geliefert haben. Sehr viel wahrscheinlicher ist ein anderer Bezug: "Feuerreiter" nannten sich radikale Tübinger Burschenschaftler, und hier nun ist die Beziehung zur politischen Welt deutlich hergestellt. Es ist das Verdienst Harry Mayncs, darauf aufmerksam gemacht zu haben; in seinem Kommentar zum "Feuerreiter" heißt es: "Feuerreiter hieß der fünfzehn Mann starke, aus Burschenschaftern bestehende Freundeskreis um Wilhelm Hauff'. 3 1 Mörike dürfte das alles gut gekannt haben, und Hauff dürfte sein Informant über die Feuerreiter gewesen sein. Aus dem Jahr 1824 stammt von Hauff das "Feuerreuterlied", in dem die Feuerbrüder ausdrücklich adressiert werden, und dieses Lied hat einen chorischen Refrain, an den der Refrain in Mörikes Ballade erinnert. Eine politische Absichtserklärung enthält dieses "Feuerreuterlied" von Hauff allerdings nicht, denn die Feuerbrüder ergehen sich vor allem in "Liebe, Frohsinn, Wein und Lieder". 32 Hauff hat auch noch ein Gedicht auf eines der Mitglieder dieser Feuerreiter-Kumpanei geschrieben, "Der Feuerreuter Röder", in dem nun allerdings nicht nur die jugendlichen Lustbarkeiten genannt sind, sondern das Feuerreitermotiv aufs deutlichste vorgebildet ist. Das Gedicht lautet: Der Feuerreuter Röder 's jagt einer im Schritt über die Brück, "Aus dem Weg! aus dem Weg! zurück!" Was gibt's, Herr von Röder? brennt's wo? "In Glems, in Glems! Feuerjo!" 3 3
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Hier sind schon deutliche Übereinstimmungen mit Mörikes Ballade zu erkennen: der rasende Lauf über die Brücke, dem bei Mörike der rasende Ritt durch das Tor entspricht; die Zuschauer, die dem Feuerreiter im Wege stehen und die von ihm zurückgescheucht werden, dem bei Mörike das "Gewühle" entspricht; schließlich die refrainartige Botschaft "In Glems, in Glems!", dem bei Mörike das "Hinterm Berg, / Hinterm Berg" entspricht. In der zweiten Strophe des Mörike-Gedichtes fällt zudem noch eine Inkonsequenz auf; der Feuerreiter "sprengt" auf seiner Schindmähre durch das Tor, aber "durch Qualm und Schwüle rennt er schon": das könnte eine Reminiszenz an das "'s jagt einer im Schritt" von Hauff sein. Hauffs Gedicht macht jedenfalls wahrscheinlich, daß das Motiv vom Feuerreiter alles andere als Mörikes ureigenstes Motiv war; vermutlich ist Hauffs Vierzeiler sogar ein Anlaß für Mörikes Ballade gewesen. In seinen "Memorabilien für mich und meine Freunde" berichtet Hauff aus den "Osterferien 1824", daß er eine "Reise mit Reibel, Röder, Kosak [...] nach Aalen" gemacht habe. 3 4 Röder ist auch vorher gelegentlich erwähnt. Mörike war freilich kein Freund des Burschenschaftlerdaseins, und wir wissen, daß er sich von dem Studententreiben der Burschenschaften abgewandt hat. Hinzu kam wohl eine gewisse Aversion Hauff gegenüber. Harry Maync hat in seiner Biographie festgehalten: "Wilhelm Hauff und Mörike sind sich offenbar nicht näher getreten, obwohl sie von 1822 bis 1824 gemeinsam dem Stift angehörten. Den Dichter Hauff hat Mörike stets mit recht kritischem Auge betrachtet". 35 Sollte Mörike also das Motiv vom Feuerreiter von Hauff übernommen haben, so hat er es auf charakteristische Weise abgewandelt. Und wenn Hauff auf der einen Seite ein fröhliches und gelegentlich auch säbelrasselndes Burschenschaftlerleben führte, so hat Mörike sich auch darin von Hauff distanziert. Vor allem aber: für ein Aufbegehren, für irgendeine Form des studentischen Radikalismus sah er nicht den geringsten Anlaß. Mörike hat die rhetorischen Feldzüge Hauffs nicht mitgemacht, das burschenschaftliche Freiheitspathos sagte ihm überhaupt nichts, und er war vermutlich schon in seiner Stiftszeit ein eher restaurativer Geist, zufrieden mit dem Vorhandenen, allem Aufruhr, aller Unruhe, allen burschenschaftlichen Aktivitäten abgeneigt. Es ist das Verdienst Winfried Freunds, als erster eine politische Deutung der Feuerreiter-Ballade erwogen zu haben. Freund hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß der Hinweis auf Hölderlins Herumgeistern durch sein Haus, sein Auftauchen bald an diesem, bald an jenem Fenster mit der Feuerreiter-Ballade nichts zu tun habe - in der Tat ist nicht recht einzusehen, warum aus der weißen Mütze Hölderlins nun die rote FeuerreiterMütze hätte werden sollen. Freund hat noch auf ein weiteres Indiz aufmerk-
138 sam gemacht: Sand, der Mörder Kotzebues, war Student in Tübingen gewesen, hatte auch bei Folien in Gießen Vorlesungen gehört, als jener dort noch Privatdozent war, und es ist durchaus glaubwürdig, wenn Freund feststellt: "Durch ihn [Sand] dürfte radikales, d. h. im wesentlichen jakobinisch beeinflußtes Gedankengut, wie es auch der mit radikalen Gruppen in Frankreich verbundene Folien vertrat, in Tübingen eingedrungen sein". 3 6 Freund zieht allerdings eine andere Schlußfolgerung als die hier vorgeschlagene: er möchte die Feuerreiter-Ballade auf den politischen Radikalismus bezogen wissen. E r schreibt: "Die allgemeine Unruhe, die rote Jakobinermütze und das Feuer lassen sich ohne Mühe auf den gemeinsamen Nenner des Radikalismus bringen". Der Ritt des Feuerreiters sei denn auch als revolutionärer Widerstand gegen den Staatsabsolutismus zu sehen, und im Feuer war "die zur elementaren Macht mystifizierte absolutistische Staatsgewalt erkennbar". 3 7 So sehr Freunds Interpretation im Generellen zuzustimmen ist: die Einzigartigkeit der balladesken Handlung, das Geschehen und die Ausstattung des Geschehens mit eindeutigen Metaphern sprechen gegen die Annahme, daß hier ein allgemeiner Radikalismus gemeint gewesen sein könnte. Die rote Mütze, "bonnet rouge", ist gewiß ein Zeichen der Jakobiner; aber vor allem ist es ein Symbol der Revolution. So ist sie in den 20er Jahren immer wieder verwandt worden. Und der politische Radikalismus - erscheint er nicht hier als Folge der Französischen Revolution und weniger als Phänomen an sich? Politischer Radikalismus in Form von Jakobiner-Umtrieben dürfte für Mörike nicht der Anlaß gewesen sein, die Ballade zu schreiben. Denn hier ist ein Vorgang gemeint, nicht die von einer Mentalität ausgehende Gefahr; und es ist ein Feuerausbruch, wie er nur als Symbol einer großen R e volution denkbar ist, die selbst jene vernichtet, die die Revolution begonnen haben. Analog dazu ist die Geschichte vom Feuerreiter zu sehen: die Revolution brennt sich selbst aus, und nicht nur das: sie erscheint als fürchterliches Elementarereignis, als Feuersturm - eben so, wie Zeitgenossen Mörikes sie auch geschildert haben, und daß dem Ausbruch des Feuers, des Gewitters, des Sturmes eine eigentümliche Schwüle vorangeht und die Revolution ankündigt, das gehört zur Aura des Unheimlichen - auch Mörike spricht von "Qualm und Schwüle", das Atmosphärische derart in seine Beschreibung des Feuers integrierend. "Der Feuerreiter" als Revolutionserzählung, als Revolutionswarnung, als Fazit der Geschichte: selbst wenn es an direkten Hinweisen Mörikes fehlt, so scheint es sich bei seiner Ballade dennoch um einen literarischen Reflex auf die Französische Revolution zu handeln. Mörike hat erst sehr viel später eine distinktere Haltung zu politischen Fragen erkennen lassen - in den späten 40er Jahren. Er hat die Revolution
139 von 1848 genau beobachtet, sah gelegentlich über seiner eigenen Stadt "eine böse Wetterwolke". 3 8 Für Mörike stellte sich die Revolution als Aufruhr, öffentliche Katastrophe, Plünderung und Gesetzlosigkeit dar. Das zeigen Briefe des Jahres 1848 an Hartlaub. Sie bestätigen den Eindruck, den man schon aus der Analyse der Mörikeschen Äußerungen von 1824 gewonnen hat: eine konservative Natur, alles andere als aufrührerisch, die jede Revolution verabscheut, vor allem dann, wenn sie die bis dahin überlieferte Ordnung so radikal zerstört, wie die Französische Revolution das getan hat. Natürlich lassen sich derartige Feststellungen nicht direkt auf die Situation des Jahres 1824 übertragen. Dennoch gibt es eine Beziehung zwischen der Ballade von 1824 und Mörikes Haltung in den 40er Jahren: das ist jene eingefügte Strophe, die der Erzählung vom Feuerreiter zwar keinen neuen Sinn gibt, aber eine nachträgliche Interpretation der Feurreiter-Ballade liefert, die zumindest aus der Retrospektive noch einmal schattenhaft erkennen läßt, was Mörike eigentlich gemeint hatte, als er 1824 seine Ballade schrieb. Kein Zweifel, daß hier eine interpretado Christiana gegeben wird, daß jetzt mit Schuld und Sühne ausgestattet wird, was bis dahin ein moralisch unbewerteter, halbwegs neutral beobachteter Vorgang war. Hier wird ein himmlisches Strafgericht über den irdischen Frevel herabgerufen, als der jetzt der beschriebene Vorgang erscheint: von der roten Mütze ist nicht mehr die Rede, der rote Hahn hat die Metapher ersetzt. Man hat darauf aufmerksam gemacht, daß das "freventlich" nicht unbedingt im Kontext einer christlichen Schuld gelesen werden müsse. 3 9 Aber die christlichen Konnotationen sind deutlich angebracht: hier wird geradezu Gericht gehalten - und dieses Gericht ist ein solches über die Revolution. Sie erscheint nicht mehr nur als Naturereignis, als Feuer, das den zugrunde richtet, der in seinen Umkreis gerät, sondern als Sünde, als das Böse schlechthin. Dabei hat Mörike das Motiv dessen, der das Feuer verkündet, gleichzeitig aber die Personifikation des Feuers ist, außerordentlich geschickt in das Bild des vom Dachgestühl heruntergrinsenden Feindes im Höllenschein variiert; da begegnet der Feuerreiter sich selbst, wird überwältigt durch sein Ebenbild, das ihm dort plötzlich erscheint. Ist das die Verurteilung der Französischen Revolution aus der späten Sicht nicht nur des Revolutionsgegners, sondern dessen, der sie nun mit der ganzen Macht dessen bekämpft, der in ihr nur noch Teufelswerk erkennen kann? Der in Kategorien von Schuld, Sünde und Gnade denkt, der das Weltgeschehen hier unter religiösen Aspekten sieht? Ist die Revolution damit von einer Position her widerlegt, gegen die keine Berufung mehr möglich ist? Spricht hier der Pfarrer Mörike, der 1841 auch noch andere christliche G e dichte geschrieben hat, der jeden Aufstand gegen eine gesetzte Ordnung aus einer geradezu
naiven Frömmigkeit
heraus als Vergehen
und
Sünde
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empfand? 1844 widmet Mörike Friedrich Wilhelm IV. von Preußen eine Sammelhandschrift, in die das Gedicht aufgenommen wurde. Wollte Mörike die elementar-mythischen Züge endgültig ausmerzen? Oder war ihm die Selbstverurteilung der Revolution nicht deutlich genug und holte er sie hier nach, indem er quasi ein Gottesgericht über den Feuersturm heraufbeschwor, der diesen zu einer Angelegenheit des Teufels machen mußte? Bedenkt man, daß Eichendorff etwa zur gleichen Zeit das Diabolische der Revolution, das Höllenartige der Vorgänge in Paris in seiner Geschichte vom Schloß Dürande geschildert hat, so bekommen derartige Überlegungen vom poetischen Kontext der Zeit her noch zusätzliches Gewicht. Natürlich wäre denkbar, daß Mörike hier aus der sicheren Distanz des Jahres 1841, ebenso aber aus der selbstgewissen Position einer christlichen Überzeugung heraus seine jugendlichen Erfahrungen widerlegt - daß er also damit dem Radikalismus noch einmal eine Absage erteilt. Freund schreibt: "Siebzehn Jahre nach der Erstfassung der Ballade intensiviert Mörike durch den Einschub der nunmehr dritten Strophe die Absage an den Radikalismus". 40 Wird jetzt der christliche Glaube gegen den politischen Aufruhr ins Feld geführt? Aber es sieht doch so aus, als ob hier nicht noch einmal radikalisiert werden mußte, was ja längst geschehen war: die Verurteilung einer Haltung, von der Mörike sich in der Tat abgewandt hatte, ja, der er im Grunde genommen nie zugetan gewesen war. Wahrscheinlicher ist, daß hier nach der Julirevolution und nach den Erfahrungen mit dem
Jungen
Deutschland, nach der bedrohlichen Umsturz-Mentalität der 30er Jahre und nach der damals außerordentlich stark intensivierten Diskussion um Sinn oder Unsinn einer Revolution Mörike erneut zur Revolution Stellung nimmt, aber diesmal eben quasi ex cathedra, also von einer Warte her, die nicht mehr in Zweifel gezogen werden kann: eben von der Religion aus. Und sie liefert jetzt die stärkste Waffe, die ein Revolutionsgegner ins Feld führen kann: das Revolutionsgeschehen wird zum teuflischen Feind, der Feuerschein der Revolution zum "Höllenschein", die revolutionäre Tat zum Frevel. Nicht, daß sich hier ein Geschichtspessimismus Mörikes abzeichnete - wir haben es vielmehr mit einem Versuch einer endgültigen Widerlegung allen Denkens zu tun, das sich auf den Umsturz der Dinge richtete. Nicht nur, daß die Revolution sich selbst vernichtet, so wie der Feuerbrand den Feuerreiter zerstört; sie wird nun auch noch bewertet, und zwar nach Kriterien, die jenseits der menschlichen Reichweite liegen. Hier wird die Französische Revolution von einer christlichen Perspektive aus verdammt, indem das Feuer, die Revolution benannt werden: als Werk des Teufels, als Hölle auf Erden. Eine gründlichere Verurteilung der Revolution läßt sich a posteriori kaum denken, und wenn wenige Jahre später Mörike noch einmal durch die Zeitereig-
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nisse gezwungen war, über Veränderungen und Revolutionen nachzudenken, so ist verständlich, daß er ihnen auch 1848 nicht sehr viel freundlicher gegenüberstand als 1824, als er zum erstenmal mit revolutionärem Gedankengut in Verbindung kam, und 1841, als er es für geraten hielt, der Revolution, den Zielen der Revolution eine vernichtende Absage zu erteilen. Es war eine Absage in Bildern, nicht eine rationale Widerlegung der Revolution. Aber Mörike wußte sehr wohl, daß die Bildersprache die ursprünglichere, direktere, eindringlichere Sprache ist, und so hatte er hier noch einmal sein Urteil wiederholt, indem er es, Himmel und Hölle beschwörend, geradezu unangreifbar macht.
Anmerkungen
Z u Mörikes Verhältnis zur Französischen Revolution existieren keine eigenen größeren Arbeiten - sehr im Gegensatz zur Behandlung des Themas "Revolution" etwa bei Hölderlin oder Jean Paul. Auch in den großen Mörike-Darstellungen ist von Mörikes Verhältnis zur Revolution ebensowenig ausführlicher die Rede wie in solchen zur Biedermeierzeit. Das alles ist insofern verständlich, als Mörike eben von sich aus keine dezidierten politischen Äußerungen zur Revolution getan hat. Das Beispiel des "Feuerreiters" zeigt jedoch, daß Mörike durchaus seine Stellungnahme zur Französischen Revolution abgegeben hat.
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Friedrich Theodor Vischer: Gedichte von Eduard Mörike, in: Kritische Gänge, 2. Bd., Nachdruck der 2. Aufl., Leipzig 1914, S. 38. So Rainer Pohl: Zur Textgeschichte von Mörikes "Feuerreiter", in: ZfdPh 85, 1966, S. 223-240, bes. S. 227. Ebd., S. 229. Alfred Mundhenk: "Der umgesattelte Feuerreiter". Eine Studie zu Mörikes Ballade und ihren beiden Fassungen, in: Wirkendes Wort 5, 1954/55, S. 143 -149, hier S. 144. Ebd., S. 145. Ebd., S. 147. Benno von Wiese: Eduard Mörike. Ein romantischer Dichter, München 1979 (erstmals Tübingen 1950), S. 123. Harry Maync: Eduard Mörike. Sein Leben und Dichten. Stuttgart s 1944, S. 335. Ebd., S. 336. Benno von Wiese, a. a. O., S. 122. Ebd., S. 123. Gerhard Storz: Eduard Mörike, Stuttgart 1967, S. 271. So Christiaan L. Hart Nibbrig: Verlorene Unmittelbarkeit. Zeiterfahrung und Zeitgestaltung bei Eduard Mörike, Bonn 1973 (Literatur und Wirklichkeit, hrsg. von Karl Otto Conrady, Bd. 10), S. 20. Ebd., S. 22. So Renate von Heydebrand: Eduard Mörikes Gedichtwerk. Beschreibung und Deutung der Formenvielfalt und ihre Entwicklung, Stuttgart 1972, S. 198. Ebd., S. 8. Alfred Mundhenk, a. a. O., S. 145f. Vgl. Rainer Pohl, a. a. O., S.225. So Gerhart von Graevenitz: Eduard Mörike: Die Kunst der Sünde. Zur Geschichte des literarischen Individuums, Tübingen 1978, S. 84.
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Ebd., S. 83. So Rainer Pohl, a. a. O., S. 239. Als derartige Uminterpretation ins Christliche deutet Alfred Mundhenk in seinem Aufsatz über den "umgesattelten Feuerreiter" die Ballade; a. a. O., S. 148. Vgl. Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hrsg. von Manfred Windfuhr, Bd. 11: Ludwig Börne. Eine Denkschrift und kleinere politische Schriften, bearbeitet von Helmut Koopmann, Hamburg 1978, S. 144. Dazu Eberhard Schmitt: Einführung in die Geschichte der Französischen Revolution, München 2 1980, S. 65ff. Heinrich Heine, a. a. O., S. 48 bzw. S. 50. Dazu auch Verf.: Heines politische Metaphorik, in: Heinrich Heine. Dimensionen seines Wirkens. Ein internationales Heine-Symposion, hrsg. von Raymond Immerwahr und Hanna Spencer, Bonn 1979, S. 68-83. Vgl. dazu auch Hans-Wolf Jäger: Politische Metaphorik im Jakobinismus und im Vormärz, Stuttgart 1971. Eduard Mörike: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Hans-Henrik Krummacher, Herbert Meyer, Bernhard Zeller, Stuttgart 1988, Bd. 13: Briefe 1839 - 1 9 4 1 , hrsg. von Hans-Ulrich Simon, S. 227. Vgl. auch Alfred Mundhenk, a. a. O., S. 143. Ebd., Bd. 10: Briefe 1811 - 1821, hrsg. von Bernhard Zeller und Anneliese Hofmann, Stuttgart 1982, S. 53. Dazu auch Rainer Pohl, a. a. O., S. 224f. Zitiert nach Rainer Pohl, ebd., S. 225f; ferner Hans-Henrik Krummacher: Zu Mörikes Gedichten. Ausgaben und Überlieferung, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 5 , 1 9 6 1 , S. 267 -344, bes. S. 313. Rainer Pohl, a. a. O., S. 224. Mörikes Werke, neue kritisch durchgesehene und erläuterte Ausgabe, hrsg. von Harry Maync, Leipzig 1914, Bd. 1, S. 419. Dazu auch Winfried Freund: Die deutsche Ballade. Theorie, Analysen, Didaktik, Paderborn 1978, S. 67. Wilhelm Hauff: Sämtliche Werke in drei Bänden. Bd. 3, München 1970, S . 370. Ebd., S. 407. Ebd., S. 318. Harry Maync: Eduard Mörike, a. a. O., S. 119. Winfried Freund, a. a. O., S. 68. Ebd., S. 69. Dazu der an sich unzulängliche und heute völlig überholte Aufsatz von Rudolf Kraus: Eduard Mörike und die Politik, in: Euphorion 1,1894, S. 129-136, hier S. 131. So Rainer Pohl, a. a. O., S. 232. Winfried Freund, a. a. O., S. 69.
VL Der Zweifel als mörderisches Prinzip und das Raubtier Revolution. Joseph von Eichendorff, Das Schloß Dürande
Darüber, wie die Französische Revolution zu verstehen sei, hat Eichendorff in seiner Erzählung vom Schloß Dürande nicht den geringsten Zweifel gelassen. "Als der Tag anbrach", so berichtet er über die Ankunft der Revolution in der Provence, "war der ganze Himmel gegen Morgen dunkelrot gefärbt; gegenüber aber stand das Gewitter bleifarben hinter den grauen Türmen des Schlosses Dürande, die Sterbeglocke ging in einzelnen abgebrochenen Klängen über die stille Gegend, die fremd und wie verwandelt in der seltsamen Beleuchtung heraufblickte". 1 Die Revolution bricht mit der Urgewalt eines Naturereignisses über das Land herein, nachdem ein wirres Wetterleuchten schon lange den Himmel von fern erhellt hatte. Der nahende Gewitterwind hat sie bereits unmißverständlich angekündigt, die drückende Schwüle ließ ohnehin nichts Gutes ahnen; die feurigen Zeichen sprechen eine eindeutige Sprache. Das wirre Wetterleuchten am Himmel wiederholt sich im "wirren Wetterleuchten der Fackeln"; die Sturmglocken läuten, als in einer "gräßlichen Helle" unbekannte Gesichter, braune verwilderte Gestalten das Schloß erobern, und das furiose Unwetter endigt in einem "furchtbaren Blitz", der das Schloß Dürande in Trümmer legt. Das über das Schloß Dürande hereinbrechende Unwetter der Revolution ist kein rhetorischer Sturm; Eichendorff vergleicht die Revolution nicht mit Blitz und Donner, sondern sie ist für ihn ein gräßliches Naturereignis; ein aufschlußreicher Hinweis, wenn man bedenkt, wie genau Eichendorff zwischen dem Sein der Dinge und dem, womit er sie vergleicht, zu unterscheiden pflegt. Vergleiche
werden
von
Eichendorff
auf
traditionelle
Weise
eingeführt. Als die plündernden Figuren immer wieder "mit langen Vogelflinten, Stangen und Brecheisen" von neuem nach oben dringen, war es, "als wühlte die Hölle unter dem Schlosse sich a u f . Als sich der Fackelschein verwirrend im glatten Getäfel der Wände spiegelt, ist es Renald, "als äugelte der Teufel mit ihm". Daß es die Hölle also ist, die ihre Klüfte öffnet, ist des Erzählers Meinung; aber nur eine vergleichsweise, denn Eichendorff führt die Höllenassoziation so ein, daß sie jedermann als solche verständlich ist 2 -
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während er die Revolution als das Unwetter schlechthin beschreibt, als Naturkatastrophe unerhörten Ausmaßes, die mit der Unaufhaltsamkeit und mit der Gewalt einer solchen über das Land kommt. Eichendorff nutzt zur Identifikation der Revolution eine beliebte Metapher, ohne sie als Metapher zu verwenden. Das Bild von den Blitzen der Revolution, die Europa trafen, hat Eichendorff offenbar der Schrift von Joseph Görres, "Europa und die Revolution", 1821 veröffentlicht, entnommen. Görres hatte damals geschrieben: "Aber es nahten große Gerichte, ein dikker, dumpfer, stockender Luftkreis hatte über ganz Europa sich hergelegt, und das ganze gesellschaftliche Leben drohte in sich zu vermodern und in Fäulniß sich aufzulösen; darum kamen Stürme dahergefahren, um mit Blitzen zugleich zu strafen und zu reinigen". 3 Möglicherweie aber kannte Eichendorff derartige Gewitterbilder auch aus der Literatur des Barock; darauf deuten einige geistliche Lieder Eichendorffs hin, etwa "Sterbeglocken" oder "Der Pilger", die barocke Vorstellungen und Metaphern verwenden. Doch wie dem auch sei: Görres hat Eichendorff wichtige Anregungen gegeben. Selbst das Bild von der sich aufwühlenden Hölle hat Eichendorff vermutlich von ihm übernommen oder ist doch zumindest angeregt worden, die Revolution auch so zu sehen. Görres hatte geschrieben: "Der einzelne Wille vermag nichts mehr gegen die furchtbare Macht, die sich gegen ihn entkettet hat. Die Nacht und alle Furien des Lebens steigen durch jenen Schlund herauf'. 4 Natürlich läßt sich nicht ein Ungewitter entketten. Aber das Bild von der entketteten Macht scheint wiederzukehren in Eichendorffs letztem Satz seiner Geschichte. Eichendorff hat nicht nur das Thema, sondern auch die Erscheinungsform der Französischen Revolution mehrfach behandelt - so in "Robert und Guiscard", in manchem eine Parallelgeschichte zum "Schloß Dürande". Denn das 1855 erschienene Versepos wiederholt die Revolutionssituation fast wörtlich. Auch dort kommen die verräterischen Dämonen von unten an das Schloß heran, gerät dieses in Brand, stürzt sich Robert "in die Gespensternacht dem Volk entgegen", und das Schloß bricht schließlich, wie jenes in der Provence, prasselnd über ihm zusammen. 5 In "Robert und Guiscard" findet sich übrigens noch ein drittes Bild, das zur Deutung der Revolution dienen soll: die Revolution gleicht einer Lawine, die alles hinwegschwemmt: W e r mag den Sturm in seinem Fluge halten Schon hatt' der Leidenschaften Trauerspiel Entfesselt die dämonischen Gewalten, Gleichwie Lawinen, die, fernab vom Ziel Im Sturze wachsend, von den sonn'gen Höhen Zum dunklen Abgrund donnernd niedergehen.
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Auch dieses Bild dürfte Eichendorff von Görres übernommen haben, der die Revolution ähnlich beschrieben hatte: "Wie ein Berg, den die Verwitterung innerlich aufgelöst, dessen feste Theile der Frost gesprengt, dessen losere Massen der Regen erweicht, dessen Grundschichten tiefe verborgene Wasseradern unterwaschen, in diesem Augenblicke noch mit Wäldern überdeckt, von grünenden Matten umzogen, mit Wohnungen ruhiger Menschen bebaut, unerschütterlich auf seinen Grundfesten zu ruhen scheint; dann aber plötzlich in ganzer Masse zuckend rührt, und nun, innerlich in sich zusammenbrechend, mit donnerndem Getöse, Felsenstücke, Steinbrocken, Geschiebe, Bäume und Häuser, alles übereinanderstürzend ins Thal herniederwälzt, das seine Stätte nicht mehr gefunden wird: so geschah es Frankreich, als das letzte Band, die Gewohnheit des Gehorsams, gebrochen war". 6 Diese Bilder weisen alle in den gleichen Bereich: sie deuten die Revolution als Ausnahmeerscheinung der Natur, als zerstörerischen Weltuntergang, als tödliche Katastrophe. Eichendorff hat in seiner Geschichte vom Untergang des Schlosses Dürande das Phänomen der Französischen Revolution ähnlich verdeutlichen wollen. Der Weltenbrand von 1789 erscheint als Ereignis, das alles und jeden einbezieht; Renaids Gang nach Paris ist der Weg eines zunächst Unbeteiligten in den Kessel des Aufruhrs hinein, aus dem er als ein offensichtlich Verwandelter, ja als Bannerträger der Revolution in die Provence zurückkehrt. Renald wird ihr Verkünder, und er zieht über die Schlösser, um sie niederzubrennen. Alter Adel und junger Adel sind gleichermaßen zum Untergang verdammt, weil sich nichts und niemand der zerstörerischen Gewalt dieser revolutionären Feuersbrunst entziehen kann, und so kommt sie denn auch über das Schloß Dürande. Doch das eigentliche Thema Eichendorffs ist nicht die Ausbreitung der Revolution, sondern deren Zustandekommen. Er versucht, die Gründe für das allmähliche Aufflammen dieses Weltenbrandes zu benennen, und sie stellen sich ihm in den Figuren seiner Geschichte dar. Denn wenn auch die Revolution als Entfesselung wilder, animalischer Kräfte erscheint, deren tödliche Bedrohung mit Hilfe einer elaborierten Farbsymbolik suggestiv verdeutlicht wird, so sind es doch, aller Unwettersymbolik zum Trotze, Menschen, in denen es stürmt und gewittert. Der alte Graf Dürande etwa sieht das auch und sagt seinen Gefolgsleuten: "Ihr kennt den Renald nicht, er kann entsetzlich sein, wie fressend Feuer - läßt man denn reißende Tiere frei aufs Feld? - Ein schöner Löwe, wie er die Mähnen schüttelt - wenn sie nur nicht so blutig wären!" In Paris schon war er in den wilden Haufen abgedankter Soldaten, müßiger Handwerksburschen "und dergleichen Hornkäfer, wie sie in der Abendzeit um die großen Städte schwärmen", hineingeraten; daß er
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seinen Vetter im "Roten Löwen" besucht, ist natürlich nicht ohne symbolische Vorbedeutung - so wie jener Hinweis, daß sich der wilde Haufen in dem wüsten Gemach "in den roten Widerscheinen" des Kaminfeuers gelagert habe. Der Fremde trinkt "dunkelroten Wein, als schlürft' er Blut"; ein starker Kerl, "mit rotem Gesicht und Haar, wie ein brennender Dornbusch", tritt hin vor Renald: und so geht es weiter mit den symbolischen Vordeutungen, bis zu der Rede des Fremden: "Ihr seht aus wie ein Scharfrichter, der, das Schwert unterm Mantel, zu Gerichte geht; es kommt die Zeit, gedenkt an mich, Ihr werdet der Rüstigsten einer sein bei der blutigen Arbeit". Renald schüttelt sich "wie ein gefesselter Löwe". Als er aus Paris zurück ist, heißt es, er habe sich "dort mit verdächtigem Gesindel und Rebellen eingelassen". Der junge Dürande sieht die Revolution als einen rasenden Veitstanz, "und der Renald geigt ihnen vor". Als der sein Mordwerk vollendet hat, weist er, vom alten Dürande ein "reißendes Tier" genannt, die Rolle der wilden Tiere allerdings dem Adel zu, wenn er dem Schloßwart sagt: "Ich meine, ihr solltet mir's alle danken, die wilden Tiere sind verstoßen in den wüsten Wald, es bekümmert sich niemand um sie, sie müssen sich ihr Futter selber nehmen". Das scheint ein moralisches Schlußgericht über den vertriebenen Adel zu sein, und mit der Zerstörung der Welt der Dürandes, mit dem Tod des Grafen, mit der Vernichtung des Schlosses endet ja dann nicht nur die Geschichte, sondern auch die Adelsherrschaft in der Provence. Raubgieriges Gesindel hat sich über den Besitz hergemacht, und der junge Graf Dürande hätte, um sein Leben zu retten, vermutlich besser getan, sich dem Vorbild anzuschließen, das er auf dem Wege von Paris in die Provence traf: "Unterwegs war er mehrmals verworrenen Zügen von Edelleuten begegnet, die schon damals flüchtend die Landstraßen bedeckten". Der junge Graf Dürande freilich will nicht das Schicksal von Exilanten auf sich nehmen, und es heißt erklärend für ihn: "Er aber hatte keinen Glauben an die Fremde". Doch auch der Glaube an die Heimat wird ihm nur zu bald gründlich ausgetrieben. Einem solch finsteren Bild des wildgewordenen Jägers entspricht vordergründig ein Bild des Adels, über den die Revolution zerstörerisch hereinbricht. Der junge Graf Dürande schleicht abends heimlich zur Schwester des Renald; und Renald kann darin nur ein gräfliches Abenteuer sehen. In Paris erhält Renald weitere Auskunft über die Grafen Dürande, als er erfährt: "Das ist ein altes Haus, aber der Totenwurm pickt schon drin, ganz von Liebschaften zerfressen". Und: "sind sie nicht die Herren im Forst, ist das Wild nicht ihre, hohes und niederes? Sind wir nicht verfluchte Hunde und lecken die Schuh', wenn sie uns stoßen?" Der junge Graf bestätigt das, als er zu sich selbst und damit zum Leser sagt: "Ich bin so müde, so müde von Lust und
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immer Lust, langweilige Lust!" Er droht Renald an, ihn mit Hunden vom Hof zu hetzen, als der nur nach seiner Schwester fragt, die er bei ihm weiß; als er dem König seinen Fall vortragen will, erklärt ihn Diirande für wahnsinnig und sorgt dafür, daß er mehrere Monate lang ins Irrenhaus gesperrt wird während der junge Graf selbst im Gefolge des Königs sich weiter bedenkenlos vergnügt. Über den wahren Zustand des Adels aber unterrichtet das, was über den alten Grafen Dürande gesagt ist. Der Graf lebt sein Leben unter dem Zeichen des Ancien Régime, obwohl dessen Zeit längst vorbei ist. "Die Bedienten kicherten heimlich", so heißt es; wenn der junge Graf Dürande nach Paris gereist ist, so, "um dort lustig durchzuwintern". Es ist das Bild eines maroden Adels, der reif ist für den Untergang; und daß der Gewittersturm der Französischen Revolution über ihn kommt, ist nicht verwunderlich, zudem der Adel selbst das Seinige dazu tut, um diesen Sturm zu erregen. Der Graf, dem die Schwester des Jägers eine leichte Beute zu sein scheint; der Jäger, der sich gleichsam mit Hilfe der Revolution beim adeligen Verführer zu rächen versucht; die verführte Unschuld auf der einen Seite und der von der Lust gelangweilte Graf auf der anderen: die revolutionäre Stimmung, der sich ausbreitende Feuerbrand der Revolution sind mehr als verständlich, und die Renald anfliegende Hoffnung, er könne mit dem König sprechen und so "könne noch alles wieder gut werden", diese Hoffnung ist höchst trügerisch, landet er doch im Narrenhaus; seine Suche nach Wahrheit wird als Wahnsinn ausgegeben, und das alles nur, damit der Graf, so muß Renald denken, es weiter so treiben kann, wie er es bislang getrieben hat.
Eine solche Deutung paßt in das Relief der Revolutionsbefürchtungen nur zu gut hinein, wie sie vor allem im konservativen Lager so reichlich nicht nur nach 1789, sondern gerade in dem Jahrzehnt hochkamen, in dem Eichendorff seine Erzählung vom Schloß Dürande schrieb. "Goethe sagte vor seinem Ende, es scheine sich ein Krieg vorzubereiten, wie der dreißigjährige gewesen; in vielen Zeitgenossen setzt sich eine ähnliche Meinung fest", schrieb Ranke in "Restauration und Julirevolution". 7 Gerade Historiker haben in den dreißiger Jahren die Revolution als eine unheimliche abendländische Geißel empfunden. Dabei ging es gar nicht einmal mehr so sehr um den Untergang des Adels als vielmehr um den Verlust einer bis dahin geordneten Welt, ja um das Ende der Kultur überhaupt, und Niebuhr hat ungefähr zur gleichen Zeit, in der Goethe das Ende der Zeiten voraussah, in seiner "Römischen Geschichte" notiert: "jezt blicken wir vor uns in eine, wenn Gott
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nicht wunderbar hilft, bevorstehende Zerstörung, wie die römische Welt sie um die Mitte des dritten Jahrhunderts unsrer Zeitrechnung erfuhr: auf Vernichtung des Wohlstands, der Freyheit, der Bildung, der Wissenschaft".8 Ähnliche Untergangsstimmungen sind erst gegen Ende des Jahrhunderts noch einmal in dieser Deutlichkeit formuliert worden, so in Otto Seecks "Geschichte des Untergangs der antiken Welt", und ähnlich pessimistisch hat sich am Beispiel der antiken Kultur auch Julius Beloch geäußert in seinem Aufsatz "Der Verfall der antiken Kultur", 1900 erschienen. 9 Spenglers "Der Untergang des Abendlandes" ist nur der späte Schlußpunkt unter diesen Geschichtspessimismus, der eine direkte Folgeerscheinung der negativ verstandenen Revolutionserfahrung des frühen 19. Jahrhunderts war. Was Eichendorff beschrieb, scheint deutlich mit jenem Ausspruch Nietzsches übereinzustimmen, der von "jener schauerlichen und, aus der Nähe beurteilt, überflüssigen Posse" der Französischen Revolution gesprochen hat, 10 und an anderer Stelle hat wiederum Nietzsche gesagt, was Eichendorff hätte äußern können, als er von der "Entstehung des letzten großen Sklaven-Aufstandes" handelte, "welcher mit der französischen Revolution begonnen hat". 11 Aber auch Nietzsche war offenbar von der Zwangsläufigkeit der Geschehnisse überzeugt, sah er doch immerfort die "Flut der überall unvermeidlich scheinenden Revolution". 12 Doch Nietzsche war nur ein später Skeptiker. Er hatte als gerade nach Basel berufener Professor der klassischen Philologie ein Kolleg eines damals nicht weniger bedeutenden Gelehrten gehört: Jacob Burckhardts "Weltgeschichtliche Betrachtungen", und dort hatte Burckhardt davon gesprochen, daß 1789 in den Gebildeten eine Utopie, jedoch "in den Massen ein aufgespeicherter Schatz von Haß und Rache lebendig war". Der französische Adel sei "absolut inkorrigibel" gewesen, "selbst bei klarer Einsicht des Abgrundes in vielen Einzelnen". 13 Damals seien die Kräfte losgebunden worden, und nur die äußere Gewalt habe sie in irgendein Bett zu leiten vermocht. Die Fragwürdigkeit der Revolution aber schien Burckhardt deutlich zu werden in dem, was darauf folgte: "Vollends aber betrachtet neuer Besitz sich selbst und seine Erhaltung, nicht aber die Krisis, durch die er entstanden ist, als das Wesentliche; die Krisis soll ja nicht rückgängig gemacht werden, wohl aber genau an der Stelle innehalten, da der Besitz ins Trockene gebracht ist. So sind die neuen Eigentümer in Frankreich seit 1794/95 voll von Abscheu gegen den früheren Zustand, aber ebenso voll von Sehnsucht nach einer despotischen Gewalt, welche den Besitz garantieren soll, gehe es dann der Freiheit, wie es wolle".14 Aus der Sicht der Eichendorffschen Geschichte sind das alles nur Nachklänge einer Revolutionsbefürchtung, wie sie gerade nach 1830 nicht zufällig hochgekommen war; die Julirevolution hatte alle Bedenklichkeiten
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der Revolutionsgegner neu aufflammen lassen. Im konservativen Lager wuchsen Unsicherheit und Verachtung. Schopenhauer wollte ebenfalls mit der "souveränen Kanaille" nichts zu tun haben. Eichendorff scheint auch dem vorangegangen zu sein, hat er doch mit seiner Geschichte vom Schloß Dürande reichlich Öl ins Feuer der Revolutionsfurcht hineingegossen. Der Leser mußte zunächst einmal den Eindruck gewinnen, daß das Aufkommen der Revolution ebenso zwangsläufig wie unheimlich war: da war Irrationales wachgeworden und brach sich unkontrolliert Bahn. Aber Eichendorff hat seine Novelle wohl nicht geschrieben, um einer allgemeinen Revolutionsangst Ausdruck zu geben. Gewiß war die Revolution für ihn eine Urgewalt, und die Bildermacht und Bilderfülle dieser Revolutionserzählung soll zeigen, daß sie nicht nur unvermeidlich, sondern auch unvermeidlich zerstörerisch war. Dennoch ist es nicht Eichendorffs Absicht, das Revolutionsgeschehen zu einem Weltereignis zu erklären, dem man zwangsläufig hilflos gegenüberstehe. Eichendorff hat für den Ausbruch der Revolution letztlich eine andere Erklärung als die, daß hier eine Naturkatastrophe ausgebrochen sei; und darüber hinaus hat er eine Lehre zu verkünden, was die Folgen der Revolution angeht. Er weiß diese nirgendwo anders losgebunden als im Menschen selbst, und es ist der letzte Satz der Erzählung, der den eigentlichen Aufschluß für das Hochkommen der Revolution gibt: "Du aber hüte dich, das wilde Tier zu wecken in der Brust, daß es nicht plötzlich ausbricht und dich selbst zerreißt". Als wildes Tier ist Renald schon vorher apostrophiert worden, dort nämlich, wo er sich "wie ein gefesselter Löwe" schüttelt. Eichendorff hat damit das Phänomen des Aufruhrs internalisiert, zum psychologischen Ausnahme- und Krankheitsfall gemacht, zur extravaganten Seelenlage, der man steuern muß, vergleichbar allenfalls dem Ausbruch des Wahnsinns oder dem ungezügelter, eben wilder Triebe. Es kommt zur Revolution, wenn das Zerstörerische im Menschen freigesetzt ist: also keine Naturkatastrophe, sondern eine seelische Ausartung, ein Zutagetreten des Bösen in der Welt, das im Innern selbst angelegt ist und das gebändigt werden muß, soll die Welt nicht untergehen. Die Gewitterbilder wollen in Analogie gelesen werden, sie sind nur Demonstrationshilfen. Die Erzählung vom Schloß Dürande will erklären, wie es zum Ausbruch des wilden Tieres kommen kann, und nicht weniger, wohin es führen muß, wenn das wilde Tier freigelassen wird: nämlich zur Zerstörung der Welt und der bislang gültigen Ordnung. Soziale Probleme, die Abhängigkeit der Bediensteten vom Adel etwa, spielen so gut wie keine Rolle. Der Ausbruch der Revolution zeigt vielmehr, daß eine dämonische Gewalt, die im Menschen verborgen ist, unter bestimmten Voraussetzungen nicht mehr zu bändigen ist und Maßlosigkeit, Willkür und Wahnglaube dann so herrschend werden, daß sie am
150 E n d e sich in der Eruption des B ö s e n entladen. Nicht von ungefähr taucht auch der T e u f e l schemenhaft a u f . 1 5 A b e r er ist nicht T e i l der äußeren Welt, sondern steckt im Menschen selbst. Sieht man die Erzählung so, also nicht als Bericht über den Ausbruch eines Naturereignisses, dem nichts und niemand sich entgegenstellen kann, dann verlangt das allerdings gleichsam eine neue, nochmalige L e k t ü r e und eine veränderte Bewertung der Figuren dieser Geschichte. R e n a l d muß dem schnellen L e s e r zunächst einmal als Revolutionswüterich erscheinen, als wilder M a n n aus dem Volke, der endlich im Namen der Revolution
Rache
nehmen kann; so wird er zum Adelsfeind und Mordbrenner. A b e r wer genau liest, der sieht bald, daß das alles nicht stimmt. R e n a l d , in Paris in den R e volutionsstrudel hineingerissen, wird durchaus nicht zum J a k o b i n e r und kehrt auch nicht als unheilvoller Verkündiger der neuen W e l t l e h r e in seine H e i m a t zurück. E r , der scheinbar so blutige Revolutionär, ist im G r u n d e g e n o m m e n ein konservativer Mensch und alles andere als ein wilder R e b e l l . D e n n nichts liegt ihm ferner als ein Aufstand gegen seine Obrigkeit - als er nach seiner Ankunft in Paris wegen des "adeligen Halsbandes" gehänselt wird, greift e r rasch "nach seinem Hirschfänger", um den Beleidiger zu strafen - nicht, weil er, sondern weil sein Verhältnis zum Adel verspottet wird. Als e r unter den wilden Haufen abgedankter Soldaten, müßiger Handwerksburschen und J a kobiner geraten ist, heißt es bezeichnenderweise von ihm: " D e m R e n a l d a b e r gefiel hier die ganze Wirtschaft nicht". E r will damit im G r u n d e nichts zu tun haben, schläft "unter furchtbaren T r ä u m e n ein". Als R e n a l d dann den G r a f e n erblickt, den er für den Verführer seiner Schwester hält, tritt er "ehrerbietig" zurück. Selbst als die Begegnung mit dem jungen G r a f e n Dürande so unerfreulich ausfällt, versucht er immer noch, "alles in G ü t e abzumachen". Erst als er endgültig vom G r a f e n Dürande zurückgewiesen wird, begehrt er auf aber nicht, um blutige R a c h e zu nehmen, sondern um nichts Geringeres, aber auch nicht mehr als sein "Recht" zu verlangen - eine Kohlhaas-Figur fortan. Dieses R e c h t wird von nun an zum Leitstern seines L e b e n s , und sein unerbittliches Rechtsbewußtsein e b e n ist es, was als reißendes T i e r in seiner Brust wachgeworden ist. R e n a i d s Rechtsgefühl, das er so sehr vom G r a f e n Dürande verletzt sieht, macht ihn zum Rasenden, und erst von da an wird er vom G e j a g t e n zum Jäger. D e r junge G r a f Dürande weiß das, als er zu seinen D i e n e r n sagt: "nun wendet sich die Jagd, wir sind jetzt das Wild, wir müssen durch. Was wird es sein! Ein Tollhaus mehr ist wieder aufgeriegelt, der rasende Veitstanz geht durchs Land, und der R e n a l d geigt ihnen vor." So setzt er denn "Trotz gegen Trotz" - wie Renald auch, der sich, da er sein R e c h t von der Obrigkeit so mit Füßen getreten sieht, am Schluß selbst zum R i c h t e r macht und sein Richteramt mit der Ermordung des G r a f e n Dürande vollen-
151 det. D o c h eben dieses B e s t e h e n auf dem vermeintlichen R e c h t , der Versuch, es unter allen Umständen durchzusetzen, erweist sich als das eigentlich Z e r störerische. D e n n auf alles das hin antwortet Eichendorff mit der Warnung: "Du a b e r hüte dich, das wilde T i e r zu wecken in der Brust, daß es nicht plötzlich ausbricht und dich selbst zerreißt". E s ist eine Warnung, die er später noch zweimal ausspricht: einmal a m Schluß des Versepos "Julian ("Du a b e r hüt' den D ä m o n , der in der Brust dir gleißt, / D a ß er nicht plötzlich ausbricht und wild dich selbst zerreißt") nach der G e s c h i c h t e von Aufruhr, Empörung und Kaisermord, die ebenfalls in zerfallenen M a u e r n endet. D e r Schluß
des
Versepos
wiederholt
bis in Einzelheiten
die Szenerie
der
Dürande-Erzählung: so hat Oktavian des V a t e r s "Helm und Waffen" angelegt, um die Pfeile, die j e n e m galten, auf sich zu lenken; Faustina tötet den Falschen. D e r schließlich durch das Dickicht b r e c h e n d e und vom
Blut
gerötete M a n n ist der M ö r d e r Julians, der " E r b a r m e n nicht noch Huld" mit seinem G e g n e r gezeigt hatte. D e r Frage, ob ihm verziehen sei, folgt dann der Spruch vom D ä m o n in der Brust. D a s wilde T i e r ist überall dort losgelassen, wo sich der Mensch absolut setzt und sich damit zum selbsternannten R i c h t e r macht - wie Severus, wie R e n a l d . Auch in Kleists "Michael Kohlhaas" sieht Eichendorff "das gekränkte tiefe Rechtsgefühl eines einfachen Roßkamms", gesteigert "bis zum wahnwitzigen Fanatismus, der rachelustig sich und das Land in Mord und Brand stürzt". B e d e u t s a m e r noch ist Eichendorffs Hinweis auf Kleist in seiner " G e schichte der poetischen Literatur Deutschlands", als er dort in fast wörtlicher Wiederholung der Dürande-Zeilen warnt: "Hüte j e d e r das wilde T i e r in seiner Brust, daß es nicht plötzlich ausbricht und ihn selbst z e r r e i ß t ! " 1 6 Das ist die gleiche Mahnung, hier also ein drittes Mal formuliert. E s läßt erkennen, wie sehr Eichendorff auch in Kleist eruptive M ä c h t e am W e r k gesehen hatte, derer er nicht H e r r zu werden vermochte. E r fügt in seiner Literaturgeschichte hinzu: "Denn das war Kleists Unglück und schwer gebüßte Schuld, daß er diese, keinem Dichter fremde, dämonische Gewalt nicht bändigen konnte oder wollte, die bald unverhohlen, bald heimlich-leise, und dann nur um so grauenvoller, fast durch alle seine Dichtungen geht". 1 7 D i e nicht zu bändigende Wildheit also, Maßlosigkeit, "wüste phantastische Leere", unheilvolle Katastrophen, Zerrissenheit: die Charakteristika, die er Kleist zuordnet, sind im wesentlichen die gleichen, die er schon in der Französischen R e volution gefunden hatte. "Wahnsinniger Fanatismus": das ist nicht nur das Kennzeichen des Michael Kohlhaas, der das Land "in Mord und Brand stürzt", sondern zugleich Eichendorffs
Formel
zur Erklärung der
Fran-
zösischen Revolution. Eichendorff hat auch von "ethischer Maßlosigkeit" gesprochen, und er hat noch hinzugefügt, warum es aus seiner Sicht dazu ge-
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kommen war: es ist für ihn "der gänzliche Mangel an religiösem Glauben", der "einen poetischen Wahnglauben zur unabweislichen Folge" hat. Kleist ist areligiös, will Eichendorff hiermit sagen, und weil er das ist, kann eben ein Rechtsgefühl, maßlos übersteigert, zum wahnsinnigen Fanatismus ausarten. Eichendorff meint mit dem Hinweis auf den gänzlichen Mangel an religiösem Glauben natürlich nicht eine hausbackene Frömmigkeit im traditionellen Sinne, sondern die Bereitschaft zur Anerkennung einer überirdischen Gewalt. Wo dieser religiöse Glaube fehlt, kann es zur zerstörerischen Unordnung kommen; wo er vorhanden ist, ist die Welt noch gesichert. Renald gehört ursprünglich zu den derart Gläubigen. Er möchte nichts anderes als die althergebrachte Ordnung gewahrt wissen, und wer ihn als wilden Revolutionär interpretiert, der das Schloß Dürande aufrührerisch in Brand steckt und fatalerweise darin selbst umkommt, liest die Geschichte falsch. Renald hält vielmehr bis zum Äußersten an seiner alten Überzeugung von Rechtlichkeit und Gültigkeit der überlieferten Ordnung fest, und so versucht er denn zunächst in einem fast schon blinden Vertrauen auf diese seiner Meinung nach für alle verbindliche Ordnung eine gütliche Einigung, auch dann noch, als er ein verräterisches Indiz, nämlich Gabrieles Schnupftuch, auf dem Tisch des Grafen Dürande in Paris liegen sieht. Er nimmt an, daß Gabriele bei ihm sei - ein tödlicher Irrtum, wie sich im Nachhinein herausstellen wird. Doch selbst als eine gütliche Einigung auf Grund der alten Prinzipien nicht mehr möglich zu sein scheint, nimmt Renald seine Zuflucht nicht zur Privatrache, sondern beschließt als gläubiger Christ den König anzugehen, da dieser ja der irdische Repräsentant einer höheren Ordnung auf Erden ist, für Renald jedenfalls. Seine Forderung will er nicht nur gegen den Grafen Dürande durchsetzen, sondern "dereinst vor Gottes Thron" verantworten. Und er hofft, in Variation des "Taugenichts"-Schlusses, so "könne noch alles wieder gut werden" - dem respondieren Gabrieles letzte Worte: "Nun ist ja alles, alles wieder gut": eine höchst doppelsinnige Replik auf den Wunsch des Bruders. Renald also möchte verletztes Recht wiederherstellen, nicht etwa den Adel in Bausch und Bogen verdammen, und darin eben ist seine Haltung konservativ. Der Graf scheint gegen ritterliche Pflichten verstoßen und einen gemeinsamen Rechtsgrund verlassen zu haben; damit hat er, so meint Renald, das Ordnungsgefüge der Welt in Frage gestellt, und weil dem so zu sein scheint, kämpft er nicht nur um sein Recht, sondern mit seinem Kampf um sein Recht auch um die Wiederherstellung der alten Ordnung, also um ein Ziel, das dem der Revolution genau entgegengesetzt ist. Renald hält bis zum Äußersten an seiner Überzeugung von der Rechtlichkeit und Gültigkeit der überlieferten Ordnung fest, und er will am Ende ja auch nur das Heirats-
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gelöbnis, zu dem der Graf seiner Schwester gegenüber seiner Meinung nach verpflichtet ist; nichts scheint ihm dieses mehr zu garantieren als ein "mit dem gräflichen Wappen gesiegeltes Pergament" - das ist ihm alles andere als ein ebenso gehuldigtes wie nichtssagendes Dokument, vielmehr Garant eben dieser Ordnung, die er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigt. Es kann also zunächst keine Rede davon sein, daß Renald sich ohne Prüfung der Umstände den revolutionären Gesellen anschließt, um seinem alten Haß gegen den Grafen freien Lauf zu lassen, erst recht nicht davon, daß er sich selbst eine revolutionäre Gesinnung zu eigen gemacht habe. Er sucht nur den Grafen, um sein Recht geltend zu machen, achtet nicht auf das Treiben der anderen; Renald zerstört also nicht die feudale Ordnung, sondern bemüht sich gerade, ihr zu genügen. Diese feudale Ordnung aber ruht für ihn auf zwei Fundamenten: auf Liebe und Vertrauen, die beide im Glauben verankert sind - das ist für ihn die sittliche Grundlage der Welt überhaupt, an die nicht nur Renald, sondern, wie wir wissen, Eichendorff selbst geglaubt hat. Unter diesen Prämissen ist der Hinweis in dem Kleist-Abschnitt der Literaturgeschichte auf dessen "Mangel an religiösem Glauben" 1 8 zu verstehen; das ist für Eichendorff ein Mangel an Gläubigkeit auch den Fundamenten der Weltordnung gegenüber. Es ist diese ideale Ordnung, das will die Erzählung demonstrieren, die allmählich erschüttert und zerstört wird - und eben deswegen bricht die Welt hier zusammen. Was den Untergang schließlich herbeiführt, ist das wilde Tier in der Brust Renaids: damit ist aber nicht etwa eine numinose Macht gemeint, sondern das, was bei Eichendorff beziehungsvoll "Zweifel" heißt und das Heraufkommen dieses Zweifels liefert das eigentliche Spannungsmoment der Erzählung, nicht das Erscheinen der Revolution, zumal dieses, wie jedem Leser deutlich ist, von Eichendorff ja in gewissem Sinne ganz erheblich manipuliert worden ist. Dem Zweifel steht lange Zeit noch die Hoffnung entgegen, es könne alles wieder gut werden, aber dann wird der Zweifel übergroß, und er ist es, der alles untergräbt. An die Stelle des Glaubens tritt eine oberflächliche, schlechte Rationalität, ein verstandesmäßiges Vermuten und In-Frage-Stellen, das sich aber nicht auszahlt. Mit dem Zweifeln beginnt die Zerstörung der alten überkommenen Welt; was am Ende übrigbleibt, ist nichts anderes als ein Trümmerhaufen. Auch Renaids verletztes Ehrgefühl löst nicht die Katastrophe aus, sondern der Zweifel daran, ob der junge Graf die Wahrheit gesagt habe, als er Renald mitteilte, daß Gabriele nicht bei ihm sei. Der Zweifel ist für Eichendorff das eigentlich Böse, das in der Welt existiert - gibt man ihm nach, endet alles im Untergang. Renald hatte diesem Zweifel von Anfang an nachgegeben; er kam nicht erst auf, als Gabriele verschwunden war, sondern setzte schon ein, als Renald von den Gerüchten
154 hörte, die in seiner kleinen Welt umliefen: "Ein junger fremder Mann, so hieß es, schleiche abends heimlich zu seiner Schwester, wenn er selber weit im Forst; ein alter Jäger hatte es ihm gestern vertraut, der wußte es vom Waldläufer, dem hatt' es ein Köhler gesagt. Es war ihm ganz unglaublich, wie sollte sie zu der Bekanntschaft gelangt sein? Sie kam nur Sonntags in die Kirche, wo er sie niemals aus den Augen verlor. Und doch wurmte ihn das Gerede, er konnte sich's nicht aus dem Sinn schlagen, er wollte endlich Gewißheit haben". Nicht die Suche nach Wahrheit ist es, die ihn leitet, sondern der Zweifel, ob Gabriele noch zu vertrauen sei. Die so unklare Herkunft des Gerüchtes ließe zu, es nicht ernst zu nehmen, aber Renald fängt an zu mißtrauen, und es ist sein Zweifel an der Aufrichtigkeit seiner Schwester, mit dem die Geschichte beginnt und der sich im Zweifel an der Weltordnung fortsetzt, um schließlich in der Zerstörung dieser Weltordnung durch den Zweifel zu enden. Wie der Zweifel freilich in die Welt gekommen sei - darüber sagt auch der Erzähler Eichendorff nichts, der es bei dem "so hieß es" zu Beginn der Erzählung beläßt. Doch das alles ist erzählerische Absicht: Eichendorff will damit zu erkennen geben, daß zwar Äußerliches den Zweifel in die Welt bringt, aber daß dieser dann als innere Gewalt weiterlebt und, einmal vorhanden, sich jeder Gelegenheit bedient, um sein zerstörerisches Werk zu treiben. Mit anderen Worten: der Zweifel bricht im Inneren los; Renald hat sich als nicht stark genug erwiesen, als er von den Gerüchten um seine Schwester hörte, und hier schon beginnt sein Glaube an sie und die Integrität dieser Welt brüchig zu werden; im Zusammenbruch des Vertrauens beginnt bereits der Zusammenbruch der Weltordnung überhaupt. Zwar müssen sich Renaids schon vorhandene Zweifel notgedrungen verstärken, als der alte Graf Dürande die Verführung der Unschuld zur gerne und oft ausgeführten Beschäftigung der jungen Dürandes erklärt; so ist verständlich, daß das Ehrgefühl Renaids rebellieren muß, begreiflich auch, daß seine Zweifel wachsen. Aber er hätte dem, so meint Eichendorff, dennoch nicht stattgeben dürfen. Mißtrauen: das ist die Verhaltensform einer skeptischen Rationalität, der es an Glauben mangelt und die deswegen verneinen und zerstören muß. Eichendorff schildert alle Phasen dieser Vertrauenskrise, die in den tödlichen Zweifel führen muß, weil der Verstand an die Stelle des gläubigen Gefühls getreten ist. Anfangs wird Renald noch zwischen Mißtrauen und Vertrauen hin- und hergerissen, doch wenn er einerseits Gabriele auch vor den Nachstellungen des Grafen in das Kloster bringen will und sie dort in Sicherheit meint, so vertraut er doch noch auf die Großmut des Grafen, selbst in Paris, als er mit den Revolutionsleuten zusammengetroffen ist. Denn dort sagt er dem dämonischen Fremden in der Pariser Schenke: "Der junge Graf Dürande sei ein großmütiger Herr, er wolle nur sein Recht von ihm und wei-
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ter nichts". Aber dann kommt es erneut zu Mißverständnissen, die die Vertrauenskrise vertiefen: am Ende überwuchern Zweifel und das blinde Beharren auf dem vermeintlich guten Recht alles, was ein menschliches Zusammenleben erst möglich macht. Rechtskollisionen sind in der Literatur des frühen 19. Jahrhunderts keine Ausnahme, sondern eher die Regel. Kleist hat sie, wie Eichendorff genau gesehen hat, mehrfach mit allen Konsequenzen geschildert: mit der Zerstörung der eigenen Existenz bei dem, der nichts anderes haben will als sein Recht, mit dem Sieg des inneren Rechtsgefühls gegenüber den sichtbaren Zeichen eines Gottesurteils, im Konflikt zwischen militärischem Gehorsam und eigener Verantwortung. Wiederholt will sich das "innerste Gefühl" einem äußeren Rechtsanspruch nicht mehr fügen, obwohl Kleist der letzte wäre, der auf Rechtsnormen Verzicht leisten würde. U m eine Rechtskollision geht es auch in der "Judenbuche" der Droste: da stellt sich, wie bei Kleist, die Frage, ob das Recht als kodifiziertes Recht zureichend oder ob es in das Beurteilungsvermögen des Einzelnen gestellt ist. Derartige Rechtskollisionen zeugen von der Veränderbarkeit der Verhältnisse, von einer Instabilität der Beziehung zwischen dem individuellen Rechtsgefühl und der tradierten Rechtsordnung, also davon, daß lebenswichtige Grundlagen in Frage gestellt worden sind. Die Geschichte vom Schloß Dürande ist nur eine Variante in der Literatur der Rechtskonflikte. Hier wird das Recht nicht von außen her zerstört; in Renald selbst kollidiert das alte Rechtsempfinden, das auf Vertrauen und Liebe basiert, mit seinem scheinbar schärferen und richtigeren Rechtsbewußtsein, das sich auf seinen Zweifel gründet. Zwar ist das alte Recht der Felsen, an den er sich klammert und festhält, bis der Zweifel ihn übermannt; dieser Zweifel ist das Neue, etwas Subjektivistisches, ein Verhaltensprinzip, das zur Zerstörung der alten Fundamente führt; und von nichts anderem wird in dieser Novelle berichtet. Der entscheidende Konflikt spielt sich im Inneren ab; mit dem Zweifeln beginnt, um in den Bildern der Novelle zu sprechen, ein Losbinden des wilden Tieres in Renaids Brust. Denn wenn es auch, vom Gang der Ereignisse her, immer mehr Hinweise darauf gibt, daß Renald in seinem Verdacht, der junge Dürande habe die Schwester entführt und verführt, recht hat, so rechtfertigt das, wie der Schluß der Geschichte zeigt, nicht diesen Zweifel. In dem Augenblick, wo er ihm blind folgt, ist das alte ehrwürdige System, das die Welt bis dahin in Ordnung gehalten hat, dem Untergang geweiht, und es hilft nichts, daß Renald zunächst durchaus noch seinem Christengott anhängt und gar nicht beabsichtigt, aus Rache das Geschlecht der Dürandes auszurotten oder etwa gar eine Revolution anzuzetteln. Zur Revolution führt anderes: es ist der Sieg des vorwitzigen Verstandes über eine durch eine lange Tradition bewährte Lebenssicherheit, die sich auf
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Liebe, Glaube und Vertrauen gründet. A n die Stelle dieser alten Trias tritt bei Renald eine skeptische Ungläubigkeit, die anfangs noch mehr im Verborgenen als Ärger über das ständige Gerede der anderen erscheint, die aber dann immer stärker wird und schließlich dazu führt, daß am Ende sogar das Wirken Gottes auf Erden bezweifelt wird. Für Renald ist in seiner naiven Christlichkeit die Gerechtigkeit Gottes direkt mit dem irdischen Geschehen verknüpft, aber auch das ist ein Schritt vom durch die Tradition geheiligten Weg fort: denn Renald hat, indem er die Wirkung der Gerechtigkeit Gottes so direkt auf Erden sehen will, eben diese gewissermaßen säkularisiert, da er sie mit menschlichen Maßstäben mißt und einen Kausalnexus herstellt, der an sich so nicht gegeben ist. Denn nicht nur Liebe und Vertrauen zu den Grafen Dürande und zum König als Stellvertreter Gottes auf Erden werden in Frage gestellt - am Ende stellt Renald auch den Sinn von Liebe und Vertrauen in die Gerechtigkeit Gottes in Frage. An dessen Stelle tritt die eigene Rechtsbegründung und der Versuch, sich selbst Recht zu verschaffen, da auf anderes nicht mehr Verlaß zu sein scheint. So gerät Renald am Schluß in einen ebenso tragischen wie unlösbaren Konflikt: einerseits will er bis zuletzt die alte Ordnung bewahren, da bislang nichts dafür spricht, daß diese sich auf ein Unrecht gegründet habe, weil sie ihm bislang immer als Spiegel der himmlischen Ordnung erschienen ist - auf der anderen Seite aber gibt er den Zweifeln in seiner Brust immer stärker Raum, läßt das Mißtrauen immer weiter vordringen, und so begräbt er selbst die Ordnungselemente, an denen er doch festhalten möchte. Das wird in seinem Gebet deutlich, das nicht nur seinen Wunsch zu erkennen gibt, am alten Glauben festzuhalten, sondern auch davon zeugt, daß er das nicht mehr kann und stattdessen sein vermeintlich irdisches besseres Recht, das sich auf nichts als auf Vermutungen gründet und auf einige scheinbare Beweise, durchsetzen möchte. Es ist der eigentliche Wendepunkt der Novelle: "In diesem Hinbrüten, wie wenn man beim Sonnenglanz die Augen schießt, spielten feurige Figuren wechselnd auf dem dunkeln Grund seiner Seele: schlängelnde Zornesblicke und halbgeborne Gedanken blutiger Rache. In dieser Not betete er still für sich; als er aber an die Worte kam: Vergib uns unsere Schuld, als auch wir vergeben unseren Schuldnern, fuhr er zusammen; er konnte es dem Grafen nicht vergeben. Angstvoll und immer brünstiger betete er fort". 19 Renald stellt seinen eigenen vermeintlichen Rechtsanspruch höher als den Glauben, damit aber auch als den wirklichen Richterspruch. Oder vielmehr: Renald setzt sich in seinem Rechtsdenken an die Stelle der göttlichen Gerechtigkeit, und in welchem Ausmaß er das tut, wird deutlich, als er schließlich dem Grafen Dürande sein Ultimatum übermittelt: "Im Namen Gottes verordne ich hiermit [...]". Das ist Hybris, und damit ist die Zerstörung der überkommenen Ordnung unwider-
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ruflich. Renald hätte dem Zweifel nicht folgen sollen, er hätte entgegen allem Anschein an dem "tiefen Naturgefühl der heimatlichen Anhänglichkeit, der Treue und des Gehorsams" festhalten müssen, so wäre es nicht zur Katastrophe und zum Untergang aller gekommen. Zwar war Renaids Ehrgefühl verletzt worden; aber er hätte dennoch nicht nach dem Recht auf eigene Faust suchen dürfen: das ist offenbar die Lehre, die Eichendorff hier erteilen will. Renald ist für Eichendorff der Prototyp des Zerrissenen, in dem Verstand und Gefühl in Widerspruch zueinander geraten und Vertrauen, Glaube und Liebe, also das religiöse Fundament, aufgegeben worden wird. Wo das geschieht, da kommt es zur Katastrophe; und das ist, so will Eichendorff lehren, das eigentlich Zerstörerische an der Französischen Revolution. So erschließt sich der politische Sinn der Novelle erst aus der Analyse der Kräfte, die hier zum Verhängnis geführt haben. Die humanen Fundamente, wie sie für Eichendorff in der christlichen Weltordnung überliefert waren, sind erschüttert und zerstört; die Revolution ist nichts anderes als der Sieg des vorwitzigen Verstandes, der Triumph der Rationalität, des Zweifeins über den Glauben, und Eichendorffs Lehre geht dahin, daß der Weg zurückzuführen habe, daß also derjenige, der zweifelte, den Zweifel in sich wieder ausrotten müsse, und sei es auch unter Preisgabe des eigenen Daseins. Das wird am Schluß der Geschichte deutlich: die Idee des Opfers und der Sühne ist die Leitidee am Schluß der Erzählung. 2 0 Renald hat seine Hybris offenbar eingesehen, er hat erkannt, daß er mit seinem Zweifel und dem Beharren auf seinem eigenen Rechtsanspruch nicht nur selbst im Unrecht war, sondern auch die tatsächlichen Verhältnisse falsch eingeschätzt hat. Er wird also gleichsam durch die Wirklichkeit widerlegt, aber da er mit seinem Zweifeln einen Zerstörungsprozeß in Gang gesetzt hat, so läßt sich dieser das liegt in der Eigengesetzlichkeit historischer Vorgänge - nicht mehr aufhalten. Was ihm bleibt, ist die Bereitschaft zur Wiedergutmachung durch die Aufgabe seiner selbst: "Dann wurde alles still; wie eine Opferflamme, schlank, mild und prächtig stieg das Feuer zum gestirnten Himmel auf, die Gründe und Wälder ringsumher erleuchtend - den Renald sah man nimmer wieder". Hier wird nicht nur ein Opfer gebracht, sondern hier wird es auch das zeigt der Hinweis auf den gestirnten Himmel - angenommen, und so ist die Revolution am Ende sogar als Schauspiel von Schuld und Sühne in einen umfassenderen christlichen Rahmen eingepaßt. Die Revolution: sie spielt sich also im Menschen ab, Eichendorff sieht in ihm destruktive Kräfte freigesetzt. Der Aufstand von 1789 ist für Eichendorff nicht die Folge sozialer Mißverhältnisse, nicht gegen die Hybris des Königtums gerichtet. Für ihn ist das Geschehen ein Ereignis aus der Seelengeschichte, die zur Weltgeschichte wird; Weltgeschichte und
Seelenge-
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schichte sind hier parallelisiert, und Eichendorff tut das nicht ohne Grund: mag der Mensch sich anderswo geschichtlichen Situationen und Veränderungen gegenüber hilflos ausgeliefert sehen, so hat er dort, wo die Weltgeschichte zur Seelengeschichte wird, doch Einfluß, ist für sie verantwortlich, und vor allem kann er an seiner eigenen Person und seinem Schicksal sehen lernen, daß der Abfall von der alten Ordnung mit Zerstörung zusammengeht, daß Liebe und Vertrauen nicht auf einer Rechtsbasis existieren, sondern gleichsam noch hinter dem Recht stehen, daß sie auch nicht rechtlich eingefordert werden können, sondern daß immer dann, wenn das subjektive Rechtsgefühl gegen Glaube, Liebe und Ordnung aufsteht, dieses Rechtsgefühl unterliegen muß, weil die Geschichte nicht als Geschichte an sich abläuft, sondern ihre entscheidende Steuerung von der Seele her erhält. So ist die Erzählung vom Schloß Dürande also eine Aufforderung an den Leser, sich seiner seelischen Möglichkeiten und vor allem: sich seiner Gefahren bewußt zu werden, den Zweifel nicht hochkommen zu lassen, nicht das rationale Ausdeuteln der Geschichte, das subjektive Beharren auf einem ebenfalls subjektiv begründeten Rechtsgefühl, weil dann alles - und die Erzählung vom Schloß Dürande ist darin natürlich eine Parabel - zum Untergang führen wird. Eben deswegen schließt die Erzählung mit dem moralischen Satz, der zugleich die Lehre der Geschichte enthält. Diese steht folgerichtig am Ende der Erzählung: da die Revolution eigentlich in der Seele stattgefunden hat, kann sie nur dort befriedet werden. Eichendorff appelliert an den Leser, selbst Stellung zu nehmen, einzugreifen in die Weltgeschichte, da er sich hier aufgerufen sieht, das wilde Tier in sich zu bändigen. So ist die Geschichte vom Jäger Renald ein Beispielfall, zwar ins Extrem geraten, an dem aber gerade der extremen Situation wegen um so deutlicher wird, was zur Zerstörung der Welt führen kann. Und mochte der Anfang der Erzählung für den unvoreingenommenen Leser beinahe schon ein Übermaß an Trivialelementen mit sich führen, so verschwindet dieses Triviale schließlich völlig im Hintergrund vor jenem seelischen Prozeß, der an und in Renald aufgezeigt wird und der das eigentliche Thema dieser Erzählung ist. Verständlich, daß eine solche Geschichte nicht auf eine rigorose Adelskritik hinauslaufen kann. Renald ist sicherlich die Hauptgestalt der Erzählung, da sich in ihm abspielt, was Eichendorff bei seinem Leser gerne verhindert wissen möchte. Daß er, ein Abbild des Menschen schlechthin, nicht böse ist, zeigt sich daran, daß er allen seinen Zweifeln entgegen so lange wie möglich an der alten Ordnung festhält, die für ihn nach dem Vorbild des Mittelalters, wie Eichendorff es sah, ein Abbild der überirdischen Ordnung ist. Sein Opfer am Ende der Geschichte weist noch einmal auf das Gute in ihm hin. Aber damit ist noch nicht gesagt, daß seine Umwelt böse
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sei. Zwar werden in der Erzählung immer wieder Himmel und Hölle beschworen, aber das Böse ist nicht so eindeutig verteilt, daß etwa die Adelswelt negativ gesehen wäre, die Renaids positiv. So wie Renald erst im Verlauf der Erzählung zu einer in sich zerrissenen Figur wird, der es nicht mehr gelingt, an der überlieferten Weltordnung festzuhalten, so ist auf der anderen Seite die Welt des Adels, die ja die Gegenspieler Renaids stellt, ebenfalls nicht eindeutig böse. Wäre sie es, so wäre Renaids Rechtsbeharren ja gerechtfertigt, sein Aufstand gegen den Adel die notwendige Konsequenz seiner richtigen Überzeugung. Aber da sein Zweifel sich ja gerade nicht auf die Untaten des Adels gründen kann, selbst wenn sie für ihn so aussehen, sondern aus seinem eigenen Inneren kommen, so ist folgerichtig der Adel weder einförmig noch eindeutig negativ gezeichnet. Verurteilt wird nur die Welt des alten Grafen Dürande. Der erscheint in Eichendorffs Erzählung geradezu als Inkarnation einer negativ zu bewertenden Restauration. Das zeigt sich vor allem dort, wo der alte Dürande an seinen überlieferten Konventionen festhält, obwohl sie vollkommen sinnlos geworden sind. Als der Aufruhr schon wächst und sich dem Schloß Dürande nähert, heißt es von ihm: "Da hielt der kranke alte Graf um die gewohnte Stunde einsam Tafel im Ahnensaal, die hohen Fenster waren fest verschlossen, Spiegel, Schränke und Marmortische standen unverrückt umher wie in der alten Zeit, niemand durfte, bei seiner Ungnade, der neuen Ereignisse erwähnen, die er verächtlich ignorierte. So saß er, im Staatskleide, frisiert, wie eine geputzte Leiche, am reichbesetzten Tisch vor den silbernen Armleuchtern [...]". Durch die Fenster blitzt schon das Wetterleuchten der Revolution, aber im Nebengemach knarrt die Flötenuhr und spielt alle Viertelstunde einen Satz aus einer alten Opernarie. Das ist zweifellos kein Lob auf die gute alte Zeit, und schon der Vergleich mit der geputzten Leiche spricht für sich: diese Passage enthält die Kritik Eichendorffs an einem Adel, der die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat, sondern an leer gewordenen Formeln und Gebräuchen festhält. Noch gravierender ist, daß der alte Graf Dürande sich ausschließlich der Vergangenheit zuwendet und in "alten Historienbüchern" blättert, "seiner kriegerischen Jugend gedenkend". Dieses Ignorieren der gegenwärtigen Zeit ist für Eichendorff negativ und wird auch so dargestellt. Im Grunde genommen bedarf es keiner Revolution, um den alten Dürande hinwegzufegen, und so ist denn auch die bloße Ankündigung ihres Vorboten Grund genug, ihn zusammenbrechen zu lassen. Aber selbst für ihn gibt es noch so etwas wie Erlösung: in seinen Todesphantasien kommt ihm seine längst verstorbene Frau in der Gestalt der Himmelskönigin entgegen, und damit wandelt sich die Vergangenheit für ihn zu einer zukünftigen Ewigkeit, was doch wohl besagen will, daß auch ein derartig Irregehender, wie es der alte Graf Dürande ist, noch gerettet werden
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kann. Aber dennoch ist unzweifelhaft, daß Eichendorff diese Gestalt ablehnt und daß sich hier Kritik am Adel seiner Zeit ausspricht. Nicht zuletzt kennzeichnet ihn seine Einstellung zu den Amouren seines Sohnes. Als Renald vermutet, daß der seine Schwester entführt und verführt habe, lacht der alte Graf und rühmt den nicht üblen Geschmack seines Sohnes; die Dürandes seien in solchen Affären immer splendid. Damit richtet sich der Graf selbst, da ihm die gekränkte Ehre seiner Untertanen nur zur Belustigung gereicht und er seinen Untergebenen nicht mehr schützt, sondern unterdrückt. Geld ist an die Stelle von Ehre getreten, Standesdünkel an die der eigenen Verantwortung, die Liebelei an die Stelle einer echten Bindung. Eichendorff will nichts anderes als den moralischen Niedergang dieses Adels demonstrieren, der dort, wo er auf den Zweifel eines Renald trifft, sich sein Ende selbst bereitet. Der junge Graf Dürande hingegen wird nicht verurteilt - es wäre falsch, aus dieser Erzählung herauslesen zu wollen, daß der Adel überhaupt korrupt sei und deswegen zu Recht in der Französischen Revolution untergehen werde. In einigen Zügen ist der junge Graf Dürande vielmehr das Gegenbild des Renald. Hier erzählt die Novelle ebenfalls von einem inneren Prozeß, der freilich nicht so deutlich sichtbar wird wie Renaids Wandlung, der schließlich seinen Zweifeln unterliegt. Zwar muß der Leser den jungen Graf Dürande zunächst für einen zumindest problematischen Charakter halten. Er tritt als Verführer auf, und im gleichen Ausmaß, wie an Renald gute Züge hervorgehoben werden (die Vorsorge für seine Schwester, der Wunsch, sie zu rächen, die Rechtlichkeit seines Anspruches gegenüber den Dürandes) - im gleichen Maße muß Dürande als gefährlicher Abenteurer erscheinen, der die ihm gesetzten Grenzen bewußt und willkürlich überschreitet. Von Anfang an herrschen im übrigen Mißverständnisse zwischen Renald und dem jungen Grafen; dieser erkennt nicht zu Unrecht, daß Renald ihn möglicherweise erschießen wollte, und so ist auch sein Gespräch mit ihm in Paris von vornherein von Mißtrauen seinerseits überschattet. Er vermutet außerdem, daß Renald ein Jakobiner ist, als der ihm den Brief des 'Tyrannenfeindes" überreicht - so wird er in den Augen des Grafen zum Revolutionsführer, und daß er ihn dann verhaften läßt, ist ebenso konsequent wie verständlich. Doch es sind nicht allein die Mißverständnisse im Hause des Grafen, die eine Einigung verhindern. Der junge Dürande ist von der Langeweile, der Krankheit seines Jahrhunderts, geplagt, und so sieht er den Krieg als ein "ganz neues und höchst pikantes Amüsement". Allmählich aber kommt im Laufe der Erzählung der gute Charakter des jungen Dürande zum Vorschein. Seine Naturverbundenheit kennzeichnet ihn ebensosehr wie "heimatliche Anhänglichkeit": beides für Eichendorff hochrangige Werte. Er hat nicht nur seinen rit-
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terlichen Charakter bewahrt; die Zuneigung der verarmten und verratenen Bauern zeigt auch, daß er noch immer ihr Vertrauen hat - er findet seine nächsten Dienstleute ergeben und voll Eifer und überläßt sich gerne der Hoffnung, noch alles zum Guten wenden zu können. Er sagt: "Ich hab' nichts mit dem Volk, ich tat ihnen nichts als Gutes, wollen sie noch Besseres, sie sollen's ehrlich fordern, ich gäb's ihnen gern, abschrecken aber laß ich mir keine Hand breit meines alten Grund und Bodens". Übersetzt heißt das: der Graf will sich durchaus Sozialreformen nicht versperren, aber er lehnt die Französische Revolution als Mittel der Durchsetzung von Reformen ab. Oder auch: zwar ist der junge Graf Dürande ein Gegner der Revolution, aber er ist doch für soziale Probleme aufgeschlossen, und darin zeigt sich bei allem Konservativismus eine Spur von Liberalismus; offenbar hat Eichendorff das sehr bewußt so dargestellt, denn er sah in der Wiederbelebung des alten ritterlich-christlichen Ethos ja auch etwas Liberales, gewissermaßen das Heilmittel für eine krankgewordene Zeit. Doch der junge Graf Dürande und darin setzt sich die Parallelität zu Renald fort - gerät dann durch den Strudel der Ereignisse seinerseits in Fanatismus und in Trotz, und H a ß und Verachtung treten an die Stelle von Liebe und Verständnis auch bei ihm; er spürt eine "nie gefühlte Mordlust", und das führt ihn ebenfalls schließlich zur Absonderung und zur Zerstörung. Daß er am Ende untergeht, liegt auch an ihm, an dem auch in seiner Brust wachgewordenen wilden Tier. Die einzige Person, die nicht in ein negatives Licht hineingerät, ist Gabriele: sie erscheint als anima candida, und sie weiß sich mit dem eigenen Gefühl stets in Übereinstimmung, nämlich "rein von aller Schuld". "Sie fühlte sich, seit sie von ihrem Liebsten getrennt, als seine Braut vor Gott, der wolle sie bewahren" - für ihre untadelige Moralität spricht auch die Unwandelbarkeit ihrer Haltung und ihrer Liebe zum Grafen Dürande, nachdem der sie längst verlassen hat. In ihrer Selbstlosigkeit und Treue aber erscheint sie eben so, wie Eichendorff sie offenbar auch konzipiert hat: als allegorische Figur, als Verkörperung der christlichen Liebe, damit aber auch als jemand, der alle Stände, alle Spannungen zwischen den Ständen und alle Gesinnungen miteinander versöhnen kann. Sie hätte ausgleichend gewirkt, wenn nicht der Zweifel in Renald und der Trotz in Dürande so mächtig geworden wären. Auch an dieser Figur zeigt sich, daß die Geschichte, die einen so moralischen Schluß hat, nicht als Abenteurergeschichte aus einer unruhigen Zeit gelesen werden darf. Die Gestalt der Gabriele macht die Erzählung ebenfalls zu einer allegorischen Geschichte. Renald steht hier als Personifikation des Volkes, und zwar des ursprünglich wahren und guten Volkes, nicht etwa der Aufrührer, die in Paris die Revolution vom Zaun brechen - daß Renald sich von ihnen distanziert, spricht für ihn, und es dient gleichzeitig dazu, Eichendorffs Vorstellung vom
162 wahren Wesen des guten Volks zu erläutern. Dürande aber ist auf seine Weise das Symbol des guten und damit wahren Adels, während sein Vater, der alte Dürande, eben eine Personifikation einer falsch verstandenen R e stauration ist. Die entscheidende, verbindende Figur zwischen Adel und Volk aber ist Gabriele, oder, in das Wertsystem Eichendorffs übersetzt: die christliche Liebe. Sie wäre die einigende Kraft gewesen, die Adel und Volk hätte zusammenhalten können, wenn nicht Haß, Zweifel und Selbstgerechtigkeit, egoistisches Auf-sich-Bestehen und das Durchsetzenwollen der eigenen Forderungen alles verhindert hätten. So entwirft Eichendorff hier im Hintergrund gleichzeitig ein Idealbild von Staatsverhältnissen, wie er sie für die Zukunft erhofft, im Sinne einer konservativen Revolution, im Sinne auch eines aufgeklärten Adelsdenkens, einer idealen Harmonie zwischen dem Alten und dem Neuen, eines gemäßigten Verständnisses für soziale Probleme und eines Festhaltens am christlich-mittelalterlichen Weltbild. Daß hinter der Familiengeschichte eine Staatsutopie steht, wird im übrigen auch aus Eichendorffs "Politische Abhandlung über preußische Verfassungsfragen" deutlich, wo es heißt: "Gleichwie es sich aber in einer unentarteten Familie ganz von selbst versteht, daß der Vater den Sohn liebreich zum Besten leite und der Sohn den Vater ehre, so bedarf auch jenes gesunde Staatsverhältnis zu seiner Bürgschaft nicht des Vertrages, dieser Arznei erkrankter Treue". 2 1 Daß Vater und Sohn Dürande sich hier nicht verstehen, beleuchtet Mißverhältnisse in dieser Familie, aber die Geschichte zeigt auch, daß der junge Graf Dürande und Gabriele sich verstanden hätten, wären sie nicht eben durch Zweifel und Argwohn gehindert worden, ein Bündnis einzugehen. Eine solche Deutung nimmt der Geschichte nicht ihre Dramatik. Aber sie ist andererseits nicht nur als Revolutionsgeschichte zu lesen, so wenig wie andere Erzählungen und Romane Eichendorffs bloß romantische Zeitbilder liefern. Eichendorffs Novelle ist eine Warnung an die Gegenwart und enthält eine Hoffnung auf die Zukunft; es war Eichendorffs großer Glaube an die Macht der Poesie, an das unmittelbar Eindringliche von Bildern und Gestalten, der ihn bewogen hat, diese Erzählung so zu schreiben, daß sie auch als Allegorie verstanden werden konnte. Der Bildcharakter ist also außerordentlich wichtig; Eichendorff will nicht mit Hilfe von Argumenten, sondern durch Symbolreihen deuten und überzeugen, so wie j a auch der Schlußsatz ein höchst anschaulicher Satz ist. Das hat seine Gründe - denn der nüchterne Verstand, die von ihm verachtete und außerordentlich kritisierte abstrakte Vernunft durfte hier nicht tätig sein, die Aufklärung, die moralische Ansprache sollte über das Bild, über den Sinn und über das Allegorische gehen. Aus Eichendorffs Sicht gibt es keine überzeugendere Verteidigung der Poesie und ihrer Möglichkeiten und Qualitäten
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als gerade diese ihre Aufgabe: zu verdeutlichen, wo der Verstand nicht mehr verdeutlichen kann. So stellt sich die Erzählung denn auch als bewußter Rückzug aus der intellektuellen Sphäre dar; die Revolution wird nicht mit Hilfe philosophischer Formeln analysiert, die Exegese findet vielmehr jenseits dessen in einer Bild- und Figurenwelt statt, die oft dazu verführt hat, sie bloß als solche zu nehmen und nicht den Sinn dahinter zu erkennen, mit dem alles bei Eichendorff letztlich eindeutig befrachtet ist. Dabei sind die Geschichten nur scheinbar frei von Intellektualität: in Wirklichkeit ist diese Erzählung ein begriffliches Spiel mit Vorstellungen, die, wie es einer Allegorie zukommt, gleichsam als Gleichungen eingesetzt werden, um deren Rechtmäßigkeit zu beweisen. Hinter alledem steht die Überzeugung, daß die wahre Aufklärung durch Bilder, daß das Belehren durch Vorbilder und Gleichnisse, durch eine sinnfällige Handlung und durch das, was die Figuren darin äußern und tun, ungleich wirkungsvoller ist als jeder noch so gut durchdachte und ausgeklügelte Aufruf, jede Analyse und jede Geschichtsexegese. Deswegen liest sich die Erzählung scheinbar naiv, eben als bloße Sittenschilderung aus der Zeit der Französischen Revolution. Aber gerade das ist so ungefähr das einzige, was sie nicht sein will, da sie auf einer ganz anderen Ebene unterhalb oder vielmehr, nach Eichendorff, oberhalb des Verstandes operiert, um den Leser im wahrsten Sinne des Wortes die Augen zu öffnen. O b Eichendorff damit das Lesevermögen seiner Zeitgenossen überschätzt hat oder ob er ihm gerecht geworden ist, ist eine schwer zu beantwortende Frage; sicher ist, daß seine Satiren, die auch alle Allegorien sind, leichter zu deuten sind, da die Deutungshilfen in die satirischen Erzählungen miteingebaut sind. In der Geschichte vom Schloß Dürande ist der Anspruch an den Leser größer, und man darf annehmen, daß auch in seiner Zeit nicht jeder seiner Leser ihn verstanden hat. Aber er wollte auch in der Geschichte vom Schloß Dürande ein politischer Dichter im weitesten Sinne sein, der nicht zögerte, seine Meinung eingekleidet in eine Erfindung als Aufruf an seine Zeit zur Kenntnis zu bringen. Nirgendwo ist das Urteil vom romantischen Stimmungsdichter Eichendorff stärker fehl am Platz als hier, nirgendwo wird aber auch seine lehrhafte Absicht, sein geradezu militanter Restaurationswille deutlicher
als eben
in seiner
Erzählung vom
Schloß
Dürande.
Im Hintergrund dieser Revolutionsgeschichte steht die Aufklärungskritik Eichendorffs, wie er sie später vor allem in seinen literarhistorischen Schriften vorgebracht hat. Eichendorff hat in den Bewegungen des 18. Jahr-
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hunderts, die dann zur Revolution führten, den Kampf "der Religion gegen die Freigeisterei, als das eigentlich bewegende Grundprinzip" gesehen, 2 2 dahinter wiederum einen toll gewordenen Rationalismus, "welcher in seiner praktischen Anwendung eine Religion des Egoismus proklamierte". Eichendorff hat in seiner Schrift "Halle und Heidelberg" die Geschichte der Aufklärung geschrieben, so wie sie sich ihm darstellte; der Verstand sei "ganz allgemein als alleiniger Weltbeherrscher" eingesetzt worden,
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und so habe
sich die Welt zum Vernunftstaat, zur Vernunftreligion, zur Vernunftpoesie entwickelt. Die Anfänge dieser Entwicklung gingen freilich noch sehr viel weiter zurück. Schon in der Reformation sah er einen Akt des "Protestantismus", im Protestantismus wiederum eine sehr einseitige "Demonstration des Verstandes", und, wie er in seiner Schrift über den deutschen Roman des 18. Jahrhunderts in seinem Verhältnis zum Christentum schrieb, in der Demonstration des Verstandes eine Macht "über Phantasie, Gefühl und die andern für eine harmonische Bildung gleich unentbehrlichen Seelenkräfte. 24 Es heißt dort auch: "Der menschliche Verstand aber, in seiner Ungebundenheit, ist jederzeit ein durchaus absolutistischer, trockener und hochfahrender Gesell; bei dem raschen Aufräumen hatte er im Eifer der Rechthaberei, neben mancherlei wirklichem oder vermeintlichem, zum Teil aber sehr poetischem Aberglauben, die uralte Tradition der Kirche [...] beiseite geschafft; [...] es war mithin fortan aller Akzent auf das Subjekt gelegt, und dieses eine souveräne Macht geworden". 25 Eichendorff hat sich nicht gescheut, den Protestantismus nicht als Reformation, sondern als Revolution zu bezeichnen, und die Folgen dieser Revolution waren für ihn eine Anarchie der Meinungen, Bauernkriege, die "wüste Raserei des Dreißigjährigen Krieges". Im 18. Jahrhundert hatte sich seiner Ansicht nach als Aufklärung fortgesetzt, was mit dem Protestantismus begonnen hatte, und die Rechtssuche des Renald gehört in den engsten Zusammenhang mit dieser Ansicht, daß der menschliche Verstand ein Verstand voller Rechthaberei sei. In seiner Schrift über "Preußen und die Konstitutionen" hat Eichendorff fortgeführt, was er in seiner Arbeit über den deutschen Roman gesagt hatte, als er schrieb: "Nicht darin liegt das Übel, daß der Verstand, im Mittelalter von gewaltigeren Kräften der menschlichen Natur überboten, sein natürliches Recht wieder genommen, sondern darin, daß er nun als Alleinherrscher sich keck auf den Thron der Welt gesetzt, von dort herab alles, was er nicht begreift und was dennoch zu existieren sich herausnimmt, vornehm ignorierend. Denn jede maßlose Ausbildung einer einzelnen Kraft, weil sie nur auf Kosten der anderen möglich ist, ist Krankheit, und so geht oft eine geistige Verstimmung durch ganze Generationen und gibt der Geschichte unerwartet eine abnorme Richtung". Eine abnorme Richtung: das war auch in seinen Augen die
165 Entwicklung zur Französischen Revolution. Was Renald trieb, war "Protestantismus", so wie sein Zweifeln eine "Demonstration des Verstandes" war. Die einseitige Herrschaft des Verstandes aber war gleichbedeutend mit der Unterdrückung der anderen Kräfte des Menschen und damit mit dem Verlust von Glaube und Vertrauen. Eichendorff möchte wieder ein Totalitätsideal des Menschen verwirklichen, das ihm durch die Aufklärung abhanden gekommen war - die Gefühlswerte sollen wieder in ihre alte Position eingesetzt, der Verstand dadurch gebändigt und berichtigt werden. Dieses sah Eichendorff im Mittelalter als bereits einmal gegeben an, und so lag ihm daran, das Bild des Staates von dorther neu zu bestimmen. Die Französische Revolution aber definierte er als Höhepunkt jener Emanzipationsbestrebungen der Neuzeit, in der nicht nur die Balance der menschlichen Vermögen aufgehoben, sondern die "allgemeine Einbildung des hochmütigen Subjekts" auf ihren Höhepunkt gekommen war; die jahrhundertelange Harmonie der Welt war zerstört, das Ich hatte sich auf unheilvolle Weise emanzipiert; so konnte er ein Heilmittel nur in der Wiederherstellung des Gleichgewichts der Kräfte im Menschen sehen, also in der Restauration. Eichendorff hat Restauration immer positiv verstanden, als Versöhnung zwischen Verstand und Gemüt, zwischen
Geist
Zerrissenheit
und
der
Seele.
Hatte
menschlichen
die
Natur,
Französische ihre
tiefe
Revolution
die
Gefährdung,
die
Losbindung primitiver Instinkte zum Ausdruck gebracht, so sah er das Heil der
Welt
in einer wiederherzustellenden
Harmonie
aller
Kräfte
des
Menschen selbst. So wie Verstand und Gefühl versöhnt werden sollten, so die Stände im Volk, und auch so gesehen kann man die Geschichte vom Schloß Dürande allegorisch lesen. Die Verbindung zwischen den Ständen wäre, wie schon in Schillers "Kabale und Liebe", möglich gewesen, hätte nicht, ebenfalls wie dort, der Zweifel sich so tief eingenistet und das wilde Tier zum Ausbruch gebracht. Eichendorffs Geschichte demonstriert, wohin es mit der Welt kommt, wenn Gefühl, Vertrauen, die Seelenkräfte geleugnet werden. Eichendorffs Novelle ist letztlich ein erzählerisches Lehrstück. Es soll eine These demonstrieren, und diese These wird im letzten Satz der Erzählung nicht als vage generelle Ermahnung, sondern als Appell an den Leser formuliert. So wie Voltaires "Candide" einen Leitsatz enthält, so Eichendorffs Geschichte. Das verbietet es ebenfalls, allzu starke realistische Züge hier zu finden oder in ihr nur ein Stimmungsbild der Französischen Revolution zu sehen. Es kommt auch nicht in erster Linie darauf an, daß diese Geschichte wahrscheinlich ist. Es genügt, daß sie sich so zugetragen haben könnte oder vielmehr: daß nicht außergewöhnliche Dinge berichtet werden, die den Wahrheitsgehalt dessen, was demonstriert werden soll, in Frage stellen wür-
166 den. Es kommt auf den Exempelcharakter des Erzählten an, und wenn am Anfang auch Momente der Trivialerzählung sichtbar werden, so offenbar nicht deswegen, weil Eichendorff seine Geschichte nicht anders oder besser hätte einfädeln können; vermutlich sind diese Momente nur Hilfsmittel, um den Leser in die Erzählung hineinzulocken und um auf eingängige Weise, nämlich anhand einer das damalige Publikum ergreifenden trivialen Liebesgeschichte, zur eigentlichen Sache zu kommen. Denn ein moralischer Satz und nichts anderes ist der Schlußsatz der Erzählung - läßt sich nicht an sich demonstrieren, er bedarf eines Mediums, eines Transporteurs, und diese vermittelnde Instanz muß attraktiv genug sein, um zu fesseln und die Aufmerksamkeit des Leser wachzuhalten bis hin zum letzten Satz der Erzählung. Die Liebesgeschichte spielt zwar eine durchgängige Rolle, aber aus der vom Ansatz her möglichen Triviallösung wird nichts, die anfangs so harmlos scheinende Beziehung endet tragisch, und mehr als das: sie endet ebenfalls allegorisch. Wer auf das glückliche Ende der Geschichte gehofft hat, wird schwer enttäuscht. Nur wer der erzählten Begebenheit gleichsam eine Moral entnehmen möchte, wer also letztlich Belehrung sucht und Aufklärung über das Phänomen der Revolution, der kommt mit dieser Geschichte auf seine Kosten. Abgehandelt wird ein großes geschichtliches, geschichtsphilosophisches Thema: das Wesen der Revolution. Und so ordnet sich Eichendorffs Erzählung eigentlich eher in den Bereich der moralischen Erzählung ein, in eine Gattung also, die im frühen 19. Jahrhundert nach ihrer Blütezeit in Aufklärung und Empfindsamkeit noch relativ weit verbreitet war; "Moralische Erzählungen" ist bezeichnenderweise der Titel, den Kleist ursprünglich seinen Novellen zugedacht hatte. Und selbst noch "Die Judenbuche" der Annette von Droste-Hülshoff ist in diesem Sinne eine moralische Erzählung. Eine moralische Erzählung aber verlangt nach parabolischer Darstellung, nach allegorischer Ausdeutung, und eben das wird auch bei Eichendorff vom Leser erwartet. Eichendorff setzt dazu alle Mittel ein, die seiner
erzählerischen
Demagogie, das Wort ohne negative Konnotationen gebraucht, zur Verfügung stehen. Dazu gehört der Gegensatz von guter Landbevölkerung und dem guten Leben auf dem Lande und dem Sumpf der Großstadt Paris, dazu gehört die Schilderung der Revolutionäre als Gesindel in einer Pariser Kaschemme, dazu gehört, daß die Soldaten abgedankte Soldaten sind und die Handwerksburschen
müßige
Handwerksburschen:
heruntergekommenes
Volk allesamt, das dann die Revolution ausbrütet. Der dämonische Fremde, der als Revolutionsredner in der Kaschemme auftritt, hat diabolische Züge. Die Anrede dieses dämonischen Fremden an das versammelte schlechte Publikum ("Ihr seid der Nährstand") gehört zu den satirischen Charakteristika
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dieser Geschichte, zumal sie gerade nicht die Herren sind, als die sie apostrophiert werden; Eichendorff karikiert in Paris umlaufende Theorien vom Wert der Landwirtschaft für das Gemeinwohl. Widerlegt wird das alles durch den Schlußteil der Geschichte, als sich herausstellt, daß die von der "Nation" angeblich befreiten Bauern ein tristes, verschrecktes, scheues Leben führen und voller Freude zu dem adeligen angeblichen Unterdrücker zurückkehren. Dahinter steht die Vorstellung, daß das Volk zur Selbstbestimmung im Grunde genommen nicht fähig sei, sondern der Führung durch den Adel bedürfe. Die alte Ordnung mochte reformbedürftig erscheinen; sie war, so meint Eichendorff, in jedem Fall um ein Vielfaches besser als die neue, von der "Nation" verkündete Ordnung, die auf dem Lande, also dort, wo sie vor allem wirken sollte, nichts anderes als chaotische Verhältnisse hinterläßt. D a ß die Revolution von dem verlorenen Haufen in der Kaschemme und gleichgesonnenen Genossen ausgeht, ist bezeichnend; auf dem Lande wäre sie unmöglich, weil das Volk dort - ein Nachklang rousseauischer Vorstellungen mag hier noch mitschwingen - von Eichendorff für gut gehalten wird. Demgegenüber steht der junge Graf Dürande, der zwar in eine Zeit des blinden Genusses hineingetaumelt, aber dieses Genusses schon in Paris überdrüssig geworden war und der zu seiner alten adeligen Stellung zurückfindet, als er nach dem Tode des Vaters wieder in seine Heimat zurückkehrt. Noch eindeutiger wird Eichendorffs Erzählung dort, wo von der Klosterbefreiung die Rede ist. Dem gottgefälligen und zugleich vergnügten Leben, wie es sich zu Anfang in der Schilderung der Klosterwelt darbietet, steht das aufgelassene Kloster gegenüber, in dem Pferde in den Zellen logieren und unter den hereingenommenen Bewohnern Zank und Gekeife herrschen. Die Aufhebung der Klöster hat zu Chaos, Anarchie, Unordnung, zum völligen Zerfall eines geistigen und geistlichen Lebens geführt - das will Eichendorff damit sagen. Und so wird überall das Böse dem Guten gegenübergestellt, aus lehrhafter Absicht. Daß alles in Zerstörung endet, ist, so gesehen, freilich nicht das betrübliche Fazit der Geschichte. Es ist vielmehr das schlechte Exempel, das dazu dienen soll, künftig ähnliche Katastrophen zu vermeiden. Eichendorff ist ein Verteidiger der moralischen Aufrüstung im frühen 19. Jahrhundert, einer der militantesten Revolutionsgegner, die sich literarisch zu Wort gemeldet haben. Eines übersteht die Revolution unbeschädigt und liefert ein Beispiel für die heilende Wiederherstellung der Welt: die Natur. Sie gibt nicht nur den Rahmen für die Erzählung, sondern sie überdauert auch die Zerstörung des Schlosses Dürande. Am Schluß der Novelle ist das Unwetter abgezogen, die Luft wieder klar - weinumrankt liegen die Trümmer in schönen Frühlingstagen in den waldigen Bergen. Der Schluß der Erzählung nimmt den Anfang
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wieder auf oder führt vielmehr die Geschichte an den Anfang zurück, zu den "waldigen Bergen" dort, die unberührt in der schönen Provence liegen. Mit einem kleinen Hinweis hat Eichendorff schon zu Anfang seiner Erzählung angedeutet, daß noch etwas anderes durch das, was nun von ihm erzählt werden wird, nicht zerstört werden konnte. Denn "wenn die Luft von Mittag kommt, klingen bei klarem Wetter die Glocken herüber, sonst hört man nichts von der Welt". Auch das ist ein symbolischer Hinweis, keine atmosphärische Zutat: es ist die christliche Botschaft, die herüberklingt, und das heißt: die Kirche hat unbeschadet die Revolution überstanden. Wenn der Leser zu Anfang der Erzählung noch nicht weiß, daß hier ein tieferer Sinn mit diesem Bericht über die Umgebung des verfallenen Schlosses verbunden ist - er wird spätestens diesen tieferen Sinn erkennen, wenn er von den tristen Zuständen im aufgelassenen Kloster liest. Die Kirche hat überdauert, nicht weniger das Christentum: auch das ist eine in Eichendorffs Augen tröstliche Botschaft, während vom Schloß Dürande nur noch Trümmer zu sehen sind, so wie auch die Französische Revolution aus Eichendorffs Sicht nur Trümmer hinterließ. Warum das so sein mußte und daß sich das nicht mehr wiederholen darf: das will die Geschichte Eichendorffs lehren.
Anmerkungen
Eichendorffs Verhältnis zur Revolution ist verständlicherweise häufig behandelt worden; die Literatur darüber ist in zwei Bibliographien erfaßt. Die erste, kommentierte stammt von Klaus-Dieter Krabiel: Joseph von Eichendorff. Kommentierte Studienbibliographie, Frankf u r t / M . 1971, S. 37-39 (Eichendorffs Auffassungen von Geschichte, Politik und Gesellschaft/Zeitbild); die neueste Bibliographie von Eckhard Grunewald, in: Ansichten zu Eichendorff. Beiträge der Forschung 1958-1988. Für die Eichendorff-Gesellschaft hrsg. von Alfred Riemen, Sigmaringen 1988, S. 453-491, bes. S. 464f. (Persönlichkeit. Glaube. Weltsicht). Eine der ersten Arbeiten über Eichendorffs Verhältnis zu Politik allgemein stammt von Peter Krüger: Eichendorffs politisches Denken, in: Aurora 28, 1968, S. 7-32; 29, 1969, S. 50-69. Altere Arbeiten haben oft die Dimensionen der politischen Vorstellungen Eichendorffs nicht gesehen oder unterschätzt; das gilt ebenso für Joseph Kunz: Eichendorff. Höhepunkt und Krise der Spätromantik, Oberursel 1951, bes. für das Kapitel "Das Schloß Dürande" (S. 9-33) wie für die Dissertation von Heidrun Frießem: Tradition und Revolution im Werk Joseph von Eichendorffs, Marburg 1972 und selbst noch für die neuere Darstellung von Cornelia Nolte: Symbol und historische Wahrheit. Eichendorffs satirische und dramatische Schriften im Zusammenhang mit dem sozialen und kulturellen Leben seiner Zeit, Paderborn 1986; dort heißt es sogar: "Gerade das Fehlen von konkreten politischen Aussagen und einem durchführbaren Programm ist ihm oft zur Last gelegt worden. Die poetische Verschleierung selbst seiner Satiren läßt jeden scheitern, der darin eine Aussage über die konkrete Form der von ihm ersehnten Gesellschaft suchte" (S. 11). Die im folgenden noch erwähnte Darstellung von Klaus Lindemann: Eichendorffs Schloß Dürande. Zur konservativen Rezeption der Französischen Revolution, Paderborn 1980 widerlegt derartiges überzeugend. Gar nicht überzeugend die Arbeit von H e r m a n n Körte: Das Ende der Morgenröte. Eichendorffs bürgerliche Welt, F r a n k f u r t / M . 1987; da finden sich Sätze wie: "Die Revolution formiert alle subjektive Energie zu objektivier-
169 barem Handeln innerhalb eines geschichtlichen Prozesses. In ihm wird der individuelle Antrieb zu einer letztlich indifferenten Größe" (S. 164), und Eichendorff erscheint als Schriftsteller, der sich "endgültig von einer revolutionsfeindlichen Publizistik im konservativen Lager der Restaurationszeit entfernt" (ebd.). Die Revolution macht aus der Sicht Kortes Eichendorff zum Zwillingsbruder Büchners: "In der Erkenntnis, daß die Menschen noch immer keine Subjekte ihrer eigenen Geschichte geworden sind, koinzidieren Büchners Drama und Eichendorffs Novelle" (S. 164f.). Ärger kann man wohl Eichendorffs Position kaum verkennen. Hinzuweisen ist auf Arbeiten, die Eichendorffs Revolutionsverständnis in den größeren Zusammenhang der Geschichtsbeziehungen Eichendorffs stellen; grundlegend dafür immer noch Oskar Seidlin mit den Kapiteln: "Zeitliche Perspektiven" und : "Blick in die Geschichte" in seinem Buch: "Versuche über Eichendorff'. Göttingen 3 1985, S. 99-128 u. 129-160. Auf die eigentümlich faszinosen Züge der Revolution macht Lothar Pikulik aufmerksam in seinem Buch: Romantik als Ungenügen an der Normalität. Am Beispiel Tiecks, Hoffmanns, Eichendorffs, Frankfurt/M. 1979, bes. S. 504-511.
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Joseph Freiherr von Eichendorff: Werke. Romane. Novellen. Märchen. Erlebtes, hrsg. von Gerhart Baumann in Verbindung mit Siegfried Grosse, Stuttgart (1953), S. 836. Hinweise, daß hier Teuflisches mit im Spiele ist und Eichendorff derart die Revolution identifiziert, bei Meino Naumann, Fabula docet. Studien zur didaktischen Dimension der Prosa Eichendorffs, Würzburg 1979, S. 46f. (der diese Studie manche Anregung verdankt) sowie in der ausgezeichneten Analyse von Klaus Lindemann: Eichendorffs Schloß Dürande. Konservative Rezeption der Französischen Revolution. Entstehung Struktur - Rezeption - Didaktik, Paderborn u. a. 1980, S. 79 u. ö. Joseph Görres: Politische Schriften (1817-1822). Hrsg. von Günther Wohlers (Joseph Görres gesammelte Schriften. Hrsg. im Auftrage der Görres-Gesellschaft von Wilhelm Schellberg ... Bd. 13), Köln 1929, S. 210. Ebd., S. 92f. - Auf die Einflüsse Görres' hat Verf. in einem Aufsatz (Eichendorff, Das Schloß Dürande und die Revolution) früher aufmerksam gemacht (ZfdPh 89, 1970, S. 180-207). Vgl. dazu auch Lindemann, S. 29-30, der die Abhängigkeit Eichendorffs von Görres Schriften und seiner Heidelberger Vorlesung nicht nur in bezug auf die Metaphorik, sondern auch auf die Interpretation der Revolution und die in die Zukunft zielenden Überlegungen Görres' über eine Verbindung des Geburtsadels mit einem Verdienstadel so überzeugend wie gründlich nachweist. Es ist das Verdienst Lindemanns, auch auf den Einfluß Adam Müllers (ebd., S. 34-36) hingewiesen zu haben. Mag das Bild vom Ungewitter der Revolution weit verbreitet gewesen sein, Eichendorff dürfte es vor allem von Görres und Schlegel übernommen haben. Die Eichendorffschen Vorstellungen vom Adel sind ebenfalls maßgeblich, wie Lindemann gezeigt hat, von Schlegel beeindußt. Joseph Freiherr von Eichendorff: Gedichte. Epen. Dramen. Hrsg.von Gerhart Baumann in Verbindung mit Siegfried Grosse, Stuttgart 1957, S. 449f. Vgl. dazu auch Lindemann, S. 140-142. Görres, a. a. 0 . , S . 210. Leopold von Ranke: Zur Geschichte Deutschlands und Frankreichs im neunzehnten Jahrhundert. Hrsg. von Alfred Dove. Leipzig 1887 (Sämtliche Werke Bd. 4 9 / 5 0 ) , S. 171. Weitere Belege in dem grundlegenden Aufsatz von Theodor Schieder: Das Problem der Revolution im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 170,1950, S. 233-271. Barthold Georg Niebuhr: Römische Geschichte. Neue Ausgabe von M. Isler. Zweiter Band. Berlin 1873, S. I X (Vorrede zur zweyten Auflage des zweyten Theiles), 11,2, 1830, S. V. Vgl. dazu Walter Wiora: "Die Kultur kann sterben". Reflexionen zwischen 1880 und 1914, in: Fin de Siècle. Zur Literatur und Kunst der Jahrhundertwende. Hrsg. von R o ger Bauer (u. a.), Frankfurt/M. 1977, S. 50-71. Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. Hrsg. von Karl Schlechta, Bd. 2, Münchcn 1955, S. 602. Ebd., S. 611. Ebd., B d . l , München 1954, S. 429.
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Jacob Burckhardt: Historische Fragmente aus dem Nachlaß. Hrsg. von Albert Oeri und Emil Dürr, Berlin/Leipzig 1929, S. 130 (Jacob Burckhardt-Gesamtausgabe, 7. Bd.). Ebd., S. 141. Gabriele gehört natürlich als "seine Braut vor Gott" zum Gegenbereich, so wie umgekehrt das Tun Renaids als "Sünde" erscheint. Dazu Lindemann, S. 134. Joseph Freiherr von Eichendorff. Literarhistorische Schriften. Historische Schriften. Politische Schriften. Hrsg. von Gerhart Baumann in Verbindung mit Siegfried Grosse, Stuttgart 1958, S. 367. Ebd. Ebd., S. 368. Lindemann sieht in der Pariser Szene jedoch den Wendepunkt der Novelle; hier finde die einzige direkte Begegnung zwischen Renald und dem jungen Grafen Dürande statt. Diese Szene sei die eigentliche Mittelpunktsszene; für Renald sei im folgenden fortschreitende Verwirrung kennzeichnend, für den jungen Grafen fortschreitende Läuterung; S. 59f. Opferideen finden sich auch in "Robert und Guiscard". Lindemann spricht sogar vom Märtyrertod Gabrieles; S. 96f. Eichendorff, Literarhistorische Schriften, S. 1287. Eichendorff, Romane. Novellen, a. a. O., S. 1037. Ebd., S. 1045. Eichendorff, Literarhistorische Schriften, S. 675. Ebd., S. 675f.
VII. Ein Roman gegen die Revolution. Ludwig Tieck: Der junge Tischlermeister
Tiecks R o m a n "Der junge Tischlermeister" ist ein Spätwerk, das schon in seine Frühzeit fällt: die erste Konzeption geht auf das Jahr 1795 zurück. 1811 hat Tieck dann begonnen, den R o m a n zu schreiben, aber erst 1836 wurde er veröffentlicht. So deutet schon die Entstehungsgeschichte an, daß hier nicht aktuelle Ereignisse das Buch vorangebracht oder inspiriert haben, sondern daß es seine mehr als langen Wurzeln hat. Ein solcher Stoff konnte sich denn auch nicht uneingeschränkt den veränderten Zeitabständen anpassen; er hätte sich, über 40 Jahre hin, völlig wandeln müssen, aber das war, wie wir wissen, nicht der Fall. Schon die Entstehungsgeschichte des Romans spricht also dafür, daß Tieck hier eher grundsätzliche Fragen als Tagesthemen abgehandelt hat. Die Ereignisse, die er beschreibt, sind nicht erst durch die Julirevolution 1830 und die darauffolgenden Jahre motiviert worden; eher reicht noch Klassisches aus Weimar in den Roman hinein. Andersherum gesehen: als er 1836 erschien, mußten die veränderten politischen und literarischen Verhältnisse diesen Roman von vornherein als antiquiert erscheinen lassen, unabhängig davon, wie modern er seinerzeit gewesen war. Er zählt denn auch nicht nur seines späten Erscheinungsdatums wegen zu Tiecks Alterswerk, und sicherlich nicht zu den bekanntesten Teilen daraus. Denn der Novellist Tieck war mit seinen historischen und zeitkritischen Novellen, in denen er auf literarische Tendenzen und Stimmungen der 30er Jahre sehr sicher und sehr schnell reagierte, viel populärer als der Romancier. Von dorther gesehen erscheint sein Altersroman vom jungen Tischlermeister erst recht als Ausnahmeerscheinung, als halbvergessene Produktion unter anderen, die Tiecks Ruhm gewiß nicht begründet hat, die umgekehrt aber auch kaum Anlaß zu Anfeindungen geben konnte. Der erfolgreiche Tieck war also ein anderer. Seine späte Novellistik, fiel nicht zufällig mit der Entwicklung der Taschenbücher zusammen; Tieck wußte da den neuen Erfordernissen des literarischen Marktes auf sehr geschickte Weise zu begegnen. In den 20er und 30er Jahren war ein reges Bedürfnis nach geselliger Unterhaltung aufgekommen, und Tieck war derjenige, der dem literarischen Markt mit seinen Novellen am besten entsprach. Für
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die damalige Generation war diese Tiecksche Novellenkunst geradezu mustergültig, so sehr, daß auch das Junge Deutschland, das bewußt Novellen schreiben wollte, sich an Tieck orientiert hat, freilich nicht, um ihm nachzufolgen, sondern nur, um ihn zu übertreffen und derart zu widerlegen. An Tieck aber führte im Grunde genommen kein Weg vorbei. Es ist eine andere Frage, ob Tieck mit seiner späten Novellistik in eine neue produktive Arbeitsperiode hineingeraten war oder ob er nur auf außerordentlich geschickte Weise auf eine Modeströmung antwortete, deren Tendenzen und Möglichkeiten er klar und sicher erkannt hatte. Aber wie dem auch sei: innerhalb der biedermeierlichen Sozialkultur waren seine Gesellschafts- und Diskussionsnovellen modern und sehr gerne gelesen, und das alles hat nicht zufällig dazu geführt, daß man jenen anderen Tieck, den Romanschreiber, darüber ein wenig aus den Augen verloren hat. Betrachtet man das Spätwerk Tiecks, wird in der Regel noch ein anderer Roman genannt: die 1840 erschienene "Vittoria Accorombona". Damit hat Tieck vermutlich ebenfalls auf eine Zeitströmung reagiert, indem er sich auf den Roman der Jungdeutschen und die dort wiederholt thematisierte Frauenemanzipation bezog; es handelt sich auch hier um einen Versuch, ein neues Feld für sich zu nutzen, und das in Verbindung mit dem alten eigentlichen Terrain Tiecks, nämlich der Historie. So kam es zu dem merkwürdigen Zwitter eines historischen Emanzipationsromanes, der aber eher in Anlehnung an die von den Jungdeutschen erschlossene Literaturströmung geschrieben war als etwa in Ablehnung der neuen Tendenzen. Er wurde bekannter als jener andere Roman. Aber berühmt wurde Tieck auch damit nicht. In dieser Umgebung also erscheint "Der junge Tischlermeister". Der Roman figuriert dem Untertitel zufolge als "Novelle in sieben Abschnitten"; kein Zufall oder Marotte, sondern auch das wohl ein Zugeständnis an die jungdeutsche Roman- bzw. Novellendefinition, denn das Junge Deutschland schrieb ebenfalls Novellen, die häufig genug verkappte oder offenkundige Romane waren: Theodor Mündts "Madeion oder die Romantiker in Paris" erschien 1832 als Novelle; eine "Novelle" war auch Mündts "Basilisk, oder Gesichterstudien" von 1833. Heinrich Laubes "Das junge Europa" von 1833 war in seinen einzelnen Teilen als Novelle bezeichnet. Ernst Willkomm veröffentlichte 1833 einen Roman in zwei Bänden, den er wiederum "Novelle" nannte: "Julius Kühn". Daß also ein Roman als Novelle ausgegeben wurde, war nichts Ungewöhnliches, und auch hier scheint wieder der geschickte Adaptor Tieck am Werk gewesen zu sein, der mit der literarischen Strömung mitschwamm, so rasch er konnte; unter ging er nie. Was die Novelle in jener Zeit überdies noch besonders beliebt machte, war ihre Gesellschaftsorientierung. Heinrich Laube hat das 1834 in seinen "Modernen Lebenwirren" recht
173 gut gezeigt, als er schrieb: "Die Novelle nistet sich noch am meisten in Stuben und Familien ein, sitzt mit zu Tische und belauscht das Abendgespräch, und man kann da dem Herrn Papa zur guten Stunde etwas unter die Nachtmütze schieben oder dem Herrn Sohn bei gemächlicher Pfeife eine Richtung einflüstern, die vielleicht einmal für die ganze Nation Folgen haben mag [...]. So fasse ich die Novelle als Deutsches Hausthier auf, und als solches ist sie mir jetzt die berufenste Kunstform, das Höchste darzustellen". 1 Das dürfte Tieck nicht unangenehm gewesen sein. Tieck selbst hat seinem Roman ein Vorwort vorangestellt, das über seine Absicht Aufschluß geben soll. E r will "klare und bestimmte Ausschnitte unsers echten deutschen Lebens, seiner Verhältnisse und Aussichten" zeigen, und "mancher Gedanke über Zünfte, Bürgerlichkeit und dergleichen mehr" soll geäußert werden. 2 Also eine Art besinnlichen Hausbuchs, das niemandem mißfallen konnte. Tieck hatte selbst freilich schon das Gefühl, er sei mit seinem Roman zu spät gekommen, und versuchte sich dagegen zur Wehr zu setzen, als er schrieb: "Wenn die jüngere ungestüme Welt mich jetzt so oft aufruft und schilt, ich soll lernen, erfahren, mitgehen, verstehen und fassen, und ich werfe einmal Blicke in diese Produkte meiner neuesten und frischesten Zeitgenossen, so kann ich mich des Lächelns nicht erwehren, weil
so
viele dieser neuen großen Entdeckungen und Wahrheiten schon längst in meinen Schriften, zum Teil den frühesten, stehen". Das sieht nach einem Triumph des Alters aus, das längst gesagt hat, was andere erst gerade formuliert haben. Aber die Bemerkung ist hintergründiger und verräterischer, als sie auf den ersten Blick scheinen mag. Denn "erfahren, mitgehen und verstehen und fassen" - das war j a Tiecks chamäleonhafte Eigenschaft, die er nur zu oft unter literarischen Beweis gestellt hatte, und seine ganze Novellenkunst, die zum Roman ausartete, seine Neigung zur Konversation, die nicht nur die Novellen, sondern auch den "Jungen Tischlermeister" strukturell so stark prägt, alles das war zeitgemäß; Tieck aber war beweglich genug, dem Zeitgemäßen immer zu folgen, und das nicht erst nach Jahrzehnten - der Hase und der Igel! Tieck war in der Tat immer schon da, Zeichen seiner außerordentlichen Versatilität, seiner literarischen Gelenkigkeit. Er mag gefühlt haben, daß sein literarisches Mitläufertum gelegentlich unangenehm auffiel. So schrieb er: Oberflächliche Allseitigkeit war mir immer verhaßt". Aber ist nicht manches aus seiner Novellistik tatsächlich oberflächlich, vieles nicht auch allseitig? Jedenfalls war er, was Neuerungen anging, immer flink bei der Hand. Tiecks Roman führt heute ein Aschenputteldasein. War es am Ende nur ein Weg in die damalige Unterhaltungsliteratur, unter Verzicht auf künstlerische Formung? Gelegentlich hat man sogar von einer literarischen
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Anspruchslosigkeit gesprochen, die bis ins Dilettantische gehe. Tieck ein romantischer Epigone in einer Zeit, als die Romantik endgültig dahin war, oder ein geschickter Psychologe, der seine Figuren immer noch halbwegs glaubwürdig vor das literarische Auge bringen konnte? Meldete sich hier gar die Sehnsucht nach der verlorenen Romantik, verbunden mit einem Wissen um den Untergang der eigenen Gesellschaft und der Angst davor, daß alle bis dahin gültigen Maßstäbe nicht mehr galten? Oder versuchte Tieck, koste es, was es wolle, mit der Modeströmung des Jungen Deutschland mitzuhalten - in der Weise, daß er an jener Zeit Kritik übte, die den Jungdeutschen vor allem problematisch und zuwider war, nämlich an der Zeit der Klassik, am klassischen Weimar? Weimar und das Weimarer Theater - zwar sieht es auf den ersten Blick hin so aus, als huldige Tieck mit seinem Roman der Theatermanier Weimars. Aber die Werke gerade des jungen Goethe, die Sturmund Drang-Begeisterung der Shakespearomanen werden so stark betont, daß man hier durchaus eine deutliche Absage an das klassische Weimar und dessen Theater sehen kann. Das aber würde bedeuten, daß dieser späte R o m a n Tiecks nahe an die Literatur des Jungen Deutschland heranrückt: auch dort gab es ja scharfe Kritik am klassischen Goethe, ein erhebliches Maß an Begeisterung aber für den jungen Goethe des Sturm und Drang, der noch nicht zahm und gesittet geworden war. Eine solche Überlegung ist allerdings abwegig - deswegen, weil Tieck ja zu den Gegnern des Jungen Deutschland gehörte. Er war sogar in gewissem Sinne ein Anführer jener Hexenjagd auf die neue literarische Bewegung, und er war auch da zeitig genug zur Stelle: 1835 hatte er vier Novellen veröffentlicht, die alle Angriffe auf das Junge Deutschland enthielten: "Das alte Buch und die Reise ins Blaue hinein", "Die Vogelscheuche", "Der Wassermensch" und "Eigensinn und Laune". Die Jungdeutschen kamen nirgendwo gut weg, in "Das alte Buch und die Reise ins Blaue hinein" erschienen sie als "jene heimathlosen Landläufer, die so wenig Religion, wie Eigenthum und Meinung haben". Und ins Satirische gerät seine literarische Abfuhr in "Der Wassermensch" - dort spricht Florheim als personifizierter Zeitgeist über die "Partei der Bewegung", und was er über sich sagt, ist nichts als eine Karikatur dieser Bewegungsliteratur: "Da wir immer thätig und die Parthei der Bewegung sind, so haben wir uns schon der meisten Journale und gelesenen Blätter bemächtigt, wo es nur irgend möglich ist, stiften wir neue, ein unsichtbares und doch offenkundiges Bündniß schlingt sich durch ganz Deutschland". Endgültig aufwärts gehen soll es mit Deutschland durch die Inthronisation "ächter, großgesinnter Republikaner", und Tieck unterstellt den Jungdeutschen einen Allmachtstraum, der hundert Jahre später in anderer Hinsicht grausige Wirklichkeit geworden ist: "wir werden dann mit Macht ausgestattet,
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und von uns geht die Verjüngung der deutschen Welt aus". Ähnlich scharf war die Kritik in der Novelle "Eigensinn und Laune". Damit ordnete sich Tieck ein in die Front, die von Menzel und anderen gegen das Junge Deutschland aufgerichtet worden war. Das alles läßt erkennen, daß Tiecks kritisches Verhältnis zu Weimar und daß sein Lob des Sturm und Drang nichts mit der Klassikfeindschaft der Jungdeutschen und deren Vorliebe für die noch nicht klassisch gewordenen Goethe und Schiller zu tun hat. Die zwiespältige Beurteilung Goethes, das Hochschätzen Weimars auf Kosten des Sturm und Drang oder umgekehrt der Preis des Sturm und Drang zum Nachteil der klassischen Werke ist ein Kennzeichen der Zeit überhaupt, und nur über diese Brücke hin sind Biedermeier und Junges Deutschland miteinander verbunden. Hier wird noch einmal deutlich, wie schillernd die Position Tiecks in dieser Zeit ist; sein Standpunkt wechselt mit den Beleuchtungen, unter die man sein Werk stellt. Jener Tieck, der sich mit dem klassischen Weimar auseinandersetzt, sieht anders aus als der Tieck, an dem seine psychologische Darstellungskunst auffällt; diese hat wiederum scheinbar nichts zu tun mit demjenigen, der ein restauratives Lebensethos verkündet. Zu einer abschließenden Würdigung ist die Literaturwissenschaft denn auch bis heute noch nicht gekommen. Sieht man in Tieck den überragenden Psychologen, gewinnt sein Werk im gleichen Maße, wie es verliert, wenn man in ihm den restaurativen Mitläufer einer Zeit erkennt, die an dieser psychologischen Darstellungskunst nur insofern interessiert war, als das Lesebedürfnis, die Taschenbuchwelt der damaligen Zeit danach verlangte. Daß Tiecks Roman auf so vielfältige Weise zu lesen ist, macht seinen Reiz aus; das dieser Roman aber auch zum unverbindlichen Lesewerk werden kann, seine Gefahr.
Der Roman hat denn auch die verschiedenartigsten Auslegungen erfahren. Marianne Thalmann, die große Kennerin des Tieckschen Werkes, hat in ihm "eine einmalige Darstellung des Bürgertums" gesehen, "die ohne Chronistengeschwätzigkeit geschrieben ist, keine sozialethischen Fragen zelebriert, noch biederes Genügen auf Sofakissen stickt". 3 Dahinter sei freilich noch eine andere Frage angesprochen: wo der Künstler in der Gesellschaft stehe. Mehr noch: Tieck habe, so Marianne Thalmann, in der Gestalt Leonhards, "von dessen Kunstsinn er das Fragwürdige abstreift", den Versuch unternommen, "die Verbürgerlichung des musischen Menschen durchzuführen" 4 ein Künstler- und Bürgerroman gleichermaßen, und zugleich ein Roman, in
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dem Bürger und Adel nicht mehr gegeneinander abgesetzt sind. 5 Dieses Hohelied des Bürgertums ist natürlich alles andere als ein Lob der Spießbürgerlichkeit: "Es geht noch um ein Bürgertum, das zünftig mit der Hand schafft, das sich mit den Gesellen zu Tisch setzt, seinen Homer noch im Original lesen kann, aber doch schon in die Nachtluft hinaushorcht nach den Stimmen, die nichts Nützliches zu sagen haben. Er gibt diesem Bürgertum die natürliche Anmut und Sicherheit, mit der er sich selbst unter dem märkischen Adel bewegte". In einem hat Marianne Thalmann sicherlich recht: dieser Bürger, der Held des Romans ist nicht mehr ein Wilhelm Meister. Die Stoßrichtung des Romans, so Thalmann, sei anders definiert: gegen die aufkommende Zeit falscher Werte, einer unechten Kunst, einer unwahren Selbstsicherheit. Die "Zeichen an der Wand" - das ist das Wissen um die sich überall schon ankündigende Erscheinung des Unechten, des nicht mehr Authentischen: "In diesen Jahren war sein Widerwille gegen ein geschäftstüchtiges Spätbürgertum herangewachsen, gegen das Unechte von Erz- und Bronzeimitation, gegen das Monotone des dunklen Mahagoniholzes, gegen die Affektation von Landschaften und Blumenstücken auf Porzellan, gegen das Vordringen der Maschinenware, die mehr der spießigen Nachfrage nach Quantität denn nach Qualität galt. Manches liest sich wie ein unerwartet frühes Bekenntnis zu Materialechtheit und Kunsthandwerk". 6 Aber sollte das Tieck, der Wendige, der nie um ein Wort und um eine Novelle verlegene Behorcher seiner eigenen Zeit, tatsächlich beabsichtigt haben? Hatte er nicht gerade der Modeschreiberei gehuldigt, als auch er Novellen schrieb, weil das so üblich war? Folgt er hier nicht einer Tendenz, die ungefährlich war, weil sie so weit verbreitet war? Ist der Roman ein Restaurationsroman in dem Sinne, daß hier das alte Handwerk hochgepriesen wird, mit Protest gegen das geschäftstüchtige Spätbürgertum seiner Zeit, mit Begeisterung für die Geschichte einer bürgerlichen Ehe und eines genügsamen Handwerkerglücks? Enthüllt sich der Roman darin nicht gerade als epigonales Werk, geschrieben aus dem Bedauern über das Ende eines Bürgertums, das hier in seiner idealisierten Unwahrhaftigkeit erscheint, als gleichsam veredeltes Bürgertum, das kunstsinniger ist, als sein Stand es eigentlich zuläßt, auf der anderen Seite aber nicht künstlerisch genug, um die Sicherungen der bürgerlichen Existenz zu verlassen? Daß "Der junge Tischlermeister" mit der Gesellschaft zu tun habe, versteht sich von selbst; es fragt sich nur, in welchem Sinne das geschieht. Paul Gerhard Klussmann hat in einer Deutung des Romans die Wirklichkeit des damaligen Bürgertums kaum betont, um so mehr aber das Theaterspielen, in dem sich die sozialen Ideale Tiecks verwirklicht hätten. Das Theaterspiel sei
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hier "Mittelpunkt des erzählten Vorgangs"; 7 auf dem Theater finde sich eine bunte Gesellschaft ein, "in der programmatisch alle Stände gemischt sind"; der tiefere Sinn dieses Theaterspielens sei der, daß sich "im gesellschaftlichen Experimentierraum der Theateraktionen die Grenzen der Subjektivität geöffnet haben, so daß sowohl inhumane Exklusivität als auch anti-urbane Isolation des Ich als drohende Gefahren einer geistigen und
gesell-
schaftlichen Immobilität gebannt scheinen". Die Korrektur des Lebens also auf der Bühne! Das Leben als Rollenspiel, der Rollentausch als Veränderung des bürgerlichen Daseins, der ständige Perspektivenwechsel zwischen Gesellschaft und Spielwelt, das eben mache den Roman aus - wobei Tieck hier den R a u m der Gesellschaft auch zu den niederen Schichten der Gesellschaft geöffnet habe, zu den Handwerkern und den Reisenden. Das gebe dem Roman freilich einen Akzent, der eigentümlich antirestaurativ wirke: oder, in Klussmanns Worten: "die Aktion des Erzählens selbst richtet sich immer von Neuem gegen Verfestigung, Erstarrung, Verkrustung des einzelnen und der Gesellschaft". 8 Tieck also als Feind der Restauration? Als einer, der gegen "die Absichten der restaurativen und orthodoxen Seiten der Romantik [...] einen unermüdlichen Kampf geführt" hat? Wesentlich hier "der Hang zu geistiger Mobilität"? Dann kann er nicht der Lobsänger eines hier schon von der Entwicklung der kommenden Zeit gefährdeten Bürgertums gewesen sein, denn einerseits ein Bügertum mit "natürlicher Anmut und Sicherheit", eben die "Verbürgerlichung des musischen Menschen", also eine Inbesitznahme auch bürgerfremder Bereiche durch das Bürgertum - andererseits der Protest gegen das Bürgertum, das sich so behaglich eingerichtet hat, der Aufruf zur Mobilität; der Roman einmal als idealisiertes Bild einer fast schon Vergangenheit gewordenen Kultur, zum anderen, bei Klussmann, der Roman als Aufruf zum Aufbruch an das eigene Zeitalter, als Entwurf einer besseren Welt, in der die Individualität an ein Ende gekommen ist: das verträgt sich nicht miteinander. Ist Tieck der Verteidiger einer untergehenden Welt oder ist er der Vorkämpfer einer neuen idealen Gesellschaft, in der die Schranken zwischen den einzelnen Ständen niedergerissen sind oder doch sehr leicht überwunden werden können? Tieck einmal als der rückwärtsgewandte Chronist einer vergangenen Zeit, ein andermal derjenige, der aus im Grunde genommen doch enger gedanklicher Nähe zum Jungen Deutschland einen beinahe schon zeitkritisch-konstruktiven Roman schreibt, der alles andere als restaurativ und orthodox ist, der eine Grundkrankheit des Zeitalters, die Subjektivität, mit einem Vorbildlichkeit beanspruchenden literarischen Experiment beantwortet: beides scheint der Roman zuzulassen. Am bedenklichsten ist es wohl, den Roman als freie literarische Antwort auf Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre" zu betrachten. Früher hat
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man Tiecks Roman so gesehen; Jakob Minor hatte seinerzeit ohne jedes Bedenken erklärt: "Daß Wilhelm Meister das Vorbild für diese Novelle gewesen ist, zeigt schon das ganze Gerüst der Handlung". 9 Wer den R o m a n so deutet, sieht fast zwangsläufig "die Schilderung des Theaterwesens" als "den eigentlichen Mittelpunkt". 10 Aber wenn man schon Tiecks Roman als literarische Entgegnung verstehen will, dann ist es sicher richtiger, mit Ernst Ribbat nur den ersten Entwurf als Versuch einer Antwort auf Goethes "Wilhelm Meister" zu lesen. 1 1 Doch es fragt sich, ob diese Perspektive nicht die am wenigsten zureichende ist, was die Absichten des Romans angeht. Es kann kein Zweifel sein, daß Tiecks Roman eine Antwort darstellt. Nur: es handelt sich nicht um eine solche auf ein literarisches Modell, mit dem Tieck sich, dieses übernehmend und gleichzeitig verändernd, auseinandersetzt. Ist man bereit, Tieck eine gewisse literarische Mobilität zuzugestehen, eine Witterung für die literarische Mode und Zeitphänomene, so ist ohnehin wenig wahrscheinlich, daß hier nur ein literarisches Scheingefecht stattgefunden haben sollte. Tatsächlich geht es um sehr viel mehr: um das Verhältnis zur Zeit, und unklar ist zunächst nur, welche Antwort Tieck darauf mit seinem R o m a n gegeben hat. Dabei kann an seiner konservativen Grundüberzeugung kein Zweifel herrschen. Über die Art seines Konservativismus gehen die Meinungen allerdings auseinander. Mit den "Forderungen des Liberalismus" jedoch habe Tieck nichts zu tun, wie Christian Gneuss meint. So ist sein Urteil über den R o m a n eindeutig: "Es ist ein rückwärtsgewandtes Ideal, das Tieck hier aufstellt, über das die Entwicklung der Zeit bald hinweggehen wird". 12 Tiecks Schreckensvision sei die Industrialisierung: "In einer handwerklich-werktreuen Gesinnung als Gegensatz zu allem unternehmerlich-händlerischen Streben sieht der Handwerkersohn Tieck die letzte Rettungsmöglichkeit vor einem Gespenst, das am Rande dieser Novelle zum ersten Mal heraufdämmert, vor dem Maschinenwesen,
also vor der kommenden Industrialisierung
und Kapitalisierung der wirtschaftlichen Verhältnisse. [...] Festhalten an der Form der Innung oder Zunft, Bewahren des familiären Verhältnisses zwischen Meister und Gesellen erscheinen als einzige Mittel, die drohende Auflösung auf allen Gebieten aufzuhalten". 13 Der Roman also eine Verteidigung eines überkommenen Zustandes, der aber schon der Wirklichkeit der damaligen Tage entglitten ist, Tieck damit ein Vertreter der Restauration, mit starrem Blick auf das Vergangene, das zugleich das Gute war? Es ist das bürgerliche Selbstbewußtsein des vergangenen Jahrhunderts, das Gneuss in Tiecks Roman wiederfindet, wenn er feststellt: "So ist er ein Beispiel eines arbeitsamen, aufrechten Bürgertums, das aus dem Bewußtsein seines Wertes heraus dem Adel gegenüber sich nicht duckmäuserisch zu verkriechen
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braucht, sondern mit ihm frei und ungezwungen verkehren kann, das aber gleichzeitig um die Grenzen seiner Möglichkeiten weiß und alle Forderungen nach Gleichheit als illusorisch ansieht".14 Das Bekenntnis zur Werkstatt und zum Handwerksfleiß sei ein solches zu einer vergangenen Form des Bürgertums, zu den "Stützen jeder wahren Ordnung in Staat und Familie". 15 Das stempelt Tieck fast zum blinden Reaktionär. Wenn man in der Darstellung des Bürgertums das eigentliche Thema des Romans sieht, so herrscht weitgehend Einigkeit darüber, daß Tieck hier auf jeden Fall ein rückwärtsgewandter und auf keinen Fall ein zukunftsorientierter Verteidiger des Bürgertums ist. Doch wie konnte es bei einem so bürgerlichen, der Zeit glänzend angepaßten Geist dazu kommen? Hat Tieck sich nicht von der Frühkonzeption seines Werkes, die ja noch
in die Zeit vor
"Sternbalds Wanderungen" fällt, lösen können? Zwar schien, wie Ernst Ribbat betont, plötzlich wieder aktuell zu sein, was Tieck damals, also noch vor 1796, gewollt hatte: über den Bürger und seine Bildung zu handeln. 16 Aber der Roman sei, so meint Ribbat, zum skeptischen Alterswerk, fast zur romanhaften Elegie geworden: "Von einer Vorbildlichkeit des Adels kann [...], anders als im Wilhelm Meister, keine Rede mehr sein. Ob sich aber eine Bildungsidee auf die eigene Tradition des Bürgertums stützen kann, scheint ebenso problematisch". 17 Im Grunde habe Tieck kein Zutrauen mehr in die Geschichte, Resignation sei die Folge, ein widerwilliges "Hinnehmen der sich ohne eigenes Zutun verändernden Wirklichkeit".18 Schuld an der Misere sei ein 'Orientierungsdefizit", und daraus resultiere seine düstere Perspektive, die keine Zukunft kenne und in der die Vergangenheit um so stärker vergoldet erscheine. "Leonhards positives Gegenbild", schreibt Ribbat, "ist der Ständestaat des Mittelalters, der seinen Gliedern, indem er sie in Korporationen einfügte, neben Verläßlichkeit auch Freiheiten gewährte". 19 Das soziologische Fazit der Novelle ergebe sich daraus, daß die beiden Helden, der Adelige und der Bürger, "beide durch Zugehörigkeit zu ihren Ständen auf gesellschaftliche Rollen festgelegt sind, die der Epoche nicht mehr entsprechen. Der Adlige kann, um ein in der Gegenwart relevantes intellektuelles und künstlerisches Niveau zu erreichen, nur mehr mit Bürgerlichen umgehen. Der Handwerker, der dies um der geistigen Tradition des Bürgertums willen bleiben möchte, wird in einer kapitalistischen Umwelt zum Außenseiter". 20 Doch in der Kunst können beide sich treffen, und es sei die Kunst, wo, wenn auch nur momentan, "die Umsetzung des Natürlichen in Schönheit" gelinge. 21 So verteidige Tieck, darin durchaus biedermeierlich, am Ende die 'Totalitätsperspektive des Ästhetischen", denn nur in der Kunst könne der "universell-humane Anspruch der Klassik wie der Romantik wirksam bleiben". 22 Ein solches Fazit entspricht der Grundthese des Buches: "Tieck nä-
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herte sich im Laufe der Entwicklung immer mehr dem Adelsmilieu, als Publikum bevorzugte er am Ende das der halb-höfischen Salons, seine politische Haltung erhielt konservative Züge. So paßte er sich an die Machtstrukturen an, die die Entmündigung des deutschen Bürgertums verfestigt hatten. Dennoch blieb Tiecks Werk bis zum Schluß frei von jenen restaurativen Ideologiebildungen, wie man sie von Friedrich Schlegel, Adam Müller oder Görres kennt. Er hat nicht kapituliert, wenn auch resigniert. Im entscheidenden Punkt ist er bei der Konzeption seiner Frühzeit geblieben: daß nämlich Literatur für den sozial isolierten, psychisch gefährdeten Bürger ein Medium sei der freien, nicht hierarchischen Kommunikation mit einem universellen Spektrum geistiger Phänomene und mit ihren geschichtlichen und gegenwärtigen Repräsentanten
ein Medium jenes Lebens, das eben durch
Poesie in der Erfahrungswelt verbürgt schien".23 Aber hat Tieck wirklich an den romantischen Positionen seiner Frühzeit so hartnäckig und so unbeirrbar festgehalten? Und sah er in der Kunst tatsächlich die große Trösterin des Bürgertums, dem nicht mehr oder auch noch nicht vergönnt war, eine Rolle zu spielen, die dem so sehr gewachsenen Selbstbewußtsein des Bürgertums des 18. Jahrhunderts entsprach? Wird die Kunst zum Heilmittel, um psychisch Gefährdeten und Kranken zu helfen, und spricht aus dem Roman der Glaube an eine Erlösungskraft der Kunst, die gerade dann gefragt ist, wenn die anderen Orientierungsmöglichkeiten zu schwinden drohen? Ist Tieck, wie Johannes P. Kern meint, überhaupt nicht mehr über seine frühromantischen Anfänge hinweggekommen? "Der Tieck des Tischlermeister stellt damit keine neue Lehre auf. Es ist die Lehre des Stembald", behauptet Kern. 24 Auch hier erscheint Tieck als Retter dessen, was durch den Sog der Revolution verschüttet zu werden drohte. In alledem wird etwas sichtbar von der außerordentlichen Divergenz der Deutungen, der Tiecks Roman ausgesetzt ist. Doch mehr noch: man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, als sei Tieck überall entschieden unterbewertet worden. Am wenigsten will einleuchten, daß er sich hier noch mit Goethes "Wilhelm Meister" auseinandergesetzt habe - Jahrzehnte liegen dazwischen. Aber auch der Mittelalterenthusiasmus des Frühromantikers: sollte er hier tatsächlich noch einmal aufgebrochen sein? Und ist Tieck, der sonst so gewandte und auf die Herausforderungen der Zeit schnell reagierende Schriftsteller - ist Tieck hier wirklich der Verkünder einer Untergangsstimmung, die um so düsterer wirkt, je großartiger sich ihm die frühere Welt darstellt? Ist er ein Endzeitprophet, der an eine bessere Zukunft nicht glauben kann, weil die Vergangenheit zu schön war? Oder ist er ein Realist, der sich Illusionen, und politischen allzumal, nicht mehr hingeben will? Ein Adelskritiker, der die Beschränktheit und Kommunikationsunfähigkeit dieses
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Standes nur zu deutlich sieht, und ein Kritiker des Bürgertums nicht weniger, da er dessen Gefährdung durch den heraufkommenden Industrialismus erkennt? Bleibt das Handwerkerethos in der Zeit des heraufdämmernden Kapitalismus, bleibt die Kunst als Seelenpflaster - rettet sich hierhin der Kunstenthusiasmus der Weimarer Zeit? Ist Humanität nur noch illusionär möglich, nämlich auf der Bühne, die früher einmal Volkserziehung bringen sollte, jetzt aber sich darauf beschränkt, ein zweifelhaftes Adelstheater zu sein? Und wird damit nicht der eigenen Gegenwart die Möglichkeit einer Erneuerung radikal abgesprochen? Der Handwerker der Maschinenwelt gegenübergestellt, das Schloßtheater den Zerstörungen des nachrevolutionären Zeitalters vorgehalten, hinter allem eine Restaurationsideologie, die auf eine fast kompromißlose Bewahrung der alten Zustände aus ist, auf ein Sich-Fügen in die Grenzen der alten Welt? Am Ende also, wo vom Bürgertum die Rede ist, alles nur ein Preislied auf die schöne Vergangenheit, verbunden mit etwas vager altdeutscher Schwämerei und einem ebenso idealisierten wie unglaubwürdigen Gesellschaftsporträt, in dem Adel und Bürgertum gleichermaßen die verlorene schöne alte Zeit betrauern? Die Interpreten des Tieckschen Romans haben mit unterschiedlicher Akzentuierung alle diese Fragen im Grunde genommen mit ja beantwortet, und sie haben damit beigetragen, Tieck zum Restaurationsethiker zu machen, der
nur scheinbar
gewisse Gemeinsamkeiten
mit dem
Jungen
Deutschland aufweist, tatsächlich dieses aber erbittert bekämpfte, da ihm einzig und allein daran gelegen war, sich in die Vergangenheit und an der Vergangenheit zu orientieren. Aber es fragt sich, ob man so Tiecks Rolle, seinen literaturpolitischen Positionen in den 30er Jahren, seiner Auffassung von Vergangenheit und Zukunft gerecht wird. Da Tieck ein Feind der Jungdeutschen war, die Jungdeutschen wiederum das progressive Element in der Literatur der damaligen Jahre vertraten, war Tieck in seiner Stellung gleichsam ex negativo charakterisiert; daß auch bei ihm zukunftsorientierte Ideen am Werke waren, daß er durchaus für die eigene Gegenwart ein kulturpolitisches Programm entwickelte, mochte ihm niemand so recht abnehmen, und so blieb er denn der Eckensteher der Geschichte, verkannt, angegriffen, belächelt. Dabei hätte das Beispiel des "Jungen Tischlermeister" seine Leser schon damals im Grunde genommen davon überzeugen können, daß hier alles andere entstanden war als ein elegischer Rückblick auf vergangene Jahrzehnte; daß hier nicht jemand sprach, der am Mittelalterenthusiasmus krankte; daß hier kein Zeitflüchtling geschrieben hatte, der alles wollte, nur nicht die Heraufkunft einer neuen Epoche. Daß diese nicht nur kommen würde, sondern schon längst begonnen hatte, wußte Tieck aber nur zu sehr, und er wußte auch, was sie bringen werde: nach den Revolutionswir-
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ren nichts Gutes, jedenfalls dann, wenn man den damals verkündeten Idealen zu folgen bereit war. Eben das war Tieck nicht, und so hatte er einen R o m a n geschrieben, der sich nur scheinbar als ein Gegenentwurf zum Goetheschen "Wilhelm Meister" liest. Tieck hat hier vielmehr ein durchaus zeitgenössisches, aus seiner Sicht sogar modernes, erfolgversprechendes, die Erfahrungen der Vergangenheit nutzendes Konzept entworfen, das dem Leser möglichst nahegebracht werden sollte, und das sollte in Novellenmanier geschehen, in Form der Gesprächsnovelle, weil Tieck sich offenbar davon die größte Streuwirkung seiner Ideen erhoffte. Tieck hat die Hände literarisch nicht in den Schoß gelegt und wehmütig dem versinkenden schönen Zeitalter des 18. Jahrhunderts nachgetrauert, und erst recht hat er nicht das noch schönere Bild des Mittelalters, das nun endgültig zu entschwinden drohte, zu bewahren gesucht. Er hat hier vielmehr eine Bestandsaufnahme der eigenen Zeit geliefert, eine Analyse mit Verbesserungsvorschlägen, und darin zeigt sich nichts Geringeres als seine eigentliche Modernität; er, der immer mit seinen literarischen Produktionen vorne sein wollte, ist hier tatsächlich vorne gewesen. Man würde dem Roman Unrecht tun, sähe man in ihm nicht das, was er sein wollte: ein Erziehungsroman, keine Elegie; ein literarisches Manifest, das sich nicht auf die Literatur beschränkte, sondern die sozialen Verhältnisse unter die Lupe nahm; ein Programm, das sich nicht damit begnügte, wie Eichendorff die Restitution des Adels zu fordern, und erst recht nicht damit, das Schöne aus der Überzeugung heraus wirken zu lassen, daß es dann schon seinen Wert zeigen werde. Auch Tieck glaubt an die Möglichkeiten einer ästhetischen Erziehung; aber sie findet hier in einem gesellschaftspolitischen Rahmen statt, nicht im Reich der Kunst, denn Tieck dürfte durchaus gesehen haben, daß jene Erziehung durch die Kunst, die Schiller versucht hatte, längst fragwürdig und sinnlos geworden war. Tiecks "Der junge Tischlermeister" ist ein zeit- und gegenwartsbezogener Roman. Nichts ist gefährlicher als die Etikettierung mit dem Begriff der Restaurationsliteratur, und nicht weniger fragwürdig ist die Annahme, Tieck habe sich nicht recht von den Eierschalen der Romantik befreien können. Von einer reinen Verherrlichung des Mittelalters findet sich nichts im Roman, die etwas vage altdeutsche Schwärmerei ist noch nicht als Verzicht auf Zukunft, als Vergangenheitsorientierung zu interpretieren. Der Roman enthält Lehren an die Gegenwart, und es sind gleichzeitig Lehren an das damalige Bürgertum. Daß Tieck darüber hinaus auch eine literarische Auseinandersetzung nicht scheut, wenn es etwa um falsche Bürgerlichkeitsvorstellungen geht, das zeigt der Roman ebenfalls; "Der junge Tischlermeister", der so häufig als Verteidigung der Bürgerlichkeit des 18. Jahrhunderts gilt, entpuppt sich gerade in entscheidenden Passagen als Angriff auf bürgerliche
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Freiheitsvorstellungen
eben dieses 18. Jahrhunderts, da sie hier
einer
scharfen Revision unterworfen werden. Es sind nicht nur soziale, sondern auch literarische Lehren, die Tieck erteilt; wendet er sich doch gegen jede Verherrlichung falscher Bürgerlichkeitsvorstellungen, deren es nicht wenige und auch nicht wenig hochgestellte in der deutschen Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts gegeben hat. Wenn von der Kunst und von der Rolle der Kunst in der eigenen Zeit die Rede ist, so nicht, weil das in der Zeit der Klassik schon so üblich war, sondern vielmehr deswegen, weil es Tieck zwangsläufig auch um die Verteidigung der eigenen Kunst und seiner eigenen Kunstposition geht, die um so nötiger ist, als sich gesellschaftliche Verschiebungen bemerkbar gemacht haben, die es geraten sein ließen, die Rolle der Kunst neu zu definieren. Die Erziehung des Schönen um des Schönen willen ist obsolet geworden, und Tieck weiß das nicht nur, sondern macht das auch unmißverständlich deutlich; damit aber war es notwendig geworden, der Kunst eine neue Existenzberechtigung zu verschaffen, und auch dieses versucht Tieck. Man muß durch den oft so altmodisch anmutenden Roman die Modernität seines Standpunktes sehen, dann werden große Partien dieses Werkes wie etwa die Szene der Theateraufführung erst recht verständlich. Aber Tieck will im Grunde genommen mehr als nur der Bühne eine neue Funktion zuweisen; er fundamentiert die Rolle des Adels neu, so wie er auch das Bürgertum neu definiert, und damit schlägt Tieck sich gerade nicht auf die Seite der alten Standesverteidigung, sondern bezieht Position im Sinne einer reformatorischen Einstellung. Sein Roman will Lebensmaximen geben, nicht weniger: darin ist er ein echter Erziehungsroman, der eine universelle Gesellschaftsperspektive aufzeigen und damit nicht eine einzelne Standesethik verkünden will, sondern im Miteinander der Stände und gesellschaftlichen Gruppen nichts Geringeres zu gewinnen sucht als ein neues kultur- und staatspolitisches Ideal. Sieht man Tieck als Autor einer negativ bewerteten Restauration, so verkennt man das bei ihm vorhandene progressive Element, das nicht auf einen Umsturz aller bestehenden Verhältnisse hinausläuft; Tieck zeigt, daß man das Neue auch wollen kann, wenn man von der Revolution nichts hält. Darin ist er als Verfasser des "Jungen Tischlermeister" der Vertreter einer konservativen Innovation, der alles andere als die bloße Wiederherstellung eines mittelalterlichen oder vom Mittelalter her geprägten Staats- und Gesellschaftsideals wollte. Davon kann keine Rede sein - wohl aber davon, daß hier Möglichkeiten des sozialen Zusammenlebens gezeigt werden, die deswegen aktuell geworden sind, weil jene Formen, die die Französische Revolution und ihre Vertreter angepriesen hatten, sich aus der Sicht Tiecks als falsch, zerstörerisch, verhängnisvoll erwiesen hatten. Tieck hat so wenig wie seine zeitgenössischen Mitautoren geleugnet oder
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übersehen, daß er in einer Übergangsperiode lebte; das hat er mit den jungdeutschen Autoren gemeinsam. Was ihn von jenen unterscheidet, ist der Versuch einer Orientierung an Werten, die zwar überkommen sind, die aber von ihm so abgewandelt werden, daß sie zum neuen Programm einer neuen Ordnung werden können. Seine Lehre ist alles andere als esoterisch oder extravagant; knüpft er doch an Vorstellungen an, die schon seit geraumer Zeit zu kulturpolitischen Idealen gehörten, mit denen Tieck aber jetzt ernst machen möchte. Daß er hier gewissermaßen ein politisches Manifest in Romanform verkündet hat, ist aber wiederum am Ende nur die Folge jenes Ereignisses, mit dem Tieck wie alle seine Zeitgenossen so direkt zu tun hatte: der Französischen Revolution. Auch Tieck schreibt in ihrem Strahlungsbereich, auch er versucht, sie zu deuten und seine Lehren daraus zu ziehen. Von bloßer Resignation kann freilich keine Rede sein. Dazu ist Tiecks Roman, obwohl er spät erschien, zu wenig Spätwerk, dazu folgt er zu sehr Ideen, die bezeichnenderweise erst in den 30er Jahren formuliert wurden: unter dem Eindruck der Julirevolution, aber auf das Phänomen der Revolution schlechthin bezogen. Der moralische Schlußsatz wie bei Eichendorff fehlt am Ende des Romans: aber der Roman als Ganzes ist eine Aufforderung an die Gegenwart, sich so zu verhalten, wie es hier in der Literatur vorbildlich geschildert wird. Als Programm also will der Roman gelesen werden, jedenfalls nicht als etwas larmoyante Bestandsaufnahme einer Bürgerlichkeit, die gerade mit dem Aufkommen des Industriezeitalters zu entschwinden droht. Was hier dargestellt wird, hat Modellcharakter, und weil dem so ist, ist auch der Anteil des Realistischen nicht sehr hoch; Tieck bedient sich gewissermaßen grundsätzlich einer allegorischen Schreibart, nicht in der Schärfe und Ausdrücklichkeit, wie das Heine und Eichendorff tun, wohl aber in der Weise, daß hier repräsentative Verhaltensformen, prototypische Figuren der Welt von damals geschildert werden, also immer mit einem Blick auf das Grundsätzliche daran. Tieck verkündet letztlich eine politische Botschaft, und sie wird, da Beispiele bekanntlich besonders eindringlich überzeugen, am manchmal, so scheint es, geradezu behaglich und behäbig ausgefalteten Einzelschicksal gezeigt. Tiecks Roman ist alles andere als ein rückwärtsgewandtes Sittenbild, kein noch einmal geträumter Traum einer verlorenen größeren Vergangenheit. Indem der Roman eine neue kulturelle Ordnung entwirft, ist er zugleich eine Antwort auf die Französische Revolution, wie sie ausführlicher kaum je gegeben worden ist. Der Roman ist ein gründlicher Versuch, die Revolution und ihre Ideale zu widerlegen, und Tieck macht deutlich, was anstelle der Revolutionsideale sehr viel lebenswerter ist: so erzählt er seine Geschichte bewußt nicht rückwärtsgewandt, sondern prospektiv, um ein erzählerisches Lehrbuch abzugeben für alle, die es noch gelüsten
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sollte, an der Revolution und ihren Idealen teilzuhaben. Ihnen wird hier der Prozeß gemacht, auf subtile, aber um so nachdrücklichere Weise.
Das Programm lautet: Revolutionen sind verwerflich, das eigentliche Ziel der Revolution, die Abschaffung ständischer Ungleichheit und damit die Aufhebung von Adelsprivilegien, läßt sich auch evolutionistisch erreichen. Der an sinnbildlichen Darstellungen so reiche Roman verdeutlicht zwar zunächst nur die ideale Lebensordnung der Handwerkerfamilie im Gleichnis der Tischrunde, die zugleich die Ordnung in dieser kleinen Welt symbolisiert: "der Meister, seine Frau und der Magister nebst Franz gingen in die andere Stube, die schon erleuchtet war, und wo vier Gesellen und drei Lehrburschen ihrer warteten. Leonhard setzte sich, zu seiner Linken der Magister und neben diesen die Frau, welcher der Knabe folgte, an einen runden Tisch; neben dem Knaben standen die Bursche, und rechts vom Magister saßen die Gesellen in der Ordnung, in der sie früher oder später in sein Haus gekommen waren. Ein kurzes Tischgebet wurde gesprochen, und die Mahlzeit unter fröhlichen Reden vollendet". 25 Das Gespräch dreht sich um die Leidenschaft des Trunkes wie des Spieles, auch darum, "ob der Mensch immer stark genug ist, den Leidenschaften widerstehen zu können", und es folgt eine moralische Geschichte, über deren belehrenden Charakter nicht der geringste Zweifel herrschen kann. Aber das alles ist nur der Auftakt für die Begegnung mit dem Baron Elsheim, der zusammen mit dem Tischlermeister über viele hundert Seiten hinweg demonstrieren wird, daß ständische Schranken auch ohne alles revolutionäre Beiwerk übersprungen werden können. "Ich kann es nicht leiden, wenn die Vornehmen gar zu bürgerlich tun wollen", meint Leonhards Frau; 26 aber das Romangeschehen belehrt auch sie eines Besseren. Die beiden vom Stand her gesehen so ungleichen Freunde beschließen eine Reise, die zum Schlosse des Barons führen soll; dort soll Theater gespielt werden, und zwar "Götz von Berlichingen", der, so gesteht der Tischlermeister, "die lieblichsten Empfindungen" schon einmal in ihm ausgelöst hatte. 27 Die Goethe-Reminiszenz, Wilhelm Meisters Vorbild ist unverkennbar, es ist die Kunst, was die beiden ungleichen Wanderer verbindet, "die herrliche altdeutsche Baukunst in den Wunderwerken zu Straßburg, Köln und Wien", und beide singen das Lob jener "edlen Deutschen", denen man nicht dankbar genug sein könne, daß sie "uns diesen lange mißverstandenen lieblichen Traum wieder auf die rechte Art zu deuten suchen".28 Tieck nimmt das alles nur zu gern zum Anlaß, sich über "die bilderstürmende Rohheit unserer Tage" aus-
186 zulassen, wenn er sagt: "Dieser jakobinische Zerstörungssinn [...] hat sich freilich unserer Zeit übermäßig bemächtigt, und hängt genau mit einer gewissen Aufklärung und unbedingten Verfechtung des Bürgerstandes zusammen. Wir reißen Monumente der Ehre unsers Vaterlandes ein, und bauen mit selbstgefälligem Lächeln Kartenhäuserchen an die Stelle". 29 Hier wird deutlich, wo die Stoßrichtung des Romans liegt: die Zeit des Rationalismus soll diskreditiert werden, denn eben sie ist es, die am Ende zum jakobinischen Zerstörungssinn geführt hat. Tieck spekuliert auf den Kunstsinn des Lesers, indem er gleichzeitig der Aufklärung unterstellt, daß sie der Bilderstürmerei gehuldigt habe. Der Tischlermeister ist sich des Rückwärtsgewandten seiner Anschauungen zwar bewußt. Aber das scheinbar Retrograde wird zugleich als eigentliches Ideal einer neuen Zeit hingestellt. Tieck wirbt geschickt um Verständnis, wenn er den Tischlermeister durchaus nicht zum Fanatiker, zum rigorosen Verfechter des Alten werden läßt. Das Elend der Zeit wird nicht geleugnet; der Handwerksmeister entwirft ein Bild der modernen Industriewelt, das in dieser Zeit und den folgenden zwei Jahrzehnten auch im sozialen Roman abgehandelt wird, wenn er feststellt: "So habe ich viele Hunderte, schlimmer als Sklaven, in berühmten Fabriken verschmachten sehen, und über die zunehmende Kultur wie anwachsende Barbarei die Schultern gezuckt, daß wir es in unsern Tabellen für Gewinn halten, Menschen, die höchsten Staatskräfte aufzuopfern, um die Ware wohlfeiler zu liefern". 30 Aber Leonhard setzt geschickt hinzu: "Ich verlange nicht, daß alles, ohne Ausnahme, auf die alte Weise geschehen soll, auch sind ja Fabriken und die gepriesene Verteilung der Arbeit schon eine alte Erfindung [...]. Aber weh muß es mir tun, daß der deutsche Handwerker, der sich so schön mehr oder minder dem Künstler anschloß, der mit den Seinigen und den einheimischen und fremden Gehülfen wahrhaft patriarchalisch lebte, jetzt untergehn und die ehrwürdige Zunft neuen Modeeinrichtungen weichen soll". 31 Das Dilemma der modernen Arbeitswelt ist hier klar gesehen, auch die fatalen Erscheinungen der Übergangszeit: "daß wir alle gern einer allgemeinen Knechtschaft entgegengehen, und daß man uns vorpredigt, nur Geld zu erwerben zu suchen, um in Luxus, Ausschweifung und Sklavenhochmut Ketten wie Freiheit verlachen zu können". Das alles führt bei Tieck aber nicht zum sozialen Protest, nicht zum sozialen Roman. Die Zeit könnte ihn, wie sein freiherrlicher Freund bestätigt, zum "Revolutionsmann" machen, 3 2 aber der junge Tischlermeister gibt ein durchaus nicht revolutionäres Lebensbekenntnis ab - ein Manifest der Tieckschen Anschauungen, auch wenn hier alles nur ein freundschaftliches Gespräch ist. Tieck ruft die "Weisheit der alten Welt" gegen die "Zertrümmerung der edelsten Überlieferungen" a u f 3 3 und er malt einen glänzenden Prospekt.
187 "Die Verwandlung des gemeinen Lebens in ein poetisches Schauspiel" 3 4 eben das leiste jene Weisheit der alten Welt; "alle diese innigsten Bedürfnisse suchte sie zu befriedigen, ließ das Bestehende und Überlieferte, verbesserte, fügte hinzu, erhöhte den glänzenden Schein, und edle Greise, Väter des Volks, Geistliche und Fürsten hielten es nicht unter ihrer Würde, ganz mit vollem Herzen in den Jubel einzustimmen, und die gute Vernunft daheim unter alten Reflexionen kramen zu lassen. Denn nicht will der Mensch bloß Mensch sein (sooft dies auch vor einigen Jahren von Aufklärern ist geprediget worden), er will auch nicht bloß nützlich und erwerbend und Bürger sein, sondern zuzeiten etwas anders außer sich vorstellen". E s wird immer deutlicher, wie sehr Tieck gegen die Aufklärung zu Felde zieht; er hält sie nicht nur für modernistisch, sondern auch für extrem kunstfeindlich. Und er bedient sich überkommener Vorstellungen vom schönen Spiel, um sein Bild der alten Welt auszumalen - ein geschickter Schachzug, denn der gebildete Leser dürfte sich der hohen Bewertung des Spiels etwa in Schillers Ästhetischen Briefen durchaus bewußt gewesen sein. Aber Tieck will noch mehr. Denn wenn er hier Spiel und Freiheit einander gleichsetzt, so ist damit ein Gegenreich zum Freiheitsideal der Französischen Revolution geschaffen, das Tieck im Verlauf seines Romans rigoros in die literarische Realität umsetzen wird: durch das Theaterspielen am Hofe des Barons. Die Vernunft erscheint von hieraus gesehen nicht nur als "hülflose Vernunft", 3 5 sondern zugleich als spielfeindliches und damit als freiheitshinderliches Element; und es ist das Spiel, das nicht nur Freiheit bringt, sondern zugleich standesüberwindend, entgrenzend eine Welt zu schaffen vermag, die für Tieck eine Idealwelt ist. Tieck spricht ausdrücklich vom Trieb, "uns außer uns zu versetzen", wiederum wohl in Anlehnung an Schillers Definition des Spieltriebs. Die theatralische Sendung des jungen Tischlermeisters wird zur Nachfolge uralter Riten, zur Iteration von Urvorgängen, die mit dem Menschlichen tief verbunden sind. So entwirft er ein Idealbild eines Daseins, das alles andere als bloßer Zeitvertreib ist und immer schon sehr viel mehr als die moderne "Bildung" beinhaltete: "an jeden Menschen kam seine Stunde und sein Tag, und öfter im Jahr oder im Monat, wo er, dazu autorisiert, etwas Fremdes vorstellen durfte, und dem Adel, der Geistlichkeit schlossen sich hier schön die Zünfte an, die vielfach in Scherz und Ernst Aufzüge, Spiele, Repräsentationen aller Art, allegorisch oder komisch gaben, oder auch nur zur Verherrlichung ihres Handwerks und des Bürgerstandes auftraten. Der
Meister
konnte Vorsteher seiner Innung und Brüderschaft werden, der Gesell Vortänzer und Vorfechter, Sprecher und Schauspieler, ja bis zum lernenden Burschen
hinunter
seinesgleichen
gab geltend
es
Gelegenheit, machen
durfte.
daß
dieser
Neu
sich
gestärkt,
wieder gesunder
unter und
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lebensfroher kehrte der Mensch dann zu seinem gewöhnlichen Beruf zurück, ja getröstet über diesen und mit der nahen Aussicht, das Jungbrunnen-Bad bald wieder gebrauchen zu können". 36 Das Spiel also als Lebenselixier, als Freiheitstraum des Menschen, als Aufhebung aller Stände, als Kultritual, das nach immer erneuter Wiederholung verlangte: Tieck liefert hier nichts anderes als eine Verteidigung der Kunst, die er gegen die Ideale der Französischen Revolution ins Feld ruft. Es ist Tieck um die Rechtfertigung der Kunst als einer alles auf zuträgliche Weise nivellierenden, Freiheit schaffenden Institution zu tun. "Denn so ein Privattheater macht mehr noch, als die Revolution, alle Stände und Menschen gleich":37 das ist, auch wenn es scherzhaft gesagt ist, durchaus ernst gemeint. Die theatralischen Belustigungen haben einen tieferen Sinn: sie sollen, ganz im Sinne Schillers, das Leben in der Ständegesellschaft und in der arbeitsteiligen Welt der beginnenden Industrialisierung gleichsam mit sich selbst versöhnen. Wie bei Eichendorff ist auch bei Tieck das Bild der neuen Welt verbunden mit Kritik an einem Adel, der die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat. Das Negativbild des Adels erscheint hier schärfer als etwa in Goethes "Wilhelm Meister": "Von allem etwas wissen und von nichts etwas Gründliches; Gründlichkeit und Tiefsinn, wo sie sich zeigen, zu verlachen und in demselben Augenblick eine ernste Miene, ja eine andächtige der Verehrung ziehen zu können, wenn man merkt, daß ein Höherer, oder Fürst diese Eigenschaften an diesem und jenem hochschätzt. Spricht er dann in seiner Familie, oder zu den Vertrautesten über den Fürsten, so ist die Achtung, welche er jenen Kenntnissen zollt, nur als Krankheit anzusehen; darüber sind denn auch alle Genossen einig, und zwar mit der festesten und kältesten Sicherheit. Alles ist ihm nur Erscheinung, vorübergehend aus Mode, außer dem Begriff des Adels, der Etikette an den Höfen, der Uniformen und des Ranges, den jeder bei Tafel, oder in den Assembleen einzunehmen hat. Alle Mesalliance bei Heiraten, vertrauter Umgang mit Bürgerlichen, Studium einer Wissenschaft, Absonderung und Meiden der großen Gesellschaft, alles dies erscheint ebenso als Schwärmerei und Fanatismus, wie die Sekte der Wiedertäufer oder Adamiten". 38 Das ist das Bild eines kritisch gesehenen Adels, dessen Existenz nur noch Hohlform ist, und daß Tiecks Roman prospektiv ausgerichtet ist, das Idealbild einer kommenden besseren Zeit geben will, wird nicht zuletzt in der scharfen Kritik an einer für unzulänglich gehaltenen Vergangenheit deutlich. Adelskritik aus dem Munde eines Adeligen: auch das war neu. Wie bedrohlich andererseits das Verlangen nach der Liquidation des Adels im Hintergrund dieser Erzählung steht, zeigt sich an Forderungen, von denen der junge Tischlermeister zu hören bekommt: ein
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Freund des bürgerlichen Hauses "will allen Adel abgeschafft haben und auch die Fürsten und Minister; jeder soll sich selber regieren [...], und keiner sich um den andern kümmern". 39 Aber derartige Postulate hat Tieck geschickt in seinen Roman eingebaut, um sie durch die Person dessen, der sie äußert, zu widerlegen. Sein Konzept ist anderer Natur: die Versöhnung mit dem Adel als möglich hinzustellen; und der ganze Roman ist nichts anderes als eine Demonstration dieses Zieles, ein langerzählter Beispielfall, der nur zeigen soll, als daß es auch ohne Revolution geht. Tieck hat auch sonst noch mögliche Einwände listig von vornherein ausgeräumt. Die warnende Stimme in dem so zukunftsorientierten Konzert ist Friederike, die Ehefrau des Bürgerlichen, die dem Adel nicht traut, und ihre Briefe sind Rufe an sein Gewissen, sich der bürgerlichen Verhältnisse, in denen er zuhause ist, wieder bewußt zu werden, selbst wenn sie "rührende Beschränktheit" bedeuten. 40 Aber letztlich sind diese Besorgnisse, wie der Roman zeigt, Mißverständnisse, denn die eigentliche Adelskritik kommt aus dem Adel selbst; wenn ein Adeliger sagt: "Wir Deutschen [...] sind noch zu sehr in Bildung und Kritik zurück",41 so spricht er sein eigenes ästhetisches Todesurteil, ohne es zu wissen. Aufgeführt wird Goethes "Götz von Berlichingen", was sich als vollkommener Mißerfolg erweist. Was nicht im Roman steht: es ist das Revolutionsstück Goethes, das hier scheitert, und das kann, von der Unwissenheit des Adelspublikums abgesehen, nur heißen: ein revolutionäres Drama, ein Drama der Revolution muß erfolg- und wirkungslos bleiben. Der Adel empfindet, daß hier "ein giftiger, eingefleischter Jakobiner" gesprochen habe, 42 "der durch dieses Motto oder diesen Unsitten-Spruch den ganzen Adel habe beschimpfen und erniedrigen wollen. [...] Zwar sind in unsern Jahren die Jakobiner völlig abgeschafft, und man will sagen, sie seien völlig eingegangen; aber um so schlimmer, wenn man nun auf die Vermutung kommt, daß sie in unserer Familie ganz von neuem wieder aufschießen". Goethes berühmteste Sottise gilt als "jene liberale Sentenz", 43 und sie wird auf dem Adelsschloß als Hinweis darauf genommen, "daß wir höchst traurigen Zeiten und Begebenheiten entgegengehen". 44 Ein alter Diener gibt dem liberalen Baron eine Zeitanalyse, die eine der älteren Generation ist: "Ich habe es vielfach durchdenket und auch durchdacht, daß es ein großes Unglück für die Weltgeschichte ist, daß es in den damaligen Zuständen und Verfassungen nicht hat bleiben können; das war alles sicher und begründet; Sitten, Feste, Religion, Adel, Bürger, Handwerker, alles, was man nur nennen kann, hing, wie in einer gutgeordneten Bildergalerie, jedes in seinem schönen festen Rahmen; zu jeder Gesinnung gab es im Katalog gleich Nummer und Erklärung. Aber jetzt ist die ganze Galerie durcheinandergeworfen, die Rahmen
190 sind abgerissen, viele Bilder stehen auf dem Kopf, die besten sind umgekehrt an die Wand gelehnt, daß kein Mensch sie finden kann, und der Dummkopf und rohe ungebildete Mensch läßt sich nun von den Meisterwerken nicht mehr imponieren, er weiß sie nicht zu achten, weil die glänzenden Rahmen fehlen, und alles wie Kraut und Rüben durcheinanderliegt". 45 Es wäre freilich falsch, hieraus eine Vorliebe Tiecks für eine Restitution des Alten ablesen zu wollen. Tieck steht auf Seiten des liberalen Adels, und sein erzählerischer Kommentar zu dieser Restaurationsforderung lautet: "Leonhard ergötzte sich an diesem Geschwätz". 46 Nicht zufällig wird der alte Diener mit Don Quichotte in Verbindung gebracht, und wenn er auf seiner Violine spielt und die Musik als Instrument seines Gefühlsausdrucks nutzt, so findet er seinen Verwandten in Grillparzers "Armen Spielmann". 47 Das Thema ist freilich zu wichtig, um nur durch den Mund eines alten Dieners abgehandelt zu werden. Und gerade weil Tieck jeder Verwechslung mit einer unglaubwürdigen Restaurationsgesinnung vorbauen möchte, wird diese noch wiederholt im Roman erwähnt. "Die bessere Zeit geht unter, und mit ihr der brave Götz, ihr Repräsentant", sagt Leonhard; 4 8 "sie wird verdrängt oder erdrückt von einer anderen, die uns als die der List und Verstellung, der Unwahrheit und Treulosigkeit gemahnt; ihre Repräsentanten, Adelheid
und
Weislingen,
gehen
aber
ebenfalls in dem
Sturm
der
Begebenheiten zugrunde, den sie erregt haben, den sie aber nicht bewältigen können". Seine adelige Gesprächspartnerin führt diesen Gedanken fort, wenn sie daraus schließt: "Und dann [...] tritt ein anderes Zeitalter auf, das für uns jetzt Lebende auch schon ein längst veraltetes ist; dieses verspielt sich wieder an einem einbrechenden, welches als das schwächere und schlechtere erscheint; und so geht es immer fort, und das ist die Täuschung der Geschichte, die, so vorgetragen, vielleicht kein wahres Wort enthält". 49 Aber das ist nicht das letzte Wort. Leonhard versucht ein Resümee zu ziehen, wenn er sagt: "Die Zeitalter wechseln wohl in Güte und Schlechtigkeit; bald tritt diese, bald jene Vortrefflichkeit mehr und deutlicher hervor, und die Aufgabe ist, an diesen Zeichen die Zeit zu erkennen". Die Zeichen der Zeit: das aber ist das Thema der Revolution und der Einstellung zu ihr. Natürlich ist "Götz von Berlichingen" nicht damit abgetan, daß das Drama als Jakobinerstück denunziert wird. Diese lächerliche, noch unterhalb des Dilettantentums angesiedelte Interpretation widerlegt sich selbst. Wichtiger als die Aufführung ist ohnehin, nach dem Muster des "Wilhelm Meister", das Gespräch über das Drama. Und Tieck zeigt, daß eine kurzsichtige politische Deutung durchaus nicht seinen Beifall findet. Vielmehr liefert er eine Uminterpretation des Dramas: aus dem Revolutionsstück wird ein reines Kunstwerk - "nicht eine Zeile, nicht ein Wort, auch nicht jene Ungezo-
191 genheiten lassen sich diesem wunderbaren Werke abhandeln, ohne seinem innersten Leben zu nahe zu tun". 50 Die Lehre dieses Kunstwerks aber ist für Tieck nicht ein Aufruf zur Revolution, sondern eher ein solcher zur Konterrevolution. Der Held des Dramas erscheint als "im Widerspruch gegen alle Gesinnung seiner Zeit", 5 1 und er führt einen "Krieg gegen moderne Altklugheit und das Verkennen einer großherzigen Vorzeit". Die zeithistorischen Schwächen des Dramas werden durchaus gesehen: "Die große Begebenheit des Bauernkrieges erscheint nur als Episode; die noch größere der Reformation wird kaum angedeutet. Der Kaiser ist eine Nebenfigur des Hintergrundes - und so geschichtlich alles behandelt ist, so wird die Historie der Zeit doch gleichsam verschwiegen". 52 Aber das hat seinen tieferen Sinn; nur durch das Verschweigen dieser Zeitgeschichte kann das Drama für die Zwecke Tiecks aktualisiert werden. Was hier als Kunstbotschaft mitgeteilt wird, ist jenseits zeitlicher Abgrenzungen angesiedelt, und weil die Zeit aus dem Stück verbannt ist, "sind wir selber [...] aus der Mühle im Tal, wir hören das Geklirr des wirklichen Fensters, welches Götz in kräftigem
Unwillen
zuwirft". 53 Das Stück also als Attacke auf eine falsche Theatralik, als Appell an den Menschen, und so ist das Drama nicht einmal im Literarischen ein Revolutionsdrama: "aber er, der so viel Zeit mit Einstudieren und Einrichten so mancher unbedeutenden Stücke zubringt oder verliert, hat doch niemals die Bühne selbst reformieren oder revolutionieren wollen". 54 Die Kunst als überzeitliche Botschaft: hier wird sie gefeiert, und retrospektiv erscheint also auch "Götz von Berlichingen" als Drama, in dem das edle Alte durch "neuere Bestrebungen" unterdrückt und unterjocht wird - eine stillschweigende Aufforderung an den Leser, es dabei nicht bewenden zu lassen, sondern den "neueren Begebungen" entgegenzutreten. Das ist nicht nur, aber auch politisch gemeint. Daß weiter Theater gespielt wird, läßt erkennen, daß es nicht bei der historischen Retrospektive bleibt; es ist die Kunst, die harmonische und aus der Sicht Tiecks vollendete Kunst, die als Spiel an die Stelle des revolutionären Ernstes treten soll. Es gibt bei Tieck kaum eine intensivere Verteidigung der Kunst als in diesem Roman, und einmal heißt es bezeichnenderweise: "Lieber Freund, brauche ich es Ihnen denn auseinanderzusetzen, daß man nichts im Leben mit solchem Ernst und Eifer treiben müsse, als die sogenannten Spiele?" 5 5 Hier wird deutlich, daß Tieck die Kunst nicht um der Kunst willen preist; sie ist ein Antidot gegen die allzu geschäftige Alltagswelt, und wenn die Jungdeutschen die Politik und den Republikanismus als eigentliches Terrain des Menschen betrachteten, so Tieck die Kunst, also das der Tageswirklichkeit gerade Entgegengesetzte, das sich aber aus seiner Sicht als nicht nur überzeitliche, sondern auch übermächtige Gewalt erweist, mit deren Hilfe die aus den Fugen geratene Welt wieder eingerichtet werden
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kann. Und während Goethes "Götz von Berlichingen" als Revolutionsstück also keinen Erfolg hatte, ist Shakespeares "Was ihr wollt" ein Drama, dessen Aufführung gefällt, und es ist der Baron, der sich am stärksten von der Kunst begeistert zeigt, wenn er sagt: "Noch nie [...] habe ich die Kunst dieses Werkes, das Überirdische dieser Szene, die ganz in Poesie, Sehnsucht und Mutwillen getaucht ist, so empfunden wie heut. Gelingt eine Darstellung eines so großen Kunstwerks nur irgend, so fördert sie Schöheiten deutlicher an das Licht, die außerdem auch dem Kenner von halbem Nebel verdeckt bleiben". 56 Die Kunst als festliche Inszenierung des Lebens, aber auf der Bühne als heiteres Spiel: das ist keine Fluchtposition Tiecks, sondern ein Heilmittel gegen die kunstlos werdende Zeit. Aber das ist kein blinder Rückfall in klassische Anschauungen, sondern ein Angriff auf ihm widerwärtige Zeittendenzen. Hatte sich das Junge Deutschland gegen die Verabsolutierung der Kunst ausgesprochen, indem es Kunst, Leben und Wissenschaft wieder vereinigen wollte, so erklärt Tieck dieses als falsch: die Kunst hat sich vom Leben, von den Tagesereignissen also und von der zeitgenösssischen Welt zu distanzieren, um überhaupt zum Menschen sprechen zu können, und wie bei Goethes "Götz von Berlichingen", so wird auch bei Shakespeares "Was ihr wollt" die Wirklichkeit, die Shakespeare in sein Drama eingebracht hatte, im wahrsten Wortsinn überspielt. Damit soll die Zeit nicht völlig ausgeschlossen sein. "Der dramatische Dichter", heißt es, "vorzüglich im Lustspiel, kann nur Kraft gewinnen und die Zuhörer täuschen und überzeugen, wenn er Anspielungen, Sitten und Gesinnungen aus seiner Zeit nimmt. Dies haben die Engländer, vorzüglich Shakespeare, immer beobachtet". 57 Die eigentliche Kraft der Kunst liegt in der Fähigkeit, die Zeit zu transzendieren, ihre Botschaft jedem Zeitalter zugänglich zu machen; es ist der Spielcharakter der Kunst, der das ermöglicht. Mag man die Liebesgeschichte in Tiecks Roman als Zugeständnis an den zeitgenössischen Geschmack werten - die Kunstgespräche sind es nicht. Noch einmal wird ein Revolutionsdrama aufgeführt: Schillers "Räuber", dieses freilich durch einen "Tausendkünstler", der die Gabe hat, "ganze Theaterstücke allein vorzutragen".58 Aber die Festgesellschaft des Schlosses spielt mit. Der tiefere Sinn dieser Theateraufführung liegt auch hier, wie schon beim "Götz von Berlichingen", in der Uminterpretation des Revolutionsdramas. Tieck rettet die Stücke damit vor einer politischen Deutung, die in ihnen nur Rebellionsdichtung sieht. Seine Lehre geht, was "Die Räuber" betrifft, dahin, daß in der Kunst Bürger und Edelmann sich frei begegnen können. Tieck führt damit eine Idee Goethes fort, nur daß in "Wilhelm Meisters Lehrjahre" noch als Mangel erschien, was hier als Lebensmöglichkeit angeboten wird. Denn dort gab dem Bürger, dem der Stand des Edelmannes ver-
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wehrt war, die Welt des Künstlers allein Gelegenheit, wie ein Adeliger zu repräsentieren, als öffentliche Person zu wirken. Kunst und Theaterspiel also ein bürgerliches Surrogat - während hier in der Kunst, in jenem überzeitlichen und überständischen Raum, eine Art von Gleichheit hergestellt wird, die nichts mit den Gleichheitsforderungen der Französischen Revolution zu tun hat. Doch die Verbindung zwischen Bürgertum und Adel bleibt nicht auf das Theaterspiel und die Schloßexistenz des jungen Tischlermeisters beschränkt. Tieck hat tiefer gesehen und durchaus im Sinne vieler Dramen des ausgehenden 18. Jahrhunderts in seinem Roman auch eine bürgerliche Ethik formuliert, in der etwa die Idee der Aufopferung, der notwendigen Begrenzung und Entsagung, der Tätigkeit für andere hochangesehene Werte sind. Es ist zwar der Bürger, der sie zunächst praktiziert, aber es ist der Edelmann, der sie als auch für sich verbindlich anerkennt. Retardierende Momente folgen. Im Roman wird noch einmal die Warnung Friederikes ins Spiel gebracht. Der Tischlermeister vermißt einen materiellen Dank seines adeligen Freundes, und so scheint sich bei ihm am Schluß doch noch zu verwirklichen, was seine Frau nur als Ahnung aussprach: daß man den Adeligen nie recht trauen könne. Aber der junge Tischlermeister irrt sich, der Adelige erweist sich als großmütig, und Leonhard muß ihm abbitten. Und als nach mehr als zwei Jahren die ungleichen Freunde einander wieder begegnen, feiert die Versöhnung der Stände noch einmal Triumphe. Eine in ihrer Bildkraft sehr suggestive Szene beschließt das Buch: das gemeinsame Mittagessen im bürgerlichen Haus, wie Leonhard das als Lebensform längst praktiziert: "Nein, beim Mittagstisch lebe ich ganz mit meinen Leuten, ganz als Bürger und ihresgleichen. Sie genießen mit mir aus einer Schüssel, [...] und keiner, weder ich, noch die Frau oder Franz (wenn nicht eins krank ist), dürfen etwas genießen, was uns die andern beneideten, oder wodurch sie sich zurückgesetzt fühlten". 59 Die Lebenslehre, die nicht nur der Baron Elsheim als aufgeklärter Adeliger, sondern die Tieck für seine Leser zu verkünden hat, folgt auf dem Fuß. Der Baron erklärt: "Es ist sehr schädlich, daß seit lange die sogenannten höheren Stände so völlig abgesondert vom Bürger und Handwerker leben, daß sie diesen nun gar nicht kennen, und auch das Vermögen verlieren, ihn kennzulernen. Nicht nur geht das schöne Vertrauen verloren, woduch sich Höhere und Niedere verbinden und einfügen würden, welches eben aus dieser Kenntnis Stärke und Kraft erwirkte; sondern der Vornehmere kommt nun auf den törichten Wahn, daß seine Art und Weise des Haushalts, die nichtssagende Etikette, die er einführt, sein nüchternes Leben mit den Bedienten und Domestiken ein besseres, anständigeres sei, und diese Torheit verdirbt nachher den Bürgerstand. Nicht nur der Gelehrte, sondern auch der wohlhabende Handwerker will nun
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die adlige Nüchternheit bei sich einführen, die kalte Entfernung von der dienenden Menschenklasse, den leeren Schein, der in Bequemlichkeit, wahrem G e n u ß und frischem Leben immerdar die Wirklichkeit vertreten muß. Ja, es kommt dahin, daß der Bürger sich alles dessen schämt, was, wenn er seine Stellung begreift, reelle Vorzüge sind, um die ihn der verständige Adlige beneiden möchte". 60 Das ist eine Philippika, gegen den falschen Adel gerichtet, nicht weniger aber gegen eine falsche Bürgerlichkeit, die es dem Adel gleichtun möchte - so wie sie es seit den Anfängen des 18. Jahrhunderts getan hatte, was Reuter damals in seinem "Schelmuffsky" schon so gründlich satirisch behandelt hatte. Aber die Lehre Tiecks hat gewissermaßen auch noch ihre verborgene und dennoch sofort einsichtige Seite. Wenn Standesgleichheit hergestellt werden soll, dann nicht dadurch, daß der Adelsstand ausgerottet wird; der verständige Adelige, der verständige Bürger gehen eine Symbiose ein, die ebenso lebenswert ist, wie sie jegliche Revolution eigentlich überflüssig macht. Es ist das Idealbild einer geläuterten bürgerlichen Gesellschaft und eines aufgeklärten Adels, der sich einer Ethik befleißigt, die im Grunde genommen in Übereinstimmung mit den vielen Idealbildern eines aufgeklärten und progressiven Adels steht, wie sie schon vor der Französischen Revolution in den deutschen Schauspielen der Zeit aufgekommen sind. Es ist die Aufforderung zur Bürgerlichkeit, die Tieck an den Adel richtet, und die Geschichte der Bürgerlichkeit zeigt, daß sie nicht umsonst ausgesprochen wurde: erfüllt doch das 19. Jahrhundert weitgehend, was Tieck sich versprach. Wohlhabenheit, Glück und Zufriedenheit der Untergebenen, wirtschaftlicher Gewinn, um das Gewerbe zu vergrößern, tägliche Arbeit und Ruhe, Fröhlichkeit und Vergnügtsein in Gott: auf der letzten Seite des Romans werden alle dieses Ideale noch einmal nachdrücklich vorgestellt, und die bürgerliche Eintracht, die bürgerliche Zufriedenheit könnte kein schöneres Gemälde bekommen, als es hier ausgemalt ist. Der Hinweis auf die Belohnung für solches Verhalten, nämlich auf bürgerliche Wohlhabenheit, ist Tieck nicht schlecht gelungen. Es ist - darin ist Tieck ein sehr geschickter Taktiker - sogar eine Adelige, Dorothea von Selten, die das Lob der Bürgerlichkeit singt: "Still! [...] mir gefällt am meisten dies Hobeln, Lärmen und Hämmern aus der Ferne. Wie hübsch ist das Gefühl hier, daß ein jeder Schlag, den ich vernehme, etwas einbringt; daß der Gewinn wieder das Gewerbe vergrößert; daß alles, was gesprochen und gedacht wird, in jenes Kapital hineinströmt, das die Wohlhabenheit befördert, die wieder das Glück und die Zukunft der Untergebenen begründet, damit sie dereinst in dieselbe Stelle treten können. [...] so müßten denn auch einmal Dichter kommen, die uns zeigten, daß auch alles dies unter gewissen Bedingungen poetisch sein könnte". 61 Der aufmerksame Leser wird dieses kleine Selbstlob Tiecks, das er
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hier seiner freundlichen Dorothea in den Mund gelegt hat, nicht übersehen. Tieck will nicht nur zeigen, daß alles unter gewissen Bedingungen poetisch sein kann; er will auch das Gegenteil: nämlich demonstrieren, daß das dergestalt poetisch Dargestellte auch real werden kann. Und so hat er denn hier das Hohelied eines Bürgertums geschrieben, das sich gegen den Adel nicht auflehnt, sondern in einer idealen Gemeinschaft mit ihm zusammenlebt, und einen Adel dargestellt, der die Zeichen der Zeit erkannt hat und sich vom Bürgertum nicht absetzt, sondern dessen Ethik und Lebensideale übernimmt. Der Roman einer sozialen Angleichung, einer schließlich erreichten gesellschaftlichen Gleichheit, wie sie die Kunst allein verdeutlichen kann, ein Roman aber auch, der als möglich und für die Zukunft als unbedingt realisierbar darstellt, was hier nur "Poesie" ist. Das Schlußbild könnte in Familienzeitschriften wie "Am häuslichen Herd" oder "Nord und Süd" nicht freundlicher ausgemalt sein. So bestätigt das Ende des Romans noch einmal, was der Anfang schon demonstrierte: das Buch empfiehlt nicht eine bedingungslose Rückkehr zum Alten. Die Darstellung konfliktloser Standesverhältnisse ist als Modell für die Zukunft gedacht, und Tieck entwirft ein Bild, in dem das ungezwungene Verhältnis des Adels zum Bürgertum und des Bürgertums zum Adel als gleichsam natürliches Verhältnis der beiden Stände zueinander beschrieben ist. Der bloß rückwärtsgewandte Adel wird kritisiert - wie bei Eichendorff, wie auch bei Goethe. Nur: was bei Eichendorff in einer Katastrophe endet, im Untergang der Repräsentanten der beiden Stände, wird hier mit einer idyllischen Utopie beschlossen, mit dem Zukunftsbild harmonischer Sozialbeziehungen. Abwegige Fälle, von denen immer wieder im Roman berichtet wird, sollen demonstrieren, daß Willensfreiheit nicht ein vorgegebener Besitz des Menschen ist, sondern etwas immer neu zu Erringendes, und neben die abschreckenden Beispiele stellt Tieck die der reuigen Sünder, die eine christliche Moral zur Vernunft gebracht hat. Aber vor allem wird der Weg zu einer idealen, quasi klassenlosen Gesellschaft gezeigt. Auch die Redefertigkeit, die permanente Gesprächsbereitschaft ist nicht so sehr ein Tribut an die zu Tiecks Zeiten beliebte Gesprächs- und Unterhaltungsnovelle, sondern ebenfalls ein Zeichen von bürgerlicher Freiheit dem Adel gegenüber wie auch von adeliger Annäherung an das Bürgertum: diese Bürgerlichkeit, die sich mit dem Adel im Gespräch und in der Kunst verbinden kann, ist ein aufgeklärtes Bürgertum, das letztlich vernünftig lebt und argumentiert; und die abschreckenden Beispiele der Trunkenbolde und desorganisierten Naturen illuminieren Tiecks Absichten deutlich genug. Wie zukunftsoptimistisch Tiecks Roman gedacht ist, zeigt sich daran, daß über die Kunst hinaus das Gespräch die Schichten und Stände verbindet - während in Eichendorffs Ge-
196 schichte vom Untergang des Schlosses Dürande die Gespräche zwischen den Vertretern der Stände, zwischen Dienern und Adeligen verstummen. Bedrohungen des immer noch labilen Gleichgewichts zwischen den Ständen werden bei Tieck gemeistert, indem über sie gesprochen wird; man verständigt sich über ein Fehlverhalten im menschlichen Dasein und über abzulehnende Vernunftlosigkeiten, und so geht es denn auch vorwiegend heiter und aufgeklärt in dieser Romangesellschaft zu. Das Sprechen wird als soziale Interaktion begriffen; das Gespräch bleibt den ganzen Roman hindurch eines der wichtigsten Verbindungsmittel zwischen den Ständen und Generationen. Daß die Annäherung der Stände zunächst einmal im Gespräch stattfinden muß, daß das Gespräch als solches die Revolution erledigt, auch das will der Roman zeigen und damit eine pädagogische Aufgabe erfüllen, die die Schriften des alten Tieck wiederholt zu erledigen suchen. Tieck operiert so gewissermaßen an zwei Fronten: einmal, indem er eine antiquierte Adelsauffassung bekämpft, zum andern, indem er die Lehren des Jungen Deutschland erzählerisch zu widerlegen versucht.
Die
Gegnerschaft zu Themen und Tendenzen des Jungen Deutschland ist permanent. Von daher versteht sich etwa, warum die Frau des jungen Tischlermeisters als Zweiflerin auftritt, Bedenken gegenüber der Verbindung des Bürgermannes mit dem adeligen Elsheim äußert. Das Junge Deutschland und insbesondere Gutzkow mit seiner "Wally, die Zweiflerin" hatte, nachdem schon Lucinde in Schlegels Roman eine aufgeklärt-liberale Vorkämpferin der Emanzipation gewesen war, die Modernität des Zweifeins dargestellt, aber das Zweifeln und mangelnde Vertrauen erscheint in der Charakteristik der Frau des jungen Tischlermeisters als überholt, als unzeitgemäß, ohne Zukunftsaussicht. Der junge Tischlermeister läßt sich denn auch nicht von den Einwänden seiner Frau abhalten. Aber der eigentliche Triumph Tiecks über diese jungdeutsche Ansicht kommt erst am Schluß des Romans: wenn Friederike feststellen muß, daß sie mit ihrem Zweifel dem Adel gegenüber Unrecht hatte. Tieck läßt im übrigen auch keine Gelegenheit aus, über einen Magister herzuziehen - er setzt die Hofmeisterberichterstattung fort, wie sie spätestens seit dem Sturm und Drang literarisches Thema geworden ist. Doch sein eigentliches Ziel ist das Junge Deutschland, daneben der unaufgeklärte, allein auf seine ererbten Vorrechte pochende Adel. Dagegen beschwört er den Typus des aufgeklärten Adeligen und des tätigen Künstlers, und was für Schiller in seinen Ästhetischen Briefen nur eine Forderung an eine ferne Zukunft war, ist hier Realität. Die Konturen einer neuen Bürgerlichkeit kommen immer deutlicher zum Vorschein, und sie ist gut und ohne Tadel. Der junge Tischlermeister erweist sich als überzeugter Verfechter des "wahren Bürgerstandes", der seiner Meinung nach zugleich "Kern und das
197 Mark aller Staaten" ist. 6 2 Daß Tieck sich gegen das beginnende technische Zeitalter wehrt, ist richtig - aber das ist nicht die eigentliche Stoßrichtung seines Romans. Die zielt auf die goldenen Möglichkeiten einer konservativen Evolution hin, und Tieck läßt sich ausführlich darüber aus. Das merkantile Nützlichkeitsdenken der Neuzeit wird abgewertet, Kunst und bürgerliche Gesinnung werden dagegen heraufgerufen. Im Unterschied zu Goethes R o man läuft aber alles nicht auf eine Nobilitierung des Bürgertums hinaus, sondern auf den Versuch, dessen Werte diesem selbst bewußt zu machen. Sie werden gerade dem vor Augen geführt, der sie für kurze Zeit verlassen hat. Der Baron meint: "Möglich, daß wir uns selbst, unsere Eigentümlichkeiten nur finden können, indem wie sie scheinbar auf eine kurze Zeit verlieren". 6 3 Eben das ist am Ende auch die Erfahrung Leonhards, der nur ein kurzes Gastspiel in der Welt des Adels gibt - sehr viel anders als Wilhelm Meister. Das muß man nicht unbedingt als Auseinandersetzung mit Goethes Roman sehen; aber die Sozialverhältnisse sind aus Tiecks Sicht nun einmal anders zu definieren. Und wenn aus Goethes Roman die bürgerliche Sehnsucht des 18. Jahrhunderts spricht, so aus Tiecks "Der junge Tischlermeister" das Wissen um ein notwendiges Sich-Beschränken des Bürgertums im 19. Jahrhundert. Der Roman ist ein einziger großangelegter Versuch, die Macht der bürgerlichen Standesethik und den ebenso notwendigen wie möglichen Standesausgleich zwischen Adel und Bürgertum aufzuzeigen, um so die Gleichheitsideen der Französischen Revolution ad absurdum führen zu können. Stand am Anfang des Romans noch ein inneres Ungenügen, das den jungen Tischlermeister zu seiner Reise in die Adelswelt hineintrieb, so am Ende eine zufriedene Einsicht in die Verhältnisse, auch in die Beschränktheit und Bedingtheit des eigenen Standes. Der höchste Punkt seiner Nobilitierungsneigung ist erreicht, als er gewissermaßen als Professor vorgestellt wird, da der Handwerker nicht, der Gelehrte aber durchaus hoffähig ist; und als Elsheim, der adelige Freund, einen von ihm rasch fingierten Brief einer italienischen Gräfin vorliest, in dem Leonhard endgültig als gleichrangig figuriert, könnte die Reise zum Adelsdiplom beendet sein. Doch gerade dieser Brief, der die äußerliche Gleichrangigkeit der ungleichen Freunde dokumentieren soll, ist zugleich der innere Wendepunkt, j a der Tiefpunkt in der Geschichte dieser Beziehung, da die zwar insgeheim versuchte, aber dann doch nicht erreichte Nobilitierung des bürgerlichen Tischlermeisters letztlich ein Schwindel ist und auf Schwindel zurückgeht. Der junge Tischlermeister sieht ein, daß es gerade nicht darum geht, den Adel in dessen Welt zu erreichen, weil etwas viel Wichtigeres Ziel des Romans ist: die Erkenntnis der Notwendigkeit einer Rückkehr in den zwar begrenzten, aber geordneten Zustand des Bürgers, der den freien Verkehr mit dem Adel durchaus möglich macht,
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ohne daß das auf eine Aufhebung der Standesgrenzen hinausliefe. D a ß Leonhard als Tischlermeister in einer Adelsgemeinschaft nur bleiben kann, wenn er sich incognito dort aufhält, das ist auch Kritik Tiecks an einem so selbstbewußten und in seiner Selbstbewußtheit fragwürdig gewordenen Adel. Aber der eigentliche Empfänger der Botschaft ist der Bürger, nicht der zu kritisierende Adelige. Sein Glück liegt letztlich in seiner Beschränkung auf seinen Stand, und man kann den ganzen R o m a n als einen Versuch lesen, diese Beschränkung dem Bürger schmackhaft zu machen, sie als ihm aufgegeben zu begründen. Der Roman will demonstrieren, in welch außerordentlichem Maße ein junger Tischlermeister dennoch glücklicher in seiner eigenen Sphäre ist, als wenn er dem Adel blindlings nachgefolgt wäre, zumal der Reformadel sich ihm ohnehin zuneigt. So zeigt der R o m a n Idealverhältnisse, liefert ein Modell für neue Lebenszusammenhänge und soziale Verhaltensformen. Nichts liegt am Ende ferner als der Gedanke an eine Revolution. Leonhards Bildungsreise ist kreisförmig angelegt, und wenn Goethes Wilhelm Meister noch die Bildungsbewegung als kontinuierlichen Aufstieg verstand, so ist der soziale Weg des Tischlermeisters ein Weg, der zurückführt, auch wenn er sich scheinbar zunächst von seiner Herkunft entfernt.
Tiecks Programm richtet sich also an Adel und Bürgertum zugleich, sein Roman eröffnet einen Raum, in dem beide Stände nicht gegeneinander, sondern miteinander leben können. Daß er die Berührungszone zwischen Adel und Bürgertum in die Kunst verlegt, ist literarische Erbschaft des 18. Jahrhunderts; Schiller hat derartiges schon vorformuliert. So konnte Tieck bei aller Kritik an der Aufklärung dennoch Aufklärungsideale in seinen Roman übernehmen, um sie sozialpolitisch neu zu interpretieren. Im Grunde genommen handelt es sich bei Tiecks Roman sogar um einen Erziehungsroman, wobei er die Erziehung als antirevolutionäres Instrument einsetzt: er will umerziehen, nicht revoltieren. Tieck hat dabei durchaus die gesellschaftlichen Probleme gesehen, die seine Zeit aufgab, hat aber geglaubt, diesen Problemen durch ein antirevolutionäres, an der Kunst orientiertes Programm gerecht werden zu können. Daß sich ihm unterderhand das Goethesche Kunstideal zu einem epigonalen Ideal der Kunst hin verfestigte, das war der Preis, den er für seine Innovationstheorien bezahlen mußte. Daß hier aus Kunstvorstellungen Klischeevorstellungen geworden sind, verrät die Sprache, mit deren Hilfe die Kunst beschrieben wird. Leonhard vergleicht Kolosseum und Pantheon, stellt aber fest: "die herrliche altdeutsche Baukunst in den
199 Wunderwerken zu Straßburg, Köln und Wien hat am liebevollsten und innigsten diesem Triebe gehuldigt, und das innere Wesen dieser Gebäude ist Lieblichkeit, so daß es nur neuern Zeiten möglich war, hier Schauer, trübe Melancholie und Lebensüberdruß aufzufinden". 64 Die Sprache verrät, wie verdünnt die klassische Kunstdoktrin hier geworden ist, so wie denn auch nicht untypisch ist, daß der junge Tischlermeister von den Goetheschen Bestimmungen her nichts anderes als ein gut verdienender Dilettantenkünstler ist. Er ist handwerklich orientiert, nicht am Geist der Kunst, aber Tieck ist bereit, das alles hinzunehmen. Sein eigentliches Sprachrohr, der Theaterstücke inszenierende Professor, verrät in seiner Charakteristik der Shakespeareschen Komödie, wie trivial die Kunsterfahrung hier werden kann: "Diese ganze dichterische Komödie [...] zwingt uns, wenn wir sie nicht ganz verderben wollen, aus uns herauszutreten, und doch fordert die Zartheit und der rasche Wechsel, indem der Dichter nirgend schwerfällig verweilt, daß der Darsteller ebenfalls rasch sein muß und gehalten, nirgend Karikatur und stillstehende Grimasse. Die Aufgabe wird nun sein, daß das Wichtige auf die rechte Art hervortritt, und jede Person, wie es die Gelegenheit fordert, auch wieder in den Hintergrund tritt, um nicht den Sinn des Gedichtes zu stören oder selbst zu vernichten. Diese notwendige Kunst, sich zur rechten Zeit zurückzuziehen und unbemerkt zu bleiben, fehlt oft den besten Schauspielern vom Metier, die sich nur zu leicht verwöhnen, das ganze Stück und alle Szenen immerdar beherrschen zu wollen. Alle Töne klingen in diesem einzigen Werke an, Posse und Spaß werden nicht verschmäht, das Niedrige selbst berührt und angedeutet, aber ebenso das Poetische, die Sehnsucht, die Töne der Liebe, und dabei so viel dichterischer Eigensinn, Tollheit, Weisheit, feiner Scherz und tiefsinnige Gedanken in der Gaukelei, daß das Poem wie ein großer vielfarbiger Schmetterling durch reine blaue Luft flattert, der Sonne und den buntfarbigen Blumen seinen goldenen Glanz entgegenspiegelt, und wer ihn haschen will, um ihn näher zu betrachten, hüte sich nur, vom leichten Duft des zartesten Blütenstaubes etwas abzustreifen, weil der kleinste Verlust die wie in Luft hingehauchte Schönheit schon verdirbt". 65 Hier ist eine ganze Versammlung abgeschmackter Bilder in gefährlicher Nähe zum Kitsch: der große Schmetterling, die reine blaue Luft, der goldene Glanz, die buntfarbigen Blumen, der Duft des zartesten Blütenstaubes. Alles ist unkonkret, nur der Späre des "Schönen" zugeordnet, und das zeigt, wohin es mit dem Harmonieideal der klassischen Kunst bei Tieck gekommen ist. Alte Kunstvorstellungen leben noch weiter, aber sie sind völlig entleert und in einem Maße abstrakt geworden, daß sie als Kategorien nicht mehr taugen. Wenn vom Gedicht und von sanften Reden, von Liebe, Sehnsucht und poetischen Träumen die Rede ist, von anmutig feiner Ironie, von Lieblichkeit und
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Fülle des Vortrags, vom leise wehenden Zephir, so läßt sich daran nur zu genau ablesen, wie sehr aus der Dichtung der Klassik eine weitabgewandte und zeitferne Pseudopoesie geworden ist, mit anderen Worten: wie sehr das Epigonentum hier zugeschlagen hat. Und es ist der junge tischlermeisterliche Dilettant, der feststellt: "Denn wenn die höhere Kunst frei wie im reinsten Äther schweben darf, sich selber genug, und nur durch Schönheit und Entzückung in die edelsten und geheimsten Kräfte des Menschen eingreift, und dadurch mittelbar in das, was die Welt lenken und erheben soll, so gibt es gleichsam von dieser eine verstoßene, geringgeachtete Schwester, die sich unmittelbar der Not, der Trauer des Lebens annimmt, und uns mit stiller Heiterkeit über alles trösten will, was uns betrübt oder beschwert".66 Höhere Kunst und reinster Äther, Schönheit und Entzückung, Rührung und edelste Kräfte des Menschen: das Epigonentum feiert auch hier Triumphe. Und mag Tiecks Konzept einer Versöhnung von Adel und Bürgertum seine sozialpolitische Berechtigung gehabt haben, mag er in gewisser Weise sogar vorweggenommen haben, was sich im 19. Jahrhundert dann ereignete, so zeigen diese Sätze, wohin eine Kunst geraten kann, wenn sie die wirkliche Auseinandersetzung mit der Zeit scheut. Aber auch darin ist Tiecks Roman eines der wichtigsten Zeugnisse einer Revolutionsabkehr, wie sie dann das weitere 19. Jahrhundert auf breiter Basis wiederholte: von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen.
Anmerkungen
Tieck taucht verständlicherweise in Bibliographien über das Verhältnis der deutschen Literatur zur Französischen Revolution nicht auf. Tiecks späte Romane und Novellen haben ohnehin dazu angeregt, die Kunst der psychologischen Darstellung zu bewundern oder auch, je nach Standpunkt des Interpreten, in Zweifel zu ziehen. Das gilt etwa für die hier nicht ausführlich erwähnte Arbeit von Jörg Hienger: Romantik und Realismus im Spätwerk Ludwig Tiecks, Diss. Köln 1955. Über das späte Novellenwerk handelt Jürgen Heinichen: Das späte Novellenwerk Ludwig Tiecks. Eine Untersuchung seiner Erzählweise. Diss. Heidelberg 1963. Zu erwähnen ist auch die Dissertation von Ludwig Fertig: Der Adel im deutschen Roman des 18. und 19. Jahrhunderts, Heidelberg 1965. Politische Themen bei Tieck behandeln Christa Bürger, Romantische Gesellschaftskritik, in: Lothar Bredella, Christa Bürger, Rudolf Kreis: Von der romantischen Gesellschaftskritik zur Bejahung des Imperialismus. Tieck - Keller - Kipling, Frankfurt/M. 1974, und Hans-Wolf Jäger: Trägt Rotkäppchen eine Jakobiner-Mütze? Über mutmaßliche Konnotate bei Tieck und Grimm, in: Literatursoziologie II, hrsg. von Joachim Bark, Stuttgart u. a. 1974, S. 159-180. Ohne politische Hinweise ist die Arbeit von Hans Morti: Dämonie und Theater in der Novelle "Der junge Tischlermeister". Zum Shakespeare-Erlebnis Ludwig Tiecks, in: ShakespeareJahrbuch 66, Leipzig 1930, S. 145-159. Einen Forschungsüberblick gibt Roger Paulin: Der alte Tieck, in: Zur Literatur der Restaurationsepoche 1815-1848. Forschungsreferate und Aufsätze. Hrsg. von Jost Hermand und Manfred Windfuhr, Stuttgart 1970, S. 247-262. Ein allgemeiner Überblick auch bei Roger Paulin: Ludwig Tieck, Stuttgart 1987, (Sammlung Metzler 185).
201 Sehr wenig über Tiecks Verhältnis zur Revolution nur bei Alfred Stern: Der Einfluß der Französischen Revolution auf das deutsche Geistesleben, Stuttgart/Berlin 1928, S. 199-201.
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Heinrich Laube: Moderne Lebenswirren. Briefe und Zeitabenteuer eines Salzschreibers, Leipzig 1834, S. 156Γ Vgl. zu den Verwischungen zwischen Roman und Novelle auch Verf., Die Novellistik des Jungen Deutschland, in: Handbuch der deutschen Erzählung, hrsg. von Konrad Polheim, Düsseldorf 1981, S. 229-239. Ludwig Tieck: Der junge Tischlermeister, in: Werke in 4 Bänden, hrsg. von Marianne Thalmann, Bd. 4, Darmstadt 1966, hier S. 207. Ludwig Tieck, Werke, Nachwort, S. 823. Ebd., S. 824. Ebd., S. 823. Ebd., S. 822. Paul Gerhard Klussmann: Ludwig Tieck, in: Deutsche Dichter des 19. Jahrhunderts, hrsg. von Benno von Wiese, Berlin 2 1979, S. 35. Ebd., S. 36. Jakob Minor: Tieck als Novellendichter, in: Akademische Blätter. Beiträge zur Literatur-Wissenschaft 1, 1884, S. 129-161 und S. 193-220; wiederabgedruckt in: Ludwig Tieck, hrsg. von Wulf Segebrecht, Darmstadt 1976 (Wege der Forschung 386), S. 44127, hier S. 120. Ebd., S. 121. Ernst Ribbat: Ludwig Tieck. Studien zur Konzeption und Praxis romantischer Poesie, Kronberg/Ts. 1978, S. 221. Christian Gneuss: Der späte Tieck als Zeitkritiker, Düsseldorf 1971 (Literatur in der Gesellschaft. Bd. 4), S. 77. Ebd., S. 77f. Ebd., S. 77. Ebd., S. 78. Ernst Ribbat, a. a. O., S. 221. Ebd., S. 225. Ebd., S. 225f. Ebd., S. 226. Ebd. Ebd., S. 228. Ebd., S. 229. Ebd., S. 20f. Johannes P. Kern: Ludwig Tieck: Dichter einer Krise, Heidelberg 1977, S. 137. Der junge Tischlermeister, a. a. O., S. 211. Ebd., S. 218. Ebd., S. 228. Ebd., S. 245. Ebd., S. 246. Ebd., S. 260. Ebd., S. 260f. Ebd., S. 261. Ebd., S. 262f. Ebd., S. 263. Ebd., S. 263. Ebd., S. 263f. Ebd., S. 320. Ebd., S. 326. Ebd., S. 346f. Ebd., s. 349. Ebd., s. 355. Ebd., s. 366. Ebd.
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Ebd. Ebd., S. 367. Ebd. Ebd., S. 370. Ebd., S. 378. Ebd. Ebd., S. 387. Ebd., S. 386. Ebd., S. 387. Ebd., S. 386. Ebd., S. 388. Ebd., S. 404. Ebd., S. 422f. Ebd., S. 417. Ebd., S. 444. Ebd., S. 534f. Ebd., S. 535. Ebd., S. 538. Ebd., S. 259. Ebd., S. 537. Ebd., S. 245. Ebd., S. 389f. Ebd., S. 244. Ebd., S. 244.
Vili.
Freiheitssonne und Götterdämmerung Die Revolution als Signatur der Moderne und Heinrich Heines Denkschrift über Ludwig Börne
Es brauchte Zeit, bis die Revolution in Deutschland ankam. Zwar stiegen, noch bevor das Jahrhundert an sein Ende gelangt war, hier und da erste Ahnungen hoch, daß die Französische Revolution mehr gewesen war als ein gegen den Absolutismus in Frankreich gerichteter Umsturzversuch, aber die wahren Konturen der Revolution, das Ausmaß der durch sie bewirkten Veränderungen blieben doch noch weitgehend unsichtbar - jedenfalls im ersten Jahrzehnt nach 1789. Sei es, daß sie nur als etwas allzu plötzlicher und ungestümer Umschlag der alten optimistischen Evolutionstheorien
gesehen
wurde, sei es, daß sie als reparabler Betriebsunfall der Geschichte galt, der zwar zu Umgestaltungen führen mußte, aber dennoch in irgendeine Art von Ordnung hinüberzuleiten Jahrhunderts
war
versprach: dem
sie unheimlich, jedoch
Entwicklungsdenken nicht
des
lebensgefährlich
existenzbedrohend. Der Glaube an die wiederherstellende
Macht
18. oder der
Geschichte, vor allem in Deutschland gut entwickelt, bot gewissermaßen eine Rücksicherung auch für den Fall des Schlimmsten; so daß im Grunde genommen niemand so recht an eine wirkliche Weltveränderung, an das Ende des säkular Bestehenden glauben mochte. Oft hielt man die Revolution für ein Ereignis von nebenan, Frankreich betreffend, aber nicht deutsche Verhältnisse. Bei allem Universaldenken des 18. Jahrhunderts ist der Isolationismus im geistigen Selbstverständnis weit verbreitet, und es ist bestenfalls das Interesse für nachbarliche Vorgänge, nicht aber die Einsicht, daß die Französische Revolution das gesamte Weltgeschehen verändern sollte, das die deutschen Reaktionen im Jahrzehnt danach prägte. Der Blick auf die gewalttätigen Vorgänge in Frankreich danach, die überaus rasche Veränderung
der
Verhältnisse
nach
einer
langen
Zeit
statischer
Lebensbedingungen: das alles verstärkte das Gefühl, selbst nicht unmittelbar betroffen zu sein. Den Bemühungen, die Französische Revolution als das Eigene zu betrachten, standen weitaus stärker andere gegenüber, in ihr letztlich doch etwas Fremdes zu sehen, etwas Unbegreifliches, bei aller
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Begreiflichkeit der von ihr verkündeten Forderungen. In ihr hat man damals das Janusgesichtige der Revolution sofort erkannt, die Doppelperspektive von Befreiung und Zerstörung - aber das Wissen, daß auch Revolutionen zyklischer Natur sind, daß sie, einmal ausgebrochen, wiederkehren können: dieses Wissen war damals durchaus noch nicht aufgekommen. Vielmehr war es die Einzigartigkeit der Französischen Revolution, die sie gleichermaßen anziehend und abstoßend machte, die ihr den Rang eines unerhörten Ereignisses gab, das man aber nicht zwangsläufig auf sich beziehen mußte. Die entscheidenden Einsichten in das wahre Wesen der Revolution sind denn auch erst später gemacht worden: im frühen 19. Jahrhundert, also eine Generation danach. Das hat nichts zu tun mit einer deutschen Verspätung, sondern zeigt vielmehr, wie außerordentlich die Veränderungen waren: sie brauchten Jahrzehnte, um tatsächlich ins Bewußtsein zu geraten. So wird die Französische Revolution, was das Wissen um sie angeht und die Ausmaße ihrer Bedeutung, eigentlich erst im 19. Jahrhundert beschlossen; als die politische Welt sich längst wieder beruhigt hatte, also im Zeitalter der Restauration, wuchs immer noch die geistige Beunruhigung durch
das
Phänomen der Revolution, das jetzt allmählich als menschheitliches, totales, jeden betreffendes Ereignis gesehen wurde. Nun ist nicht zu leugnen, daß eine derart neue Einschätzung der Revolution mit dem Aufkommen des geschichtlichen Bewußtseins im frühen 19. Jahrhundert zusammenhängt. Dieses hat, so scheint es, den Blick auch für die Ereignisse der Vergangenheit geschärft, und es waren natürlich die Höhe- oder Tiefpunkte dieser vergangenen Geschichte, also die Revolution und ihre Folgen, die sich dem historischen Bewußtsein, das nun wachgeworden war, besonders erschlossen. Diese Feststellung ist aber auch umkehrbar: weil die Französische Revolution stattgefunden hatte, konnte sich ein historisches Bewußtsein entwickeln; letzteres war insofern eine unmittelbare Folge der Revolution, als sie zunächst einmal das Gegenwartsbewußtsein schärfte, dieses jedoch zugleich als Ergebnis von Veränderungen der unmittelbaren Vergangenheit verstanden werden mußte. Zwar wäre es übertrieben, von einem ungeschichtlichen Zustand des Bewußtseins im 18. Jahrhundert zu sprechen, aber Veränderungen, rasche und plötzliche Umwälzungen waren diesem Bewußtsein weitgehend fremd; die Geschichte wurde als zwar stetiger Fortschritt, aber doch über Jahrtausende hin verstanden, so daß schon der Eindruck des nunc stans entstehen konnte, einer zeit- und damit auch geschichtslosen Gegenwart, in der das Heute dem Gestern verdächtig gleich war und das Morgen nichts anderes erwarten ließ als das, was das Heute bot. Daß das ein trügerisches Erscheinungsbild war, daß Geschichte sich anders ereignete, kleinformatiger und dennoch zugleich oft weltumfas-
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sender, das allerdings hat die Französische Revolution weniger die Zeitgenossen als vielmehr die darauffolgende Generation gelehrt. Daß Historismus und wahres Revolutionsbewußtsein sich gleichzeitig entwickeln, will also nicht als Zufall erscheinen; da sind Korrespondenzen, und weil die Revolution die Welt aufgeschreckt hatte und zu etwas genauerer Betrachtung ihrer selbst und der unmittelbaren zeitlichen Umgebung herausforderte, war der nun einmal geschärfte Blick für Einzelheiten Voraussetzung für eben jenes historische Bewußtsein, das, wie das der Wechselwirkung derartiger Veränderungen entspricht, seinerseits nun wieder das Revolutionsbewußtsein schärfte und erweiterte. Goethe mochte noch die Zeit zwischen dem Siebenjährigen Krieg und der Französischen Revolution als Goldenes Zeitalter, als wahre Friedenszeit erlebt haben; daß es so etwas gegeben hatte, verschwand zwar nicht im Bewußtsein des frühen 19. Jahrhunderts, aber die Vorstellung vom Goldenen Zeitalter trat zurück, veränderte sich, verblaßte hinter dem Wissen um die nun stattgefundenen Umwälzungen, und daß diese nicht mit der Französischen Revolution abgetan waren, sondern daß sich eine Periode permanenter Veränderungen einstellen würde, eben dieses Bewußtsein dämmerte im frühen 19. Jahrhundert immer stärker hoch. Die Entdeckung der Geschichte im modernen Sinne des Historismus, die Erkenntnis auch der Ausmaße der Französischen Revolution: das sind einander wechselseitig bedingende Einsichten, und wenn auf der einen Seite der Blick für die Besonderheiten des einzelnen historischen Vorganges auch geschärft wurde, wenn der Historismus also nicht so sehr auf eine Relativierung geschichtlicher Vorgänge abzielte als vielmehr auf die genaue Erkenntnis des Einzelfalls, dann darf nicht vergessen werden, daß dem auf der anderen Seite eine universalistische Tendenz entsprach: die nämlich, das Einzelereignis nicht isoliert zu betrachten, sondern es dann doch wieder in den größeren geschichtlichen Zusammenhang der Neuzeit zu stellen. Man mag darin noch ein Weiterwirken der alten universalhistorischen Ideen des 18. Jahrhunderts sehen, eine Fortsetzung jener linearen Denkmöglichkeiten, wie sie die Aufklärung popularisiert hatte, man mag darin auch nur ein Gegengewicht erkennen gegen die Neigung zum historischen Pointiiiismus, zur übergenauen und vergrößerten Betrachtung einzelner Vorgänge: jedenfalls vermehren sich gleichzeitig mit dem Wissen um die besonderen Bedingungen aller historischer Vorgänge die Einsichten in deren weltgeschichtliche Bedeutung. Daß Jacob Burckhardt später "Weltgeschichtliche Betrachtungen" schrieb, ist ein Symptom und ein Signal. Was Nietzsche dann über Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben sagte, mutet wie eine Antwort auf Burckhardts "Weltgeschichtliche Betrachtungen" an. Burckhardt hatte übrigens ausdrücklich von der "Befähigung des 19. Jahrhunderts für das historische Studium"
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gesprochen, und er hatte Überlegungen von Ernst von Lasaulx genutzt, die darauf abzielten, daß das heutige Europa schon so viel Leben hinter sich gebracht habe, daß die Wege in die Zukunft erkannt werden und Schlüsse daraus gezogen werden könnten. Aber Jacob Burckhardt war an der Zukunft nur so weit interessiert, wie der rückwärtsgewandte Prophet das sein konnte, und er stellte ausdrücklich fest, daß seine Zeit "zur Erkenntnis der Vergangenheit besser ausgerüstet als eine frühere" sei. Burckhardt sei hier zunächst nur erwähnt, um zu demonstrieren, wie weit das Revolutionsbewußtsein im 19. Jahrhundert reichte; wenn er sein eigenes Jahrhundert, von 1789 an gerechnet, als "diese dreiundachtzig Jahre Revolutionszeitalter" empfand, dann läßt das erkennen, daß die Französische Revolution gewissermaßen zur Kompaßnadel geworden war, die den Gang der Weltgeschichte untrüglich anzeigte. Burckhardt hätte andere Ereignisse seines Jahrhunderts nennen können, philosophische, künstlerische, wirtschaftliche: aber er entschied sich, sein Jahrhundert als "Revolutionszeitalter" zu betrachten, und mehr als das: er war bereit, die Weltgeschichte nach 1789 überhaupt anders zu sehen, und schon die Einleitung in die "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" macht deutlich, daß wichtigste Voraussetzung dieser Umorientierung eben die Französische Revolution gewesen war. Hier ist das Revolutionsbewußtsein in der Tat so geschärft, wie es die unmittelbaren Zeitgenossen der Französischen Revolution wohl nicht einmal für möglich gehalten hätten. Aber nicht nur das: Jacob Burckhardt hat wie nur sehr wenige vor ihm gesehen, daß die Revolution in Frankreich mehr gewesen war als ein politisches Ereignis, mehr als ein schlichter Betriebsunfall der Geschichte oder auch ein Glücksmoment auf einem nicht weiter definierbaren Befreiungsfeldzug. Burckhardt hat die geistigen, erkenntnisbezogenen Dimensionen der Französischen Revolution erkannt. Er schrieb: "Sodann gewöhnte das Schauspiel der französischen Revolution und ihre Begründung in dem, was vorhergegangen, den Blick an die Erforschung nicht bloß materieller, sondern vorzugsweise geistiger Kausalitäten und an deren sichtbares Umschlagen in materielle Folgen. Die ganze Weltgeschichte, soweit die Quellen reichlicher fließen, könnte eben dasselbe lehren, allein diese Zeit lehrt es am unmittelbarsten und deutlichsten. Es ist also ein Vorteil für die geschichtliche Betrachtung heutiger Zeit, daß der Pragmatismus viel höher und weiter gefaßt wird als früher. Die Geschichte in Auffassung und Darstellung ist unendlich interessanter geworden".1 Die Revolution also wesentlich als Gedanken- und Bewußtseinsexperiment, als spirituelle Umwälzung; vom Materialismus des 19. Jahrhunderts kann man hier schlecht reden, da Burckhardt bereit ist, die tatsächlichen Ereignisse nur als Folgen revolutionären Umdenkens zu interpretieren. Kein Zweifel, daß solche Überlegungen
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auch den Sinn der Geschichtsschreibung verändert haben; an die Stelle der alten Faktenhistorie tritt jetzt zunehmend stärker die Bewußtseinsgeschichte, denn sie wird als prägend erkannt, während die Tatsachenwelt nur eine Folge von Veränderungen in jenem anderen Bereich ist. Daß diese Veränderungen nicht ohne weiteres Veränderungen zum Besseren und unproblematisch Richtigeren sind, das allerdings macht Burckhardt in mehr als einem Kapitel seiner "Betrachtungen" deutlich. Wenn das 4. Kapitel über "Die geschichtlichen Krisen" handelt, so ist damit ein Bewußtseinszustand charakterisiert, der nicht nur den Historiker fortan bestimmen sollte. Was nicht weniger wichtig ist: Jacob Burckhardt weiß, daß es Revolutionszyklen gibt. Er nimmt das als gegeben hin, was 1789 noch völlig undenkbar war: daß Revolutionen sich wiederholen können, und Burckhardt sieht den Grund nicht etwa in wirtschaftlichen Mißverhältnissen, sondern weiß Revolutionäres gleichsam anthropologisch begründet. Er schreibt: "Am Ende liegt ein Drang zu periodischer großer Veränderung in dem Menschen, und welchen Grad von durchschnittlicher Glückseligkeit man ihm auch gäbe, er würde (ja gerade dann erst recht!) eines Tages mit Lamartine ausrufen: La France s'ennuye.1"2 Das nach 1789, oder besser: das im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts wachgewordene Bewußtsein, daß Revolutionen sich wiederholen können, hat zur Einsicht in die permanente Krisenhaftigkeit der Moderne geführt. Aber auch dieser Satz ist umkehrbar: Die Krise der Moderne führt dazu, daß Revolutionen immer wieder möglich werden. Mit der Stabilität der Verhältnisse des 18. Jahrhunderts ist es, das weiß das frühe 19. Jahrhundert sehr wohl, endgültig dahin; und die Vorstellung vom Rad der Geschichte, seit Herodot geläufig, gewinnt wieder außerordentlich an Aktualität. Daß auf jede Revolution gegenrevolutionäre Momente folgen, daß das Rad der Geschichte, das so rasch weitergedreht worden ist, plötzlich wieder stillhalten kann, das hat Jacob Burckhardt aus der historischen Distanz seiner "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" deutlich gesehen. Und er hat auch erkannt, was zum Innehalten der Revolutionen zu zwingen pflegt: die "Rückwirkung der neu entstandenen Güterverteilung", wie er das nennt, führt dazu, daß Revolutionen stocken, daß Dauer wieder an die Stelle des Wechsels treten soll.3 Und auch noch auf etwas anderes macht Burckhardt in seinen Betrachtungen aufmerksam: auf die exponierten Figuren der Geschichte, die jede Revolution mit sich zu bringen pflegt. Burckhardt bemerkt: "In den Krisen kulminiert in den großen Individuen zusammen das Bestehende und das Neue (die Revolution). Ihr Wesen bleibt ein wahres Mysterium der Weltgeschichte [...]. Zwar ist jederzeit am Anfang einer Krisis großer Überfluß an vermeintlich großen Männern, wofür man die zufälligen Anführer der Parteien, oft wirklich Leute von Talent und Frische, gütigst zu nehmen pflegt. Dabei besteht die naive
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Voraussetzung, daß eine Bewegung von Anfang an ihren Mann finden müsse, der sie bleibend und vollständig repräsentiere, während sie selber so bald in Wandlungen hineingerät, wovon sie anfangs keine Ahnung gehabt. - Diese Anfänger sind daher nie die Vollender, sondern werden verschlungen, weil sie die Bewegung auf deren anfänglichem Stadium darstellten und daher nicht mitkommen konnten, während das neue Stadium schon seine eigenen Leute bereit hält".4 Napoleon, Lafayette: Beispiele liegen sofort vor. Auch andere Namen können genannt werden: Danton, Robespierre. Burckhardt faßt schon in Gesetzmäßigkeiten, was für die Zeitgenossen der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts allenfalls neuer Erfahrungsstoff war. Eines aber ist beiden gemeinsam: das Bewußtsein von den universalen Ausmaßen der Revolution, vor allem das Wissen um ihre das Selbstverständnis und die geistige Existenz aller verändernde Macht. War die Französische Revolution anfangs vorwiegend als gedankliches Experimentierfeld betrachtet worden wie bei den Frühromantikern, als mäßig bedrohlicher Umsturz in einem anderen Land, als gescheiterter Versuch der Selbstbestimmung, so wurden ihre eigentlichen Dimensionen erst dort sichtbar, wo sie in den Horizont philosophischer Überlegungen geriet. Erste staatsrechtliche Überlegungen, wie Herder sie schon angestellt hatte, waren noch nicht dazu angetan gewesen, die alles beherrschende Wirkung der Revolution zureichend zu verdeutlichen. Da ging es um verfassungsrechtliche Fragen, also um staatsinstitutionelle Probleme, denn die waren durch den französischen Umsturz ja in erster Linie berührt worden; aber unmittelbare philosophische Reaktionen gab es in den 90er Jahren so gut wie nicht. Doch etwa seit 1805 beginnen die wahren Ausmaße der Französischen Revolution langsam sichtbar zu werden. Ihr wichtigster philosophischer Interpret wird Hegel; er hat sich in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie und über die Philosophie der Weltgeschichte deutlicher als andere über das eigentliche Wesen der Revolution ausgesprochen. Bei ihm ist auch zu beobachten, wie sich das Interesse an den französischen Vorgängen langsam zum universalhistorischen Interesse an der Revolution erweitert. Auf der einen Seite steht das vernichtende Urteil über die französischen Zustände in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie: "Man muß ein Bild von dem horriblen Zustand der Gesellschaft, dem Elend, der Niederträchtigkeit in Frankreich haben, um das Verdienst zu erkennen, das sie [die Franzosen] hatten. Jetzt kann die Heuchelei, die Frömmelei, die Tyrannei, die sich ihres Raubs beraubt sieht, der Schwachsinn können sagen, sie haben die Religion, Staat und Sitten angegriffen. Welche Religion! Nicht durch Luther gereinigt, - der schmählichste Aberglaube, Pfaffentum, Dummheit, Verworfenheit der Gesinnung, vornehmlich das Reichtum-Verprassen und Schwelgen in zeitlichen Gütern,
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beim öffentlichen Elend. Welcher Staat!"5 Auf der anderen Seite sieht Hegel, daß die Revolution ein primär philosophisches Problem ist: "Kantische, Fichtesche und Schellingsche Philosophie. In diesen Philosophien ist die Revolution als in der Form des Gedankens niedergelegt und ausgesprochen, zu welcher der Geist in der letzteren Zeit in Deutschland fortgeschritten ist; ihre Folge enthält den Gang, welchen das Denken genommen hat. [...] In Deutschland ist dies Prinzip als Gedanke, Geist, Begriff, in Frankreich in die Wirklichkeit hinausgestürmt".6 Die entscheidende Einsicht aber findet sich dort, wo Hegel davon spricht, daß die Revolution "dem Gehalte nach" nichts weniger als "welthistorisch" sei; und wenn er hinzusetzt: "Bis hierher ist das Bewußtsein gekommen [...]. Die Philosophie hat es nur mit dem Glänze der Idee zu tun, die sich in der Weltgeschichte spiegelt",7 dann hat Hegel das ganze Ausmaß der Revolution sichtbar gemacht. Sie ist in der Tat "als welthistorische zu betrachten".
Hegel hat die universalen Dimensionen der Revolution aus philosophischer Perspektive umrissen; man wird zunächst vielleicht zögern, Heinrich Heine als Schriftsteller eine ähnliche Dominanz und Bedeutung, was die zureichende Interpretation der Französischen Revolution betrifft, zuzumessen. Dennoch muß man Heine zugestehen, daß er literarisch am deutlichsten, am wirkungsvollsten und am überzeugendsten das Phänomen der Revolution beschrieben hat, und zwar durchaus im Sinne Hegels als welthistorisches Ereignis - wir wissen, daß Heine im Wintersemester 1822/23 in Berlin Vorlesungen Hegels über die "Philosophie der Weltgeschichte" hörte, und dort muß Heine vertraut gemacht worden sein mit Hegels Vorstellung, daß die Weltgeschichte "das wirkliche Werden des Geistes" sei, also nur aus sich heraus verständlich und begründet. Sicherlich steht Heine nicht ausschließlich im Strahlungsbereich der Hegeischen Ideen. Er hat Schriften Schellings gelesen und auch einige Vorlesungsstunden bei Schelling über das "System der Weltalter" 1828 gehört. Daß die Natur nicht bloß aus Stoff sei, das war, wie die Helgoland-Zyklen im "Buch der Lieder" zeigen, Heine eine schon von früh auf vertraute Vorstellung. Schelling dürfte sie nur noch vertieft haben. Der dialektische Bezug zwischen Seele und Körper, zwischen Geist und Tat, zwischen Weltgeschichte und Geistesgeschichte, zwischen der intelligiblen Welt und der Materie: diese Annahme gehört zu den Grundvoraussetzungen des Heineschen Denkens; sie ist, wie sich zeigen wird, auch für die Entwicklung seines Revolutionsbegriffes und seine Bewertung der Französischen Revolution wichtig. Allerdings darf man aus alledem nicht ableiten, daß Heine un-
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bedingt und uneingeschränkt an einer politischen Verwirklichung seiner Revolutionsideen gelegen gewesen sei. Die philosophisch-literarische Bewältigung des Phänomens "Revolution" hat Heine nicht zum Revolutionsagitator gemacht, und so sehr ihm um eine Ausbreitung der Revolutionsidee zu tun war, so wenig wollte er sich mit ihr auf die Straße begeben. Für Heine ist die Revolution immer auch und sogar wesentlich zunächst einmal eine intellektuelle Revolution. Das heißt: an der Revolution ist nicht der Aufstand und der Straßenkampf entscheidend, sondern die spirituelle Bereitschaft zum Umdenken. Sie betrifft die politische Geschichte ebenso wie die Geistesgeschichte, und ein erster Zug der universalistischen Betrachtung der Revolution wird bei Heine dort deutlich, wo er politische Geschichte und Geistesgeschichte nicht als unabhängige Phänomene betrachtet, sondern unter dem Einfluß Hegels und Schellings als aufeinander bezogene, voneinander abhängige Erscheinungen. Es ist die Vorstellung, daß die französische Geschichte ihr Pendant auch in der deutschen Geschichte gehabt habe, freilich nicht im politischen, sondern im philosophischen Bereich; und wenn die Idee einer Parallelisierung der französischen Politik und der deutschen Geistesgeschichte sich auch schon bei Hegel findet, so ist Heine doch derjenige, der, scheinbar nur einem geistvollen Einfall folgend, die Beziehungen bis in Einzelphasen hinein verdeutlicht und auf ihre wesentlichen Gemeinsamkeiten hin auslotet. Die Neigung, etwas größere Geschichtslinien auszuziehen, lag freilich in gewissem Sinne in der Luft - nach der Julirevolution alles andere als verwunderlich, erschien diese doch vielen entweder als Wiederholung oder als Fortsetzung der Französischen Revolution von 1789. Und wenn Hegel auf Entsprechungen zwischen französischer politischer Geschichte und deutscher Geistesgeschichte hingewiesen hatte, so war eine andere wichtige Idee auch schon vorher und nicht erst von Heine gedacht worden: daß es Beziehungen gebe zwischen der Französischen Revolution und der deutschen Reformation. In einer Streitschrift des Publizisten Robert Wesselhöft, die sich in die Auseinandersetzung um die Rolle des Adels einfügte und die Heine zu seiner Einleitung zu der Schrift "Kahldorf über den Adel" veranlaßte, findet sich schon der Gedanke, daß die Revolution, als Phänomen an sich betrachtet, in Deutschland lange Wurzeln habe und bis in die Reformation Luthers zurückreiche. Die Auseinandersetzung mit dem Grafen Moltke ist im Grunde genommen nebensächlich, eigentlich nur ein Anlaß, den Heine nutzt, um etwas über die Revolution zu sagen, und schon hier wird deutlich, daß die Revolution für ihn eben jenes weltgeschichtliche Ereignis ist, das weder auf Deutschland und Frankreich noch auf die Jahre um 1789 beschränkt ist. Hier findet sich zum erstenmal ausführlicher und genauer die Vorstellung, die
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Heine dann noch später verfolgt hat: daß sich nämlich die Geschichte der Französischen Revolution mit der Geschichte der deutschen Philosophie vergleichen lasse. Heine spricht von einer eigenen Wahlverwandtschaft und kommt zu dem Schluß: "unsre deutsche Philosophie sey nichts anders als der Traum der französischen Revoluzion". 8 Heine hat diese Überlegung noch spezifiziert: "So hatten wir den Bruch mit dem Bestehenden und der Ueberlieferung im Reiche des Gedankens, eben so wie die Franzosen im Gebiete der Gesellschaft, um die Critik der reinen Vernunft sammelten sich unsere philosophischen Jakobiner, die nichts gelten ließen als was jener Critik Stand hielt, Kant war unser Robespierre - Nachher kam Fichte mit seinem Ich, der Napoleon der Philosophie, die höchste Liebe und der höchste Egoismus, die Alleinherrschaft des Gedankens, der souveraine Wille der ein schnelles Universalreich improvisirte, das eben so schnell wieder verschwand, der despotische, schauerlich einsame Idealismus - [...] unter Schelling erhielt die Vergangenheit mit ihren tradizionellen Interessen wieder Anerkenntniß, sogar Entschädigung, und in der neuen Restaurazion, in der Naturphilosophie, wirthschafteten wieder die grauen Emigranten, die gegen die Herrschaft der Vernunft und der Idee beständig intriguirt, der Mystizismus, der Pietismus, der Jesuitismus, die Legitimität, die Romantik, die Deutschthümeley, die Gemiithlichkeit - Bis Hegel, der Orleans der Philosophie, ein neues Regiment begründete, oder vielmehr ordnete, ein eklektisches Regiment, worin er freylich selber wenig bedeutet, dem er aber an die Spitze gestellt ist, und worinn er den alten kantischen Jakobinern, den fichtischen Bonapartisten, den Schellingschen Pairs und seinen eignen Creaturen eine feste, verfassungsmäßige Stellung anweist". 9 Textstellen wie diese zeigen eindeutig, daß es sich hier um eine Revolutionsschrift handelt, nicht um eine Auseinandersetzung mit den Vorrechten oder Nachteilen des Adels. Die Bemerkungen zur Phasengleichheit zwischen politischer Revolution in Frankreich und deutscher Revolution in der Philosophie sind ein erster Versuch, die eigentlichen Dimensionen der Revolution auszuloten. Sie wollen vor allem darauf aufmerksam machen, daß das französische Ereignis alles andere als bloß auf Frankreich beschränkt war, und damit geht Heine gegen jene Vorstellungen an, die die Revolution von 1789 als Nationalereignis der Franzosen betrachtet wissen wollten, auch gegen die Zeitgenossen, die zwar neugierig, aber dennoch innerlich unberührt auf die Ereignisse in Frankreich blickten, so, als ginge sie das alles nichts an. Eben das, so Heine, läuft auf ein arges Verkennen hinaus; die Revolution ist eine Universalrevolution schon dadurch, daß sie nicht auf ein Land beschränkt ist, und nicht weniger dadurch, daß sie nicht auf das ausgehende 18. Jahrhundert allein zu beziehen ist. Revolution, so will Heine sagen, ist geistiger Aufstand,
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und deswegen gehört die Reformation in die Reihe der großen abendländischen Revolutionen mit hinein; bereitete sie doch den Weg für jene deutsche philosophische Revolution, die Heine dann zwischen Kant und Fichte, Hegel und Schelling stattfinden sah. Mit alledem ist freilich noch nicht sehr viel über das Wesen der Revolution ausgesagt, sondern nur über ihre geschichtlichen Phasen. Aber Heine kommt in dieser Schrift, die im Grunde genommen zugleich eine erste unmittelbare Reaktion auf die Ereignisse der Julirevolution von 1830 ist, auch auf das Genotypische der Revolution zu sprechen. Sie war, aus der Sicht Heines, nicht etwa notwendig, weil drückende soziale Verhältnisse herrschten. Heine betont eine ganz andere Notwendigkeit, wenn er schreibt: "Der Charakter der französischen Revoluzion war aber zu jeder Zeit bedingt von dem moralischen Zustande des Volks und besonders von seiner politischen Bildung. Vor dem ersten Ausbruch der Revoluzion in Frankreich gab es dort zwar eine schon fertige Civilisazion, aber doch nur in den höheren Ständen und hie und da im Mittelstand; die unteren Classen waren geistig verwahrlost, und durch den engherzigsten Despotismus von jedem edlen Emporstreben abgehalten. Was aber gar politische Bildung betrifft, so fehlte sie nicht nur jenen unteren, sondern auch den oberen Classen".10 Das klingt fast so, als spräche hier ein Verwandter Schillers, dem ebenfalls an Bildung, ästhetischer Erziehung, Zivilisation gelegen war, nicht an den wirtschaftlichen Ursachen, die wesentlich die Revolution in Frankreich ausgelöst hatten. Auch Heine interessiert sich dafür nicht sonderlich, und wenn die Französische Revolution zwar als politisches Ereignis nicht geleugnet wird, so definiert Heine die Politik doch als "die große Wissenschaft der Freyheit", mit anderen Worten: als Kunst der Selbstbestimmung, der inneren Unabhängigkeit. Wenn die Revolution auf historischen Bedingungen und Notwendigkeiten beruhte, dann auf solchen geistiger Natur; die Revolution ist ein Ausbruchsversuch aus Unselbständigkeit, geistiger Unterdrückung und Aberglauben. Heine hat daran nicht den geringsten Zweifel gelassen, als er feststellte: "Daß aber die Franzosen so theures Schulgeld bezahlen mußten, das war die Schuld jener blödsinnig lichtscheuen Despotie, die, wie gesagt, das Volk in geistiger Unmündigkeit zu erhalten gesucht, alle staatswissenschaftliche Belehrung hintertrieben, den Jesuiten und Obscuranten der Sorbonne die Bücher-Censur übertragen, und gar die periodische Presse, das mächtige Beförderungsmittel der Volksintelligenz, aufs lächerlichste unterdrückt hatte". Also Befreiung aus geistiger Unmündigkeit - und eben das macht verständlich, warum Heine die Phasen der deutschen idealistischen Philosophie als das unmittelbare, zeit-, phasen- und seitengleiche Gegenstück zur Französischen Revolution interpretieren konnte. Eine solche Definition der
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Revolution macht auch begreiflich, warum die Reformation in ihrem Vorfeld auftaucht, war sie doch ebenso ein Versuch, sich aus geistiger Unmündigkeit zu befreien, wie dann, in freilich ganz anderen Ausmaßen, die Revolution von 1789. Wenn Heine im folgenden von Ideenguillotine und von Geisteshenkern spricht, von Geistermordgesetz und dem Richtwert des Zensors, dann bestärkt das nur, daß die Revolution wesentlich geistiger Natur ist, daß sie mit Gedanken- und Pressefreiheit zu tun hat; und wenn vom Gedankenkindermord die Rede ist, vom Sklaven, "der die Gedanken hinrichtet", vom hellen Sonnenlicht der Pressefreiheit und von den Giftpflanzen, "die nur in dunklen Waldsümpfen und im Schatten alter Burg- und Kirchentrümmer gedeihen", dann bildet sich ein Metaphernfeld heraus, dessen Bildlichkeit erneut die Revolution als geistige Rebellion definiert. Daß es sich hier nicht um poetische Dekoration handelt, auch nicht um die Verbalisierung eines unmitttelbaren eigenen Protestes, zeigen die vorerst abschließenden Sätze Heines: "Ich glaube mit diesen flüchtigen Bemerkungen genugsam angedeutet zu haben, wie jede Frage über den Charakter den die Revoluzion in Deutschland annehmen möchte, sich in eine Frage über den Zustand der Civilisazion und der politischen Bildung des deutschen Volks verwandeln muß, wie diese Bildung ganz abhängig ist von der Preßfreyheit, und wie es unser ängstlichster Wunsch seyn muß, daß durch letztere bald recht viel Licht verbreitet werde". Aus der Gedankenfreiheit und der Selbstbestimmung folgert für Heine eigentlich erst "die bürgerliche Gleichheit". Auf keinen Fall steht sie an erster Stelle. Wenn Heine gegen den Adel angeht, dann nur, weil der sich "auf Kriegsfuß gegen die Völker" befindet und "öffentlich oder geheim gegen das Prinzip der Freyheit und Gleichheit und dessen Vertreter, die Franzosen", ankämpft. 11 Heine spricht vom "Geist der Revoluzion", der unsterblich sei: verständlicherweise, wenn man bedenkt, daß es sich um einen geistigen Begriff der Revolution handelt und daß Heine sich längst von dem historischen Geschehen von 1789 gelöst hat. Revolution ist Befreiung, und Heine greift noch einmal zur Metaphorik der politischen Rede, wenn er sagt: "Aber in Frankreich flammt immer mächtiger die Sonne der Freyheit und überleuchtet die ganze Welt mit ihren Stralen". Eine eigentliche Revolutionsphilosophie wird man Heines Einleitung in "Kahldorf über den Adel" gewiß nicht nennen können. Dazu sind seine Beobachtungen zu eklektisch, seine Feststellungen zu aphoristisch. Aber das Phänomen der Revolution würde sich einer systematischen Analyse ohnehin entziehen, zumal die Revolution für Heine auf die Forderung nach Freiheit zusammenschrumpft: und das ist geistige Freiheit, wie aus dieser Schrift Seite für Seite hervorgeht. Auch wenn Heine von der Konstitution spricht, zielt er letztlich auf das Ende der Zensur und der Pressegesetze ab, also wiederum
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auf Freiheit des Denkens und Redens, um eben das zu verwirklichen, was in Frankreich noch nicht verwirklicht worden ist: geistige Mündigkeit, Zivilisation, politische Bildung. Die Revolution ist ein Kulturphänomen, und es geht Heine darum, hier den menschheitsgeschichtlichen Spielraum des Revolutionsbegriffes zu umreißen. Die Revolution erscheint als Fortsetzung einer Aufklärung, die längst vor dem eigentlichen Zeitalter der Aufklärung begonnen hatte, und so ist sie denn auch dort, wo sie politisch motiviert war, letztlich eine wahrhaft philosophische Tat, die freilich da, wo sie nicht politisch umgesetzt wurde, viel rigoroser war: eben in der deutschen Philosophie. Und an ihr ist Heine mehr noch als an den Einzelheiten der Vorgänge in Frankreich interessiert. In Deutschland hat die Revolution in den Köpfen stattgefunden, und das war mehr, als in Frankreich auf der Straße geschah. Die Heine-Forschung hat zwar darauf hingewiesen, daß Heine auch die politische Revolution in Deutschland gefordert habe. 12 Tatsächlich findet sich auf den ersten Seiten der Einleitung zu "Kahldorf über den Adel" eine Bemerkung, die darauf hindeuten könnte, daß Heine von der philosophischen Revolution zur wirklichen Revolution, zur politischen Rebellion aufrufe. Die Stelle lautet: "In der Philosophie hätten wir also den großen Kreislauf glücklich beschlossen, und es ist natürlich, daß wir jetzt zur Politik übergehen. Werden wir hier dieselbe Methode beobachten? Werden wir mit dem System des Comité de salut public, oder mit dem System des Ordre légal den Cursus eröffnen: Diese Fragen durchzittern alle Herzen, und wer etwas Liebes zu verlieren hat, und sey es auch nur den eignen Kopf, flüstert bedenklich: wird die deutsche Revoluzion eine trockne seyn oder eine naßrothe - - ?" 13 Das liest sich in der Tat so, als habe Heine hier einen Aufruf zur politischen Tat ausgesprochen. Aber der Kontext zeigt deutlich genug, daß Heine auf der geistigen Revolution, also der Selbstbestimmung besteht, und wenn hier vom Übergang zur Politik die Rede ist, dann deswegen, weil sich mit
der
Forderung nach Freiheit
und
Selbstbestimmung jene
nach
"Preßfreyheit" und Aufhebung der Zensur, nach Freiheit des Schreibens verbindet. Heine will weder die Französische Revolution von 1789 noch die von 1830 in Deutschland übernommen wissen, nicht nur, weil er die nationalen Unterschiede sieht, sondern auch, weil er vor allem gegen die "Geisteshenker" angehen will, so wie Voltaire "den römischen Priestertrug und das darauf gebaute göttliche Recht des Despotismus zu Grunde lächelte".14 Heine bleibt bei der Definition der Politik als Umsetzung der Freiheitsvorstellungen, und wie sehr die Geistesrevolution gemeint ist, zeigt schon der Eingang der Heineschen Schrift: "Der gallische Hahn hat jetzt zum zweitenmale gekräht, und auch in Deutschland wird es Tag. In entlegene Klöster, Schlösser, Hansestädte und dergleichen letzte Schlupfwinkel des Mittelalters flüchten
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sich die unheimlichen Schatten und Gespenster, die Sonnenstralen blitzen, wir reiben uns die Augen, das holde Licht dringt uns ins Herz, das wache Leben umrauscht uns, wir sind erstaunt, wir befragen einander: - was thaten wir in der vergangenen Nacht?" 15 Das ist ein unverhülltes Bekenntnis zur Aufklärung, in jene metaphorische Darstellung gekleidet, die längst schon dafür charakteristisch ist. Revolution heißt: Befreiung vom Mittelalter mit allen seinen Dunkelheiten, das Ende des Aberglaubens, geistiger und geistlicher Fremdherrschaft, die Abkehr von Betrug und Vorurteilen. Wenn Heine die Frage der Revolution zur Frage "der politischen Bildung des deutschen Volks" macht, wenn er davon spricht, daß durch diese Bildung "bald recht viel Licht verbreitet werde", dann zeigt auch das, wie der Begriff des Politischen und der politischen Revolution hier zu verstehen ist: sehr viel weiter jedenfalls, als es das Wort heute nahelegt. Wenn vom Übergang zur Politik die Rede ist, so bedeutet das nichts anderes als: Umsetzung der Freiheitsideen in die Tat, in die geistige Tat, also Bewußtseinsveränderung und Aufklärung als entscheidender Teil der Revolution. Natürlich fordert Heine auch "bürgerliche Gleichheit", aber doch sehr indirekt: das könne, so meint er, "das erste Losungswort der Revoluzion" werden, aber Heine ist alles andere als ein militanter Revolutionär, rühmt er doch an Kahldorfs Schrift den 'Ton der Mäßigung, der darin herrscht", da er "dem angedeuteten Zweck" entspreche. So spricht Heine hier als ebenso überzeugter wie unnachgiebiger Aufklärer, der genau weiß, daß wahre Revolutionen in den Köpfen beginnen, nicht mit dem blindwütigen Aufstand der Menge, und weil er nicht weniger sicher weiß, daß die geistige Revolution die langzeitigere ist, die grundsätzlichere, die notwendigere, daß eine Veränderung der Dinge auf eine Veränderung des Denkens zurückgehen muß. So modellieren sich hier schon deutlich die Konturen einer intellektuellen Revolution heraus, die in der Deszendenz der Überlegungen Hegels und Schellings steht. Und die folgenden Schriften formulieren diesen Revolutionsbegriff weiter aus: einschließlich der praktischen Folgerungen, die, so meint Heine, daraus zu ziehen sind. Heine hat in seiner Schrift "Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland" von 1834 den entscheidenden Gedanken eigentlich nur wiederholt: daß der "materiellen Revoluzion in Frankreich" in sonderbarer Analogie "eine geistige Revoluzion in Deutschland" gegenüberstehe. 16 Er hat damals hinzugesetzt: "Sie entwickelt sich mit denselben Phasen, und zwischen beiden herrscht der merkwürdigste Parallelismus. Auf beiden Seiten des Rheines sehen wir denselben Bruch mit der Vergangenheit, der Tradizion wird alle Ehrfurcht aufgekündigt, wie hier in Frankreich jedes Recht, so muß dort in Deutschland jeder Gedanke sich justifiziren, und wie hier das Kö-
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nigthum, der Schlußstein der alten socialen Ordnung, so stürzt dort der Deismus, der Schlußstein des geistigen alten Regimes". Auch hier wird deutlich, wie sehr Heine den Revolutionsbegriff spiritualisiert hat. Die Revolution ist geistiger Natur, das heißt: sie erscheint als Tat der Aufklärung, als innere Befreiung. Nicht zufällig wird Lessing als Fortsetzer Luthers gerühmt; eine Theologie der Befreiung haben, so Heine, beide verkündet. Kant wiederum - "dieser große Zerstörer im Reiche der Gedanken" 17 - führt Lessing fort. Kants "Kritik der reinen Vernunft" war für Heine der Höhepunkt der geistigen Revolution, die er mit Hegel schließlich als beendet ansah. So weit also setzt die Schrift "Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland" jene früheren Gedanken Heines nur fort. Dennoch bringt sie eine wichtige Erweiterung. Denn Heine begnügt sich nicht mit der Parallelisierung zwischen französischer politischer und philosophisch-geistiger deutscher Revolution, sondern versucht das Wesen dieser deutschen Revolution in seinen eigentlichen Ausmaßen zu bestimmen. Indem Heine noch eimal die Linie von Luther über Lessing bis zur gegenwärtigen Philosophie nachzieht, erschließt sich ihm die Besonderheit der deutschen Revolutionen in ihrer Opposition gegen eine jeweils verkrustete, lebensfeindlich gewordene, rechthaberische Interpretation des Christentums. Luther erscheint als derjenige, der von einer falschen Tradition befreit hat, und ein Befreier war auch Lessing, weil er "die Bibel zur alleinigen Quelle des Christenthums erhoben hatte". Heine will von einer bloß innerkirchlich verstandenen Reformation nichts wissen, er billigt beiden den Rang von Revolutionären zu, die die geistige Befreiung für den Bereich leisteten, wo die Fremdherrschaft am drückendsten, am wenigsten einsichtig, am meisten bedrohlich war: den der Deutung der Welt unter falschen religiösen Vorzeichen. Mit anderen Worten: es ging Heine nicht darum, die geistige Revolution bloß als religiöses Gedankenexperiment zu sehen, sondern als im eigentlichen Sinne existentielles Phänomen. Der Kern der Heineschen Revolutionsideen ist der Aufstand gegen das Christentum und seine Lehren, wie er sie kennengelernt hatte. Man mag darin einen gewissen Widerruf seiner Taufe sehen, deren Bedeutung für Heine freilich ohnehin nicht allzuhoch einzuschätzen ist; wichtiger ist der religionskritische Aspekt insofern, als er hier, im Bereich einer religiös-fundamentalen Weltdeutung, zu seinem eigentlichen Umsturz aufrief: der Korrektur des Spiritualismus durch ein Gewährenlassen des Diesseitigen, des von der Kirche Verdammten, also des Sensualismus. Es handelt sich um ein zentrales Thema in Heines Denken über Jahrzehnte hinweg, und ohne dieses ist sein Revolutionsbegriff nicht verständlich. Revolution heißt für ihn Befreiung vom Nazarenertum; es heißt zugleich Umkehr jenes Sieges, den das Christentum einst über das Heiden-
217 tum und die griechisch-römischen Gottheiten gewonnen hatte. Heine hat gelegentlich ebenfalls von der platonischen und der aristotelischen Partei gesprochen, von Materialismus und Idealismus, von Geist und Materie, und wenn es auch so aussieht, als seien hier andere Grundgegensätze benannt, unhistorische Dualismen, typologische Kategorien, so hat Heine in seiner Arbeit über die Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland doch zugleich die Geschichte dieser Dualismen geschrieben, die nur Variationen der Antinomie von Heidentum und Christentum sind. Die Französische Revolution ist für ihn gegen ein falsches Urteil über das Diesseits gerichtet, und sie ist deswegen die direkte Fortsetzung der Reformation, weil auch Luther gegen einen falschen Katholizismus angegangen war. Das zeigt die universalhistorischen Aspekte, unter denen Heine die Französische R e volution gesehen hat. Er hat sie auch einmal als "Spezialrevoluzion" einer sehr viel größeren "Universalrevoluzion" bezeichnet. 1 8 Und von daher gesehen bekommt die Revolution ihren eigentlichen Sinn. Heine stellt fest: "Der nächste Zweck aller unseren neuen Instituzionen ist solchermaßen die Rehabilitazion der Materie, die Wiedereinsetzung derselben in ihre Würde, ihre moralische Anerkennung, ihre religiöse Heiligung, ihre Versöhnung mit dem Geiste. Purusa wird wieder vermählt mit Prakriti. Durch ihre gewaltsame Trennung, wie in der indischen Mythe so sinnreich dargestellt wird, entstand die große Weltzerrissenheit, das Uebel". 1 9 Eben hier ist die wahre Aufgabe der Revolution beschrieben, und hieraus geht auch unmißverständlich hervor, daß die theologischen Aspekte der Revolution geblieben sind, seit Luther und Lessing. Auch von hierher erscheint die Revolution als fortgesetzte, radikalisierte, zum Ziel gekommene Aufklärung. Es ist bemerkenswert, in welchem Ausmaß theologische Aspekte die Diskussion um das Wesen der Revolution in Deutschland mitbestimmt haben - sie finden sich bei Schiller ebenso wie bei Kleist, bei Eichendorff wie auch in der letzten Fassung des Feuerreiter-Gedichtes bei Mörike, und nur beim jungen Friedrich Schlegel scheinen sie weitgehend ausgeklammert zu sein, ausgeklammert auch bei Tieck. Aber Heine führt die Auseinandersetzung mit der Theologie in seinen Arbeiten der 30er Jahre auf ihren eigentlichen Höhepunkt. Geistesfreiheit heißt hier nicht nur Freiheit von religiöser Fremdbestimmung, sondern Autonomie des Lebens, Befreiung von einer daseinsfernen Religion überhaupt. Anders gesagt: Heine verfolgt in Anlehnung an Schellings Philosophie Ideen, die darauf hinauslaufen, daß auch die Wirklichkeit oder vielmehr: nur die Wirklichkeit, das Leben, das Dasein Göttliches enthalte, und so formuliert Heine: "Gott ist identisch mit der Welt". 2 0 Es wäre einseitig, wollte man den Revolutionsbegriff Heines allein auf seine theologischen Komponenten hin definieren. Heine hat auch in der
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Zeit, als er "Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland" schrieb, über die Möglichkeit einer deutschen Revolution nachgedacht. War diese in "Kahldorf über den Adel" noch als Aufstand gegen die Pressegesetze geplant, so scheint Heine hier tatsächlich eine politische Rebellion im Sinn gehabt zu haben. Nach der Vollendung der philosophischen Revolution sei diese zwangsläufig, so lauten seine Überlegungen gegen Ende des Dritten Buches, und Heine macht geradezu die philosophische Revolution zum Ausgangspunkt für "revoluzionäre Kräfte [...], die nur des Tages harren, wo sie hervorbrechen und die Welt mit Entsetzen und Bewundrung erfüllen können. Es werden Kantianer zum Vorschein kommen, die auch in der Erscheinungswelt von keiner Pietät etwas wissen wollen, und erbarmungslos, mit Schwert und Beil, den Boden unseres europäischen Lebens durchwühlen, um auch die letzten Wurzeln der Vergangenheit auszurotten". 21 Sonderlich konkret sind diese Hinweise auch hier nicht, und über die vage Andeutung der Möglichkeit, daß die Revolution ebenfalls politischer Natur sein werde, ist Heine im Grunde genommen nicht hinausgekommen. Vielmehr gehen die politischen Überlegungen wieder über in religiöse Vorstellungen, die Idee vom Aufstand der alten Götter dominiert, von der Heine sich freilich auch "im Reiche der Erscheinungen dieselbe Revoluzion erwartet, die im Gebiete des Geistes statt gefunden". Doch wenn er auch an eine politische Revolution gedacht haben mochte: sie war in keinem Fall eine bloß soziale Revolution, sondern der Umschlag einer radikalen Aufklärung in die politische Tat. Eine solche Revolution, so Heine, werde die Französische Revolution von 1789 freilich noch weit in den Schatten stellen; Heine wagt tatsächlich den Satz: "Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die französische Revoluzion nur wie eine harmlose Idylle erscheinen möchte". 2 2 Mitten im Restaurationszeitalter ein kühner Blick in eine unruhige, revolutionäre Zukunft. Hat Heine hier etwas geahnt von der zyklischen Wiederkehr der Revolution, nachdem sie einmal stattgefunden hat? Der Weg der Revolutionen scheint von der geistlichen Rebellion über die philosophische Revolution zur politischen Revolution zu führen, und damit scheint sich in der Weltgeschichte etwas zu radikalisieren, was ursprünglich nur als Gedanke vorhanden war. Heine gehört zu den ersten Schriftstellern des 19. Jahrhunderts, die erkannt haben, daß die Moderne in einer Perpetuierung der Revolution besteht. Dabei hat Heine die Geschichte dieser modernen Revolutionen als quasi diachronischen Prozeß beschrieben und das Wesen der modernen Geschichte selbst für das Aufkommen von Revolutionen verantwortlich gemacht. Die Voraussage, daß die Revolution ihren Siegeszug um die Welt antreten werde, ist gekoppelt an die Erkenntnis, daß die Revolution seit Jahrhunderten schon sich ankündigte. Ebenso bedeutsam ist die
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Einsicht, daß die Revolution in jedem Lande ein verschiedenes Aussehen haben kann. Die Hinweise auf die Phasengleichheit der französischen politischen und der philosophischen deutschen Revolution bezeugen das hinreichend. Heine hat sehr deutlich vermieden, im einen den Vorläufer des anderen zu erkennen, so wie er andererseits bemüht war, das eine nicht als Surrogat des anderen zu bestimmen. Solche Überlegungen würden am Wesen der Revolution vorbeigehen. Für die Revolution ist nicht entscheidend, daß sie in allen ihren Möglichkeiten in einem einzigen Lande zu einem einzigen Zeitpunkt verwirklicht werde - die Erfahrungen seiner eigenen Gegenwart ließen Heine so etwas ohnehin nicht wünschen. Das Wesen der Revolution ist ihre Vielgestaltigkeit; ihre ständige gedankliche Präsenz. Sie tritt überall dort auf, wo Verhärtungen eingetreten sind, mit anderen Worten: wo das Leben unwahr und unwirklich zu werden beginnt. Es wäre unsinnig, in der Revolution bloß einen Veränderungswillen erkennen zu wollen; er ist zweifellos vorhanden, aber er steuert sich immer vom Bedürfnis des Lebens her, und diesem Leben zum Recht zu verhelfen, sei es in Form der politischen Veränderung, sei es in Form der geistigen Rebellion, ist das eigentliche Ziel der Revolution. Revolution ist Korrektur einer unwahr gewordenen Wirklichkeit durch den Geist, der, als freiheitliches Vermögen des Menschen, sich nicht mit dieser Unwirklichkeit der Verhältnisse und des Denkens abzufinden gewillt ist, sondern der zur Veränderung der Verhältnisse auffordert, wenn die Diskrepanz zwischen Denken und Sein zu groß geworden ist, und angesichts der zunehmenden Fremdbestimmungen in der Moderne, seien es solche von kirchlicher Seite aus, seien es solche von Staats wegen, ruft Heine die Revolution als eine jederzeit mögliche aus. Wenn er auch nicht den Begriff der Selbstbestimmung, wie Schiller das getan hat, ausdrücklich als Revolutionsziel nennt, so ist doch sein Versuch, Widersprüchlichkeiten zwischen Leben und Geist derart aufzulösen, daß wieder eine Harmonie zwischen Wirklichkeit und Bewußtsein hergestellt wird, der Schillerschen Zielsetzung außerordentlich nahe verwandt. Unter diesem Aspekt aber sind die Revolutionen zu verstehen: die geistliche Revolution Luthers, die philosophische Kants, die politische Revolution von 1789. Alle waren nur Teilveränderungen, aber nicht Ausdruck einer unstillbaren Revolutionslust der Menschen, sondern im Sinne einer jeweils erforderlichen Korrektur bestimmter Verhältnisse um des Lebens willen, die immer dann notwendig wurde, wenn das Leben unaufrichtig, eingezwängt in überholte Normen, widerspruchsvoll geworden war. Nun ist Heine nicht von ungefähr in den frühen dreißiger Jahren auf derartige Überlegungen verfallen. Auslösungsmoment war nicht nur die Französische Revolution von 1789, sondern auch ihre Fortsetzung, die Julirevolution von 1830. Erst die Iteration des Revolutionsgeschehens hat in
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ihm offenbar Überlegungen wie die heraufgerufen, die er in der Einleitung zu "Kahldorf über den Adel" und in "Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland" geäußert hat. Er hat, wie so viele seiner Zeitgenossen, die Julirevolution als direkte Fortsetzung der Revolution von 1789 verstanden, und er hat daraus gefolgert, daß Revolutionen sich wiederholen, sind sie einmal in Erscheinung getreten. Möglicherweise hat ihm die Julirevolution zu erkennen gegeben, daß es auch in Deutschland zu einer politischen Revolution kommen könne; der Schluß von "Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland" ist offenbar unter ihrem unmittelbaren Eindruck und der dadurch möglich, ja sogar wahrscheinlich gewordenen Revolution in Deutschland geschrieben. Er war offenbar auch der Meinung, daß sich die Durchschlagskraft der Revolutionen verstärken werde, daß also aus den Anfängen einer ideellen Revolution eine immer mächtigere tatsächliche Revolution hervorgehen werde. Hinter alledem steht die Vorstellung, daß die Revolution 1789 noch nicht beendet sei, sondern daß sie sich fortsetzen müsse, und er hat angenommen, daß eine hinausgeschobene Revolution, die jedoch gedanklich lange vorbereitet gewesen sei, eine desto fürchterlichere Revolution sein werde. Hat Heine das geschrieben unter dem Druck der Verhältnisse, den er als übergroß empfand, oder zeichnen sich hier die Konturen einer Revolutionsphilosophie ab, die dahin geht, daß das partielle Mißlingen einer früheren Revolution die revolutionären Kräfte nicht befriedigt oder unterdrückt, sondern daß diese sich in der jeweils folgenden Revolution addieren? Oder handelt es sich hier um den Versuch, die Julirevolution, die in Deutschland von einigen lokalen Unruhen abgesehen keine Folgen hatte, dennoch als Revolution zu retten, ihre nationale relative Harmlosigkeit durch Hinweise auf das, was noch kommen werde, zu widerlegen? Wollte Heine gar ein Revolutionsbewußtsein wachhalten, wenn auch nur durch den Hinweis auf die kommenden Revolutionen, und das Revolutionsverständnis dadurch schärfen, daß er auf die ungeheure ebenso zerstörerische wie befreiende Kraft hinwies, die mit einer künftigen Revolution verbunden sein werde? Daß die Julirevolution als Fortsetzung der Revolution von 1789 Heines Revolutionsbewußtsein geschärft hat, steht außer Frage. Sie hat ihn gleichzeitig befähigt, das Phänomen der Revolution neu zu durchdenken, und Zeugnis davon gibt die Denkschrift über Ludwig Börne, die 1840 erschien, aber bekanntlich im Zweiten Buch Aufzeichnungen unmittelbar aus der Zeit der Julirevolution mitverwendet hat. Die Schrift über Ludwig Börne ist Heines eigentliche Revolutionsschrift, in der die Überlegungen aus der Einleitung zu "Kahldorf über den Adel" und aus "Zur Geschichte der Religion und
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Philosophie in Deutschland" weitergeführt und zum vorläufigen Ende gebracht werden.
Heines Denkschrift über Ludwig Börne ist als solche erst nach Börnes Tod 1837 konzipiert worden, wohl nicht zuletzt aus persönlichen Gründen: Heine wollte auf Börnes Anfeindungen antworten und zugleich der Kanonisierung Börnes in Deutschland entgegenwirken. Er wollte aber von vornherein keine Biographie schreiben, sondern "eigentlich ein Bild dieser Sturmund Nothzeit" geben. 2 3 Heines Börne-Buch ist außerdem auf vielfältige Weise mit seinem Memoirenplan verbunden, von dem Ende der dreißiger Jahre häufig die Rede ist. Ein drittes Projekt fällt ebenfalls in die Zeit der Entstehung des Börne-Buches: ein Buch über die "Juliusrevoluzion", das am 30. September 1839 erwähnt wird. 24 Heine hat ein solches Buch über die "Juliusrevoluzion" nie geschrieben, aber er hat 1840, also kurz vor der Fertigstellung des Börne-Buches, aus seinen Tagebüchern, die eigentlich Teil seiner Memoiren sein sollten, "eine schöne Partie, welche die Enthusiasmusperiode von 1830 schildert", in das Börne-Buch integriert. 25 Es handelt sich um das Zweite Buch, die Helgoländer Briefe, die Heine vermutlich schon im Herbst 1830 geschrieben hatte, zumal er damals berichtete, daß er "ein politisch Büchlein vom Stapel laufen" lassen werde, mit dem nur die Helgoländer Briefe gemeint gewesen sein können. 2 6 Die Helgoländer Briefe blieben aber dann liegen, weil sie besser in den Memoirenplan zu passen schienen, vielleicht aber auch in das Buch über die "Juliusrevoluzion" eingehen sollten. Wie dem auch sei: Heine hat am Ende die Helgoländer Briefe in das BörneBuch eingebracht und damit einen unmittelbaren Erfahrungsbericht aus der Zeit der Julirevolution, da das Börne-Buch hier tatsächlich ein "Bild dieser Sturm- und Nothzeit seyn" konnte, das Heine an Stelle einer traditionellen Biographie verfassen wollte. Die Helgoländer Briefe ließen sich aber auch deswegen in das Börne-Buch integrieren, weil dieses ohnehin Börne im Grunde genommen nur zum Anlaß nahm, um über die Zeit zu schreiben und damit auch über die Revolution. Heines Börne-Buch enthält eine erneute Stellungnahme Heines zur Revolution, und in gewissem Sinne ist dieses Buch sogar eine notwendige Ergänzung jener Vorstellungen, die sich bei Heine in den frühen dreißiger Jahren fanden und die er in die Einleitung zu "Kahldorf über den Adel" und in die Schrift "Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland" eingebracht hatte. Heine selbst hat in seinen Kommentaren und brieflichen Äußerungen auf zweierlei hingewiesen: einmal darauf, daß sich das Buch aller aufrühren-
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sehen Reden enthalten habe, so daß eher die Revolutionäre als die Regierungen mit ihm ungehalten sein würden, 27 zum anderen, daß dieses Buch zugleich dennoch ein Revolutionsbuch sei. Das zeigt, wie sehr das BörneBuch eine Fortsetzung der Schrift zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland ist. Auch Heines "Romantische Schule" gehört im Grunde genommen in diesen Zusammenhang: hat er doch betont, daß sie ebenfalls "im protestantischen Sinne geschrieben worden" sei. 28 Das läßt erkennen, wie stark theologische Aspekte in der Mitte der dreißiger Jahre zum Revolutionsbegriff hinzugehörten; die Geschichte der Revolution ist eine Geschichte der Geistesbewegungen, des Aufstandes gegen überkommenes, aber nicht mehr richtiges Denken, und es kann kein Zweifel sein, daß derartige Überlegungen bis in das Börne-Buch hineinreichen. Eines aber eben sollte die Denkschrift über Börne nicht sein: eine aktuelle politische Schrift. Heine gab sich ganz sorglos, was die Zensurprobleme anging. Er hatte Laube schon 1835 geschrieben, daß er "in den politischen Fragen" soviel Konzessionen machen könne, wie er nur immer wolle, "denn die politischen Staatsformen und Regierungen sind nur Mittel, Monarchie oder Republik, Demokratische oder Aristokratische Instituzionen sind gleichgültige Dinge solange der Kampf um erste Lebensprinzipien, um die Idee des Leben selbst, noch nicht entschieden ist. Erst später kommt die Frage durch welche Mittel diese Idee im Leben realisirt werden kann, ob durch Monarchie oder Republik oder durch Aristokrazie, oder gar durch Absolutismus... für welchen letzteren ich gar keine große Abneigung habe. Durch solche Trennung der Frage kann man auch die Bedenklichkeiten der Censur beschwichtigen; denn Diskussion über das religiöse Prinzip und Moral kann nicht verweigert werden ohne die ganze protestantische Denkfreyheit und Beurtheilungsfreyheit zu anulliren" 29 Das schrieb Heine im literarischen Streit um das Junge Deutschland, als es um dessen Verbot ging. Der Kampf also um erste Lebensprinzipien: das blieb Heines Leitlinie auch in den folgenden Jahren. Und 1837, also im gleichen Jahr, in dem Börne starb und Heine sein Buch begann, ließ er sich in einem Brief an August Lewald darüber aus, daß er mit den militanten Revolutionären nichts zu tun habe. Er schrieb: "Mit den deutschen Regierungen gestaltet sich mein Verhältniß täglich versöhnender und sogar in Preußen haben die Höchstgestelltesten Staatsmänner, ja die Einflußreichsten, sich zu meinen Gunsten ausgesprochen. In Oestreich ist der Fürst Metternich mir ungemein hold, wie ich höre, und verwendet sich für mich. Ohne daß ich nöthig habe auch nur ein Wort gegen meine Ueberzeugung zu sprechen, kommen die Leute von ihrem Mißwollen zurück. Freilich sie wissen, wie schlecht ich stehe mit den Jakobinern und wie mein Streben kein politisch revoluzionäres ist, sondern mehr ein philosophisches, wo nicht die Form der
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Gesellschaft sondern ihre Tendenz beleuchtet wird".30 Das alles macht deutlich, daß das Börne-Buch ein Dokument des Weiterdenkens über Fragen der Revolution ist; und daß es Börne war, der Anlaß gab, darüber zu schreiben, hat über alle persönlichen Bezugnahmen hinaus insofern seinen tieferen Sinn, als Börne als der politische Revolutionär galt, der in Paris die aktuelle politische Revolution gepredigt hatte. Börne aber habe, so will Heine zumindest indirekt ausdrücken, gerade hierin ein falsches Revolutionsbewußtsein gehabt: und so ist der Kampf gegen ihn nicht nur ein Kampf gegen einen persönlichen Feind, sondern ein Kampf gegen ein falsches Denken, gegen unwahre Begriffe. Eben das macht die Essenz des Börne-Buches aus. Wie sehr die Revolution in das Börne-Buch hineinspielt, zeigt sich nicht zuletzt darin, daß Heine von vornherein entschlossen war, seine Lebensdarstellung zu teilen, und zwar in die Zeit vor der Julirevolution und in die danach. Das Erste Buch der Denkschrift spielt vor der Julirevolution, und es behandelt durchaus nicht nur die erste Bekanntschaft Heines mit Börne. Vielmehr wird Börne als Typ des Spiritualisten charakterisiert, und das politische Urteil über Börne ist hier schon fertig, wenn Heine sagt: "Börne war ganz Nazarener, seine Antipathie gegen Goethe ging unmittelbar hervor aus seinem nazarenischen Gemüthe, seine spätere politische Exaltazion war begründet in jenem schroffen Ascetismus, jenem Durst nach Martyrthum, der überhaupt bey den Republikanern gefunden wird, den sie republikanische Tugend nennen und der von der Passionssucht der früheren Christen so wenig verschieden ist".31 Doch Börne zählt nicht so sehr als Person, er ist Exponent einer Haltung, die eigentlich eine Haltung der Zeit ist. In Börne verkörpern sich die Zustände vor der Julirevolution, und das Erste Buch demonstriert Seite um Seite, wie unterschiedlich Heines und Börnes Interpretationen der Gegenwart sind. Heine hat Börne als vorbildlichen Patrioten erlebt, und als solchen hat er ihn auch nach seinem Tode gerühmt. Aber es war nicht nur dieser Patriotismus, den Heine an Börne erkannte; vor allem war es der Typus des lebensfernen Revolutionärs, den Heine in Börne dargestellt fand, und es war die Geschichtskraft des Nazarenertums in Börne, die ihn von vornherein in eine Beziehung zur Französischen Revolution bringen mußte. Aus Heines Sicht war es freilich eine falsche, falsch auch der Revolutionsenthusiasmus Börnes, von dem Heine sich ironisch distanzierte. Börne war für Heine einer der fatalen Anführer der Revolution, ein radikaler Wortführer, dem die Wogen nicht hoch genug gehen konnten. Heine setzt seine Revolutionsschrift fort mit den Briefen aus Helgoland, die eher den Charakter eines Tagebuches haben, und eigentlich müssen diese Briefe aus Helgoland als wunderlicher Fremdkörper erscheinen, denn sie beschäftigen sich weder mit Börne, noch enthalten sie auf den ersten
224 Blick hin philosophische Überlegungen zum Wesen der Revolution. Sie sind vielmehr Erlebnisberichte; der Form nach gleichen sie den Reisebildern, die alles enthalten konnten, was sich mitteilen ließ: Briefe, Tagebuchnotizen, Beobachtungen, Geschichtsbetrachtungen. Sie präsentieren sich zunächst nicht anders als die persönlichen Reaktionen Heines auf die Nachrichten von der Julirevolution in Frankreich. Aber was sich als eine etwas extravagante Darstellung über den Einbruch der Revolutionsnachrichten in Deutschland ausnimmt, enthält hintergründig doch eine Summa aller Erwartungen, die Heine mit der Revolution verbunden hat, und mehr als das: sie sind aller Unmittelbarkeit
der
Berichterstattung
zum
Trotz
stilisiert,
ihr
Er-
fahrungsgehalt ist kondensiert, die Stimmungsreaktionen teilweise fingiert. Wie fiktiv die Berichte der Helgoländer Briefe in gewissem Sinne sind, zeigt sich daran, daß Heine durchaus nicht der Revolution überdrüssig war, "dieses Guerilla-Krieges müde", sondern sich im Frühjahr 1830 intensiv mit der G e schichte der Französischen Revolution von Adolph Thiers beschäftigt hat. Gewisse Spuren dieser Beschäftigung finden sich denn auch im Zweiten Buch der Denkschrift über Börne, und es ist nicht nur die Französische Revolutionsgeschichte, die ihn interessiert, sondern auch die englische R e volution von 1688; in einem Brief an Varnhagen hat Heine bestätigt, daß er Revolutionsgeschichte "Tag und Nacht" betrieben habe, gewissermaßen in Vorwegnahme der dann tatsächlich ausbrechenden Revolution. 3 2 Davon ist freilich in den ersten Briefen aus Helgoland nichts zu lesen. Heine berichtet vielmehr von einem Zustand der Langeweile und einer bedrückenden Ruhe, allerdings weniger, um seinen eigenen Seelenzustand darzustellen. Für die Helgoländer Briefe gilt, was für so viele Schriften dieser Jahre zutrifft. Heine bedient sich einer doppelten "Schreibart", schreibt also allegorisch, und so lesen sich die ersten Briefe über die Verhältnisse auf Helgoland im Juli 1830 wie eine nur leicht verschleierte Darstellung des Restaurationszeitalters, bis die Nachricht von der Julirevolution am 6. August in Helgoland eintrifft, "Sonnenstralen, eingewickelt in Druckpapier, und sie entflammten meine Seele, bis zum wildesten Brand". 3 3 "Ich bin der Sohn der Revoluzion": Sätze wie diese deuten auf die starke Emotionalisierung des
Revolutionsge-
schehens bei Heine hin, auch auf bewußte Simplifizierungen, wenn er etwa einen Fischer ausrufen läßt: "Die armen Leute haben gesiegt!" Was folgt, sind Skizzen über die Aufnahme der Revolutionsnachrichten auf der Insel Helgoland. Es wäre sicherlich falsch, hier nur einen persönlichen Erlebnisbericht Heines lesen zu wollen. Diese Revolution, so will Heine sagen, betrifft das Leben bis in die entferntesten Orte Europas, und jedermann begreift, was die drei Julitage bedeuten. Alles andere also als eine abstrakte Revolutionsphi-
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losophie, an deren Stelle eine Demonstration unmittelbarer Revolutionserfahrungen, von Heine in einem fingierten Protokoll exakt aufgezeichnet. A b e r die Helgoländer Briefe sind zugleich eine Werbeschrift für die Revolution; Heine bedient sich einer durchaus differenzierten, aber jedermann verständlichen Revolutionsmetaphorik, wenn er von der Sonne und den Sonnenstrahlen spricht, vom griechischen Feuer und vom Jordan, der das geweihte Land der Freiheit vom Lande der Philister trennt, und seine Berichterstattung über die Julitage mündet damit ein in jenen größeren Bereich metaphorischer Revolutionsdarstellungen, den Heine seit der Einleitung zu "Kahldorf über den Adel" genutzt hat: dazu gehört die Sonnen-, Gewitter- und Erdbebenmetaphorik, dazu gehören Schatten und Gespenster, die für das Mittelalter stehen, natürlich auch der gallische Hahn, die Rotkäppchen der Freiheit, die junge Brut des toten Adlers. Diese Sprache soll durch ihre Unmittelbarkeit überzeugen, und Heine antwortet damit auf Bestrebungen von restaurativer Seite, die Revolution zu verteufeln, sie als Weltunglück mit Hilfe ähnlich allegorischer Bilder zu deuten, wie das Eichendorff in seiner Erzählung vom Schloß Dürande so nachdrücklich getan hat. Auch Heine weiß, daß eine Darstellung auf der Ebene von Bildern und Erlebnissen ungleich wirkungsvoller ist als die analytische Sektion der Revolutionsvorgänge, und so bedient er sich hier eben jener Mittel, die die Feinde der Revolution und jedes revolutionären Denkens kurz zuvor so suggestiv genutzt hatten. Heines Helgoländer Briefe sind auch ein Versuch, die frohe Botschaft der Revolution auf sinnträchtige Weise zu erläutern, um damit den Unglückspropheten und Vergangenheitsideologen eine Antwort geben zu können. Das alles geht über den Reisebilderstil weit hinaus. Heine war in seinen theoretischen Analysen immer darum bemüht, ebenso die unendlich lange Vorgeschichte der Revolution zu erläutern wie ihre existentielle Bedeutung, und er folgt diesen Linien auch hier. Denn nichts anderes besagen die Hinweise auf die Geschichte, mit denen die Tagesberichte
gefüllt sind; Heine
nutzt den
Raum
seiner
Berichterstat-
tungsmöglichkeiten voll aus, wenn er bis zum Alten Testament zurückgeht, um dort bereits Vorbildhaftes zu finden. Heine liest in der Bibel, um zu sehen, "wie das Volk des Geistes sich allmählig ganz von der Materie befreyt, sich ganz spiritualisirt".34 Die Lektüre der Bibel ist für Heine ein Anlaß, die historischen Linien weit auszuziehen, über Shakespeare bis hin zu Goethe und damit zur eigenen Gegenwart. Weiter konnte der historische Rahmen kaum gefaßt sein. Aber der Hinweis auf die Bibel hat noch einen zweiten Sinn: damit vermag Heine auch die gleichsam anthropologischen Bedeutungen der Revolution bildhaft zu demonstrieren. Denn das Alte Testament erscheint als großes Bilderbuch, in dem Fundamentalerfahrungen der Mensch-
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heit dargestellt sind, und er findet eine "große Emanzipazionsfrage" schon in der Rebellion Christi gegen "das Ceremonialgesetz"; von daher gesehen wird die Revolution zur Notwendigkeit, die Tat Christi fortzusetzen, ja sein Opfer wieder rückgängig zu machen, mit dem die einseitige Verherrlichung des Geistes begann: "Aber nur der Leib ward verspottet und gekreuzigt, der Geist ward verherrlicht, und das Martyrthum des Triumphators, der dem Geiste die Weltherrschaft erwarb, ward Sinnbild dieses Sieges, und die ganze Menschheit strebte seitdem, in imitationem Christi, nach leiblicher Abtödtung und übersinnlichem Aufgehen im absoluten Geiste..." 35 Das ist, auch Heine ist sich dessen nur zu bewußt, eine sehr verkürzte Darstellung der Wirkungsgeschichte Christi, aber im Bereich seiner allegorischen Demonstrationen ist sie außerordentlich wirkungsvoll, denn sie rechtfertigt die Julirevolution als Fortsetzung der Französischen Revolution von 1789, weil diese Revolutionen als Wiederherstellung einer ursprünglichen, dann aber durch die Geschichte des Christentums verlorengegangen Harmonie betrachtet wird. Da die Revolution noch nicht beendet ist, kann Heine die Frage stellen: "Wann wird die Harmonie wieder eintreten, wann wird die Welt wieder gesunden von dem einseitigen Streben nach Vergeistigung, dem tollen Irrthume, wodurch sowohl Seele wie Körper erkrankten! Ein großes Heilmittel liegt in der politischen Bewegung und in der Kunst. Napoleon und Goethe haben trefflich gewirkt. Jener, indem er die Völker zwang sich allerley gesunde Körperbewegung zu gestatten; dieser, indem er uns wieder für griechische Kunst empfänglich machte und solide Werke schuf, woran wir uns, wie an marmornen Götterbildern, festklammern können, um nicht unterzugehen im Nebelmeer des absoluten Geistes..." Die Revolution also als religiöse Erfüllungstat, als Erlösung der Menschheit aus allem Zwiespältigen, Wiederherstellung der "Harmonie": eine größere Rechtfertigung der Revolution als durch diese existentielle Interpretation läßt sich kaum denken. Die Kritik an den christlichen Religionen seiner Zeit ist nicht zu überhören, und Heines Darstellung läuft am Ende geradezu darauf hinaus, das Antichristliche der christlichen Religionsverkündigung durch die Kirchen seiner Zeit bloßzustellen. Das setzt seine Kritik des Christentums fort, das verbindet Heine zugleich mit der Schillerschen Kirchenschelte im "Wallenstein" und schon lange zuvor. Von der Kritik der christlichen Kirche her versteht sich dann auch die Resurrektion der alten Götter, die er hier imaginär beschreibt, und so wie die Revolution die Erfüllung ursprünglicher biblischer Intentionen ist, so ist sie zugleich Indiz für die Wiederkehr der alten Götter. "Unter der Erde aber kracht es und klopft es, der Boden öffnet sich, die alten Götter strecken daraus ihre Köpfe hervor, und mit hastiger Verwunderung fragen sie: was bedeutet der Jubel, der bis ins Mark der Erde drang? Was giebts neues? dürfen wir
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wieder hinaufΡ"36 Heine zeichnet hier die Revolutionsgeschichte weit in die Zukunft hinein vor, und die Berührungen mit seiner Schrift über "Die Götter im Exil" sind mehr als deutlich. So wird die Revolution zur neuen Religionsstiftung, die die Wiederkehr der alten Götter beinhaltet und damit die Versöhnung von Spiritualismus und Sensualismus, die Aufhebung des Gegensatzes von Nazarenertum und Griechentum. Die Dimensionen der Revolution hätten kaum größer sein können, als sie hier, in Heines Helgoländer Briefen, erscheinen. Das alles ist fast spielerisch-erzählerisch vorgebracht, in einer harmlos anmutenden persönlichen Berichterstattung, die nicht systematisch, sondern assoziativ verfährt. Von einem politischen Revolutionsaufruf findet sich nichts. Heine hat allen politischen Erwartungen, allen vorschnellen Veränderungshoffnungen noch einen zweiten Riegel vorgeschoben: indem er das Ende der Julirevolution beschrieben hat. Der Freiheitsrausch, so heißt es in der Nachschrift "Neun Jahre später", war allzu ungestüm über die Polizeiverordnungen hinausgetaumelt, die Wirklichkeit sah anders aus. Nichts lag ihm ferner als etwa ein Aufruf, nun die Revolution um materieller Ziele willen erneut anzufachen. Heine sah das Scheitern der französischen Revolution von 1830, und das heißt: auch das Scheitern der politischen Hoffnungen, die man in sie gesetzt hatte. Aber eben das bewog ihn, dieses Revolutionsbuch zu schreiben, das deswegen, weil die Julirevolution gescheitert war, implicite die Aufforderung enthielt, die Revolution als auch in Zukunft mögliche und notwendige, als permanente Revolution auszurufen. Hier wird etwas sichtbar vom grundsätzlichen Revolutionsdenken Heines, und so sind die Helgoländer Briefe Zeugnis seiner Einsicht, daß die Revolution weitergeführt, zur Weltrevolution werden muß, nicht um der unmittelbaren materiellen Ziele willen, sondern um jene Einheit des Menschen wiederherzustellen, die im Laufe der nazarenischen Geschichte verlorengegangen war. Daß Heine hier noch ein Anhänger jener Überlegungen ist, die die Zukunft von der Vergangenheit her bestimmen, ist weder verwunderlich noch besonders aufschlußreich; Schiller hat ebenso gedacht, auch die Romantiker; der Traum vom Goldenen Zeitalter war als reiner Traum in die Zukunft hinein noch nicht zu träumen. Aber damit ist Heine nicht zum Anhänger einer Restaurationsideologie geworden. Er setzt vielmehr Überlegungen fort, die sich von Schiller über Hegel hinaus bis Karl Marx finden, die alle der Vereinseitigung des Menschen, und sei es auch nur jener durch eine arbeitsteilige Gesellschaft, widersprochen haben. Die Julirevolution, so hatte Heine gesagt, sprenge seine Zeit "gleichsam in zwey Hälften auseinander". Das Dritte Buch der Denkschrift über Börne rekapituliert Börnes Teilnahme am Hambacher Fest: für Heine eine Gele-
228 genheit, noch einmal auf das verfehlte Revolutionsverständnis Börnes aufmerksam zu machen. Börne erscheint auch hier als Uneinsichtiger, der die Lehren der Geschichte nicht beherzigt. Intoleranz und politische Unbelehrbarkeit gehören zur Natur Börnes als eines falschen Revolutionsanhängers, seine Revolutionsinterpretation ist Irrtum. Sein "politisches Raisonniren" zieht alle Kritik Heines auf sich, ja, er erscheint als Abtrünniger, der "der Parthey der Revoluzion niemals mit dem Gemüthe und mit dem Gedanken angehört". 37 Börne, so wirft Heine ihm auch vor, hat in seiner Kurzsichtigkeit die wahre Natur der Restaurationsideologen gar nicht erkannt, und er hat dazu beigetragen, "seiner Natur nach ein geborener Christ", eine fatale Geschichtsentwicklung einzuleiten: "diese spiritualistische Richtung mußte in den Katholizismus überschnappen, als die verzweifelnden Republikaner, nach den schmerzlichsten Niederlagen, sich mit der katholischen Parthey verbanden". 3 8 Heine hat damit vermutlich Romantiker wie Friedrich Schlegel gemeint. Auch für Heine blieb Börne freilich ein großer Patriot, aber der Patriotismus war fehlgeleitet, und am Ende des Vierten Buches macht Heine noch einmal auf die wahren theologisch-existentiellen Dimensionen der Revolution aufmerksam. Er verbindet das alles mit einer kritischen Würdigung der Ereignisse nach der Julirevolution, und gerade der Patriotismus wird in seinen deutschtümelnden Zügen als falsche politische Bewegung entlarvt. Von daher gesehen mußte Börnes wachsende öffentliche Bedeutung als Fehleinschätzung erscheinen, und so gesehen ist die Denkschrift über Börne auch der Versuch der Berichtigung einer Interpretation der Zeitereignisse, die Heine für fatal hielt. Heine wollte in der Tat weniger das Individuum treffen als vielmehr in Börne den Repräsentanten einer ihm tief verdächtigen Entwicklung. So ist also das Börne-Buch selbst in den Partien, die sich mit der Person Börnes beschäftigen, eine politische Schrift, ein Versuch, ein besseres Revolutionsverständnis zu vermitteln. Heine bricht auch hier aus der bloßen Wiedergabe von Fakten und Erfahrungen aus, um diese historisch zu interpretieren, sie in einen universalgeschichtlichen, ja letztlich theologischen, messianischen Bedeutungszusammenhang zu stellen. Der Schluß der Börne-Schrift, das Fünfte Buch, setzt die Abkehr von tagespolitischen Ereignissen fort; hier versucht Heine bereits, Börne als historische Persönlichkeit zu würdigen. Man läse es falsch, sähe man dort nur eine erneute Gelegenheit wahrgenommen, persönlich Rache zu üben. Das Fünfte Buch der Denkschrift über Börne läuft konsequent auf die Feststellung hinaus, daß die Revolutionen, die bislang stattgefunden haben, unvollendet waren, und wenn Heines Pessimismus auch unüberhörbar ist, so wird die Denkschrift doch getragen von Zukunftserwartungen. Es lag Heine alles daran, einem verengten, vorschnellen Verständnis der Revolution die Wege zu verbauen, um nicht ih-
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rem eigentlichen Wesen gegenüber blind zu werden, und so enthält das Börne-Buch in diesem Sinne sogar das Eingeständnis der Unfähigkeit, mit der Revolution an ein Ende zu kommen. Die Revolution war für Heine eben nicht ein "Hausmittelchen", sondern eine Aufgabe der Menschheit, und von daher ist wiederum verständlich, daß sie nicht als Werk des Tages gesehen werden durfte. Heine schreibt: "Ach, es wird noch eine gute Weile dauern, ehe wir das große Heilmittel ausfündig machen; bis dahin muß noch eine lange schmerzliche Zeit dahingesiecht werden, und allerley Quacksalber werden auftreten". 39 Ein Satz wie "Die Könige gehen fort" 40 hat sich dennoch auch in bezug auf politische Verhältnisse als ungemein prophetisch erwiesen, aber Heines Revolutionsvorstellungen liefen nicht darauf hinaus, den Absolutismus zu beseitigen. Die Revolution nahm im Grunde genommen die Stelle einer Heilsreligion ein. So ist Heines Börne-Buch vielleicht die großräumigste, tiefsinnigste Deutung der Revolution, die es im frühen 19. Jahrhundert gegeben hat. Jakobinische Bestrebungen fehlen; umso stärker sind die fundamentalen Aspekte der Revolution konturiert. Heine hat hier versucht, den Begriff der Revolution aus dem Historischen ins Transhistorische zu überführen, und wenn man auch zögern würde zu sagen, Heine habe den Begriff der Revolution sakralisiert, so hat er doch so etwas wie eine Revolutionstheologie entworfen, damit aber auch den Begriff der Revolution aus der tagespolitischen Diskussion herausgenommen und ihn in gewissem Sinne sogar unangreifbar gemacht. Hatte Eichendorff die Revolution verteufelt, so hat Heine sie religiös idealisiert. Das soll nicht heißen, daß er nicht auch soziale Bedingungen und Notwendigkeiten gesehen hätte. Aber sie standen für ihn nicht in vorderster Linie, sondern waren Akzidentien der eigentlichen, der geistigen Revolution. Daß Heine den Begriff der Revolution nicht einer abstrakten Analyse unterzogen hat, sondern ihn in Form eines fast anspruchslosen Erzählens mit Hilfe von Metaphern und Allegorien erläutert, das macht seine Überlegungen so leicht verständlich und ebenso leicht mißverständlich.
Anmerkungen
Die Literatur über Heines Verhältnis zur Französischen Revolution ist auf den ersten Blick gesehen sehr schmal; die Bibliographie von Monika Wilwerding nennt keinen einzigen Titel. Aber das täuscht insofern, als über sein Revolutionsverständnis meist im größeren Zusammenhang seines Verhältnisses zur Politik überhaupt gehandelt wird. Eine ausführliche Darstellung stammt von Walter Grab: Heinrich Heine als politischer Dichter, Heidelberg 1982. Heine wird hier teilweise als Jakobiner verstanden, später als Bonapartist: bei allem Verdienst dieses Buches aber vielleicht doch unzutreffende Kategorisierungen. Wie vielfältig und
230 differenziert schon Heines sprachliche Darstellung der Revolution ist, zeigt die Arbeit von Wolfgang Koßek: Begriff und Bild der Revolution bei Heinrich Heine, Frankfurt/M. 1982; zu erwähnen ist auch die Darstellung von Su-Yong Kim: Heines soziale Begriffe, Hamburg 1984. Wesentlich vertiefter über Heines politische Dichtung und das Verhältnis seiner Dichtung zur Politik hat Manfred Windfuhr geschrieben: Zum Verhältnis von Dichtung und Politik bei Heinrich Heine, in: Heine-Jahrbuch 1985, 24. Jg., S. 103-122; Windfuhr behandelt ausführlich Heines Kampf gegen Restauration, Nationalismus und radikalen Republikanismus und Kommunismus. Eine sehr subjektive Darstellung gibt Klaus Briegleb: Opfer Heine? Versuche über Schriftzüge der Revolution, Frankfurt/M. 1986; Briegleb erläutert das Verhältnis Heines zur Revolution anhand seiner "Schreibweise" und ihrer "Tiefenstruktur". Die nicht leicht verständlichen Ausführungen Brieglebs konzentrieren sich mehr auf Rollenerfahrungen, Kindheitskomplexe, Revolutionsdiskurs, und er versteht seine Arbeit als "Schreibwegstudie". Ebenso problematisch ist die Arbeit von Manfred Schneider: Die Angst des Revolutionärs vor der Revolution. Zur Genese und Struktur des politischen Diskurses bei Heine, in: Heine-Jahrbuch 1980,19. Jg., S. 9-48; Zwischenüberschriften wie "Lebenskurve und Szenen eines romantischen Körpers" und "Die aufgeklärte Produktion der romantischen Körpersprache" lassen erkennen, daß Heines intellektuelle Auseinandersetzung mit der Revolution hier völlig unterschätzt wird. Ertragreicher sind Bemerkungen von Albrecht Betz: Ästhetik und Politik. Heinrich Heines Prosa, München 1971, und darin der Abschnitt über Ludwig Börne (S. 137-143); zu erwähnen ist angesichts der Bedeutung Hegels für Heine auch das Buch von Jean Pierre Lefebvre: Der gute Trommler. Heines Beziehung zu Hegel, Hamburg 1986 (im Rahmen der Heine-Studien) sowie das von Eduard Krüger: Heine und Hegel. Dichtung, Philosophie und Politik bei Heinrich Heine, Kronberg/Ts. 1977. Zu Heines Denkschrift über Börne vgl. Inge Rippmann: Heines Denkschrift über Börne. Ein Doppelporträt, in: Heine-Jahrbuch 1973, 12. Jg., S. 41-70; eine sehr gründliche Studie der besten Kennerin des Werkes von Ludwig Börne. Einen ausführlichen Forschungsbericht der Denkschrift Heines über Börne liefert Joseph A. Kruse: "Heinrich Heine über Ludwig Börne". Börne-Bild und Heine-Forschung, in: "Die Kunst - eine Tochter der Zeit". Neue Studien zu Ludwig Börne, hrsg. von Inge Rippmann und Wolfgang Labuhn, Bielefeld 1988, S. 32-50.
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Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Historische Fragmente aus dem Nachlaß, hrsg. von Albert Oeri und Emil Dürr, Berlin/Leipzig 1929 (Jacob BurckhardtGesamtausgabe, 7. Bd.); S: 11. Ebd., S. 130. Ebd., S. 140. Ebd., S. 176. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III. (= G. W. F. Hegel: Werke in zwanzig Bänden), Bd. 20, Frankfurt/M. 1986, S. 296. Ebd., S. 314. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. ( = G. W. F. Hegel: Werke in zwanzig Bänden), Bd. 12, Frankfurt/M. 1986, S. 539f. Heinrich Heine: Historisch-Kritische Gesamtausgabe der Werke (DHA), hrsg. von Manfred Windfuhr. Bd. 11: Ludwig Börne. Eine Denkschrift und Kleinere politische Schriften, bearbeitet von Helmut Koopmann, Hamburg 1978, S. 134. Ebd., S. 134f. Ebd., S. 135f. Ebd., S. 142. DHA, Bd. 8/2: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Die Romantische Schule. Apparat bearbeitet von Manfred Windfuhr, Düsseldorf 1981, S. 529. DHA, Bd. 11, S. 135. Ebd., S. 136. Ebd. S. 134. DHA, Bd. 8/1: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Die Romantische Schule. Text bearbeitet von Manfred Windfuhr, Hamburg 1976, S. 77. Ebd., S. 82. DHA, Bd. 12/1: Französische Maler. Französische Zustände. Über die französische Bühne, bearbeitet von Jean-René Derré und Christiane Giesen, Hamburg 1980, S. 131.
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DHA, Bd. 8/1, S. 59f. Ebd., S. 60. Ebd., S. 117. Ebd., S. 119. Heinrich Heine, Säkularausgabe, (HSA). Hrsg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris, Bd. 21: Briefe 1831-1841, bearbeitet von Fritz H. Eisner, Berlin/Paris 1970, S. 322. Ebd., S. 335. Ebd., S. 348. HSA, Bd. 20: Briefe 1815-1831, bearbeitet von Fritz H. Eisner, S. 419. HSA, Bd. 21, S. 360. DHA, Bd. 11, S. 151. HSA, Bd. 21, S. 125. Ebd., S. 179. DHA, Bd. 11, S. 19. HSA, Bd. 20, S. 421f. DHA, Bd. 11, S. 48. Ebd., S. 39. Ebd., S. 40. Ebd., S. 50. Ebd., S. 97. Ebd., S. 103. Ebd., S. 129. Ebd., S. 130.