Vélomanie: Facetten des Radsports zwischen Mythos und Ökonomie 9783839443002

Despite doping affairs and total commercialization, the Tour de France thrills an audience of millions. Interdisciplinar

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German Pages 328 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Die Tour de France ‒ ein nationaler Mythos?
Helden der Landstraße? Die Tour de France im Spiegel der französischen Literatur – ein Überblick
Histoire(s) de la Grande Boucle ‒ Die Tour de France in der französischen Bande Dessinée
»Les Français ne croient plus au Maillot Jaune.« 1 Radsport im französischsprachigen Film
Vélomanie – Zur Sinnlichkeit eines technischen Objektes
Wer weiß am meisten über das Radfahren? – Eine Unterscheidung verschiedener Formen des Wissens
Die Tour de France und die Medien – Annäherung an den Sportjournalismus im Zeitalter der Medialisierung
Der Sport-Medien-Komplex und die Tour de France
Unfair Play? – Die Vermarktung des Sports und das Recht
»Schnecke« gegen »Rennpferd« – Leistungsparameter von Radprofis und Hobbyradsportlern
Tour der Leiden – gesund oder doch ungesund?
Von Stahlrössern, Drahteseln und anderen Rädern – immer eine runde Sache!
Rückenwind für die Landeshauptstadt
Autorinnen und Autoren
Mitwirkende am Podiumsgespräch
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Vélomanie: Facetten des Radsports zwischen Mythos und Ökonomie
 9783839443002

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Frank Leinen (Hg.) Vélomanie

Edition Kulturwissenschaft  | Band 170

Frank Leinen (Hg.)

Vélomanie Facetten des Radsports zwischen Mythos und Ökonomie

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: suloka / pixabay.com Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4300-8 PDF-ISBN 978-3-8394-4300-2 https://doi.org/10.14361/9783839443002 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung

Frank Leinen | 7 Die Tour de France ‒ ein nationaler Mythos?

Hans Theo Siepe | 25 Helden der Landstraße? Die Tour de France im Spiegel der französischen Literatur – ein Überblick

Andreas Gelz | 47 Histoire(s) de la Grande Boucle ‒ Die Tour de France in der französischen Bande Dessinée

Frank Leinen | 67 »Les Français ne croient plus au Maillot Jaune.« Radsport im französischsprachigen Film

Sieglinde Borvitz | 113 Vélomanie – Zur Sinnlichkeit eines technischen Objektes

Vittoria Borsò | 137 Wer weiß am meisten über das Radfahren? – Eine Unterscheidung verschiedener Formen des Wissens

Gottfried Vosgerau und Eva-Maria Jung | 163 Die Tour de France und die Medien – Annäherung an den Sportjournalismus im Zeitalter der Medialisierung

Holger Ihle und Jörg-Uwe Nieland | 181 Der Sport-Medien-Komplex und die Tour de France

Christian Tagsold | 213 Unfair Play? – Die Vermarktung des Sports und das Recht

Rupprecht Podszun | 235

»Schnecke« gegen »Rennpferd« – Leistungsparameter von Radprofis und Hobbyradsportlern

Achim Schmidt | 259 Tour der Leiden – gesund oder doch ungesund?

Ingo Froböse | 277 Von Stahlrössern, Drahteseln und anderen Rädern – immer eine runde Sache!

Jean Pruvost | 285 Rückenwind für die Landeshauptstadt Der Grand Départ als Chance für Düsseldorf – Podiumsgespräch vom 23.05.2017

Theresa Winkels, Christopher Schlenker, Ruben Zepuntke und Karsten Migels | 305 Autorinnen und Autoren | 317 Mitwirkende am Podiumsgespräch | 325

Einleitung Frank Leinen

Vélo [velo] m: (Fahr)Rad n. (Langenscheidt 2018) Ma|nie die; -, ...ien ሺ[…] aus gr. manía »Raserei, Wahnsinn« […]ሻ...ma|nie (über spätlat. -mania aus gr. -manía, vgl. Manieሻ: Wortbildungselement mit den Bedeutungen: a) »Sucht; krankhafte Leidenschaft«, z.B. Kleptomanie, u. b) »übertriebene Vorliebe für etwas«, z.B. Gräkomanie. (Duden 2007)

Vélomanie – Fahrradbesessenheit und Fahrradverrücktheit, Passion und Wahnsinn. Beide Lesarten sind möglich, denn Radsport ist tatsächlich eine verrückte Angelegenheit – und vielleicht sind gerade deswegen so viele verrückt nach Radsport. Andere wiederum finden es verrückt, dieser »Raserei« überhaupt noch Aufmerksamkeit zu schenken, angesichts der Skandale, die immer wieder aufgedeckt werden. Sind nicht auch die Sportler1 regelrechte Verrückte, da sie ihr einziges Lebensziel darin sehen, in der kurzen Spanne ihrer aktiven Fahrerkarriere möglichst viele Kriterien erfolgreich abzuschließen – und sei es auf Kosten ihrer Gesundheit? Ist es nicht geradezu absurd, Profi werden zu wollen, nachdem einigen prominenten Radrennfahrern die sportliche Fairness nachweisbar abhandengekommen ist? Fans der Tour de France, des Giro d’Italia und der Vuelta a España, deren Vélomanie Züge einer Leidenschaft trägt, sehen die Dinge anders. Sie erinnern daran, dass gerade im Radsport die Kontrolldichte besonders hoch ist und viele Fälle, die in anderen Sportarten unentdeckt blieben, hier aufgedeckt werden. Während die World Anti-Doping Agency (WADA) seit den 1990er Jahren mit Unter-

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Das generische Maskulinum schließt im gesamten Band die weibliche Form ein.

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stützung der Union Cycliste Internationale (UCI) den Radsport systematisch überprüfe, seien andere Sportinstitutionen wie der Weltfußballverband FIFA in dieser Frage weitaus zurückhaltender. Sicherlich sei auch der Radsport immer noch kein »sauberer« Sport, doch gelte das Gleiche, womöglich in höherem Maße, leider auch für andere populäre Sportarten. Warum aber polarisiert gerade der Radsport so sehr die öffentliche Meinung? Neben den unglaublichen Leistungen der Fahrer trägt möglicherweise die Berichterstattung über die Rennen hierzu bei. Je dramatischer die Nahaufnahmen der sich quälenden Rennsportler sind, umso größer ist das öffentliche Interesse. Eine solche mediale Unmittelbarkeit kann in anderen Sportarten – etwa im Schwimmsport oder bei der Skiabfahrt – eher selten erreicht werden. Wochenlang können die Zuschauer während der internationalen Radrennen aus nächster Nähe mitverfolgen, wie die Athleten gegen Hitze, Regen, Wind und Schnee ankämpfen und in immer kürzeren Intervallen irreal anmutende Steigungen hinter sich bringen müssen. Sie sehen mit Kopfschütteln oder Bewunderung, wie sich die Radprofis nach bisweilen lebensgefährlichen Stürzen wieder auf ein Ersatzrad setzen, um dann während der Fahrt vom Rennarzt notdürftig versorgt zu werden, bevor sie wieder den Kampf um das Gelbe, Rosa oder Rote Trikot aufnehmen. Sind das nicht Verrückte? Ist das noch ein menschenwürdiger Sport oder findet hier eine grausame Selbstausbeutung auf Kosten der Gesundheit statt? Die Vélomanie zieht aber noch weitere Kreise, denn radsportverrückt ist vermutlich auch ein Gutteil der zahlreichen Freizeit- und Hobbyfahrer, die in zunehmender Zahl an den Wochenenden oder nach Feierabend die Landstraßen zu ihrem Trainingsrevier machen. Nachdem sie sich bisweilen mühevoll in ihre hautengen Trikots gezwängt haben, fühlen sie sich als die wahren Könige der Landstraße. Sie betreiben ihren Sport mit viel Leidenschaft, doch nicht immer zur Freude mancher Autofahrer, die gerade hierzulande diese bunt gekleideten Verrückten oftmals lieber auf dem Radweg oder gar im Straßengraben sehen möchten. Wenn sich dann an Ampeln Autoverrückte und Radsportverrückte begegnen, werden leider selten Freundlichkeiten ausgetauscht. Vélomanie bedeutet aber noch mehr: So muss man in vielen deutschen Städten nahezu verrückt sein, wenn man sich mit dem Fahrrad im Straßenverkehr bewegt. Dabei gibt es in Europa leuchtende Vorbilder wie Kopenhagen, Amsterdam, Straßburg, Bordeaux und Utrecht, die ein entspanntes Stadtradeln möglich gemacht haben. In Deutschland sieht die Realität jedoch eher anders aus. Zugeparkte

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Radspuren sind an der Tagesordnung,2 und Radfahrer, die sich durch Abgas- und Feinstaubwolken quälen müssen, kämpfen oft mit Autos, Bussen und Straßenbahnen um den engen Straßenraum, sofern sie nicht auf Gehsteige geleitet werden, wo Konflikte und Unfälle mit Fußgängern geradezu vorprogrammiert sind. Wie diese wenigen Anmerkungen deutlich machen, ist der Radsport und das Fahrradfahren ein Thema, an dem sich die Gemüter erhitzen, das polarisiert und kaum jemanden unbeteiligt lässt. Hierzu trägt sicherlich auch bei, dass praktisch jeder eigene Erfahrungen mit dem Radfahren aufweisen kann, besaßen doch im Jahr 2017 die 87,7 Millionen Deutschen nicht weniger als 73,5 Millionen Fahrräder, und waren zwischen fünf und sechs Millionen Rennradler auf den Straßen unterwegs.3 Damit sind 81,4 % aller deutschen Haushalte im Besitz zumindest eines Fahrrads, und nicht weniger als 98 von 100 Menschen beherrschen die Technik des Radfahrens. Andererseits stieg der reale Radverkehrsanteil im bundesrepublikanischen Alltag zwischen 2002 und 2017 um nur 2 % auf rund 11 % an. Viele Deutsche besitzen ein Fahrrad, doch nur wenige nutzen es. 4 Auch wenn die Quote der Radfahrer im Gesamtverkehr in Deutschland niedrig ist, wurden im Jahr 2017 über 79.000 Radfahrer in polizeilich gemeldeten Unfällen verletzt. 382 Unfälle verliefen tödlich.5 Die wachsende Popularität des Radsports hierzulande – 2018 startete nach einer Pause von zehn Jahren erstmals wieder die Deutschland Tour – weist auf eine Entwicklung hin, die auch das Fahrradfahren generell erfasst hat. Das Image des Radfahrens ist dabei, sich zu verändern. Galt viele Jahre die Maxime, dass als Erwachsener Rad fährt, wer sich kein Auto leisten kann, so ist Radfahren inzwischen Ausdruck eines neuen Lebensgefühls geworden. Das verbreitete Streben nach Fitness verbindet sich mit einem oft als politisch korrekt wahrgenommenem ökologischen Bewusstsein, aber auch dem Gefühl, auf dem individuell aufgebauten Rennrad, Citybike, Mountainbike, Pedelec, E-Bike oder Lastenfahrrad einfach

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In keinem Land Europas kostet das Falschparken auf Radwegen weniger als in Deutschland, wo ein Bußgeld von 20 Euro erhoben wird, wie das Radmagazin Trekkingbike vermerkt (vgl. Pressedienst Fahrrad 2018).

3

Sämtliche Angaben in diesem Abschnitt, sofern nicht anders ausgewiesen, laut einer Information des Pressediensts Fahrrad vom 11. Juni 2018 (ebd.). Sehr informativ ist auch das Fahrradportal des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI 2018a), das zu dem Thema weiterführende Zahlen, Daten und Fakten bereithält (vgl. Radverkehr in Deutschland 2014).

4

Die Niederlande weisen einen Radverkehrsanteil von 31 % auf (vgl. Greenpeace 2018:

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Vgl. ebd.

5).

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nur »hip« zu sein. Sicherlich beeindruckt die Zahl der für das Jahr 2015 in Deutschland vermerkten 24.800.000.000 Personenfahrradkilometer auf den ersten Blick, doch führt der einsetzende Rad-Boom noch nicht unbedingt dazu, dass auch tatsächlich mehr Rad gefahren wird. So liegt die durchschnittliche Wochenkilometerleistung eines deutschen Radlers bei nur rund 30 Kilometern. Dies macht deutlich, dass das Potenzial des Fahrrads, das hierzulande zu den beliebtesten Alltagsprodukten zählt, bei weitem noch nicht ausgeschöpft ist. Gerade wenn rund 50 % der Autofahrten in Deutschland kürzer als fünf Kilometer und 25 % kürzer als zwei Kilometer sind, sollte man darüber nachdenken, ob es sich nicht lohnt, öfter das Fahrrad dem Auto vorzuziehen.6 Dass zudem der Radsport wie das Radfahren im Allgemeinen aufgrund der gelenkschonenden Bewegungsabläufe im Vergleich zu anderen sportlichen Betätigungen besonders gesund ist, dürfte kein Geheimnis mehr sein. Dass aber nur 75 Minuten Radfahren pro Woche jährlich rund 2000 Euro Gesundheitskosten sparen und dass das Pendeln zum Arbeitsplatz mit dem Fahrrad die Zahl der Krankheitstage um rund ein Drittel reduzieren würde, wissen vermutlich nur wenige. Viele Argumente sprechen für das Radfahren im innerstädtischen Bereich, und angesichts der anstehenden Fahrverbote aufgrund der Stickoxid-, CO2- und Feinstaubbelastung unserer Großstädte wäre zu fragen, ob attraktivere, fahrradfreundliche Stadtkonzepte nicht viele Probleme lösen könnten.7 Auch ein Sportevent wie die Tour de France kann in diese Richtung entscheidende Impulse setzen, und tatsächlich wurden seit 2017, als der Grand Départ in Düsseldorf ausgerichtet wurde, wichtige Maßnahmen eines langfristig angelegten

6

Dies bestätigt eine Studie des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung (ISI, k.A.). Laut einer Information des Umweltbundesamtes spart jeder Berufspendler, der vom Auto auf das Rad wechselt und täglich fünf Kilometer zur Arbeit hinund zurückfährt, jedes Jahr 350 Kilogramm CO2-Emissionen ein (vgl. Umweltbundesamt 2016).

7

Im Haushalt des Jahres 2018 stehen dem Bundesverkehrsministerium 28 Milliarden Euro zur Verfügung, von denen nur 130 Millionen, dies entspricht 0,5 %, in die Entwicklung des Radverkehrs fließen (vgl. Greenpeace 2018: 7). In der genannten Quelle findet sich auch die Information, dass die deutschen Großstädte zwischen 2,80 Euro (Köln) und 5,00 Euro (Stuttgart) pro Einwohner für den Radverkehr ausgeben. In Berlin stiegen die Ausgaben von etwa 2,40 Euro auf immerhin circa 14 Euro im Jahr 2018. In Amsterdam werden 11 Euro pro Kopf investiert, in Kopenhagen rund 36 Euro, in Oslo 70 Euro und im kleineren Utrecht, wo die Tour de France 2015 wie in Düsseldorf mit einem Einzelzeitfahren startete, sogar 132 Euro (vgl. ebd.: 10f.).

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Konzepts zur Förderung des innerstädtischen Radverkehrs umgesetzt. In den Jahren zuvor hatte man im Rat der Stadt, zum Teil auch innerhalb der Fraktionen, lange und sehr kontrovers die Frage diskutiert, ob sich die nordrhein-westfälische Landeshauptstadt um den Tourstart bewerben sollte. Nachdem London seine Bewerbung zurückgezogen hatte, fasste im November 2015 der Rat mit einer denkbar knappen Mehrheit von nur einer Stimme den Beschluss, bei der Amaury Sport Organisation (A.S.O.) die Kandidatur Düsseldorfs als Austragungsort des Grand Départ 2017 einzureichen.8 Erstmals seit 30 Jahren sollte die Tour de France wieder in Deutschland starten. Die Hoffnungen, die sich mit dieser Initiative verbanden, waren in Anbetracht der erwarteten 60 Millionen Fernsehzuschauer in 190 Ländern9 und einer vieltausendköpfigen Zuschauermenge entlang des 14 Kilometer langen Düsseldorfer Stadtparcours groß. Sie reichten vom Stadtmarketing, verbunden mit dem erhofften touristischen Imagegewinn, über Impulse für die lokale und regionale Wirtschaft, bis hin zu dem Vorhaben, mit dem Sportgroßereignis die Entwicklung städteplanerischer Initiativen zu verknüpfen. Düsseldorf möchte in den Jahren nach dem Grand Départ zu einer fahrradfreundlicheren Großstadt, langfristig vielleicht sogar zu einer VéloCité werden. Der Anteil des Radverkehrs soll von 14 auf 25 % gesteigert und das Radwegenetz auf 300 Kilometer ausgebaut werden.10 Um die Finanzierung des Starts der Tour de France absichern zu können, erklärte sich die Stadt bereit, mit der Unterstützung durch Sponsoren rund 13

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Trotz der geheimen Abstimmung wurde deutlich, dass die »Hausmacht« des Oberbürgermeisters nicht geschlossen hinter dem Projekt stand, nachdem sich die an der AmpelKoalition beteiligte FDP gegen den Tourstart in Düsseldorf ausgesprochen hatte. Dass die Entscheidung für den Grand Départ nur mit den Stimmen der teils extremen rechten Splitterparteien möglich wurde, sorgte für erheblichen politischen Zündstoff (vgl. Zellmer/Spieker 2015).

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Die Angaben zur Zahl der Fernsehzuschauer der Tour schwanken erheblich. So sprechen die A.S.O. wie auch die französische Botschaft (2016) von weltweit 3,5 Milliarden Zuschauern. Demgegenüber geht der Wirtschaftswissenschaftler Daam van Reeth (Universität Leuven), der sich auf den Profiradsport und die Erhebung der Zuschauerzahlen von Fernsehübertragung spezialisiert hat, davon aus, dass jede Etappe weltweit von 15 bis 20 Millionen Zuschauern gesehen wird (vgl. Le Monde 2016).

10 Vgl. Düsseldorf 2017. 2014 wurde die Stadtverwaltung mit der Schaffung eines Radwegenetzes beauftragt, das seit 2015 unter wissenschaftlicher Beteiligung und im Dialog mit den Bürgern sukzessive umgesetzt wird (vgl. Düsseldorf 2018). 2018 zeichneten die Organisatoren der bundesweiten Aktion »Stadtradeln« die Landeshauptstadt mit dem ersten Preis in der Kategorie »Fahrradaktivstes Kommunalparlament der Städte ab 500.000 Einwohnern« aus. Um diese Auszeichnung zu erhalten, genügte es freilich,

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Millionen Euro – Kritiker sprechen von 17 Millionen Euro11 – für das Projekt des »Grand Départ 2017« zu zahlen.12 War es eine sinnvolle Investition? Diese Frage kann vermutlich nie abschließend beantwortet werden.13 Auf jeden Fall bot Düsseldorf trotz des schlechten Wetters während des Einzelzeitfahrens eine beeindruckende Kulisse für die Tour, nicht zuletzt wegen der rund eine Million Zuschauer, die in die Stadt gekommen waren, um die Fahrer anzufeuern und ein wenig von der Atmosphäre dieses Mega-Sportevents einzufangen.

dass die 19 teilnehmenden Stadträte (der Rat zählt 82 Mitglieder) an 21 Tagen insgesamt durchschnittlich 20,1 Kilometer pro Person zurücklegten (vgl. BMVI 2018b). Zum Vergleich: In der Stadt Düsseldorf radelte jeder der 5682 Teilnehmer im gleichen Zeitraum durchschnittlich die Strecke von 202 Kilometern (vgl. Stadtradeln 2018). 11 Vgl. RP-Online 2017a. 12 Der städtische Anteil bei der Finanzierung war zunächst auf 6 Millionen Euro angesetzt worden (vgl. RP-Online 2015), er wuchs sodann nicht zuletzt wegen gestiegener Sicherheitsanforderungen und Infrastrukturmaßnahmen um weitere 2,9 Millionen Euro (vgl. RP-Online 2017b). Zum Vergleich: Die Ausrichtung des Eurovision Song Contest 2011 kostete Düsseldorf knapp 10 Millionen Euro (vgl. Presseportal 2011). Die Einnahmen der Stadt durch das Tour-Event lagen bei rund 8 Millionen Euro. Gerade der Verkauf von Tickets für die VIP-Zonen mit Preisen zwischen 210 bis 550 Euro lief enttäuschend, da statt der geplanten 10.000 nur 4147 Karten verkauft werden konnten (vgl. RP-Online 2017c). 13 Die Sportökonomikerin Judith Grant Long weist darauf hin, dass bislang keine in methodischer Hinsicht akzeptable Studie zum ökonomischen Nutzen der Tour de France durchgeführt worden sei (vgl. Grant Long 2012: 377ff.). Die Konkurrenz unter den in der Regel außerhalb Frankreichs liegenden Städten, die sich um die Ausrichtung eines Grand Départ bewerben, habe dazu geführt, dass die A.S.O. den Start der Tour um ein vielfaches teurer verkaufen könne als das meist französischen Städten vorbehaltene Recht, Etappenort zu sein: »The ASO, for its part, is beginning to inject a competitive spirit to the stage selection process, particularly the Grand Départ stage which is increasingly held outside France, as a means to close the gap between benefits and costs. Within France, however, the potential to increase competition among aspiring stage hosts is moderated by the pragmatics associated with route planning, and by the Tour’s century-old legacy as a showcase for French history, culture and landscape.« (Ebd.: 383) Dies bestätige das Beispiel Londons: »For example, London paid €2 million to the ASO for the right to host the Grand Départ in 2007, paying an additional €3 million in event costs, and according to advocates yielded many multiples of those initial investments in subsequent economic and social impacts.« (Ebd.: 373)

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Für die Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und speziell das Institut für Romanistik, vertreten durch Dr. Sieglinde Borvitz und mich, bot der Düsseldorfer Grand Départ der Tour de France vom 29. Juni bis zum 2. Juli 2017 den Anlass, eine interdisziplinäre Vortragsreihe zum Thema Radsport und Tour de France zu konzipieren. Vor dem Starttermin und während des Rennens sollten im Düsseldorfer Haus der Universität wöchentliche Vorträge einem möglichst breiten Publikum vielfältige Informationen über oft noch wenig bekannte Facetten des Radsports liefern. Uns kam bei der Planung zu Hilfe, dass Düsseldorf im Januar 2016 seitens der A.S.O. die Zusage erhielt, den Grand Départ und den Start der ersten Etappe ausrichten zu können. So war es möglich, schon ein Jahr im Voraus die Weichen für unsere Veranstaltungsreihe zu stellen. Besondere Förderung und Unterstützung erhielten wir bei der Vorbereitung und Präsentation unseres Projekts dankenswerterweise durch die Rektorin der Heinrich-Heine-Universität, Frau Univ.Prof. Dr. Anja Steinbeck, sowie den Oberbürgermeister der Stadt Düsseldorf, Herrn Thomas Geisel, und sein Team. Auch der Event Director, Sven Teutenberg, half uns bei der Organisation und Durchführung der Vélomanie-Reihe. Ganz besonders freute uns, dass die Suche nach renommierten Experten aus verschiedenen Fachdisziplinen ein sehr positives Echo fand. Es zeigte sich, dass die Vélomanie, die Begeisterung für den Radsport und das Radfahren, auch vielen Akademikern nicht fremd ist. Dies bedeutete aber nicht, dass in den Vorträgen keine kritischen Positionen vertreten wurden, wenn es etwa darum ging, die dunklen Seiten des Leistungssports, die Macht der Medien oder die Ökonomisierung von Sportevents anzusprechen. Dass Woche für Woche zahlreiche Zuhörer die Vorträge im Haus der Universität besuchten, ist sicherlich auf das im Umfeld des Grand Départ gewachsene Interesse für die Tour de France zurückzuführen. Auch entwickelte sich im Unterschied zu früheren Jahren, in denen nach verschiedenen Dopingaffären der Radsport gerade in Deutschland pauschal in der Kritik stand, in der Öffentlichkeit die Bereitschaft, einen versachlichten Zugang zu dieser Sportart zu suchen. Dahinter stand aber auch der Wunsch, mit Hilfe von Fachleuten einen Blick hinter die Kulissen eines solchen Ereignisses werfen zu können, bis dahin weniger bekannte Facetten des Radsports zu entdecken und neue Zusammenhänge zu erschließen. Eine gewisse Rolle für diese positive Resonanz spielte sicherlich auch, dass 2017 das Fahrrad auf eine 200-jährige Geschichte zurückblicken konnte.14 So kam es

14 Aus diesem Anlass unternahm einer der Autoren dieses Bandes, der Kölner Sportwissenschaftler Achim Schmidt, mit seinem Kollegen Frank Hülsemann einen interessanten Selbstversuch. Im März 2018 machten sich beide auf Nachbauten des von Karl Drais erfundenen Laufrades von Mannheim auf den Weg nach Paris, um an die Überführung

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uns auch darauf an, die Entwicklungen, die dieses Fortbewegungsmittel in gesellschaftlicher, ökonomischer und kultureller Hinsicht angestoßen hat, zu kommentieren. Aus der französischen Literatur sind das Fahrrad und die Tour de France nicht mehr wegzudenken, und die von der Zeitung L’Auto schon 1903 aus marketingstrategischen Gründen ins Leben gerufene Rundfahrt15 wandelte sich zum Multi-Media-Event mit mehrstelligen Millionenumsätzen. Hinzu kommt, dass Radfahren in den letzten Jahren zunehmend zum Lebensgefühl wurde, das alle Generationen verbindet.16 Von April bis Juli 2017 präsentierten im Düsseldorfer Haus der Universität dreizehn deutsche und französische Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen Vorträge zu ausgewählten Aspekten des Radsports. Das Themenspektrum reichte von der Sportgeschichte, der Sportökonomie, dem Marketing, der Sportmedizin, der Literatur-, Medien- und Kulturwissenschaft, der Philosophie, der Rechtswissenschaft, bis hin zur Sprachwissenschaft. Ergänzt wurden die wissenschaftlichen Vorträge durch ein Podiumsgespräch zum Start der Tour de France in Düsseldorf und den Erwartungen, die sich mit ihm verbanden. Das positive Echo der Veranstaltungsreihe und ihre in der deutschen Forschungslandschaft bislang einzigartige thematische und interdisziplinäre Ausrichtung ließen das Vorhaben entstehen, eine Auswahl der Vorträge in einem Buch zu präsentieren, das im Idealfall nicht nur das Interesse eines akademischen Fachpublikums findet. Vielmehr möchte der vorliegende Band die Idee der Düsseldorfer Bürgeruniversität aufgreifen, die als Forum des Dialogs und Zusammenwirkens von Wissenschaft und Gesellschaft konzipiert ist. Die Autoren verbindet daher das Ziel, anspruchsvolle Wissenschaft auf möglichst ansprechende Weise zu vermitteln und ein Forschungsgebiet zu erschließen, das in Deutschland abseits der Sportwissenschaft und Medizin bislang eine eher randständige Position eingenommen hat. Mit den in diesem Buch versammelten Aufsätzen möchten wir dazu beitragen, die kultu-

der ersten Laufmaschinen und die erste mehrtätige Radreise der Weltgeschichte zu erinnern (vgl. DSH 2018). 15 »Struggling with poor circulation and an uncertain future after only three years in operation, the Tour breathed new life into L’Auto almost immediately, tripling circulation in the first five years, from 25,000 in 1903 to 65,000 in 1906; by the 1920s, circulation passed 250,000 copies, peaking at 500,000 copies per day during the race itself.« (Grant Long 2012: 362f.) 16 Diesem Aspekt widmet sich die 2017 in Jerusalem eröffnete internationale Wanderausstellung »BIKE IT – vom Laufrad zum Lebensgefühl«, die bis Mai 2019 im Universum Bremen gezeigt wird (vgl. Universum Bremen 2018).

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relle und soziale Relevanz einer Forschung herauszustellen, welche die Besonderheiten von Phänomenen erschließt, Problemlagen erfasst, sie zur Diskussion stellt und hiermit zur öffentlichen Meinungsbildung beiträgt. Die Vorträge unserer Vélomanie-Reihe ebenso wie die aus ihnen entstandenen Diskussionen und Gespräche lassen erkennen, dass es sich auch weiterhin lohnen dürfte, den Radsport, aber auch andere Sportarten, in den Fokus einer interdisziplinär arbeitenden Wissenschaft zu nehmen. Mit der Düsseldorfer Vortragsreihe und dem vorliegenden Buch verbinden sich mehrere Fragestellungen und Themenschwerpunkte, die im Folgenden kurz angerissen werden sollen. Zunächst kam es uns darauf an, einem deutschen Publikum die Tour de France als Teil der französischen Kultur und ihre Bedeutung für das nationale Selbstverständnis näherzubringen. Warum ist die Tour in Frankreich ein Mythos? Und warum ist Rennradfahren in Frankreich so populär? Die Beantwortung dieser Fragen soll dazu beitragen, in Zeiten wachsender Sprachlosigkeit zwischen Deutschland und Frankreich über die (Sport-)Kultur unserer Nachbarn zu informieren. Nicht ohne Grund lautete 2017 das Motto der Frankfurter Buchmesse, bei der Frankreich Gastland war, »Fremde Freunde«. Aus dem großen Interesse vieler Franzosen an der Tour de France leitet sich die zweite Frage ab: Welche Spuren hinterlässt das Radrennen in der französischen Kultur, speziell in Literatur und Film? Hier vermitteln die Autoren Einblicke, die aus einer deutschen Perspektive oft überraschen, denn viele französische Romane, Chansons, Gedichte und Comics (Bandes Dessinées) beschäftigen sich mit der Tour und dem Radfahren, ebenso wie der Film und andere Medien. Auch zeigt sich, wie sehr die technische Entwicklung des Fahrrads und die Popularität des Radfahrens den französischen Wortschatz bereichert hat. Ein dritter Themenkomplex informiert über die Regeln, denen die Tour de France folgt, damit sie als Event erfolgreich ist und im Sinne der Gewinnmaximierung optimal vermarktet werden kann. Fachleute aus den Bereichen Sportmarketing, Wirtschaft, Werbung und Tourismus wie auch Spezialisten aus der Medienwissenschaft und der Rechtswissenschaft geben in ihren Analysen zu erkennen, warum die Tour de France zu einem Erfolgsmodell wurde. Ein Buch zur Tour de France und dem Radsport wäre unvollständig, wenn nicht auch die sportwissenschaftliche Perspektive berücksichtigt würde. So finden sich ebenfalls Beiträge, in denen die positiven Effekte des Radfahrens und die Anforderungen des Radsports an den Körper ebenso angesprochen werden wie die Frage nach der Vergleichbarkeit der Leistungsparameter von Radprofis und Hobbysportlern.

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Vélomanie startet mit Hans Theo Siepes Aufsatz »Die Tour de France – ein nationaler Mythos?«. Siepe weist nach, wie bedeutsam die identitätsstiftende Funktion des Rennens für das französische Kollektivbewusstsein ist. Seine Ausführungen, die auch auf die Geschichte der Tour eingehen, geben zu erkennen, wie sehr die nationale Symbolik bei der Planung des Rennens einbezogen wurde. Über die Heroisierung der Fahrer hinausgehend spielen auch die nationale Geschichte und die Geografie des Hexagons eine große Rolle bei der Schaffung eines nationalen Mythos. Die zunehmende Kommerzialisierung des Radsportevents, so Siepe, bringt es ebenso wie die Dopingskandale mit sich, dass die mythische Legendenbildung allmählich verblasst. An diese Ausführungen schließt sich die Untersuchung von Andreas Gelz nahtlos an. »Helden der Landstraße? Die Tour de France im Spiegel der französischen Literatur – ein Überblick« lautet der Titel seines Beitrags, welcher der Frage nachgeht, wie französische Autoren durch ihr dramaturgisches, erzählerisches und rhetorisches Geschick Sportler zu Legenden stilisieren und durch ihre Texte dazu beitragen, dass die Tour de France zum Mythos wurde. Untersucht wird weiterhin, über welche Eigenschaften diese Helden der Landstraße in der Literatur unseres Nachbarlandes verfügen müssen, damit sie zu Ausnahmepersönlichkeiten erhoben werden können. Gelz weist aber auch auf die desillusionierende Funktion einiger Texte hin, die ein ambivalentes Bild der Sportler zeichnen, indem sie kritische Positionen vertreten und damit eine entheroisierende Wirkung entfalten. Eine in Deutschland kaum bekannte Form der französischen Literatur, die sich mit der Tour de France beschäftigt, steht im Mittelpunkt des Beitrags von Frank Leinen, »Histoire(s) de la Grande Boucle. Die Tour de France in der französischen Bande Dessinée«. Wie der Roman, so überrascht auch die in Frankreich sehr populäre Bande Dessinée mit einer Vielzahl von Bänden, in denen die Geschichte der Tour und ihre Protagonisten mythifiziert werden. Andere Werke, die vor allem in den letzten Jahren erschienen sind, dekonstruieren diese Mythen in einer kritischen Perspektive. Sehr beliebt sind Bandes Dessinées, in denen das Renngeschehen den Rahmen für witzige und humorvolle Geschichten bietet. Unter ihnen sticht Perrosʼ Thematisierung der Tour hervor, da er schon in den fünfziger Jahren grotesk erscheinende Betrügereien zeichnete, die inzwischen von der Realität eingeholt wurden. Das vormals unbefangene Lachen über seine Geschichten erhält einen bitteren Beigeschmack. Sieglinde Borvitz widmet sich in »›Les Français ne croient plus au Maillot Jaune‹. Radsport im französischsprachigen Film« einem anderen populären Medium. Sehr beliebt seien Komödien, in denen sich der Underdog gegen alle Widrigkeiten durchsetzen könne, wie in La Grande Boucle oder Le vélo de Ghislain Lambert. Doch auch diese Unterhaltungsfilme gingen zumindest am Rande auf

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die Ökonomisierung des Sports, die Macht der Medien und das Doping ein. Im Mittelpunkt stehen diese dunklen Seiten des Radsports in dem Drama La petite reine, dessen kanadische Protagonistin in einem Teufelskreis gefangen ist: Die ökonomisch verwertbare Publicity-Wirkung ihrer Rennerfolge, der Wunsch nach medialer Präsenz und Anerkennung durch das Publikum sowie das Doping verstärken sich wechselseitig bis zu dem Moment, an dem sie überführt wird und ihre Karriere beenden muss. Die filmische Darstellung dieser negativen Seiten des Sports, so Borvitz, kritisiere die Perversion des Leistungsdenkens im Zeichen des Neoliberalismus. Dies gebe auch der Animationsfilm Les triplettes de Belleville zu erkennen, der die Ausbeutung der Rennfahrer mit einer medialen Selbstreflexion verknüpfe. Der Radsport erscheine in dieser Perspektive als ökonomisch verwertbares Spektakel, da er den Gesetzen der spätkapitalistischen Medienindustrie folge. Einen neuen Blick auf das Radfahren entwickelt der von Vittoria Borsò verfasste Beitrag »Vélomanie – Zur Sinnlichkeit eines technischen Objektes«. Ausgehend von der Beobachtung, dass das Fahrrad zum Symbol einer besseren Zukunft im Zeichen der individuellen Freiheit wurde, stellt die Autorin fest, dass es inzwischen als Sinnbild eines neuen Lebensgefühls und Lebensstils in Erscheinung tritt. Angesichts der ökologischen Krise, aber auch aufgrund seiner ästhetischen Dimension, welche die imaginierte Sinnlichkeit des technischen Objekts mit dem Freiheitsgefühl vereint, vermag das Fahrrad mit dem Auto zu konkurrieren, das nur mehr als Dinosaurier einer veralteten Mobilitätskultur erscheint. Das Fahrrad, so die von Borsò vertretene Überzeugung, zeigt in paradigmatischer Weise, wie sich Technik, Kultur und Ökologie zum Wohle des Menschen verbinden können. Wie in dem letztgenannten Aufsatz deutlich wurde, lädt das Fahrrad als technisches Objekt, aber auch das Fahrradfahren als solches zu philosophischen Reflexionen ein. Dies führt Gottfried Vosgerau und Eva-Maria Jung zu der Frage: »Wer weiß am meisten über das Radfahren? Eine Unterscheidung verschiedener Formen des Wissens«. Nach der grundsätzlichen Klärung des Problems, was unter »Wissen« zu verstehen ist, widmen sich die Autoren dem Unterschied zwischen propositionalem und phänomenalem Wissen, um sodann zu klären, was »Können« bedeutet. Aus ihren Überlegungen leiten Vosgerau und Jung ab, dass ein guter Trainer nicht unbedingt ein guter Sportler (gewesen) sein muss. Er sollte aber die Fähigkeit besitzen, sein propositionales Wissen mit seinem phänomenalen Wissen verknüpfen und diese Wissensinhalte möglichst anschaulich erklären zu können. Vergleichbares gilt für Sportreporter, die im Idealfall ebenfalls über beide Wissensformate verfügen.

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Mit der medialen Vermittlung des Geschehens während der Frankreichrundfahrt beschäftigen sich zwei Beiträge dieses Bandes. Holger Ihle und Jörg-Uwe Nieland sind die Autoren von »Die Tour de France und die Medien – Annäherungen an den Sportjournalismus im Zeitalter der Medialisierung«. Die Berichterstattung über das Rennen dient ihnen als Präzedenzfall für die Diskussion der Herausforderungen, denen sich der Sportjournalismus und die Sportkommunikationsforschung stellen müssen. So erscheine der Sportjournalismus einerseits als Teil des Großspektakels Tour de France. Andererseits habe er seine kritische Distanz etwa zu den Skandalen zu behaupten, die immer wieder mit dem Rennen in Verbindung gebracht werden. Ihle und Nieland weisen nach, wie eng der Sport in das gesellschaftliche Mediensystem eingebunden ist, und wie sehr er von der Erwähnung in den Medien profitiert. Aufgrund der Tatsache, dass der ökonomisch verwertbare Unterhaltungscharakter des Sports eine immer größere Rolle spiele, müsse der Sportjournalismus der klassischen Medien auch dieses Phänomen kritisch betrachten. Zu fragen bleibe nicht zuletzt, wie groß die Mitschuld der Medien an Dopingproblemen sei. Während die Sportkommunikationsforschung diese Frage intensiv erörtere, sei eine entsprechende Selbstreflexion seitens der Sportmedien bislang kaum wahrzunehmen. Ausgehend von der Tatsache, dass die Tour de France zu den sports megaevents zählt, untersucht Christian Tagsold, wie es den Organisatoren, Medien und Journalisten gelingt, ein Narrativ des Rennens zu entwickeln, das seinen ökonomischen Mehrwert steigert. »Der Sport-Medien-Komplex und die Tour de France«, so der Titel seines Beitrags, liefert vielfältige Einblicke in die Funktionsweisen dieses Komplexes, die nach außen hin sehr sorgfältig abgeschirmt werden. Wie deutlich wird, schrieb der Sport, und in ganz besonderem Maße die Tour de France, von jeher Mediengeschichte mit. Am Beispiel des Grand Départ lasse sich die Einflussmacht des Sport-Medien-Komplexes auf die Politik, die Fernsehanstalten und ihre Journalisten nachweisen. Eine rigide Akkreditierungspolitik gewährleiste die Ausformung eines affirmierenden Diskurses über das Rennen. So wirkten Sportreporter eher als Fans denn als kritische Beobachter des Geschehens, damit das Geschäftsmodell der Tour de France, von dem sie auch selbst abhängen, weiterhin funktionieren könne. Wie in den beiden letztgenannten Beiträgen deutlich wurde, spielt die mediale Verwertung der Tour de France eine große Rolle, da die Organisatoren mit ihrer Hilfe die ökonomische Verwertbarkeit des Rennens optimieren möchten. In diesem Zusammenhang ergibt sich auch eine juristische Dimension, die Rupprecht Podszun in »Unfair play? – Die Vermarktung des Sports und das Recht« beleuchtet. Ausgehend von der Kommerzialisierung der Tour stellt er die Frage, wie es

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den Organisatoren mit rechtlichen Mitteln gelingt, eine möglichst große Wertschöpfung abzusichern. Podszun vermittelt aufschlussreiche Einblicke in die gut geölte Maschinerie der Tour de France und in jene Konfliktfelder zwischen den Sportlern, ihren Agenten und den Organisatoren, die aus der Sportberichterstattung weitestgehend ausgeblendet bleiben. Die durch das Recht zu regelnden Sachverhalte reichten von der Gesundheit der Athleten bis hin zur Frage, ob die Ausrichtung eines Radrennens in der Innenstadt für die Anwohner noch sozialadäquat sei – entsprechende Diskussionen wurden 2016 auch in Düsseldorf während des Probelaufs zur Tour, dem Race am Rhein, geführt. Privatrechtliche Aspekte sowie Fragen des öffentlichen Rechts, des Wirtschaftsrechts, des Arbeitsrechts, des Fernsehrechts, des Kartellrechts und nicht zuletzt des Strafrechts werden anhand einer Reihe spektakulärer Rechtsfälle erläutert. Podszun weist dabei auf mehrere Problembereiche hin, in denen juristischer Verbesserungsbedarf besteht. Dass einige Sportverbände über eigene Schiedsgerichte verfügen, deren Unabhängigkeit in Frage stünde, sei aus juristischer Sicht ein Problem, um dessen Lösung auch auf europäischer Ebene gerungen werden müsse. Auch sportwissenschaftliche Aspekte wurden im Rahmen der Vortragsreihe angesprochen. Wer sich bei nicht enden wollenden Steigungen oder heftigem Gegenwind jemals die Frage nach der eigenen Leistungsfähigkeit stellte, der dürfte den Aufsatz von Achim Schmidt mit großem Gewinn lesen. »›Schnecke‹ gegen ›Rennpferd‹? – Leistungsparameter von Radprofis und Hobbyradsportlern« informiert unter anderem darüber, welchen Anteil das Training am Erfolg hat, und welche Rolle genetisch bedingte Faktoren spielen, die man schlicht und einfach als Talent bezeichnen kann. Die Rolle des Alters, der Körpergröße und des Gewichts werden bei der Analyse ebenso berücksichtigt wie die Herzfrequenzen bei verschiedenen Rennformaten und andere Parameter wie Stoffwechsel, Hormone, Leistung, Trittfrequenz und Treteffizienz bei männlichen wie weiblichen Radsportprofis. Ihnen werden die Belastungskennziffern von Jedermannrennfahrern und Hobbyradsportlern gegenübergestellt. Während Jedermannsportler bei entsprechendem Trainingsaufwand durchaus das Niveau von Radprofis erreichen könnten, bliebe dieses Ziel für Hobbyradsportler, die weniger systematisch trainierten, in weiter Ferne. Der Traum vom Gelben Trikot wird sich für sie nie erfüllen, aber darauf dürfte es ihnen vermutlich auch nicht ankommen. Ihnen ist viel wichtiger, dass Radfahren Freude macht und fit hält. Diesen Aspekt betont Ingo Froböse in seinem Beitrag »Tour der Leiden – gesund oder doch ungesund?«. Froböse weist zunächst darauf hin, welche Leistungen die Tour de France den Körpern der teilnehmenden Sportler abverlangt. Zugleich macht er darauf aufmerksam, wie wichtig eine richtige Ernährung für Hoch-

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leistungssportler ist. Im Fokus seiner Ausführungen stehen sodann aber die Alltagsfahrer, deren Zahl sich steigern ließe, wenn alle Parameter, die das Fahrradfahren zum Vergnügen machen, optimiert würden. Froböse gibt hierzu eine Vielzahl praktischer Tipps, von der richtigen Sattelform und -position bis hin zu einer ergonomisch korrekten Einstellung des Fahrrads. Seine Ausführungen unterstreichen, wie positiv sich das Fahrradfahren auf die Gesundheit auswirkt, wobei zu den sehr schnell eintretenden physiologischen Effekten schon nach kurzer Zeit auch psychologische Effekte treten. Froböse betont, dass für Alltagsfahrer wie für Leistungssportler neben dem Training die richtige Ernährung zur Leistungsoptimierung beiträgt. Entsprechend gibt er eine Reihe von Ratschlägen zur oft unterschätzten Bedeutung einer angemessenen und ausgewogenen Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr vor und nach dem Training. Nicht zu vergessen sei schlussendlich auch eine hinreichende Regeneration, die ebenfalls helfe, dass die Freude am Radfahren lange erhalten bliebe. Dass Radfahren großes Vergnügen bereiten kann, bestätigt der Beitrag von Jean Pruvost, den Mona Wodsak ins Deutsche übertragen hat. »Von Stahlrössern, Drahteseln und anderen Rädern – immer eine runde Sache!« lautet der Titel seines Essays. Nach einigen launigen Erinnerungen an die ersten schönen, zum Teil aber auch schmerzhaften Erfahrungen, die der kleine Jean und später der heranwachsende junge Mann mit seinem Fahrrad machte, widmet sich Pruvost einer seiner besonderen Leidenschaften, wenn er erläutert, wie sehr die Geschichte des Radfahrens und die Entwicklung des Radsports die Sprache und Literatur geprägt haben. Der Lexikograf und Kulturwissenschaftler nennt zahlreiche Beispiele dafür, wie schnell sich seit dem 19. Jahrhundert mit dem technischen Fortschritt verschiedene Moden und Trends, aber auch die Bezeichnungen für die Neuerungen änderten, welche der Fahrradmarkt für die Käufer bereithielt. Auch wenn einige französische Schriftsteller wie Émile Zola begeisterte Radfahrer waren und das Radfahren sehr bald in die Literatur Eingang fand, sahen manche Vertreter der schreibenden Zunft im Fahrrad ihren größten Konkurrenten: Wer Rad fährt, liest nicht, lautete ihr Vorwurf. Um abschließend an die Tour de France in Düsseldorf zu erinnern und den Lesern die Möglichkeit zu geben, die besondere Atmosphäre des Grand Départ ein wenig nachzuvollziehen, gibt der letzte Beitrag Ausschnitte eines durch den Eurosport-Radsportexperten Karsten Migels moderierten Podiumsgesprächs wieder. »Rückenwind für die Landeshauptstadt. Der Grand Départ als Chance für Düsseldorf« lautete das Thema des Abends, zu dem weiterhin die Projektleiterin des Grand Départ, Theresa Winkels, der Senior Manager Sponsoring & Hospitality Grand Départ, Christopher Schlenker, und der Düsseldorfer Radprofi Ruben Zepuntke eingeladen waren. Aus einer Insider-Perspektive heraus vermittelten sie

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informative Einblicke in die Planung eines solchen Mega-Events, die Erwartungen, die sich mit ihm verbanden und die außerordentlichen Herausforderungen, die es bei seiner Durchführung zu meistern galt. Als Herausgeber des vorliegenden Bandes hoffe ich natürlich, dass die am Ende des Beitrags von Jean Pruvost wiedergegebene Vermutung, wer Rad fahre, lese nicht, von falschen Voraussetzungen ausgeht. Vielleicht wissen gerade Vélomanie-Leser die Vorzüge des Radfahrens und des Lesens gleichermaßen zu schätzen? Wenn ihnen die in diesem Buch versammelten Beiträge neue Einblicke in das Faszinosum des Radsports, aber auch in seine Abgründe ermöglichen und neue Sichtweisen auf die Tour de France und das Radfahren vermitteln konnten, dann hat Vélomanie sein Ziel erreicht! Wenn sich darüber hinaus nach der Lektüre der eine oder andere Leser auf sein Fahrrad schwingt, um der Umwelt oder auch einfach nur sich selbst zuliebe in die Pedale zu treten, wäre dies umso besser! Zum Abschluss dieser Einleitung darf ich all jenen danken, ohne die das Vélomanie-Projekt unmöglich gewesen wäre. An erster Stelle sind die Autoren der hier publizierten Beiträge zu nennen. Ich habe viel von ihnen gelernt und werde mich immer sehr gerne an die angenehme Zusammenarbeit erinnern! Ein nicht minder großes Dankeschön geht an meine Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Bianca Morales García, sowie an meine beiden Wissenschaftlichen Hilfskräfte, Ann Kristin Siegers und Leonie Blume, für die ebenso fachkundige wie geduldige Unterstützung bei der Redaktion des Bandes. Mit diesem Team zusammenarbeiten zu können, war mir eine große Freude! Ganz besonders danken möchte ich der Gesellschaft von Freunden und Förderern der Heinrich-Heine-Universität für die Finanzierung der Vorträge und die Übernahme der Druckkosten. Diese großzügige Förderung des Projekts war mir eine große Verpflichtung und ein besonderer Ansporn. Das letzte Wort des Dankes richtet sich aber an jemanden, der hiermit vermutlich überhaupt nicht rechnet: Lieber Moritz, Dir danke ich, dass Du mich mit Deiner Vélomanie infiziert hast. Das gemeinsame Radporttraining von Vater und Sohn gehört zu den schönsten Erfahrungen meines Lebens – auch wenn ich Dir inzwischen selbst im Windschatten nicht mehr folgen kann. Die rote Laterne werde ich wohl nie mehr abgeben, aber die Freude am Radsport bleibt!

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LITERATUR BMVI, Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (2018a): »Nationaler Radverkehrsplan«, online verfügbar unter: https://nationaler-radverkehrsplan.de/de/bund/foerderung-des-radverkehrs [Zugriff: 28.11.2018]. BMVI, Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (2018b): »Stadtradeln 2018 – 60 Millionen Kilometer für mehr Radförderung und Lebensqualität«, online verfügbar unter: https://nationaler-radverkehrsplan.de/de/ aktuell/nachrichten/stadtradeln-2018-60-millionen-kilometer-fuer-mehr [Zugriff: 28.11.2018]. DSH, Deutsche Sporthochschule Köln (2018): »Mit der Laufmaschine nach Paris«, online verfügbar unter: https://www.dshs-koeln.de/aktuelles/meldungenpressemitteilungen/detail/meldung/mit-der-laufmaschine-nach-paris/ [Zugriff: 28.11.2018]. Duden (Red.) (2007): Munzinger Online/Duden – Das große Fremdwörterbuch, 4., aktualisierte Auflage, Berlin: Bibliographisches Institut GmbH, online verfügbar unter: https://www.munzinger.de/search/go/document.jsp?id=D500001400 [Zugriff 30.12.2018]. Düsseldorf (2017): »Grand Départ. Häufige Fragen: ›Was will Düsseldorf mit der Ausrichtung des Grand Départ erreichen?‹«, online verfügbar unter: https://www.duesseldorf.de/letour/haeufige-fragen.html#c122255 [Zugriff: 28.11.2018]. Düsseldorf (2018): »Radschlag. Düsseldorf tritt an. Besser ankommen!«, online verfügbar unter https://www.duesseldorf.de/radschlag/radhauptnetz.html [Zugriff: 28.11.2018]. Französische Botschaft (2016): »Tour de France – eine runde Sache«, online verfügbar unter: https://de.ambafrance.org/Tour-de-France-auch-wirtschaftlich [Zugriff: 28.11.2018]. Grant Long, Judith (2012): »Tour de France: a taxpayer bargain among mega sporting events?«, in: Wolfgang Maennig/Andrew Zimbalist (Hg.), International Handbook on the Economics of Mega Sporting Events, Cheltenham, UK/ Northampton, MA: Edward Elgar, S. 357-385. Greenpeace (2018): »Radfahrende schützen – Klimaschutz stärken. Sichere und attraktive Wege für mehr Radverkehr in Städten«, online verfügbar unter: https://www.greenpeace.de/presse/publikationen/radfahrende-schuetzenklimaschutz-staerken [Zugriff: 28.11.2018].

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ISI, Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (k.A.): »Infoblatt 3/5: Kürzere Wege«, online verfügbar unter: http://www.ntm.isi-projekt.de/wissprojekt-wAssets/docs/ntm-downloads/ infoblaetter/fhs_Infoblatt_3.pdf [Zugriff: 28.11.2018]. Langenscheidt (Red.) (2018): Langenscheidt Wörterbuch, online verfügbar unter: https://de.langenscheidt.com/franzoesisch-deutsch/v%C3%A9lo#v%C3% A9lo [Zugriff: 30.12.2018]. Le Monde (2016): »Quelle audience pour le Tour de France?«, online verfügbar unter: http://ecosport.blog.lemonde.fr/2016/10/20/quelle-audience-pour-letour-2017/ [Zugriff: 28.11.2018]. Pressedienst Fahrrad (2018): »Die Fahrradwelt: Zahlen, Daten, Fakten«, online verfügbar unter: https://ilovecycling.de/querbeet/die-fahrradwelt-zahlendaten-fakten/ [Zugriff: 28.11.2018]. Presseportal (2011): »Rheinische Post: Düsseldorfer Oberbürgermeister verteidigt Kosten für Eurovision Song Contest«, online verfügbar unter: https://www. presseportal.de/pm/30621/1752789 [Zugriff: 05.12.2018]. Radverkehr in Deutschland (2014): »Radverkehr in Deutschland: Zahlen, Daten, Fakten«, online verfügbar unter: http://edoc.difu.de/edoc.php?id=XHBUO619 [Zugriff: 28.11.2018]. RP-Online (2015): »Die wichtigsten Fragen und Antworten zum Tourstart in Düsseldorf«, online verfügbar unter: https://rp-online.de/nrw/staedte/duesseldorf/tour-de-france-2017-in-duesseldorf-fragen-und-antworten_aid-9212829 [Zugriff: 28.11.2018]. RP-Online (2017a): »NRW zahlt nicht für Mehrkosten des Grand Départ«, online verfügbar unter: https://rp-online.de/nrw/staedte/duesseldorf/tour-de-france2017-nrw-zahlt-nicht-fuer-mehrkosten-des-grand-depart-in-duesseldorf_aid17938621 [Zugriff: 28.11.2018]. RP-Online (2017b): »Verhandlungen über Kosten der Tour de France«, online verfügbar unter: https://rp-online.de/nrw/staedte/duesseldorf/verhandlungenueber-kosten-der-tour-de-france_aid-17814883 [Zugriff: 28.11.2018]. RP-Online (2017c): »Tour de France wird für Düsseldorf teurer als angenommen«, online verfügbar unter: https://rp-online .de/nrw/staedte/duesseldorf/ tour-de-france-wird-fuer-duesseldorf-teurer-als-angenommen_aid-17938637 [Zugriff: 28.11.2018]. Stadtradeln (2018): »Gewinnerstatements 2018«, online verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=aJxsSdeC_cQ [Zugriff: 28.11.2018]. Umweltbundesamt (2016): »Radverkehr«, online verfügbar unter: https://www.umweltbundesamt.de/themen/verkehr-laerm/nachhaltige-mobili taet/radverkehr#textpart-4 [Zugriff: 28.11.2018].

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Universum Bremen (2018): »BIKE IT: Vom Laufrad zum Lebensgefühl«, online verfügbar unter: https://universum-bremen.de/bike-it/ [Zugriff: 28.11.2018]. Zellmer, Andreas/Spieker, Thomas P. (2015): »Stadtrat stimmt mit rechten Stimmen für Tour-Start«, in: welt.de, online verfügbar unter: https://www.welt.de/regionales/nrw/article148534397/Stadtrat-stimmt-mit-re chten-Stimmen-fuer-Tour-Start.html [Zugriff: 28.11.2018].

Die Tour de France ‒ ein nationaler Mythos? Hans Theo Siepe

Abbildung 1: Frankreich-Stereotypen

Quelle: https://sites.arte.tv/karambolage/de/karambolage-438-1-juli-2017-karambolage

PROLOG (IM RADSPORT AUCH ALS AUFTAKTRENNEN BEZEICHNET) Die Gruppierung der französischen Rechten im Europaparlament unter Führung von Marine Le Pen, der Präsidentin des damaligen Front National,1 hatte im Oktober 2016 bei der Bekanntgabe des Streckenverlaufs der Tour de France und des Startorts Düsseldorf eine Stellungnahme mit dem Titel »Tour de France ou Tour de l’Union européenne?« (Communiqué ENL 2016) abgegeben, in welcher 1

Seit dem 01. Juni 2018 nennt sich die Partei Rassemblement National.

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der Grand Départ in Deutschland und die Streckenführung zunächst durch Belgien und Luxemburg zum Anlass genommen wurden, diese Praxis der Tour de France als »dénaturé« (ebd.), also als »entartet« zu kennzeichnen. Das Rennen solle vielmehr die Schönheit des nationalen Kultur- und Geschichtserbes Frankreichs zur Geltung bringen. Frankreich müsse wieder Frankreich werden, und die Tour de France müsse von Anfang bis Ende (Sponsoren eingeschlossen) die Tour de France bleiben, das heißt ein ausschließlich französisches Ereignis (vgl. ebd.).2 Einige Hinweise zur Klarstellung dieser Äußerungen in nationalistischer Perspektive sind sogleich angebracht: Die Tour de France 1949 führte durch Belgien, die Schweiz, Italien und Spanien; 1954 wurde erstmals im Ausland, in Amsterdam, gestartet, 1958 in Brüssel, 1965 in Köln, 1980 in Frankfurt/Main, 1987 in Berlin usw.; Düsseldorf war 2017 schon der 22. Startort außerhalb Frankreichs. Natürlich dienen diese Auslandskontakte der Tour de France auch der promotion des Ereignisses über Frankreich hinaus und der promotion für Frankreich, doch sie entsprechen auch einer neuen Sicht: Im Gegensatz zur Tour de France in ihren ersten 50 Jahren seit 1903 ist die Tour nach dem Zweiten Weltkrieg auch zu einem Symbol der Völkerverständigung geworden, und regelrecht zu einer »Tour de France et d’Europe« (nicht »de l’Union européene«) über die Grenzen des Hexagons hinaus mutiert. Soviel zunächst zum Adjektiv »national« im Titel, und nun zum Substantiv »Mythos«, mit einem doppelt literarischen, von Erinnerungen geprägten Auftakt. Den Anfang macht Alfred Guldens Rückblick auf die vierziger/fünfziger Jahre in seinem Roman Ohnehaus:

2

»Tour de France ou Tour de l’Union européenne? Les Français passionnés de cyclisme devront patienter avant de découvrir les coureurs sur les routes de la grande boucle. En effet, le Tour de France 2017 partira d’Allemagne pour gagner ensuite la Belgique et le Luxembourg… Année après année, le Tour de France se trouve ainsi dénaturé, alors qu’il devrait mettre avant tout en valeur la beauté du patrimoine naturel et historique de notre pays. L’an dernier, il était subventionné par le vin chilien, insulte inqualifiable à l’égard de nos viticulteurs et des difficultés qu’ils connaissent. La France doit redevenir la France, et non plus un simple élément du substrat indigeste bruxellois. Et le Tour de France rester, du début à la fin, sponsors compris, le Tour de France!« (Communiqué ENL 2016) Das Bild am Anfang des Beitrags (Abbildung 1) kann mit dem Verweis auf das dauerhafte Klischee des Franzosen mit Baskenmütze und Baguette vor Kirche und Schloss oder Rathaus als ironische Stellungnahme zu solchen Ideen verstanden werden.

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»Und meine Begeisterung für das Radrennen der Radrennen, die Tour de France, tobte ich auf alten Damenrädern, schweren Herrenrädern mit breiten Reifen und, wenn es hochkam, mit Dreigang aus. Fausto Coppi und Gino Bartali: Die Heroen! Unsere Vorbilder, wenn wir, die Mützen verkehrtherum, auf unseren Rädern, gebückt gegen den Wind, einen Hügel hinunter oder einen Hügel hinauf hoch aus den Sätteln in die Pedale traten und auf Pappe ihre Namen in Krakelschrift auf unseren Rücken trugen.« (Gulden 1991: 107)

Der französische Schriftsteller Louis Aragon hatte früher schon einmal zum Mythos der Tour vermerkt: »Le Tour… je l’ai vu passer un peu partout en France : en Bretagne, sur la Côte d’Azur, dans les Alpes … […]. Le Tour… C’est la fête d’un été d’hommes, et c’est aussi la fête de tout notre pays, d’une passion singulièrement française : tant pis pour ceux qui ne savent en partager les émotions, les folies, les espoirs ! Je n’ai pas perdu cet attrait de mon enfance pour ce grand rite tous les ans renouvelé. Mais j’appris à y voir, à y lire autre chose : autre chose qui est écrit dans les yeux anxieux des coureurs, dans l’effort de leurs muscles, dans la sueur et la douleur volontaire des coureurs. La leçon de l’énergie nationale, le goût violent de vaincre la nature et son propre corps, l’exaltation de tous pour les meilleurs… La leçon tous les ans renouvelée et qui manifeste que la France est vivante, et que le Tour est bien le Tour de France.« (Aragon 1998: 48)

Die beiden Auszüge, die den besonderen Stellenwert der Tour de France bezeugen, ihre mythische Ausstrahlung, haben mit vergangenen Zeiten zu tun, doch auch heute heißt es noch: »Atemberaubende Landschaften, aufgeladene Orte, zu Helden stilisierte Fahrer: Die Tour de France steckt voller Mythen, Legenden und Ikonen« – so 2017 zu lesen in der Werbung zur Ausstellung Mythos Tour de France im NRW-Forum Düsseldorf, die in ihrem Titel eine eindeutige Festlegung formuliert: Die Tour de France ist ein Mythos. Was kann unter einem Mythos verstanden werden? Es lassen sich in den Wissenschaften vielfältige Sinngebungen des Begriffs feststellen, und der Schriftsteller Urs Widmer hat es einmal polemisch auf den Punkt gebracht: »Der Begriff des […] Mythos ist dehnbar, ich weiß eigentlich nicht so recht, was nicht dazu gehört.« (Widmer 1972: 21) Was sind also die »mythes actuels« (George Sorel) oder »mythes modernes« (Louis Aragon) oder »mythes de la vie quotidienne française« (Roland Barthes)?3 Zunächst einmal kann man ganz allgemein mit Ernst Cassirer festhalten, dass der Mythos als Objektivierung einer sozialen Erfahrung des Menschen, nicht seiner individuellen Erfahrungen zu verstehen

3

Vgl. zu diesem Komplex unter anderem Bohrer 1983.

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ist, als Projektion kollektiver Hoffnungen oder auch Ängste, als eine einer Gruppe gemeinsame Funktion des Weltbegreifens (vgl. Cassirer 1925: 19). Mythen sind also kollektive Anschauungsmuster. Und mit Roland Barthes kann angeführt werden, »que le mythe a pour charge de fonder une intention historique en nature, une contingence en éternité« (Barthes 1970: 229), also etwas dadurch zu überhöhen, dass man es nicht als gemacht, sondern als naturgegeben und unumstößlich begreift. So wird dabei Subjektives objektiviert, und letztlich kann alles zum Mythos geraten. Mythen haben auch einen intentionalen Charakter, das heißt sie sind zielgerichtet auf die Konstituierung einer für eine Gruppe gemeinsamen Sicht, die wiederum die Gruppe bestätigt. Die Tour de France ist aber nicht nur als Mythos zu erfassen, sondern auch als einer der französischen Erinnerungsorte (»lieux de mémoire«). In, mit und an diesen Orten macht nach Pierre Nora4 eine Gesellschaft ihre Erinnerungen fest, und sie nimmt diese als Teil ihrer eigenen Konstitution wahr. Dabei kann es sich um topografische, mit Gebäuden verbundene Orte handeln, aber auch um symbolische und funktionelle Fakten, auf die sich einen Teil der Geschichte gründet. Gemeint sind also Objekte, Personen und Ereignisse, die eine Erinnerungskultur konstituieren. Auch könnte man von Kollektivsymbolen sprechen, die sich aus ihrer sozialhistorischen oder auch technohistorischen Relevanz ergeben haben.5

ETAPPE 1: DIE TOUR DE FRANCE HAT MIT FRANKREICH ZU TUN ‒ ALS NATIONALE LEIDENSCHAFT, MYTHOS UND ERINNERUNGSORT Die Tour de France ist in den Augen der Rechten also eine Leidenschaft des Nationalen, was nicht (oder jedenfalls nicht mehr) stimmt. Sie ist aber nach wie vor eine nationale Leidenschaft (vgl. Vigarello 1989), und dafür gibt es mehrere

4

Siehe dazu das von Pierre Nora herausgegebene siebenbändige Monumentalwerk Les

5

Siehe dazu Scholler 2011, der sich bei seiner Erörterung zur Tour de France mit dem

lieux de mémoire (Nora 1984-1992). Begriff »Kollektivsymbol« auf Jürgen Link beruft: »Unter Kollektivsymbolen möchte ich Sinn-Bilder (komplexe, ikonische, motivierte Zeichen) verstehen, deren kollektive Verankerung sich aus ihrer sozialhistorischen, z.B. technohistorischen Relevanz ergibt, und die gleichermaßen metaphorisch wie repräsentativ-synekdochisch und nicht zuletzt pragmatisch verwendbar sind.« (Scholler 2011: 35)

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Gründe. Die Tour de France lebt mit ihren Erinnerungen, gehört zu den »lieux de mémoire« und ist Teil des französischen Kulturerbes, des patrimoine. Abbildung 2: Cover Nora

Quelle: Nora 2005

So ist es bezeichnend, dass auf dem Schutzumschlag der deutschen Auswahlausgabe von Pierre Noras monumentalem Werk Les lieux de mémoire die Tour de France eine Hintergrundfolie bildet vor zentralen Figuren und Orten Frankreichs, wie zum Beispiel Charles de Gaulle, René Descartes, Jeanne d’Arc und der Champ de Mars mit dem Eiffelturm um 1900. In diesem Buch findet sich auch der für die Frage nach einem Mythos der Tour de France wichtigste Beitrag, der von dem Historiker und Sozialwissenschaftler Georges Vigarello stammt und von dem ich im Folgenden einige Ausführungen aufgreife (vgl. Vigarello 2005). Seit ihrem Beginn 1903 wurde die Tour de France (mit Ausnahme der Kriegszeiten) zu einer jährlichen Tradition: eine feste, vertraute Größe, ein kollektiver Besitz. Die Schleife um Frankreich, La Grande Boucle, führte früher einmal an den natürlichen Grenzen Frankreichs entlang und hatte zu Beginn auch schon, ob gewollt oder nicht, einen kollektiven Hintergrund: das millionenfach in der Dritten Republik verbreitete Schul- und Hausbuch Le Tour de la

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France par deux enfants von G. Bruno (Pseudonym für Augustine Fouillée, Frau des französischen Philosophen Alfred Fouillée). In diesem Buch brechen zwei zu Waisen gewordene Kinder aus dem von Deutschland besetzten Elsass auf, und eine Rundreise durch Frankreich auf der Suche nach Verwandten lässt sie ihr Vaterland entdecken. »Donner à l’enfant l’idée nette de la patrie […], de son territoire et de ses ressources« (Bruno 1877: 4), heißt es dazu im Vorwort. Auch die Tour de France hat mit der Aneignung des Heimatbodens zu tun, und dies ist ein erster zentraler Aspekt bei ihrer Mythenbildung: Die Strecke umreißt ein Gebiet. Sie inszeniert es und spielt mit seinen Symbolen, wie etwa dem Symbol des Hexagons. Abbildung 3: Streckenplan 1927

Quelle: https://fr.wikipedia.org/wiki/Tour_de_France_1927

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Abbildung 4: Die Tour de France formt Frankreich Vigarello, der auch auf die Traditionen der Königreisen, der Wanderschaft der Handwerksgesellen und der Bildungsreise verweist, stellt für die Geografie unter dieser durch die Tour de France erneuerten Tradition drei Merkmale heraus: die Weite des Landes, seine Schönheit und seine natürlichen Schutzwälle. Zur Aneignung des Heimatbodens tritt zur Tour de France auch noch die Vergangenheit hinzu, denn jede Etappe bietet Gelegenheit, an die Geschichte zu erinnern: »Der Tour-Kommentator zitiert geschichtliche Daten wie ein Reiseführer, nennt Ereignisse zu den Orten, die die Tour berührt, ohne weitergehende Absicht als die, an die Existenz einer Vergangenheit zu erinnern. […] Die Botschaft lautet: Frankreich, ein Land der Geschichte« (Vigarello 2005: 460), auch einer volkstümlichen Geschichte. Und an dem Radrennen haben ebenso die politischen Institutionen teil: Quelle: Laget (1990)

»Die Anwesenheit von Vertretern des Staates macht die Tour schließlich zu einem offiziellen Ereignis: In den Etappenzielen warten […] Bürgermeister und Unterpräfekten.« (Ebd.: 464) So hat die Grande Boucle im Jahr 1960 dem damals seit einem Jahr fungierenden Staatspräsidenten Charles de Gaulle in Colombey-les-deux-Eglises ihre Reverenz erwiesen, und auch im Jahr 2017 fuhren die Radsportler diesen symbolischen Ort wieder an. Die Tour de France umgibt sich mit einer nationalen Symbolik und mit besonderen Ritualen, wobei auch historische Monumente in die Streckenführung einbezogen werden.6 Der Mythos der Tour de France ist vielleicht vor allem ein Mythos des Extremen und des Leidens, und seit ihrer Anfangsära ist das Rennen mit einem

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Dieser Aspekt verdient eine eigene Untersuchung, ebenso der Zusammenhang von Technikentwicklung und Industrialisierung in Frankreich zur Zeit der Dritten Republik, welche von Anfang an zur Popularität der Tour beigetragen haben. Zu Letzterem siehe Hinrichs/Kolboom/Neyer 1986 sowie Krause 1986.

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Heldenkult verbunden. Bis in die Gegenwart hat kein anderes Sportereignis die pure Schinderei und Leidensfähigkeit so sehr zum System erklärt wie die Tour de France: Im Jahr 2016 waren es über 3500 Kilometer in 21 Etappen: Zeitfahren, neun Bergetappen mit 28 Pässen, Sprints, Hagel, Nebel, Hitze, Regen, Massenstürze. Die Tour ist Tortur, die Tour de France ist eine »Tour de souffrance«,7 und die Rennfahrer müssen vor allem eins können: mit Zähigkeit und Härte durchhalten. Darin liegt von Anfang an ein großer Teil des Mythos des populären Radrennens begründet. Ein kurzer Blick zurück: Die Teilnehmer, die sich zu den ersten Rennen meldeten, waren »Proletarier und Kleinbürger, Schlosser, Söhne von Pachtbauern, Arbeiter und Metzgergehilfen aus den Vororten von Paris. Sie müssen ein schmerzlich hohes Startgeld in Höhe von zehn Francs aufbringen, sie werden unterwegs schlecht untergebracht und karg verköstigt; dennoch ist diese Schleife rund um das Land ein Aufbruch, eine Bewegung – und für die Fahrer eine ungeheure Chance, aus dem Nichts an Sieg und Geld und Ruhm zu kommen. […] So lässt sich die Tour auch lesen als sportliche Metapher für den erbitterten Ehrgeiz und Aufsteigerwillen des Kleinbürgertums; das Radrennen, ausgetragen auf jenem Vehikel, das erstmals eine erschwingliche Mobilität beschert, ist gleichzeitig eine politische Demonstration.« (Hoppe 1991: 49, 52)

Damit trifft das Radrennen den Nerv eines großen Teils der Franzosen. Ein breites Publikum feiert die Helden und Sieger, aber auch die tragischen Verlierer wie zum Beispiel Eugène Christophe. Nachdem er zunächst einen Riesenvorsprung herausgefahren hatte, verlor Christophe ihn wegen eines Gabelbruchs in den Pyrenäen. Als er in einer Dorfschmiede seine Gabel selbst wieder zusammenschweißte – laut Reglement durften die Fahrer keine fremde Hilfe in Anspruch nehmen –, wusste er, dass er als Letzter über die Ziellinie fahren würde. Die Heroisierung der Fahrer ist also neben den Komponenten Geografie und Geschichte das dritte und vielleicht wichtigste Moment bei der Begründung eines Mythos der Tour de France. Von Anfang an dramatisierten Reportagen das Geschehen mit der überschwänglichen Herausstellung von Helden als großartige Kämpfer, Giganten der Landstraße, »géants de la route« (Calvet 1981), die über das normal Menschliche hinausreichen. So wurde das Rennen schon früh zu einem populären Heldenepos, und die Tour bekam ihre eigene Heldengalerie von Gewinnern und auch Verlierern. Zu ihren wichtigsten Narrativen zählen großmütige Taten, die selbst in härtesten Konkurrenzsituationen vollbracht werden. »Das Neue besteht darin, dass die Tour die Männer zu legendären Gestalten 7

So auch der Titel eines frühen Romans zur Tour de France (vgl. Reuze 1925).

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macht, die die großen Berge bezwungen haben, […] aber die Fahrer sind ganz normale, einfache Männer […] und doch anders, vergleichbar und doch etwas Besonderes.« (Vigarello 2005: 465) Darin spiegelt sich auch eine kollektive Fantasie wider: einmalige Helden, nah und fern zugleich, ungreifbar und doch vertraut. Namen wie Fausto Coppi, Gino Bartali, Louison Bobet, Charly Gaul, Eddy Merckx, Raymond Poulidor oder Jacques Anquetil gehören in das Pantheon der Erinnerung und in eine solche Heldengeschichte. Für Frankreich hat insbesondere das fortwährende Duell der beiden letztgenannten Sportler, die mit vollem Körpereinsatz um den Sieg kämpften, einen mythischen Charakter erhalten. Abbildung 5: Das Duell zwischen Poulidor und Anquetil

Quelle: http://www.cpauvergne.com/2014/06/duel-poulidor-anquetil-au-puy-dedome.html

Jacques Anquetil aus der Normandie hat die Tour de France zwar fünfmal gewonnen (1957, 1961, 1962, 1963, 1964) – wie später Eddy Merckx, Bernard Hinault und Miguel Indurain –, doch war der stets kühl-distanzierte Maître Jacques in der breiten französischen Öffentlichkeit nie so populär wie sein Rivale Raymond Poulidor aus dem Limousin. Der in Frankreich nur Poupou genannte Poulidor konnte sich zwischen 1962 und 1976 immerhin achtmal auf dem Podium der Tour de France platzieren, aber er konnte das wichtigste Etappenrennen der Welt kein einziges Mal als Sieger beenden oder auch nur einmal das Gelbe Trikot tragen. Trotz (oder vielleicht auch gerade wegen) dieses Images als ewi-

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ger Zweiter war Poulidor zu seiner aktiven Zeit der populärste Sportler Frankreichs, vor seinem großen sportlichen Rivalen Jacques Anquetil. Das Land war geteilt in Anquetilistes und Poulidoristes, und diese Debatte beflügelte noch mehr den besonderen Stellenwert der Tour de France zu dieser Zeit. Der Semiologe Roland Barthes hat die Tour de France Ende der fünfziger Jahre zu den Mythen des Alltags gezählt, in seinem Buch Mythologies, in dem er Gewohnheiten und Leitbilder des menschlichen Zusammenlebens untersucht, kurz, das Funktionieren sozialer Symbole, Kollektivsymbole. Das Kapitel über die Tour de France als Epos eröffnet er mit Erörterungen zu den Namen der Rennfahrer, genauer, zu ihren personalisierten und heroisierenden Beinamen. Die Tour de France hat für ihn den Charakter eines literarischen Epos, das von Göttern und Helden in dynamischen Kämpfen und Auseinandersetzungen mit der Welt handelt. Barthes gelangt zu folgendem Schluss: »Je crois que le Tour est le meilleur exemple que nous ayons jamais rencontré d’un mythe total, donc ambigu; le Tour est à la fois un mythe d’expression et un mythe de projection, réaliste et utopique tout en même temps. Le Tour exprime et libère les Français à travers une fable unique où les impostures traditionnelles (psychologie des essences, morale du combat, magisme des éléments et des forces, hiérarchie des surhommes et des domestiques) se mêlent à des formes d’intérêt positif, à l’image utopique d’un monde qui cherche obstinément à se réconcilier par le spectacle d’une clarté totale des rapports entre l’homme, les hommes et la Nature. […] Ceci n’empêche pas le Tour d’être un fait national fascinant, dans la mesure où l’épopée exprime ce moment fragile de l’Histoire où l’homme […] prévoit tout de même à sa façon une adéquation parfaite entre lui, la communauté et l’univers.« (Barthes 1970: 119)

Vor der zweiten Etappe möchte ich noch – wie man im Radsport sagt – einen Ausreißversuch starten. 1965, im Jahr nach den vier aufeinanderfolgenden Gesamtsiegen von Jacques Anquetil im Wettstreit mit Raymond Poulidor, erschien der fünfte Band der populären Astérix-Serie als Le Tour de Gaule d’Astérix, in deutscher Übersetzung dann fünf Jahre später als Tour de France.

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Abbildung 6: Le tour de Gaule d’Astérix

Abbildung 7: Tour de France

Quelle: https://www.asterix.com/la-collection/les-albums/le-tour-de-gaule-d-asterix/

Dieser Comic hat nicht nur die Begeisterung der Zuschauer für dieses Rennen gerade in jenen Jahren der größten französischen Tour-Erfolge aufgegriffen, sondern auch ganz sicherlich zur weiteren Konstituierung und Konsolidierung eines nationalen wie auch internationalen Mythos der Tour de France beigetragen.

ETAPPE 2: DIE TOUR DE FRANCE HAT IMMER WENIGER MIT DEM ZU TUN, WAS SIE EINMAL WAR Nach wie vor lässt noch ein anderer Aspekt die Tour de France zu einer passion française werden: Es ist die Karawane der Werbefahrzeuge, welche seit 1930 dem Peloton vorausfährt und einen Teil des Gesamtspektakels darstellt. Der Sport vermischte sich dabei mehr und mehr mit den Werbebotschaften der Industrie, sodass sich Konsum- und Freizeitgesellschaft schon früh ankündigten (vgl. Vigarello 2005: 468). »Les stars ne sont pas seulement les coureurs, c’est

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aussi les caravanes publicitaires« (Quella-Guyot 2016b), hieß es dazu 2016 in einem Artikel zu den offiziellen Zahlen rund um die Tour de France.8 Abbildung 8: Werbekarawane

Abbildung 9: Werbekarawane

Quelle: Pommier 2013

Die Werbekarawane sorgt in Frankreich vielleicht mehr für die Unterhaltung der Zuschauer als das Rennen selbst, Geschenkartikel werden in ungeheuren Massen verteilt. Im Jahr 2016 waren 170 Fahrzeuge beteiligt und 14 Millionen Produkte wurden in die Menge geworfen (darunter 2 Millionen der seit Proust als besonders französisch geltenden Madeleine-Plätzchen, die – man lese und staune – als »goodies« verteilt wurden, wie auf einer Internetseite zur Tour-Karawane nachzulesen ist [vgl. Quella-Guyot 2016a]). »Die Werbekarawane mit ihren kleinen Geschenken, auf die sich die Fans stürzen, ist genauso wichtig wie die Tour de France selbst. Da sind die karierten Enten von Cochonou und ihre Wurstwerfer, das gelbe Auto des Nesquick-Maskottchens, der gepunktete Smart von Carrefour, der riesige Löwe und das gelbe Trikot des Crédit Lyonnais.« (Horner 2013)

Diese Werbekolonne fährt eine Stunde voraus, und schon lange vorher stehen viele Zuschauer an den Straßenrändern, um dieses Ereignis mitzubekommen. Danach geht man oftmals zum Picknick über, um sich beim Genuss meist landestypischer Spezialitäten die Zeit bis zum Vorbeirauschen der Fahrer zu vertreiben. »Partout où passe le Tour de France, c’est la fête, c’est dimanche, / C’est dimanche de la France«, heißt es in dem Text »TOUR DE FRANCE«, den 1952 der damals sehr populäre Chansonnier Charles Trenet verfasst hatte und der im

8

Quella-Guyot 2016b informiert ausführlich über die Gesamtorganisation der Werbekarawane.

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Juli 1983 erstmals zur Tour de France in der großen Sportzeitung L’Équipe veröffentlicht wurde. Und weiter ist dort zu lesen: »On distribue des chapeaux en papier, Des mirlitons, des savonnettes, On voit passer Georges Briquet9 On voit même des coureurs à bicyclette. Maman, voilà le maillot jaune canari, Voilà Coppi, Bartali et Geminiani Et puis voilà, ils sont passés, Y’en a jusqu’à l’année prochaine. Il reste des prospectus froissés Sur la route comme une traîne, Sur la route des Tours passés.« (Trenet 1983)

Das Vergnügen rückt in den Mittelpunkt, wie es ein Tour-Direktor 1963 einmal ausdrückte: »Es ist ein Fest im wahrsten Sinn, das heißt die Gelegenheit für jeden, den Alltag zu unterbrechen, seine Sorgen zu vergessen, an Orte zu fahren, wo ein fröhliches und attraktives Schauspiel geboten wird, das schön und bunt ist, fesselnd, attraktiver Mittelpunkt einer Präsentation des kommerziellen Einfallsreichtums dank der Werbekarawane, die die langen Wartezeiten rechtfertigt und ausfüllt und in den Etappenzielen ihre leuchtenden Stände aufbaut.« (Vigarello 2005: 469)

Nicht nur mit diesem Werbespektakel, sondern auch mit den Firmenmannschaften, den Logos auf den Trikots und der dauernden Werbung an den Strecken ist die Tour de France zu einem Konsummodell geworden, bei dem nicht zuletzt die Fahrer selbst immer mehr von ihrer Identität verlieren und zu Werbeträgern werden. Die Tour de France ist dennoch mehr als nur eine Sportveranstaltung unter anderen, auch nicht vergleichbar mit dem Giro d’Italia, der Vuelta a España oder der Deutschlandrundfahrt.10 Ihre Besonderheit kann nicht in dem Vorbeira9

Briquet galt als König unter den Radioreportern.

10 Die Popularität des Radsports ist in Frankreich weitaus größer als zum Beispiel in Deutschland (auch wenn die folgenden Statistiken unpräzise sein mögen und nicht hinreichend differenzieren zwischen Sportinteresse, Sportpraxis und Radfahren in der

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sen der Fahrer gesehen werden. Denn die Tour de France war nicht gemacht, um nur kurz gesehen zu werden. Sie war von Anfang an dafür gedacht, mit weitreichenden Vorstellungen und Anschauungsmustern verbunden zu werden, ausgehend von den Berichten in den Zeitungen und im Radio. »Die Tour lebt durch die Berichterstattung, mehr als durch die Beobachtung am Straßenrand, sie ist Erzählung von Ereignissen.« (Vigarello 2005: 476) Mit den dann später durch das Fernsehen übertragenen Bildern gibt es im Laufe der Entwicklung einen anderen Rezeptionsmodus, der die Tour heute profaner macht, entmystifiziert, mehr banalisiert und zu einem Sportprodukt werden lässt. Gleichwohl fasziniert sie in Frankreich auch weiterhin Millionen an der Strecke und an den Bildschirmen, die den Kampf der Ausreißer, den Einsatz der »Domestiken« und die Strategien der Mannschaftskapitäne verfolgen, die aber auch via Fernsehen immer wieder die Inszenierung der Dörfer, Städte und Landschaften entdecken.11 Die Zeit aber hinterlässt unweigerlich ihre Spuren am nationalen Mythos, auch wenn einige seiner dominierenden Züge noch bestehen bleiben. »Die Tour lebt aus und durch die Verbundenheit mit einem Territorium. Sie hält eine bestimmte Sicht der Vergangenheit hoch: Frankreich als Land der Erinnerung und der großen Geschichte. Sie feiert die Einheit des Landes und die Großartigkeit seiner Landschaften. Insofern ist die Tour die Inszenierung eines Territoriums, des in Raum und Zeit verankerten nationalen Erbes. Dies vermittelt ein homogenes, verlockendes, schützendes Bild.« (Vigarello 2005: 479)

Dies schrieb Vigarello im Hinblick auch auf die Legendenbildung, auf die Superlativen, auf die Tour-Geschichte und deren Verklärung oder unter Verweis auf das kollektive Gedächtnis, allerdings zu einem Zeitpunkt, der vor dem Ein-

Freizeit). In einer Umfrage aus dem Jahr 2016 nach dem »sport préféré« teilt sich der Radsport zusammen mit Tennis den fünften Platz (hinter Wandern, Rugby, Schwimmen und Fußball) (vgl. Gougis 2016); beim »sport pratiqué« liegt der Radsport (11,8 Millionen) sogar an dritter Stelle nach Laufen und fast gleichauf mit Schwimmen (12,7 Millionen) (vgl. Malnoy 2016). In Deutschland hingegen ist im gleichen Zeitraum das (passive) sportliche Interesse angeführt von Fußball, Boxen, Skispringen und Autorennsport auf den vorderen Rängen, und der Radsport folgt erst auf Platz zwölf (vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/171072/umfrage/sportartenfuer-die-besonderes-interesse-besteht/). 11 Zur grundsätzlichen Frage, warum die Zuschauer am Sport Gefallen finden, vgl. Gumbrecht 2005, insbesondere die Kapitel »Gegenstände des Gefallens« (S. 98-135) und »Zuschauer« (S. 136-150).

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bruch durch die großen Dopingskandale lag, mit denen sich auch in Frankreich manches geändert hat.12 Abbildung 10: Die Tour hat nicht nur ihre Fans

Quelle: Pécout 2013

Es ist nicht so, wie es dieses Bild andeuten mag, dass der Franzose seither der Tour unbeteiligt gegenübersteht. Es ist nun aber nicht mehr so, dass weiterhin von einem Helden-Mythos gesprochen werden kann, dessen Strahlkraft weit über die Landesgrenzen hinausreichte, bevor die Tour de France von einem ehemals nationalen Mythos immer mehr zum weltweit verfolgten Sportprodukt geworden ist, das auch die Vermarktung der Start-, Etappen- und Zielorte impliziert. Daher werden auch alle Städte, welche die Rundfahrt beherbergen wollen, kräftig zur Kasse gebeten. Das niederländische Utrecht, das den Grand Départ 2015 ausrichtete, musste einen siebenstelligen Betrag investieren. In Düsseldorf wird es 2017 beim Start der Tour de France nicht weniger gewesen sein. So bewegt sich das Radrennen zwischen Mythos, Ökonomie und Stadtmarketing.

12 So unterscheidet heute der Autor Frédéric Vitoux in den von Jérôme Garcin herausgegebenen, von Roland Barthes inspirierten Nouvelles Mythologies zwischen »bicyclette« und »vélo« und verabschiedet einen Mythos der Tour de France: »Le Tour de France se dispute à bicyclette. Mais qui s’intéresse au Tour de France, à l’heure où ses champions gorgés d’EPO sont moins vite couronnés que déchus? Bref, la bicyclette est morte. Reste le vélo. Le vélo est une idée neuve. Du moins dans les villes (à la campagne, on l’appelle le VTT). […] Adieu le mythe!« (Vitoux 2007)

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Man will den Werbewert des Events nutzen, auch im Hinblick auf die vielen Fernsehzuschauer in aller Welt, um den Tourismus anzukurbeln. Die Begeisterung für die Tour de France ist nach den Dopingskandalen in Frankreich deutlich zurückgegangen. Daran ist nicht zuletzt das Medium Fernsehen beteiligt, denn die Faszination der Helden verbreitete sich zunächst ausschließlich durch die Berichte und Erzählungen in den Zeitungen und im Radio. Die Unsichtbarkeit der herausragenden Aktionen und der Fahrer konnte in besonderem Maße die Imagination beflügeln. Wenn Franzosen heute die Übertragungen im Fernsehen verfolgen, dann ist ihr Interesse weniger geleitet von der stundenlangen Sicht auf ein Peloton als von der Sicht, welche die Kamera aus dem Hubschrauber auf die Städte und Landschaften vermittelt, die die Rennfahrer durchqueren. Doch interessiert die Tour de France deutlich weniger als noch vor einigen Jahrzehnten, der Einbruch der Zuschauerzahlen vor Ort und zu Hause an den Fernsehern ist markant. Dennoch stehen auch heute immer noch Millionen Menschen an der Straße, wenn die Tour durch die Lande zieht. Manchmal, besonders am Rande der flach verlaufenden Streckenabschnitte, lässt sich nur ein Sekundenblick auf die Vorbeirasenden werfen. Faszinierender sind da die Bergetappen der Alpen, des Mont Ventoux und der Pyrenäen mit dem Aufstieg zum Tourmalet von 18,3 Kilometern mit einem Höhenunterschied von 1415 Metern, bei denen eine enthusiastische Menge den Fahrern oft kaum noch ein Durchkommen lässt. Doch liegt seit den Dopingskandalen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte nur noch ein alter Glanz auf dem mehr als 100 Jahre alten Klassiker. Auch wenn die Tour de France das am meisten erwartete Sportereignis in Frankreich ist, besteht das Interesse hierfür weniger bei den jüngeren Franzosen als bei den Senioren, für welche das Bild des Rennens weiterhin von Erinnerungen an vergangene Touren geprägt ist.13 Erinnerungen der Franzosen nicht nur an die großen und kleinen Helden, an die besonderen Siege und Etappen, sondern auch an die eigene Vergangenheit im Horizont des Radrennens. Erinnerungen an den fünfmaligen Toursieger Jacques Anquetil zu Beginn der sechziger Jahre, an den fünfmaligen Toursieger Bernard Hinault in den siebziger und achtziger Jahren sowie den zweifachen Toursieger Laurent Fignon in den achtziger Jahren (der 1989 nach insgesamt 3285 gefahrenen Kilometern tragischerweise um nur acht Sekunden dem US-Amerikaner Greg LeMond unterlag). Erinnerungen daran, dass von den zehn Touren zwischen 1975 und 1985 acht Siege an französische Rennfahrer gingen. Dies konsolidierte eine mythische Dimension und eine kol13 »Le Tour de France reste l’événement sportif le plus attendu par les Français (37 %). Il l’est particulièrement chez les plus de 50 ans (49 %) et les hommes (46 %).« (K.A. 2017)

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lektive Sicht auf die Tour de France, welche dagegen seit 1985, also jetzt seit über 30 Jahren, keinen französischen Sieger mehr kennt, während in den 25 Jahren davor fast zwei Drittel der Gesamtsieger aus Frankreich kamen. Ein Beitrag des deutsch-französischen Fernsehsenders ARTE kommentierte dies 2013 wie folgt: »Ach, der schönen Tour de France geht es wie dem schönen Frankreich… Man kann einfach nicht anders, als die letzten Zuckungen der Tour de France und die wachsende Gleichgültigkeit, die ihr die Franzosen entgegenbringen, mit dem Verlust von Frankreichs Glaubwürdigkeit und Macht auf der internationalen Bühne ganz allgemein zu vergleichen… Doch bleiben wir positiv. Jedes Jahr wird das Rennen als die ›Tour der Erneuerung‹ angekündigt, und dieses Jahr wird das ganz bestimmt so sein!« (Horner 2013)

ZIELANKUNFT Die Tour in einer auf Frankreich bezogenen mythischen Dimension (mit den drei Konstituenten Geografie, Geschichte und Helden) lebt heute vielfach von ihrer Erinnerung, bleibt so aber doch ein »lieu de mémoire« und Teil des patrimoine, auch wenn dieses frühere Epos für jedermann immer mehr zwischen Doping und Sponsoren gerät und nicht mehr im kollektiven Mythenbereich Frankreichs angesiedelt ist, sondern im Event- und Produktbereich: Spektakuläre Leistungen für ein Spektakel, das auch für die vielen Touristen (vor allem im Süden Frankreichs) aus den an dem Rennen beteiligten Nationen zu einem Sommerfest wurde. Was einmal ein nationaler Mythos war, wurde anderen internationalen Großereignissen wie den Olympischen Spielen und Fußball-Weltmeisterschaft vergleichbar zu einem europäischen Sportevent, wenngleich es als jährlich immer wieder erneutes Ritual nach wie vor mit Frankreich assoziiert wird und Frankreich immer noch im Mittelpunkt steht. So findet auch seit eh und je die Zielankunft in Paris, dem Zentrum Frankreichs, statt. Dort wird die letzte Etappe der Tour de France mit mehrfachen Umrundungen des Arc de Triomphe und der Champs-Élysées zelebriert. Also flog bei der Tour 2017 der ganze Trupp von Akteuren, Helfern und Organisatoren vom vorletzten Etappenort Marseille direkt vor die Tore von Paris, um dort dann – wie es immer war ‒ die letzte Etappe abzuschließen (bei welcher der Gesamtsieger zumeist schon vorher feststeht und dieser letzte Renntag in der französischen Hauptstadt eigentlich nur noch symbolhaft ist). Bei dem Start 2017 in Düsseldorf hatte die Stadt auf ihrer offiziellen Internetseite auf eine »Tour de France in Klein-Paris« (https://www.duesseldorf.de/

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letour.html) verwiesen und verlauten lassen: »Düsseldorf – eine Metropole die das ›savoir vivre‹ kultiviert« (https://www.letour.fr/fr).14 Solche Anlehnungen an Paris und Frankreich haben zwar nichts mit dem Rennen zu tun, versuchen aber, an die entsprechenden Mythen anzuknüpfen. Da mag dann eher an die weltbekannte Düsseldorfer Kultband Kraftwerk erinnert werden, deren Platte »Tour de France« aus den achtziger Jahren, also aus einer Hochzeit dieses Fahrradrennens, mit einem Video zur Tour de France in Erinnerung bleibt, in dem die Musiker auch in Rennfahrer-Trikots zu sehen sind:15 »L’enfer du Nord Paris-Roubaix (Tour de France, Tour de France) La Côte d’Azur et Saint-Tropez (Tour de France, Tour de France) Les Alpes et les Pyrénées (Tour de France, Tour de France) Dernière étape : Champs-Élysées (Tour de France, Tour de France) Galibier et Tourmalet (Tour de France, Tour de France) En danseuse jusqu’au sommet (Tour de France, Tour de France) Pédaler en grand braquet (Tour de France, Tour de France) Sprint final à l’arrivée (Tour de France, Tour de France) Crevaison sur les pavés (Tour de France, Tour de France) Le vélo vite réparé (Tour de France, Tour de France) Le peloton est regroupé (Tour de France, Tour de France) Camarades et amitié (Tour de France, Tour de France).« (https://genius.com/Kraftwerk-tour-de-france-lyrics )

Dass die Kraftwerk-Formation dann auch zum Tour-Start in Düsseldorf 2017 mit einem 3D-Bühnenprogramm und einer Neuauflage dieses Stücks aufgetreten ist und damit gewissermaßen auch den früheren Videoclip modernisierte,16 schlägt einen Bogen zurück in eine Zeit, in der die Tour de France noch als nationaler Mythos gelten konnte.

14 Die beiden Seiten von 2017 sind dort leider nicht mehr aufrufbar. 15 Siehe Warner Music Germany 2017. 16 Zum Konzert siehe zum Beispiel Jäckel-Engstfeld 2017 oder Holstein 2017.

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Helden der Landstraße? Die Tour de France im Spiegel der französischen Literatur – ein Überblick Andreas Gelz

DER RADSPORT ALS MYTHOS? Wenn man von der Tour de France als dem wohl berühmtesten Radrennen der Welt spricht, dann ist in den einschlägigen Medien, aber auch in der Literatur im gleichen Atemzug oft auch von den Helden der Landstraße die Rede, den Rennfahrern, die die Tour erst zu jenem Mythos gemacht haben, als der sie lange Zeit wahrgenommen worden ist. Man heroisiert die Radrennfahrer dabei nicht nur, weil sich Heldengeschichten gut verkaufen – so ist die Tour de France 1903 wie im Übrigen auch der Giro d’Italia 1909 von der Sportpresse ins Leben gerufen worden, die somit selbst das Sportereignis begründet, das ihr zur Nachricht wird und zur Auflagensteigerung oder, in den Zeiten audiovisueller Medien, zur Erhöhung der Einschaltquoten beiträgt. Die Rolle der Medien bzw. der Literatur ist vielmehr grundsätzlicher Natur, da der Sport als Phänomen einer Massengesellschaft ohne die Vermittlung der Medien im Grunde genommen nicht vorstellbar ist: »Tout le système de la course cycliste repose sur la complicité avec les médias. Si cette chaîne-là venait à se briser, c’en serait fini de la course. Si les journaux cessaient de publier les photos et les classements, si la radio cessait de prononcer le nom des équipes et de leurs sponsors, si la télé cessait de filmer les maillots et les panneaux publicitaires, la course s’arrêterait.« (Fournel 2008: 151)

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Das heißt, dass die Presse oder die Literatur nicht etwa, wie man meinen könnte, am Ruhm des Sporthelden teilzuhaben sucht, sondern dass man vielmehr umgekehrt behaupten kann, dass erst das Zusammenspiel von erzählerischen, dramaturgischen und rhetorischen Strukturen das sportliche Geschehen als sinnvolles Ereignis strukturiert und somit auch Helden produzieren kann.1 Medien und Literatur deuten dabei nicht nur das sportliche Ereignis, sie stellen auch das Gedächtnis der Tour dar, jenes Sportereignisses, das, in den Worten des berühmten Sportjournalisten und Literaten Antoine Blondin, die Geografie durchmisst, aber von seiner Geschichte getragen wird, bei dem Raum und Zeit eine Verbindung miteinander eingehen, um so etwas wie eine Topografie der Legenden, und das heißt auch der Helden entstehen zu lassen, eine moderne Mythologie (vgl. Blondin 1979: 18). Dieser misst Blondin eine zivilisationsstiftende Kraft bei: »Il s’en dégage cet enseignement que le cyclisme, qui associe des hommes à des paysages, des personnalités à des structures du sol et du climat, possède sa topographie légendaire. C’est assez dire qu’il est le foyer d’une civilisation transmissible […].« (Ebd.: 9) Doch sind es nicht allein außergewöhnliche Taten und Gesten, sein Kampf gegen Gegner und die Unbilden von Topografie und Natur, seine Bereitschaft zu leiden oder stoisch ertragene Niederlagen, die den Radrennfahrer zum Helden machen. Es bedarf eines Publikums, für das der Sportler aufgrund seiner überragenden körperlichen, psychischen wie mentalen Leistungen zur Projektionsfigur werden kann, welche seine Bedürfnisse, Wünsche und Fähigkeiten in übersteigerter und idealisierter Form verkörpert, ja mit der es sich identifizieren kann. Und in der Tat wird der Sport an der Wende zum 20. Jahrhundert zum Symbol für gesellschaftliche Entwicklungen der Moderne und der Sportler zum Inbegriff eines

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»Heldengeschichten handeln typischerweise von Verwandlungen und den Konsequenzen, die sich hieraus für die beteiligten Personen ergeben. […] Der Spitzensport ist für das Erzählen solcher Metamorphosen in besonderer Weise geeignet.« (Bette 2007: 258, Herv. i. O.) Die Rolle (literarisch begabter) Sportjournalisten, etwa die von Pierre Chany, wird dabei immer wieder hervorgehoben: »Comme Coppi routier complet, voilà Chany amorti sous les manies transformistes du chroniqueur. Et cette gloire spéciale de faire meilleur récit des meilleurs cas humains; les coureurs ignorent la nature de leurs exploits tant qu’ils ne sont pas affrontés au miroir de Chany. C’est au matin des courses, lisant L’Équipe tandis que le masseur passe sur les jambes un voile de pommade, qu’ils découvrent la qualité exacte de leur tabac. […] Chany devient le champion naturel des chroniques nées sous le vent. Comme Coppi, il fixe le geste dans un tableau.« (Bordas 2008: 40)

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neuen dynamischen, leistungsorientierten Menschenbildes.2 Gerade der Radsport wird dabei zum Ausdruck der für die Moderne typischen Verbindung von Mensch und Maschine. Alfred Jarrys Roman Le surmâle (1902) wäre hierfür ein frühes Beispiel, eine Art nietzscheanische Fantasie über neue Formen von Männlichkeit, über einen neuen Übermenschen, dessen Leistungsfähigkeit sich in einem Radrennen gegen einen Zug manifestiert.3 Auch die Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind zu nennen, wie etwa der Futurismus, bei dem Sport, Technik und der athletische Körper eine Verbindung im Zeichen gesellschaftlicher Erneuerung eingehen und in dessen Manifest ein neues Schönheitsideal ausgerufen wird: »una bellezza nuova: la bellezza della velocità. Un automobile da corsa col suo cofano adorno di grossi tubi simili a serpenti dall’alito esplosivo…un automobile ruggente, che sembra correre sulla mitraglia, è più bello della Vittoria di Samotracia.« (Marinetti 1968: 10)

Man denke auch an die futuristische Malerei und Skulptur eines Umberto Boccioni (Dinamismo di un ciclista, 1913) oder an Bilder der russischen Avantgarde wie diejenigen Natalia Gontcharowas (zum Beispiel Der Radfahrer, 1913). Die Tour de France ist nicht zuletzt politischer Ausdruck des Selbstbewusstseins der

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»Some commentators, for example, saw sport as the key to national regeneration, a solution to physical and military weakness, demographic stagnation, and political and social divisions. For others, concerned with its disruptive impact on the social order, sport was on the contrary a contributing symptom of France’s multifaceted decline.« (Thompson 2006: 9) Für eine weniger ambivalente Einschätzung vgl. auch: »La naissance du Tour de France se situe dans le contexte parisien et bourgeois de la Belle époque. Progrès industriel, métamorphose des moyens de locomotion, agonie de la civilisation aristocratique et rurale du cheval, patriotisme constituent des valeurs qui tendent à transformer les modes de vie. Le Tour de France fait partie des faits extraordinaires de ce début du XXe siècle qui suscitent admiration et stupéfaction.« (Gaboriau 1987: 9)

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»Most bicycle enthusiasts, like Baudry de Saunier, unabashedly celebrated ›the birth of a new human type, the cyclist‹ as the emblematic figure of modernity: ›The cyclist is a man made half of flesh and half of steel that only our century of science and iron could have spawned. An era that had invented the steam engine, the telegraph, the telephone, the phonograph, […] The bicycle is a machine that multiplies the ambulatory power of man.‹« (Thompson 2006: 27, Herv. i. O.) Über Le surmâle schreibt Birgit Wagner : »Il ne s’agit pas d’une compétition avec une machine, mais d’une compétition de deux ensembles formés par la machine et l’homme.« (Wagner 2005: 133f.)

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Arbeiterklasse und der populären gesellschaftlichen Schichten, deren harte Lebensbedingungen der Radsport in gewisser Weise wiederholt und gesellschaftlich sichtbar macht.4 Zugleich ist der sportliche Wettkampf und insbesondere die Tour de France infolge der Krise militärischer Heldenbilder nach dem Ersten Weltkrieg auch ein neues Feld heroischer Bewährung. Deshalb spricht Roland Barthes in einem berühmten Text aus den fünfziger Jahren von der Tour de France als einem Epos (»Le Tour de France comme épopée«), von der Heldengeschichte einer ganzen Nation,5 der Entstehung neuer, in den Medien sowie der Literatur vermittelter Narrative, die Sinn und Zusammenhalt stiften können. Die Tour stellt in der Formulierung Vigarellos eine »Heimatkunde auf Rädern« (Vigarello 2005: 452) dar und ist auch gerade deshalb identitäts- und gemeinschaftsstiftend, weil ihre Streckenführung mehr oder weniger ausgeprägt das französische Hexagon nachzeichnet bzw. im Sinne des Europagedankens Etappen auch außerhalb Frankreichs vorsieht.

DER RADSPORT ZWISCHEN JOURNALISMUS UND LITERATUR Wenn bisher von den Medien und der Literatur die Rede war, dann unter anderem auch deshalb, weil die enge Verflechtung von Sportjournalismus und Sportliteratur ein charakteristisches Merkmal der frühen Entwicklungsphase der Tour de France ist. Das gilt auch für die Autoren, die oftmals, um sie in ihrer Doppelrolle adäquat zu beschreiben, mit hybriden Begriffen wie poète-reporter (vgl. Bauer/Gomet 2008) bzw. écrivain reporter (vgl. Boucharenc 2004) bezeichnet werden, es findet sich auch der Begriff des écrivain sportif.6

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Vgl. auch: »The values of a modern industrial France, the dynamism and vibrant health of a courageous, working-class and sporting youth would be acted out thus around the battlements of the French hexagon in an ostentatiously processional circling of the country.« (Gaboriau 2003: 75)

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»[L]e Tour [est] un fait national fascinant, dans la mesure où l’épopée exprime ce moment fragile de l’Histoire où l’homme, même maladroit, dupé, à travers des fables impures, prévoit tout de même à sa façon une adéquation parfaite entre lui, la communauté et l’univers.« (Barthes 1957: 133)

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»On voit ce que recèle et trahit la formule de Duhamel: le sport est une chose primaire, et, au sens propre, ignoble; ses zélateurs ont tenté de le promouvoir dans le domaine de

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Schon die Autoren der Zwischenkriegszeit produzieren dabei teilweise jene Schlagworte und Deutungsmuster der Tour de France, die uns noch heute vertraut sind, wenn wir von der Tour und ihren Protagonisten sprechen. So verdanken wir Albert Londres, einem der Starjournalisten jener Jahre, der vor allem für seine politischen Reportagen bekannt wurde, den Begriff Les forçats de la route (1924), der Sträflinge der Landstraße, oder jenen der Tour de France – Tour de souffrance, Tour de France – Tour der Leiden. Hierbei handelt es sich um Begriffe, die die Vorstellung eines unausweichlichen, erzwungenen Leids transportieren, denen wir in anderer Form auch noch 2008 in der Überschrift von Philippe Bordas’ beeindruckendem Buch Forcenés, die Besessenen, begegnen. Es lohnt sich deshalb, diese erste bedeutende literarische Bearbeitung der Tour de France ein wenig genauer anzusehen, die in ihrer Darstellung der Ambivalenz des Radrennsports andere Texte der Zwischenkriegszeit, typische Sportromane wie André Reuzes Le tour de souffrance (1925) oder Le roi de la pédale von Paul Cartoux und Henri Decoin (1925), überragt. Albert Londres’ Beobachtungen der Tour vom 22. Juni bis zum 20. Juli 1924 aus einem Begleitwagen heraus erscheinen zunächst in der Zeitung Le Petit Parisien. Die Analogie zwischen dem Radrennen und dem Zeitungswesen ergibt sich dabei nicht zuletzt aus der episodischen, periodischen Struktur der jeweiligen Tagesetappen, der der tägliche Publikationsrhythmus der Presse entspricht. Sie basiert aber auch auf der kurzen Form sowie der von Londres gewählten notizenhaften bzw. telegrammartigen Schreibweise, welche die schnellen Bewegungen der Radfahrer und die momenthaften Beobachtungen des vorbeifliegenden Feldes widerspiegeln. Betrachtet man seine Texte als die Reportage von einer Tour in ihrer Gesamtheit, das heißt über die einzelnen Etappen hinweg, dann lassen sich mehrere Leitmotive ausmachen, deren durchgängige Gestaltung dem Leser das Radrennen in seiner Entwicklung und Dramatik als ein schicksalhaftes Ereignis sichtbar machen und die Veröffentlichung der Artikel in Buchform durchaus rechtfertigen. So beginnt die Tour de France als farbenfrohes Spektakel, der Text setzt mit der Beschreibung des Abendessens der Radfahrer vor dem Beginn des Rennens ein, das aufgrund der vielen Protagonisten in ihren bunten, lampionähnlichen Trikots mit einem vene-

la culture, de lui conférer des titres de noblesse, de lui agrafer une médaille honorifique. Ils l’ont décoré d’une littérature. Cette attitude est en effet le propre de certains ›écrivains sportifs‹ qui en sont venus à considérer le sport comme un sujet littéraire à part, et ont fini par créer le concept de ›littérature sportive‹ dans lequel cet adjectif ne désigne pas seulement le thème essentiel, mais suggère un changement de nature dans ce que désigne l’expression ainsi constituée, par rapport à la littérature tout court.« (Charreton 1985: 3, Herv. i. O.)

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zianischen Fest verglichen wird (vgl. Londres 2008: 9). Doch im weiteren Verlauf der Beschreibung der verschiedenen Etappen wechselt das Farbenspektrum in verschiedene Schattierungen von Grau und Schwarz als Folge des Staubs und des Schlamms, der die Fahrer rußig erscheinen lässt. Das vordem farbenfrohe Fest verdunkelt sich zusehends. Zu den weiteren wiederkehrenden Strukturelementen gehören die gebetsmühlenartige Wiederholung der Nummern der verschiedenen Fahrer, die Anzeichen für die Geschwindigkeit sind, welche ein Erkennen der Gesichter unmöglich macht. Strukturstiftend sind auch die Angabe der stetig abnehmenden Zahl der Fahrer, die täglich an den Start gehen (von 157 Fahrern beim Start der Tour kommen nur 60 am Ziel an) oder die ritornellartige Thematisierung der crevaison, der defekten Reifen, die eine der Hauptsorgen der Rennfahrer auf den damals häufig unbefestigten Straßen waren. All dies sind Elemente der Kohärenzsteigerung, einer Logik des Radrennens, die die verschiedenen Zeitungsartikel miteinander verbindet, sie als Einheit zu erkennen gibt und die zugleich die Unbarmherzigkeit der Strapazen, denen die Fahrer ausgesetzt sind, sichtbar werden lässt. Bestimmte und ihrerseits wiederkehrende Metaphorisierungen der Fahrer und des Rennens finden sich dabei bis in die Sportliteratur der Gegenwart. Dazu gehört der Gebrauch der Metapher der Sträflinge der Landstraße, des Kreuzwegs, des calvaire,7 den die Tour laut der berühmten Brüder Pélissier darstellt – Henri, »Henri de France«, hatte die Tour 1923 gewonnen –, derjenigen des Kreuzzugs8, des Märtyrertums (vgl. ebd.: 43), aber auch des Kriegs. So beschreibt Albert Londres, wie die ursprünglich weißen Radfahrkappen der Fahrer nach und nach verschmutzen, rote Flecken bekommen, und sie ihn zunehmend an den Verband verwundeter Soldaten erinnern: »elles ont l’air, sur le front de ces hommes, de pansements de blessés de guerre.« (Ebd.: 14) Londres findet dabei beeindruckende und äußerst prägnante Metaphern für den übermenschlichen, genauer gesagt, den unmenschlichen und bisweilen vergeblichen Kampf der Radfahrer gegen sich selbst und die Natur, vor allem gegen den Berg, wie den Col d’Aubisque: »L’effort les assomme: ils vont tous lentement, mais tête baissée, tel le bœuf qui s’apprête à recevoir le coup du boucher.« (Ebd.: 31) Der Anstieg auf den Tourmalet, einen der höchsten Pyrenäenpässe, wird wie folgt beschrieben:

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»Et encore, le chemin de Croix n’avait que quatorze stations, tandis que le nôtre en

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So werden die Radfahrer als Kreuzzügler, als »Les croisés du Tour de France« (ebd.:

compte quinze. Nous souffrons du départ à l’arrivée« (Londres 2008: 17f.) 21) bezeichnet.

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»Un kilomètre plus haut, la statue du désespoir apparaît: c’est un autre qui vient de crever. Il a retiré sa roue pour fixer le boyau neuf, il tient sa roue dans ses bras comme on tient un enfant pour qui l’on ne peut plus rien, mais que l’on se refuse à abandonner.« (Ebd.: 32)

Dabei ist sich Londres, und dies ist auch ein Zeichen der Qualität seines Textes, immer der Differenz zwischen Literarisierung und Ereignis bewusst und thematisiert diese Differenz auch explizit: »Ils attaquent le Tourmalet avec les mouvements de quelqu’un qui se jetterait la tête contre les murs. En langage de sport, peut-être que cela est beau; mais dans le langage des hommes, c’est simplement navrant.« (Ebd.) Beim Anstieg auf den Galibier scheinen sich für Londres die üblichen Bewegungen der Radfahrer sogar in ihr Gegenteil zu verkehren, insofern sie nämlich nicht länger in die Pedale zu treten scheinen: »ils ne semblaient plus appuyer sur les pédales, mais déraciner de gros arbres. Ils tiraient de toute leur force quelque chose d’invisible, caché au fond du sol, mais la chose ne venait jamais. Ils faisaient: ›Hein! Hein!‹ comme les boulangers la nuit devant leur pétrin.« (Ebd.: 47)

SPORTLICHE HERAUSFORDERUNG UND LITERARISCHE INNOVATION Es ist interessant zu beobachten, wie die von episodenhafter Wiederholung geprägte Natur des Radrennens paradoxerweise die literarische Innovation, für die hier einige Beispiele gegeben wurden, geradezu herausfordert. Zugleich gilt, dass die formalen Experimente auch eine Möglichkeit sind, sich mit traditionellen, mit der Darstellung des Radsports verbundenen Heldengeschichten und deren Elementen auseinanderzusetzen. Zu dieser Innovation gehört auch das gattungstheoretische Spannungsverhältnis von Londresʼ Text, der als eine Summe kurzer journalistischer Artikel oder als eine durch das einheitsstiftende Motiv der Etappenfahrt plausibilisierte literarische Verknüpfung und Ausarbeitung dieser Artikel gelesen werden kann. Dabei scheint die kurze Form der Dynamik des Radrennens, der flüchtigen Wahrnehmung der Rennfahrer und ihrer Bewegung insgesamt besonders zu entsprechen. Schon Paul Morand versuchte in den zwanziger Jahren in zwei seiner bekanntesten Novellenbände, Ouvert la nuit (1922) und Fermé la nuit (1923), die flirrende Atmosphäre der sich zusehends verdunkelnden Welt der années folles einzufangen. Dazu zählt auch die in einer der Novellen mit dem Titel La nuit des Six Jours thematisierte hitzige und mitreißende Atmosphäre im Velodrom, die überschlagende Begeisterung des Publikums, die rasende Bewegung der Fahrer, die er in

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gänzlich neuer Weise beschreibt. Die Novelle bleibt auch nach den 1920er Jahren eine privilegierte Form der literarischen Auseinandersetzung mit dem Radsport. Als Beispiel lässt sich Tristan Garcías Novelle Cycles aus dem mit dem Grand Prix de Littérature Sportive ausgezeichneten Band En l’absence de classement final (2012) anführen, auch wenn die Novellen dabei, wie in Paul Fournels Werk Les athlètes dans leur tête (1988, Prix Goncourt de la nouvelle 1989), in dem er die Gedankenwelt der Sportler vor oder während der sportlichen Höchstleistung auslotet, oft nicht mehr als eine bis drei Seiten, manchmal sogar nur einzelne Sätze, umfassen. Der Trend zu immer kürzeren Texten lässt sich auch bei anderen Gegenwartsautoren finden, wie zum Beispiel bei Philippe Delerm, der mit Textminiaturen und Kürzesterzählungen große Erfolge erzielt. In einem exklusiv dem Thema Sport gewidmeten Band mit dem Titel La Tranchée d’Arenberg et autres voluptés sportives (2007) wendet er sich unter anderem auch der Beschreibung des Rennens von Paris-Roubaix, der Tour de France und anderer Radrennen zu. Die formalen Experimente können dabei über die Frage nach der Länge und nach der Verknüpfung einzelner Texte samt ihrer ausschnitthaften Beobachtungen der Tour de France bis zum Versuch reichen, das Rad bzw. das Radrennen dergestalt in den Text zu integrieren, dass es zu einem Strukturelement einzelner Texte wird. Dies ist etwa in Jean-Bernard Pouys formal sehr ungewöhnlichen Buch 54 x 13 (1996) der Fall. Der Titel dieses Werkes, das zwei Etappen eines Teilnehmers der Tour de France aus dessen Innensicht beschreibt, verweist auf das Verhältnis der Anzahl der Zähne des vorderen großen Kettenblatts und eines Ritzels der hinteren Kassette, also auf die Übersetzung, die die Grundlage der Dynamik des Radfahrens darstellt und hier nun die Dynamik des Textes bestimmt. Die verschiedenen Kapitel sind mit aufsteigenden Zahlenkombinationen überschrieben, die beim Radfahren das Umschalten der Gänge meinen. In der literarischen Umsetzung verweisen sie auf das Umschalten zwischen inhaltlich verschieden ausgerichteten Kapiteln. Der Text geht dabei bis an die Grenzen nicht allein literarischer Gattungen wie im Fall von Novelle und sogenanntem microrécit, sondern des Literarischen überhaupt, wenn als Ausdruck des völlig erschöpften Rennfahrers, der nach einem Schlusssprint auf die Ziellinie zurast, nur noch einzelne Worte untereinander gereiht werden, die den Gedankenfetzen des Protagonisten entsprechen: »J’ai réagi en danseuse. Vingt mètres d’un coup. Dur. Le salaud.

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Pa-pa ma-man pa-pa ma-man, la flamme rouge, les cris, Bordeaux, ville de merde. Vingt mètres.« (Pouy 1996: 173)

HEROISIERUNG: WETTKAMPF UND OPFERKULT Die inhaltliche Weiterentwicklung der Literatur zur Tour de France seit der Zwischenkriegszeit könnte zunächst als Variation einiger der bereits während dieser Zeit verbreiteten Thematiken und Darstellungsmuster des Sports beschrieben werden, als Variation, bisweilen aber auch als reflexive, gegebenenfalls kritische Auseinandersetzung mit wesentlichen Bildern der Heroisierung des Radsports. Die je nach Streckenführung große räumliche Nähe einzelner Etappen der Tour de France zu Stätten kriegerischer Auseinandersetzungen des Ersten Weltkrieges kann dazu führen, dass es zu einer zeitlichen Überblendung unterschiedlicher historischer Ereignisse kommt und die Radfahrer nicht nur wie die bisher beschriebenen legendären Helden, sondern wie Soldaten einer schmerzhaft erfahrenen Gegenwart erscheinen. In Londresʼ bereits erwähntem Buch Les forçats de la route heißt es in diesem Zusammenhang: »On traversait des pays dont les noms n’étaient pas inconnus: Sedan, puis Lille, puis Armentières. Sur des plaques, on lisait Ypres, dix-sept kilomètres. Puis on franchit aussi l’Yser. Bref, cela nous rajeunissait de quelques années.« (Londres 2008: 53) Viele Jahre später begründet Philippe Delerm das große Publikumsinteresse an der tranchée d’Arenberg, eine Passage des Radrennens Paris-Roubaix, der sogenannten Hölle des Nordens, ähnlich: »La réponse est dans le nom lui-même: tranchée d’Arenberg. Tranchée, bien sûr: c’est du cyclisme à l’épique, une histoire de guerriers qui rêvent d’entrer dans l’histoire. Les couleurs bariolées ne sont là que pour contraste. Au-dessus du mouvement machinal des pédaliers flotte dans l’air brumeux la mélancolie des âmes grises.« (Delerm 2007: 47)

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Bei dieser Form der Heroisierung der Rennfahrer über die vorgestellte Nähe von Wettkampf und Krieg – so habe das Foto des verletzten André Leducq bei der Tour von 1930 Arno Breker zu seiner Skulptur Guerrier blessé inspiriert9 – steht die Leidensfähigkeit der Radrennfahrer im Vordergrund. Aber auch die Vorstellung des Märtyrertums, des Selbstopfers wird immer wieder abgerufen, jedoch teilweise schon von den Rennfahrern selbst kritisiert. Das in der Literatur wiederholt aufgegriffene, wohl berühmteste Beispiel hierfür ist René Vietto, der in zwei Etappen der Tour von 1934 dem führenden Fahrer seiner Mannschaft und Träger des Gelben Trikots einmal sein Vorderrad geliehen, beim zweiten Mal gleich sein ganzes Fahrrad überlassen hat, nachdem er auf einer Abfahrt kehrtgemacht hatte und zu dem in Schwierigkeiten geratenen Teamkameraden zurückgefahren war. Jean-Bernard Pouy spricht bezüglich der Hauptfigur seines Romans 54 x 13 unter Aufnahme der bereits thematisierten religiösen Vorstellungen nicht nur von einem Märtyrertum, sondern gar von einem Kreuzweg – einem »chemin de croix« (Pouy 1996: 175) – und verweist explizit auf die Christusfigur, um sich dann aber von diesem selbst gewählten Vergleich zu distanzieren. Nachdem sein Protagonist auf der letzten Etappe der Tour aufgegeben hat, heißt es im Text: »Voilà, je suis assis, en sueur, sur les marches de l’église Saint-Denis, rue de Turenne, un cycliste sur un parvis, belle image, martyr enfin à sa place, aujourd’hui on ne monte plus sur la croix mais sur un vélo, belle image, mauvaise image, connerie.« (Ebd.) Neben dieser Fortschreibung, Variation und Kritik häufig gebrauchter kriegerischer oder auf das Märtyrertum bezogener Topoi und Referenzhorizonte der Beschreibung des Rennfahrers und des Rennens gibt es weitere Erzählmuster und narrative Strukturen, die das Radrennen als Heldengeschichte erscheinen lassen. Dazu gehört zum Beispiel die Kopplung der Sportgeschichte mit einer Aufsteigergeschichte, die einen jungen Mann aus prekären Verhältnissen (Robert Dieudonné: Le vainqueur, 1922) in Szene setzt, dem mit dem Radsport der soziale Aufstieg gelingt. Im engeren Sinn ist aber auch der Wettbewerb der Radfahrer untereinander die Basis zu heroisierenden Umdeutungen. Das scheinbar epische Ringen zweier Kämpfer verwandelt sich dabei oft in ein Strukturmuster sportlicher Heldennarrative. Zu diesen Narrativen gehört auch das Erzählmuster des Duells, zum Beispiel das Duell Coppi-Bartali beim Giro d’Italia von 1949, dem Dino Buzzati einen Text gewidmet hat (Dino Buzzati al Giro d’Italia, 1981), oder der

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Nucéra vermerkt dies in seinem Text Le roi René: »Je n’ai jamais eu cette sensation en voyant […] André Leducq ensanglanté dans le Tour de France 1930 (bouleversé par cette photographie, Arno Breker s’en inspira pour sculpter son Guerrier blessé) […].« (Nucéra 1976: 127)

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Wettkampf coude à coude von Anquetil und Poulidor am Puy de Dôme 1964 sowie die Verbindung von Rennfahrern, deren Namen stets in einem Atemzug genannt werden. In Paul Fournels Méli-Vélo: Abécédaire amoureux du vélo (2008) gibt es dementsprechend auch einen Eintrag zu couple: »Il n’y a pas de plus grand champion que celui à qui les circonstances donnent un adversaire à sa démesure. Que seraient Anquetil sans Poulidor, Bartali sans Coppi, LeMond sans Fignon?« (Fournel 2008: 71) Eine andere Verhältnisbildung ist dabei nicht minder wesentlich für Heroisierungs- aber auch für Deheroisierungsprozesse, nämlich jene des einzelnen Rennfahrers zum Peloton, dessen konstitutive Paradoxie Paul Fournel in die Formel gekleidet hat, »[l]e cyclisme est un sport individuel qui se pratique en équipe« (ebd.: 100), und für das Antoine Blondin ein schönes Bild gefunden hat: »Il [le peloton] offre l’image liminaire d’une falaise humaine, tantôt soudée dans un anonymat collectif, tantôt poreuse, à la limite de la rupture, jusqu’au moment où la vie n’est plus pour lui qu’une histoire pleine de bruit et de fureur racontée par un chronométreur ou un juge à l’arrivée.« (Blondin 1979: 65)

Andere Spannungsfelder haben dabei eher deheroisierende Wirkungen. Dies gilt nicht nur für das Verhältnis des Radrennfahrers oder des Feldes zum Publikum, das ihn oder es einen Tag hochleben lässt, dann aber wieder verurteilt. Die sicherlich berühmteste Schriftstellerin der Zwischenkriegszeit, Colette, hat dieses Verhältnis in zugespitzter Weise thematisiert, wenn sie die Radrennfahrer als entindividualisierte und entmenschlichte, bedrohliche (und vom Publikum selbst bedrohte) Masse beschreibt: »On ne dirait pas qu’ils rivalisent entre eux, mais qu’ils nous fuient et qu’ils sont le gibier de cette escorte où se mêlent, dans la poussière opaque, des cris, des coups de trompe, des vivats et des roulements de foudre.« (Colette 1949: 443f.) Es geht aber auch um das Verhältnis des Rennfahrers zu seinem Team, zur sportlichen wie wirtschaftlichen Leitung, ein Verhältnis, das oftmals stellvertretend für die gesellschaftliche Wahrnehmung des Sporthelden im stark ökonomisierten und globalisierten Sportbusiness der Gegenwart steht. Eine Kritik an der Heldenmaschine Tour de France findet sich dabei in sozialkritischen Romanen wie Roger Vaillands 325.000 francs (1955), in Kriminalromanen wie Frédéric Dards Vas-y Béru! (1965) oder Jean-Noel Blancs Le Tour de France n’aura pas lieu (2000). Der Radfahrer kann in diesen und ähnlichen Kontexten nicht nur als Opfer erscheinen, sondern sich auch in einen Systemkritiker, gar einen Umstürzler und damit eine Art Antihelden verwandeln. Zu einem solchen wird der Protagonist

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von 54 x 13, der sich von der eigenen Teamleitung um einen schon sicher geglaubten Etappensieg betrogen sieht. Er erkennt, dass das sorgfältig in der Öffentlichkeit gepflegte Heldenbild des Radrennfahrers nicht mehr mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Er ist nicht länger bereit, »[de] ne pas briser le fragile équilibre qui fait encore le mythe de l’homme seul face à l’effort, face au temps, face à la douleur.« (Pouy 1996: 186) Seine Gedanken kreisen um den bei einer Abfahrt während der Tour de France tödlich verunglückten Fabio Casartelli: »sa mort non pas au champ d’honneur mais au champ du déshonneur sans le savoir vraiment.« (Ebd.) Weiter heißt es: »la roue, le temps, le cycle, la liberté, l’effort, la souffrance, tout ça ne supporte pas le trucage […] le coureur cycliste n’est pas maquillé, c’est son corps et son âme nus qu’il offre au vent de la course, alors je me lève […].« (Ebd.: 187) Mit dieser Rückversicherung bezüglich der Freiheitspotenziale des Radfahrens verlässt er die Tour, und während er in den menschenleeren Straßen von Paris die Übertragung der Schlussetappe verfolgt, wirft er in einem heroischen und das heißt hier auf jeden Fall transgressiven Gestus dem Besitzer seines Rennstalls das Fahrrad wie einen Fehdehandschuh vor die Füße. Diese Ambivalenzen des Radsports führen dazu, dass sich die literarische Figur des (Rad-)Sporthelden nicht selten in eine Art Reflexionsfigur des Heldentums verwandelt. Erstaunlicherweise spielt dabei, von wenigen Ausnahmen abgesehen (zum Beispiel Jean-Noël Blancs Le Tour de France n’aura pas lieu, 2000), das Thema Doping in den hier behandelten Texten nur eine untergeordnete Rolle. Für die Thematisierung der Bedeutung des Todes im Radsport hingegen finden sich einzelne Belege (unter anderem Roger Vaillands 325.000 Francs, 1955; Paul Fournels Les athlètes dans leur tête, 1988). Der Tod auf der Rennstrecke wie im Falle von Fabio Casartelli 1995 wird dabei nicht selten in ein heroisches System integriert, in dem der Radrennfahrer das tragische Opfer darstellt, das der Wettkampf gefordert hat. Die Figur des gefallenen Helden hingegen ist problematisch und fasziniert zugleich, wie etwa Marco Pantani, »der Pirat«, ein Bergfahrspezialist und äußerst beliebter italienischer Champion, der nach einem Dopingfall in eine Abwärtsspirale geraten war und dessen Tod an einer Überdosis Rauschgift bis heute nicht restlos aufgeklärt ist. Philippe Brunel hat diesem rätselhaften Todesfall eine minutiöse, geradezu kriminalistische Untersuchung gewidmet (Vie et mort de Marco Pantani, 2007).

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DER RADSPORT IN DER (AUTO-)BIOGRAFISCHEN LITERATUR Auch wenn viele Texte über die Tour die geschilderten Bezüge zwischen verschiedenen Gruppen, also personale Konstellationen, in den Vordergrund rücken, fokussieren andere Werke einzelne Typen von Rennfahrern. Vor allem Bergfahrer bzw. Bergfahrten scheinen sich für Heroisierungen zu eignen, wie sie etwa in Louis Nucéras Le Roi René (1976) am Beispiel von René Vietto beschrieben werden. Der Kampf der Radrennfahrer untereinander wird hier gleichsam trianguliert und in einen Kampf gegen den Berg als Widersacher umgewandelt. Das Leiden und die Qualen der Sportler werden sichtbar und die Begegnung des Publikums mit seinen Helden ist nirgends intensiver. Die Heroisierung der Bergfahrer verläuft oftmals über epische Namenszusätze, wie beispielsweise L’Aigle de Tolède (Federico Bahamontes), L’ange de la Montagne (Charly Gaul), le Pirate (Marco Pantani), Il Diablo (Claudio Chiappucci). Potenziell heroisch erscheint aber auch eine andere Kategorie von Fahrern, die in Solofahrten oder sogenannten échappées in Ausreißergruppen in Einzelfällen über 100 km vor dem Feld herfahren. Dessen ungeachtet tritt in vielen literarischen Texten nicht nur der Rennfahrer als Teil eines Kollektivs, des Feldes oder einer Untergruppe wie zum Beispiel der erwähnten Bergfahrer auf, vielmehr stehen oftmals auch einzelne Rennfahrer im Zentrum, deren Faszinosum die Autoren literarisch verarbeiten, deren Heldenstatus sie nicht nur darstellen, sondern auch zu ergründen und gegebenenfalls zu problematisieren suchen. Dabei kann es sich um fiktive Radrennfahrer handeln, wie in Jean-Noёl Blancs Le nez à la fenêtre (2009) oder in Jean-Bernard Pouys 54 x 13 (1996). Sehr häufig stehen aber auch tatsächliche Tour-Heroen im Vordergrund wie etwa Fausto Coppi, René Vietto (Louis Nucéra: Le roi René, 1976) oder Jacques Anquetil, dem Paul Fournel mit Anquetil tout seul (2012) ein großes literarisches Porträt gewidmet hat. Der Versuch, das Geheimnis oder die Besonderheit dieser Rennfahrer zu ergründen, führt nicht nur zu einer Reihe biografisch ausgerichteter Texte, die sich mit dem Leben einzelner Sportler auseinandersetzen, sondern auch zu literarischen Versuchen, das Innenleben der Fahrer während des Rennens und die Bewusstseinsprozesse des Helden im Moment seiner außergewöhnlichen Tat selbst zu erfassen. Der Titel von Paul Fournels bereits erwähntem Werk Les athlètes dans leur tête (1988) bringt dies zum Ausdruck. Dieser Versuch ist nicht nur inhaltlich interessant, weil die meist von außen, zum Beispiel von den Medien, dem Radrennfahrer zugesprochene Heldenrolle aus der Perspektive des Fahrers zu-

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meist keinen Bestand hat und nicht selten aufgrund von Selbstzweifeln oder kritischen Reflexionen problematisiert wird, die ein sehr ambivalentes Bild vom Radsport zeichnen. Diese intensive Auseinandersetzung mit dem Radsport und den Radsportlern führt mit einer gewissen Folgerichtigkeit auch zu autobiografischen oder autofiktionalen Texten. Zu den Schwerpunkten dieser Texte zählen oftmals Episoden aus Kindheit und Jugend, in denen bestimmte Radrennfahrer als Helden der Kindheit präsentiert werden, die für Individuation und Sozialisation des jeweiligen Protagonisten von großer Bedeutung gewesen sind. Die bisweilen sportlich ambitionierten Erfahrungen der verschiedenen Erzähler mit dem Fahrrad spielen in Werken wie René Fallets Le vélo (1973), Louis Nucéras Le Roi René (1976), Robert Bobers Berg et Beck (1999) oder Paul Fournels Les athlètes dans leur tête (1988) und Besoin de vélo (2001) ebenfalls eine wichtige Rolle. Die Bezugnahme auf das sportliche Idol kann dabei ganz unterschiedlich ausfallen und verschiedene Funktionen erfüllen. In Anquetil tout seul von Paul Fournel (2012) ist es der junge Radsportbegeisterte, der ziemlich klare Vorstellungen davon hat, wie ein Radchampion, ein Sportheld, auszusehen hat: »Petit cycliste, j’avais des idées claires sur ce que devait être un champion. Elles étaient si claires que je les consignais dans un cahier d’écolier parmi les photos que je découpais dans les journaux et collais dans un ordre qui n’appartenait qu’à moi. Ce cahier était à la fois mon Panthéon et mes Commandements.« (Fournel 2012: 49)

Die Auseinandersetzung mit jenem Ausnahmeathleten Jacques Anquetil, der einmal sogar zwei Radrennen unmittelbar hintereinander gefahren ist, die Dauphiné und Bordeaux-Paris, und dabei unglaubliche 2500 Kilometer in neun Tagen zurückgelegt hat, gehorcht im Roman einer Dialektik von Heroisierung (die das Kind vorgenommen hat) und Deheroisierung. In den einzelnen Kapiteln, die zugleich das Heranwachsen der Hauptfigur beschreiben, wird abgefragt, ob der tatsächliche, nicht der imaginäre Jacques Anquetil diesem Heldenkatalog überhaupt entsprochen hat. Aus der Kindheitsidealisierung und ihren Merkmalen ergibt sich somit die Gliederung dieser literarischen Auseinandersetzung mit Jacques Anquetil, dessen sportliche Vita auf die genannten Parameter überprüft wird. Auch wenn die Antwort dabei insgesamt negativ ausfällt, und Fournel blendet das Thema Doping in diesem Zusammenhang nicht aus, bleiben für den Erzähler und den Leser, der eine solche Auseinandersetzung nachvollzieht, das Faszinosum Anquetil und das des Radsports bestehen. Dies gilt, selbst wenn die scheinbare Autonomie und Handlungsmacht des Sporthelden bisweilen in ihr Gegenteil umschlägt, wenn sich Anquetil zum Beispiel als »prisonnier de son vélo« (ebd.: 58) wahrnimmt und das

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Rad für ihn aufgehört hat, das zu sein, was sich der Junge noch darunter vorstellt, nämlich ein »outil de liberté« (ebd.). Die identitätsstiftende Funktion des Radsports und seiner Helden zeigen zwei weitere Texte mittels ihrer Thematisierung ethnisch-religiöser Differenz. In Robert Bobers Roman Berg et Beck (1999) findet diese Auseinandersetzung mit der Tour und den Bahnradrennen im Vel d’Hiv vor historischem Hintergrund statt, denn der Text schildert die Kindheit zweier jüdischer Kinder im von den Nationalsozialisten besetzten Paris. Die Gespräche über Radrennen, der Austausch von Sportzeitschriften und Porträtbildern ihrer Idole sind dabei Symbole der Zugehörigkeit der beiden zur französischen Nation, die sie als Juden jedoch immer stärker ausgrenzt, so dass einer der Freunde mitsamt seiner Familie deportiert werden wird. In Le nez à la fenêtre (2009) von Jean-Noël Blanc alternieren die Auseinandersetzung mit der Kindheit und die Beschreibung des Verlaufs einer Etappe der Tour de France. In dem Roman erinnert sich der Rennfahrer Momo, der sich als erfolgreicher Sportler von seiner unterprivilegierten Herkunft emanzipiert hat, daran, wie er während der Wochen des Radrennens zufällig entdeckt hat, dass sein früh verstorbener Vater aus dem Maghreb stammte, jedoch seine nordafrikanischen Wurzeln, seine Religion und sogar seinen Namen aufgegeben hatte. Diesen Umstand hatte auch seine im Sterben liegende Mutter vor ihm verheimlicht. Die Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit führt dazu, dass er in der Hitze der Touretappe jeden Verlust, jede Erschöpfung, jede sportliche Ungerechtigkeit oder Zurücksetzung mit jenen Diskriminierungen vergleicht, die er während seiner Kindheit und Jugend erfahren hat und die ihm nun in einem neuen Licht erscheinen. Diese soziologische Deutung der Tour de France mündet beim Radrennfahrer und autobiografischen Erzähler, je weiter die Etappe voranschreitet, in einen klärenden Bewusstseinsprozess. Am Ende der miteinander verbundenen, sportlichen und biografischen, gesellschaftskritischen, die ethnische Spaltung der Gesellschaft thematisierenden Passagen stehen der Etappensieg des Protagonisten und Erzählers sowie die gerade noch rechtzeitig vor ihrem Tod erfolgende Aussöhnung des Sohns mit seiner Mutter. Eine überraschende Sonderform solcher autobiografischen Texte besteht darin, dass manche Autoren bzw. ihre Erzähler die Tour de France und andere Radrennen selbst ab- bzw. nachfahren. Beispiele hierfür sind Evviva l’Italia (2007) oder A mon tour (2003) von Bernard Chambaz und Louis Nucéras Mes rayons de soleil (1987). Dabei ist es meist eine ganz bestimmte Rundfahrt – im Falle von A mon tour die erste Tour von 1903, deren Route er 2003, also zu ihrem 100. Geburtstag nachfährt, im Falle Nucéras die von Fausto Coppi beherrschte Tour von 1949, die zum nachahmungswürdigen Modell für den Schriftsteller wird. Der

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Begriff der Mimesis, der normalerweise die Nachahmung der Wirklichkeit durch die Literatur beschreibt, kommt hier seiner ursprünglichen Bedeutung, der nachahmenden Handlung sehr nahe, insofern der Schriftsteller ein Ereignis zunächst körperlich nachvollzieht, bevor er es versprachlicht. Es ist also, könnte man sagen, das Radfahren selbst, die sportliche Praxis, die in mehreren Vermittlungsstufen nicht nur zum Gegenstand des Schreibens wird, sondern zu einer Handlung, die den Schreib- und Reflexionsprozess anstößt und katalysiert. Einer Hommage auf die Tour oder im Falle von Evviva l’Italia auf den Giro d’Italia und der Heroisierung bestimmter Radrennfahrer auf der einen Seite steht auf der anderen die Autoheroisierung des Schriftstellers gegenüber, der sich gewissermaßen selbst in einen Radrennfahrer verwandelt. Angereichert wird diese Sonderform der Auseinandersetzung mit dem Radsport mit Elementen des Reiseberichts, sporthistorischen, aber auch literaturgeschichtlichen und sogar philosophischen Betrachtungen.

DER RADSPORT ZWISCHEN PHILOSOPHIE UND ÄSTHETIK Mehrere Texte, die das Radfahren zum Gegenstand haben, überschreiten die Grenze von der Literatur zur Philosophie, wie zum Beispiel Petite philosophie du vélo (2008) von Bernard Chambaz. Es geht um die verschiedensten Themen wie das Verhältnis von Mensch und Maschine, von Körper und Geist oder auch von Mensch und Natur, um Fragen der Wahrnehmung von Raum und Zeit oder das Thema der Freiheit, der Utopie. Damit wird das Fahrrad zu einer Art philosophischem Medium par excellence. Eine weitere literarische Subgattung verschmilzt alle bisher genannten Aspekte der Beziehung von Literatur und Radsport im Zeichen einer Affektlogik, die in Werken wie Eric Fottorinos Petit éloge de la bicyclette (2007), Paul Fournels Méli-vélo. Abécédaire amoureux du vélo (2008), Pierre-Louis Desprezʼ Petits cycles de bonheur (2007) oder auch im bekannten Titel von Marc Augé, Éloge de la bicyclette (2010), zum Ausdruck kommt. Diese Zuneigung findet ihren für einen Schriftsteller sicher vollendeten Ausdruck darin, dass Radfahren und Schreiben miteinander nicht nur verglichen, sondern gleichgesetzt werden, eine Gleichsetzung, wie sie zum Beispiel Eric Fottorino in seiner Lobrede auf das Fahrrad in die Worte kleidet: »La preuve est faite depuis longtemps à mes yeux que le vélo est un mode d’écriture de l’existence. Je l’ignorais alors: avoir du souffle, être une plume, légère de préférence, c’est le lot de ces frères humains que sont coureurs et écrivains.« (Fottorino 2007: 17)

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Damit ist nicht nur gemeint, wie die Literatur auf den Radsport und seine Helden reagiert, sondern vielmehr, dass Literatur und Sport beide von ästhetischen Prinzipien beherrscht werden. In diesem Sinne verwandelt etwa Louis Nucéra in seiner Darstellung René Viettos in Le Roi René den mit seiner Rennmaschine verschmolzenen Radrennfahrer in eine Art Künstler, ja sogar in eine Allegorie der Schönheit als solche: »Un styliste incomparable. […] Il ne faisait qu’un avec sa machine. L’élégance. La pureté. Un artiste. La beauté en action sur un vélo.« (Nucerá 1976: 27) Antoine Blondin geht noch einen Schritt weiter: »Tout ce qui contribue à faire de la course cycliste une épopée naturelle: le goudron en fusion, le gravier baladeur, les caprices du vent, le plat soleil installé dans son évidence grise, les kilomètres accumulés, le secret pesant des plissements montagneux, toutes ces données qui font du Tour de France à la fois une ville ouverte et un vase clos, un vase communicant et une cité fortifiée derrière ses intérêts antagonistes, ses ambitions, ses illusions, prennent alors la place prépondérante. […] Mais une grandeur déconcertante se fait jour quand cet appareil considérable se déploie à travers une nature désertique et ne justifie plus son existence que par son propre mouvement. […] Elle [la compétition] n’a plus besoin du regard d’autrui pour exister, pour suivre le libre déroulement de son cours.« (Blondin 1979: 11)

In dieser sicher radikalen, von all ihren historischen und sozioökonomischen Kontexten abstrahierenden Sicht auf die Tour de France ist sich diese selbst genug – ein immer wieder faszinierendes selbstbezügliches Spiel dynamischer Formen.

LITERATUR Primärliteratur Augé, Marc (2010): Éloge de la bicyclette, Paris: Payot & Rivages. Barthes, Roland (1957): »Le Tour de France comme épopée«, in: Roland Barthes, Mythologies, Paris: Seuil, S. 103-113. Blanc, Jean-Noёl (2009): Le nez à la fenêtre, Paris: Éditions Joёlle Losfeld. Blanc, Jean-Noёl (2000): Le Tour de France n’aura pas lieu, Paris: Seuil. Blondin, Antoine (1979): Sur le Tour de France, Paris: Mazarine. Bober, Robert (1999): Berg et Beck, Paris: P.O.L. Bordas, Philippe (2008): Forcenés, Paris: Fayard. Brunel, Philippe (2007): Vie et Mort de Marco Pantani, Paris: Grasset. Buzzati, Dino (1981): Al giro d’Italia, Mailand: Mondadori.

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Chambaz, Bernard (2003): À mon tour, Paris: Seuil. Chambaz, Bernard (2007): Evviva l’Italia, Paris: Édition du Panama. Chambaz, Bernard (2008): Petite philosophie du vélo, Toulouse: Milan. Colette, Sidonie-Gabrielle: »Dans la foule. La fin d’un tour de France«, in: Académie Goncourt (Hg.): Œuvres complètes de Colette, Bd. 4, Paris: Le Fleuron 1949, S. 442-445. Dard, Frédéric (1965): Vas-y Béru!, Paris: Fleuve noir. Decoin, Henri/Cartoux, Paul (1925): Le roi de la pédale, Paris: Gallimard. Delerm, Philippe (2007): La tranchée d’Arenberg et autres voluptés sportives, Paris: Éditions du Panama. Desprez, Pierre-Louis (2007): Petits cycles de bonheur, Paris: Arléa. Dieudonné, Robert (1992): Le vainqueur, Paris: Albin Michel. Fallet, René (1973): Le vélo, Paris: Julliard. Fournel, Paul (1988): Les athlètes dans leur tête, Paris: Seuil. Fournel, Paul (2001): Besoin de vélo, Paris: Seuil. Fournel, Paul (2008): Méli-Vélo. Abécédaire amoureux du vélo, Paris: Seuil. Fournel, Paul (2012): Anquetil tout seul, Paris: Seuil. Fottorino, Éric (2007): Petit éloge de la bicyclette, Paris: Gallimard. García, Tristan (2012): En l’absence d’un classement final, Paris: Gallimard. Jarry, Alfred (1902): Le surmâle, Paris: Éditions de la Revue Blanche. Londres, Albert (2008 [1924]): Les forçats de la route, Paris: Arléa. Morand, Paul (1922): Ouvert la nuit, Paris: Éditions de la nouvelle revue française. Morand, Paul (1923): Fermé la nuit, Paris: Éditions de la nouvelle revue française. Nucéra, Louis (1976): Le roi René, Paris: La table ronde. Nucéra, Louis (1987): Mes rayons de soleil, Paris: Grasset. Pouy, Jean-Bernard (1996): 54 x 13, Nantes: L’Atalante. Reuze, André (1925): Tour de souffrance, Paris: Fayard. Vailland, Roger (1955): 325.000 Francs, Paris: Éditions Corrêa. Sekundärliteratur Bauer, Thomas/Gomet, Doriane (2008): »Géo-Charles: poète-reporter de la natation olympique de 1924«, in: Laurence Munoz (Hg.), Usages corporels et pratiques sportives aquatiques du XVIIIe au XXe siècle, Bd. 2, Paris: Harmattan, S. 165-179. Bette, Karl-Heinrich (2007): »Sporthelden. Zur Soziologie sozialer Prominenz«, Sport und Gesellschaft 4 (3), S. 243-264.

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Boucharenc, Myriam (2004): L’écrivain-reporteur au cœur des années trente, Villeneuve-d’Ascq: Presses universitaires du Septentrion. Charreton, Pierre (1985): Les fêtes du corps. Histoire et tendances de la littérature à thème sportif en France (1870-1970), Saint-Etienne: CIEREC. Dauncey, Hugh (2012): French Cycling. A social and cultural history, Liverpool: Liverpool University Press. Gaboriau, Philippe (1987): »Les épopées modernes. Le Tour de France et le ParisDakar«, in: Esprit 125 (4), S. 6-16. Gaboriau, Philippe (2003): »The Tour de France and Cycling’s Belle Epoque«, in: The International Journal of the History of Sport, 20 (2), S.57-78. Marinetti, Filippo Tommaso (1968): Teoria e invenzione futurista, Mailand: Mondadori. Thompson, Christopher S. (2006): The Tour de France. A cultural history, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press. Vigarello, Georges (2005): »Die Tour de France«, in: Pierre Nora/François Étienne/Michael Bayer (Hg.), Erinnerungsorte Frankreichs, München: C.H. Beck, S. 452-480. Wagner, Birgit (2005): »Le sport, le corps et les machines. À propos du Surmâle d’Alfred Jarry«, in: Michel Brousse (Hg.), Écrire le sport, Bordeaux: Presses universitaires de Bordeaux, S. 129-140.

Histoire(s) de la Grande Boucle ‒ Die Tour de France in der französischen Bande Dessinée Frank Leinen

EINLEITUNG Die Tour de France gehört als nationaler Mythos zu Frankreich wie der Eiffelturm zu Paris. Diese Tatsache, die sich in der außergewöhnlichen medialen Präsenz der Grande Boucle ausdrückt, führt dazu, dass das Rennen jeden Sommer aufs Neue die Massen anzieht. Das Erfolgsmodell Tour de France wurde seit den Anfängen im Jahr 1903 mit seinem perfekt abgestimmten Zusammenspiel von sportlichen Leistungen sowie gesellschaftlicher und medialer Aufmerksamkeit zu einem festen Bestandteil des kollektiven Bewusstseins: »C’est que l’épreuve est peut-être plus qu’une course, elle s’adresse à la conscience collective, aux références communautaires, autant qu’à la curiosité sportive« (Vigarello 1992: 885). Einen in Deutschland kaum bekannten, gleichwohl unübersehbaren Anteil am alljährlichen Hype um die Tour de France hat in Frankreich auch die Bande Dessinée (künftig: BD), die im Unterschied zu ihrem Pendant jenseits des Rheins, dem deutschsprachigen Comic, aus der Populärkultur nicht wegzudenken ist.1 Offen-

1

2015 gingen in Frankreich bei einer Gesamtzahl von insgesamt 363 Millionen verkauften Büchern 39 Millionen BD-Alben über den Ladentisch, 10,6 % mehr als im Vorjahr (vgl. Syndicat 2016; Sutton 2016). 3924 neue BD-Titel wurden im gleichen Jahr veröffentlicht (vgl. Ratier 2016). 2016 erschienen fast 5000 neue BDs (vgl. Schönberg/Neis 2017: 25). Entsprechende Zahlen liegen für Deutschland nicht vor, wenngleich ermittelt werden kann, dass 2015 in der Sparte »Comics, Cartoons und Karikaturen« 2581 Titel, das heißt 3,4 % aller neu erschienenen Bücher, auf den Markt kamen. Hiervon waren

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bar konnte sich schon sehr früh eine Win-win-Situation entwickeln: Das Radrennen erhielt durch seine Verbreitung über die populären Medien, von der Presse und das Fernsehen über die BD bis hin zum Film, den Charakter eines spektakulären Events. Vom gestiegenen öffentlichen Interesse konnten wiederum der Sport und das Unternehmen Amaury Sport Organisation (A.S.O.) profitieren, das als Veranstalter der Tour zugleich die Sportzeitung L’Équipe und die Zeitung Le Parisien herausgibt.2 Jahr für Jahr stellt die Tour ihren Ruf als »Marketingmaschine ersten Ranges« (Schubert 2005)3 immer wieder neu unter Beweis. Vor dem Hintergrund der außergewöhnlichen Popularität des Rennens und seiner Mythisierung kommt die Frage auf, welche Images der Tour und ihrer Protagonisten in französischen BDs verbreitet werden. An welche Ereignisse aus der Geschichte des Rennens erinnert man, und wie wirken diese bei der Entstehung bestimmter Bildwelten und Diskurse zur Tour de France mit? Finden sich auch Bände, die einen kritischen Blick auf das Rennen werfen? Die Attraktivität von BDs, die sich mit der Tour de France beschäftigen, so die im Folgenden zu belegende Annahme, bildet das Ergebnis einer speziellen medienästhetischen Gestaltung sowohl auf der Darstellungs- als auch auf der Inhaltsebene. Ziel ist es, durch den Rekurs auf den mythischen Charakter des populären Rennsportereignisses und dank der oft realistisch erzählten Fiktion die Leser 1352 Titel Übersetzungen, so dass »Comics, Cartoons und Karikaturen« 14,3 % aller Übersetzungen ausmachten (vgl. Börsenverein 2016: 8, 12). 2016 sank der Gesamtumsatz der deutschen Comic-Branche um 9 Millionen Euro auf 246 Millionen Euro, also um 3,52 % (Jurgeit 2017: 7). Zwischen 2013 und 2016 ist die Zahl der jährlich in Deutschland neu veröffentlichten Graphic Novels von 155 auf 83 zurückgegangen (vgl. Spielmann 2017: 12). 2

Die »convergence entre le sport, la presse contemporaine et les stratégies publicitaires« zählt seit den Anfängen der Tour de France zu ihren erfolgreichen Leitprinzipien, neben der »création d’une mythologie, légende populaire jouant avec la grandeur« und der »exploitation d’une symbolique nationale« (Vigarello 2000: 136). Das erfolgreiche sport- und marketingstrategische Kalkül der A.S.O. drückt sich darin aus, dass sie an rund 250 Tagen des Jahres in 21 Ländern der Welt neben der Tour zahlreiche andere Klassiker des Radrennsports ausrichtet. Hinzu kommen Motorsportveranstaltungen wie die Rallye Dakar, die China Rallye, die Afriquia Merzouga Rallye sowie Segel-, Golfund Reitsportevents (vgl. http://www.aso.fr/fr/presentation.html). Judith Grant Long vermerkt hierzu: »for the ASO, the Tour is a business first and an athletic event second« (Grant Long 2012: 381).

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2015 besuchten 10 bis 12 Millionen Zuschauer die Etappen der Tour de France. Mit durchschnittlich 3,2 Millionen französischen Fernsehzuschauern hatten die Übertragungen der Tour 2016 einen Marktanteil von 31,4 % (vgl. Botschaft 2016; Meffre 2016).

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zum Kauf des Produkts zu animieren. Die Geschichten aus Vergangenheit und Gegenwart der Tour können in diesem Sinne als Ausdruck einer erfolgreich gelenkten Kommunikation mit dem Rezipienten betrachtet werden. Vergleichbares dürfte für jene Fiktionen gelten, die fernab des realen Geschehens angesiedelt sind und die Tour zum Anlass nehmen, um das Publikum durch witzige, skurrile oder auch spannende Geschichten zu unterhalten. Anzunehmen ist auch, dass die Auswahl und Darstellung historischer Ereignisse bei der Formung kollektiver Erinnerung sowie der Entstehung bestimmter Bildwelten und Diskurse zur Tour de France maßgeblich mitwirkt. Um diese Themen vertiefen zu können, wird zunächst auf die Bedeutung von BDs als Bestandteil der französischen Populärkultur hingewiesen. In diesem Zusammenhang sollen auch einige ihrer wichtigsten Funktionsweisen und ihre leserorientierten Einflussmöglichkeiten angesprochen werden. Da in einigen BDs Ereignisse aus der Geschichte der Tour aufgegriffen werden, bietet es sich an, in einem nächsten Abschnitt den Beitrag des Mediums zur sozialen und medialen Geformtheit von Erinnerung zu thematisieren. Im Anschluss hieran steht im dritten und zentralen Teil die Analyse ausgewählter BDs zur Tour de France im Fokus, um insbesondere der Frage nachzugehen, wie sie die Histoire und die histoires de la Grande Boucle im Sinne einer Mythisierung oder auch Kritik aufbereiten. Aspekte wie die Leserlenkung, die Funktion des Humors und die grafische Präsentation des Dargestellten sollen ebenfalls kommentiert werden.

BD BRANCHÉE: ZUR POSITION DES MEDIUMS IN DER FRANZÖSISCHEN POPULÄRKULTUR Die Tour de France liefert Jahr für Jahr Stoff für Dramen und Träume, Geschichten und Legenden, wie sie in der Populärliteratur gerne gepflegt werden. So kamen von 1950 bis 2018 in Frankreich 21 BDs auf den Markt, die im Titel auf das Rennen verweisen, wobei im Unterschied zu den eher sporadischen Veröffentlichungen früherer Jahre seit 2000 ein regelmäßigerer Publikationsrhythmus zu verzeichnen ist (vgl. Bédéthèque 2018). Wenn ein Radsportereignis in BDs seinen Niederschlag findet, verweist dies nicht nur auf die Beliebtheit des Rennens, sondern auch auf die Popularität des Mediums. Wer jemals eine französische Buchhandlung betreten und die meist meterlangen Regalreihen mit BDs abgeschritten hat, kann diesen Sachverhalt unschwer bestätigen. Anders als in Deutschland, wo die Vorbehalte gegenüber den Comics erst langsam schwinden, riskiert man in Frankreich keinen Gesichtsverlust, wenn man sich als Fan von BDs zu erkennen gibt.

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Auch in der Forschung war die Wertigkeit von Comics, BDs und Graphic Novels lange Zeit umstritten. So behaupteten Adorno und Horkheimer, die Popularität der »leichte[n] Kunst« (Horkheimer/Adorno 1969: 143) sei trivialer Auswuchs einer zum »Amüsierbetrieb« (ebd.: 144) verkommenen kapitalistischen Kulturindustrie. Eine derart einseitige Sichtweise dürfte inzwischen niemand mehr teilen. Aber auch die diametral entgegengesetzte Stoßrichtung der Literatursoziologie während der 1980er Jahre, die nicht minder pauschal »das kritisch-subversive Potential von Populärkultur sowie deren positive Effekte für zumindest partiell autonome Prozesse der individuellen Selbstfindung« (Lüdeke 2011: 7) herausstellen wollte, wird mittlerweile hinterfragt. Angesichts der Komplexität populärer Literatur und Kunst, verbunden mit einer Ausdifferenzierung von Aneignungsmodi, bemüht man sich seitdem um einen abgeklärteren und differenzierteren Umgang mit der Populärkultur und der BD. So betonen Foucault, de Certeau und Fiske die transversale Widerspenstigkeit der Populärkultur als Ausdruck »listvolle[r] Praktiken der Wiederaneignung eines durch Machtstrategien und funktionalistische Rationalität organisierten Systems« (Winter 2003: 57). Durch seine strategischen Kaufentscheidungen vermöge das Publikum auf die Produktion und Inhalte von Populärkultur und -literatur einzuwirken, ganz zu schweigen von der Möglichkeit, in Internetforen aktiv bei der Konzeption und Entwicklung von Populärliteratur mitzuwirken (vgl. Martínez 2011). Auch die im Zeichen der Postmoderne erfolgte Auflösung der Grenzen zwischen vermeintlich erhabenen und niederen Genres und die hiermit verbundene Einsicht anything goes führten zu einem unbefangeneren Umgang mit Produkten der Populärkultur (vgl. Esposito 2011: 16; Hügel 2003: 1). Derart akademische Diskussionen, so wichtig sie auch sein mögen, sind dem Durchschnittsleser in der Regel fremd. Er ist meist auf der Suche nach anregender Unterhaltung, spannenden Geschichten und faszinierenden Helden. Bisweilen hat er auch Vergnügen an medienreflexiven Experimenten, mit denen in Frankreich beispielsweise der Ouvroir de Bande Dessinée Potentielle (OUBAPO) aufwartet. Dank ihrer Unterhaltungsfunktion trägt die BD – wie die Populärliteratur im Allgemeinen – zur psychologischen Entlastung ihrer Leser bei, da sie »den Zugang zu einer ›zweiten Realität‹« (Esposito 2011: 16) öffnet, zu »eine[r] Welt, die nicht existiert, aber viel strukturierter und transparenter ist als die reale Realität – und außerdem mit den Anderen geteilt wird« (ebd.). Sie bietet die Möglichkeit, an Emotionen teilzuhaben und Momente mitzuerleben, die den meisten Menschen im wirklichen Leben verwehrt bleiben. Dabei bewahrt die Tour de France selbst nach ihrer Verarbeitung in BDs jene Attraktivität, die auch Sportreportagen im Fernsehen eigen ist, welche »die Spannung auf der Grenze von kontrollierter und nicht-

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kontrollierter Körperlichkeit stabilisieren« (Luhmann 2009: 76). Der Sport erscheint als »kulturelles Ritual […] in Wechselwirkung mit mythischen Bildern, mit Phantasien, die nicht die Praxis selbst, sondern deren Überbauten sind« (Eichberg 2003: 431) und deren Repertoire auch in BDs zur Geltung kommt. Worauf ist es nun zurückzuführen, dass BDs in Frankreich ein so großes Lesepublikum finden? Neben der spezifischen Mediengeschichte der frankobelgischen BD, deren Tradition anders als in Deutschland ungebrochen bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht, trägt sicherlich die Kombinatorik aus Bild, Text und Inhalt im Zusammenspiel mit einer »ganz eigenständigen Erzählweise« (Platthaus 2003: 143) zu ihrem Erfolg bei. Diese ästhetisch ansprechende Verknüpfung von Bildern und Texten lässt das Lesen von BDs zum Vergnügen werden. Der Aufwandsverminderung wie auch der Unterhaltung dient nicht zuletzt die in der Populärliteratur verbreitete Tendenz, dass der Leser in die Lage versetzt wird, »narrative Abläufe und Figurenkonstellationen vorauszuahnen. Damit wird vor allem Unterhaltungsund Emotionssicherheit gewährleistet« (Huck 2011: 47f.).4 Erfolgreiche Populärliteratur ist daher abwechslungsreich, und sie kann immer wieder aufs Neue eine Leserbindung herstellen: »Populärliteratur ist immer für jemanden geschrieben, für den Gebrauch. Während Kunstliteratur sich selbstgenügsam gibt […], (unendlich) enträtselt werden will, bietet sich die Populärliteratur direkt an« (ebd.: 58, Herv. i. O.). BDs zur Tour de France sind daher – wie populäre Lesestoffe überhaupt – im wahrsten Sinne des Wortes als »Literatur für Leser«5 konzipiert, die gerade in einer historisierenden, realistischen Perspektive Mythen abruft, ihre Entstehung fördert, sie aber bisweilen auch kritisch konterkariert. Hatte Lessing die Ansicht vertreten, dass sich Texte an den Verstand wendeten, während Bilder sinnlich rezipiert würden, so unterstreicht die neuere Forschung, dass populäre Literatur auch als Text das sinnliche Sehen anspricht: »Kunstliteratur will gelesen werden und damit ihre Autorität bewahren, während Populärliteratur sich dem Auge des bzw. der BetrachterIn hingibt« (ebd.: 54, Herv. i. O.). Aufgrund der grafischen Visualisierung des Geschehens gilt dies in ganz besonderem Maße für die BD, und hierin dürfte ein weiteres Argument für ihre Popularität liegen. Die Verknüpfung von Bild- und Textinformation und die Möglichkeit, sich auf der Grundlage der cases/vignettes/panels das Geschehen selbst auszumalen, fördert den aktiven Rezeptionsprozess (vgl. Grünewald 2000: 38). Im Vergleich zum reinen Text, der traditionell vor allem einen beschreibenden 4

Archetypische Motive in der Populärliteratur sind »Ehrverletzung, Rache, Tod, Familie, Liebe, Initiation, Reise, Rivalität, Freundschaft« (Huck 2011: 50), die es als emotionale Anknüpfungspunkte ermöglichen, eigene Erfahrungen bei der Lektüre einzubringen.

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So der Titel einer Aufsatzsammlung von Harald Weinrich 1971.

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Charakter aufweist, bietet die BD gerade aufgrund ihrer Bildhaftigkeit dem Rezipienten einen erheblich größeren schöpferischen Freiraum, wie in Anlehnung an Barthes vermerkt werden kann.6 Noch eine weitere mediale Besonderheit tritt hinzu, die McCloud (1997: 71) als »Induktion« bezeichnet und die ebenfalls die Attraktivität von BDs erklären hilft: Nicht nur die den Leseprozess steuernde Folge einzelner cases, sondern auch die Leerstellen zwischen ihnen, die blancs (engl. gutter, dt. Rinnstein), verstärken den Einbezug des Lesers. Ein Gutteil der Handlung von BDs ereignet sich außerhalb des abgebildeten Geschehens, in der Fantasie des Lesers. Völlig zu Recht betont Grünewald daher die »produktive Leistung« von Comic- bzw. BD-Lesern, welche auf der »Fähigkeit zu Assoziation, Kombination und Konstruktion beruht« (Grünewald 2000: 39). Der Vorwurf des bloßen Eskapismus, wie er in den 1950er Jahren gegenüber der sogenannten Trivialliteratur geäußert wurde (vgl. Hügel 2003: 9), ignoriert mithin die Komplexität des Mediums und die vielfältigen Argumente, welche die Leser dazu bringen, der BD auch in Zeiten des Internets die Treue zu halten. Diese wenigen grundsätzlichen Anmerkungen möchten zu erkennen geben, wie vielschichtig und attraktiv die BD für ihre Leser, aber auch für die Wissenschaft sein kann. Dabei gilt, wie Hügel herausstreicht: »Populäre Kultur macht Spaß! Das ist so ungefähr das einzige, in dem Forschung über und Teilnehmer an der populären Kultur übereinstimmen.« (Ebd.: 1) Mit Blick auf die anschließenden Überlegungen sollte nicht unerwähnt bleiben, dass Populärliteratur über den Rezeptionsprozess auch Einfluss darauf hat, wie ihre Rezipienten die Realität wahrnehmen und wie sie in dieser Realität als Handelnde auftreten. In einer solchen Perspektive wirkt auch die BD bei der Gestaltung der gesellschaftlichen Realität mit. Wenn somit die populäre Literatur als Bestandteil von Symbolsystemen bereits »durch die Produktions-, Distributionsund Rezeptionssysteme symbolisch Gemeinschaft herstellt« (Linke 2003: 9), so stellt sich im Zusammenhang mit BDs zur Tour de France die Frage, welche Rolle die Darstellung des Rennens als Ausdruck und Gestaltungsfaktor bei der Ausprägung entsprechender Diskurskonfigurationen spielt. Sollte dies der Fall sein, dann würden BDs zur Tour de France vor allem im Zusammenhang mit den zitierten Mythen dazu beitragen, eine imaginierte Gemeinschaft im Sinne Andersons (vgl. 1996: 14) als kulturelles Kunstprodukt mitzuformen und gegebenenfalls zu stabilisieren. Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden.

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»Le langage […] traduit un choix et l’impose […]. Toute parole détient ainsi une fonction d’autorité, dans la mesure où elle choisit, si l’on peut dire, par procuration à la place de l’œil. L’image fige une infinité de possibles; la parole fixe un seul certain« (Barthes 1967: 23f.).

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DIE TOUR SCHREIBT GESCHICHTE(N) Wie bereits deutlich wurde, prägt die Tour de France seit ihren Anfängen die nationale und kulturelle Identität sowie das Kollektivgedächtnis Frankreichs. 7 Das Rennen stellt nach Nora in seiner materiellen und ideellen Dimension einen französischen »lieu de mémoire« dar, und es zählt zu den zentralen »points de cristallisation de notre héritage collectif« (Nora 2011: 157). Wenn ferner gilt, dass die Tour »vit dans la narration« (Vigarello 1992: 915), dann verdienen auch BDs, welche die Geschichte des Rennens und historische Momente als Thema wählen, eine besondere Aufmerksamkeit. Ihre Analyse kann dementsprechend als Beitrag zu einer »étude polyphonique des ›lieux‹« (Nora 2011: 168) angesehen werden, wobei die Erörterung der Frage, ob ein Geschehen historisch korrekt abgebildet wird, von sekundärer Bedeutung ist. Entscheidender dürfte sein, welche Mythen im Zusammenhang mit den Protagonisten des Radrennens bedient werden. In diesem Sinne bietet es sich auch an, die Modi, Strategien und Zielsetzungen der symbolischen Vermittlung von Vergangenheit als eine Form der »remémoration« (ebd.: 169)8 zu untersuchen. Der dramatische Kampf um das Gelbe Trikot prägt sowohl die kollektive Erinnerung als auch die jeweils aktuellen Diskurse über das Sportereignis und die mediale Verarbeitung der Tour de France. Wenn sich die Erinnerung an Vergangenes auf die Erfahrungen von Zeit und Raum stützt, wie Assmann (vgl. 1992: 38ff.) betont, dann ist der Zeit- und Raumbezug der Tour offenkundig.9 Abgesehen von den Jahren des Ersten Weltkrieges und der deutschen Besatzung, in denen keine Rennen stattfanden, setzt La Grande Boucle im Jahresablauf vieler Franzo-

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Sonntag unterstreicht zu Recht, dass das Kollektivgedächtnis Ergebnis eines Filterungsprozesses ist und einen bewusstseinslenkenden Charakter besitzt: »Das Gedächtnis ist immer individuell und nicht reproduzierbar – es stirbt mit dem einzelnen. Was man als kollektives Gedächtnis bezeichnet, ist kein Erinnern, sondern ein Sicheinigen – darauf, dass dieses wichtig sei, dass sich eine Geschichte so und nicht anders zugetragen habe, samt den Bildern, mit derer Hilfe die Geschichte in unseren Köpfen befestigt wird.« (Sonntag 2013: 100, Herv. i. O.)

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So fordert Nora »une histoire qui ne s’intéresse pas à la mémoire comme souvenir, mais comme l’économie générale du passé dans le présent. Une histoire au second degré« (Nora 2011: 169).

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»Le Tour n’exhibe pas seulement les limites et l’unité du pays, il en rencontre aussi la mémoire. Il ajoute à la splendeur du décor la référence à son passé.« (Vigarello 1992: 894)

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sen eine wichtige Zeitmarke. Nicht minder augenfällig ist die topografische Dimension des Sportereignisses, das zunächst auf das Hexagon beschränkt war.10 Doch schon ab 1907 passierte die Tour einige Nachbarländer Frankreichs, und im Zeichen der europäischen Annäherung besuchte sie auch Länder, mit denen Frankreich keine gemeinsame Grenze hat. Gleichwohl stellt auch gegenwärtig das Hexagon den entscheidenden topografischen Bezugsrahmen, so dass viele Franzosen regelmäßig und ohne besonderen Aufwand das Tourgeschehen direkt am Straßenrand verfolgen können. Das intensive Zusammenspiel von Zeit und Raum fördert die Entstehung von Erinnerung und den Fortbestand von Mythen, die immer wieder abgerufen werden, sobald die Tour einen Ort streift, der mit ihrer Geschichte in Verbindung steht. Als zweites Merkmal kollektiver Erinnerungsfiguren wäre der Gruppenbezug zu nennen (vgl. ebd.: 39), der ebenfalls für die Tour de France markant ist. Das Wissen um das Sportereignis wird von vermutlich fast allen Franzosen geteilt, und die Kenntnisse eines Jeden über das Geschehen bestätigen seine Gruppenzugehörigkeit. Die in Zeiten des wachsenden französischen Patriotismus entstandene Tour de France spielt als Narrativ dank ihrer schon 1903 einsetzenden medialen Verarbeitung eine entscheidende Rolle bei der Stabilisierung des nationalen Selbstbewusstseins. BDs tragen durch ihre Rückblicke auf die Geschichte des populären Rennens dazu bei, dass affektiv besetzte dramatische Situationen und außergewöhnliche Fahrer im Sinne eines gestalteten Mythos in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben werden: »[…] le sport projette aussi un monde de récits et de légendes que la société se raconte à elle-même: un espace d’héroïsation qui la confirme dans ses valeurs et dans ses choix« (Vigarello 2002: 9). Barthes vergleicht dementsprechend den Mythos der Tour mit Homers Epos: »Comme dans l’Odyssée, la course est ici à la fois périple d’épreuves et exploration totale des limites terrestres.« (Barthes 2010: 136) Für die Ausformung der kollektiven Erinnerung ist weiterhin die »Rekonstruktivität« (Assmann 1992: 40) von Bedeutung, da sie es ermöglicht, dass sich die Vergangenheit »fortwährend von den sich wandelnden Bezugsrahmen der fortschreitenden Gegenwart her reorganisiert« (ebd.: 41f.). Hierbei treten die Medien als Vermittler einer gestalteten Erinnerung an die Tour de France oder als Akteure 10 1906 wurden erstmals Lothringen und das Elsass durchfahren, und von 1907 bis 1910 war das seit 1871 dem Deutschen Reich zugehörende Metz Etappenort. Der Streckenverlauf erlaubt eine ambivalente Deutung: Zum einen signalisiert er eine Annäherung an Deutschland, zum anderen aber gibt er zu erkennen, dass man die im Krieg von 1870/71 verlorenen Gebiete immer noch als Teil des Hexagons wahrnahm. Als bei der Ankunft der Fahrer in Metz das Publikum die Marseillaise anstimmte, wurden die Gastspiele der Tour in Elsass-Lothringen von deutscher Seite sofort beendet (vgl. ebd.: 898).

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bei der Ausformung aktualitätsbezogener Diskurse über das Sportereignis besonders in Erscheinung. Mittels der Erinnerung an längst vergangene Ereignisse, zu denen kein Lebender mehr befragt werden kann, formen sie das kulturelle, objektivierte Gedächtnis der Nation, aber selbstverständlich auch das kommunikative Gedächtnis respektive Alltagsgedächtnis. Vor diesem Hintergrund entfaltet sich jährlich in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens anlässlich der Tour de France eine medial gestützte »kulturelle Mnemotechnik« (ebd.: 49), die im kommunikativen und kulturellen Gedächtnis Ausdruck findet.11 Auch wenn BDs zur Grande Boucle ganz spezifische Themen behandeln, so sind sie mit Blick auf die Ausformung des kulturellen Gedächtnisses in funktionaler Hinsicht dennoch mit populären Liebesromanen vergleichbar, die »objektivierte Kultur darstellen und Wissensbestände vermitteln, die zum kollektiven Wissen einer Gruppe gehören und Identität stiften, die Handeln und Erleben steuern und über Generationen« (Linke 2003: 16) weitergeben. Die Präsentation der Tour in den Medien gewährt daher weitreichende Einblicke in die Art und Weise, wie mit der Vergangenheit umgegangen und wie die Gegenwart gedeutet wird.12 Die Wirkungsmacht des Sportereignisses drückt sich darin aus, dass vor allem während der Sommermonate weite Teile der französischen Alltagskultur maßgeblich von der Tour bestimmt werden. Man denke nur an die intensive Vermarktung von Produkten, die mit dem Rennen in Verbindung gebracht werden, oder die Berichterstattung in den Medien. Hinzu kommen autobiografische oder fiktionale Texte, Filme, Periodika und Monografien, die im Idealfall rechtzeitig zum Tourstart erscheinen und im Sinne einer erinnernden, oft dramatisierten Formung der Sportgeschichte und des nationalen Bewusstseins wirken. Tatsächlich dient die Tour vielen Autoren als Inspirationsquelle, aus der sie ihre Geschichten schöpfen können, weil sie im kollektiven Gedächtnis ihren festen Platz hat. Zudem lassen sich solche Geschichten, wie Didier Daeninckx

11 Reicht das Erinnerte im kommunikativen Gedächtnis drei bis vier Generationen zurück, so umfasst das vom kommunikativen Gedächtnis durch einen »floating gap« (Assmann 1992: 49) getrennte kulturelle Gedächtnis Erinnertes, das weiter als ungefähr drei Generationen zurückreicht. Das Konzept des »kollektiven Gedächtnisses« verwendet Jan Assman als Überbau für das »kommunikative« und »kulturelle« Gedächtnis. Aleida Assmann unterscheidet das »soziale« vom »kollektiven Gedächtnis«: »Im Gegensatz zum sozialen Gedächtnis, das notwendig ephemer ist, ist das kollektive Gedächtnis stabil und darauf angelegt, längere Zeiträume zu überdauern« (Assmann k.A.: 1). 12 »La mémoire collective est ce qui reste du passé dans le vécu des groupes, ou ce que ces groupes font du passé.« (Nora 2011: 300)

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vermerkt, sehr gut vermarkten: »La Grande Boucle, avec sa caravane, me fait penser à un western. Cet univers clos est une mine d’or pour les auteurs.« (Daeninckx, zit. nach Laget 1998: 41) Bei der Schaffung des nationalkulturellen Wissensspeichers wirkt somit auch die BD im Einklang mit anderen Genres, welche die Erinnerung an die Tour medial aufbereiten, maßgeblich mit. Am Übergang von der gelebten zur verfassten Geschichte erhält die Frankreichrundfahrt häufig einen mythischen Charakter, und wie jedes ritualisierte Erinnern kann auch sie festlich-sakrale Züge annehmen.13 Der medial propagierte Glaube an die Heroen des Sports in der »contre-société idéale« (Vigarello 2002: 189) kompensiert den Verlust des Sakralen, der Transzendenz und einer erhabenen Moral, welche die antike Mythologie und das Christentum noch prägten.14 Dabei muss freilich der Leistungssport angesichts der regelmäßig wiederkehrenden Dopingskandale immer wieder gegen den Verlust seiner Unschuld und (vermeintlichen) Erhabenheit kämpfen. Wie in der Tragödie wächst hierbei die Fallhöhe des Protagonisten mit seinem Rang, und der Schock der Desillusionierung ergibt sich aus der Einsicht, er habe zu Unrecht den Mythos des übermenschlichen Helden für sich beansprucht.

13 »Die Erinnerungsfiguren haben einen religiösen Sinn, und ihre erinnernde Vergegenwärtigung hat oft den Charakter des Festes.« (Assmann 1992: 52f.) 14 »Le plus important demeure le principe d’héroïsation, cette manière de créer un espace de légende, une Olympe sportive peuplée de héros laïcs.« (Vigarello 2000: 174) »Une des caractéristiques principales de l’athlétisme moderne est d’être une religion« (Pierre de Coubertin, zit. nach Vigarello 2002: 9). »Dans un monde sans transcendance et sans dieux, le sport serait un des derniers lieux exprimant de l’idéal, voire du sacré. Sa visibilité même, son simplisme sans doute, sa volonté obscure de constituer un monde séparé et ›préservé‹ en font aussi un des lieux d’une hypocrisie rampante sinon d’une évidente vulnérabilité.« (Ebd.: 10)

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L’HISTOIRE DE LA GRANDE BOUCLE EN BD: ERINNERUNGEN AN DIE GESCHICHTE DER TOUR Die seit 1950 erschienenen BDs zur Tour de France nutzen das Sportereignis in unterschiedlicher Weise, um die Leser stets aufs Neue anzusprechen. Der reinen Unterhaltung dienen BDs mit witzigen und fiktiven Episoden, die vor allem in der jüngeren Vergangenheit verlegt worden sind. Dydo fait le Tour de France (1950) wie auch Pif Poche, Le Tour de France (Durane 1985), die sich besonders an Kinder und Jugendliche richteten, zählen zu dieser Gruppe. Auch spannende Ereignisse, etwa ein Verbrechen und seine Aufklärung, werden im Kontext der Tour positioniert, so der 118. Band von Bibi Fricotin mit dem Titel Le Tour de France a disparu (Manguin/Lacroix 1986). An außergewöhnliche Ereignisse aus der Geschichte des Rennens wird ebenfalls erinnert, wobei die thematische Selektivität und mediale Formung der ausgewählten Episoden das kollektive Gedächtnis der französischen (Radsport-)Kultur erheblich prägen. So gibt La prodigieuse épopée du Tour de France (Duval/Hardy 1973) schon im Titel zu erkennen, dass hier die Legenden- und Mythenbildung um die Helden der Landstraße im Mittelpunkt steht. Wie in Les belles histoires du Tour de France 1903-1996 (Ollivier/Nando 1997) wird an sportliche Höchstleistungen erinnert und das Bild von harten, aber fairen Wettkämpfen vermittelt. Als Beispiele für die Inszenierung von Erinnerung an Geschehnisse, die mit der Tour de France in Verbindung stehen, sollen im Folgenden zwei Bände dienen. Die BD Le Tour de France. Les petites histoires de la Grande Boucle (Ocula/Liera/Gerasi 2016) wirbt für sich als »LA BD OFFICIELLE«. Das Logo der Tour sowie der zum Teil im Tour-Gelb gehaltene Hinweis »LE TOUR DE FRANCE, LICENCIÉ OFFICIEL« auf dem Cover bestätigen, dass man die Popularität des Radsportevents als Kaufanreiz nutzen möchte.

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Abbildung 1: Les petites histoires de la Grande Boucle

Quelle: TJ Editions 2016

Die Auswahl der in diesem Band dargestellten Ereignisse aus der Geschichte der Tour folgt einem im Sportjournalismus verbreiteten Muster: Man setzt auf das »Spektakuläre und Sensationelle sowie die Personalisierung des Stars«, orientiert sich »an der Simulation und Stimulation von Gefühlen« und appelliert »an Voyeurismus und die Eingeweihtenstimmung im Expertenkreis« (Eichberg 2003: 435). Der grafische Realismus vieler Fahrerportraits, die sich auf zeitgenössische Fotografien stützen und oft das Leiden und den Triumph über die schier un-

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menschlichen Anstrengungen zum Thema haben, trägt im Einklang mit den erzählten Episoden zur Entstehung oder Fortführung von Heldenbildern bei. 15 Das von Tour-Direktor Christian Prudhomme verfasste Vorwort nobilitiert den Band, der mit »tranches de vies«, »sagas« und »anecdotes« aufwartet. Die drei Autoren, so liest man hier, »fidèles aux événements, ont su piocher dans ce fonds ouvert à la mémoire collective et constituer des planches mêlant le récit à la fantaisie« (Ocula/Liera/Gerasi 2016: 3). Während der folgenden 28 Episoden halten sich Information und Unterhaltung die Waage, doch es ist offenkundig, dass die mémoire collective insofern geformt wird, als gerade der Blick auf die Gegenwart der Tour frei ist von kritischen Tönungen. Allenfalls die legendäre Äußerung Octave Lapizes, nach der Überquerung des Col d’Aubisque im Jahr 1910, »Vous êtes tous des assassins« (ebd.: 9),16 weist darauf hin, dass die dem Nervenkitzel des Publikums dienende Jagd nach immer neuen Höchstleistungen stets auf dem Rücken der Sportler ausgetragen wurde. Dass die Tour Helden braucht, liegt in der Natur der Sache, und so wird in den Petites histoires de la Grande Boucle schon ihrem ersten Direktor, Henri Desgrange, die folgende Äußerung zugeschrieben: »On va voir ce que c’est un homme, un vrai, résistant, volontaire, dur, imbattable.« (Ebd.: 6) An anderer Stelle fügt er hinzu: »Le Tour de France est fait pour les hommes, les vrais, pour les muscles, pour la tête et les jambes.« (Ebd.: 14) Das heroische und mythische Image des Rennens zieht sich fortan wie ein roter Faden durch den Band, wobei etliche humorvolle Anekdoten die Botschaft verkünden, dass die Tour keine todernste Angelegenheit sei. Auch dies ist Teil des marketingstrategi-

15 Derartige Darstellungen schreiben sich in die jahrhundertalte »Ikonographie des Leidens« (Sonntag 2013: 49) ein, deren Fortsetzung Susan Sonntag in der Kriegsfotografie sieht. Auch für die Bilder von der sogenannten Tour der Leiden gilt ihr Befund: »Anscheinend ist der Appetit auf Bilder, die Schmerzen leidende Leiber zeigen, fast so stark wie das Verlangen nach Bildern, auf denen nackte Leiber zu sehen sind.« (Ebd.: 50) Dass mit dem Leiden der Fahrer geworben wird, bestätigt der Titel einer DVD, in der Erik Zabel und Rolf Aldag im Mittelpunkt stehen: Höllentour. Die Tour der Helden (Danquart 2005). 16 Der genaue Wortlaut ist nicht überliefert, so dass sich auch das folgende Zitat findet: »Vous êtes des assassins. Oui, des assassins!« (Mémoires du Cyclisme 2013) Während der zehnten Etappe der Tour von 1910, die auf 326 Kilometern von Bagnères-deLuchon nach Bayonne führte, mussten die Fahrer in den Pyrenäen nicht weniger als vier Hochgebirgspässe überwinden: den Col de Peyresourde, den Col d’Aspin, den Col du Tourmalet und schließlich den Col d’Aubisque. Nach seiner Ankunft beschimpfte Lapize auch den Organisator Desgrange als Mörder: »Desgrange est bien un assassin!« (Ebd.) Zum historischen Kontext siehe Vigarello 2002: 120.

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schen Kalküls: Das Leiden dominiert zwar, aber die Verweise auf die unterhaltsamen Seiten des Sports wirken der Gefahr entgegen, den Lesern ausschließlich Schreckensgeschichten vorzusetzen, die das Image der Tour in Mitleidenschaft ziehen und den Lesegenuss mindern würden. Betont wird, dass das Rennen über den sportlichen Erfolg hinausgehend den Fahrern auch den sozialen Aufstieg ermöglicht. So gelinge es den »héros populaires« (ebd.: 15), die seit 1919 das Gelbe Trikot tragen durften, aus dem »anonymat« (ebd.) herauszutreten und in die Annalen einzugehen. Die in diesem Zusammenhang abgebildeten Fahrer sind ausschließlich Franzosen, und dies dürfte kaum ein Zufall sein: Die Erinnerung an ihre Siege soll die Entstehung eines identitätsstiftenden nationalen Mythos fördern. Der Verweis auf die große Zeit des französischen Radsports soll vermutlich auch dem Leser darüber hinweghelfen, dass der letzte Sieg eines Franzosen bei der Tour de France – es handelt sich um Bernard Hinault im Jahr 1985 – schon einige Jahrzehnte zurückliegt. Bemerkenswerterweise steht im Zentrum der Abbildung Thomas Voeckler, der im Kreis französischer Toursieger als übergroßer Triumphator erscheint. Die grafische Darstellung bedient sich im Sinne der Mythenbildung der Geschichtsklitterung: Als einziger der Dargestellten beendete Voeckler die Tour niemals als Sieger, da er 2011 sein Gelbes Trikot nicht verteidigen konnte. Immerhin konnte er 2012 das Rennen im Trikot des besten Bergfahrers beenden. Abbildung 2: Französische Träger des Gelben Trikots

Quelle: TJ Editions 2016

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Die Gestaltung des Buchrückens in den Farben der Trikolore unterstreicht die Tendenz, die Tour aus einer nationalen Perspektive zu präsentieren. Um sich jedoch nicht dem Vorwurf des Chauvinismus auszusetzen, finden in einigen Episoden auch berühmte Fahrer anderer Nationen Erwähnung. So wird an den »jeune prodige Eddy Merckx« (ebd.: 27) erinnert und an bekannte Träger des Grünen Trikots (vgl. ebd.: 32). Dass Merckx’ Teilnahme an der 56. Tour de France durch eine Dopingsperre bedroht war, wird freilich nicht thematisiert.17 Die gelungene Mischung aus dramatischen, unterhaltenden und informierenden Episoden, die den Bogen von 1903 bis 2016 spannen, erlaubt es in Le Tour de France. Les petites histoires de la Grande Boucle, das Interesse der Leser an der Geschichte der Tour und ihren Protagonisten aufrechtzuerhalten. Tragische Ereignisse, unsportliches Verhalten und die Schattenseiten des Rennens bleiben konsequent ausgeblendet, gilt es doch, Eigenwerbung für das Produkt Tour de France zu betreiben. Der Aufrechterhaltung des Leserinteresses dient auch die abwechslungsreiche, expressive Bildsprache und die kontrastreiche farbige Gestaltung des Bandes, auf die bereits das Cover hinweist. Der Straßenverlauf evoziert die Steilheit der Steigung, die drei Fahrer verschiedener Epochen meistern: Der Sieger der ersten Touretappe, Maurice Garin, liegt in Führung. Ihm folgt im maillot jaune Laurent Fignon und mit ein wenig Abstand Christopher Froome im Trikot der Sky-Mannschaft. Wer die wahren und vielleicht auch besseren Sieger sind, wird durch dieses Arrangement hinreichend deutlich signalisiert. Dass Fignon 1987 und 1989 positiv auf Amphetamine getestet wurde, ignorieren die Autoren geflissentlich. Nicht nur die drei Fahrer verweisen auf die Geschichte der Tour, auch das Publikum verändert sich während der Betrachtung des Covers: Auf der Höhe Garins sehen wir Personen seiner Zeit, während die Zuschauer in der rechten Bildhälfte, auf der Höhe Froomes, unserer Gegenwart entstammen. Die derart gestaltete Botschaft wird im Band mehrfach variiert: Die Tour de France vermag die Menschen stets aufs Neue zu fesseln, und sie gehört zum kulturellen Erbe Frankreichs. Wie die Episode »Une Affaire de Famille« (ebd.: 43) veranschaulicht, wird die Begeisterung für das Rennen von Generation zu Generation weitergegeben. Die in der BD versammelten Geschichten dienen dabei dem Ziel, die Erinnerung an Vergangenes zu filtern und zu konservieren.

17 Bei Merckx wurden 1969 während des Giro d’Italia erstmals Amphetamine nachgewiesen, woraufhin er angab, lediglich einige Schlucke aus der Trinkflasche eines ihm unbekannten Tifoso genommen zu haben. Trotz dieser fragwürdigen Erklärung wurde sein Tourstart nach massiven Interventionen der Sportpresse und der belgischen Fans zugelassen (vgl. Angermann 2003: 54f.).

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Ein Blick in das Buch bestätigt die sorgfältige grafische Gestaltung. Anders als in klassischen BDs variieren in den Petites histoires de la Grand Boucle die Anordnung und Größe der Panels erheblich, so dass die Seitenarchitektur immer wieder aufgebrochen wird. Die grafische Dynamik und Expressivität fördert das Lesevergnügen in besonderem Maße. So finden sich auf zahlreichen Seiten Überlagerungen von Panels oder Ansichten (vgl. ebd.: 21, 34), und auf einer Doppelseite (vgl. ebd.: 24f.) wird die im Zentrum stehende historische, von unten links nach oben rechts verlaufende Entwicklung der Werbekarawane durch Einblendungen ausgeführt. Wiederholt reichen Bildelemente über den Rahmen hinaus, wie im Fall Laurent Fignons (vgl. ebd.: 42), dessen Siegergeste in Kombination mit der einen zeitlichen Ablauf evozierenden Bildgestaltung (von rechts nach links, von klein zu groß) den Eindruck erweckt, er fahre auf den Leser zu. Abbildung 3: Laurent Fignon

Quelle: TJ Editions 2016

Mehrfach dienen historische Fotos als Grundlage für die Darstellungen, etwa der Start der Tour von 1903, wobei dem Titel »Le Gang des Moustachus« (ebd.: 5) folgend die Fahrer entgegen der historischen Treue 18 mit beeindruckenden Schnurrbärten gezeichnet wurden (vgl. ebd.: 6).19 Auch sah der damalige Sieger 18 Siehe https://www.herodote.net/_images/tourdefrance2.jpg. 19 Siehe auch S. 30 und das Foto http://www.lagrandeboucle.com/spip.php?article2104. Das Verfahren ist bei BDs, die sich auf ein historisches Geschehen beziehen oder Aspekte der Technikgeschichte berücksichtigen, nicht unüblich. In ihren BDs zum Ersten

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Garin nach 470 Kilometern, die er zwischen dem Pariser Vorort Montgeron und Lyon zurücklegen musste, am Ende des Rennens bei weitem schlechter aus als in der BD.20 Bemerkenswert ist die letzte Seite, welche den Entstehungsprozess der vorletzten Seite dokumentiert und die künstlerische Wertigkeit des Bandes hierdurch unterstreicht. Abbildung 4: Cliffhanger

Quelle: TJ Editions 2016

Nicht zuletzt dient sie als Cliffhanger, um den zweiten, 2017 erschienenen Band anzukündigen21 und die Elemente Unterhaltung und Sport, welche die Petites Histoires de la Grande Boucle versammeln, ein letztes Mal zusammenzuführen. Markant ist die Perspektive, denn sie schafft die Illusion, die Leser wären selbst Akteure des Rennens. So gibt sie das Geschehen aus dem Blickwinkel eines Rennfahrers wieder, der von der Begeisterung der Fans (zum Teil stehen ehemalige

Weltkrieg greifen Kris und Maël ebenso wie Tardi regelmäßig auf historische Aufnahmen zurück. 20 https://fr.wikipedia.org/wiki/Tour_de_France_1903#/media/File:Eerste_Tour_de_ France_-_First_ Tour_de_France.jpg. 21 Dieser Band trägt den Untertitel Petits et grands champions. Ein Jahr später erschien der dritte Band der Serie zum Thema La bataille des nuages.

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Protagonisten der Tour am Straßenrand) den Berg regelrecht hochgepeitscht wird. Der Zuschauer wird zum Fahrer, die Fahrer werden zu Zuschauern – hiermit wird ein Rollenspiel gestaltet, das den Traum vieler bedient, sich selbst einmal als Held der Landstraße zu fühlen. Die für die Populärliteratur besonders wichtigen Funktionen der Unterhaltung durch Bild und Text sowie der Teilhabe an Emotionen werden in den Petites Histoires de la Grande Boucle durch stark gefilterte historische Informationen ergänzt, so dass dem Leser ein attraktives Gesamtangebot zur Verfügung gestellt wird. Die Idealisierung des Sports besitzt dabei mit Blick auf den Alltag der Leser eine kompensatorische Funktion: »l’espace sportif se dit toujours exemplaire, provoquant ce que Bernard Jeu a très subtilement appelé une ›contre-société‹: un monde ›projetant un idéal qui vient de la société mais que la société se révèle précisément incapable de réaliser elle-même‹« (Vigarello 2002: 190). Die Petites Histoires de la Grande Boucle stehen dabei geradezu paradigmatisch für den Versuch, die Ökonomisierung der Tour durch ihre Mythisierung vergessen zu machen. Sie folgen hierbei konsequent der nach Barthes zentralen Ambiguität, dem »mélange savant des deux alibis, l’alibi idéaliste et l’alibi réaliste«, die es der Tour als Legende erlaube, »de recouvrir parfaitement d’un voile à la fois honorable et excitant les déterminismes économiques de notre grande épopée« (Barthes 2010: 138). Einen Rückblick in die Tourgeschichte präsentiert auch der von Nicolas Debon vorgelegte Band Le Tour des Géants (2009). Erinnert wird an das Geschehen während der Grande Boucle von 1910, in deren Verlauf erstmals die Pyrenäen zu bezwingen waren. Das Rennen ging nicht nur wegen des bereits erwähnten Vorwurfs Lapizes (»assassins«), sondern den Gesetzen des Epischen folgend auch wegen des Duells zwischen dem Luxemburger François Faber, dem »géant de Colombes« (ebd.: 4), und Octave Lapize, »Tatave ou le Frisé« (ebd.), in die Geschichte ein. Diese BD erscheint besonders bemerkenswert, da Debons grafische Erzählung der Regel, die Tour in einem positiven Licht darzustellen, entgegentritt und mythenkritisch agiert. Andererseits wiederum bedient der vierseitige, mit historischen Aufnahmen und Dokumenten angereicherte Einführungstext des Journalisten Serge Laget den Mythos der Tour mit superlativischen Attributen: »Le Tour, c’est un phénomène social, unique, consensuel, qui a aidé le pays à repartir après les guerres mondiales de 1914-1918, et 1939-1945. Le Tour, c’est une organisation sans faille, et des coureurs fabuleux, héroïques, obscurs ou célèbres.« (Ebd.: 3) Dieser besonderen Tonlage entspricht die Wahrnehmung des Rennens als »la plus belle des chansons de geste« (ebd.: 4), wobei der Autor in eine erhebliche stilistische Schieflage gerät, wenn er den Fahrern die »noblesse du muscle« (ebd.: 3) zuteilt. Die epische Metaphorik und die Idee eines makellosen Rittertums

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setzen sich fort, wenn darauf hingewiesen wird, dass Lapize und Faber »le premier grand duel de l’épopée, entre deux champions hors norme« (ebd.) ausgetragen hätten. Rennsportler werden zu regelrechten Übermenschen: »Le coureur qui boucle son Tour devient un ›géant de la route‹, et s’il gagne une étape, il est encore plus grand. Et s’il porte le fameux maillot jaune ou s’il remporte la course sur les Champs-Elysées, c’est la célébrité éternelle…« (Ebd.: 4)

Stark geraffte Hinweise auf problematische Seiten des Rennens von 1910 erscheinen eher als Ausdruck einer political correctness, zumal sie nicht vom Heldentum der Ritter der Landstraße ablenken sollen: »Un combat de géants, on vous dit. D’autant qu’il y a des chutes, des crevaisons, des contrôles secrets, la fringale, les empoisonnements, des animaux domestiques prenant les roues des coureurs pour des cerceaux de cirque, et des ours dans les environs. […] Et on ne vous parle pas de la canicule, des sabotages et autres vilenies, que Nicolas [Debon] nous montre de l’intérieur, tout en préservant le souffle de l’épopée, l’essentiel.« (Ebd.: 4f.)

Lagets Text rühmt vor allem die epischen Dimensionen des Rennens, die Roland Barthes freilich schon vor einigen Jahrzehnten hinterfragt hat.22 Liest man im Anschluss an Lagets Einführung Debons grafisch-erzählende Wiedergabe der 15 Touretappen, dann wird sehr bald deutlich, dass Le Tour des Géants erhebliche Ambivalenzen, wenn nicht gar Widersprüche aufweist: Anders als Laget, der die traditionellen Mythen pflegt, dekonstruiert Debon diese, indem er vor allem die Qualen, denen sich die Fahrer unterwerfen mussten, in den Mittelpunkt stellt. Dabei folgt er einerseits dem seit der Antike bekannten Darstellungsmuster, nach dem das Ansehen von Helden umso größer wird, als ihr Leiden wächst und sie Opfer eines unmenschlichen Schicksals werden. Andererseits aber weist er darauf hin, dass der Ruhm allein durch die Unterwerfung unter die inhumanen Gesetze der Tour de France erworben wird und dass die Grenze zwischen Heldentum und Märtyrertum fließend ist. Zwar können auch Märtyerer heldenhafte Züge tragen, doch fehlt Debons Figuren diese Qualität völlig. Sie erscheinen zwar als Märtyrer, doch ausschließlich als Opfer, deren Tragik daraus entsteht, dass sie sich freiwillig einem inhumanen Geschehen unterwerfen. Es gehört in der Tat zu der spezifischen Inszenierung der Tour, dass die Auswahl der Etappen und die Anforderungen an die Fahrer möglichst das Rennen des Vorjahres in den Schatten stellen sollen. Mit dem Ziel einer erfolgreichen Vermarktung, die auf der 22 Für Barthes besitzt die Tour eine »morale ambigüe«, da »des impératifs chevaleresques se mêlent sans cesse aux rappels brutaux du pur esprit de réussite« (Barthes 2010: 137).

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Darbietung von Sensationen beruht, wird hierdurch eine sich selbst verstärkende Dynamik erzeugt, die das Interesse der Öffentlichkeit Jahr für Jahr mit immer neuen, schier übermenschlichen Leistungen bedienen möchte.23 Wie Debon zeigt, sind die Fahrer die Leidtragenden dieser grausamen Gesetzmäßigkeit. Das problematische Geschehen in Le Tour des Géants ist zwar in der Vergangenheit angesiedelt, doch lassen sich die kritischen Botschaften des Bandes auch auf die Gegenwart übertragen. Die episodische Schilderung des Rennens wird durch einen Prolog vorbereitet, der die Wiedergabe des Starts nutzt, um dem Duktus eines Rennkommentators folgend auf acht Seiten wichtige Hintergründe zur Tour und den Fahrern zu vermitteln. Die BD endet mit einem als Epilog gestalteten Hinweis auf das traurige Schicksal der »Géants de la route« während des Ersten Weltkrieges, in dem viele, so auch Faber und Lapize, ihr Leben lassen mussten. Angesichts der Qualen, denen sie sich zuvor im Kampf um den Toursieg ausgesetzt hatten, wird die Absurdität ihres Todes besonders deutlich. Dass es sich 1910 um eine wahrhaftige Tour der Leiden handelte, belegen die von widrigen Umständen geprägten Etappen: Erzählt wird von zahlreichen technischen Pannen, die die Fahrer ohne fremde Hilfe selbst beheben mussten (vgl. ebd.: 16, 21, 72, 75, 76), extremen Wetterbedingungen (vgl. ebd.: 16f., 21f., 24f., 26, 34, 68, 75f.), endlosen Etappen mit einer Länge von bis zu 424 Kilometern (vgl. ebd.: 69), blutigen Unfällen und bemitleidenswerten Sportlern, die das Rennen trotz schwerer Verletzungen fortsetzten (vgl. ebd.: 22, 26, 36, 38, 41, 46, 64, 74f.). Vor allem die expressive Grafik gibt zu erkennen, dass diese Männer keine Helden mehr sind, sondern nur noch Opfer einer menschenverachtenden Logik. Die Rede ist aber auch vom intensiven Konsum alkoholischer Getränke oder weitaus problematischerer »Stärkungsmittel« wie Arsen und Strychnin (vgl. ebd.: 20, 28, 53, 67f.), und nicht zuletzt von unsportlichem Verhalten, das von der Sabotage, etwa dem Eingießen von Brechmitteln in die Trinkflaschen der Gegner oder dem Lockern von Radmuttern, bis hin zu Prügelattacken gegen einzelne Rennfahrer reicht.24 Debons Protagonisten ist angesichts des Konkurrenzdrucks jegliche Ritterlichkeit abhanden gekommen, verteilen sie doch Reißzwecken und Scherben 23 Vgl. den Erzählerkommentar: »Le moins qu’on puisse dire, c’est que Desgrange, par ailleurs génial organisateur du Tour, pouvait se montrer impitoyable envers ses coureurs…« (Debon 2009: 30) 24 Derartige Unsportlichkeiten von Aktiven wie auch Zuschauern waren viele Jahre gängige Praxis. Das Gleiche gilt für das Doping, das so alt ist wie die Tour de France, aber auch in anderen Sportarten, wie dem Boxen, völlig üblich war. So präsentierten die in den 1920er Jahren im Radsport sehr erfolgreichen Brüder Pélissier dem Journalisten Albert Londres wie selbstverständlich ihre Apotheke: »›Ça c’est de la cocaïne pour les yeux, ça c’est du chloroforme pour les gencives […].‹ ›Et des pillules? Voulez-vous

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auf der Straße, um lästige Verfolger abzuschütteln (vgl. ebd.: 42, 45). Angesichts dieser Widrigkeiten erscheint es besonders tragisch, dass der Luxemburger Faber, der trotz seiner Erkrankung auf der letzten Etappe vor Lapize führte, kurz vor dem Ziel von einer Reifenpanne um den Sieg gebracht wurde. Der Luxemburger ist der eigentliche Held der Tour, dessen Fallhöhe umso größer ist, als er aufgrund seines Leidens und Kampfgeistes wie ein Märtyrer in Szene gesetzt wird, den sein Schicksal willkürlich und gnadenlos ereilt.25 Es ist sehr aufschlussreich zu sehen, wie sehr sich in Le Tour des Géants Debons Blick auf die Tour von der Wahrnehmung Lagets, des Verfassers der Einleitung, aber auch von der Darstellung seitens der Autoren der Petites histoires de la Grande Boucle unterscheidet. In seiner BD überwiegt die mythenkritische Komponente, welche den ausbeuterischen Charakter des Rennens hervorhebt. Hierzu vermerkt sein Erzähler: »C’était ça le Tour: une accumulation disproportionnée de souffrances pour quelques secondes d’une joie amère pour les plus chanceux…« (Ebd.: 42), und Lapize werden folgende Worte in den Mund gelegt: »Le public s’imagine les champions comme des surhommes, auxquels tout est aisé… Pourtant, regarde-moi: je maigris de jour en jour, et mes jambes sont tellement meurtris que je peux à peine me lever… Nous avons vingt, vingt-cinq ans, et nous en paraissons le double tant nos membres sont usés par l’effort et noircies par les intempéries… Des enfants dans des corps de vieillards…« (Ebd.: 59)

Die Ikonografie unterstreicht diese kritische Tendenz des Bandes, indem sie die Leiden der Fahrer während der Tour grafisch akzentuiert.

voir des pillules? Tenez, voilà des pillules.‹ Ils en sortent trois boîtes chacun. ›Bref, dit Francis, nous marchons à la ›dynamite‹.‹« (Londres 1924: 2) 25 Der Vergleich mit der Tragödie tut sich auch bei Eichberg auf: »Bei aller Widersprüchlichkeit blieb in der modernen Medien- und Unterhaltungskultur das auf Spannung und Drama orientierte leistungsproduzierende Sportmodell hegemonial.« (Eichberg 2003: 436)

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Abbildung 5: Cover Le Tour des Géants

Quelle: Dargaud 2009

Bereits die Gestaltung des Titelbildes kündigt an, dass Debon seine Figuren nicht realistisch und detailgenau ausarbeitet und er auch die Landschaften, durch die sie fahren, flächig und eher reduktionistisch wiedergibt. Auf diese Weise stellt er der Fantasie des Betrachters mehr Raum zur Verfügung, so dass man sich unwillkürlich intensiver in die Geschichte einbringt als bei einer fotorealistischen Gestaltungsweise. Der Vergleich des Covers von Le Tour des Géants mit jenem der Petites histoires de la Grande Boucle (Abbildung 1) macht deutlich, wie unterschiedlich das gleiche Motiv, die Darstellung von Fahrern bei einem kurvigen Berganstieg, umgesetzt wird. Debon zeigt eine menschenleere, öde Bergwelt in matten Farben, erweckt aber zugleich den Eindruck, dass die Fahrer die Wolken hinter sich gelassen haben und gleichsam in Richtung Olymp unterwegs sind. Ocula,

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Liera und Gerasi setzen den Akzent auf das publikumswirksame Spektakel, das in grellen Farben gehalten ist und vergleichsweise realistisch gestaltet wird. Während auf dem Cover von Petites histoires de la Grande Boucle im Gesichtsausdruck der drei prominenten Sportler deren eiserner Siegeswille erkennbar ist, verweist Debons Darstellung der anonymen, gekrümmten Fahrer auf ihr Leiden. Auch auf den folgenden Seiten verbreitet Debon durch stumpfe, dunkle Farben in Braun- und Grautönen, die an Kreidezeichnungen erinnern, eine triste Stimmung. Statt der dynamischen Seitenarchitektur der Petites histoires de la Grande Boucle findet sich in Le Tour des Géants ein sehr strukturiertes Arrangement. Die Schlichtheit des Seitenaufbaus führt zu einer ruhigen und unspektakulären, das Nachdenken anregenden Gestaltung des Inhalts, wobei gerade die unauffällige Form die Dramatik des Dargestellten und die Leiden der Sportler herausstreicht. Debon lässt sie im wahrsten Sinne des Wortes Blut und Wasser schwitzen (vgl. ebd.: 56), wobei die expressive Bildsprache, die sich leitmotivisch durch den ganzen Band zieht (vgl. ebd.: 30, 35, 36, 38, 42, 46, 50, 57, 64), gezielte ikonografische Anleihen bei dem christlichen Motiv des Schmerzensmannes macht.26 Abbildung 6: Lapize

Abbildung 7: Schmerzensmann

Quelle: Dargaud 2009

Quelle: Siehe Fußnote 26

26 http://guidaaltoadige.blogspot.com/2013/03/ecce-homo-e-schmerzensmann.html.

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Der strahlende, heldische Mythos, von dem im Vorwort noch die Rede war, wird entzaubert und durch den Mythos des Märtyrers ersetzt, der allerdings ambivalent gestaltet ist. Die Rennfahrer opfern sich einerseits aus freien Stücken in einem »effort surhumain« (ebd.: 56) dem Sport, andererseits sind sie Opfer der inhumanen Kommerzialisierung der Tour der Leiden. Entsprechend zitiert auch Debon Lapize, diesmal mit den Worten, »Assassins… vous êtes… des assassins« (ebd.), wobei die Pausen geschickt eingefügt sind, um den Lesern den Grad der Erschöpfung des Fahrers zu suggerieren. Anders als in den Petites histoires de la Grande Boucle, in denen Lapizes Anklage nur anekdotisch zitiert wird, dient sie bei Debon der Schaffung eines alternativen Narrativs zur Tour de France, das durch eine laisierte Lesart des christlichen Mythos den Opferstatus der Fahrer akzentuiert. Sie werden indes nicht von ihrem Leiden erlöst, da sie sich Etappe für Etappe, Jahr für Jahr, immer wieder aufs Neue den Strapazen des Rennens unterwerfen. Die in Le Tour des Géants auffallende Kombination von affirmierendem, unkritischem Umgang mit dem Mythos des Heldentums im Vorwort und seiner Relativierung in der grafisch erzählenden Diegese steht damit symptomatisch für eine Vielzahl von Widersprüchen, die mit der Tour de France in Verbindung gebracht werden können.

LE TOUR DU RIRE: RADSPORT IM DIENSTE DER UNTERHALTUNG Die zahlenmäßig größte Gruppe von BDs, in denen die Tour de France den Rahmen für die Erzählung bildet, besitzt einen ausschließlich unterhaltenden Charakter. Zu ihnen zählen Pat Pernas und Philippe Bercovicis Le Tour de France, Les coulisses du Tour de France (2015), auf den der von Jean-Marc Thévenet und Philippe Bercovici verfasste Band Le Tour de France, Le Sprint final (2016) folgte. Beide Bände wurden als »La BD officielle du Tour de France« vermarktet, und entsprechend reproduzieren sie das Logo der Tour auf dem Cover.

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Abbildung 8: Les coulisses du TdF

Abbildung 9: Le sprint final

Quelle: Hachette 2015

Quelle: Hachette 2016

Wie die in knalligen Farben gestalteten Vorderseiten beider Bände zu erkennen geben, möchte man das Lesepublikum vor allem unterhalten. Zugleich ist ein erzieherischer Appellcharakter ersichtlich, wobei die karikaturesk übertriebene Gestaltung der Situationen dem Betrachter zwei Verhaltensweisen veranschaulicht, über die er lachen kann, während sie für die Rennfahrer möglicherweise ein ernstes Problem sind. Das Lachen dient als Korrektiv, gemäß der von Jean-Baptiste de Santeul formulierten Aufgabe der Komödie: »castigat ridendo mores«.27 So wird auch in einer Geschichte des ersten Bandes (vgl. Perna/Bercovici 2015: 22f.) die Unsitte vieler Selbstdarsteller am Streckenrand getadelt, die Fahrer durch ihr exzentrisches, grotesk anmutendes, oft selbstgefälliges Verhalten zu behindern.28 Etwas humorvoller, doch im Kern ebenfalls zutreffend, ist das Verhalten der Verliebten auf dem Cover des zweiten Bandes. Sie leben in ihrer eigenen Welt, so dass ihnen völlig entgeht, dass sie die Champs-Élysées inmitten des Fahrerfeldes überqueren. Es bleibt der Fantasie des Betrachters überlassen, den gezeichneten Impuls fortzuführen und den weiteren Verlauf der Szene – mit dramatischem Ausgang oder Happy End – zu imaginieren. 27 http://dicocitations.lemonde.fr/item-10302.html. 28 Die Verkleidung des Zuschauers lässt an den in Frankreich populären Didi Senft denken, der sich als El Diablo auch in Deutschland bei Nach-Tour-Kriterien vermarktet (vgl. http://www.didisenft.de/).

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Auf 31 Seiten entfachen Perna und Bercovici ein regelrechtes Feuerwerk an komischen Situationen und Begebenheiten, wobei fast jede Seite einen neuen Sketch bereithält. Die Handlungsführung folgt dem Muster des Witzes, so dass der sehr überschaubare Inhalt der Episoden stets zur Pointe hinführt, die in der Regel einen Erwartungsbruch oder eine Normverletzung beinhaltet.29 Bemerkenswert sind jene Geschichten, die auch einen kritischen Seitenhieb auf das Geschehen rund um die Tour zulassen. Als Beispiel hierfür kann zu Beginn des Bandes das peinliche Sponsoring durch einen Boudin-Fabrikanten und dessen Frau gelten, wobei im Moment der Pointe die massive Inkongruenz bzw. Bisoziation 30 zwischen lächerlichem Auftreten und ökonomischer Bedeutung Komik erzeugt. Dass die fragwürdigen Sponsoren trotz ihrer albernen Verkleidung als boudin und pomme den Zuschlag erhalten und fortan in mehreren Episoden die Tour begleiten, lenkt den Blick auf die bedingungslose Kommerzialisierung des Radsportevents. Dies veranschaulicht auch die letzte Geschichte des Bandes, in der Prudhomme dem Metzger und seiner Frau anbietet, die finale Etappe des Rennens in seinem Auto zu begleiten. Andernfalls wäre sein Ansehen beschädigt worden, da seine Hauptsponsoren planten, vor der Ankunft des Feldes ihre Boudin-Werbung in Form einer unangenehm riechenden, überdimensionalen Wurst auf einem Anhänger über die Champs-Élysées zu fahren. Dass sie als boudin und pomme verkleidet in Prudhommes Wagen einsteigen, ist einer der auf der Mechanisierung des Komischen (vgl. Bergson 1938: 58) gründenden Running Gags des Bandes. Andere Running Gags beziehen sich auf die Rivalität zwischen den Motards de la Gendarmerie und jenen Motorradfahrern, die für Presse, Funk und Fernsehen arbeiten (vgl. Perna/Bercovici 2015: 4, 5, 6, 29). Beide Seiten sind nicht gerade mit Intelligenz gesegnet, und das Lachen entsteht aus dem Überlegenheitsgefühl des Lesers (vgl. Balzter 2013: 54). Zumindest in der karikaturesken Verzerrung ist jedes Mittel recht, um zum Erfolg zu gelangen. So verabreicht ein Teamchef seinen Fahrern ein Abführmittel, damit sie möglichst schnell das Ziel erreichen wollen (vgl. Perna/Bercovici 2015: 7), oder er gibt ihnen Pillen aus einem »mélange de choux-fleurs, choux de Bruxelles et concentré hyper-protéiné« (ebd.: 14). Wenn die während des Rennens entstehenden Blähungen die anderen Fahrer derart benebeln, dass ihnen ein Weiterkommen unmöglich wird, dann wird die Dopingproblematik nicht etwa ironisch kommentiert, sondern lediglich humoristisch entschärft. Auch die Zuschauer bekommen ihr Fett weg, etwa der feiste 29 Mit der Pointe geht eine »Erwartungsenttäuschung« einher, da das Unerwartete »im Grundsatz jeder Komik eigen ist« (Balzter 2013: 62). 30 Unter »Inkongruenz« (nach Schopenhauer) respektive »Bisoziation« (nach Koestler) bezeichnet die Komikforschung »das Zusammenstellen des nicht Zusammengehörigen« (ebd.: 52).

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Pseudo-Fan, der an einem Berganstieg von seinem Liegestuhl aus den sich die Straße hochquälenden Fahrer als »feignasse« (ebd.: 12) beschimpft, oder der autoritäre Vater, der im Moment der Vorbeifahrt des Pelotons aus der Rolle fällt und als Tour-Teufel verkleidet die Fahrer fanatisch anfeuert – sehr zum Erstaunen seines Sohnes, der ihn so noch nicht kennengelernt hat (vgl. ebd.: 11, 20). Abbildung 10: »Reiß dich zusammen, du fauler Sack!«

Quelle: Hachette 2005

Der zweite Band, Le sprint final, wartet mit einem Sketch pro Seite auf, wobei die relative Kohärenz, die der erste Band durch wiederkehrende Personenkonfigurationen herstellte (Geschichten über die Sponsoren, eine Familie, die Polizei und

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Motorradreporter), beibehalten wird. Erneut beruhen die Sketche meist auf komischen Situationen, aber in Ergänzung zum ersten Band nun auch auf Wortspielen. Dies führt etwa dazu, dass »le maillot à pois« im Fall eines Fahrers, der sich zu intensiv kulinarischen Genüssen hingibt, dank der Homofonie zum »maillot au poids« (Thévenet/Bercovici 2016: 11) wird. Die Wendung »un coureur de couleur«, die auf einen afrikanischen Fahrer bezogen wird, gilt im wörtlichen Sinne auch für die europäischen Sportler, deren Gesichtsfarben je nach Grad der Anstrengung und Situation von Rot über Blau und Grün zu Gelb wechseln können (vgl. ebd.: 29). Nach einer Zahnbehandlung, der sich ein Fahrer während des Rennens unterzieht, erhält die bildhafte Redewendung »Il a retrouvé de son mordant« (ebd.: 15) eine sehr konkrete Bedeutung. Nicht zu vergessen das gelungene Wortspiel um das Team Festina, das wegen seiner Doping-Belastung zu »Pestina« (ebd.: 12) mutiert. In diesem Zusammenhang ist auch jener Sketch erwähnenswert, der die neue Dimension des E-Dopings thematisiert: Nach einem Massensturz bei der Zielankunft rollt das Rad eines Fahrers aus eigener Kraft durch das Ziel, was zu einem witzigen Dialog Gelegenheit gibt, dessen Komik aus der Spannung zwischen konkretem und übertragenem Wortsinn resultiert: »Alors? On dirait que le courant est passé!« – »Il va plutôt y avoir de l’électricité dans l’air.« (Ebd.: 14) Bemerkenswert sind schließlich jene Seiten, auf denen Zuschauer wie Fahrer zur Zielscheibe des Spotts werden, wenn sie gegen die Regeln des guten und sportlich fairen Verhaltens verstoßen. Die Komik entsteht hierbei aus dem radikalen Kontrast zwischen textueller Botschaft und gezeichnetem Verhalten, Ideal und Realität. Die Selbstironie erhält ihre letzte Steigerung, wenn sich Christian Prudhomme trotz der zuvor dargestellten Beispiele für unsportliches Verhalten auf einem Empfang rühmt: »Pour faire respecter l’ensemble des règles du Tour auprès de coureurs?... Il suffit d’un minimum d’autorité… Voilà tout!« (Ebd.: 22) Die grafische Gestaltung beider Bände entspricht dem probaten inhaltlichen Konzept, da auf Experimente verzichtet wird. So zeichnet Bercovici das Einleitungspanel, in dem die Situation oft durch die Sprechblasen der dargestellten Figuren konkretisiert wird, häufig etwas größer. Gleiches gilt für das Schlusspanel am Seitenende, das die Pointe auch grafisch akzentuiert. Die Figuren sind in beiden Bänden karikaturesk überzeichnet, ebenso die in sehr lebhaften Farben gestaltete Wiedergabe von Situationen, wobei das Inventar von Darstellungselementen wie Bewegungslinien, Onomatopöien oder grafischen Symbolen wie Schweißtropfen oder Wölkchen, die Zorn ausdrücken sollen, dem traditionellen Fundus der BD entstammt. Im Sinne der Textökonomie steht die Grafik im Dienste der inhaltlichen Botschaft, so dass Bild- und Textgestaltung allein der Herbeiführung der Pointe dienen.

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Erwähnenswert erscheint, dass vor allem der zweite Band die autoironische Aufbereitung kritischer Aspekte der Tour de France einbezieht. Die Tatsache, dass auch eine karikatureske BD die Dopingproblematik anspricht, belegt, dass selbst das Produit Officiel du Tour de France nicht mehr uneingeschränkt die Illusion vermitteln möchte, man lebe in der besten aller möglichen Sportwelten. Gleichzeitig dient das Lachen über derartige Problemlagen, die im Freudschen Sinne ein dem Unheimlichen (vgl. Freud 1963) vergleichbares Unwohlsein erzeugen, in psychologischer Hinsicht der Erleichterung und Entlastung, mithin der Reduktion ihres problematischen Inhalts (vgl. Freud 2012). Während das Verdrängen des Tabuthemas Doping einen psychischen Aufwand bedeutet, relativiert das Lachen hierüber seinen Ernst. Auf diese Weise tragen die Bände von Le Tour de France dazu bei, das positive Ansehen des Rennens im öffentlichen Bewusstsein zu stabilisieren. Negative Seiten der Grande Boucle werden allenfalls in entproblematisierter Form dargeboten, dem Motto folgend: »Il vaut mieux en rire qu’en pleurer« – Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Haben die bisher behandelten BDs einen eher unmittelbaren Bezug zur Tour de France, so liegt der Fall bei den drei Bänden Le Tour de France en Bandes Dessinées (Jalabert/Renaud/Lacore 2005), Le Tour de France. C’est reparti pour un Tour (Jalabert/Lacore/Renaud 2006) sowie Le Tour de France. Chacun son Tour (Robberecht/Renaud 2009) etwas anders, auch wenn sie auf dem Cover das Logo der Tour führen dürfen. Das Rennen dient hier allenfalls als Rahmen für die jeweils eine Seite umfassenden skurrilen Episoden um das internationale Team des Wurstfabrikanten Jean Bonnot, das sich ab dem zweiten Band mit den Fahrern des Rennstalls der Anlageberatungsfirma Rhekin duelliert, dem sportliche Fairness fremd ist. So dürfte es kein Zufall sein, dass auch zwei Fahrer namens Kurt und Franz Bayern bei den »Haien« von Rhekin unter Vertrag sind (vgl. Jalabert/Lacore/Renaud 2006: 14; Robberecht/Renaud 2009: 22). Die Episoden entfernen sich teilweise in völlig irrealer Weise vom sportlichen Hintergrund, etwa wenn die Fahrer das Rennen unterbrechen, um durch Zaunlücken in ein Nudistencamp zu spähen (vgl. Jalabert/Renaud/Lacore 2005: 27). Derart elementarer Humor speist sich immer wieder aus der Situationskomik, beispielsweise wenn der Rückstoßeffekt, den ein Pollenallergiker beim Nießen erzeugt, ihm zum Sieg verhilft, da man ihn rückwärts auf das Rad gesetzt hat (vgl. Robberecht/Renaud 2009: 19). Weil neben den Franzosen auch andere Nationen im Team vertreten sind, führt dies immer wieder zur Reproduktion kultureller Heterostereotypen, so dass das im Zeichen des Ethnozentrismus karikaturesk verformte Andere regelmäßig dem Lachen ausgesetzt wird. Dementsprechend verbinden sich im Fall des Italieners Lamorosso – nomen est omen – kulturelle Stereotypen mit Gender-Klischees (vgl.

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Jalabert/Lacore/Renaud 2006: 14), da ihn sein Team-Direktor vor dem Start nachdrücklich auf eine junge Dame aufmerksam macht, die nach dem Rennen auf dem Podium den Sieger für seine Leistung belohnen wird. Dieser Hinweis dürfte zu den erlaubten leistungssteigernden Mitteln zählen, und bei einem Italiener mit dem Namen Lamorosso bleibt das erwünschte Ergebnis auch nicht aus (vgl. ebd.: 11). Wenn Hans-Robert Jauss der Unterhaltungskunst einen »kulinarischen« (1970: 178) Wert zuteilt, da der Erwartungshorizont der Leser nicht verändert wird und die ästhetische Distanz zwischen Werk und Publikum gering bleibt, dann trifft dieses Urteil auf die hier besprochenen BDs uneingeschränkt zu. Abbildung 11: Lamorosso

Quelle: Jungle 2006

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Der Inhalt der Episoden macht offenkundig, dass die auf dem rückseitigen Cover der ersten beiden Bände werbewirksam hervorgehobene Beratung des Szenaristen durch den ehemaligen Radprofi Laurent Jalabert allenfalls sehr rudimentär war. Wie Laget in Le Tour des Géants nutzt Jalabert aber die Gelegenheit, die Tour und die angebliche Kameradschaft unter den Fahrern mythisch zu überhöhen: »Pour moi, le Tour de France c’est avant tout une aventure humaine que l’on partage avec toute une équipe. Au-delà des souffrances et des exploits, ce que je garde de plus précieux aujourd’hui, c’est cette vie d’équipe. Ce sont ces éclats de rire que nous avons voulu vous faire partager. Quoi de mieux qu’une bande dessinée pour vous faire découvrir la vie quotidienne du Tour?« (Jalabert/Renaud/Lacore 2005, 2006)

In grafischer Hinsicht fällt auf, dass der Zeichner Renaud eine sehr reduzierte Formensprache pflegt und die Ausgestaltung der Panels auf das Wesentliche, nämlich die Personen der Handlung und die Gestaltung der Pointe, beschränkt bleibt. Stilistisch orientiert sich Renaud an Mustern der Personendarstellung der sehr erfolgreichen frankobelgischen BD. So erinnert die Tolle des Jungprofis Leudjeunn an Tintins Frisur, und die Formgebung der anderen Figuren zitiert Vorgaben Franquins und Morris’. Die der Ökonomisierung des Rezeptionsprozesses dienende Seitenarchitektur folgt gängigen Strukturen. Nach dem häufig größer dimensionierten Eröffnungspanel werden der Rhythmus und die Größe der folgenden Panels exakt auf die Handlungsdynamik angepasst, wobei das stets am größten dimensionierte Abschlusspanel den Akzent auf die komische Pointe legt. Auch wird mit einer bemerkenswerten Bandbreite vielfältiger Perspektiven gespielt, die von der Supertotalen bis zur Naheinstellung reicht. Insgesamt hält das handwerklich sehr solide gestaltete Arrangement der Seiten vielfältige Variationen bereit, so dass der Unterhaltungswert der Lektüre garantiert bleibt. Die formale und die inhaltliche Gestaltung stehen im Einklang, sie tragen und ergänzen sich wechselseitig. Abschließend sollen zwei ältere, vor einigen Jahren neu aufgelegte Publikationen zur Tour de France Erwähnung finden. Wenden wir uns zunächst L’inconnu du Tour de France (2003) zu, der zwölf von Jean Graton zwischen 1954 und 1964 gezeichnete Geschichten enthält. Sie sind ursprünglich in dem wöchentlich in Belgien veröffentlichten Magazin Tintin erschienen. Graton ist vor allem als Erfinder der Figur des Rennfahrers Michel Vaillant bekannt geworden, dessen Abenteuer in nicht weniger als 64 Bänden erzählt werden: »[Il] est devenu plus qu’un héros: un véritable ami, fort, loyal et courageux« (ebd.), heißt es auf der Rückseite von L’inconnu du Tour de France zu Vaillant. Der Band kann als entfernter Vorläufer

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von Le tour de France. Les petites histoires de la Grande Boucle angesehen werden, da auch er Informationen zur Tourgeschichte und zu Fahrern, die ihre Spuren hinterlassen haben, mit dem Ziel der Mythisierung aufbereitet. Für Graton sind die Protagonisten der Tour wahre Helden, und das Rennen erscheint als »bataille épique« (ebd.: 51), in deren Verlauf die Fahrer steile Abfahrten »à tombeau ouvert« (ebd.) überstehen müssen. Jeder, der die Tour de France gefahren ist, verdiene größten Respekt, wie ein Masseur in L’étape de vérité vermerkt: »Crois-moi, mon gars, quiconque termine un Tour comme celui-ci est déjà un fameux lapin.« (Ebd.: 53) Aus dem Rahmen fallen zwei Erzählungen, die hier in einem Exkurs vorgestellt werden sollen, da sie als Kriminalfälle aufgemacht sind. Das sportliche Geschehen während der Tour bleibt im Hintergrund, während die im Mittelpunkt stehende Aufklärung des Verbrechens zu spektakulären Verfolgungsjagden mit Auto und Motorrad führt. Max, der junge Held der ersten Erzählung, L’inconnu du Tour de France. Un mystère plane sur l’épreuve, ist als Identifikationsfigur für das jugendliche Zielpublikum konzipiert: Sein Aussehen verweist auf die seit den 1930er Jahren stilbildenden amerikanischen Superhelden-Strips, er fährt ausgezeichnet Motorrad und wird für die Tour als Fahrer eines Reporters eingestellt. Abbildung 12: Max

Quelle: Graton 2003

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Mit Hilfe der belgischen und französischen Polizei gelingt es ihm dank seines Scharfsinns und seiner körperlichen Überlegenheit, einen Ausbrecher aus dem Metzer Gefängnis dingfest zu machen, der in einem als Begleitfahrzeug der Tour getarnten PKW die Grenze nach Belgien überschreiten konnte und Europa über den Hafen von Antwerpen verlassen wollte. Nebenbei gewinnt er den Wachhund der Gangster, die ihn wiederholt ausschalten möchten, zum treuen Freund. Das ebenso kluge wie dankbare Tier rettet ihm sogar das Leben, als es einen Ziegelstein, mit dem einer der Verbrecher Max am Kopf treffen möchte, in vollem Flug auffängt. Dass Max nach seinem Erfolg am Ende der Story wie sein Freund, dem er zunächst als Fahrer dienen sollte, Reporter werden möchte, versteht sich nach den zahlreichen Abenteuern fast schon von selbst. Graton dürfte hierbei von Hergé inspiriert worden sein, dessen Tintin (in Deutschland als Tim bekannt, nebst seinem Hund Milou respektive Struppi) schon seit 1929 als Reporter viele gefahrvolle Situationen erleben konnte – freilich ohne jemals einen Artikel geschrieben zu haben. In Le maillot jaune a disparu versuchen Verbrecher, einen gestohlenen Edelstein, den sie mit Kaugummi unter dem Sattel des belgischen Trägers des Gelben Trikots versteckt haben, außer Landes zu schaffen. Dass ihnen dies nicht gelingt, ist der Aufmerksamkeit eines Fotoreporters und seiner beiden Freunde zu verdanken, die auch dafür sorgen, dass der Träger des Gelben Trikots, der zu Unrecht eine Nacht im Gefängnis verbringen musste, zwar verspätet, doch mit der Aussicht auf neue Erfolge, starten kann. Beide Geschichten bedienen sich erprobter Handlungsmuster aus der populären Detektiv- und Actionliteratur, wobei Anleihen bei der hard boiled novel den Vorrang haben vor den analytischen Methoden der Ermittler bei Poe, Doyle und Christie. Dem auch für Detektivgeschichten probaten aristotelischen Muster31 folgend wird in der linear strukturierten Geschichte auf Nebenhandlungen verzichtet. Die Protagonisten, ausnahmslos Männer, sind klar in gut und böse unterschieden. Dem Schema des Whodunit? entsprechend wird der Fall aufgeklärt, und die Schuldigen erhalten ihre gerechte Bestrafung. Die Angstlust des Lesers, ohne die der Spannungsaufbau kaum denkbar wäre und die auf den bewährten Aspekten Action, Analysis und Mystery (vgl. Schulz-Buschhaus 1975: 3f.) beruht, wird nach der Peripetie abgebaut und in Harmonie überführt. Wie in den Detektivgeschichten des 19. Jahrhunderts wird die Ordnung letztlich wiederhergestellt und das Gerechtigkeitsempfinden befriedigt, da die Polizei im Zusammenspiel mit den aufmerksamen Bürgern und Journalisten hervorragende Arbeit leistet. In einer zunehmend unübersichtlichen Welt hat die Aufklärung der Kriminalfälle eine tröstende

31 Siehe hierzu Dorothy L. Sayers 1998: 13ff.

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und kompensatorische Wirkung, gelingt die Orientierung und Wiederherstellung der bedrohten Sicherheit doch zumindest in der Fiktion. Die Grafik der BD zitiert die Vorgaben der erfolgreichen Magazine Spirou und Tintin, deren Stil als »Brüsseler Naturalismus« (Knigge 2004: 123) bezeichnet wird. Gratons Vorliebe für detailgetreue zeichnerische Reproduktionen von Fahrzeugen und die realistische Gestaltung des dekorativen Szenenhintergrundes, die auch die Serie Michel Vaillant auszeichnet, findet sich in L’inconnu du Tour de France wieder, ebenso wie seine Präferenz für markant-männliche Gesichter und gut gebaute Helden, welche den Charakter der Figuren oft sehr expressiv nach außen tragen.32 Auffallend ist vor allem der dichte Informationsgrad aufgrund zahlreicher Erzählerkommentare sowie der hohe Redeanteil von Figuren, welche in den gezeichneten Momentaufnahmen Reflexionen, Pläne, Gedanken usw. referieren (vgl. Graton 2003: 10 unten). Im Vergleich zu späteren Publikationen ist die Verweildauer eines Lesers bei dieser BD deutlich erhöht. Hierzu trägt auch die große Anzahl von in der Regel zehn bis dreizehn Panels pro Seite bei, welche die Handlung vorantreiben, ohne der Gefahr einer zu rudimentären Darstellung des Geschehens zu unterliegen. Im Unterschied zu manchen Szenaristen und Zeichnern späterer Jahre war für Graton die schnelle Konsumierbarkeit seines Produkts offenbar noch kein Argument. Im Mittelpunkt des letzen Bandes, der in diesem Beitrag vorgestellt werden soll, stehen Les Pieds Nickelés33 (Pellos/Montaubert 2013) mit dem schlauen Croquignol, dem naiven Ribouldingue und dem durchtriebenen Filochard. Das Trio »est le plus célèbre de la bande dessinée, l’un des plus anciens aussi« (Filippini 2005: 492), denn es wurde von Louis Forton bereits 1903 aus der Taufe gehoben. Somit ist die älteste BD-Serie Frankreichs genauso alt wie die Tour de France. Les Pieds Nickelés au Tour de France (2013) realisierten De Montaubert und Pellos schon 1956. Croquignol, Ribouldingue und Filochard tragen sprechende Namen: La croquignole bezeichnet einen Nasenstüber, als Adjektiv meint es »bizarr« und »komisch«, une ribouldingue nennt man im familiären Sprachgebrauch ein »wüstes Gelage«, und filocher bedeutet »schnell gehen«. Man denkt an einen Gauner, der einen Tatort schnell verlässt. Das Suffix -ard, das im populären Sprachgebrauch häufig ist und auch im Argot, der Gaunersprache, vorkommt, gibt dem 32 Vorbilder sind die Comichelden US-amerikanischer Zeichner der dreißiger bis fünfziger Jahre, wie Chester Gould, Hal Foster, Burne Hogarth, Joe Shuster, Will Eisner, Jack Kirby und Joe Simon. 33 »2. nickelé, ée [nikle] adj.; ÉTYM.1898, in D.D.L.; altér. de niclé (1894), p.-ê. d’un dial. aniclé ›noué, arrêté dans sa croissance‹, répandu par les Aventures des Pieds Nickelés de L.Forton.; Loc. fig. et fam. Avoir les pieds nickelés: refuser d’agir, de ›marcher‹, se montrer habituellement paresseux, indolent.« (Grand Robert 2008)

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Namen eine pejorative Note. Nach Fortons Tod 1934 zeichneten Perré und Badert, nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1981 Pellos die Geschichten der Pieds Nickelés weiter. Auf der Suche nach immer neuen Abenteuern lag es nahe, wiederholt auf die Popularität der Tour de France zurückzugreifen. In dem anlässlich des hundertsten Starts der Tour erschienenen Reprint als Comicbuch findet sich daher neben vielen anderen Geschichten eine Episode, die dem Band aus marketingstrategischen Gründen seinen Titel gab und das Cover inspirierte. Auf ihm blicken in der für Pellos typischen Personifizierung zwei Berggiganten auf die Protagonisten herab – ein der Dramatisierung dienendes Darstellungsmuster, das Barthes auch bei der Berichterstattung zur Tour herausstellt.34 Abbildung 13: Cover Les Pieds Nickelés au Tour de France

Quelle: Vents d’Ouest 2013

34 »Les éléments et les terrains sont personnifiés, car c’est avec eux que l’homme se mesure et comme dans toute épopée il importe que la lutte oppose des mesures égales: l’homme est donc naturalisé, la Nature humanisé.« (Barthes 2010: 135)

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Geschildert wird, wie die drei Taugenichtse sich entschließen, die Tour de France zu gewinnen, um das Preisgeld einzuheimsen. Dass sie durch den Werbeeffekt wertlose Fahrräder, die sie aus Schrott herstellen, für teures Geld verkaufen, weist darauf hin, dass die im Umfeld der Marke Tour de France platzierten Produkte sich immer schon einer regen Nachfrage erfreuten. Auch hier gilt die in der Wirtschaft etablierte Regel, dass sich nicht unbedingt die Qualität eine Produkts kaufentscheidend auswirkt, sondern vielmehr sein positives Image – entsprechend teuer verkauft die A.S.O. das Recht auf die Nutzung des Tour-Logos. Dem Lebensmotto »bien vivre, bien boire, bien manger et ne rien faire« (Filippini 2005: 492) folgend liegt es nahe, dass die Pieds Nickelés das Rennen nicht mit ehrlichen Mitteln gewinnen wollen. Daher werden die beiden Begleitfahrzeuge ihrer aus ehemaligen Clochards bestehenden Mannschaft so umgebaut, dass sie mit einer »soufflerie bien camouflée« (Pellos/Montaubert 2013: 17) den Teamkapitän Ribouldingue bei Bedarf enorm beschleunigen. Dass sein Rad von alleine zu laufen scheint (vgl. ebd.: 19), führt zu einer riesigen Nachfrage nach diesem Modell, und die Gauner streichen die Anzahlungen nur zu gerne ein. Doch nicht nur die soufflerie als frühe Form des Motordopings35 verhilft Ribouldingue zum Sieg, sondern auch Sabotage und Betrug. In diesem Zusammenhang bringt gerade die groteske Verzerrung des Tourgeschehens jene Deformationen, die der Sport in der Realität erfährt, wie in einem Zerrspiegel auf den Punkt und setzt sie dem Lachen aus.36 Die Spanne reicht von der Gaunerei mit der erwähnten soufflerie über die betrügerische Kommerzialisierung des Siegerrades (vgl. ebd.), gezielt herbeigeführte Kollisionen und Stürze, um konkurrierende Fahrer auszuschalten (vgl. ebd.), bis hin zur Sabotage des Reifenmaterials gegnerischer Teams (vgl. ebd.: 21). Realität und Fiktion liegen trotz der karikaturesk verzerrten Darstellung des Geschehens eng beieinander. Als besonders effizient erweist es sich, den Tee in den Trinkflaschen der Gegner durch Wein zu ersetzen. Pellos’ Botschaft liegt auf der Hand:

35 »Bei der Tour de France 2015 sollen zwölf Fahrer mit Motor gefahren sein: Das behauptet Jean-Pierre Verdy, bis 2015 Direktor des Kontrollbereichs der französischen Anti-Doping-Agentur, gegenüber TOUR.« (Tour 2017: 12) 36 Dies ist möglich, da »im grotesken Werk […] Zerstörung und Erhaltung des Erwartungshorizontes in gespanntem Gleichgewicht stehen; nur so kann es die dem Grotesken oft zuerkannte Wirkung erzielen, anzuziehen und zugleich abzustoßen« (Pietzcker 1971: 200). Dass gerade die groteske Verzerrung den Kern der Dinge hervortreten lässt, thematisiert Ramón del Valle-Inclán unter Rückgriff auf Goya in seiner Ästhetik des esperpento, etwa in Luces de Bohemia: »Max: -Los héroes clásicos reflejados en los espejos concavos dan el Esperpento. El sentido trágico de la vida española sólo puede darse con una estética sistemáticamente deformada.« (Valle-Inclán 1924: 224f.)

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Wer am meisten betrügt, überquert als erster die Ziellinie – eine Aussage, die zumindest während der Festina-Affaire oder nach dem Dopingskandal um Lance Armstrong kaum auf Widerspruch gestoßen wäre. Allein die groteske Verzerrung des Geschehens um die drei Spitzbuben und seine Situierung in der semi-realistischen Fiktion erlauben es, auch diesem Sachverhalt noch ein Lachen abzugewinnen. Dass Robic, Bobet, Koblet, Geminiani und Coppi, die »echten Helden« der Tour, in Pellosʼ BD ebenso ahnungs- wie hilflos das Geschehen verfolgen, adelt sie in gewisser Weise: Betrügerische Praxis scheint ihnen zumindest in der Fiktion fremd zu sein (vgl. ebd.: 17, 23). Die expressive und karikatureske, in ihrer Komplexität stark reduzierte Bildersprache Pellos’ steigert den Unterhaltungseffekt auf sehr effiziente Weise. Im Unterschied zu den in grafischer Hinsicht bisweilen weniger originellen BDs der Gegenwart offenbart die groteske Überzeichnung seiner »dessins ›vaches‹« (ebd.: 48) die Psychologie seiner Figuren.37 Die Seitenarchitektur folgt dem klassischen Muster, der Rhythmus und die Größe der Panels orientieren sich eng an dem dargestellten Inhalt.

37 Pellos vermerkte hierzu: »La caricature est une expression psychologique, il ne faut pas croire qu’il s’agit de prendre un crayon, du papier et de croquer le personnage. Pour réussir, il faut saisir l’individu dans son ensemble, aussi bien sa personnalité, son caractère que son physique.« (René Pellos, zit. nach Jean-Paul Tibéri, Pellos dessinateur sportif, in: Pellos/Montaubert 2013: 48)

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Abbildung 14: Seitenarrangement Les Pieds Nickelés

Quelle: Vents d’Ouest 2013

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Auffallend ist der hohe Anteil des Erzählerdiskurses in vielen Panels, der es erlaubt, das grafisch nicht unbedingt transparente Geschehen auszuführen und zu erläutern. Auf diese Weise gelingt es, die Seitenökonomie zu wahren und den Umfang der Erzählung den medialen Erfordernissen eines BD-Magazins entsprechend einzugrenzen.38 Zugleich fühlt man sich an die traditionelle Bildergeschichte des 19. Jahrhunderts erinnert, wie sie Rodolphe Töpffer pflegte, bevor die BD in ihrer heutigen Mediensprache den Siegeszug antrat.39

FAZIT Die aus einer Vielzahl französischsprachiger BDs zur Tour de France ausgewählten Beispiele sollten zeigen, wie reichhaltig das Inventar von Themen, Geschichten, Darstellungsweisen und Zeichenstilen ist. Angesichts der Popularität des Mediums, aber natürlich auch der Frankreichrundfahrt, besteht eine konstante Nachfrage nach Publikationen, welche die Verlage jährlich neu bedienen. In einer diachronischen Betrachtungsweise wurde deutlich, dass neuere Veröffentlichungen, die zum Teil als von der A.S.O. genehmigte Produits Officiels für sich werben, die Tour in einer historischen oder humoresken Perspektive behandeln. Sofern sich diese Bände mit der Geschichte der Tour de France auseinandersetzen, möchten sie im Sinne einer gezielten Erinnerungspolitik durch die Selektivität und inhaltliche Geformtheit des Dargestellten das positive Image des Sportereignisses fördern. Die humoreske Beschäftigung mit dem Rennen steht für das Bemühen, fragwürdige Praktiken ökonomischer oder sportlicher Art in ihrer Brisanz zu entschärfen. Dass Humor auch im Zusammenhang mit dem Radsport zudem ein guter Kommerzialisierungsfaktor ist, dürfte ein weiteres verkaufsstrategisches Argument liefern. Ältere Titel nutzen die Popularität der Tour de France gerne, um spannende und unterhaltsame Inhalte im Kontext des Renngeschehens zu platzieren. Besonders bemerkenswert ist die bizarre Verzerrung der Tour durch Pellos, der 1956 mit Les Pieds Nickelés au Tour de France sein Publikum zum Lachen anregen wollte, ohne einen kritischen Blick auf das Rennen zu werfen. Mit der Leserschaft hat sich im Laufe der Zeit jedoch auch das Problembewusstsein gegenüber der Tour

38 Die Geschichten um die Pieds Nickelés erschienen in den Magazinen L’Épatant, L’As, Pschitt Aventures, Le Journal des Pieds Nickelés und Trio (vgl. Filippini 2005: 492). 39 In dieser Tradition stand auch Fortons Frühwerk, in dem Bild- und Textinformationen oft redundant in getrennten Feldern koexistierten (vgl. ebd.).

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gewandelt, so dass in der 2013 erschienenen Neuauflage des Bandes Pellos’ Inszenierung des Grotesken eine neue Bedeutung erhält. Aufgrund dieser Neupositionierung in einem veränderten Rezeptionskontext entdeckt der heutige Leser in Les Pieds Nickelés au Tour de France nun eben jene Problemfelder, die aktuell mehr denn je zur Diskussion stehen. Diese können durchaus groteske Dimensionen annehmen, wenn einzelne Teams oder Fahrer Dopingmaßnahmen mit immer neuen Tricks vor den Kontrolleuren der World Anti-Doping Agency (WADA) vertuschen möchten.40 Erschienen die von Croquignol, Ribouldingue und Filochard angewandten unlauteren Praktiken den Lesern der 1950er Jahre noch als Ausnahme von der Regel, so stellt sich inzwischen die Frage, ob ihre Verstöße gegen das Fairplay im heutigen Spitzensport wirklich noch die Ausnahme bilden würden. Da im Unterschied zu den 1950er Jahren eine breite Öffentlichkeit nach diversen Skandalen die negativen Seiten des Leistungssports als großes Problem wahrnimmt, hat das Lachen über die Gaunereien der Pieds Nickelés einen bitteren Beigeschmack bekommen. Aus naheliegenden Gründen versuchen vor allem als Produits Officiels vermarktete BDs, den legendären Charakter der Tour aufrechtzuerhalten und an die »guten alten Zeiten« zu erinnern, als im Radsport noch »echte Helden« Geschichte schreiben konnten. Die Beschäftigung mit diesen Ikonen und das Eintauchen in eine Welt, die weniger von Zweifeln geprägt war als die Gegenwart, verheißen der Leserschaft Emotionen, Spannung und positive Erinnerungen. Sie dienen der Evasion aus dem regulierten Alltagsleben und entfalten eine kompensatorische Wirkung. Gleiches gilt für jene BDs, welche die Tour de France zum Anlass nehmen, um in ihrem Rahmen unterhaltsame, oft witzige Episoden zum Radsport anzusiedeln. Zugleich konnte auch darauf hingewiesen werden, dass die Tour in einigen BDs ihre Leichtigkeit und Unschuld verloren hat, da an die Stelle der ungetrübten Freude am Rennen eine mythenkritische Betrachtung getreten ist. So erscheint der von Debon vorgelegte Band Le Tour des Géants als transversale Stimme, welche nicht nur die Meinungs- und Deutungshoheit der A.S.O. unterläuft, sondern zudem einen besonderen künstlerischen Anspruch erhebt. Eine solche Tendenz, gegen die die Produits Officiels anschreiben, gliedert sich ein in die Wahrnehmung

40 So berichtet der ehemalige Teamgefährte Lance Armstrongs, Floyd Landis, in einer eidesstattlichen Erklärung, dass 2004 während der Tour de France der Fahrer des US Postal-Mannschaftsbusses eine Panne vortäuschen musste, damit dem Team auf einer abgelegenen Bergstraße in aller Heimlichkeit Bluttransfusionen verabreicht werden konnten. Nach rund einer Stunde habe der angeblich reparierte Bus dann wieder die Fahrt aufnehmen können (vgl. Neumann 2018).

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eines Verlusts des Mythischen in den Zeiten der Postmoderne: »La fonction narrative perd ses foncteurs, le grand héros, les grands périls, les grand périples et le grand but. […] Dans cette transformation générale, la nature du savoir ne reste pas intacte.« (Lyotard 1979: 7f., 13) Weil das Bedürfnis nach Helden, Legenden und Mythen aber gerade in der rationalisierten und ökonomisierten Gegenwart fortbesteht, möchte die Tour de France auch nach dem Niedergang der grands récits41 als Narrativ in vielfältiger Weise und mit großem medialem Aufwand die menschliche Sehnsucht nach Sensationen und Emotionen bedienen. Da trotz dieser Bemühungen die Glaubwürdigkeit des grand récit Tour de France brüchig wurde, versuchen BDs, ihre Leser zumindest mit petits récits42 zu unterhalten. Dass hiermit ein Beitrag zur gesteigerten Kommerzialisierung des Sportevents geleistet wird, versteht sich von selbst. Gerade deswegen wollen solche BDs diese Kommerzialisierung ebenso wie die dauerhaft im Raum stehenden Dopingvorwürfe vergessen machen. Auch dies erklärt die Mythisierung von Fahrern und sportlichen Leistungen im Zusammenspiel mit der gelenkten Erinnerung an die großen Momente der Grande Boucle. Dieser Befund dürfte freilich über die Tour de France hinausgehend für alle Sportarten gelten, die als Mega-Sportevents vermarktet werden, häufig einen Fun-Charakter verliehen bekommen und möglichst auch die Lifestyle- und Sportprodukteindustrie, die Medienindustrie, aber auch andere Geschäftsbereiche im Blick haben. Unter diesen Umständen kann die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit nur noch in der Fiktion geschlossen werden – solange sich der Leistungssport nicht neu erfindet. Es bedarf jedoch einer gehörigen Portion Optimismus, zu glauben, dass dies in absehbarer Zeit geschieht und die Histoire wie auch die histoires du Tour de France neu geschrieben werden können.

41 »Dans la société et la culture contemporaine, société post-industrielle, culture postmoderne, la question de la légitimité du savoir se pose en d’autres termes. Le grand récit a perdu sa crédibilité, quel que soit le mode d’unification qui lui est assigné...« (Lyotard 1979: 63) 42 »Le recours aux grands récits est exclu […] Mais, on vient de le voir, le ›petit récit‹ reste la forme par excellence que prend l’invention imaginative…« (Ebd.: 98)

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»Les Français ne croient plus au Maillot Jaune.« 1 Radsport im französischsprachigen Film Sieglinde Borvitz

Wir erleben derzeit ein Revival des Fahrrads als Kultobjekt, und auch in Deutschland schickt sich der Radsport an, zum Breitensport zu avancieren. Das Fahrrad ist zum Lifestyle-Objekt geworden, verheißt es doch nicht nur selbstgesteuerte Mobilität,2 sondern vor allem eines: ein Freiheitserleben, das im Zeichen der Individualisierung steht und zugleich auch die für die Spätmoderne typische Entfremdungserfahrung überwindet (vgl. Augé 2016; Withers/Shea 2016). Insofern stimmt es, dass das Fahrrad »zur Geschichte eines jeden von uns [gehört]« (Augé 2016: 7); über das Fahrrad zu sprechen, bedeutet, über uns selbst Auskunft zu geben (vgl. ebd.). In Frankreich, dem Geburtsland der Tour de France,3 scheint das Fahrrad einen beachtlichen Stellenwert einzunehmen. Einige Stimmen, wie etwa die des New York Times Style Magazine, meinen, man hege dort eine besondere Beziehung zum Fahrrad, es sei eine love affair (vgl. Sciolino 2015). Und dies ist sicherlich auch der Tour de France geschuldet, selbst wenn sich ihre nationale Bedeutung und Kohäsionskraft im Laufe der Zeit verändert hat. Sieht Roland Barthes 1957 in der Tour de France einen »fait national fascinant« (Barthes 1957: 111) und eine »fable unique« (ebd.: 111), in welcher »lʼhomme [...] prévoit tout

1 2

So titelt Le Journal du Dimanche am 22.07.2007, zit. nach Cuntz 2009: 203. Withers und Shea verorten ihre Untersuchung des Fahrrads als »floating signifier« (Withers/Shea 2016: 2) gar im Rahmen eines von John Urry ausgerufenen mobility turn, verstanden als »a turn that emphasizes how all social entities, from a single household to large scale operations, presuppose many different forms of actual and potential movement.« (Ebd.: 7, Herv. i. O.)

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Zur Geschichte der Tour de France siehe Dauncey 2012.

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de même à sa façon une adéquation parfaite entre lui, la communauté et lʼunivers« (ebd.), so dominiert in den letzten Jahren das Bild eines Radsportevents, dessen Klassement infolge zahlreicher Dopingskandale seine Repräsentativität und Glaubwürdigkeit verspielt hat (vgl. unter anderem Cuntz 2009). Kulturelle Produkte reflektieren und problematisieren diesen Statuswandel von Fahrrad und Radsport. Und so wundert es nicht, dass le vélo auch im französischsprachigen Film einen nicht unwichtigen Platz einnimmt.4 Die Perspektivierung von Filmfiguren anhand des Fahrrads folge, so Coquet, drei Strategien: (1) zur weiblichen Erotisierung, (2) zur Darstellung des einfachen Mannes aus dem Volk oder, (3) zu dessen komödiantischer Überzeichnung (vgl. Coquet 1993: 53).5 Hinsichtlich der Erotisierung der Fahrradfahrerin bemerkt Coquet: 4

Man denke etwa an Komödien wie Jacques Tatis Jour de fête (F 1948) sowie an dessen Vorarbeiten, den Kurzfilm Lʼécole des facteurs (F 1947). Mithilfe des von allen verspotteten Postboten François zeichnet Tati liebevoll das Bild des alten, langsamen und rückwärtsgewandten Frankreichs – Analogien finden sich auch in anderen Filmen Tatis, wie etwa dem späteren Mon oncle (F 1958). Nachdem er auf dem Volksfest einen Film über Amerika gesehen hat, wird der tollpatschige François zu einem Postboten à l’américaine, der seine Briefe nun in Windeseile und keine Gefahr scheuend überbringt und dabei sogar die Fahrer eines Radrennens überholt. Hierbei entwickelt sein Fahrrad ein Eigenleben und erweist sich als heimlicher Protagonist. In Jean Stellis Kriminalfilm Cinq tulipes rouges (F 1949), dessen Handlung im Kontext der Tour de France von 1948 angesiedelt ist, werden fünf Fahrer getötet. Der Täter hinterlässt jeweils eine rote Tulpe als Zeichen. Dank der gemeinsamen Ermittlungen des Journalisten Colonelle und des Polizeiinspektors Ricoul gelingt es den beiden, den Mörder zu stellen, als die Tour im Parc des Princes in Paris einläuft. In Jacques Pinoteaus Kömodie Le triporteur (F 1957) hingegen fährt ein Fußballfan auf einem Lastenfahrrad bis nach Nizza, um dem Pokalfinale beizuwohnen. Angesichts der großen Fülle von Filmen, in denen das Fahrrad zentraler Bestandteil der Handlung ist, muss auf weitere Ausführungen verzichtet werden. Für das französischsprachige Gegenwartskino sei verwiesen auf Nils Taverniers De toutes nos forces (F/B 2013), Philippe Le Guays Alceste à bicyclette (F 2013) oder auf das Drama von Jean-Pierre und Luc Dardenne Le gamin au vélo (B/F/I 2011). Eher anspruchslose Komödien stellen Filme wie Allez, Eddy! (B 2012, R: Gert Embrechts) oder Torpedo (F/B 2012, R: Matthieu Donck) dar.

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»En règle générale, l’inclusion de la bicyclette comme accessoire qui renforce et précise la psychologie ou la personnalité d’un protagoniste semble obéir à trois règles qui varient selon le sexe du personnage. Le couple femme-bicyclette est suggestif et érotique car c’est un regard d’homme qui se pose sur elles. L’association homme-vélo […] est traité selon une perspective tout à fait différente, l’équation étant ici soit virile-populaire, soit comique.« (Coquet 1993: 53)

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»Dans l’autre contexte, féminin […], parce que la bicyclette montre le corps tout entier, crée une situation où il épouse sensuellement la machine, la révèle entraîné dans un mouvement rythmique à répétition, son indéniable potentiel érotique a été très tôt découvert et exploité. On peut voir là le remplacement de la balançoire des tableaux du dix-huitième siècle par un autre support érotico-dynamique, révélateur de dessous féminins et de certaines zones du corps, notamment jambes et postérieur. Avant l’avènement du cinéma, cette suggestion d’érotisme était déjà en germe dans de nombreuses affiches publicitaires pour cycles dès la fin du dix-neuvième siècle […].« (Coquet 1993: 61)

Im Land der Tour de France geht es aber um mehr, wenn man einen Blick auf die Radsportfilme und ihre Entwicklung wirft. Sie zeichnen gleichsam die Entwicklung des Radsports in Frankreich nach, wie auch seinen Stellenwert im kulturellen Gedächtnis und seine mediale Mythisierung (vgl. Barthes 1957; Vigarello 2005). Dabei sind alle Elemente für gelungene Dramen vorhanden: Helden, Kontrahenten, körperliche und geistige Herausforderungen, welche die Figuren bis an und nicht selten auch über ihre Grenzen gehen lassen, schier nur mit letzter Kraft bezwingbare Hindernisse, die kommerzielle Maschine des Radsportspektakels und nicht zuletzt auch die dunklen Seiten des Wettkampfs und der Tour allgemein. Es ist offensichtlich, der Radsportfilm ist ein Roadmovie mit all jenen für die Fahrer, die Equipe und die Zuschauer unvorhersehbaren Ereignissen und Wendungen, die ihn zum spannenden Unterhaltungsfilm machen. Sowohl Filmkomödien6 als auch Dramen7 beleuchten exemplarische Einzelschicksale. Zum Vorschein kommt die menschliche Seite eines Athleten, der sich Spitzenleistungen abverlangt und hierfür nicht selten einen hohen Preis zahlt: eine aus dem Triumph des Willens resultierende Selbstaufgabe. Sportler, die gegen die Welt und gegen sich selbst kämpfen und im besten Falle als gebrochene Sieger aus diesem Kampf hervorgehen.8 6

Als Radsportfilmkömodien gelten Le roi de la pédale (F 1925, R: Maurice Champreux; siehe hierzu die Analyse von Bauer/Froissart 2015), La ronde infernale (F 1928, R: Luitz-Morat), Prince des six jours (F 1936, R: Robert Vernay), Hardi les gars! (F 1931, R: Maurice Champreux), Rivaux de la piste (F 1933, R: Serge de Poligny), Les cracks (F 1968, R: Alex Joffé), Le vélo de Ghislain Lambert (B 2001, R: Philippe Harel), Les triplettes de Belleville (F 2003, R: Silvain Chomet), La Grande Boucle (F 2013, R: Laurent Tuel).

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La dernière échappée (F 2014, R: Fabien Onteniente), La petite reine (CA 2014, R: Alexis Durand-Brault), The program (GB/F 2015, R: Stephen Frears).

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Der Radsportfilm ist eine Männerdomäne, sowohl im Hinblick auf die männlichen Protagonisten als auch auf die Regisseure. Eine Ausnahme bildet das Radsportdrama La petite reine (CA 2014) von Alexis Durand-Brault, welches an späterer Stelle besprochen wird.

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Im Folgenden soll anhand ausgewählter Spielfilme aus Frankreich, Belgien und dem Quebec untersucht werden, auf welche Art und Weise der Radrennsport und die Tour de France im französischsprachigen Film rezipiert und thematisiert werden, und wie es sich dabei mit der ästhetischen Reflexion über die siebte Kunst selbst verhält. Dokumentarfilme9 und milieudeterminierte Filme, in denen das Radfahren lediglich als Subtext oder Nebenhandlung dient, sind von diesen Betrachtungen ausgenommen.

DER RADSPORTFILM ALS SUBGENRE Die hier besprochenen Filme mit Tour de France-Bezug können zweifelsohne als Sportfilme definiert werden, ohne diese Kategorie überzustrapazieren. Entsprechend weist sich der Radsportfilm als Subgenre des Sportfilms aus. Florschütz (vgl. 2005: 41) zufolge machen letzteren drei Dimensionen aus: (1) Sport als Leitmotiv und Thema der Narration, (2) Sport als Main Plot (»figurendeterminiert«) und (3) Sport als stringenter Subtext oder Subplot (»milieudeterminiert«, Sport dient hier lediglich als Vorwand oder Hintergrundfolie zur Erzählung einer anderen Geschichte). Gekennzeichnet ist der Sportfilm zudem durch spezifische Stoffe und Motive. Hierzu zählen nicht nur der Aufstieg und Fall bzw. der Absturz und das Comeback von Sportlern in Form von Biopics, die Demontage von Sportstars oder der Triumph des Underdogs, sondern auch der sportliche Wettkampf an sich oder die extreme Selbstbegegnung des Sportlers (vgl. ebd.: 42f.). Zieht man diese Merkmale heran, so erweisen sich viele französischsprachige Radsportfilme in der Tat als Rise and Fall Stories, in deren Zentrum wie beispielsweise in Le vélo de Ghislain Lambert oder La Grande Boucle zunächst ein klassischer Antiheld steht, der im Laufe des Films zum Champion suis generis aufsteigt, aber dann auch einen unerwarteten Abstieg erlebt. Im Fall der Rise and Fall Story des Radsportdramas La petite reine handelt es sich hingegen um eine fiktionalisierte Sportlerbiografie, welche mit den Dopingskandalen die dunkle Seite der Vélomanie betont. In allen drei Beispielen kommen neben der Entwicklung des Protagonisten folgende wichtige Aspekte zum Tragen: das Training, die Ökonomisierung des Radsports und seine Medialisierung gemäß dem Sport-Medien-

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Hierzu zählen beispielsweise Histoires de bicyclettes (F 1953, R: Émile Roussel), Vive le tour! (F 1962, R: Louis Malle), ... pour un maillot jaune (F 1965, R: Claude Lelouche), La course en tête (F/B 1974, R: Joël Santoni), Parpaillon (F 1993, R: Luc Moullet), Le roi du Mont Ventoux (B unter anderem 2013, R: Fons Feyaerts), Tour du Faso (D/F 2014, R: Wilm Huygen).

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Komplex, und nicht zuletzt – eng hiermit verknüpft – das Doping. Dies weist sie zugleich als neuere Sportfilme aus. Allgemein kann die Entwicklung des Sportfilms als Genre in drei Phasen eingeteilt werden (vgl. ebd.): (1) die frühen Sportfilme der Stummfilmzeit; (2) die »adulte Phase und Ausdifferenzierung des Genres« (ebd.: 45) von den 1930ern bis in die 1980er Jahre; (3) eine Phase der Dekonstruktion und Demontage, welche Idole und Legenden nicht nur thematisiert, sondern auch systematisch hinterfragt. Negative Seiten, wie das Doping und seine Folgen, werden ebenfalls zunehmend aufgegriffen, unter anderem in Form pseudo-dokumentarischer Familiendramen (vgl. ebd.). Im Hinblick auf die neueren Sportfilme betont Florschütz zudem den engen Nexus von Sport und Medien, welchem sich der Sportfilm – neben klassischen Themen wie Identitätsfindung oder Rise and Fall Stories – insbesondere ab den neunziger Jahren widmet (vgl. ebd.: 48ff.); dies betrifft auch eine tendenzielle Öffnung der Ästhetik des Sportfilms für die Sportwerbung (vgl. ebd.: 44). Sie reflektieren somit die veränderte gesellschaftliche Relevanz des Sports, welche ihren konzeptuellen Ausdruck im Sport-Medien-Komplex findet. Gekennzeichnet ist dieser durch: (1) die »Kommerzialisierung und Ökonomisierung des Sports« (»Sport als TV-Ware, Sportler als Werbeträger«); (2) die »Medialisierung sportiver Events« (Sport wird zur »Unterhaltungsware im Programmangebot des Fernsehsports«); (3) die »Kultbildung«, wobei Sportler zu (nationalen) »Ikonen und TV-Idolen« avancieren; (4) der »Mediensport« wird zur »Ersatzreligion einer säkularisierten postmodernen Kultur« (Florschütz 2005: 27).10

KAIROS ODER DER TRIUMPH DES UNDERDOGS Ein Mann, ein Rennrad. Was braucht es mehr, um Helden zu schaffen? Es bedarf des Kairosʼ, ebenjenes rechten Augenblicks, in welchem sich der Protagonist entscheidet, sich dem Schicksal und der quête zu stellen. Die Herausforderung ist der große Traum: die Teilnahme an der Tour de France. Und es ist der Entschluss des – überspitzt formuliert – talentfreien Helden, sich de facto chancenlos mit berühmten Radsportlegenden zu messen. Wie in der Folge anhand der Radsportkomödien Le vélo de Ghislain Lambert und La Grande Boucle zu zeigen sein wird, ist es der Kairos, der dem Underdog zu Ruhm verhilft, ihn unerwartet zum Idol von Nation und Medien macht. Sein Fahrrad ist das insignum der Freiheit.

10 Zum Sport-Medien-Komplex siehe unter anderem Horky 2009, Rowe 2013 und BpB 2017.

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La Grande Boucle entwickelt sich, wie jede Komödie, mittels überzeichneter Charaktere.11 Protagonist ist François Nouel, Angestellter des Sportgeschäfts Sport 2000 und passionierter Radsportfan, der seit seiner Kindheit selbst begeistert Rennrad fährt, aber größere Ambitionen für Frau und Familie aufgegeben hat (der Vorspann inszeniert dies mithilfe von fiktiv-historisierendem Archivmaterial in Form von Fotos und Super8-Aufnahmen). Gleich in den ersten Filmminuten begegnet er bei der Präsentation der Équipe Sport 2000 für die diesjährige Tour de France seinem filmischen Gegenspieler, Toni Agnello, der – anders als sein Nachname vermuten lässt – kein frommes Lamm ist. Der italienische Profifahrer sieht sich bereits als Star der Tour und entspricht in allem dem Stereotyp des Italieners: ein durchtrainierter, heißblütiger, cholerischer und vollkommen von sich überzeugter Schönling, ein Frauenheld wie er im Buche steht, der jedoch ganz fest an seinen Glücksbringer, einen von seiner Mutter geschenkten Rosenkranz, glaubt. Nouel − vom Typ »tollpatschiger Einfaltspinsel« und somit, wie sein Antagonist, ein typischer flat character (vgl. Beil/Kühnel/Neuhaus 2016: 251) − wird sodann auch gleich fristlos entlassen, als er bei der Präsentation des Teams mit Agnello zusammenstößt, aus Versehen an dessen Rosenkranz hängenbleibt und ihn zerreißt. Ohne Zweifel, ein schlechtes Omen für die Tour. Das Drama ist vorprogrammiert und der Zweikampf der beiden eröffnet. Und in der Tat entspinnt sich dieser auf sportlicher Ebene, als Nouel wegen seiner Begeisterung für die Tour von seiner Frau verlassen wird und sich volltrunken entschließt, die Etappen der Grande Boucle mit seinem eigenen Rennrad und einem Tag Vorsprung abzufahren. Unterstützt von der Familie Bojean und seinem Mentor Rémi Plétinckx – dessen beste Jahre als einstigem Tour-Sieger schon lange zurückliegen − avanciert er bald vom namenlosen Niemand und Spinner zum eigentlichen Star und Sympathieträger, denn er verkörpert als Amateur und Saubermann den Radsport als bei den Franzosen beliebten Breitensport. Zudem setzt er dem von Dopingaffären beschädigten Profi-Radrennsport ein anderes Bild entgegen. »C’est des gars comme ça qui vont réhabiliter le vélo, le vrai sport« (00:36:42), kommentiert ein Mann, der gemeinsam mit anderen den Verlauf der Tour verfolgt. Und so nimmt es nicht Wunder, dass sich viele Amateure etappenweise Nouel anschließen oder dass gar 11 La Grande Boucle bewegt sich insofern in der Tradition des französischen Films, als dass die Komödie die Konstellation Mann-Fahrrad aufgreift, wie sie Cocquet für Marcel Carnés Drôle de drame oder Jacques Tatis Jour de fête thematisiert (vgl. Coquet 1993: 57-61); in den beiden letztgenannten Filmen nimmt das Fahrrad jedoch nur einen »rôle-support archival« (ebd.: 52) bzw. die eines Indikators ein, selbst wenn François in Jour de fête eine Gruppe Rennfahrer überholt und zum Postenboten à lʼaméricaine wird, der ein Telefon am Lenker trägt und die Post auf der Pritsche eines fahrenden Lastwagens abstempelt.

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mythische Fahrer wie Bernard Hinault12 und Laurent Jalabert mit ihm beim Zeitfahren gegen Agnello antreten. Der Film ist auf seinem Höhepunkt angekommen, fast scheint Nouel Agnello vor aller Augen in die Schranken zu weisen, wäre da nicht der Anruf seiner Frau, sein Sohn Thomas sei verschwunden – ein geschickter dramaturgischer Zug, eine die Peripetie einleitende Nebenhandlung zu platzieren. Während Nouel Thomas bei einem Konzert von Frankreichs Star-Rapper Âme Strong, einem eingefleischten Tour-Kenner, dessen Name offensichtlich mit der Homofonie von Lance Armstrong spielt, ausfindig macht, steht die Welt des Radsports Kopf: Wo ist Nouel? Und warum ist er nicht mit seiner Mannschaft ins Ziel eingefahren? Für Agnello ist es die ideale Gelegenheit, sich endgültig seines Widersachers zu entledigen – erst sportlich und nun medial. Ein inszenierter Coup genügt: Man schmuggelt Nouel Epo unter. »Cʼest un coup monté.« Doch dies reicht, um Nouel zu diskreditieren, so dass sich selbst Bojean enttäuscht von ihm abwendet: »T’es qu’un tricheur!« (01:11:36) Le vrai sport, er ist nichts weiter als ein Märchen. Dennoch gibt Nouel nicht auf, fortan kämpft er wieder allein gegen Wind und Wetter und gegen sich selbst. Er fährt weiter, bis er vollständig erschöpft vom Rad stürzt und in ein dreitägiges Koma fällt. Eine Retardation im doppelten Sinne, welche das Happy End des Films einläutet: Mit Frau und Freunden ausgesöhnt, ist auch der Respekt des Publikums wiedergewonnen, denn die Ärzte bestätigen, dass er dopingfrei ist. »Tu mérites de le finir, le Tour. Vas-y, François« (01:30:29), gesteht selbst Agnello ein. Der Sportsgeist siegt, François fährt im Trikot der Équipe Sport 2000 als Erster am Triumphbogen ein – der Höhepunkt und zugleich das Ende seines großen Traums.

12 »C’est bien ce que t’as fait, petit. On va t’aider« (00:56:05), mit diesen Worten springt ihm Hinault zur Seite.

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Abbildung 1: Françoisʼ Endspurt auf den Champs-Élysées (Screenshot La Grande Boucle)

Quelle: La Grande Boucle (Tuel 2013, 01:31:50)

Diesen Traum hat auch Ghislain Lambert. Am gleichen Tag geboren wie sein Idol Eddy Merckx, sieht er, wie dieser 1972 seinen sagenhaften Stundenweltrekord erzielt. Lambert beschließt, Merckx nachzueifern. Doch er ist nicht mit den gleichen Gaben gesegnet, und so schafft er es bei der Tour 1974 lediglich zum Wasserträger für die Équipe Epedex Tricatel. Ähnlich wie Nouel zieht er schnell die Aufmerksamkeit der Medien auf sich: als schlechtester Fahrer der Tour. Lambert, ein Versager auf ganzer Linie, ist eine willkommene Abwechslung für die »seriell-zyklische« Sportberichterstattung (Cuntz 2009: 213). Entsprechend konzentriert sich die Fernsehnation Frankreich in Philippe Harels Le vélo de Ghislain Lambert darauf, wie der Fahrer mühsam Berg um Berg erklimmt und sich von Etappe zu Etappe kämpft. Hatte man sich anfangs noch über Lambert mokiert, so treten die tête de la course und das Peloton in der öffentlichen Aufmerksamkeit zunehmend in den Hintergrund. Lambert wird immer beliebter. Nun ist er es, den das Publikum an der Strecke anfeuert und den Tausende gespannt am Etappenziel erwarten. Und kaum ist er endlich eingefahren, bestürmen ihn schon die Reporter: »C’était difficile aujourd’hui?« (01:33:47)

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Abbildung 2: Lambert im Fokus der Medien (Screenshot: Le vélo de Ghislain Lambert)

Quelle: Le vélo de Ghislain Lambert (Harel 2001, 01:33:47)

Er macht die Tour zu einer »course à deux vitesses« (ebd.: 223). Bezüglich seiner Leistung zeigt er wie Nouel, dass er ein »glaubwürdiger Maßstab seiner selbst« und somit eine »Alternative zum Klassement« (ebd.: 224) ist. Die »Vorstellung ehrlicher Verausgabung« bildet hier »ein imaginäres Gegengewicht zum systematischen Doping« (ebd.: 225). Da mediale Aufmerksamkeit für Sponsoren und Team bares Geld ist,13 fordert der Teamchef, ganz entgegen der Tour-Logik, keine Ausreißer mehr, ab sofort fahren alle hinten. »À partir de maintenant, je ne veux plus voir personne devant. Qu’il n’y ait pas un qui me fasse le parti en tête de la course. Vous restez tous avec Ghislain, les uns derrière les autres. Il faut qu’il rentre dans les délais.« (01:33:55ff.) Fairplay und Teamzusammenhalt sollen in den Augen der Fernsehzuschauer dominieren, nicht zuletzt ist das Kalkül jedoch, die Marke Epedex prominent zu machen und ihr Image aufwerten. Die Medialisierung der Tour, deren »Anomalien« hohe Einschaltquoten nach sich ziehen, macht den Sportler zur Kultfigur. Dies prädestiniert ihn als Werbeträger: angefangen beim Trikotsponsoring bis hin zu Werbeclips für Lifestyle-Produkte; ein Mechanismus, der in La Grande Boucle ridikülisiert wird, etwa wenn François für tragbare Urinale − der Slogan lautet bezeichnenderweise »Avec Uri, finies les pauses pipi!« − oder als Plüschmaskottchen für die Salatsoße der bekannten Marke Lesieur Pate steht (vgl. 00:51:18ff.).

13 »Dix minutes en ligne directe, c’est une mine d’or pour la maison Epedex. Vous savez combien ça coute à la télévision? […] Le feuilleton de Ghislain Lambert ne fait que commencer« (01:31:42ff.), so der Sponsor zum Teamchef.

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Abbildung 3: François als Werbeträger (Screenshot: La Grance Boucle)

Quelle: La Grande Boucle (Tuel 2013, 00:51:24)

Einmal mehr werden die Macht der Medien und ihre Auswirkungen auf Sport und Kommerz deutlich. Françoisʼ Paralleltour stört die Mechanismen des Rennens, sie ist den Organisatoren und Sponsoren ein Dorn im Auge. Aufgebracht setzen sie ihm zu: »Fini de nous emmerder!«, denn François zieht die Aufmerksamkeit der Medien vom eigentlichen Renngeschehen ab, bildet er doch eine willkommene Abwechslung zur üblichen Dramaturgie der Tour. Entsprechend wird die Story aufbereitet und schon bald sieht die ausländische Sportpresse, wie die italienische Posta dello Sport, in Nouel »le numéro un français« (vgl. 00:51:18ff.). Zum Spektakel stilisiert wird in vergleichbarer Weise auch der Leidensweg des Ewigletzten Ghislain Lambert. Von den bisherigen, recht vorhersehbaren Ereignissen angeödet,14 inszeniert man ihn als Gemarterten im Kampf gegen die Zeit. Die Motorradkamera hält auf Lambert, ein Zoom von der Halbnahen über die Nah- zur Großaufnahme, ein dramatisierender Reporterkommentar für das Fernsehpublikum: »Ce soir, nos envoyés spéciaux ont choisi cette fois, plutôt que de montrer la course des favoris, un aspect dramatique du sport cycliste. Le calvaire enduré par un modeste coureur belge de l’équipe Epedex. […] Et vous découvrez donc avec moi les terribles images de Ghislain Lambert reprises cet après-midi à l’arrière du peloton. Alors, souffrant dès le départ d’une induration à la selle, autrement dit au derrière, selon le communiqué du staff médical, le coureur belge a fait preuve d’un courage exemplaire. Tout cela […] est parfaitement inutile. Entendons-nous bien. Ce n’est pas pour faire ombrage à Lambert, ni pour lui dire qu’il

14 »On va se faire chier tous les jours, à raconter toujours la même chose« (01:30:33ff.), sagt ein Radiomoderator nach der Liveübertragung zu seinem Kollegen.

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ne gagnera pas le Tour, même pas une étape. Il se bat simplement chaque jour pour terminer dans les délais. Et croyez-moi, c’est la plus belle des victoires.« (01:30:58ff.)

Fortan ist es Lambert, der medial durch die Tour führt und Grund für Spannung und Spekulationen gibt: Wird er wohl die nächste Etappe schaffen?15 Dabei sind es gerade die Etappen, die hier als »nacheinander zu bezwingende Feinde« (Barthes 2010: 145) figurieren. Die Geografie der Tour und vor allem die hohen, zum »Terrain der Verdammnis« (ebd.: 146f.) stilisierten Gebirgspässe sind solche Orte der (epischen) Prüfung. »L’odyssée de Ghislain Lambert touche-t-elle à sa fin? C’est en tout cas ce qu’on se demande quand on regarde le profil de l’étape de demain. L’ascension du col d’Izoard, avec ses passages à plus de 14 % de pente. Cela ne laisse rien présager de bon pour le courageux coureur de l’Epedex. D’autant plus, je vous le rappelle, les temps d’élimination sont fixés à 18% du temps du vainqueur. C’est donc un nouveau challenge pour Lambert. […] Bonne chance, Ghislain.« (01:34:58ff.)

Auch die von Sponsor und Teamchef initiierte Inszenierung eines Sturzes, der seine Karriere beenden wird, bedient einmal mehr aus wirtschaftlichem Interesse die Bedürfnisse jener mythisierenden Aufmerksamkeitsmaschinerie. Abbildung 4: Lambert als Medienikone: sein Unfall wird zur Titelstory (Screenshot: Le vélo de Ghislain Lambert)

Quelle: Le vélo de Ghislain Lambert (Harel 2001, 01:40:37)

15 Die Inszenierung Lamberts erinnert dabei an die Publikumslieblinge der Olympischen Spiele von 1988, den britischen Skispringer Michael Edwards (Eddie the Eagle) und die jamaikanische Bobmannschaft.

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Sowohl La Grande Boucle als auch Le vélo de Ghislain Lambert verdeutlichen den Wandel des Sports in modernen Industriegesellschaften. Vor einem spezifisch sport- und kulturgeschichtlichen Hintergrund spielen sie nicht nur mit den Konnotationen der Tour als Epos und nationaler Mythos. Indem sie den Durchschnittsmenschen zum Protagonisten erheben – nichts bringt dies deutlicher zum Ausdruck als der Name François, der hier als Pars pro Toto auf alle Franzosen verweist – und so eine Geschichte der Tour inszenieren, welche mit dem herkömmlichen medialen Storytelling sportlicher Höchstleistungen bricht, verdeutlichen sie die weitreichende Spektakularisierung und Kommerzialisierung des Radsports, welche le vrai sport überlagern und theatralisieren. Mehr noch, sie zeigen, dass Profisport abseits der Medien keinen Bestand haben kann und er zwischen »Infotainment und Spektakel« (Florschütz 2005) anzusiedeln ist. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass die von Henri Desgrange, dem Chefredakteur der Zeitung L’Auto im Jahr 1903 ins Leben gerufene Tour de France seit ihren Anfängen als Medienspektakel arrangiert wurde, dessen ökonomischer Nutzen – die Erhöhung der Auflage – stets im Vordergrund stand. Das Rennen war damit von jeher ein sportliches Abenteuer mit informationellem Unterhaltungswert. Zugleich dienten die Symbolik und die Mythisierung der Rundfahrt der nationalen Kohäsion.

LA DESCENTE AUX ENFERS: DOPING UND DIE DUNKLE SEITE DER VÉLOMANIE Ein anderes Setting, ein anderes Register, eine andere Fallhöhe. Ist Doping in den leicht konsumierbaren Komödien Le vélo de Ghislain Lambert und in La Grande Boucle lediglich eine Randnotiz, rückt es im Radsportdrama La petite reine16 in den Vordergrund. Das sich an der kanadischen Straßenmeisterin Geneviève Jeanson17 orientierende Biopic zeichnet in fiktionalisierter Form die fulminante Karriere der Radsportlerin Julie Arsenault nach. Bereits das Incipit zeigt Doping als

16 Gekonnt verweist der doppeldeutige Titel auf die Geschichte des Fahrrads, bezieht sich der Ausdruck la petite reine nicht nur auf die Protagonistin des Films, sondern ebenso auf das Fahrrad selbst. 1898 wird die erst zehnjährige Wilhelmina von Oranien-Nassau Königin der Niederlande; ihre Vorliebe für das Fahrradfahren trägt dem Fortbewegungsmittel die Bezeichnung la petite reine ein (vgl. Pruvost 2014: 47f.). 17 Jeanson, 1981 in Lachine (Quebec) geboren, verzeichnete zwischen 1998 und 2005 unzählige Siege und avancierte schnell zum Star des kanadischen Radrennsports. 1999 wurde sie zweimal Weltmeisterin im Zeitfahren bei den Junioren, 2000 trat sie als Teil der kanadischen Mannschaft bei den Olympischen Spielen in Sydney an und gewann

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einen selbstverständlichen, fast alltäglichen Akt. Eine Spritze in den Bauch. Im Fahrradrahmen versteckte Ampullen. Eine unerwartete Kontrolle der United States Anti-Doping Agency (USADA). Zeit schinden. Lügen. Hastig die Blutwerte manipulieren. Die Infusion reißt aus der Vene. Es fließt Blut, viel Blut. Verzweiflung. Doch die Show muss weitergehen. So nimmt sich der direkte Einstieg ins Drama aus. Rise and Fall, Aufstieg und Absturz – wir sind mittendrin und sehen, wie sich Arsenault auf dem schmalen Grat von Leistung und Lügen, von Schauund Versteckspiel bewegt, von hartem Training und der fortwährenden, lähmenden Angst, entdeckt zu werden. Eine Dynamik, die zu zunehmender (Selbst-)Isolation und Entfremdung führt.18 Anstatt zu sich zu stehen, führen die erlebte Ohnmacht und innere Leere dazu, dass Julie selbst die errungenen Siege nicht genießen kann. Wie ein Schatten legen sich Angst und Doping über ihre Erfolge und ihr Selbstgefühl. Jeanson äußert im Interview mit Gravel: »I lost my joy of living. From the age of 15 to 23, I was dead. […] I wanted to change my life, but I didn’t

im gleichen Jahr die Flèche Wallone. Bei vielen Radrennen in den USA und Kanada reüssierte sie als Etappensiegerin oder als Erste im Gesamtklassement, etwa bei La Coupe du Monde Cycliste Féminine de Montréal (2001, 2003, 2004, 2005), dem Redlands Bicycle Classic (2001, 2003), der Tour of the Gila (2002, 2003), der Tour de Toona (2002, 2005) oder den kanadischen Straßen-Nationalmeisterschaften (2002, 2003, 2005). 2004 gab sie bei der Flèche Wallonne Féminine nach dem Rennen keine Dopingprobe ab. In den beiden Folgejahren erteilte ihr die US-amerikanische Anti-Doping-Agentur (USADA) lebenslanges Rennverbot, obwohl Jeanson ihre Unschuld beteuerte. 2006 kam es zu einem Kompromiss: Das Rennverbot wurde aufgehoben und auf eine zweijährige Sperrung reduziert, im Gegenzug erkannte Jeanson die Ergebnisse der Proben an. Ende 2006 gab sie ihre Karriere endgültig auf und gestand in einem zweiteiligen, von Alain Gravel geführten Interview im September 2007, ab dem Alter von 16 Jahren mit Epo gedopt zu haben. Sie begann ein neues Leben in den USA, weit weg von ihrer Heimat, in die sie erst 2014 zurückkehrte. Für alle folgenden Angaben zum Radsport vgl. Radsportseiten.net sowie Jinnah 2008; zum Interview mit Alain Gravel im Programm Enquête des Fernsehsenders Radio-Canada am 20. und 27. September 2007 vgl. Veloptimum 2007a und 2007b. 18 Bildsprachlich umgesetzt wird dies mittels zweier Perspektiven auf die Hauptfigur: Im Privaten auf dem Boden und vereinzelt in der Kreuzigungspose positioniert, hebt die Untersicht ihre Unterlegenheit, Müdigkeit und Zweifel hervor; ihr öffentliches Auftreten ist geprägt durch Distanz, inszeniert mittels der Frontalen oder durch die Aufsicht, etwa wenn sie mit dem Rennrad an der Welt vorbeischnellt und dabei starr geradeaus sieht.

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have the guts. I hated my lifestyle.« (Vgl. Pedalmag, k.A.) 19 Die häufigen halbsubjektiven Aufnahmen,20 die Julie von hinten oder von der Seite zeigen, betonen filmsprachlich die auf ihr liegende, unsichtbare Last; es scheint, als wäre es nicht sie selbst, die spricht und handelt, sondern lediglich ihre öffentliche Person. Auf diese Weise zeichnet La petite reine das Psychogramm einer Athletin, deren Erfolgsgeschichte der Film demontiert, aber zugleich wird auch der Teufelskreis von an sie gestellten Erwartungen und Doping offengelegt. Dabei trägt die Protagonistin alle Züge eines round character (vgl. Beil/Kühnel/Neuhaus 2016: 251), dessen Psyche Großaufnahmen, ganz im Sinne des Affektbilds, immer wieder zu ergründen scheinen wollen. Der Druck auf die Sportlerin ist groß. Um der Anerkennung willen liefert sie eine Serie von Höchstleistungen und Siegen.21 In einem Teufelskreis von an sie gestellten Erwartungen, Doping und der Maschinerie des Radsportspektakels gefangen, ist sie bereit alles zu geben, selbst ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Sie weiß um die gefährlichen Nebenwirkungen des Epo. Doch es ist zu leicht, ein Kinderspiel, durch die Kontrollen zu kommen, zumal das 19 So auch Geneviève Jeanson, die trotz Siegen, Geld und Popularität unglücklich ist: »Parce que j’étais pas moi, parce que j’avais pas le contrôle sur ma vie. Parce que je décidais rien, parce que j’avais peur! Pourquoi je l’ai pas dénoncé avant? Parce que je savais pas quoi faire. J’avais peur de ce qui pouvait arriver. […] J’me demande comment j’ai fait? Pourquoi que ça m’est arrivée [sic]? Pourquoi je l’ai laissé prendre contrôle comme ça? Avant, à 15 ans, j’étais comme je suis maintenant: toujours de bonne humeur, super vite, j’catchais tout’ d’une shot, intelligente, toute joie de vivre… Puis, on dirait de 15 à 23 ans là … j’étais morte! C’est comme ça que j’me sentais« (Veloptimum 2007b, Herv. i. O.). 20 »[D]as halbsubjektive (semi-subjektive) Bild […] [ist] ein Bild, bei dem die Kamera nicht mit einer Figur verschmilzt, sondern diese Figur durchaus zeigt, aber dennoch zugleich zeigt, was diese Figur sieht (halbsubjektive Perspektive). Die Kamera verfolgt oder begleitet eine Figur, nimmt aber weder deren Perspektive ein (subjektive Perspektive), noch entfernt sie sich so weit, dass die Aufnahmen zu objektiven Bildern werden.« (Beil/Kühnel/Neuhaus 2012: 70, vgl. hierzu auch 311) 21 Jeanson hierzu: »Tu gagnes. Moi, ce que j’aimais, c’est de donner de l’émotion aux gens, quand les gens étaient fiers, quand je voyais que les gens avaient des sourires sur leurs visages. Quand je leur avais donné des grosses émotions, que les poils levaient, ça, j’aimais ça! J’étais un entertainer. J’aimais ça! Tu gagnes, les gens sont fiers de toi, t’a des gros commanditaires, tu fais de l’argent, ta famille est fière. Moi, je voulais pas décevoir personne. Donc, souvent je faisais des choses contre mon gré parce que je voulais que tous les gens autour de moi soient heureux mais moi, je [me] disais, […] si je suis pas heureuse, c’est pas grave, au moins tous les gens qui sont autour de moi sont heureux.« (Veloptimum 2007b, Herv. i. O.)

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Medikament schwer nachzuweisen ist.22 Zu verlockend ist die in Aussicht gestellte Leistungssteigerung. Laurent Roux, 2001 bester Bergfahrer der Tour de France, beschreibt diese Situation mit folgenden Worten: »Avec de l’EPO tes muscles ne brûlent plus. Quand l’acide lactique arrive, là, tu la sens plus qu’elle arrive. Quand tu arrives dans une côte, ton rythme respiratoire, au lieu de s’augmenter, il va réguler et rester le même. Et surtout là où c’est le plus impressionnant c’est la récupération. L’organisme récupère 10, 20 fois plus vite que sans la prise d’EPO. Cʼest-àdire que tu fais une étape sur le Tour de France de grande montagne, le lendemain, en prenant de l’EPO, tu te réveilles, tu te lèves, tu n’as même pas mal aux jambes. Tu sais pas que la veille tu as fait 200 km dans la montagne. L’avantage de l’EPO par rapport aux autres drogues c’est qu’elle se prend à l’entraînement, donc avant les compétitions et disparaît de l’organisme en un temps record. Tout est dans l’art de réussir à doser les injections pour qu’elles s’effacent le plus rapidement mais que ses effets puissent durer le plus longtemps possible. […] Trois semaines avant le Tour de France il faut commencer à prendre de l’EPO pour que l’effet arrive et que l’effet de l’EPO soit au maximum dès le départ du Tour de France.« (Véloptimum 2007b)

Einen Wendepunkt des Films bildet die zweite, ungefähr mittig platzierte Schlüsselszene. Ihre Dramatik wird betont durch schnelle Schnitte, die Tonspur und den Einsatz einer Handkamera, die ebenso fragil und instabil ist wie Julie. Mitten in der Nacht befallen Julie Herz-Kreislauf-Probleme, eine Folge des Dopings. Sie überlebt nur dank einer Infusion und körperlicher Aktivierung. Auch Geneviève Jeanson hat solche Situationen erlebt. Sie berichtet von ihrer Todespanik, der verzweifelten Angst vor dem Einschlafen und der Sorge, nicht wieder aufzuwachen. In ihren Adern fließt Blut so zäh wie Sirup. Nur schwer gelingt es ihr, ihren Herzschlag zu beschleunigen und so den Bluttransport anzukurbeln: »J’avais peur de mourir. J’avais peur de m’endormir et de ne plus jamais me réveiller. Je voulais tout arrêter. […] Des fois, j’étais couchée, j’essayais de m’endormir, mon cœur ne battait pas vite, mais c’était tellement puissant que ça me donnait un coup dans l’estomac. J’étais pas capable de dormir. Fallait que je me lève. [...] Je le sentais pomper. Je le savais quand c’était trop haut, mes pulsations ne montaient pas. Je le savais. […] J’allais fort, fort, je faisais mes intervalles… Quand t’as d’la mélasse dans les veines, ça passe mal, hein, c’est

22 Jeanson bestätigt: »Passer à travers les tests, t’as juste à pas en prendre cinq jours avant, puis t’es correcte.« (Ebd.)

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pas fluide, mes pulsations montaient pas, j’étais pas capable de monter mon cœur.« (Veloptimum23 2007b)

Die Grenzerfahrung lässt sie zu dem Entschluss kommen, dem Doping ein Ende zu setzen. Doch ihre Entscheidung trifft auf wenig Verständnis. Schnell wird klar, dass sie vollkommen allein dasteht, wenn sie nicht die gewünschte Leistung bringt oder sich dem Trainer widersetzt. Während ihr Trainer – mittels körperlicher und psychischer Peinigungen (vgl. 00:48:05ff, 01:10:28ff.)24 − perfide versucht, weiterhin absolute Macht und Kontrolle über sie auszuüben, und droht, ohne Epo würde sie allenfalls Zwölfte, gelingt es der Protagonistin trotz mehrmaliger Versuche nicht, sich ihrer Familie anzuvertrauen. Jedes Mal bricht sie abermals ein, getragen von dem Gefühl, nicht um ihretwillen, sondern allenfalls für ihre Erfolge geliebt zu werden (vgl. 00:55:43ff, 01:20:27ff.). Für ihren Trainer ist sie lediglich Mittel zum Zweck; bei einem Streit sagt er ihr in aller Deutlichkeit, sie interessiere ihn nicht, er erhalte die Hälfte des Preisgeldes, damit er sie zum Sieg führe (vgl.

23 Interview-Transkription aus dem Quebec-Französisch; zur besseren Verständlichkeit erfolgte eine stellenweise Anpassung der Interpunktion und weniger ausgewählter Begriffe an das Standardfranzösische. 24 Ihr Trainer malträtiert sie mittels Beschimpfungen, Flüssigkeitsentzug und indem er sie in der Wüste auf offener Strecke aussetzt. Hinzu kommen sexuelle Ausbeutung, körperliche Bedrängung, Schläge, Erpressung durch Aufmerksamkeitsentzug und Mobbing. Besonders eindrücklich ist die Duschszene im Hotel, die Hitchcocks Psycho (1960) zitiert. Im Interview mit Alain Gravel schildert Geneviève Jeanson einen Zwischenfall, der sich im Frühjahr 2004 während des Trainings in der Wüste von Arizona ereignet hat: »Donc, on part pour 160 km, faire des intervalles, la grosse affaire. Puis j’essaye de mon mieux mais, en même temps, je suis fatiguée de ma course. J’ai mal dans le dos. Il fait à peu près 100 degrés. J’ai juste pas le goût de m’entraîner. J’aurais aimé […] avoir une journée de repos, whatever. Non, c’est ça qu’il faut que tu fasses, tu vas aller chercher de la force […]. Là, y’a rien qui marche. J’avance pas. J’avance pas du tout. André […] commence à me chicaner. Là, tu me fais perdre mon temps. On est venu ici pour s’entraîner, […], j’te suis en voiture, puis ci, puis ça. Finalement, je me suis fâchée. Donc, je suis débarquée de mon bicyk pis là quand il a vu que j’étais débarquée de mon bicyk, je sais pas vraiment comment c’est arrivé mais il m’a pognée, il m’a amenée dans le désert, puis il a commencé à me fesser dessus. Je me suis retrouvée avec un œil au beurre noir pis on était, j’sais pas, peut-être à 60 km de la maison, j’avais le visage tellement enflé, j’étais même pas capable de mettre mes lunettes.« (Veloptimum 2007b, Herv. i. O.)

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01:15:56).25 In einem Geflecht aus Manipulationen, Erwartungen und Angst gefangen, entscheidet Julie letztlich, die Fassade aufrechtzuerhalten, zu dopen und beim Weltcup anzutreten. Doch es soll ihr letztes Rennen sein, ihr letzter Sieg. Eine verweigerte Urinprobe führt zur Disqualifizierung und lässt sie endlich mit dem System brechen. Insofern ist La petite reine ein Film über die dunklen Seiten der Vélomanie, denn er fragt nach Verantwortung, Ethik und Komplizenschaft in der Welt des Spitzensports: »It’s a story that provides the sporting world with lessons to be learned, delving deep into the fundamentals of ethics in sport concerning doping, a disturbing coach-athlete relationship, and a sweeping lack of moral responsibility at the time from the coach and the doctor, the parents of a young cyclist, and eventually the adult cyclist herself.« (Frattini 2016)

Doch der Film zeigt nicht allein das Drama der Königin des kanadischen JuniorenRadsports. Er verweist vielmehr auf das Drama des Spitzensports an sich, denn ähnlich wie Frears The program verdeutlicht auch Durant-Braults La petite reine, dass sich der Radrennsport in einer »Legitimationskrise« (Cuntz 2009: 225) befindet. Er ist »zum Synonym für die Verwendung unerlaubter und wettbewerbsverzerrender leistungssteigernder Mittel« (ebd.: 203) geworden. Die Dopingaffären im Radsport sind jedoch nur ein Symptom der sich ab den 1980er Jahren herausbildenden Leistungsgesellschaft, deren Überzeugungen sich im Sport reflektieren und deren Experimentierfeld der Sport ist (vgl. ebd.: 209). Nicht von ungefähr trägt Julie Arsenault im Film ein Trikot mit dem Aufdruck »Vita«: der Verweis auf ein Leben, das ganz im Zeichen der Optimierung und Wettbewerbslogik steht.26 »Je suis toujours motivée par le dépassement de moi-même « (Veloptimum 25 So war es auch bei Jeanson: »Je le payais pas comme entraîneur. Je splitais toutes mes commandites avec lui. Il avait intérêt à ce que je performe.« (Veloptimum 2007b., Herv. i. O.) 26 Bezugnehmend auf Ehrenbergs Le culte de la performance trassiert Cuntz die Herausbildung des modernen Sports seit Mitte des 19. Jahrhunderts aus einer biopolitischen Perspektive: »Nach einer ersten Phase der exklusiven Freizeitbeschäftigung aristokratischer Kreise beginnt die Verbürgerlichung des Sports und somit seine Öffnung für aufsteigende Eliten. Dabei ist es einerseits wichtig, dass trotz der technischen Disziplinierung des Körpers und seiner Bewegungen gerade das Programm der Natürlichkeit von zentraler Bedeutung ist, andererseits, dass die Eliten, die nun schon Leistungseliten sind, deren Initiative belohnt wird, im Sport eine Form des Selbstgouvernements finden. Schließlich gewinnt der Sport in einer dritten Phase eine biopolitische und somit auch moralische Dimension. Sport wird entdeckt als Dispositiv der Volksgesundheit, er soll

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2007a), gesteht auch Jeanson. Im Namen eines Ideals verlangt sie sich immer wieder Höchstleistungen ab, doch dies zieht zwangläufig eine veränderte Auffassung des eigenen Selbst und seiner Grenzen nach sich. »Die Vorstellung eines natürlichen Kerns wird [dabei] von der Vorstellung einer optimierenden Modifikation des eigenen Ichs abgelöst. Man kann versuchen, dies als die Ersetzung normaler Standards durch hypernormale Standards zu fassen: Es geht um die Selbst-Überbietung, um die Schaffung einer enhanced version seiner selbst mittels des Einsatzes biochemischer Substanzen, die das Ich flexibler, stabiler und leistungsfähiger machen sollen.« (Cuntz 2009: 223, Herv. i. O.)

Verkörpert wird diese enhanced version in La petite reine durch die Radsportlerin, eine Mensch-Maschine, sodass der Sport »Austragungsort [gesellschaftlicher] Konflikte« (ebd.) wird. Doping führt das vor Augen, »was unsichtbar bleiben soll« (ebd.). Verstanden als »unlautere Wettbewerbsverzerrung«, gefährdet es die suggerierte »Allgemeingültigkeit von fairem Wettbewerb als gesellschaftlichem Grundwert« (ebd.: 209), die Naturalisierung eines neoliberalen »culte de la performance« (Ehrenberg 1999). Die im Kontext der Leistungsgesellschaft konsumierten Medikamente seien nichts anderes als »drogues d’intégration« (ebd.: 259): »À l’instar du dopage des sportifs, ils sont un moyen de renforcer les capacités corporelles et psychologiques afin de mieux affronter la compétition.« (Ebd.) Trotz des normalisierten sozialen Narrativs der Überwindung der eigenen (Leistungs-)Grenzen stehen die Kraftexzesse der Radsportler für die Monstrosität des – mithin durch Doping modifizierten – Körpers (vgl. Cuntz 2009: 219ff.). Der durch die Dopingaffären hervorgerufene »Krisendiskurs« verschleiert durch punktuelle Entrüstung, dass Doping in der Leistungsgesellschaft unterhinterfragt zur Normalität geworden ist (vgl. ebd.: 216).

der Degeneration der Bevölkerung und dem Abfall der Leistungsdurchschnitte entgegenwirken und wird dabei erstmals auch zum Spektakel für Zuschauer.« (Cuntz 2009: 208) In diese Phase fällt auch die Geburt der Tour de France. Vor diesem Hintergrund kann also der Sport als gouvernementales Dispositiv verstanden werden (zur Gouvernementalität vgl. Foucault 1994).

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ET LA ROUE TOURNE: KINEMATOGRAFISCHE SELBSTREFLEXIVITÄT Wenn es einen französischsprachigen Radsportfilm gibt, der die kinematografische Selbstreflexivität in besonderer Weise herausstellt, so ist es zweifelsohne Sylvain Chomets Animationsfilm Les triplettes de Belleville. Es ist die Geschichte des von Kindheit an radsportbegeisterten Protagonisten Champion. Als dieser bei der Tour de France erschöpft zusammenbricht, wird er von einem falschen Besenwagen gekidnappt und nach Belleville verschleppt. In der Metropole auf der anderen Seite des großen Ozeans von der französischen Mafia gefangen gehalten, wird er bei verbotenen Sportwetten eingesetzt, bis er eines Tages von seiner Großmutter befreit und nach Paris zurückgebracht wird. Bereits der Vorspann mit seinem spielerischen Verweis auf das Stummfilmkino und die Eingangssequenz erweisen sich als mise en abyme, die eine implizite Lektüreanleitung liefert. Es handelt sich um einen Film im Film, der plötzlich unterbrochen wird. Die Kamerarückfahrt – eine Bewegung vom Detail hin zur Halbtotalen – zeigt, dass die beiden Hauptfiguren, Oma Souza und ihr Enkel Champion, wie auch wir als Zuschauer vor dem Fernseher sitzen und einen Film ansehen: Les triplettes de Belleville. Manifeste Bezüge zur Kinematografie finden sich auch bei anderen Gelegenheiten, etwa wenn das Sängertrio der Triplettes Tatis Jour de fête schaut, oder die von dem französischen Mafiaboss SuperDupont veranstalteten Sportwetten in einem Kinosaal stattfinden. Gerade diese Szene ist im Hinblick auf eine selbstreflexive Ästhetik besonders interessant, da sich in ihr verschiedene Ebenen kreuzen und überlagern. Die drei bei der Tour de France entführten Radsportler werden gezwungen gegeneinander anzutreten. Ihre Ergometer sind an Filmspulen angeschlossen, der Streckenverlauf wird auf eine Kinoleinwand projiziert. Die Verknüpfung von Spule und Rad – beide gleichen sich in der Form – verdeutlicht die Analogie zwischen der Bewegung eines sich drehenden Rades und dem Abspulen einer Filmrolle,27 denn die Zuschauer sehen nichts anderes als ein movie. In diesem Sinne ist das Fahrradfahren, wie auch das Kino, an das sinnliche Hervorbringen von Welt gekoppelt. Handelt es sich bei dem Fahrradfahren um eine erforschende Freiheit und Aneignung

27 Zur Analogie von Fahrrad, Filmkamera und Projektor bemerkt Coquet: »[…] il existe entre bicyclette, caméra et projecteur des analogies certaines. Parenté de fonction, l’une parcourt l’espace et l’autre le temps, celle-ci prolonge l’œil, celle-là la jambe, mais parenté de configuration physique également dans la mesure où caméra et projecteur enroulent et dévident successivement sur leurs bobines-roues le mouvement de la vie capté sur leur ruban-route.« (Coquet 1993: 67)

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der Welt, so bringt der Film eine künstliche Welt hervor, die des Simulakrums, oder anders gesagt, die Kopie der Welt, also dessen, was als »Welt« erscheint (vgl. Cruickshank 2012: 272). Von hier ist es ein kurzer Schritt zur Medientheorie und zu dem, was Baudrillard als »perfektes Verbrechen« brandmarkt, denn in der medialen Hyperrealität verschmelzen Realität und Imaginäres (vgl. Baudrillard 1994). Die hervorgebrachte Welt ist, Baudrillard zufolge, somit nichts weiter als eine im Zeichen des Kapitalismus stehende symbolische Dimension. Daraus rührt auch der zentrale Stellenwert des Mediums, denn in ihm tragen sich heutzutage die eigentlichen Kämpfe aus. Es sind die Kämpfe um die Darstellung der Welt und um das Imaginäre, welche die aiesthesis des Menschen beeinflussen. So wie das Fahrrad eine Prothese ist, ein technisches Gerät, das mit dem Fahrer verwachsen zu sein scheint (in diesem Sinne entspricht er Haraways Cyborg oder Canguilhelms Notion des Monströsen28), so ist die Leinwand bzw. der Bildschirm bekanntlich ein Filter und unsere Prothese für die Wahrnehmung der medial vermittelten Welt. Nicht ohne Grund führt uns Chomet mittels einer mise en abyme im Film die Verschränkung verschiedener Sehordnungen vor Augen, sodass wir diese – selbst wenn wir es wollten – keineswegs ignorieren können. Abbildung 5: Radsport im Zeichen des Geldes (Screenshot: Les triplettes de Belleville)

Quelle: Les triplettes de Belleville (Chomet 2003, 01:03:07)

28 Siehe hierzu nochmals Cuntz 2009.

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Die Szene erlaubt zudem eine ergänzende Lektüre. Es sind die Radfahrer, die das Spektakel antreiben. Sie sind unverzichtbarer Teil eines sie ausbeutenden Mechanismus, in welchem sie allein durch Spitzenleistungen bestechen und bestehen können. Andernfalls sind sie wertlos, für den Markt, die Equipe, den Sponsor und selbst die Sportmedien. Auch hier spricht Chomets Triplettes de Belleville Bände: Erschießen die Mafia-Schergen im Film die erschöpften Fahrer kaltblütig, so bezahlen auch echte Radsportler mit ihrem »Leben«. Ihr Ausscheiden aus dem Sport entspricht einem Versinken in der Bedeutungslosigkeit, was nichts anderes als ein symbolischer Tod ist. Entsprechend verweist das Fahrrad und das mit ihm verbundene Unterhaltungsspektakel auf einen Kreislauf, auf den circulus vitiosus des (Spät-)Kapitalismus, aus dem es kein Entkommen gibt und in dem der Sport zum Business geworden ist.

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Veloptimum (2007a): »Transcription de lʼémission Enquête diffusée le 20 septembre 2007 à la télévision de Radio-Canada Le Secret de Geneviève Jeanson«, in: Veloptimum, online verfügbar unter: http://veloptimum.net/courses/athletes/Jeanson/7/Enquete20sept.html [Zugriff: 08.12.2018]. Veloptimum (2007b): »Transcription de l'émission. Enquête diffusée le 27 septembre 2007 à la télévision de Radio-Canada L'aveu de Geneviève Jeanson«, in: Veloptimum, online verfügbar unter: http://veloptimum.net/courses/ athletes/Jeanson/7/Enquete27sept.html [Zugriff: 08.12.2018]. Vigarello, Georges (2005): »Die Tour de France«, in: Pierre Nora (Hg.): Erinnerungsorte Frankreichs, München: Beck, S. 452-480. Withers, Jeremy/Shea, Daniel P. (2016): »Introduction. The Bicycle as Rolling Signifier«, in: dies. (Hg.): Culture on Two Wheels: The Bicycle in Literature and Film, Ames: Iowa State University, S. 1-15, online verfügbar unter: http://lib.dr.iastate.edu/engl_books/1 [Zugriff: 08.12.2018].

Vélomanie – Zur Sinnlichkeit eines technischen Objektes Vittoria Borsò

Nach der Erfindung des Pedalantriebs stellt Pierre Michaux 1867 das vélocipède bei der Weltausstellung in Paris vor. So beginnt in Frankreich die Karriere des Fahrrades, das im Laufe des späten 19. Jahrhunderts zum Privileg der Elite wird, die sich den Luxus eines Gefährts sans vitesse und pour le loisir leistet. Im frühen 20. Jahrhundert ist also das Fahrrad für das Großbürgertum und den Adel eine Alternative zum Auto, welches zwar das Pferd technisch abgelöst hatte, seine Stärke und rasche Fortbewegung symbolisch jedoch beibehält – so wird die Kraft des Autos bis heute an der Anzahl von Pferden (PS) gemessen. Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte das Fahrrad in Europa das wichtigste Massenverkehrsmittel dar – auf anderen Kontinenten ist dies auch noch heute der Fall. In den meisten Ländern war die soziale Rolle des Fahrrades prominent, sicherte es doch die Grundlage für die Wahrnehmung eines Arbeitsverhältnisses und somit für das Überleben. Zwei Filme, die diese Sachverhalte thematisieren, sind Ladri di Biciclette von Vittorio de Sica (1948), einer der großen Filme des italienischen Neorealismo, und Beijin bicycle des chinesischen Regisseurs Wang Xiaoshuai (2004).1 Wie im Falle De Sicas nach Kriegsende, so ist auch der jüngere Film Wangs ein Dokument der elementaren Funktion des Fahrrades für die Arbeiterklasse (die Zahl der Fahrräder in China wird heute auf 500 Millionen geschätzt). Und wie sehr le vélo in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg zum Symbol einer neuen, offenen Zukunft wird, zeigen unter anderem die Erinnerungen von Simone de Beauvoir an ihre vélo-Fahrten durch Frankreich zusammen mit Jean-Paul Sartre 1

In diesem Film ist der soziale Aufstieg eines jungen Chinesen an den Besitz eines Fahrrades gebunden, mit dem er, aus dem ruralen China in die Stadt kommend, als Fahrradbote arbeitet. Das Drama geschieht, als man ihm sein Arbeitsinstrument stiehlt – so Julien Allaires 2007.

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(1963). Bis zu den 1960er und 1970er Jahren träumen Fahrradbesitzer in einigen europäischen Ländern, insbesondere im Osten, noch vom zukünftigen Auto. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist das Fahrrad erneut Sinnbild alternativen Lebens geworden, verstanden als Rückkehr zum ökologischen Lebensstil zugunsten einer neu entdeckten Notwendigkeit, das Wohl von Natur und Mensch nachhaltig sicherzustellen. Das Fahrrad scheint ein gutes Leben im Individuellen wie im Kollektiven zu verheißen. Für die Gesellschaft gilt es zum Beispiel als neues Versprechen, das man unter der Bezeichnung einer Politique cyclable fasst. So werben Plakate und Kampagnen in vielen französischen Städten für eine solche Politik, bei der die Schaffung einer autofreien Stadt, einer freien Bahn für cyclistes, das Maß guter Regierung sein soll, die ökologisch bewusst handelt und den neuen sozialen Bedürfnissen nach Schonung von Umweltressourcen entspricht. Politique cyclable oder métropole cyclable sind also heute zum Zeichen einer nachhaltigen Verwaltung und Gestaltung des städtischen Raumes geworden. 2009 erscheint in Toulouse, unter der Herausgabe von François Canard und mit einem Vorwort von Michel Serres, A vélo citoyens!, das sich als Manifest für Körperpraktiken mit dem Fahrrad versteht. Das mehrfach edierte Buch enthält zahlreiche Fotografien von Radfahrern bei verschiedenen Aktivitäten. Ein neuer citoyen wird hier zelebriert, indem le vélo nicht etwa Sinnbild für Technik oder Sport, sondern das Symbol einer Veränderung in Richtung einer Mobilitätskultur (culture du déplacement) ist. A vélo citoyens! ist eine Aufforderung an den Bürger, sich als citoyen im Selbstverständnis der Tradition und im Geist der Grande Révolution zu verhalten. Er soll eigenverantwortlich an der Mit-Gestaltung einer neuen Revolution2 mitarbeiten und gegen die ökonomischen und technischen Gefahren einer ökologischen Krise aktiv werden. Doch die Renaissance dieses technischen Objektes lässt sich nicht allein aus ökologischen Vernunftgründen erklären. Die zahlreichen Bilder, die diese Renaissance begleiten, zeigen vielmehr die Dominanz ästhetischer Rahmungen, die unter anderem auf Vorbilder rekurrieren und die gelungene Assoziierung von Körper und Technik sowie das sinnliche Erleben dieser Einheit zum Ausdruck bringen sollen.3 Durch diese neuartige Verbindung von Technik und Körper hat le vélo ein neues Imaginäres kreiert, das die Signatur eines guten, individuellen Stils trägt, 2

Rousseaus Du Contrat social (1762) galt als Inspiration verschiedener Revolutionen, sieht er doch trotz der Unterwerfung der Freiheit des citoyen unter die volonté générale auch die Möglichkeit, unter besonderen Bedingungen die eigene Freiheit zurückzugewinnen.

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Nach Marcel Mauss (1967) vermitteln Bilder am deutlichsten ein Wissen über Techniken des Körpers. Zur Erweiterung des Mauss’schen Begriffs von Körpertechniken durch den Bezug auf das Unbewusste vgl. Erhard Schüttpelz 2010: 18.

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eines Stils, der die Sinnlichkeit freien Erlebens mit Formschönheit vereint. Und hier scheint das Fahrrad das Automobil wenn auch nicht zu ersetzen, so zumindest zu ihm in Konkurrenz zu treten. Dies belegt beispielhaft eine fotografische Einstellung, die einen vom Pedal des Fahrrades absteigenden Fuß in Großaufnahme zeigt. Abbildung 1: Verbildlichung von Sinnlichkeit und Formschönheit

Quelle: https://www.commeuncamion.com/2012/08/09/contre-sens-a-velo/amp/

Die traditionelle Ikonografie des weiblichen Fußes, der einen erotisierenden Modeschuh trägt und sich traditionell als objet de désir dem männlichen Blick anbietet, wurde ersetzt durch den Fuß eines Mannes im schicken Sportschuh, der auf dem Fahrradpedal ruht. Der Mann scheint sich mit dem Fahrrad vom ödipalen Begehren emanzipiert zu haben, und sein Begehren ist nicht mehr von einem zum Objekt degradierten weiblichen Anderen abhängig. Vielleicht aber projiziert er seine libidinöse Beziehung nun auf die Objekte – seine Sportschuhe und das Fahrrad. Doch ist zu fragen, ob die psychoanalytische Lesart das neue Imaginäre angemessen beschreibt. Zu beobachten ist vielmehr eine Faszination der Beziehung

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zwischen Körper, Ding und Technik, die einen Affekt auslöst.4 Es muss die Frage gestellt werden, ob dieses Ensemble eine neue Subjektivität generiert, die wir im Folgenden als kollaborative Relation von Mensch und technischem Objekt auffassen möchten. Weiterhin ist nach der aisthetischen Funktion5 einer solchen Relation zu fragen und inwieweit Affekte ökonomisch funktionalisiert werden können. In der Großaufnahme vermittelt die sinnliche Erfahrung, nämlich die Harmonie zwischen den Farben des technischen Objektes und des Sportschuhs, eine leibliche Ganzheit, eine Symbiose von menschlichem Körper und Technik, eine Symbiose, die durch den im Bildzentrum stehenden Kontakt von Fuß und Pedal physisch charakterisiert wird. Dabei konnotiert das glänzende, ins Türkis gehende Blau geistige Offenheit und Dynamik. Die Möglichkeit einer solchen Symbiose als Grundlage eines neuen, mit dem Fahrrad verbundenen Imaginären, ist die Leitfrage meiner Überlegungen.

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Deleuze nennt die Großaufnahme das Affektbild, das selbst bei Dingen mit dem Effekt eines Gesichtes verbunden ist, wo sich die Bewegung in Mikrobewegungen fortsetzt (vgl. Deleuze 1983: 125; vgl. Borsò 2010). Neuere Theorien erarbeiten die weitergehende Funktion von Affekten. Gemäß Brian Massumi, Philosoph und Deleuze-Übersetzer ins Englische, sind Affekte von Emotionen zu unterscheiden, gelten doch letztere als eine nachträgliche Qualifizierung, das heißt Selegierung und Stiftung von Ordnung durch Bewusstseinsakte. Affekte entziehen sich dagegen einer (essentialistischen) Qualifizierung. Mit Affektion und Affekt sind unbestimmte, somatische Prozesse und sinnliche Emergenzen im Zwischenbereich von Perzeption und Akt gemeint. Affekte sind deshalb (vom Bewusstsein) autonome, vitale Kräfte mit einem hohen Potenzial zur Interaktion. So stellt Affektion eine Relationalität zum Anderen und zur Umwelt her und ist deshalb potenziell eine Quelle offener Sozialität. Weil Affekte Diskurse, Subjekte, Gemeinschaften transformieren und entgrenzen können, ist ihre politische Funktion potenziell hoch (vgl. Massumi 2015).

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Ich beziehe mich auf aisthesis im Sinne des griechischen Etymons. So versteht Martin Seel ästhetische Wahrnehmung als ein Zusammenkommen »einer Aufmerksamkeit für das Erscheinen von Erscheinendem.« (Seel 2004: 74, Herv. i. O.) Dies meint eine Aufmerksamkeit dafür, »wie etwas hier und jetzt für unsere Sinne anwesend ist.« (Ebd.) Ästhetische Erfahrung ist »ästhetische Wahrnehmung mit Ereignischarakter« (ebd.: 75, Herv. i. O.). Ästhetische Ereignisse reduzieren sich keinesfalls allein auf Kunsterfahrung, sondern schließen auch alltägliche ästhetische Wahrnehmungen ein. Im Fall von Kunstwerken handelt es sich bei ästhetischer Erfahrung um »Darbietungsereignisse« (ebd.: 76, Herv. i. O.). In allen Fällen geht es nicht darum, wie etwas ist, sondern wie es da und dargeboten ist.

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DAS FAHRRAD ALS NEUER MYTHOS Wie konnte es zum neuen Mythos des Fahrrades kommen, galt doch während des 20. Jahrhunderts das Automobil als Ikon der modernen Mobilität, des gesellschaftlichen und ökonomischen Fortschritts sowie des individuellen Erfolgs? Roland Barthes hatte in Mythologies den neuen Citroën6 und den Mythos der DS7 (la déesse, »die Göttin«) als futuristische und mobile Kathedrale beschrieben. Das futuristische Moment bezieht das Auto auf eine bekannte Mythologie: die Nautilus, das U-Boot in verschiedenen Romanen von Jules Verne, futuristisches Objekt par excellence, das »légèreté, vitesse et aérodynamisme«8 verspricht und die Geschwindigkeit spiritualisiert. Es heißt bei Barthes: »La Déesse est visiblement exaltation de la vitre, et la tôle n’y est qu’une base. Ici, les vitres ne sont pas fenêtres, ouvertures percées dans la coque obscure, elles sont grands pans d’air et

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Der erste nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte Citroën wurde 1955 auf dem Pariser Autosalon als DS 19 präsentiert. DS stand für Déesse (»Göttin«). Dies bezog sich zum einen auf die futuristische Optik, zum anderen auf die Technik, vor allem die Federung, erstmalig gebaut auf einer ebenfalls neuartigen Hydraulikanlage mit optimaler Dämpfung bei allen Straßenverhältnissen.

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In Mythologies geht es darum, die suggerierte Natürlichkeit der Ereignisse als Konstrukt zu entlarven. Barthes macht insbesondere auf die Gefahr aufmerksam, durch die mythische Kodifizierung der Aussage der Konnotation des Bildes anheimzufallen, ohne den Blick auf die sinnlich-physische Dimension von Bildern richten zu können. Der Mythos wird damit als eine konstatierende Sprache definiert, also eine Sprache, die nicht hinterfragt werden darf (dies gilt für alle Mythosbegriffe). Barthes erfasst diese Sprache als Konnotationssystem, das heißt als ein Zeichensystem zweiter Ordnung, das imperativen Charakter hat. Die Denotationen der historischen Situierung werden damit übersehen, so dass nach Barthes der Mythos durch den Verlust der historischen Eigenschaft der Dinge bestimmbar wird: »Au lieu de reconnaître que la culture est un système immotivé de significations, la société bourgeoise donne toujours des signes comme justifiés par la nature ou la raison.« (Barthes 1970: 67) »Le mythe ne nie pas les choses, sa fonction est au contraire d’en parler; simplement, il les purifie, les innocente, les fonde en nature et en éternité, il leur donne une clarté qui n’est pas celle de l’explication, mais celle du constat ...« (Ebd.: 230) Der Mythos verwandelt also Geschichtliches in Natürliches, Geschichte in Natur, Bedingtes in Ewiges.

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»Quant à la matière même, il est sûr qu’elle soutient un goût de la légèreté, au sens magique. Il y a retour à un certain aérodynamisme, nouveau pourtant dans la mesure où il est moins massif, moins tranchant, plus étal que celui des premiers temps de cette mode. La vitesse s’exprime ici dans des signes moins agressifs.« (Ebd.: 151)

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de vide, ayant le bombage étalé et la brillance des bulles de savon, la minceur dure d’une substance plus entomologique que minérale.« (Barthes 1970: 151) Barthes unterstreicht den Übergang vom Motor zum Organismus eines Insektes, das sich der Autofahrer allerdings durch seine Körperpraktiken zum Untertan macht. Dies ist die Faszination der DS, und in den Ausstellungsräumen sieht man, wie die Besucher die Türen, Fenster und metallischen Teile berühren und streicheln: »[D]evant le volant, on mime la conduite avec tout le corps. L’objet est ici totalement prostitué, approprié: partie du ciel de Metropolis, la Déesse est en un quart d’heure médiatisée, accomplissant dans cet exorcisme, le mouvement même de la promotion petite-bourgeoise.« (Ebd.: 152) Das Fahrrad hingegen stellte von Anfang an eine andere Art des technischen Objektes dar, das sich der Kolonialisierung durch die Machtfantasien des abendländischen Subjektes entzogen hat, ja gerade durch die technischen Eigenschaften zur Konstitution einer anderen Art Subjektivität beigetragen hat. Selbstredend kann le vélo nicht allein mit der politisch orientierten ökologischen Vernunft gegen die Faszination des Automobils aufwarten. Wie lässt sich also das Imaginäre beschreiben, in dem heute das Fahrrad als eine Technik des neuen Lebens erneut zum Mythos erhoben wird? Darüber wollen wir nachdenken.

VÉLOMANIE ‒ DIE ANDEREN KÖRPERPRAKTIKEN Als erstes fällt ein historisches Paradox auf, nämlich: Die heutigen Bilder sind eigentümlicherweise nicht so sehr verschieden von denjenigen, die la petite reine bei ihrer Entstehung inspirierten. Und nirgendwo zeigt sich die Faszination des Fahrrades und zugleich die Bedeutung seiner Technik als Symbol des neuen Lebens und Erlebens besser als bei der Gruppe von Médan, der Intellektuellengruppe um Émile Zola, und an der Figur von Zola selbst. Ausflüge en bicyclette wie auch Kanufahrten gehören zu den leiblichen Tätigkeiten, die ebenso lebenswichtig wie die intellektuellen Soirées sind. Interessanterweise wird die Leidenschaft von Zola für die bicyclette in einer Reihe mit der Fotografie genannt, und beides verbindet sich in zahlreichen Aufnahmen von Zola als Fotograf oder als Objekt des Bildes. Aber es sind Émile Zolas Texte, welche die Rolle der bicyclette für die Entstehung einer neuen Gesellschaft recht präzise kommentieren. In seinem Roman Paris (1898) aus Les trois villes (1893-1898) nennt Zola das Radfahren die Schule des Lebens, übrigens auch im Zusammenhang mit der Emanzipation der Frau durch das Fahrrad. Die bicyclette ist Lehrmeisterin des Lebens, weil sie andere, neue Körperpraktiken abverlangt und antrainiert. Es wird dargestellt, wie junge

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Frauen, die beim Überqueren der Straße wegen der zahlreichen Hindernisse nahezu paralysiert waren, durch das Radfahren die Fähigkeit erlangen, ihre Sinne zu schulen:9 »Elles ne savent pas même traverser une rue, paralysées par l’idée des obstacles… Mettezen une toute jeune sur une bicyclette, et lâchez-la-moi sur les routes: il faudra bien qu’elle ouvre les yeux, pour voir et éviter le caillou, pour tourner à propos, et dans le bon sens, quand un coude se présentera. Une voiture arrive au galop, un danger quelconque se déclare, et tout de suite il faut qu’elle se décide, qu’elle donne son coup de guidon d’une main ferme et sage, si elle ne veut pas y laisser un membre… En somme, n’y a-t-il pas là un continuel apprentissage de la volonté, une admirable leçon de conduite et de défense? […] Mais j’entends que celles qui éviteront les cailloux, qui tourneront à propos sur les routes, sauront aussi, dans la vie sociale et sentimentale, franchir les difficultés, prendre le meilleur parti, d’une intelligence ouverte, honnête et solide… Toute l’éducation est là, savoir et vouloir. ‒ Alors, l’émancipation de la femme par la bicyclette. ‒ Mon Dieu! pourquoi pas?…Cela semble drôle, et pourtant voyez quel chemin parcouru déjà: la culotte qui délivre les jambes, les sorties en commun qui mêlent et égalisent les sexes, la femme et les enfants qui suivent le mari partout, les camarades comme nous deux qui peuvent s’en aller à travers champs, à travers bois, sans qu’on s’en étonne. Et là est surtout l’heureuse conquête, les bains d’air et de clarté qu’on va prendre en pleine nature, ce retour à notre mère commune, la terre, et cette force, et cette gaieté neuve, qu’on se remet à puiser en elle! … Regardez, regardez! n’est-ce pas délicieux, cette forêt où nous roulons ensemble?« (Zola 1968a: 1447f.)

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Dies entspricht auch soziologischen, psychologischen und neurologischen Befunden. So sind Handlungen nach Seewald »an die Verfügung über ein hinreichendes Repertoire an Wahrnehmungs- und Bewegungsmustern geknüpft« (Seewald 2010: 293f.). Augenfällig werde dies an Handlungssituationen wie dem Radfahren: »Ich kann nur an einem Radausflug teilnehmen, wenn mir das Radfahren als besondere Weise des körperlichen Zur-Welt-Seins zur Verfügung steht. Dieser Zusammenhang gilt allerdings im frühen Kindesalter auch für weniger offensichtliche bewegungsorientierte Handlungen wie das Radfahren. Jedes noch so einfache Greifen, um einer Sache habhaft zu werden, erfordert die Verfügung über Greifmuster und die komplementären Haltungsabsicherungen.« (Ebd.) Vgl. auch Gugutzer 2006 und Gugutzer/Schneider 2007.

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Schon hier wird la bicyclette als ein technisches Objekt10 beschrieben, das als Mittler für eine gelungene (ökologische) Relation zwischen Mensch und Umwelt fungiert. Im ersten Teil dieser Passage führt das Fahrrad dazu, dass der Mensch die Augen öffnet, dass er die Fähigkeit erlangt, die verschiedensten sinnlichen Informationen aus der Umwelt wahrzunehmen und so die eigene Entscheidungsfähigkeit zu schulen. Das Zusammenspiel von Körper und Geist wird gefördert, denn die Hand weiß, wie sie mit einem festen Griff und einer zügigen Lenkbewegung auf eine Gefahr zu reagieren hat. Deshalb wird die Hand sage (»klug«) genannt. In der Interaktion von Mensch und Technik lernt also der Körper, den Willen zu entfalten und sich das adäquate Verhalten einzuprägen, das Zola noch mit moralischen Kriterien beschreibt. Wenn man die Rolle des Organismus im Rougon-Macquart-Zyklus bedenkt, ist man von dieser positiven Wendung im Kontext des Fahrrades überrascht, denn bekanntlich führt der soziale Determinismus im gesamten Zyklus zur Zerstörung dieser Großfamilie. Mit der bicyclette bekommt aber Zolas Blick auf den Organismus eine vitalistische Wende. Savoir und vouloir haben die Arbeit des Körpers als Grundlage, und diese führt zur moralischen Stärkung, was schließlich zum Schlüssel sozialer Emanzipation wird. So die weiterreichende Lehre des Radfahrens. Im zweiten Teil des Zitates geht Zola präzise auf die Befreiung des Körpers durch das technische Objekt ein. Die Culotte ist hier nicht mehr ein cache-sexe (so die Bedeutung dieses Kleidungsstückes); ihre Funktion ist vielmehr, die Beine freizulassen, damit diese als Hauptakteure mit dem technischen Objekt ko-operieren können. Erst unter dieser Voraussetzung wird das Erleben von Welt zum Erlebnis, und damit auch zu einem Ereignis ästhetischer Erfahrung. Zola beschreibt dies wie folgt: durch die Wälder wegrollen und dabei ein Luft- und Helligkeitsbad nehmen, das den Seh- und Riechsinn zugleich aktiviert. Dies ist die Quelle eines neuen Frohsinnes, der – einschließlich der sexuellen Implikationen – von der Lebendigkeit unseres Planeten beflügelt wird. A vélo fordert am Ende dieser Passage auf, sich der Erde und der Natur als Fundament des Lebens zuzuwenden, aus denen man wieder schöpfen soll. Hier finden wir eine Präfiguration neuerer ökologischer Ansätze, die ebenfalls eine andere Interpretation von Erde als ein lebendiges Wesen, das weder tot noch passiv ist, vorschlagen. Bruno Latour weist mit Bezug auf die Hypothese der Gaia von

10 Le mode d’existence des objets techniques (1958) von Gilbert Simondon stellt eine frühe Reflexion über die Beziehung technischer Objekte zu ihrer assoziierten Umwelt dar, wobei Umwelt den Menschen wie auch natürliche und künstliche Bedingungen von Arbeitsvorgängen impliziert. Erst durch diese Assoziierung erhalten Menschen wie technische Entitäten ihre Individuation.

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James Lovelock (vgl. Lovelock/Margulis 1974; Lovelock 1979) und auf Le contrat naturel von Michel Serres (1990)11 darauf hin: »de nos jours, nous assistons selon Serres, à un second procès de Galilée... mais cette fois-ci, en lui donnant un tour nouveau et quelque peu inquiétant: non pas ›Et pourtant la Terre se meut‹, mais: ›Et pourtant la Terre s’émeut!‹« (Latour 2015: 136) Latour schlägt eine »Gaïapolitique« gegen die Geopolitik vor. Während letztere die Administration eines Territoriums, meistens durch Machtbeziehungen, meint, versteht man unter der »Gaïapolitique« das Vermögen der Erde im Sinne eines Bodens, welcher eine Multiplizität von alten und neuen Akteuren inspiriert und dazu animiert, der großen politischen Aufforderung zu antworten: nicht außerhalb oder gegen, sondern in Kooperation mit der Erde zu leben.12 Wenn Zolas Verständnis der sozialen Funktion des Fahrrades bereits in diese Richtung führt, so handelt es sich um eine Spur, die schon im frühen 20. Jahrhundert verlorenging. Mit der Institutionalisierung der Tour de France wird der retour zur Mutter Erde vor allem den Mythos des nationalen territoire und das nationale, wenn nicht zuweilen nationalistische Imaginäre Frankreichs speisen. In Trois Villes (1968) beschreibt Zola dagegen die vom Fahrrad geförderte individuelle Vitalität. Es sei in diesem Rahmen nur kurz daran erinnert, dass der Romancier schon 11 Mit Le contrat naturel (1990) wendet sich Serres gegen die Zerstörung der Erde, die mit dem Perfektionierungsprojekt der Aufklärung verstärkt begann. Die verschiedenen Gesellschaftsverträge – von Hobbes bis hin zu Rousseau – haben die Relation vom Menschen zu seiner Umgebung und zum Planeten sowie die materiellen Körperpraktiken, Kulturtechniken und Naturphänomene dem immunitären Prinzip des Schutzes des (abstrakten) gesellschaftlichen Körpers unterstellt. So kehrt Serres den Weg um, der in der abendländischen Moderne den Menschen gesellschaftlich und kulturell bestimmte und zum Herrscher der Natur machte. Dabei wird Natur als die Totalität des Planeten Erde verstanden: »La nature globale, la Planète-Terre en sa totalité, siège d’interrelations réciproques et croisées entre ses éléments locaux et ses sous-ensembles géants, océans, déserts, atmosphère ou stocks de glace, est le nouveau corrélat de ces nouvelles plaques d’hommes, sièges d’interrelations réciproques et croisées entre les individus et les sous-groupes, leurs outils, leurs objets-monde et leurs savoirs, rassemblements qui peu à peu perdent les rapports avec le lieu, la localité, le voisinage ou la proximité. Se fait rare l’être-là. Voilà l’état, le bilan équilibré, de nos relations avec le monde, au commencement d’un temps où l’ancien contrat social devrait se doubler d’un contrat naturel: en situation de violence objective, il n’y a d’autre issue que de le signer.« (Serres 1990: 40f.) 12 Selbst die Anthropologie hat den Anthropozentrismus verlassen. Tim Ingold sieht das, was wir Materialien der Erde genannt und als eigene Ressourcen angesehen haben, als Agenten mit Eigensinn (vgl. Ingold 2012: 431).

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in Le Docteur Pascal (1893), in dem zwar die Wissenschaft eine ambivalente, zum Teil kritisch gesehene, aber auch erlösende Rolle spielt,13 eine vitalistische Sicht entwickelt, die über die Pathologien der Vererbungsthese des Rougon-MacquartsZyklus hinausgeht. Dieser Vitalismus schließt in Trois villes auch soziale Aspekte, nämlich die Befreiung des Individuums, ein.14 Wenig später wird Henri Bergson den élan vital als »mouvement créateur de la vie« erkennen und erklären: »le mouvement est la réalité même!« (Bergson 1938: 159)15 Weitere Einsichten in die Notwendigkeit eines neuen Wissens über Technik im Zusammenhang mit dem 13 Mit Bezug auf Claude Bernard, Alter Ego von Pascal, betont Zola in Le Docteur Pascal die vitalistischen Aspekte, die dem Positivismus inhärent sind, zugleich aber auch die konstitutive Ambivalenz der Wissenschaft (vgl. Behrens/Guthmüller 2013). Zu Literatur und Epistemologie seit der Aufklärung siehe Klinkert 2010. Über das Verhältnis von Literatur und Epistemologie des Lebens, insbesondere mit Bezug auf Roberto Esposito, informiert der von mir herausgegebene Band Wissen und Leben. Wissen für das Leben. Herausforderungen einer affirmativen Biopolitik (Borsò 2014). Gosme betont die aus der experimentellen Geschichte stammenden Lösungen von Zola, die als ein Effekt seines »scientisme romantique« (Gosme 2000: 227) gewertet werden. 14 Die Vitalität organischer Prozesse, mit der Claude Bernard der Medizin nach der Etablierung der Physiologie als Wissenschaft eine neue biologische Grundlage verleiht (vgl. Canguilhem 1979: 77), wird in Zolas Le Roman expérimental zwar in eine deterministisch gedeutete Beziehung zwischen dem gesellschaftlichen Organismus und dem Individuum überführt. Aber auch in diesem Traktat spielt die individuelle Natur der Phänomene eine Rolle: »l’apparition de l’idée expérimentale est toute spontanée […] sa nature est toute individuelle.« (Zola 1968b: 1180) Doch ist für Zola die Beherrschung der Phänomene das Ziel der experimentellen Wissenschaft; das Ganze steht vor dem Individuum: »Le but de la méthode expérimentale, en physiologie et en médecine, est d’étudier les phénomènes pour s’en rendre compte.« (Ebd.: 1186). Zum Verhältnis von Claude Bernards und Zolas Interpretation der experimentellen Methode vgl. Cabanès 1993. 15 »A vrai dire, il n’y a jamais d’immobilité véritable, si nous entendons par là une absence de mouvement. Le mouvement est la réalité même, et ce que nous appelons immobilité est un certain état de choses identique ou analogue à ce qui se produit quand deux trains marchent avec la même vitesse, dans le même sens, sur deux voies parallèles: chacun des deux trains apparaît alors comme immobile aux voyageurs assis dans l’autre. Mais une situation de ce genre, qui est en somme exceptionnelle, nous semble être la situation régulière et normale, parce que c’est celle qui nous permet d’agir sur les choses et qui permet aussi aux choses d’agir sur nous: les voyageurs des deux trains ne peuvent se tendre la main par la portière et causer ensemble que s’ils sont ›immobiles‹ c’est-à-dire s’ils marchent dans le même sens avec la même vitesse.« (Bergson 1938: 159)

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Fahrrad erhalten wir in der Pataphysik von Alfred Jarry. Das Verhältnis Jarrys zu Wissenschaft und Technik begreift das technische Objekt als Quelle von Potenzialitäten und Virtualitäten. So äußert sich Jarry zur bicyclette: »Comme on apprend que les figures géométriques, leurs lignes étant extérieurement prolongées, construisent d’autres figures de propriétés semblables et de plus grandes dimensions, l’homme s’est aperçu assez tard que ses muscles pouvaient mouvoir, par pression et non plus par traction, un squelette extérieur à lui-même et préférable locomoteur parce qu’il n’a pas besoin de l’évolution des siècles pour se transformer selon la direction du plus de force utilisée. Les Rosny ont déjà appelé le cycle un nouvel organe ; c’est surtout un prolongement minéral de notre système osseux, et presque indéfiniment perfectible, étant né de la géométrie.« (Jarry 2000: 36)16

Unter Verweis auf die Metapher, mit der die unter dem gemeinsamen Pseudonym J.-H. Resny auftretenden belgischen Schriftsteller Joseph Henri Honoré und Séraphin Justin François Boex das Fahrrad bezeichnen, sieht Jarry in diesem technischen Objekt ein neues Organ, das der Mensch entdeckt hat, als er lernte, seine Muskelbewegung nicht nur in Form von Zugkraft, sondern auch von Druck zu nutzen.17 Dadurch wird das technische Objekt zu einem externen Teil des eigenen Knochengerüstes, eine Art mineralische Verlängerung des eigenen Knochensystems. Somit verändert diese neue Technik die Evolution; der Mensch erhält eine neue Vitalität, unter anderem wegen der psychischen und mentalen Sensibilitäten, die das Fahrrad durch den raschen Wechsel von Visionen und Wahrnehmungen bei der Bewegung vermittelt.

16 Jarrys Essay war im Cyclo-guide Miran, Paris, Nr. 82 (November 1896) erschienen. 17 Jarry bezeichnet die Romane des Brüder-Kollektivs J.-H. Resny als »roman scientifique« oder »roman hypothétique« (Jarry 1903: 431).

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DAS FAHRRAD: VON DER KOLONISATION DER TECHNIK ZUM AISTHETISCHEN GENUSS DER KOOPERATION MIT DEM TECHNISCHEN OBJEKT Die Würdigung des Fahrrades nennt schon am Ende des 19. Jahrhunderts die Vorzüge dieser Maschine als kongeniale Aktualisierung der Kooperation von Mensch und Technik. Angesicht der zukunftweisenden ökologischen Umsicht dieser Vorstellung wundert es nicht, dass heute französische Intellektuelle, wie der Philosoph Michel Serres und der Ethnologe und Anthropologe Marc Augé, ein ähnliches Loblied auf das vélo verfassen, und dies ist keine nostalgische Retrogeste. Michel Serres (1977) hat in seiner Lukrez-Lektüre eine Philosophie der Turbulenzen als Dynamik des Lebensflusses und mit dem diagrammatischen Netzwerk18 eine Theorie der Kommunikation entwickelt, auf deren Grundlage er auch das französische Ministère de la culture et communication berät. Serres ist aber auch der Philosoph der Sinne. Les cinq sens (1985, dt. 1993) ist eine mikrophysische Erkundung der Dynamik der Sinne und eine progressive Erschütterung des kartesianischen cogito, ausgehend vom Körperbewusstsein. Das Turnen ist der Anfang und die Voraussetzung der Metaphysik, sagt er im Kapitel »Tätowierung« bei der Behandlung des Tastsinnes (vgl. Serres 1993: 19). Und dies betrifft auch Radsportler. Denn Körperbewusstsein heißt bei Serres Cœnesthesie, von κοινός/koinós (»gemeinsam«) und αἴσθησιςaísthesis (»Empfindung«). Cœnesthesie ist das Bewusstsein des Körpers beim Zusammenkommen der Körpersinne an einem Punkt, an dem sich ein awareness, ein Körperbewusstsein einstellt. Dies geschieht meistens an Grenzsituationen des Körpers, etwa bei Akrobaten, Sportlern, Tänzern, Fahrrad-Athleten. In Grenzsituationen ist es der Körper, der lernt,

18 Im diagrammatischen Netz sind lokale Kräfte zentral, weil sie die schematische Logik der Irreversibilität unterbrechen, so dass sich (etwa durch Wiederholungen) Induktionsströme ergeben. Zwischen beiden Polen der (scheinbar) linearen Kausalität kommt es zu »Störungen, zu Phänomenen mit den unterschiedlichsten Zeiten […], zu einem Feedback, zur Rückkopplung.« (Serres 1991: 12) Das kartesianische Tableau ist dabei nur ein Spezialfall des Netzwerkes, der aus der Projektion einer eingeschränkten Perspektive stammt. Ist im dialektischen (nicht-diagrammatischen) Netzwerk die Geometrie des Schemas stabil, so handelt es sich beim diagrammatischen Netzwerk um »ein in ständiger Entwicklung begriffenes Gebilde, das eine instabile Machtsituation darstellt.« (Ebd.: 15)

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ich zu sagen. Damit ist die Cœnesthesie die Grundlage propriozeptiver19 und kinästhetischer Prozesse, die heute sowohl in der Medizin als auch in der Kunst- und Tanzwissenschaft neue Einsichten vermittelt haben.20 Genau in dem Körper-awareness, also im Bewusstsein des Körpers, finden wir die Argumente von Zola wieder, und haben zugleich einen somatischen Turn im Verständnis der Fähigkeiten von vouloir und savoir, das bei Zola noch moralisch kodiert war. Denn die Leistung von Fahrrad-Athleten ist ein Effekt der Cœnesthesie, des Zusammenkommens aller Sinne auf der Suche nach einem Gleichgewicht, teilweise in Extremsituationen. Und dass dies auch Zolas Aufmerksamkeit fand, demonstriert eine seiner herausragenden Fotografien, das Foto eines jungen Fahrrad-Akrobaten, Gaston Picq-Brière, des Cousins von Albert Laborde.21

19 Neben der anfänglichen Verbindung mit dem Lebensgefühl im vitalistischen Sinne (Pierre Cabanis) meint Zoenästhesie bzw. Cœnesthesie (cénesthesie/cœnesthésie) die somatosensorischen Bereiche der Körpergefühlsphäre, wie Proprioseption, viszeralen Sinn und auch das Körperschema entsprechend der somatosensorischen Entwicklung im kortikal sensiblen Assoziations- und Nebenfeld des Gehirns (lobulus parietalis superior). Die Entdeckung der Proprioseption, also des Sinnes für die Lage und Bewegung des Körpers im frühen 19. Jahrhundert, geht auf den Physiologen Charles Bell zurück, der sich fragte, wie Blinde es schaffen, so geschickt und zielgerichtet zu agieren. Propriozeptoren, also Rezeptoren zur Selbstwahrnehmung in Muskeln und Sehnen, wurden durch Charles Sherrington zu Beginn des 20. Jahrhunderts festgestellt. Zur Cœnesthesie und Serres’ Cinq sens vgl. Borsò 2018. 20 Mit Mimésis, Conferdanse sur l’approprioception chorégraphiquec, einem Wortspiel aus den Begriffen appropriation (»Aneignung«) und proprioception (»kinästhetische Wahrnehmung«) erproben Thomas Lebrun und Foofwa d’Immobilité die Aneignung des Wahrgenommenen durch die Anbindung der Propriozeption an die appropriation, das heißt an den Besitz des Körpers der Tänzer (vgl. Brandstetter/Klein 2013 sowie Brandstetter im Druck). 21 Die Aufnahme war Teil der 2010 im Jeu de Paume gezeigten Ausstellung zu Zolas Bedeutung als Fotograf.

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Abbildung 2: Zola als Fotograf: »Un Jeune invité équilibriste: Gaston PicqBrière«, undatierte Aufnahme, zwischen 1895 und 1902

Quelle: http://www.jeudepaume.org/pdf/PetitJournal_Zola-Tours.pdf

Für Serres, den Philosophen der Sinne, steht le vélo für eine dem Körper kongeniale, sanfte Technik. Als einzige Ausnahme in der Geschichte öffnet sich dieses technische Objekt der Welt, statt sie zu bekämpfen. Gerade deshalb ist la petite reine, wie la bicyclette von Anfang an genannt wurde, souverän:

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»Une machine qui pour la première fois dans l’évolution comparée de la vie et des techniques, ne nous protège pas de sa cuirasse, mais mime au contraire l’intimité des os en laissant notre chair déborder vers le monde. Bras sur le guidon, mains serrant les freins ou les poignées, cul sur selle, mes jambes se posent hors cadre. Mon corps entoure, surplombe, habille, environne ma bicyclette, ainsi devenue squelette interne de mon corps roulant.« (Serres 2009: 9)

Erstmalig in der gemeinsamen Evolution von Leben und Technik schützt uns eine Maschine nicht durch ihren Panzer wie das Auto. Mit dieser Metapher wird das Auto zum Äquivalent des Immunitätsparadigmas, das Thomas Hobbes in seinem Leviathan aufstellt, dessen Körper einem Panzer vergleichbar die Bürger vor äußeren Gefahren schützt. Es ist ein thanatologisches, jede kommunitäre Beziehung auflösendes Immunitätsprinzip (vgl. Esposito 1998: XXVI), das die tödliche Gefahr in das zu schützende System einschließt und nicht das Leben, sondern nur das Überleben sicherstellt.22 Das Fahrrad gründet dagegen auf einem affirmativen Prinzip dem Leben gegenüber. Es imitiert die Intimität der Knochen (das Fahrrad kann als Verlängerung unserer Körperknochen angesehen werden) und ermöglicht, dass sich unser Fleisch mit dem Fleisch der Welt mischt – so könnte man die Passage mit Bezug auf Merleau-Ponty verstehen.23 Die Arme auf dem Lenker, die Hände an den Handgriffen, vielleicht auch die Bremshebel umschließend, das Gesäß auf dem Sattel, meine Beine auf dem Rahmen, sagt Serres, der mit dem Wechsel in die Ich-Form die eigene Erfahrung betont. Mein Körper umschwärmt, ragt über, kleidet, umgibt meine bicyclette. Das Fahrrad ist das innere Gerippe 22 »… un suo prototipo va sicuramente rintracciato nella filosofia politica di Hobbes: allorché egli non soltanto pone al centro della propria prospettiva il problema della conservatio vitae, ma la condiziona alla subordinazione ad un potere costrittivo ad essa esterno, quale è quello sovrano, il principio immunitario è già virtualmente fondato.« (Esposito 2004: 42, Herv. i. O.). »È noto che egli è il primo ad assumere il negativo non come semplice prezzo ‒ il residuo non voluto, lo scotto necessario ‒ da pagare all’effettuazione del positivo, ma piuttosto come il suo stesso motore, il carburante che ne consente il funzionamento.« (Ebd.: 43) Zur systematischen und historischen Beschreibung des Immunitätsparadigmas vgl. Esposito 2002. 23 Chair du monde ist eine ontologische Kategorie, die die Ko-Originalität des Selbst und der Welt ausdrückt. Dieses Konzept impliziert die Untrennbarkeit von subjektivem und objektivem Körper als gemeinsamer Materie von Körper und Welt. Es geht um »notre contact avec l’être en nous et hors de nous avant toute réflexion.« (Merleau-Ponty 1988: 104). Zur Rolle der Metapher des Fleisches für eine affirmative Biopolitik, die im Fleisch eine verbindende, weil die Grenzen einzelner Körper überschreitende materielle Entität sieht, vgl. Esposito 2004: 173.

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meines rollenden Körpers. Dies ist die Hauptthese des kurzen Vorworts zur Publikation A vélo, citoyens!, ein Vorwort, dem Serres den überraschenden Titel »Nos automobiles? Des fossiles« gibt. Darauf aufbauend skizziert er in diesem Miniaturtext eine andere historische Epistemologie der Technik. Was ist das Wissen, das wir aus dem am Beispiel des Fahrrades beobachteten Ensemble von Mensch und Technik gewinnen? Es ist ein Wissen über eine andere Evolution des Lebens auf dem Planet Erde, und es steht konträr zur bisherigen, auf Technik als Fortschritt basierenden Annahme, die Entwicklung des Lebens sei eine Folge technologischen Fortschrittes: »Le cambrien – il y a 500 millions d’années – a vu émerger, chez les vivants monocellulaires mous, des parties dures, sortes de plaques de calcaire pluricellulaires. Des populations sont apparues, munies de toits dont la dureté mit à l’abri leurs parties douces: mollusques aux coques chantournées, armées d’insectes couverts de chitine, sauriens et reptiles émaillés d’écailles... Des centaines de millions d’années après émergèrent des espèces douces dont l’anatomie inversa exactement la dureté précédente. Chair, poils, plumes, duvets..., toutes les parties souples sortirent lentement de ces coques cristallines ou de ces carapaces calcaires et devinrent parfois, à l’intérieur, os, cartilages et squelettes. Ainsi notre corps sut à la longue se faire doux dehors et dur dedans. Mais avec nos mains, nous ne pouvons encore fabriquer que du dur dehors et doux dedans, à l’image de ces véhicules d’acier qui nous entourent. Tout se passe comme si nous ne parvenions à modeler que des fossiles archaïques...« (Serres 2009: 9)

Nach dem Entstehen weicher monozellulärer Organismen aus sauerstoffhaltigem Wasser24 bildete sich im Kambrium, der Periode der Erdgeschichte vor 541 bis 485 Millionen Jahren, als erste Stufe der Evolution ein harter Panzer um diese weichen Organe, bestehend aus einer plurizellulären Kalkauflage. Ganze Populationen seien entstanden, die sich zum Schutz ihrer Weichteile Dächer, wie Serres schreibt, gebaut haben: von den Mollusken über die Krustazeen und ganzen Armeen von mit Chitin versehenen Insekten bis hin zu den Sauriern und Reptilien. Dann, nach hunderten Millionen von Jahren tauchten sanfte Spezies auf, die die vorausgegangene Entwicklung umkehrten. Weiche Teile wie Fleisch, Haare und Pelze, Federn und Daunen sprießten langsam aus den kristallinen Schalen oder Kalkgehäusen, die allmählich im Inneren der Körper zu Knochen, Knorpel und Gerippen mutierten. So sei unser Körper mit der Zeit weich im Äußeren und hart im Inneren geworden. Serres leitet hieraus folgende Schlussfolgerung ab: Das Leben auf der Erde habe sich fortentwickelt, als sich das Verhältnis vom Weichen im Inneren und 24 Vgl. zur molekularen Evolution Sousa/Martin 2014.

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Hartem im Äußeren umkehrte und das Leben nun in einem Körper stattfand, der hart im Inneren (die Knochen) und weich im Äußeren war. Dagegen habe die Technik, dieses Prinzip vergessend, Autos hervorgebracht, die uns heute als die Imitation archaischer Fossilien vorkommen. Das technische Objekt Fahrrad funktioniere als Symbiose mit dem Körper und imitiere deshalb das vitalistische Lebensprinzip, das sich durchgesetzt habe.25 Dieses vitalistische Prinzip sollte uns eine neue Zukunft eröffnen. Serres schlägt nichts weniger vor als eine Verschiebung oder Korrektur des Anthropozäns, jener geochronologischen Epoche, in welcher der Mensch im Zentrum steht und seine zerstörerische Spur in die Erde einprägt. Diese Verschiebung soll uns zu einer biologischen und biochronologischen Lesart der Entwicklung der Erde führen, das heißt in die neue Epoche einer weichen Technik. Diese biochronologische Epoche könnte in Anlehnung an Serres das Malakocene – von μαλακός (»weich« oder »sanft«) – genannt werden. Serres’ Schlussfolgerung aus dem – amüsanten, aber zugleich ernsten – Vorschlag, die Evolutionsgeschichte im Sinne der weichen Technik zu betrachten, impliziert einen anderen Blick auf die Technik. Was uns so avanciert modern erscheint, nämlich die harten Panzer der Maschinen, die uns beschützen, werden uns in einer Archäologie der Zukunft vielleicht wie Reste einer Technik vorkommen, die das Modell eines altmodisch-unzeitgemäßen archaischen Fossils imitiert hat. Das Auto wäre somit in diese Kategorie einzuordnen, nämlich als eine primitive Form mobiler Spezies: »Regardons passer wagons et locomotives, camions et automobiles, fonctionner grues et bétonnières, s’élever usines et fabriques... tous mous à l’intérieur et d’acier à l’extérieur. Nous voyons défiler – s’entrechoquer quelquefois mortellement – des millions de fossiles, revêtus de cuirasses comme des crustacés, mollusques, arthropodes, insectes et sauriens... Nos automobiles ressemblent à la fois à des animaux conservés ou fossiles et à des armures de guerriers préhistoriques.« (Ebd.)

Wenn wir die Technik vom Standpunkt weicher Technologien wie dem Fahrrad aus betrachten, entdecken wir, dass die Autos wie Millionen gepanzerter Fossilien, Krustazeen, Mollusken, Insekten und Saurier aussehen, zwischen denen es zu manchmal tödlichen Zusammenstößen kommen kann. Man könnte meinen, es seien konservierte Tiere oder Fossilien, oder auch Ritterrüstungen prähistorischer

25 Auch darauf weist Jarry hin, wenn er am Beispiel des Fahrrades das Denken in Kategorien einer neuen Technik postuliert, die als neues Organ und als »squelette extérieur à lui-même« (Jarry 1896: 388) konzipiert sein muss.

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Kämpfer, sagt Serres kohärent mit dem Immunitätsparadigma, in dem Panzer gegen äußere Gefahren das Überleben sichern.26 Wir benötigen künftig aber sanfte Techniken wie das Fahrrad. Es sind Techniken, die uns nicht vor der mensch- und maschinengemachten Umweltgefahr immunisieren, das heißt durch Panzer schützen, sondern die unseren Körper mit der Welt verbinden, unser Fleisch mit dem Fleisch der Welt. Serres beendet die Lobpreisung des Fahrrades mit einer poetischen Passage: »Quand saurons-nous produire des techniques douces à l’image de nos corps? Le doux émergera tout naturellement de nous lorsque nos techniques s’ouvriront au monde au lieu de le combattre...Une exception à cela. Nous avons su, une seule fois, fabriquer de nos mains une machine si souveraine qu’on la nomma, dès sa naissance, ›la Petite Reine‹.« (Ebd.) Die sanfte Technik verbindet sich mit der Welt, statt gegen sie zu kämpfen. Die Kooperation MenschWelt-Maschine ist dabei ein anderes, weitergehendes ökologisches Modell als die defensive Nachhaltigkeit. Dieses andere Modell gehört heute zu den wichtigsten Impulsen der Kulturtheorie, ob man materielle Praktiken bedenkt, die im Sinne der belgischen Philosophin Isabelle Stengers die Interaktion fördern und sich im Dazwischen, im Milieu erst konstituieren (vgl. Stengers 2005: 187), oder ob es um die Ökologie der Erfahrung geht, wie der kanadische Soziologe und Philosoph Brian Massumi es formuliert (vgl. Massumi/Manning 2014; Massumi 2014), oder ob Affekte als Basis von Sozialität mit der Umwelt, das heißt von Relationen mit einer wechselseitigen Inklusion gesehen werden, wie dies Massumi und die Medienwissenschaftlerin Marie-Luise Angerer tun (vgl. Massumi 2014/2015; Angerer 2017): Stets geht es um die Relationalität als Basis für die Evolution der Formen, der Technik und des Lebens – so auch der italienische Philosoph Roberto Esposito, der die ausschließende Immunität durch die wechselseitige Relation des munus, der Gabe, ersetzt.27 Diese Form der Konstitution von Welt hat die Idee einer Souveränität des Menschen über die Welt und die Erde hinter sich gelassen. Die Relationalität von humanen und nicht humanen Wesen miteinander und mit den materiellen Situationen ihres Umfeldes ersetzt den Gedanken einer absoluten Dominanz. 26 In Immunitas beschreibt Esposito den Austausch zwischen der militärischen Metaphorik in der Medizin und den medizinischen Kampfmetaphern in der Politik seit dem 19. Jahrhundert sowie die Verflechtung von medizinischer und sozialer Überwachung: »l’intero territorio viene progressivamente suddiviso in zone rigidamente separate in funzione di una sorveglianza insieme medica e sociale.« (Esposito 2012: 167) 27 Espositos etymologische Analyse von munus begründet eine Genealogie, nach der die Gemeinschaft auf der Pflicht zur Gabe basiert, das heißt auf dem Gegenteil des Rechtes auf das Eigene, dem die in westlichen Kulturen immer noch gültige römische Rechtsprechung Priorität einräumt (vgl. Esposito 1998: X-XIII).

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DAS FAHRRAD ALS KOLLABORATIVES TECHNISCHES OBJEKT In dieses Paradigma schreibt sich die weiche Technik ein, die Serres zufolge das Fahrrad emblematisch repräsentiert und die anhand der Technikphilosophie Gilbert Simondons genauer bestimmt werden kann. Die Grundprinzipien der Schriften von Simondon, Du mode d’existence des objects techniques (1989a [1969]) wie auch L’individuation psychique et collective (1989b [11964]), die eine generative Ontologie gegründet haben, lauten: (1) (Humane und nicht humane) Wesen sind nicht ursprünglich individuelle Entitäten; sie befinden sich vielmehr in einem Werden, das heißt in einem ständigen Prozess der Individuation, (2) in Kooperation mit der Technik gelangen auch Menschen zu ihrer eigenen Potenzialität und Individuation. Simondons Werke wurden in den letzten Jahren wiederentdeckt und sie eröffneten das Untersuchungsfeld der Interaktion von menschlichem und technischem Wesen.28 Die Kooperation von Mensch, Technik und der je spezifischen Umwelt ist ein Prozess der transduction,29 also von Austausch und Übersetzung im physischen, psychischen und kollektiven Bereich des Lebens. Das Werden der Entitäten geschieht durch die Übergänge der transduction, das heißt der progressiven Differenzierung und Konkretisierung als Folge der immanenten Relationalität aller Wesen.30 In dieser Kooperation ist das technische Objekt ein energetischer Pool von Potenzialitäten,31 die sich erst im Miteinander von Mensch und Umwelt aktualisieren. Das technische Ding ist also kein totes Objekt, das man funktionalisieren kann, keine res extensa.32 Wenn man daher das technische Ding zu einer ihm fremden Funktion zwinge, zerstöre man sein Potenzial und zugleich das Potenzial des

28 Einer der Autoren, die von Simondon profitierten, ohne dies immer einzugestehen, ist Bruno Latour 2012. Zu Simondon und Marx vgl. Borsò 2017: 22ff. 29 »Il n’est pas passage d’un moment à l’autre comme on passerait du jaune au vert; le devenir est transduction.« (Simondon 1989b: 223) 30 Zum Konzept der transduction vgl. Bernard Stiegler 1998: 244. Zur Individuation (L’individu et sa genèse physico-biologique, 1964), die in Simondons weiteren Schriften in die Praxis umgesetzt wird (Du mode d’existence des objets techniques, 1969, und L’individuation psychique et collective, 1964), vgl. Stiegler 1996. 31 Auch Jarry optiert für ein Wissen über die Technik als Steigerung von Potenzialität und Virtualität. 32 Simondon spricht von bloßen »assemblages de matière, dépourvus de vraie signification, et présentant seulement une utilité.« (Simondon 1989a: 10f., Herv. i. O.)

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Menschen. Hierin liege auch das zentrale Problem der abendländischen Technikgeschichte. Der Mensch habe, so Simondon, die Technik wie einen fremden Kontinent kolonialisiert. Das splitting zwischen Kultur und technischen Objekten und der Wille, die Technik zu erobern, sind Ausdruck einer primitiven Xenophobie gegenüber der Technik. Die vitale Kraft der Technik liege dagegen in der Kooperation mit dem Menschen und im Einklang mit der Umwelt. Deshalb kann nach Simondon das Ensemble von Mensch und Technik auch das politische und soziale Denken in eine ökologische Richtung führen, die als unhintergehbare Relationalität zwischen Wesen und Umwelt verstanden werden muss: »Cette extension de la culture, supprimant une des principales sources d’aliénation, et rétablissant l’information régulatrice, possède une valeur politique et sociale: elle peut donner à l’homme des moyens pour penser son existence et sa situation en fonction de la réalité qui lʼentoure.« (Simondon 1989a: 14) Technik und Ökologie sind inhärent miteinander verbunden. Dies drückt sich schon in vélocipède aus, nämlich der Bezeichnung für das erste, aus einem Rad bestehende Fahrrad. Das vélocipède (aus dem lateinischen velocitas [»Geschwindigkeit«] und pedes [»Füße«]) ist ein technisches Objekt, das durch die Kraft der Füße an Geschwindigkeit gewinnt. Und auch die bicyclette verwirklicht in vorzüglicher Weise die Symbiose von Mensch und Maschine: Das Fahrrad fördert den »pouvoir d’intuition et de connivence avec le monde« (ebd.: 89). Hierin liegt die Uridee der bicyclette. Zola hatte schon auf die perfekte Kommunikation von tête und jambes, von Wille und Körpergefühl, hingewiesen. Und gerade die Möglichkeit, durch dieses Miteinander größte Leistungen zu erreichen, prägt auch die Tour de France als Sportereignis. Die legendären Leistungen eines Coppi oder eines Anquetil33 elektrisierten die Fans, weil man in den jeweiligen Etappen die Leistungen des Körpers mitfühlte. Man spürt auch heute noch, wie der Körper im Umgang mit der Umwelt und in Kooperation mit der Maschine an die Grenzen des Möglichen kommt. Was bei den Helden der Tour zählt, ist weniger die manpower. Vielmehr ist es das Ereignis der Vitalität des Menschen und der Kooperation seiner Einzelteile (Körper, Muskelkraft und Gehirn, das sahen wir schon bei Zola) als Akteure in Verbindung mit Umwelt und Technik. Auch die neueren technischen Entwicklungen des Fahrrades belegen die Eigenschaft dieser Maschine als sanfte, mit dem Menschen kooperierende Technik. Selbst wenn sich la petite reine im Laufe der 200-jährigen Geschichte an anderen technischen Entwicklungen orientiert hat, zum Beispiel in den neunziger Jahren, als das design und die Materialien (etwa Titan) den Futurismus der Raumtechnik nachahmten, und selbst wenn heute eine differenzierte und potente Fahrradtechnologie zum Standard geworden ist, so aktualisieren alle technischen Änderungen 33 Paul Fournel 2013 geht der Faszination nach, die auch er als Kind für Anquetil spürte.

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die minimalistische Uridee des ersten Patentes dieses technischen Objektes vor 1900, nämlich dem Leben zu dienen. Die neueren Elektrofahrräder, die der Muskelkraft helfen, wenn diese etwa durch das Alter nachlässt, sind ein aktuelles Beispiel. In diesem Sinne ist das vélo eine environmental agency, die weder von Menschen noch von Technologien dominiert wird.34 Das Fahrrad ist die einzige Maschine, für die Kultur und Technik nicht als Gegner operieren, anders als zum Beispiel das Skifahren, das die Ökologie des Berges fundamental zerstört, oder Autorallyes, die – mit Serres – archaischen Kämpfen um Leben und Tod ähneln. Obwohl manche Autoren im Kontext der sogenannten Littérature de terroir35 die Tour de France als Nationalismus missverstanden haben, ist dieses Sportereignis von Anfang an vorrangig Anlass für Sozialität gewesen. Die Tour de France ermöglichte die Wahrnehmung von Frankreich, weil sie zum Bau von Straßen führte, welche entfernte Teile des Hexagons verbunden haben, ohne dabei die Landschaft maßgeblich zu zerstören, das heißt Berge einzuebnen oder Wälder zu roden, wie dies zum Beispiel die Vorbereitung der Bahnen für den Wintersport erfordert. Natürlich machen die Menschen aus den potenziell ökologischen Bedingungen des Fahrradfahrens erneut eine Umweltbedrohung, wenn die fanatischen Massenbewegungen von Fans und der Tross der Tour mit ihren PKWs bzw. LKWs durch das Land ziehen.

»JE PEDALE, DONC JE SUIS.« FÜR EINE ANDERE ANTHROPOLOGIE Im Lichte all dieser Faktoren mag Marc Augé, der Anthropologe der Contemporaneité und ehemaliger Präsident der École des hautes études en sciences sociales (EHESS), recht haben, wenn er am Ende seines Buches Éloge de la bicyclette postuliert: »le ciclysme est un humanisme.« (Augé 2008: 88) Augé, der 1986 Un ethnologe dans le métro – als Resonanz von Queneaus Zazi dans le métro – geschrieben hatte, wurde mit seiner vernichtenden Kritik des postmodernen urbanen Raumes international bekannt, als er die moderne Stadt als »non-lieu« (Augé 1992) charakterisierte, da das Anonyme, die Kälte, der Konsum und die Funktionalität der Stadt den Raum entleeren. Keine Erinnerung ist an diese Orte gebunden – eine These, welche für spätmoderne urbane Räume die Utopie des lieu de mémoire, wie sie der Historiker Pierre Nora bekannt machte, zu Ende führt. Sie sind Orte ohne Solidarität, ohne Begegnung oder Verflechtung kreativer Erfahrungen,

34 Vgl. Postman 2000, Hörl 2011. 35 Dies ist unter anderem bei Edmond Barrès und Jean Giono der Fall.

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ohne gemeinsame Interessen, ohne Sozialisation. Gemeint sind jene Orte, die den heutigen Städten das Gesicht geben: Malls, Autobahnen, Flughäfen, Parkhäuser etc. In Anbetracht dieser sinnleeren Stadttopografie schreibt Augé ein Loblied auf die bicyclette, die für ihn zum Hoffnungsträger für die Entwicklung hochmoderner städtischer Räume wird, mit denen sich der Mensch versöhnen kann. Das Fahrrad besitzt die Fähigkeit, die Erfahrung dieser Orte zu revitalisieren und der Invasion der Nicht-Orte zu entgegnen. La bicyclette ist zum Hoffnungsträger geworden und sie konnte die Städte erobern, seit Paris das System Vélib im Jahre 2007 eingeführt hat. Der simple Fakt zu radeln, öffnet unerhörte Perspektiven auf die Stadt, die sich »à grands coups de pédale« (Augé 2008: 53) radikal verändert und, so Marc Augé, hoffentlich re-ökologisiert werden kann: »Alors, oui, peut-être la bicyclette a-t-elle un rôle déterminant à jouer pour aider les humains à reprendre conscience d’eux-mêmes et des lieux où ils vivent en inversant, pour ce qui les concerne, le mouvement qui projette les villes hors d’elles-mêmes.« (Augé 2008: 52) Das Fahrrad ist somit mehr als nur eine Funktion; es ist eine Erfahrungsweise des eigenen Ichs: »Je pédale, donc je suis« (ebd.: 86)36 – (»Ich radle, also bin ich«), sagt Augé in Anlehnung an Descartes’ bekannte Formel. Aber auch Erinnerungen werden revitalisiert, etwa an die Kindheit. Aus diesen Gründen verbindet sich mit dem Radfahren auch eine konkrete Erfahrung von Zeitlichkeit: Man spürt die unterschiedlichen Altersstufen bis hin zu heterogenen Mischungen von Zeiten. Denn Verlangsamung bedeutet für das technische Objekt bicyclette nicht das Gegenteil von Beschleunigung. Beides geht beim Radfahren eine Verbindung ein. Ähnliches gilt für den Raum. Radfahren macht den Raum flüssig, Grenzen werden überschritten, Orte verbunden, Touren geplant, die mit keinem anderen Transportmedium möglich sind. So wird der Raum zu einer Geopoetik, die uns neue Räumlichkeiten sinnlich erfahren lässt und ungeahnte Routen entwirft. Hier spielen die eigene Intuition und das sinnliche Körpervermögen eine zuweilen subversive Rolle. Zusammenfassend gilt es zu betonen: La bicyclette, diese archaische Maschine mitten in einer Hightech-Umwelt, dekonstruiert jede Interpretation der Geschichte der Technik als Fortschritt. Sie widerlegt auch das Prinzip der Irreversibilität der Geschichte. Wenn der Unterschied zwischen Technik und Kultur generell darin 36 »Le rêve du cycliste, c’est de s’identifier sur terre au poisson dans l’eau ou à l’oiseau dans le ciel, même s’il lui faut bien se mesurer aux contraintes de l’espace. Car le mérite du cyclisme, au contraire de cette trop séduisante illusion, c’est justement de nous imposer une conscience plus aigüe de l’espace, et aussi du temps.« (Augé 2008: 84) Aus der geschärften Erfahrung des Raumes ergibt sich, so Augé, auch ein existenzielles Bewusstsein: »la pratique cycliste est une épreuve existentielle fondamentale qui réassure ceux qui s’y livrent dans leur conscience identitaire: je pédale, donc je suis.« (Ebd.: 86)

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gesehen wird, dass die Technik irreversibel ist, die Kultur dagegen immer wieder neue Renaissancen feiert, so ist die heutige Reversibilität oder Renaissance des Fahrrades keineswegs ein Beweis dafür, dass es sich um einen fait de culture handelt. Vielmehr steht sie für die Realisierung der ursprünglichen Bedeutung von Technik als Techné (τέχνη), als art de faire, als Kunst des Herstellens, craftmanship.37 In dieser weichen Technik verflechten sich alt und neu, archaisch und fortschrittlich: cycler, c’est recycler.38 Hiermit verbindet sich eine ästhetische Einsicht in die Tatsache, dass der Konflikt von Ursprung und Authentizität, oder archaisch und fortschrittlich, eine heute überwundene Fiktion ist. Nichts anderes betont Serres zum Abschluss seines kurzen Vorwortes: »Passant de l'ère primaire au quaternaire, réellement moderne, le vélo devance de millions d’années les autres véhicules, inimaginablement archaïques. On s’étonne en général que, quelques années après le vélo, des inventions ›mirifiques‹ comme l’automobile soient apparues. Détrompons-nous! Le vélo émergea de fait des centaines de millions d’années après l’automobile. Lui mammifère, elle insecte ou crustacé...« (Serres 2009: 9)

Dies ist auch die ethisch-politische Lehre der sanften Technik des vélo, einer politique cyclable, von der mit Bezug auf die französischen Stadtverwaltungen zu Beginn die Rede war. Die Zeitlichkeit des Fahrrades erlaubt es, zwischen unterschiedlichen, konfliktuellen Geschwindigkeiten zu verhandeln. So verhindert le vélo, dass man sich in der vélo-cité verliert. Im Zeitalter der Geschwindigkeitstechnik und der Macht einer globalen Ökonomie ist aller en vélo die sinnliche Demonstration der Unsinnigkeit, die Technik auf Funktionalität zu reduzieren. Wir müssen endlich einsehen, dass wir auch mit technischen Objekten in einer vitalen Relation stehen und stehen müssen.

LITERATUR Allaires, Julien (2007): »Histoire moderne de la petite reine dans l’empire du Milieu«, in: Transports 52, 442, S. 77-86. Augé, Marc (1986): Un ethnologue dans le métro, Paris: Seuil.

37 Zu »Un drôle d’objet technique« vgl. Catherine Bertho-Lavenir 1998. 38 Dieses Wortspiel deutet auf die im Französischen bestehende phonetische Nähe von Lebenszyklus, Fahrrad und Wiederverwertung, es soll ein Bild für das symbiotische und ganzheitliche Moment des Fahrrades sein.

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Wer weiß am meisten über das Radfahren? – Eine Unterscheidung verschiedener Formen des Wissens Gottfried Vosgerau und Eva-Maria Jung

Bei der Tour de France geschieht etwas, das man auch bei vielen anderen großen Sportereignissen beobachten kann: Sowohl am Straßenrand als auch hinter den Bildschirmen gibt es plötzlich eine Vielzahl von (zumeist selbst ernannten) Experten, die wild darüber spekulieren, warum das Rennen gerade diesen Verlauf genommen hat, warum das favorisierte Team hinter den Erwartungen zurückblieb und welche Rolle dabei der Trainerstab spielte. So brüsten sich nicht nur Reporter, sondern auch Zuschauer mit einer Menge an Wissen über die Tour de France und den Radsport als solchen. Doch was kann man überhaupt über den Radsport wissen? Und wer weiß am meisten über das Radfahren? Der große Fan, der alle wichtigen Rennen live verfolgt? Oder der Radprofi selbst, der die Rennen fährt? Oder vielleicht der Trainer des Profis, der ihm Anweisungen gibt und sich Strategien überlegt? In diesem Beitrag möchten wir am Beispiel des Radfahrens eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen des Wissens vornehmen, die es uns erlaubt, einen differenzierten Blick auf die unterschiedlichen Kompetenzen zu werfen, die im Radsport gefragt sind. Ausgehend von der klassischen Definition von Wissen werden wir die weit verbreitete Überzeugung, dass Wissen nur in Form von Aussagesätzen vorliegt, problematisieren und andere Formen des Wissens vorstellen. Diese Formen beziehen sich darauf, wie es sich anfühlt, etwas Bestimmtes zu tun. Besonders interessant wird diese Unterscheidung, wenn es darum geht, wie Wissen vermittelt werden kann und was man können muss, um ein guter Trainer zu sein. Doch beginnen wir mit der klassischen Definition, die bereits auf Platon zurückgeht.

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DIE KLASSISCHE DEFINITION VON WISSEN Die klassische Definition von Wissen, die bereits in Platons Dialog Theätet diskutiert wird, setzt Wissen mit wahren, gerechtfertigten Überzeugungen gleich (vgl. Platon 2008). Gehen wir die drei Bestandteile dieser Wissensdefinition im Einzelnen durch: Erstens ist Wissen immer wahr (Wahrheitsbedingung). Dies bedeutet keineswegs, dass wir Menschen als Erkenntnissubjekte unfehlbar sind. Vieles, von dem wir glauben, es zu wissen, ist falsch; und in diesen Fällen wird der philosophische Begriff des Wissens schlicht nicht verwendet – wenn etwas falsch ist, dann kann man es nicht wissen. Oder anders ausgedrückt: Wenn jemand behauptet, er wisse, dass Timbuktu die Hauptstadt von Mali ist, dann kann man nicht antworten »Da weißt du etwas Falsches«, sondern nur »Das weißt Du nicht. Du täuschst Dich, da es nicht wahr ist.« Die Wahrheitsbedingung drückt folglich die Forderung aus, dass sich unser Wissen auf wahre Begebenheiten beziehen muss. Diese einfache Beschreibung reicht an dieser Stelle aus. Die Fragen, was unter Wahrheit aus metaphysischer Perspektive zu verstehen ist und an welches Weltbild die verschiedenen philosophischen Positionen über Wahrheit geknüpft sind, sollen in diesem Beitrag nicht vertieft werden, da sie für unsere Fragestellung von nachgeordneter Bedeutung sind. Zweitens muss Wissen gerechtfertigt sein (Rechtfertigungsbedingung). Diese Bedingung ist deswegen wichtig, weil Fälle, in denen man durch bloßes Raten oder durch Zufall richtig liegt, aus dem Bereich des Wissens ausgeschlossen werden sollen. Wir müssen – so lautet die Forderung – zusätzlich auch noch irgendeinen Grund haben, das, wovon wir überzeugt sind, für wahr zu halten. Und dieser Grund muss ein guter Grund sein, das heißt, er muss in einer bestimmten Beziehung zu dem stehen, was wir (vermeintlich) wissen. So kann ich zum Beispiel nicht wissen, dass zehn und elf zu den nächsten Lottozahlen gehören, da mein Blick auf die Uhr, die 10:11 Uhr anzeigt, keine Rechtfertigung dafür darstellt, zu glauben, dass zehn und elf bei der nächsten Ziehung dabei sein werden (in diesem Fall gibt es überhaupt keine Rechtfertigung, weshalb niemand wissen kann, welche Lottozahlen als nächstes gezogen werden). Der Blick auf die Uhr ist aber sehr wohl eine Rechtfertigung dafür, dass ich weiß, wie spät es ist (bzw. meine Überzeugung, dass die Uhr 10:11 Uhr anzeigt). Wenn ich in einer Quizshow eine Frage zur mittelalterlichen Geschichte gestellt bekomme und überhaupt keine Ahnung von dieser historischen Epoche habe, aber von den vorgegebenen Antwortmöglichkeiten A, B und C die erste auswähle und zufällig richtig liege, spricht man mir in der Regel auch kein Wissen zu. In diesem Fall gibt es zwar, anders als im Lotto-Beispiel, wirklich etwas zu wissen, ich selbst kann aber keinen vernünftigen

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Grund für meine Antwortmöglichkeit benennen – dass mir beispielsweise der Buchstabe A besser gefällt als die Buchstaben B oder C, kann hier als Rechtfertigung nicht anerkannt werden, weil es meine Meinungen nicht ausreichend fundiert. Wie unsere Überzeugungen genau gerechtfertigt werden, wird in der Erkenntnistheorie sehr intensiv und kontrovers diskutiert. Aber auch diese Diskussionen können wir in unserem Beitrag getrost ausblenden. Wir werden bei unseren folgenden Überlegungen vor allem die dritte Bedingung, die sogenannte Überzeugungsbedingung, in den Mittelpunkt stellen, wonach Wissen immer Überzeugungen involviert. Was sind Überzeugungen? Wenn wir von etwas überzeugt sind, dann halten wir es für wahr. Anders als Wissen impliziert aber das von-etwas-überzeugt-Sein nicht die Wahrheit: Wir können uns irren und von etwas überzeugt sein, das nicht so ist, wie wir denken. Man kann also in erster Annäherung sagen, dass eine Überzeugung ein Gedanke ist, den der Denker für wahr hält. Gedanken, so zumindest die herkömmliche Sichtweise, sind propositionale Einstellungen. Mit anderen Worten: Gedanken zeichnen sich dadurch aus, dass sie einen bestimmten Gehalt haben, der sich durch einen dassSatz ausdrücken lässt.1 Hinter dem Fachbegriff der propositionalen Einstellung verbirgt sich die Vorstellung, dass wir uns zu einem solchen Gehalt ganz unterschiedlich verhalten können: Wir können ihn nicht nur für wahr halten, sondern ihn auch infrage stellen, ihn uns herbeiwünschen, ihn fürchten usw. Wenn wir das jeweils in Sätzen ausdrücken, so verwenden wir dabei im Deutschen in der Regel dass-Sätze: »Ich bin davon überzeugt, dass die Sonne scheint«, »Ich bezweifle, dass die Sonne scheint«, »Ich wünsche mir, dass die Sonne scheint«, »Ich fürchte, dass die Sonne scheint« usw. Der im dass-Satz ausgedrückte Gehalt ist also das, was unabhängig von unserer Einstellung zu dem Gehalt gleich ist an diesen Sätzen. Dieser Gehalt wird Proposition genannt. Man geht in der Philosophie also davon aus, dass wir unterschiedliche Einstellungen zu einer Proposition, zum Beispiel zu der, dass die Sonne scheint, einnehmen können. Von etwas überzeugt zu sein ist eine solche propositionale Einstellung, die darin besteht, dass wir die Proposition für wahr halten. Die klassische Analyse von Wissen behauptet also, dass es immer, wenn wir etwas wissen, eine wahre Proposition gibt, von der wir überzeugt sind. Außerdem müssen wir hin-

1

In der Philosophie und Psychologie wird über die Frage, was Gedanken sind, durchaus kontrovers diskutiert (vgl. Vosgerau/Synofzik 2010), aber für den Kontext dieses Beitrags ist die für die klassische Debatte um den Wissensbegriff einschlägige Auffassung ausreichend.

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sichtlich unserer Überzeugung gerechtfertigt sein, das heißt, wir müssen vernünftige Gründe dafür angeben können, warum wir die Proposition für wahr erachten. Wir werden nun diese klassische Definition von Wissen auf den Radsport anwenden und prüfen, welche Antworten wir auf der Grundlage dieser Definition auf unsere Ausgangsfrage »Wer weiß am meisten über das Radfahren?« entwickeln können.

PROPOSITIONALES WISSEN IM RADSPORT All das Wissen, welches sich in Form von dass-Sätzen über das Fahrradfahren ausdrücken lässt, können wir als propositionales Wissen bezeichnen. Diese Form des Wissens ist die Standardform in der Erkenntnistheorie, und sowohl Fahrradprofis, Reporter, Trainer als auch die interessierten Laien am Zuschauerrand verfügen über einiges an Wissen von dieser Art. Im Hinblick auf die Tour de France kann man alle möglichen Fakten über das Fahrradrennen und seine Geschichte wissen, etwa seit wann die Tour stattfindet, welche Trikotfarben nach welchen Regeln ausgelobt werden, welcher Fahrer in der Geschichte der Tour bisher am längsten das Gelbe oder Grüne Trikot getragen hat, wie lange die längste je bestrittene Etappe war, bei welchen Fahrern im Nachhinein Doping nachgewiesen werden konnte oder wie oft die Tour die France durch Nordrhein-Westfalen führte. Das Faktenwissen kann aber auch den Bewegungsablauf des Fahrradfahrens selbst betreffen. So könnte etwa ein Sportreporter behaupten: »Wussten Sie schon, dass der aktuelle Träger des Gelben Trikots durch das stundenlange Fahren im Windschatten der Spitzengruppe sehr viel Zeit einsparen und die höchste Durchschnittsgeschwindigkeit bei dieser Etappe erreichen konnte?« Oder ein Sportarzt könnte uns darüber informieren, dass beim Radfahren besonders die Schenkelstreckmuskeln und die Gesäßmuskeln beansprucht werden. Und schließlich könnte uns ein Physiker erklären, dass die Seitenführungskräfte beim Radfahren mit wachsender Geschwindigkeit größer werden. Alle diese Beispiele legen offen, dass es beim propositionalen Wissen um eine weitestgehend objektive Beschreibung von Sachverhalten geht. Wir können immer ein »Es ist so, dass ...« davor schreiben und damit ausdrücken, dass das, was folgt, eine Tatsache ist, die unabhängig davon besteht, ob wir sie kennen oder ob sie uns interessiert. Darüber hinaus handelt es sich um die Art von Wissen, die wir in Büchern nachlesen und auswendig lernen können. Es gibt durchaus komplizierte Sachverhalte, für deren Erklärung wir mehr als einen Satz benötigen. Entscheidend ist aber, dass sich propositionales Wissen prinzipiell in Sprache ausdrücken lässt und dadurch intersubjektiv geteilt werden kann.

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Aber wie weit reicht dieses propositionale Wissen über das Radfahren? Sicherlich verfügen alle Beteiligten über solches Wissen – Fahrer und Trainer vermutlich über mehr als Fans –, denn um ein Rennen wie die Tour de France erfolgreich bestreiten oder mit Genuss verfolgen zu können, müssen mindestens alle wichtigen Regeln und Zeichen bekannt sein. Und sicher ist es auch sinnvoll, einiges an propositionalem Wissen über mögliche Strategien und Taktiken zu haben, um während des Rennens klug eine Taktik wählen und erfolgreich mit den Teamkollegen zusammenarbeiten zu können. Für die körperliche Tätigkeit des Radfahrens selbst hilft diese Art des Wissens jedoch nicht sehr viel. Wir können uns leicht vorstellen, dass jemand alle Bücher über die Physik und Physiologie des Radfahrens studiert und auswendig gelernt hat und trotzdem keinen Meter auf einem Fahrrad fahren kann. Auch ist es nicht notwendig, dass ein Radprofi all diese Bücher liest – die Seitenführungskräfte werden sein Fahrrad aufrecht halten, egal, ob er die Formel dafür gelernt hat oder nicht. »We can know more than we can tell« (Polanyi 2009: 4) – mit diesem Satz drückte der ungarisch-britische Chemiker und Philosoph Michael Polanyi aus, dass wir über viel Wissen verfügen, welches sich nicht durch Aussagesätze erfassen lässt, weil es an die subjektive Perspektive seiner Träger gebunden ist. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass wir nicht alle Aspekte dessen erfassen, was man über den Radsport wissen kann, wenn wir uns auf propositionales Wissen als Wissensform konzentrieren. Der Radprofi weiß noch viel mehr als das, was man in Form von Aussagesätzen formulieren kann. Und gerade dieses Wissen, welches auf seinen persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen beruht, ist nicht nur für die Ausübung des Sports essenziell wichtig, es macht auch einen Teil der Faszination aus, die der Radsport ausübt: Wenn es nicht so wäre, dann wäre es vermutlich ähnlich spannend, ein Physikbuch übers Radfahren zu lesen wie ein Radrennen selbst live zu verfolgen.

PHÄNOMENALES WISSEN Doch was genau kennzeichnet ein Wissen, welches sich nicht durch Sprache ausdrücken lässt? Was können wir über Formen des Wissens aussagen, welche nicht der bisher diskutierten Form des propositionalen Wissens entsprechen? Stellen wir uns vor, wir hätten die Möglichkeit, ein exklusives Interview mit dem letzten Tour de France-Sieger Christopher Froome zu führen: Was würden wir ihn fragen? Wohl kaum, wie die Formel für die Seitenführungskräfte lautet oder welche Muskeln beim Bergauffahren bei ihm in welcher Reihenfolge aktiv sind.

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Vielmehr würden wir einen Radprofi danach fragen, was er empfindet, wenn er beim Sprint nur Zweiter geworden ist oder wenn er eine Bergetappe gewonnen hat. Wir könnten auch versuchen, mehr darüber zu erfahren, wie sich das Fahren selbst subjektiv darstellt. Wie es sich zum Beispiel anfühlt, das Mannschaftszeitfahren oder die schwierigste Bergetappe der Tour zu bestreiten oder wie es ist, eine Etappe unter besonderen Umständen zu fahren, etwa mit einer leichten Knieverletzung, bei extrem schwierigen Witterungsverhältnissen oder unter sehr großem Erwartungsdruck. All diese Fragen verlangen keine möglichst objektiven Beschreibungen von Sachverhalten als Antworten, die unabhängig von den Erfahrungen und Erlebnissen der Radsportler entstehen. Sie zielen vielmehr auf ihre subjektiven Empfindungen ab. Diese subjektiven Empfindungen können durchaus objektive Sachverhalte zum Gegenstand haben. So gibt es mit Sicherheit auch Objektives über die Physik des Bergauffahrens zu sagen. Trotzdem wird die Antwort auf die Frage, wie es sich anfühlt, eine Bergetappe zu fahren, durch keine Beschreibung solcher objektiven Sachverhalte geleistet.2 Dass hier etwas anderes als propositionales Wissen vorliegt, deutet auch unser Sprachgebrauch an. Man kann nicht sagen »Es fühlt sich so an, dass ...«, sondern es heißt »Es fühlt sich so an wie ...«. Dazu kommt, dass diese subjektiven Erlebnisse ohnehin oft schwer in Worte zu fassen sind, so dass man häufig Sätze zu hören bekommt wie »Es fühlt sich einfach ganz unbeschreiblich an«. Zumindest ein Teil der Schwierigkeit, diese Erlebnisse in Worte zu fassen, kommt daher, dass es sich um subjektive Zustände handelt, also um solche, die dem Erlebnissubjekt auf eine Weise zugänglich sind, die anderen verwehrt ist. Meine Erlebnisse habe eben nur ich, und niemand anders kann sie (so wie ich) haben. Sie stellen Arten und Weisen dar, wie mir die Welt erscheint, wie ich die Welt erlebe und mit meiner Umwelt interagiere. Der Gehalt dieser Erlebnisse betrifft also nicht (direkt) objektive Sachverhalte, sondern die subjektive Art und Weise, wie sie mir erscheinen. Das altgriechische Wort für »Erscheinung« ist

2

Ein besonders eindrückliches Beispiel verdanken wir dem Herausgeber dieses Bandes: Jan Ullrich könnte hierzu sicherlich viel sagen, nachdem ihn 1997 als Gesamtführender der Tour de France während einer Bergetappe in den Vogesen die Kräfte verließen und ihn seine »Zugmaschine«, Udo Bölts, mit dem inzwischen legendären Ruf anfeuerte: »Quäl Dich, Du Sau!« Ullrich konnte sein Gelbes Trikot verteidigen und gewann die Tour.

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phainomenon, woraus sich auch das Wort »Phänomen« ableitet. In der Philosophie des Geistes werden diese Arten von Gehalten daher auch meist phänomenale Gehalte3 genannt. Der für uns entscheidende Punkt ist nun die Frage, ob phänomenale Gehalte gewusst werden können. Wenn wir von dem im letzten Absatz beschriebenen klassischen Bild des Wissens als propositionales Wissen ausgehen, würde eine positive Antwort auf diese Frage voraussetzen, dass auch phänomenale Gehalte in einem propositionalen Format vorliegen, also als Überzeugungen, und damit als Gedanken, die für wahr gehalten werden können. Einen ersten Hinweis darauf, dass es hier Probleme geben könnte, haben wir bereits durch den Sprachgebrauch erhalten, der es verbietet, phänomenale Gehalte in dass-Sätzen auszudrücken. Darüber hinaus beziehen sich phänomenale Gehalte – im Gegensatz zu Überzeugungen – gerade nicht auf objektive Tatsachen, die unabhängig von unserem Erleben bestehen. Diese Hinweise deuten bereits darauf hin, dass phänomenale Gehalte anders strukturiert sind als Propositionen. Durch Propositionen wird einem Objekt eine bestimmte Eigenschaft zugeschrieben, so wie etwa durch die Proposition, dass der Träger des Grünen Trikots in der Sprintwertung auf Platz eins steht. Hier wird dem Träger des Grünen Trikots die Eigenschaft zugeschrieben, in der Sprintwertung auf Platz eins zu stehen. Damit das möglich wird, muss die Proposition eine Struktur aufweisen, die zwischen dem Objekt und der zugeschriebenen Eigenschaft unterscheiden kann. Das bedeutet, dass eine Proposition mindestens zwei Bestandteile enthalten muss: etwas, das für das Objekt steht, um das es geht, und etwas, das für die Eigenschaft steht, das dem Objekt attestiert wird. Der zweite Bestandteil, der die Eigenschaft ausdrückt, wird häufig »Begriff« genannt – so beinhaltet die Beispielproposition den Begriff, auf dem ersten Platz der Sprintwertung zu stehen. In der Proposition, dass der Ball rot ist, ist hingegen der Begriff, rot zu sein, enthalten.4 Vor diesem Hintergrund kann man eine Proposition ausschließlich dann sinnvoll erfassen (also denken), wenn man über die involvierten Begriffe verfügt.

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Das phänomenale Erleben und die phänomenalen Gehalte nehmen auch eine zentrale Rolle ein, wenn es um den menschlichen Geist geht. Wir werden uns in diesem Beitrag auf die Frage beschränken, wie solche Gehalte zum Begriff des Wissens stehen. Zur Debatte darum, welche Rolle diese Gehalte für unseren menschlichen Geist im Allgemeinen spielen, siehe zum Beispiel Pauen 2016.

4

Es gibt in der Philosophie eine große Debatte nicht nur über den Status und die Natur von Propositionen, sondern auch über die Rolle von Begriffen. Eine kurze Darstellung der Rolle von Begriffen findet sich zum Beispiel in Vosgerau 2011.

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Wenn ich also den (komplexen) Begriff des auf-Platz-eins-in-der-SprintwertungStehens nicht gelernt habe (etwa, weil ich gar nicht weiß, was ein Sprint ist), dann kann ich auch die Beispielproposition von oben nicht sinnvoll erfassen und insbesondere auch keine entsprechende Überzeugung haben. Anders verhält es sich aber mit den subjektiven phänomenalen Gehalten. Um zum Beispiel Hunger zu erleben, muss ich nicht zunächst erlernen, was Hunger ist. Ich benötige keinen Begriff von Hunger. Ebenso muss ich nicht erst einen Grundkurs in Sportverletzungen absolvieren, bevor mir der Muskelfaserriss im Oberschenkel wehtun kann. Natürlich kann ich, wenn ich nicht über den Begriff des Muskelfaserrisses verfüge, auch nicht zu der Überzeugung gelangen, dass der Schmerz von einem Muskelfaserriss herrührt; aber der entscheidende Punkt ist: Ich kann trotzdem den Muskelfaserriss erleben, sogar als äußerst schmerzhaft. Phänomenaler Gehalt erfordert also nicht, dass ich bestimmte Objekte und Eigenschaften getrennt voneinander repräsentiere – der Gehalt kann auch ohne eine bestimmte Struktur und ohne begriffliche Bestimmungen vorliegen. Es handelt sich also um nicht-propositionale Gehalte, die auf dem Erfassen der eigenen Zustände und dem Erleben selbst basieren. Das Wissen über die eigenen Zustände, das auf dieser Grundlage (also der Grundlage der sogenannten Introspektion) entsteht, wird häufig als Selbstwissen bezeichnet. Im Hinblick auf die Frage nach unterschiedlichen Formen des Wissens ist es wichtig, dass das, was im Fall von Selbstwissen introspektiv erfasst wird, prinzipiell auch anders erfasst werden kann. Der entsprechende Gehalt kann also durchaus auch in einem propositionalen Format vorliegen. Dass ein Radfahrer Schmerzen im Oberschenkel hat, kann er selbst erleben. Wir schreiben ihm in diesem Fall also ein nicht-propositionales, phänomenales Selbstwissen zu. Gleichzeitig kann der Reporter dem Radfahrer unter Umständen auch ansehen, dass er Schmerzen im Oberschenkel hat (zum Beispiel am schmerzverzerrten Gesicht oder an pendelnden Bewegungen des Oberkörpers). Der Reporter erlebt allerdings den Schmerz nicht. Er ist vielmehr aufgrund seiner Wahrnehmung zu der Überzeugung gekommen, dass dieser Radfahrer Schmerzen im Oberschenkel hat. Wir können dem Reporter folglich propositionales Wissen über den Zustand des Radfahrers, den der Radfahrer selbst aber auf eine andere, nämlich phänomenale Art und Weise erfassen kann, zuschreiben. Tatsächlich gibt es eine Debatte darüber, ob Selbstwissen im oben eingeführten Sinn überhaupt echtes Wissen darstellen kann. Dabei geht es nicht nur um einen Streit über die klassische Definition, nach der über die Überzeugungsbedingung solches phänomenales Wissen bereits ausgeschlossen wird. Sondern es geht auch um die Frage, ob etwas, was in jedem Fall wahr und daher auch nicht korri-

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gierbar ist, den Status von Wissen haben kann. Im Hinblick auf das oben angeführte Beispiel ist es wichtig zu sehen, dass sich der Reporter über den Zustand des Radfahrers täuschen kann – etwa dann, wenn dieser die Schmerzen durch das Verziehen seines Gesichts und das Krümmen seines Körpers nur vortäuscht. Im Fall des Selbstwissens gehen wir in der Regel jedoch nicht von einer solchen Irrtumsmöglichkeit aus. Ein Bild von Wittgenstein illustriert das zugrunde liegende Problem sehr schön: »Denke dir Einen, der sagte: ›Ich weiß doch, wie hoch ich bin!‹ und dabei die Hand als Zeichen auf seinen Scheitel legt!« (Wittgenstein 1960, § 279) Das Problem ist nicht, dass das Anzeigen der eigenen Höhe mit der Hand auf dem Scheitel falsch wäre. Das Problem ist, dass es sozusagen im falschen Format vorliegt. Zu wissen, wie groß man ist, besteht eben darin, die Größe auf eine Art und Weise angeben zu können, die Vergleiche zulässt. Es muss nicht unbedingt eine Angabe in Zentimetern sein, auch eine Angabe wie »doppelt so groß wie dein Fahrrad« käme hier in Frage. Entscheidend ist, dass die eigene Größe irgendwie als eine Eigenschaft repräsentiert werden muss, also begrifflich eingeordnet werden muss, und das geschieht durch eine hinweisende Geste gerade nicht, denn diese setzt die eigene Größe nicht in Relation zu anderen Begebenheiten in der Welt. Und daher können wir auch nicht sagen, dass die Person in Wittgensteins Beispiel weiß, wie groß sie ist. In demselben Sinn können wir bestreiten, dass ich weiß, dass ich Schmerzen im Oberschenkel habe, wenn ich diese Schmerzen nur erlebe, aber keine propositionale Überzeugung dazu ausbilde. Die zu dieser engen Verwendungsweise von »wissen« gegenläufige Intuition besagt, dass wir etwas lernen, wenn wir neuartige Erlebnisse haben. Wenn ich das erste Mal in meinem Leben auf einem Rennrad gefahren bin, dann habe ich etwas dazugelernt, und daher weiß ich dann mehr als vorher. Ich weiß nämlich, wie es sich anfühlt, auf einem Rennrad zu sitzen. Und genau dieses Wissen ist es, das der Radprofi hat, der Kommentator aber nicht unbedingt. Der Radprofi weiß, wie es sich anfühlt, bei der Tour de France mitzufahren, der Kommentator muss das nicht wissen. Hierbei handelt es sich um eine Art von Wissen, die keine propositionalen Gehalte betrifft (also kein Wissen-dass darstellt), sondern phänomenale Gehalte (Wissen-wie). Da es uns in diesem Beitrag nicht so sehr darum geht, wie das Wort »wissen« am geschicktesten definiert wird, sondern um die verschiedenen Aspekte, für die man sich im Hinblick auf den Radsport interessieren kann, werden wir das Wort »wissen« in diesem weiten Sinn verwenden, der auch phänomenales Wissen mit einschließt.

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KÖNNEN Neben dem propositionalen und dem phänomenalen Wissen über das Fahrradfahren gibt es noch eine weitere kognitive Dimension: das praktische Können. 5 In einer ersten Annäherung lässt es sich folgendermaßen bestimmen: Ich kann dann Fahrrad fahren, wenn ich die dafür benötigten Bewegungsabläufe erfolgreich und zuverlässig ausführe. Es handelt sich hier also um eine praktische Fertigkeit. Eine solche Fertigkeit lässt sich nicht auf propositionales Wissen reduzieren. Bereits im letzten Abschnitt haben wir diesen Umstand anhand eines Beispiels verdeutlicht. Wir können uns eine Person vorstellen, die alles, was man über die Physik und die Physiologie des Radfahrens wissen kann, studiert und auswendig gelernt hat, und die dennoch nicht Radfahren kann. Dass die Lücke zwischen theoretischem Wissen und Praxis nicht so leicht zu überbrücken ist, gilt insbesondere für solch hochkomplexe motorische Fähigkeiten wie das Fahrradfahren. Einer Person, welche behauptet, sie beherrsche solche Fertigkeiten ohne jegliche Erfahrung, würden wir völlig zurecht keinen Glauben schenken. Wir lernen solche Fertigkeiten nicht auf theoretischem Wege, sondern nur durch praktische Erfahrung. Daraus ergibt sich, dass wir in der Regel über phänomenales Wissen verfügen müssen. Wir müssen schlicht wissen, wie es sich anfühlt, auf einem Fahrrad gesessen, in die Pedale getreten oder das Gleichgewicht gehalten zu haben. Praktisches Können ist also eng an phänomenales Wissen gebunden. Und dennoch impliziert auch phänomenales Wissen, sei es auch noch so umfangreich, kein entsprechendes praktisches Können. Es ist beispielsweise möglich, dass ich zwar weiß, wie es sich anfühlt, das Gleichgewicht auf dem Fahrrad zu halten. Mir ist dies aber mehr oder weniger durch Zufall schon einmal gelungen. Trotzdem kann ich das Gleichgewicht nicht zuverlässig halten. In diesem Fall spricht man mir in der Regel kein praktisches Können zu.

5

In der Philosophie gibt es eine Debatte darüber, wie sich das Wissen, dass etwas der Fall ist (»knowing-that«), zu dem Wissen, wie man eine Tätigkeit ausführt (»knowinghow«), verhält. Teilweise beruht diese Debatte auch auf Besonderheiten des Englischen, das auch für Fähigkeiten (Können) das Wort »to know« benutzt (»I know how to ride a bicycle«); siehe dazu Jung/Newen 2010. Gilbert Ryles (vgl. Ryles 1949) Unterscheidung von »knowing that« als propositionales Wissen und »knowing how« als Disposition, etwas zu tun, wurde in den letzten Jahrzehnten durch unterschiedliche Einwände zurückgewiesen (vgl. Stanley/Williamson 2001; Stanley 2011). Viele dieser Einwände können entkräftet werden, obgleich sich Ryles Unterscheidung als unvollständig erweist (vgl. Jung 2012).

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So kann man sagen, dass unsere eigenen Bewegungen und Handlungen sowie deren Wahrnehmung den Kern sowohl von praktischem Können als auch von phänomenalem Wissen bilden. Es gelten jedoch unterschiedliche Erfolgsbedingungen für beide Bereiche: Praktisches Können liegt dann vor, wenn wir zuverlässig bestimmte Bewegungsabläufe koordinieren und ausführen, für die bestimmte Kriterien gelten. Um diese Kriterien zu erfüllen, benötigen wir in der Regel ein hohes Maß an Erfahrung und Übung. Wenn nicht ein Mindestmaß dieser Kriterien erfüllt wird, dann schreiben wir in der Regel auch kein praktisches Können zu. Stürzt jemand alle zehn Meter, so würde niemand von ihm behaupten, er besäße die Fertigkeit des Radfahrens. Anders als beim phänomenalen Wissen gibt es beim praktischen Können also Irrtums- oder Fehlermöglichkeiten. Dennoch ist es nicht immer leicht zu entscheiden, wann ein praktisches Können vorliegt und wann nicht. Fällt jemand beispielsweise nur aus dem Grund alle zehn Meter vom Fahrrad, dass er dem Alkohol übermäßig zugesprochen hat und sein Gleichgewichtssinn gestört ist, so neigen wir dazu, ihm nicht deswegen seine Fertigkeit des Radfahrens abzusprechen. Auch wenn jemand einmal aus Unachtsamkeit stürzt, werden wir nicht sagen, dass er nicht Fahrrad fahren kann. Darüber hinaus ist es nicht einfach zu entscheiden, zu welchem Zeitpunkt man einem Kind, welches gerade das Radfahren erlernt, das praktische Können zuspricht. Die Stürze werden mit der Zeit immer seltener, es wird in seinen Bewegungen immer sicherer, fährt immer weniger Schlangenlinien. Wann genau der Zeitpunkt erreicht ist, zu dem praktisches Können vorliegt, ist nicht leicht zu bestimmen, sondern es scheint ein eher fließender Übergang beim Erlernen der Fähigkeit vorzuliegen. All die genannten Beispiele verdeutlichen, dass praktische Fertigkeiten von kontextuellen Bedingungen stark beeinflusst werden und dass sie einem graduellen Spektrum zuzuordnen sind. Ebendiese Eigenschaft praktischer Fertigkeiten ist aber für die Faszination von Radrennen entscheidend: Der Erfolg bei dem Rennen hängt von sehr vielen Faktoren ab. Einerseits betreffen diese die Radfahrer selbst, etwa ihren aktuellen Gesundheitszustand, ihre Kondition und ihren Trainingsstatus. Andererseits hängen diese auch mit externen Umständen wie den Wetterbedingungen, der Aufteilung von Führungs- und Verfolgerfeld, dem Zusammenspiel in den einzelnen Teams, der Beschaffenheit der Straße und Ähnlichem zusammen. Aufgrund all dieser Umstände ist es so schwierig vorauszusagen, wie ein Rennen ausgehen wird. Wir haben also gesehen, dass phänomenales Wissen und praktisches Können in einer engen Beziehung zueinander stehen: Praktische Erfahrung und das damit verbundene Wissen, wie sich etwas anfühlt, ist zumeist eine Voraussetzung dafür, dass wir praktische Fertigkeiten beherrschen, für die aber wiederum andere Erfolgskriterien gelten. Dennoch sind Fälle denkbar, in denen beide Dimensionen nicht zusammentreffen. Stellen wir uns vor, dass ein hochentwickelter Roboter

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alle meine Bewegungen beim Radfahren simuliert und sich auch sicher auf dem Fahrrad hält, ohne umzufallen. Dieser Roboter, so nehmen wir an, verfügt nicht über ein entsprechendes Wissen, wie sich das Radfahren anfühlt. Das Beispiel legt also nahe, dass es durchaus praktisches Können ohne entsprechendes phänomenales Wissen gibt. Und dennoch ist es fraglich, ob ein praktisches Können, welches nicht auf phänomenalen Gehalten basiert, als gleichwertig zu erachten ist. Zumindest für uns Menschen ist phänomenales Wissen ein Schlüssel zum Erlernen und Anwenden des praktischen Könnens, da es sowohl Grundlage als auch Korrektiv für Bewegungsabläufe ist. Manchmal spüre ich einfach, dass sich Bewegungsabläufe in irgendeiner Weise falsch anfühlen und ich die damit verbundenen Tätigkeiten nicht so ausführen kann, wie ich es möchte. In diesem Fall werde ich meine Bewegungen einfach variieren und versuchen, das richtige Gefühl herzustellen. Wenn ich aber keinen Zugang zu den phänomenalen Gehalten habe, so kann ich nicht beurteilen, was sich richtig und was sich falsch anfühlt. Praktische Fertigkeiten wären dann nicht mehr für die Lernprozesse zugänglich, die wir im alltäglichen Leben kennen. Es kann festgehalten werden, dass wir zwei Dimensionen von Wissen unterscheiden: Propositionales Wissen (Wissen, dass etwas der Fall ist) und phänomenales Wissen (Wissen, wie sich etwas anfühlt). Das erste stellt ein Wissen dar, das objektive Gegenstände betrifft und in einem propositionalen Format vorliegt. Wir können uns über ein solches Wissen leicht durch die Sprache austauschen und es ist insofern einer theoretischen Ebene zuzuordnen, als es in keinem unmittelbaren Zusammenhang zur Ausübung einer praktischen Tätigkeit steht. Auf unser Beispiel bezogen handelt es sich um ein theoretisches Wissen über eine praktische Fertigkeit (das Radfahren), welches sowohl die persönlichen Empfindungen, die Radsportler beim Fahren haben, als auch die kontextuellen Besonderheiten des praktischen Könnens ausblendet. Alles Wissen von diesem Typus, welches man über das Radfahren haben kann, reicht nicht dazu aus, auch Radfahren zu können. Im Gegensatz dazu stellt phänomenales Wissen ein subjektiv geprägtes Wissen dar, das in einem nicht-propositionalen Format vorliegt. Dieses Wissen ist eng an das praktische Können gebunden. Zum einen erlangen wir solches Wissen häufig, indem wir bestimmte Tätigkeiten ausüben und dadurch etwas Bestimmtes erleben. Zum anderen ist dieses Wissen, zumindest für uns Menschen, meist der Schlüssel zum Erlernen von praktischem Können – der Fähigkeit, bestimmte Bewegungsabläufe erfolgreich auszuführen.

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DAS PROBLEM DER VERMITTLUNG Sowohl propositionales als auch phänomenales Wissen sind äußerst wichtig, um die Eigenheiten des Fahrradfahrens und des Radsports zu verstehen. Ohne propositionales Wissen über die Regeln und die verschiedenen Strategien, die die Sportler bei den Rennen einsetzen, wird es schwer, das Renngeschehen nachzuvollziehen und zu bewerten. Und wenn wir keinen Eindruck von den Erlebnissen der Rennfahrer bekämen, die letztlich eine wichtige Grundlage für sein praktisches Können bilden, dürfte ein Rennen ebenso spannend sein wie ein Vortrag über das Radrennen. Wie aber können wir einen Eindruck von dem phänomenalen Wissen der Radprofis erhalten, wenn dieses sich gerade durch ein subjektives Moment auszeichnet? Hier wird das Problem der Vermittlung des phänomenalen Wissens deutlich. Dieses Problem stellt sich nicht nur für den Sportreporter, der uns vielleicht besonders eindrücklich von den Erlebnissen der Profis berichten möchte, sondern gerade auch für den Trainer. Im letzten Abschnitt haben wir gesehen, dass phänomenales Wissen eng mit dem praktischen Können verbunden ist und den Schlüssel für Lernprozesse darstellt. Wenn ich also eine Fähigkeit erwerben möchte, dann muss ich in der Regel auch das entsprechende phänomenale Wissen erwerben. Ich muss wissen, wie es sich anfühlt, eine bestimmte Tätigkeit erfolgreich auszuüben. Beispielsweise ist es im Radsport sehr wichtig, im richtigen Moment zu schalten. Um das zu können, muss ich einerseits wissen, wie es sich anfühlt, in einem niedrigen und einem höheren Gang zu fahren. Andererseits muss ich wissen, wann mein Gefühl anzeigt »Jetzt ist es Zeit, um höher zu schalten« oder »Jetzt ist es Zeit, einen niedrigeren Gang zu nehmen«. Es ist hier folglich ein Wissen, das an bewusstes Erleben geknüpft ist, welches mir angibt, wie ich mich richtig verhalten soll. Und gerade weil dieses phänomenale Wissen auf subjektiven Erlebnissen beruht, lässt es sich so schwer in Worte fassen. Es ist in der Tat eine eigene Kunst, subjektive Erlebnisse zu vermitteln. Dafür ist es nötig, diese Erlebnisse in irgendeiner Weise zu objektivieren, also Wege zu finden, auf denen man die Erlebnisinhalte auch anderen zugänglich machen kann. Dies kann auf unterschiedliche Art und Weise erfolgen. Zum Beispiel ist es möglich, die subjektiven Zustände so zu beschreiben, dass ein Vergleich mit Erlebnissen möglich ist, über die der Zuhörer bereits im Sinne von phänomenalem Wissen verfügt. Auf diese Weise kann zumindest eine Annäherung geschehen, die dem Zuhörer wenigstens eine vage Vorstellung davon gibt, wie es ist, in diesem Zustand zu sein. Wenn ich beispielsweise versuchen möchte, jemandem zu erklären, wie es sich anfühlt, Inlineskates zu fahren, so könnte ich ihm sagen, dass es sich

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ähnlich anfühlt wie Schlittschuhfahren oder Rollschuhfahren, weil ich weiß, dass mein Zuhörer die letzten beiden Sportarten bereits kennt. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, meine Zuhörer in die Lage zu bringen, in der sie selbst die entsprechende Erfahrung machen können. Wenn ich zum Beispiel einem Kind das Fahrradfahren beibringen möchte, dann kann es sehr sinnvoll sein, zunächst das Kind festzuhalten und mit ihm und dem Fahrrad eine kleine Strecke zu rennen, um das Kind dadurch möglichst in die Lage zu versetzen, zu fühlen, wie es ist, Fahrrad zu fahren. Ähnlich funktionieren auch technische Geräte zum Erlernen von praktischen Fertigkeiten, wie beispielsweise Flugsimulatoren. Diese Art der Vermittlung von phänomenalem Wissen stößt aber häufig an ihre Grenzen, insbesondere wenn es sich um Bewegungen handelt, die wir willkürlich nicht oder nicht besonders gut initiieren und kontrollieren können. In diesem Fall können Bilder bereitgestellt werden, die einem helfen, bestimmte Muskeln zu aktivieren, die man sonst gar nicht aktivieren könnte. So kann man sich beim Singen zum Beispiel vorstellen, eine heiße Kartoffel im Mund zu haben oder durch den Atem ein Türchen am Hinterkopf aufzustoßen. Diese Bilder helfen uns, bestimmte Bewegungen auszuführen oder bestimmte Körperzustände einzunehmen, die wir ohne solche Vorstellungen nur mühsam oder gar nicht einnehmen könnten (wenn uns statt der heißen Kartoffel etwa die objektive Anweisung gegeben wird, den Kehlkopf etwas tiefer zu nehmen). Gegenüber der Sprache haben Bilder als vermittelnde Glieder zwischen phänomenalem und propositionalem Wissen bedeutende Vorteile: Sie sind meistens anschaulicher und reichhaltiger als sprachliche Beschreibungen und bieten daher für den Lernenden mehr Anknüpfungspunkte an seine eigene Erlebnisperspektive. Vor diesem Hintergrund wird ersichtlich, dass die Kunst, anderen gezielt bestimmte Erlebnisinhalte zu vermitteln, voraussetzt, dass man selbst ein gutes Verständnis von diesen subjektiven, phänomenalen Gehalten hat. Vielleicht muss ein Trainer nicht unbedingt selbst auch ein Sportler sein (zumindest muss er kein Spitzensportler sein), um ein guter Trainer zu werden. Aber die grundlegenden Bewegungen, die bei dem entsprechenden Sport eine Rolle spielen, sollten doch beherrscht werden. Andernfalls scheint es kaum möglich, sinnvolle Anleitungen im Sinne der Vermittlung von phänomenalem Wissen zu geben. Aber nicht nur die Verknüpfung von phänomenalen Gehalten mit objektiv vermittelbaren Bildern ist nötig, sondern auch die Rückübersetzung von objektiv erfassbaren Zuständen, wie etwa der Körperhaltung, zum phänomenalen Erleben. So sieht ein guter Trainer dem Sportler nicht nur an, dass er zu aufrecht sitzt und die Arme durchdrückt, sondern er kann diese objektive Beschreibung verknüpfen mit einer Beschreibung des dazugehörigen subjektiven Erlebens, so dass er dem Sportler wiederum vermitteln kann, was genau er ändern muss, um diesen Zustand zu ändern.

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Die Verknüpfung der beiden Wissensformate, dem propositionalem Wissen und dem phänomenalen Wissen, ist also eine zentrale Fähigkeit, die ein guter Trainer beherrschen sollte. Er kann nicht nur vermitteln, wie es sich anfühlt, alles richtig zu machen, sondern er kann auch aus objektivem Wissen, beispielsweise über die Körpersprache des Sportlers, Rückschlüsse über dessen subjektives Empfinden ziehen. Diese Vermittlungsfähigkeit baut damit die Brücke zwischen einer propositionalen Beschreibung, die zwar leicht durch die Sprache vermittelt, aber nicht unmittelbar praktisch umgesetzt oder erlebt werden kann, und einer phänomenalen Beschreibung, die zwar nicht unmittelbar kommuniziert werden kann, dafür aber unabdingbar ist für unser praktisches Können.

FORMEN DES WISSENS: EIN ÜBERBLICK Die klassische Analyse des Wissens beschränkt sich auf propositionales Wissen. Diese Form des Wissens ist gut vermittelbar, da es leicht in Sprache gefasst werden kann. Es ist die Art von Wissen, die man in Büchern nachlesen und auswendig lernen kann. Ein Kommentator, der live von der Tour de France berichtet, braucht sehr viel von diesem propositionalen Wissen über das Radfahren, das er dann an geeigneter Stelle in seinen Bericht einstreuen kann, um dem Zuschauer zum Beispiel taktische Manöver zu erklären. Allerdings ist diese Art von Wissen nicht nötig für die Tätigkeit des Radfahrens. Selbst wenn jemand alle Bücher über Radsport gelesen hat, ist es möglich, dass sie oder er immer noch nicht die Tour de France gewinnt oder Fahrradfahren kann. Propositionales Wissen ist kein Erfolgsgarant in der praktischen Perspektive. Andererseits ist es möglich, dass jemand ohne besonderes propositionales Wissen die Tour de France gewinnt. Das propositionale Wissen stellt also nur einen Ausschnitt dessen dar, was man über den Radsport wissen kann. Und das bedeutet, dass die klassische Analyse unvollständig ist. Sie vergisst mindestens einen Aspekt, den man (zumindest nach der alltagssprachlichen Verwendung) auch wissen kann. Phänomenales Wissen beruht auf einer besonderen Quelle des Wissens: auf eigenen Erfahrungen und Erlebnissen. In diesem Sinne ist es subjektiv. Darüber hinaus liegt es in einem anderen, nicht-propositionalen Format vor, da man es besitzen kann, ohne vorher bestimmte Begriffe erlernt haben zu müssen. Dieses Wissen darüber, wie es ist, in einem bestimmten Zustand oder einer bestimmten Situation zu sein, ist wesentlich verbunden mit praktischen Fertigkeiten. Die Fähigkeit, auf einem Seil zu balancieren, beinhaltet das Wissen, wie es sich anfühlt, auf

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einem Seil zu gehen. Das phänomenale Wissen reicht zwar nicht aus für das Können, ist aber eine Voraussetzung dafür. Der Radprofi verfügt also (im Gegensatz zu manchen Kommentatoren) über ein besonders hohes Maß an phänomenalem Wissen. Er weiß, wie es sich anfühlt, ein Radrennen zu fahren, wie es ist, eine Bergetappe zu bestreiten, im optimalen Windschatten zu fahren usw. Allerdings ist dieses phänomenale Wissen des Profis nicht ohne Weiteres vermittelbar, da es an subjektives Erleben geknüpft ist und nicht in einem propositionalen Format vorliegt. Beide Formen des Wissens müssen miteinander verbunden werden, wenn eine Fähigkeit wie das Radfahren gelehrt werden soll. Es müssen subjektive Erlebnisse unter Begriffe gefasst und durch Sprache oder andere kommunikative Mittel ausgedrückt werden. Dies geschieht häufig, indem Bilder eingesetzt werden, die entweder ähnliche und bekannte Erlebnisse umschreiben oder die es ermöglichen, Zustände einzunehmen, die wiederum zum gewünschten Erlebnis führen. Ein guter Trainer schafft genau das: Die passenden Bilder und Methoden zu finden, um dem Sportler das richtige phänomenale Wissen zu vermitteln (und natürlich auch Methoden, die entsprechenden Fähigkeiten dann auch einzuüben). Darüber hinaus kann ein guter Trainer auch anhand von nicht-subjektiven Wissensquellen, wie zum Beispiel der Beobachtung der Körperhaltung des Sportlers, auf dessen phänomenales Erleben schließen. Auf dieser Grundlage kann er dann die weiteren Anweisungen und Tipps geben, die der Sportler aufgrund seines phänomenalen Wissens umsetzen kann.

LITERATUR Jung, Eva-Maria/Newen, Albert (2010): »Knowledge and abilities: The need for a new understanding of knowing-how«, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences 9, S. 113-131. Jung, Eva-Maria (2012): Gewusst wie? Eine Analyse praktischen Wissens, Boston/Berlin: de Gruyter. Pauen, Michael (2016): Die Natur des Geistes, Frankfurt/Main: S. Fischer. Platon (2008): Theätet, Griechisch – Deutsch, übers. v. Friedrich Schleiermacher, Kommentar v. Alexander Becker, Berlin: Suhrkamp. Polanyi, Michael (2009): The Tacit Dimension, Chicago/London: University of Chicago Press. Ryle, Gilbert (1949): The Concept of Mind, London/New York: Hutchinson’s University Library.

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Stanley, Jason/Williamson, Timothy (2001): »Knowing How«, in: Journal of Philosophy 98, S. 411-444. Stanley, Jason (2011): Know how, Oxford: Oxford University Press. Vosgerau, Gottfried/Synofzik, Matthis (2010): »A Cognitive Theory of Thoughts«, in: American Philosophical Quarterly 47, S. 205-222. Vosgerau, Gottfried (2011): »Sprache und Denken«, in: Spektrum der Wissenschaft 8, S. 56-60. Wittgenstein, Ludwig (1960): »Philosophische Untersuchungen«, in: Ludwig Wittgenstein (Hg.): Schriften, Bd. 1, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 279-544.

Die Tour de France und die Medien – Annäherung an den Sportjournalismus im Zeitalter der Medialisierung Holger Ihle und Jörg-Uwe Nieland

EINLEITUNG Als Sportgroßereignis ist die Tour de France weltweit Gegenstand intensiver Berichterstattung. Medien sind dabei Teil und Antreiber dieses Sportspektakels. Doch die Art und Weise, wie über die Tour berichtet wird, steht spätestens seit den großen Dopingskandalen der letzten beiden Jahrzehnte (Festina-Affäre 1998, Operación Puerto-Affäre 2006, Causa Lance Armstrong 2013) unter verstärkter Beobachtung. Als Vorwürfe werden genannt: (1) die geringe Distanz zum Gegenstand, (2) die damit verbundene Tendenz, Teil des Unterhaltungsangebots zu sein und (3) die mangelnde Aufklärung über Fehlentwicklungen im Sport. Vorläufiger unrühmlicher Höhepunkt war das Co-Sponsoring des damaligen Team Telekom bzw. T-Mobile durch die ARD von 1998 bis 2004. Die von dem öffentlich-rechtlichen Anbieter transportierte wie geförderte Begeisterung für die Rundfahrt sowie den Radsport wurde angesichts der später bekannt gewordenen Dopingpraktiken des Teams getrübt. Die Konsequenz der ARD, 2005 aus dem Sponsoring auszusteigen und ab 2007 zumindest zeitweise auf die Liveübertragung zu verzichten, erschien angemessen. Gleichwohl sucht der Sportjournalismus weiter nach einem Weg, in adäquater Weise über das sportliche Geschehen und seine teils unrühmlichen Begleiterscheinungen zu berichten. Angesichts der zahlreichen Dopingfälle hat die Tour de France hierzulande ein angeschlagenes Image. Auch wenn derzeit kein dramatischer Rückgang der Zuschauerzahlen (sowohl an der Strecke als auch vor den Bildschirmen) zu beobachten ist, so stellt

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sich doch die Frage nach der Glaubwürdigkeit und Attraktivität des Großereignisses. Der Sportjournalismus als Teil des Events muss sich mit dieser Frage beschäftigen. Welche Schwierigkeiten diese Auseinandersetzung mit sich bringt, soll in diesem Beitrag näher betrachtet werden. Dazu erfolgt zunächst eine begriffliche Bestimmung von Sportjournalismus aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht. Im zweiten Schritt wird ausgehend vom Medialisierungsansatz gezeigt, wie Sport sich durch den Einfluss der Medien verändert. Vor diesem Hintergrund stellt die Tour de France einen speziellen, aber auch besonders geeigneten Gegenstand der Sportjournalismusforschung dar. Aus der Zusammenschau dieser theoretischen und am Beispiel nachvollzogenen Besonderheiten werden Aufgaben des Sportjournalismus abgeleitet und in Bezug zu aktuellen Entwicklungen der Tour de France 2018 gesetzt. Schließlich folgt ein Überblick über bisher vorliegende Befunde zum Bild des Sportjournalismus und zum Berufsverständnis von Sportjournalisten, um zu prüfen, inwieweit der gegenwärtige Sportjournalismus in Deutschland die theoretisch abgeleiteten Funktionen erfüllt bzw. erfüllen kann, um abschließend mögliche Konsequenzen für weitere (notwendige) Entwicklungen des Sportjournalismus zu diskutieren.

SPORTJOURNALISMUS Zunächst ist zu klären, was aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht gemeint ist, wenn von Sportjournalismus die Rede ist. Dies ist für die Sportkommunikationsforschung bedeutsam, weil Sportwettbewerbe stets zweierlei sind: ein Unterhaltungsangebot, das sich an ein Publikum richtet, und ein reales Geschehen, das (neue) Fakten und Sachlagen hervorbringt, über die man sich informieren kann und über die publizistisch informiert wird (vgl. Ihle/Nieland 2013: 158). Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Sportjournalismus untersucht daher zunächst, wie Medien den Sport beobachten. Um Leistungen und Funktionen von Sportjournalismus einordnen und bewerten zu können, ist zunächst zu klären, was den Sport kennzeichnet. Anschließend kann die mediale Auseinandersetzung mit dem Sport in den Blick genommen werden. Differenzierungstheoretisch lässt sich Sport als »jenes Funktionssystem [bezeichnen], das aus allen Handlungen besteht, deren Sinn die Kommunikation körperlicher Leistungsfähigkeit ist« (Stichweh 1990: 379f., Herv. i. O.). Nach dieser theoretischen Diktion versteht man unter »Sinn«, dass an Leistungskommunikation nur mit weiterer Leistung angeschlossen werden kann: Ein Stundenweltrekord im Radzeitfahren kann also nicht durch Bezahlung eines Geldbetrags oder

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durch Singen einer Arie überboten werden, sondern es kann nur schneller oder langsamer Rad gefahren werden, um weitere Leistungen in sportlichen Bezug zu dem Rekord zu setzen. Laut Werron »vollzieht sich diese Leistungskommunikation in zwei Formen mit jeweils zwei Abwandlungen: als (1) Kommunikation von Leistungsfähigkeit, meist mit dem Körper, entweder (a) wettkampfförmig oder (b) außerhalb von Wettkämpfen; sowie (2) als Kommunikation über Leistungsfähigkeit, entweder als (a) Reden und Schreiben über Leistung oder als (b) gemeinsam-objektzentriertes Wahrnehmen von Leistung« (Werron 2005: 266, Herv. i. O.).

Dieses Verständnis von Sport impliziert dabei die »Öffentlichkeit der Leistungshandlungen« (ebd.: 270). Grundlegend ist hierbei die Annahme, dass Wettkampfsport stets als Teil des Weltsports zu verstehen ist, weil er »über seine Wettkampforganisation (seine Leistungshierarchien, seine Ligensysteme, seine Großereignisse, seine Weltranglisten etc.) einen Höchstleistungshorizont erschließt, auf Dauer stellt und soweit ausdehnt, dass er nur an den Grenzen kommunikativer Erreichbarkeit, nicht an territorialen oder sozialen Grenzen, halt macht.« (Ebd.: 266)

Indem erzielte Leistungen kommunikativ an bereits frühere oder an anderem Ort erbrachte Leistungen angeschlossen werden können, wird die Kommunikation von Leistungsfähigkeit über den konkreten Wettkampf oder die konkrete Situation hinaus verlängert. Sport ist darauf ausgerichtet, auf einen Rekord dessen Überbietung, auf eine Meisterschaft eine neue Saison folgen zu lassen usw., wodurch immer wieder aktualisierte Leistungskommunikation möglich wird und nicht nur die beste absolute Leistung bestimmbar wird, sondern die beste Leistung eines Jahres, innerhalb eines Landes, innerhalb einer Olympiade etc. Dafür ist der Sport auf ein Gedächtnis angewiesen. Dieses Gedächtnis (nicht nur für den Sport) zu erzeugen, ist die gesellschaftliche Funktion von Massenmedien (vgl. Luhmann 2009: 82).1 Daraus folgen notwendige strukturelle Kopplungen des Sports an das Mediensystem, wie sie sich auch für die Politik beschreiben lassen: »Die Politik profitiert von ›Erwähnungen‹ in den Medien […]. Meldungen in den Medien erfordern

1

Die Bedeutung dieses Gedächtnisses für die Entstehung des modernen Wettkampfsports und seine Bedeutung für die Verbindungen zwischen Sport, Medien und Publikum analysiert Werron in seinen umfassenden Überblick (vgl. Werron 2010: 217-221, 431f., 441-444).

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zumeist eine Reaktion im politischen System.« (Ebd.: 86) Dabei erfolgt die Weiterverarbeitung im politischen System gemäß den darin nötigen Programmen, wohingegen die Medien nach ihren eigenen Regeln auf die politischen Vorgänge reagieren können. Sport profitiert ebenfalls von Erwähnungen in den Medien. Damit ist aber nicht gemeint, dass die mediale Aufmerksamkeit den Sportveranstaltern Sponsoring- und Werbeeinnahmen sichert, denn das vollzieht sich im System der Wirtschaft, nicht des Sports. Der Sport profitiert vielmehr von der Erschließung des Höchstleistungshorizonts mittels des durch die Medien bereitgestellten sozialen Gedächtnisses. Hierdurch kann jede sportliche Leistung an den Höchstleistungshorizont anschließen, und zwar entweder als bessere oder schlechtere Leistung und unabhängig davon, wann und wo sie erbracht worden ist. Dabei sind die Medien den sporteigenen Dokumenten überlegen, da mehr Menschen leichter auf medienöffentliche Inhalte (beispielsweise Bestenlisten) zugreifen können als auf die Dokumentationen der Sportverbände. Freizeitradsportler müssen also nicht Mitglieder von Sportvereinen sein, um ihre eigene Leistung in Bezug zu der Leistung der Tour de France-Starter zu setzen. Erklärungsbedürftig erscheint vor diesem Hintergrund die Frage, warum dann zwar die Leistung von Hobbysportlern mit der von Olympiateilnehmern vergleichbar ist, aber jemand, der auf seiner Hausrunde vielleicht schneller Rad fahren kann als ein Olympiateilnehmer, nicht in Siegerlisten auftaucht. Dass nicht jede erbrachte Leistung Eingang in das Gedächtnis des Sports findet, liegt dabei einerseits an seiner Organisation und andererseits an der strukturellen Kopplung an das Mediensystem. Konstituierendes Merkmal aller Sportarten ist, dass sie Regeln folgen, »durch die Leistungen unter sportarttypischen Gesichtspunkten vergleichbar werden« (Werron 2005: 269). Die Organisation des Sports stellt dabei sicher, dass diese Regeln (die normativen Grundlagen des Sports) eingehalten werden. Für offizielle Leistungen ist dabei notwendige Voraussetzung, dass sie im Rahmen von Wettkämpfen bzw. ähnlicher institutionell überwachter Vergleichsarrangements erbracht werden. Für alle anderen denkbaren sportlichen Leistungen gilt, dass sie zwar mit diesen quasi-rechtlich verbrieften Rekorden vergleichbar sind, aber keinen Eingang in das soziale Gedächtnis des Sports finden, sondern allenfalls in private Rekordlisten. Die strukturelle Kopplung des Sports an die Medien stellt sicher, dass die Regeln des Sports als allgemein bekannt und akzeptiert vorausgesetzt werden können. Dies ist wichtig, weil die sportlichen Regeln arbiträr sind und damit ein hohes Maß an Kontingenz aufweisen. Dass die Stadionrunde 400 Meter lang ist und nicht etwa 500 Meter gehört ebenso dazu wie die Tatsache, dass nicht alle Leistungsvergleiche auf diese Weise normiert sind. So findet die Tour de France zwar

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jedes Jahr in Frankreich statt, folgt aber immer anderen Streckenverläufen. Entscheidend ist nicht, ob auf einem grundlegend anderen Höhenprofil womöglich andere Fahrer gewinnen könnten, sondern wer für den tatsächlich zu bewältigenden Kurs am wenigsten Zeit benötigt und gerade deshalb gewinnt. Zu dieser Regelorientierung des Sports zählt auch, dass Olympiasiege nur durch die Teilnahme an Olympischen Spielen erlangt werden können, auch wenn die Leistung dort vielleicht hinter einem bestehenden Weltrekord zurückbleibt. Ähnlich wie das politische System kann der Sport von den Medien irritiert werden. So kann beispielsweise die Herausforderung von Gegnern zum sportlichen Vergleich über die Medien erfolgen, wie das etwa im Boxsport gelegentlich zu beobachten ist. Reagieren kann der Sport darauf aber selbst nur durch den ihm eigenen regelgeleiteten Leistungsvergleich. Das heißt, die Herausforderung kann zwar angenommen oder abgelehnt werden, aber aus Letzterem folgt keine Unterlegenheit eines der Kontrahenten, jedenfalls solange die Herausforderung nicht (wie im Boxsport üblich) lediglich auf eine Pflichtverteidigung anspielt. Ist insofern Sport also die Kommunikation über Leistung, so handelt es sich bei publizistischer Sportkommunikation folgerichtig um die Beobachtung dieser Leistungskommunikation durch die Massenmedien. 2 Dort wird über Leistungskommunikation geschrieben und gesprochen, aber auch die Wahrnehmung von Leistung für ein Publikum ermöglicht. Eine Schwierigkeit der wissenschaftlichen Beobachtung dieser Sportkommunikation ergibt sich daraus, dass aufgrund der spezifischen Produktionsbedingungen des Mediensports die Wahrnehmung der Leistung (durch Beobachten des Wettkampfs in Form einer Liveübertragung) oftmals mit dem Sprechen über die Leistungskommunikation (in Form der Livekommentierung während der Übertragung) in eins fällt. Während die Übertragung von Sportereignissen (sports broadcasting) als Unterhaltung erscheint, weil Sportwettkämpfe per se bereits ein Unterhaltungsangebot (für ein Präsenzpublikum) sind, stellt die nachgelagerte Berichterstattung ein journalistisches Angebot dar (sports journalism), weil dort lediglich Informationen gegeben werden (vgl. Boyle 2010: 57-77). Diese Unterscheidung ist aber doppelt problematisch. Zum einen sind für die TV-Übertragungen zumeist die Sportjournalisten der TV-Redaktionen verantwortlich. Zum anderen werden in längeren Sendestrecken wie etwa denen

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Mit Massenmedien sind hier »Medien« als »komplexe institutionalisierte Systeme um organisierte Kommunikationskanäle« (Saxer 2012: 139) gemeint. Diese Organisationen und vor allem ihre Produkte differenzieren sich zunehmend aus. Wie das in Bezug auf Sport geschieht und welche Konsequenzen das hat, siehe unten (Abschnitt Medialisierung).

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zur Tour de France eben nicht nur Livebilder, sondern oft auch Hintergrundberichte ausgestrahlt. Vor allem aber ist der Livekommentar einer Sportübertragung mehr als nur die Beobachtung der Leistungskommunikation, denn er ermöglicht bereits eine Beobachtung zweiter Ordnung. Das Publikum kann mit den Einschätzungen einverstanden sein oder beim Zusehen zu ganz anderen kommen und somit (aufgrund der Diskrepanz oder auch der Übereinstimmung mit der eigenen Einschätzung) selbst beobachten, wie Medien den Sport beobachten.3 Somit sind nicht etwa die Übergänge zwischen Unterhaltung und Journalismus fließend, sondern »sports broadcasting remains a form of journalism, but informed by a hybrid of values drawn from television entertainment conventions and those of broadcast journalism« (ebd.: 76). Deshalb kann die wissenschaftliche Beschäftigung zwar beobachten, in welchem Ausmaß informiert oder unterhalten wird. Die Informationsleistung ist aber der wesentliche Aspekt, der das spezifisch journalistische Leistungsangebot ausmacht. Luhmann unterscheidet drei Programmbereiche der Medien: (1) Nachrichten und Berichte, (2) Werbung und (3) Unterhaltung (vgl. Luhmann 2009). Unterhaltung wird dabei vorwiegend im Sinne fiktionaler Inhalte genauer betrachtet, allerdings unter Verweis auf ein »allgemeines Modell des Spiels«, das zugleich erklärt, »weshalb Sportsendungen, insbesondere bei gefilmter Wiedergabe, eher zur Unterhaltung zählen als zu den Nachrichten« (ebd.: 67). Die Ausgliederung der Unterhaltung (vor allem Filme) geht nach Luhmann dabei auch durch Rückbezug auf den medialen Code Information/Nichtinformation vonstatten, indem »mit Hilfe von Informationen (anstelle von vorgegebenen Regeln) eine Sonderrealität der Unterhaltung ausgegrenzt werden kann« (ebd.: 69). Dies geschieht dadurch, dass anhand von Sequenzen informationsverarbeitender Operationen die eigene Plausibilität von Spiel oder Unterhaltung erzeugt wird (vgl. ebd.: 70). »Ähnlich wie bei Technologien kommt es zu einer Schließung des Prozesses gegenüber unkontrollierten Umwelteinflüssen. Was einen Unterschied gemacht hat, begründet dann hinreichend, welche weiteren Unterschiede möglich sind. Der Prozess erzeugt und transportiert in diesem Sinne eine durch ihn selbst erzeugte und immer wieder erneuerte Unsicherheit, die auf weitere Informationen angewiesen ist.« (Ebd.)

Im Fall fiktionaler Unterhaltung also durch eigenproduzierte Folgen von Überraschung und Spannung, die eine Unterscheidung von Fiktion und Realität ermöglichen (vgl. ebd.: 70f.). Unterhaltung wird zunächst auf Basis von Informationen als Unterhaltung erkennbar, es muss

3

Daraus kann sich übrigens wiederum ein eigener Unterhaltungswert ergeben.

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»in hohem Maße auf Wissen Bezug genommen werden, das bei den Zuschauern bereits vorhanden ist. Unterhaltung hat insofern einen Verstärkereffekt in Bezug auf schon vorhandenes Wissen. Aber sie ist nicht, wie im Nachrichten- und Berichtsbereich, auf Belehrung ausgerichtet. Vielmehr benutzt sie vorhandenes Wissen nur, um sich davon abzuheben.« (Ebd.: 75)

Für Unterhaltung durch Sport ist es somit einerseits notwendig, dass (belehrend wie durch Nachrichten und Berichte) immer neues Wissen erzeugt wird (über Leistungsfähigkeit, Regeln usw.), von dem sich dann das tatsächliche Sportgeschehen abheben kann (durch Aktivieren dieses Wissens, darauf begründeten Hoffnungen oder Erwartungen), wodurch letztlich erst das Unterhaltsamkeitserleben möglich wird (durch Abbau von Möglichkeitsüberschüssen). Im Unterschied zu anderen Unterhaltungsangeboten wird im Sport die prozessuale Schließung nicht durch Abgrenzung einer fiktionalen von der tatsächlichen Realität erzeugt, sondern durch seine Spielregeln. Insofern ist die wissenschaftliche Beobachtung von Sportjournalismus auf eine analytische Trennung angewiesen, die sich nicht zwangsläufig mit der Wahrnehmung von Sport seitens des Publikums deckt. Die eine Seite dieser Medaille ist dann die Frage, wie Sportjournalismus im Sinne des Programmbereichs »Nachrichten und Berichte« Informationen über Leistungskommunikation liefert. Die zweite Seite ist das Unterhaltungspotenzial des Sports, das sich nicht zuletzt aus diesen Informationen ergibt. »Für die Rezeption und das Erleben von Sport in den Medien ist schließlich von besonderer Bedeutung, dass Unterhaltung wie Information im Sport gefährdet ist. Ablauf und Qualität von Wettkämpfen sowie ihr Ergebnis sind offen, die Erfüllung von Erwartungen (gleichermaßen hinsichtlich der verlaufs- wie ergebnisbezogenen Ziele) ist damit dem Risiko des Scheiterns ausgesetzt.« (Stiehler 2007b: 184)

Das Spannungspotenzial des Sports beruht also in hohem Maße auf der Offenheit des Ergebnisses des Leistungsvergleichs. Dass der Ausgang des Wettkampfs offen ist, wird durch Regeln erreicht, die für alle Teilnehmer gleichermaßen gelten und verbindlich sind. Sie sind der Kernbestand der Informationen, die Sport als Sport erkennbar und ihn gleichzeitig unterhaltsam machen. Nimmt also etwa ein Fußballspieler angesichts einer drohenden Niederlage erst wörtlich den Ball und anschließend sprichwörtlich die Beine in die Hand, um das Spielgerät im Stil eines Rugbyspielers ins gegnerische Tor zu tragen, so ist diese Regelverletzung aufgrund ihrer Überraschung zunächst unterhaltsam. Je-

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doch kann das nur einmal gelten und nur insofern, als dass der Vorgang als Verstoß gegen die Wettkampfbestimmungen und nicht als sportliche Leistung erkannt wird (auf Basis der regelbezogenen Informationen). Die Begründung einer neuen Norm wird sich dagegen allein aus diesem Überraschungseffekt nicht ergeben. Eine fortgesetzte Leistungskommunikation beruht ja gerade auf der langfristigen Vergleichbarkeit, die durch das (bekannte) Regelwerk sichergestellt wird. Wären die Spielregeln dagegen nur kurzfristiger Natur und dienten sie lediglich der Herstellung einer überraschenden und daher unterhaltenden Möglichkeit zur Regelverletzung, entstünde eine andere Form der Offenheit. Sie könnte zwar unterhaltend sein, wäre aber etwas anderes als Sport im Sinne der Kommunikation körperlicher Leistungsfähigkeit. Somit wird letztlich deutlich, was gemeint ist, wenn Boyle sports broadcasting als einen journalistischen Hybrid definiert, der sowohl auf Konventionen von Entertainment als auch auf denen des Journalismus aufbaut. Das eine ist ohne das andere nicht denkbar.

MEDIALISIERUNG DES SPORTS Ebenso wie im Sportjournalismus lassen sich auch im Sport selbst in den letzten Dekaden Veränderungen beobachten, die auf eine immer stärkere Unterhaltungsorientierung hinweisen (vgl. Stiehler 2007a; Heinecke 2014). Das betrifft zum Beispiel Regeländerungen wie das Rally-Point-System im Volleyball (beide Teams können jederzeit punkten, wodurch die Spiele kürzer und spannender werden) oder die Einführung von Massenstartrennen im Biathlon (wodurch die Teilnehmer nicht nacheinander, sondern im Direktvergleich starten, was mehr Spannung erzeugt; vgl. Heinecke 2014: 373). Ein aktuelles Radsport-Beispiel ist die 17. Etappe der Tour de France 2018, die deutlich kürzer als bisherige Bergetappen war und bei der ein Grid-Start gemäß bisheriger Platzierung erfolgte. Die Veranstalter erhofften sich dadurch eine von Beginn an spannende Etappe, weil im Vorfeld mit Angriffen bereits im ersten Anstieg des Tages gerechnet wurde (vgl. k.A. 2017). Solche Veränderungsprozesse im Sport werden kommunikationswissenschaftlich häufig als Medialisierung des Sports beschrieben (vgl. Dohle/Vowe 2006; Heinecke 2014; Meyen 2014a). Demnach richtet sich der Sport zunehmend auf die Erfordernisse seiner medialen Verwertbarkeit aus.

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Die theoretische Annahme von Medialisierung4 ist nicht auf den Sport begrenzt. Vielmehr betreffen medienbezogene Wandelprozesse zunächst die gesamtgesellschaftliche Zunahme der Präsenz von Kommunikationstechniken und deren Durchdringung des Alltags sowie (und das macht den Kern des kommunikationswissenschaftlichen Interesses aus) der daraus folgenden Anpassung sozialen Verhaltens an die Eigenlogiken der Medien (vgl. Schulz 2004: 88ff.). Diese Anpassung ist dabei auf mehr Medienpräsenz gesellschaftlicher Teilbereiche gerichtet und abhängig von deren Öffentlichkeitsbedarf (vgl. Meyen 2009; Marcinkowski/Steiner 2010). Medialisierung erklärt also bestimmte gesellschaftliche Veränderungen mit dem grundsätzlichen Bedeutungszuwachs von Medien (vgl. Schulz 2004; Meyen 2009; Livingstone 2009). Dabei sind Medien nicht zwangsläufig alleiniger Antriebsfaktor, sondern können beispielsweise auch Ökonomisierungsprozesse befeuern (vgl. Meyen 2014b: 651f.). Medialisierung ist vor allem für Veränderungen des Politikbetriebs untersucht und problematisiert worden. Grundannahme ist dabei, dass sich die Politik zunehmend auf die Erfordernisse der Medien hin ausrichtet, weil die Wähler in erster Linie über die Medienöffentlichkeit erreicht werden (vgl. Marcinkowski/Steiner 2010) und daher der politische Erfolg (sprich Wahlerfolg) nicht unwesentlich von Medienpräsenz abhängt.5 Diese in der Politik wirksamen Mechanismen lassen sich auf den Sport kaum übertragen. Ob einzelne Athleten aufgrund des hohen Interesses an ihren Leistungen in den Medien verstärkt präsent sind, hat auf den sportlichen Wert dieser Leistungen keinen Einfluss (ein Olympiasieg wird nicht durch mehr Medienaufmerksamkeit überbietbar). Es wirkt sich aber auf die Vermarktungschancen dieser Leistungen bzw. der damit erlangten Prominenz aus. Der Öffentlichkeitsbedarf des Sports, der als eine Voraussetzung für beobachtbare Medialisierungsfolgen beschrieben werden kann, ist also vergleichsweise gering. Auf Öffentlichkeit ist

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In der Debatte werden unterschiedliche Begriffe verwendet: Medialisierung, Mediatisierung, Mediation, Mediatization (vgl. Heinecke 2014: 38ff.; Birkner 2017: 13-18). Angesichts der zum Teil unterschiedlichen Zugänge und breiten Ausdifferenzierung der Medialisierungsforschung kann an dieser Stelle nicht näher auf die Bandbreite von Begriffen und Ansätzen eingegangen werden (vgl. Krotz 2012; Kinnebrock/Schwarzenegger/Birkner 2015; Steinmaurer 2016).

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Wird dagegen der mediale Einfluss als »Übergriff« auf politische Entscheidungsprozesse verstanden, rückt nicht die strukturelle Absicherung des Zugriffs der Politik auf die Medien in den Fokus, sondern Phänomene wie zunehmende Personalisierung, Intimisierung oder Skandalisierung öffentlicher Kommunikation (vgl. Imhof 2006: 201204).

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Sport (als Leistungskommunikation) lediglich über das mit den medial bereitgestellten Informationen erzeugte soziale Gedächtnis und die damit einhergehende Erschließung des weltweiten Vergleichshorizonts angewiesen. Dass ein Wettkampf spannend und eine Touretappe unterhaltsam ist, spielt dafür kaum eine Rolle. Allerdings lässt sich moderner Wettkampfsport nicht unabhängig von den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen betrachten, unter denen der Leistungsvergleich organisiert wird. Sportstätten müssen errichtet und betrieben werden, die Teilnahme der Athleten sichergestellt werden usw. Die dafür notwendige Vermarktung des Sports basiert aus ökonomischer Perspektive auf der originären Nachfrage von Stadionbesuchern, die Eintritt bezahlen, und aus der abgeleiteten Nachfrage von Medien, Sponsoren, Merchandising-Produzenten, staatlichen Institutionen und Veranstaltern, wie zum Beispiel den Stadioneigentümern (vgl. Daumann 2011: 78). Im Unterschied zur Politik bildet der Zuschauersport also zunächst ein Unterhaltungsprodukt und Medialisierungsstrategien (des Sports) erzeugen Interdependenzphänomene, insofern sie primär ökonomischen Zielen dienen, die den Sport als Medieninhalt und Werbeträger wirtschaftlich verwertbar machen sollen – für die Medien ebenso wie für die Sportveranstalter. In beiden Fällen wird öffentliche (und mediale) Aufmerksamkeit nicht als Selbstzweck gesucht, sondern unter der Annahme, dass sie sich ökonomisch auszahlt. Umgekehrt profitiert der Sport aber auch in seiner Eigenschaft als Leistungskommunikation von dieser Kopplung, weil damit der Leistungsvergleich dauerhaft kommunikativ abgesichert wird. Insofern lässt sich die Medialisierung des Sports als ein Kurzschluss zweiseitig doppelter Interdependenzphänomene zwischen Sport, Medien und Ökonomie verstehen. Nach Stiehler zielen die Medien bei der Beeinflussung des Sports vor allem auf die Attraktivitätssteigerung für das Medienpublikum ab (vgl. Stiehler 2007a: 6-9). Der Sport wird demnach so verändert, dass er für die ökonomisch begründete Verwertung durch Medien besser geeignet erscheint, also unterhaltsamer und spannender wird und dadurch ein größeres Publikum anzieht. Wenn sich Sportarten in ihrem Regelwerk verändern und damit spannender und unterhaltsamer werden, ist das somit eine durch die Medien ermöglichte Ökonomisierungsfolge, wobei der Sport auf diese – nicht ohne mediale Öffentlichkeit zu erreichende – Vermarktung angewiesen ist. Und umgekehrt ist das Interesse der Medien am Sport ebenfalls (als abgeleitete Nachfrage) wirtschaftlich geprägt. Als Funktionssystem Leistungskommunikation hat der Sport daher einen originären, aber geringen Öffentlichkeitsbedarf. Da der Sport seine Funktion jedoch nur (oder wenigstens besser) erbringen kann, wenn die Organisation des Leistungsvergleichs und der damit verbundene Öffentlichkeitsbedarf wirtschaftlich abgesichert sind, richten sich Sportorganisationen in ihren Programmen und

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Strukturen zunehmend auf die Nachfrage der Medien und damit auf mehr Spannung und Unterhaltsamkeit aus. Ob Medialisierung als Übergriff der Medien auf die Sportregeln verstanden wird oder als Angebot des Sports an die Medien, hängt deshalb gerade nicht von der Medienlogik ab, sondern von der Eigenlogik des Sports. Wenn sportliche Regelwerke zugunsten höherer Unterhaltsamkeit soweit verändert werden, dass der Leistungsvergleich unter den Bedingungen dieser Regeln nicht mehr möglich ist, stellt sich die Frage, ob es sich bereits um eine neue und andere Sportart oder um die (mediale) Inszenierung eines nur noch scheinbaren Wettkampfs handelt. Letzteres wäre beispielsweise beim Wrestling der Fall, das zwar Bewegungsabläufe des klassischen Ringens und weiterer Kampfsportarten adaptiert, aber gerade keinen Leistungsvergleich mit offenem Ausgang darstellt. Diese doppelt-zweiseitige Kopplung von Sport, Medien und Wirtschaft ist für den Sportjournalismus nicht folgenlos. Einerseits bietet er die Kommunikation über Leistung, andererseits muss er deshalb auch die Einhaltung der sportlichen Regeln beobachten6 – Regeln, die teilweise auf genau diese Beobachtungsfunktion hin (bzw. deren Vermarktbarkeit) verändert werden. Mithin stellt der Sportjournalismus also auch Entwicklungen im Mediensport auf den Prüfstand, die er selbst – im Zuge der Medialisierung des Sports – hervorgerufen hat.

DIE TOUR DE FRANCE ALS GEGENSTAND DER SPORTKOMMUNIKATIONSFORSCHUNG Die Tour de France eignet sich aus vielerlei Gründen als Beispiel für die kommunikationswissenschaftliche Beobachtung des Verhältnisses von Sport und Medien bzw. Sportjournalismus. Das liegt in erster Linie an einer Reihe von Besonderheiten ihrer Geschichte, aber auch an der Historie des Radsports selbst. Diese Spezifika lassen sich unter drei Aspekten zusammenfassen: Medieninitiierung, Profisport sowie Dopingtradition.

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Ob die Regeln eingehalten werden, wird dabei von den Sportorganisationen sichergestellt. Der Sportjournalismus beobachtet lediglich, wie das geschieht.

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Medieninitiierung Die Tour de France wurde 1903 erstmals ausgetragen. Veranstaltet wurde das Rennen von der Sportzeitung L’Auto, deren Ressortleiter für Radsport, Géo Lefèvre, die Idee dazu hatte und seinen Chefredakteur Henri Desgrange überzeugen konnte, eine solche Rundfahrt auszurichten (vgl. Schröder/Dahlkamp 2003: 16; Schoeller 2003: 16). Die Austragung eintägiger Radrennen durch Sportzeitungen war ausgangs des 19. und anfangs des 20. Jahrhunderts weit verbreitet (vgl. Frandsen 2017: 157f.; Schröder/Dahlkamp 2003: 16; Siemes 2003; Wille 2003: 130f.). Heute wird die Tour de France von der Amaury Sport Organisation (A.S.O.) veranstaltet, einem Tochterunternehmen der französischen Verlagsgruppe Philippe Amaury, von der bis heute die Sportzeitung L’Équipe herausgegeben wird, das Nachfolgeblatt der früheren L’Auto. Damit ist die Tour de France ein Beispiel dafür, wie die strukturelle Kopplung gesellschaftlicher Teilsysteme auf der Ebene komplexer Organisationen (hier Medienorganisation) stattfindet. »By integrating road cycling in mass media communication, sport becomes information (the binary code of mass media), the idea of distinguishing the winner from losers is adopted (the binary code of sport), and finally, this enables the company to make a profit from the sale (the binary code of economy). Complex organizations are able to facilitate structural couplings between several functional systems and integrate these in their ongoing communication decisions.« (Wagner/Storm 2015: 53f.)

Profisport Die Tour de France war von Beginn an eine Veranstaltung für Profisportler, also Berufsradfahrer. In historischer Hinsicht ist dies nicht selbstverständlich, schließlich sind 1896, erst wenige Jahre vor der Tour, die Olympischen Spiele der Neuzeit durch Pierre de Coubertin als eine dezidiert dem Amateursport verpflichte Sportbewegung ins Leben gerufen worden. Olympia wurde innerhalb weniger Jahrzehnte zur Speerspitze des weltweiten Sports überhaupt, was aber nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass es sich dabei zumindest auch um einen Gegenentwurf zum Berufssport und seinen Entwicklungen im 19. Jahrhundert handelte (vgl. Gebauer 1992: 26). Im Radsport war dieser Dualismus besonders stark ausgeprägt. Einerseits hatte beispielsweise der 1884 gegründete Deutsche RadfahrerBund (DRB) den Begriff »Amateure« bereits definiert, bevor überhaupt Berufsfahrer aufgetreten waren, andererseits wurde der Radsport in Deutschland ab Mitte der 1890er Jahre vom Profisport dominiert, und die Fahrradhersteller nutzten Berufsfahrer als Werbeträger (vgl. Rabenstein 1992: 49ff.). Das Berufssportwesen

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und die damit verbundenen Siegprämien und Geldpreise lassen sich schließlich als einer der Gründe ansehen, weshalb schon in der Frühzeit des Radsports Drogenkonsum und Medikamentenmissbrauch verbreitet waren (vgl. Krüger 2006: 331).7 Dopinghistorie Doping wurde für den Radsport als systemimmanent beschrieben (vgl. Meutgens 2007: 14). In dieses Bild fügen sich Erfahrungsberichte ehemaliger und später geständiger Profis über deren Sozialisierung zum Doping (vgl. Dekker/Zonneveld 2017; Sachse 2012; Severin 2007). Eine Aufstellung von offiziell sanktionierten und dokumentierten Dopingfällen im Radsport von 1940 bis 2006 liest sich wie das Who’s who der Geschichte dieser Disziplin (vgl. Mischke 2007). Und die bekannt gewordenen prominenten Dopingfälle der letzten Dekaden lassen Ausmaß und Verbreitung des Dopings als ein immer weiter zunehmendes Problem erscheinen. Zudem wurden im Radsport bereits früh, das heißt »bevor nationale und internationale Verbände gegründet wurden, bei sportlichen Radrennfahrten Mittel eingesetzt […], die der Steigerung der sportlich-körperlichen Leistungsfähigkeit dienen sollten.« (Krüger 2006: 330) Somit wirkt die pharmakologische Nachhilfe wie ein Bestandteil der historischen DNA dieser Disziplin. Das gilt in besonderem Maße für die Geschichte des Dopings bei der Tour de France (vgl. Mignon 2003: 229-232). Die historische Entwicklung des Dopings im Radsport lässt aber auch eine andere Lesart zu, die Krüger vertritt: »Die Geschichte des Dopings im Radsport ist nicht eine Geschichte des moralischen Verfalls, […] vielmehr handelt es sich um einen Strang in der Geschichte der Zivilisierung des Radsports.« (Krüger 2006: 326) In der Frühzeit des Radsports gab es kein Unrechtsbewusstsein gegenüber der Einnahme unterstützender Mittel – bis weit in die 1960er Jahre hinein war Doping nicht untersagt. Gesetzliche Verbote von Doping gab es ab 1965 in Belgien und Frankreich und erst öffentlicher Druck (wegen zunehmender Zahl von Dopingtoten sowie aufgrund der Wettbewerbsverzerrungen) führte schließlich dazu, dass 1967 der Internationale Radsportverband UCI erstmals eine AntiDopingbestimmung ins Reglement aufnahm (vgl. ebd.: 335ff.). Angelehnt an

7

Dass Amateursport gegen Doping keineswegs immun ist, zeigt dagegen auch die Spätphase des Amateurismus bei den Olympischen Spielen bis in die 1980er Jahre, als die Teilnehmer aus den Ostblockstaaten staatlich organisierten Dopingmaßnahmen unterlagen und die Teilnehmer aus dem Westen ebenfalls zugunsten ihrer Wettbewerbsfähigkeit nachhalfen (vgl. sid/SUF 2013; mib/mon 2013; Rudde 2017).

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Norbert Elias’ Theorie vom Prozess der Zivilisation lässt sich diese Geschichte von der Entstehung des Unrechtsbewusstseins bis hin zur sportrechtlichen Regelung als »eine Rationalisierung und Moralisierung des Verhaltens« (ebd.: 326) verstehen. Krüger bezieht diese Entwicklung auf das Doping und erinnert daran, dass »der anfangs selbstverständliche, unreflektierte und unproblematisierte Gebrauch leistungssteigernder, aufputschender und schmerzstillender Mittel zunehmend öffentlich geächtet wurde und sich allmählich bei den Menschen ein Unrechtsbewusstsein, ein (schlechtes) Gewissen über den Ge- bzw. Missbrauch von verbotenen Arzneimitteln und Drogen ausbildete.« (Ebd.)

Insofern ist der historisch erkennbare Wertewandel durch die mediale und damit öffentliche Beobachtung des Radsports auch an die (Sport-)Politik und in der Folge an das (Sport-)Recht gebunden.

AUFGABEN DES SPORTJOURNALISMUS Anknüpfend an die oben vorgenommene Definition von Sportjournalismus werden im Folgenden dessen Aufgaben abgeleitet, die sich aus den Besonderheiten des Sports als Leistungskommunikation und deren Beobachtung durch die Medien ergeben. Wie zu zeigen ist, betrifft das auch den Umgang mit der Dopingproblematik. Zunächst ist davon auszugehen, dass Sportjournalismus – ähnlich anderen Journalismen auch – in modernen (und demokratischen) Gesellschaften drei Funktionen erfüllt: (1) Information (und zwar möglichst umfassend und ausgewogen), (2) Mitwirkung an der Meinungs- und Willensbildung und schließlich (3) Kritik und Kontrolle der Institutionen, Organisationen und Individuen im Sport (vgl. Pürer 2015: 24). Ähnlich wie der politische Journalismus (zumindest auch) auf eine Geschichte von Parteipresse und die Propagierung politischer Erziehungs- und Bildungsideale zurückblickt, gab es auch im frühen Sportjournalismus Programme, die aus heutiger Sicht weder mit dem Neutralitätsgebot noch mit einem reinen Unterhaltungsziel vereinbar erscheinen. Im Jahr 1924, auf dem ersten internationalen Kongress der Sportpresse in Paris, wurden die besonderen Aufgaben dieses Bereichs des Journalismus recht idealistisch definiert: »Die Sportpresse will eine erzieherische Rolle spielen. Ein echter und gemeinsamer Wille beseelt die Sportjournalisten aller Länder, zusammenzuarbeiten für die Verteidigung der

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sittlichen Werte ihres schönen Berufs. Die Sportjournalisten betrachten die Pflege und Förderung aller der Verständigung und dem Frieden unter den Völkern dienenden fortschrittlichen und erzieherischen Bestrebungen als ihre Hauptaufgabe. (Sie) wollen den Sport seinem höheren Ziel näher bringen, den Menschen besser zu machen und sein Gemeinschaftsgefühl zu wecken. Dem Strebertum wollen die Sportjournalisten Verantwortungsbewusstsein und inneren Adel entgegenstellen.« (Leyendecker 2006: 230)

Dieser Aufgabenkatalog ist aus dem historischen Kontext der damals noch jungen, aber bereits einflussreichen olympischen Bewegung zu verstehen. Diese Vorstellung von sportjournalistischen Aufgaben steht daher ganz im Geist der olympischen Idee. Auch wenn dies aus heutiger Perspektive ideologisch aufgeladen und wenig journalistisch erscheint, ist die Verbindung zu den olympischen Prinzipien nicht unwichtig, wenn es um eine aktuelle Aufgabenbeschreibung des Sportjournalismus geht. Denn die Kommunikation über die sportliche Leistung kann der Sportjournalismus nur unter Rückgriff auf die Prinzipien des Sports leisten, und dazu gehört in erster Linie, dass der Wettkampf fair ausgetragen wird (vgl. Schürmann 2011: 609f.). »Ob Fairness ein konstitutiver Modus oder lediglich ein Regulativ ist, sprich: ob im Sport das Leistungs- oder aber das Erfolgsprinzip praktiziert wird, ist keine Frage der Moral der beteiligten Individuen, sondern eine Frage der Organisation der real praktizierten Wettkämpfe.« (Ebd.: 610)

Sportjournalismus muss daher die Frage klären: »Gibt es das, was ein offener Wettkampfausgang ist – also ein Wettkampf, bei dem nicht vorher schon feststeht oder unterwegs (etwa durch Tätlichkeit gegenüber der besten gegnerischen Spielerin) festgelegt wird, wer gewinnt, also ein Wettkampf, bei dem sich erst performativ im Wettkampfverlauf herausstellt, wer heute die oder der Bessere ist, was traditionell ein fairer Wettkampf heißt –, gibt es sowas also nur im Medium sportjournalistischer Kommentierung?« (Schürmann 2017: 11)

Vor diesem Hintergrund lassen sich die drei genannten (sport-)journalistischen Funktionen als Aufgaben mit Adressaten benennen: Kritik und Kontrolle betrifft die Organisationen und Verbände des Sports und ihrer ausführenden Organe und zwar in erster Linie dahingehend, ob diese faire Wettkämpfe gewährleisten. Die Meinungs- und Willensbildung erscheint im Sportjournalismus zunächst nachrangig. Denn ob das Publikum dem Favoriten auf den Toursieg oder dem jeweiligen

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Underdog zujubeln möchte, ist möglicherweise von persönlichen Sympathien abhängig. Doch auch die Verteilung der Sympathie (oder etwas rationaler: Favorisierung einzelner Athleten) ist letztlich nicht unabhängig von Kritik und Kontrolle. Selbstverständlich spielt die emotionale Bindung an einzelne Sportler (vielleicht weil sie aus der eigenen Stadt kommen und man sie gelegentlich auf ihrer Trainingsrunde oder beim lokalen »Kirmesrennen« sehen kann) eine Rolle bei der Verteilung der Sympathien. Die Anerkennung ihrer sportlichen Leistung – eben als sportliche (sprich fair erbrachte) Leistung – hängt aber nicht nur von Sympathie ab, sondern indirekt auch vom Vertrauen, das der Wettkampforganisation entgegengebracht werden kann. Um es am Fall Froome 8 zu verdeutlichen: Gemäß den geltenden Regularien von WADA und UCI gibt es keinen »Dopingfall Froome«, genau genommen nicht einmal einen Dopingverdacht. Dass es eine auffällige Probe gab, war seitens des Verbandes und der Dopingkontrollinstanz nicht veröffentlicht worden. Vielmehr ist diese Information geleakt worden. In der Folge standen Froomes Leistungen unter Verdacht und sowohl beim Giro d’Italia 2018 als auch bei der Tour de France desselben Jahres waren er und sein Team den Missfallensbekundungen von Zuschauern am Streckenrand (bis hin zu tätlichen Übergriffen) ausgesetzt. Für die Aufgaben des Sportjournalismus ist dieser Fall deshalb bedeutsam und interessant, weil er ein Dilemma offenkundig macht. Einerseits ist gemäß der sportlichen Regularien (bzw. deren letztlicher Auslegung durch die damit betrauten Institutionen) an Froomes Wettkampfteilnahme und seinen Leistungen nichts zu beanstanden. Andererseits erscheint (nicht zuletzt aufgrund der langen Liste von Dopingfällen im Radsport aus der Vergangenheit) die Beurteilung durch die damit betrauten sportrechtlichen Instanzen zweifelhaft –

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Christopher Froome hat die Tour de France 2013, 2015, 2016 und 2017 gewonnen. Während der Vuelta a España 2017, die Froome ebenfalls gewann, wurde in einer Urinprobe Froomes das Asthmamedikament Salbutamol gefunden. Salbutamol ist ein für therapeutische Zwecke auch bei Sportlern durch die World Anti-Doping Agency (WADA) bis zu einem bestimmten Grenzwert zugelassenes Medikament. Bei Überschreitung dieses Grenzwerts wird davon ausgegangen, dass die Anwendung nicht therapeutischen, sondern leistungssteigernden Zwecken dient. Für solche Fälle ist laut WADA-Regeln vorgesehen, dass der betroffene Athlet die Möglichkeit erhält darzulegen, dass der überhöhte Wert nicht durch Dopingpraktik, sondern durch therapeutische Verwendung des Medikaments zustande gekommen ist. Erst wenn eine solche Erklärung nicht erfolgreich gegeben werden kann, wird eine Strafe wegen Dopings ausgesprochen, und erst dann handelt es sich auch um ein Dopingvergehen, das veröffentlicht wird. Deshalb sind neben Froome nur diejenigen Fälle bekannt, in denen es zu einer Verurteilung kam (vgl. Wynn 2018).

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dann aber nicht nur in der Causa Froome, sondern auch in allen anderen nicht bekannten Fällen von Salbutamol-Verwendung. Diese Erklärungsleistung wäre dem Sportjournalismus ohne Weiteres abzuverlangen. Denn er könnte einerseits zur Meinungsbildung des Publikums gegenüber der Sportgerichtsbarkeit und den im Sport geltenden Regeln beitragen, andererseits auch Kritik und Kontrolle an der Wettkampforganisation ausüben. Das Dilemma besteht nun aber darin, dass diese Informationsleistung gar nicht unabhängig von der Person Froome getroffen werden kann. Es liegt nämlich nicht in der Hand des Journalismus, wie die Meinungsbildung beim Publikum ausfällt und in welchem Maße sie sich gegen den Sportler und nicht gegen die mit ihm personifizierten (und möglicherweise im Moralurteil der Öffentlichkeit unzureichenden) Regeln richtet. Gleichwohl sind Kritik und Kontrolle, zusammen mit der Mitwirkung an der Meinungsbildung, nur über die zuerst genannte Funktion der Information zu haben. Sie ist daher die erste (und nicht nur die erstgenannte) Aufgabe des Sportjournalismus. Aus ihr folgt letztlich auch das Unterhaltungspotenzial des Sports, das ihn für die Medien und ihr Publikum als Inhalt interessant macht. Gerade die Unterhaltungsorientierung des Sports stellt den Sportjournalismus dabei aber vor Herausforderungen. »Sport, with its mixture of entertainment, drama and news values, offers a particular challenge for journalists in their need to both inform and entertain in an increasingly fast-paced news environment while addressing, in many cases, an increasingly knowledgeable audience.« (Boyle 2010: 181) Speziell für die Sportjournalisten beim Fernsehen gelten deshalb besondere Bedingungen. Denn die Fernsehsender investieren oftmals Millionenbeträge in Übertragungsrechte in der Hoffnung auf ökonomische wie auch Imagegewinne. Die bisherige Stellung des Fernsehens als Leitmedium des Sports verschiebt den Sportjournalismus zunehmend in den hybriden und stärker auf Unterhaltung ausgerichteten Bereich des sports broadcasting. Der Sportphilosoph Gebauer schlägt vor, dass die Sportjournalisten den Sport vielfältig interpretieren und ihm »einen verantwortungsvollen Sinn […] geben« (Gebauer zit. nach Horky/Kamp 2012: 43). Horky und Kamp knüpfen an diesen Gedanken an und erklären, dass es Aufgabe des Sportjournalismus sei, »auch das zu erkunden und zu zeigen, was den Sport jenseits der Bilder und des Ereignisses ausmacht: die Mechanismen und die Brüche, die sich hinter der glänzenden Fassade verbergen. Das beginnt mit den Schrammen, die der Sport sich selbst zufügt, die kleineren und größeren Betrügereien, die zum Teil erheblichen Einfluss auf Leistungen und Resultate haben.« (Ebd.)

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Diese Aufgaben erhalten ihre Dringlichkeit aber auch vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen des Sportmedienmarktes. Diese sind geprägt davon, dass Sportorganisationen zunehmend selbst eigene Medienorganisationen und Verbreitungskanäle schaffen (und damit das klassische Fernsehen unter Druck setzen). Im Radsport ist das dafür zu nennende Beispiel die Velon-Gruppe, die aus dem Zusammenschluss von ProTour-Teams entstanden ist und nicht nur eine Website und einen eigenen YouTube-Kanal unterhält, sondern auch eigene Rennserien veranstaltet und mit den Fahrern Verträge für Bildrechte von Onboard-Kameras abgeschlossen hat (vgl. k.A. 2014; Mattis 2017). Solche vornehmlich auf Unterhaltung und positive Darstellung des Sports ausgelegten Angebote sind von den Sportorganisationen nicht unabhängig. Die Bedingungen des dort angebotenen sports broadcastings sind also weniger hybrid als bisher im Fernsehen, weil die Information dort ganz im Dienst der Unterhaltung steht. Der Sportjournalismus klassischer Medien muss sich damit über kurz oder lang der Herausforderung stellen, hierzu einen Gegenpol zu bieten. Das betrifft nicht nur – wie bisher dargestellt – die Einhaltung der Regeln durch die Wettkampfteilnehmer, sondern auch die (zum Teil als Medialisierungsfolge beobachtbaren) Änderungen von Regeln sportlicher Wettkämpfe. Dabei sind die Sportorganisationen zunächst selbst dafür verantwortlich, dass auch grundlegend veränderte Regeln befolgt werden. Jedoch ist die bloße Einhaltung von Regeln noch kein Garant für einen fairen Wettkampf – und zwar dann, wenn die Regeln selbst Fairnessprinzipien außer Kraft setzen. Das kann zum Beispiel der Fall sein, wenn besonders prominente Sportler bei Spielansetzungen gegenüber weniger prominenten Sportlern bevorzugt behandelt werden, damit beispielsweise ein frühes Ausscheiden in Qualifikationsrunden vermieden wird. Angesichts der teilweise stark ausdifferenzierten Sportorganisationen (Veranstalter, Verbände, Vereine, Ligen etc.) ist es nicht selbstverständlich, dass Eingriffe in die Regeln immer dem Fairnessprimat folgen – insbesondere dann nicht, wenn sie in erster Linie der Unterhaltsamkeit und Spannung dienen, die ja gerade auch aus unfairen Vorteilen erwachsen können. Dass diese Herausforderung nicht nur theoretischer Natur ist, hat die Tour de France 2018 gezeigt. Hier wurde mit der 17. und nur 65 Kilometer langen Etappe eine im Vergleich zu bisherigen Austragungen sehr kurze Bergetappe veranstaltet, die zudem mit einem Grid-Start eine Änderung zum sonst üblichen neutralen Start bereithielt (vgl. k.A. 2017). Die Organisatoren versprachen sich davon eine von Beginn an schnelle und spannende Etappe. Dieses Vorgehen ist aus zwei Gründen interessant: Zum einen gehört es zu den Konsequenzen der Vergangenheit des

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Radsports, dass kürzere Etappen gefordert und eingeführt wurden. 9 Andererseits zeichnete sich die 2018er Tour auch dadurch aus, dass in einem während der letzten Jahren unbekannten Ausmaß prominente Athleten (in erster Linie Sprinter wie André Greipel oder Marcel Kittel) bereits vor der 17. Etappe ausgeschieden waren, weil sie das Zeitlimit nicht einhalten konnten (vgl. Mustroph 2018; dpa 2018; k.A. 2018): Die Bergetappen waren sehr schnell gefahren worden, was diesen Fahrern das Einhalten des relativ zur Siegerzeit der Etappe bestimmten Zeitlimits erschwert hatte. Für die kurze 17. Etappe wurde daher das Ausscheiden weiterer Sprinter erwartet, weil bei einer von Beginn an schnell zu fahrenden Bergetappe für diese (vergleichsweise schweren) Fahrertypen das hohe Tempo erneut zum Problem werden könnte. Das Dilemma, mit dem der Sportjournalismus umgehen muss, lässt sich folgendermaßen skizzieren: Einerseits wird eine spannende Tour gewünscht, weil sie unterhaltsamer erscheint, wenn der Gesamtsieger nicht bereits nach den ersten Bergetappen festzustehen scheint. Das ist auch im Sinne der übertragenden Medien, die von hohen Zuschauerzahlen profitieren, die sich vor allem mit spannenden Rennverläufen erreichen lassen. Dem Wunsch werden die Tour-Organisatoren immer wieder durch wechselnde Streckenverläufe und Anforderungen gerecht, die unterschiedlichen Fahrertypen entgegenkommen. Mal gibt es mehr, mal weniger Zeitfahrkilometer, mal werden Etappen auf dem berühmten Kopfsteinpflaster des Frühjahrsklassikers Paris-Roubaix (wie die neunte Etappe der Tour 2018) ausgetragen. Da die Bedingungen (Regeln) für alle Fahrer gleich sind, erscheinen diese Eingriffe im Hinblick auf Fairness zunächst nicht problematisch. Andererseits führt das Mehr an Spektakel aber auch zu mehr prominenten Ausfällen (sei es durch Stürze und Defekte auf Kopfsteinpflasteretappen oder durch Überschreiten des Zeitlimits). Damit erhöht sich zwar kurzfristig der Neuigkeitswert des Ereignisses, die Unterhaltsamkeit der Tour kann darunter dennoch leiden, vor allem wenn prominente Fahrer frühzeitig das Rennen verlassen müssen. Der Unterhaltungs- und Medialisierungsdruck steht damit in zweierlei Hinsicht in Konflikt mit dem sportlichen Grundprinzip. Zum einen erhöhen Regeländerungen den Beobachtungsbedarf im Hinblick auf deren Fairness. Zum anderen ist – wegen der langen Dopinggeschichte der Tour de France – auch immer zu hinterfragen, ob solche Änderungen den Anreiz zu dopen (also gegen Regeln zu verstoßen)

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Nach dem Dopingskandal (Festina-Affäre) von 1998 wurde bei der Tour ein zweiter Ruhetag eingeführt und die Gesamtdistanz auf heute rund 3500 Kilometer reduziert. Die bisher längste Tour de France war die Austragung von 1926 mit 5745 Kilometern. Waren in den Anfangsjahren der Tour noch Etappenlängen von bis zu 480 Kilometern üblich, beträgt die heute übliche Etappenlänge zwischen 150 und 250 Kilometern.

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nicht vergrößern können. Die Erörterung beider Aspekte gehört zur informativen Grundlage der Kommunikation über Leistung, steht aber im Widerspruch zu möglichst hoher Unterhaltsamkeit und Medieneignung. Vor diesem Hintergrund sollen im Folgenden bisherige Befunde zum Sportjournalismus dahingehend gesichtet werden, inwiefern die dargelegten Aufgaben des Sportjournalismus bereits erfüllt werden und vor welchen Herausforderungen die Sportjournalisten dabei stehen.

BERUFS- UND ROLLENVERSTÄNDNIS DER SPORTJOURNALISTEN Oben wurde gezeigt, dass die sportjournalistische Kommunikation über Leistung aus den Aspekten der Beobachtung dieser Leistung einerseits und andererseits auf der Einordnung dieser Leistung in Bezug auf die für den Leistungsvergleich notwendige Regelkonformität besteht. Daraus ergeben sich Konsequenzen für Information und Unterhaltung durch Sportjournalismus, die sich im Alltag der Sportredakteure als wirksam erweisen. Eine dieser Konsequenzen sind die teils deutlichen Unterschiede der Berufsauffassungen im Sport gegenüber anderen Ressorts (vgl. Hauer 2012). Diese werden damit erklärt, dass Sportjournalisten innerhalb der Redaktionen eine stärker abgegrenzte Gruppe bilden und wenig Austausch mit anderen Ressorts pflegen, unter anderem weil Sportredakteure seltener in andere Themengebiete wechseln (vgl. Wanta 2013: 84). Aus den Daten der Journalismusstudie von Weischenberg/Malik/Scholl geht hervor, dass 69 % der Sportjournalisten »dem Publikum Unterhaltung und Entspannung bieten« wollen, was Journalisten aller anderen Ressorts insgesamt nur zu 37 % als wichtigen Teil ihrer Aufgaben sehen (vgl. Weischenberg/Malik/Scholl 2006: 279-284). Ähnliches gilt für den Wunsch, durch die eigene Arbeit Politik, Wirtschaft und Gesellschaft kontrollieren zu wollen. Das geben nur 10 % der Sportjournalisten, aber 32 % der Politikredakteure an (vgl. ebd.). Gleichwohl wollen auch Sportjournalisten »Kritik an Missständen üben« (53 %) bzw. tun sie dies in ihrer Arbeit auch tatsächlich (47 %), womit sie nur wenig unter dem Durchschnitt (58 % Zustimmung, 43 % Umsetzung) liegen (vgl. ebd.). Insgesamt zeigen die meisten Befragungen von Sportjournalisten, dass sie sich zwar in erster Linie als neutrale Informationsinstanz sehen, aber stärker als Journalisten anderer Ressorts »Unterhaltung und Entspannung« bieten wollen (vgl. Hauer 2012; Kolb 2009; Weischenberg/Malik/Scholl 2006). Zusammenfassend lässt sich damit »vermuten, dass es Sportjournalisten nicht nur um die ›harte Information‹ und die

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›seichte Unterhaltung‹ geht, sondern dass sie auch ›unterhaltend informieren‹ und/oder ›informativ unterhalten‹ wollen.« (Schaffrath 2010: 259) Probleme der Berichterstattung über Doping Dem dargestellten Berufsverständnis entsprechend wird das Verhältnis der Sportjournalisten zum Gegenstand ihrer Berichterstattung an vielen Stellen als undistanziert charakterisiert (vgl. Hauer 2012: 168-206; Kautz 2011: 121f.; Leyendecker 2006). Doch gerade die Berichterstattung über Doping erfordert Distanz zu den Athleten und weiteren Sportakteuren (vgl. Kautz 2011: 183; Hauer 2012: 188194). Somit lassen sich die skizzierten Befunde auch – wie es die (Sport-)Soziologen Bette und Schimank tun – als zwei zu beobachtende Strömungen im Sportjournalismus zusammenfassen: Auf der einen Seite gibt es »unkritische Hofberichterstatter« und auf der anderen Seite »Dopingjäger« (Schimank/Bette 2006: 286). Während die einen Doping nicht thematisieren oder die Berichterstattung darüber sogar verhindern wollen, setzen sich Letztere aktiv und investigativ dafür ein. Ob diese Polarisierung angesichts der fortschreitenden Ausdifferenzierung auch des Sportjournalismus noch zutrifft, ist eine offene Frage. Ihle/Nieland haben mit Blick auf die Forschungslage darauf verwiesen, dass die Auseinandersetzung mit der Dopingproblematik in der Vergangenheit noch vergleichsweise selten stattgefunden hat, aber einzelne Redaktionen zunehmende Anstrengungen unternehmen, dies zu ändern (vgl. Ihle/Nieland 2013: 156, 167f.). Gleichwohl bestehen nicht bei allen Medien dieselben finanziellen und personellen Spielräume für entsprechende Recherchen und Veröffentlichungen (vgl. Schaffrath/Kautz 2017: 103; Schirm/Meier 2016: 158). Hinzu kommt, dass fast zwei Drittel der Sportjournalisten in Deutschland sich selbst nicht als ausreichend kompetent erachten, um über Doping zu berichten (vgl. Schaffrath/Kautz/Schulz 2016: 232). Bezüglich unterschiedlicher Aspekte des Dopings, wie den sportrechtlichen Bedingungen, der Physiologie und Medizin, aber auch der offiziellen Dopingdefinition und dem Code der Nationalen Anti-Doping-Agentur (NADA-Code), gibt durchgängig nur eine Minderheit von maximal einem Drittel der Sportjournalisten an, sehr große oder große Kompetenz zu besitzen (vgl. Schaffrath/Kautz/Schulz 2016: 234). Etwas mehr als die Hälfte der Sportjournalisten berichtet, bisher keine Gelegenheit gehabt zu haben, über Doping zu publizieren, und das, obwohl die meisten der von Schaffrath/Kautz/Schulz Befragten äußern, dass sowohl sie selbst als auch ihre Vorgesetzten Interesse an der Dopingthematik haben (vgl. ebd.: 232). Wenn über Doping also wenig berichtet wird, liegt das nicht zwangsläufig an einer zu großen Nähe zum Berichterstattungsgegenstand, sondern zumindest auch daran,

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dass »sich ein beträchtlicher Teil der Journalisten überfordert fühlt und die erheblichen rechtlichen Risiken investigativer Dopingberichterstattung scheut.« (Schirm/Meier 2016: 158) Trotz dieser vielleicht problematischen Rahmenbedingungen lässt sich im Längsschnitt eine Zunahme der Dopingberichterstattung belegen: »Seit Mitte der 1980er Jahre referieren die Medien in zuverlässiger Regelmäßigkeit im Rahmen der Sportberichterstattung dieses Phänomen, jedoch mit einer Konzentration der Dopingberichterstattung auf einige wenige Sportarten.« (Ebd.: 156f.) Inwiefern die Selbsteinschätzungen der Journalisten gegebenenfalls auch mit deren Zuständigkeit für bestimmte dopingintensive (oder zumindest dopingberichterstattungsintensive) Disziplinen in Zusammenhang stehen, lässt sich aus den vorliegenden Daten leider nicht ablesen. Zu den Vorwürfen gegenüber dem Sportjournalismus und vor allem dem Radsportjournalismus gehörte in der Vergangenheit auch, dass Doping nicht als strukturelles Problem, sondern individuelles Vergehen dargestellt wurde (vgl. Cuntz 2009; Ihle/Scharf 2007: 219-226; Schimank/Bette 2006: 21). Als journalistische Strategie erscheint das zumindest aus ökonomischer Perspektive auch plausibel, weil damit Sportübertragungen nicht generell in Frage gestellt werden – was aber letztlich nur für den Bereich des sports broadcasting gelten kann. Zumindest für die Sportberichterstattung deutscher Qualitätszeitungen konnten Starke/Flemming zeigen, dass dort keineswegs nur Einzelfälle und Individuen adressiert, sondern sehr wohl auch strukturelle Probleme thematisiert werden. Dabei liefern die Zeitungen auch Hintergrundinformationen, Argumente sowie vertiefende Analysen und bieten damit »a balanced discourse about the problem of doping and fulfil their role as opinion-forming media.« (Starke/Flemming 2017: 256) Zu den Befunden gehört aber auch, dass die Rolle der Medien im Sport-Medien-WirtschaftsKomplex kaum reflektiert wird. Doping wird als Problem des Sports und nicht der Medien oder der Gesellschaft angesehen (vgl. ebd.: 257). Dass Massenmedien sich nicht als Mitverursacher des Dopingproblems begreifen, stellen auch Schaffrath/Kautz als einen zentralen Befund der bisherigen Sportjournalismusforschung heraus (vgl. Schaffrath/Kautz 2017: 106). Probleme medialer Selbstbeobachtung Das Fehlen dieser Selbstreflektion in den Medien lässt sich möglicherweise als Indiz dafür werten, dass auch hinsichtlich anderer Einflüsse auf den Sport – insbesondere (mediengerechte) Regeländerungen – die Medien ihre eigene Rolle selten thematisieren. Das ist problematisch, denn aufgrund der oben skizzierten zwei-

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fach vermittelten Kopplungen des Sports an die Medien (über Medien und Ökonomie) ist der Sport auf die journalistische Beobachtung angewiesen, und das sportliche Leistungsvergleichssystem steht unter Medialisierungsdruck. Allerdings hat zumindest bisher die Sportkommunikationsforschung keine Befunde dazu vorgelegt, ob die Sportmedien diese Selbstreflektion erbringen (können). Es ließe sich insofern nur auf Basis einiger Daten zur Struktur des Sportjournalismus mutmaßen, in welchem Ausmaß diese mediale Selbstbeobachtung überhaupt Publizitätschancen hätte. Eine solche Herangehensweise wäre aber wenig zielführend, da die Berichterstattung über die Berichterstattung per se nicht Teil des Sportjournalismus im Sinne von Kommunikation über Leistung sein kann. Vielmehr handelt es sich um Kommunikation über (Medien-)Kommunikation. Da Studien zum Sportjournalismus eine solche Unterscheidung jedoch bisher nicht vornehmen, lässt sich nicht feststellen, inwieweit diese mediale Selbstbeobachtung stattfindet. Der blinde Fleck, der den Medien im Hinblick auf Doping und ihre eigene Rolle im Umgang mit diesem Phänomen vorgeworfen werden könnte, erweist sich insofern auch als ein blinder Fleck der Sportkommunikationsforschung, die bisher nicht in der Lage war, die mediensysteminhärenten Selbstbeobachtungsprozesse in den Blick zu nehmen. Mediale Selbstbeobachtung ist dabei längst in den Fokus der Kommunikationswissenschaft gerückt (vgl. Malik 2004). Eine daran anschließende Ausdifferenzierung für den Sportbereich steht hingegen noch aus. Dass dies bisher nicht geschehen ist, erscheint mit Blick auf die Tour de France und die damit verbundenen (oben geschilderten) Besonderheiten der Verquickung von Sportereignis und Medien als merkwürdig. Immerhin gehört es zu den Definitionskriterien von Sportgroßereignissen, dass auch zahlreiche Journalisten darüber berichten (vgl. Horne/Manzenreiter 2006: 3). Und der Tour-Tross, inklusive der mitreisenden Medienvertreter, ist zumindest anekdotisch immer wieder Teil der Berichterstattung über die Tour de France. Das Ausmaß der Betreuung der Journalisten durch den Tour-Veranstalter A.S.O. ist auch in der Sportkommunikationsforschung nicht unbekannt (vgl. Frandsen 2017: 161-165). In der Vergangenheit wurde kritischer Sportjournalismus – sowohl hinsichtlich der Rolle anderer sportexterner Anspruchsgruppen als auch in Bezug auf die Rolle der Medien selbst – als Folge der steigenden gesellschaftlichen Bedeutung des Sports und als Folge der verstärkten medialen Selbstbeobachtung erwartet und gefordert (vgl. Ihle/Nieland 2013: 168). Dies ist dahingehend zu präzisieren, als dass auch innerhalb des ausdifferenzierten Mediensystems eine solche Stärkung der eigenen Funktionen (des Sportjournalismus) in erster Linie durch weitere Ausdifferenzierung (durch mediale Selbstbeobachtung des Sportjournalismus) er-

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folgt. Dies sollte die Sportkommunikationsforschung berücksichtigen, um den Bedingungen und Folgen der zunehmenden Kopplungen von Sport, Medien und Wirtschaft gerecht zu werden.

KONSEQUENZEN FÜR DEN SPORTJOURNALISMUS UND DIE SPORTKOMMUNIKATIONSFORSCHUNG Resümierend lassen sich aus den dargelegten theoretischen Überlegungen und empirischen Befunden sowohl für den Sportjournalismus als auch für die Sportkommunikationsforschung Konsequenzen benennen. Die Sportkommunikationsforschung kann ihren Gegenstand genauer als bisher fassen, wenn Sportjournalismus als Kommunikation über Leistungskommunikation definiert wird. Das schließt nicht aus, dass dabei auch und gerade über die Sportorganisationen und dort möglicherweise vorhandene (demokratische) Defizite berichtet wird. Wenn über politisch oder (straf-)rechtlich relevante Vorgänge in Zusammenhang mit Sport publiziert wird, ist das aber nur dann als Sportjournalismus im engen Sinne zu verstehen, wenn die thematisierten Ereignisse den Vergleich sportlicher Leistungen als solche betreffen. Andernfalls handelt es sich um Politik- oder Kriminalitätsberichterstattung. Wenn Sportjournalisten also beispielsweise die politischen Entscheidungsvorgänge rund um den Grand Départ der Tour de France in Düsseldorf 2017 nicht umfassend beachten und auch nicht über die damit verbundenen hohen Kosten für die Kommune berichten, ist darin kein Versäumnis des Sportjournalismus zu sehen. Dasselbe gilt auch für die bis heute teils ungeklärten Umstände der Vergabe der Fußballweltmeisterschaft 2006 an Deutschland. Wenn solche Themen politisch oder ökonomisch relevant sind und in den Medien nicht oder nur unzureichend thematisiert werden, ist darin vielmehr ein jeweiliges Problem des Politik- oder Wirtschaftsjournalismus zu sehen. Oder genauer formuliert: An den Versäumnissen wird dann vor allem eine Folge der Ausdifferenzierung in den Funktionssystemen der Gesellschaft deutlich. Wenn die Kommunal- oder Sportpolitik für funktionierende eigene Kontrollmechanismen auf mehr Öffentlichkeit angewiesen sind als bisher, kann die journalistische Beobachtung der entsprechenden Vorgänge dabei förderlich oder sogar notwendig werden. Es kann eine Folge der Medialisierung des Sports sein, dass seine gesellschaftliche Relevanz den Sport mittlerweile auch zum Politikum macht. An seinem Charakter als Leistungskommunikation ändert das aber nichts. Zu fordern wäre insofern, dass die häufig zu beobachtende personelle All-Zuständigkeit in Sportredaktionen sowohl für Wettbewerbsergebnisse als auch für sportpolitische Vorgänge den analytischen

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Blick auf Sport oder Politik (oder Recht) bei der Erforschung von Sportkommunikation nicht trüben darf. Die hier vorgeschlagene Bestimmung von Sportjournalismus und seinen Aufgaben mündet in einer Neubewertung nicht nur bisheriger Forschungsergebnisse, sondern auch des sportjournalistischen Umgangs mit aktuellen Entwicklungen im Sport im Allgemeinen und bei der Tour de France im Besonderen. Die Befunde von Weischenberg/Malik/Scholl (2006) stellen für die Beschreibung des Journalismus in Deutschland sicherlich auch weiterhin die kommunikationswissenschaftliche Basis dar. Doch die hier mithilfe von zwangsläufig groben Kategorien ermittelten Unterschiede zwischen den Arbeitsbedingungen und den Rollenverständnissen von Journalisten in verschiedenen Ressorts erlauben noch keine Aussagen darüber, ob der Sportjournalismus, der Wissenschaftsjournalismus und der Politikjournalismus ihre (jeweilig auch unterschiedlichen) Funktionen für die jeweils betroffenen Systeme erfüllen. Gerade die von Weischenberg/Malik/Scholl und anderen (Sport-)Journalistenbefragungen dokumentierte Unterhaltungsorientierung von Sportjournalisten stellt zunächst kein Problem für das Funktionieren des Sportjournalismus dar. Nur wenn die Unterhaltsamkeit die Beobachtung von und Information über Fairness be- oder verhindert, wäre dies für den Sport problematisch. Wenn Sportjournalismus also gelegentlich als zu seicht kritisiert wird, weil er zu wenig politisch sei, kann das per se gar nicht als Kritik am Sportjournalismus verstanden werden. Es ist vielmehr Kritik am Politikjournalismus, der politische Vorgänge und Verflechtungen der Sportorganisationen nur unzureichend betrachtet. Wenn Sportjournalismus als Leistungskommunikation verstanden wird, lassen sich somit auch die eingangs erwähnten Vorwürfe ihm gegenüber differenziert bewerten. Erstens beschreibt das Distanzproblem zunächst nicht mehr als den Stil bestimmter Journalisten, ihre Arbeitsweisen und ihr Rollenverständnis. An dieser Stelle gilt es zuallererst zu klären, ob es sich bei der Kommunikation (über Sportler und Sport) tatsächlich um Sportjournalismus handelt. Portraits von Sportlern, die oft als unterhaltende Homestories präsentiert werden, sind nicht zwangsläufig als Sportjournalismus im Sinne von Kommunikation über Leistung zu kategorisieren. Ob es sich um guten Journalismus handelt, wenn Athleten von den Medienvertretern geduzt und geherzt werden, ist lediglich ein Geschmacksurteil, solange von diesem Stil die Kommunikation über die Leistung als fair erbrachte nicht beeinträchtigt wird. Ob das der Fall ist, oder ob die Nähe der Journalisten hierfür möglicherweise umgekehrt sogar förderlich ist, bleibt aus Sicht der Sportkommunikationsforschung eine offene Frage. Zweitens geht auch der Vorwurf, Sportjournalismus sei Teil der Unterhaltung, ins Leere. Im Gegenteil: Sportjournalismus – zumal als sports broadcasting – kommt ohne Unterhaltung gar nicht

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aus. Das bedeutet für die Sportkommunikationsforschung, dass sie nicht das Vorkommen unterhaltender Elemente bemängeln sollte, sondern sich vielmehr mit der Qualität dieser Elemente und der Frage, wie sie beim Publikum ankommen, auseinandersetzen sollte. Dabei sind die medienökonomische Perspektive und die Leistungskommunikation als unterschiedliche Seiten derselben Medaille zu betrachten: Mehr (oder bessere) Unterhaltung rechnet sich durch größeres (oder zahlungsbereiteres) Publikum. Die Unterhaltsamkeit (und damit in Teilen auch die Medialisierung des Sports) stößt dort an eine Grenze, wo entweder der Wettkampf nicht mehr fair stattfindet oder wo die Beurteilung und der Vergleich der Leistungen nicht mehr möglich sind. Damit ist dann schließlich drittens darauf hinzuweisen, dass der Vorwurf, Sportjournalismus befasse sich zu wenig mit Missständen und Fehlentwicklungen, nur dann zutrifft, wenn es sich um Entwicklungen handelt, welche die Fairness bzw. Regelkonformität des Wettkampfs aushebeln. Wenn Offenheit und der faire Ablauf nicht mehr garantiert sind – etwa durch Doping – dann muss der Sportjournalismus aufklären. Aufgrund der vielfältigen Verflechtungen zwischen dem Radsport und den Medien stellt die Berichterstattung über die Tour de France einen Präzedenzfall für die Herausforderungen des Sportjournalismus und der Sportkommunikationsforschung dar. Dies ist deshalb der Fall, weil bei der Tour wie in einem Brennglas die Interdependenzen zwischen Sport, Wirtschaft und Medien zu Tage treten. An zwei Vorgängen bei der Tour de France 2018 lassen sich die Herausforderungen für den Sportjournalismus und seine Erforschung konkretisieren: zum einen die Fanproteste gegen den Kapitän des Sky-Teams und mehrfachen Toursieger Froome wegen Dopingvorwürfen, zum anderen die Proteste einiger Landwirte gegen die Kürzung von Finanzhilfen an der Strecke der 16. Etappe. Diese Beispiele sind aktuell, aber historisch keineswegs alleinstehend, sondern in dieser und ähnlicher Form schon oft vorgekommen. Im Fall der Buhrufe gegenüber Froome und Protesten bis hin zu Handgreiflichkeiten muss der Sportjournalismus mit Wissen über diesen konkreten Dopingverdacht und mit Kompetenz in der journalistischen Präsentation dieses Vorgangs die Auswirkungen auf den Wettkampf behandeln. Es muss also konkret darauf hingewiesen werden, dass Froome gemäß dem Urteil der zuständigen Sportgerichtsbarkeit die bestehenden Regeln eingehalten hat. Zugleich aber müssen auch die möglichen Unzulänglichkeiten dieser Regeln benannt werden. Ebenso kann die – im Vergleich zu ähnlichen Fällen der Vergangenheit – ungewöhnlich lange Verfahrensdauer kritisiert werden, weil gegenüber den betrauten Institutionen der Verdacht einer Sonderbehandlung Froomes aufkam. Somit kann der Vorgang einen Beleg dafür abgeben, dass der Sportjournalismus die Dopingproblematik stärker als bisher ins Blickfeld nimmt, aber auch differenzierter als in der Vergangenheit darüber berichten sollte. Auch müsste im Sinne der

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Leistungskommunikation problematisiert werden, dass die gezielte Behinderung von Fahrern durch an der Strecke stehende Zuschauer getreu der sportlichen Fairness inakzeptabel ist und sie möglicherweise großen Einfluss auf den Ausgang des Rennens haben. Die Bauernproteste können dagegen innerhalb der Leistungskommunikation nicht verortet werden. Wenn Livereporter während der Übertragung diese Proteste politisch einordnen (oder nicht oder falsch einordnen), können auf dieser Basis keine Aussagen über die Güte des Sportjournalismus getroffen werden. Feststellen ließe sich allenfalls, dass Sportreporter auch als Politikjournalisten geeignet sind (oder ungeeignet sind). Zu kommentieren ist durch den Sportjournalisten, ob und in welchem Ausmaß die Jury-Entscheidung, das Rennen zu unterbrechen (aufgrund der Beeinträchtigung der Fahrer durch das von der französischen Polizei gegen die protestierenden Landwirte eingesetzte Tränengas), eine Wettbewerbsverzerrung darstellt oder nicht. Die Proteste der Bauern verweisen aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht aber auch auf Medialisierungsfolgen. Mit ihrer medienwirksamen Protestaktion während der Tour de France versuchten sie öffentliche Aufmerksamkeit zu erlangen und dadurch politische Entscheidungen zu beeinflussen. Dass die Tour dafür Gelegenheit bietet, ist Ergebnis ihrer langen – medienbedingten – Erfolgsgeschichte.

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Der Sport-Medien-Komplex und die Tour de France Christian Tagsold

Wenn man eine Etappe der Tour de France im Fernsehen anschaut, erfährt man üblicherweise nicht nur etwas über Ausreißer, den Versuch des Feldes, wieder aufzuholen, dramatische Stürze oder Sieger und Verlierer. Über diese sportlichen Momente hinaus lernt man viel über die Landschaft und die kleineren und größeren Städte entlang der Strecke. Die Übertragung einer Etappe dauert in der Regel vier bis fünf Stunden und endet zur besten Vorabendsendezeit gegen kurz vor sechs Uhr. Kaum ein Zuschauer wird die gesamte Sendung voll konzentriert vor dem Bildschirm verfolgen, sondern vor allem auf Höhepunkte wie Bergankünfte und den abschließenden Sprint achten. Die Reporter reden ebenfalls nicht ständig nur über den sportlichen Verlauf des Rennens, die Form der Fahrer und Begebenheiten der vorhergehenden Etappen, die die aktuellen Strategien der Teams bestimmen könnten. Oft flechten sie zwischendurch Bemerkungen über die Gegend ein, durch die sich das Peloton bewegt, und manchmal greifen sie ein markantes Bauwerk heraus, nicht selten eine alte Kirche, und versorgen die Sportfans mit etwas Hintergrundwissen. Solche Kenntnisse wirken erstaunlich und man kann sich vorstellen, wie viel Zeit es gekostet haben muss, all diese für den eigentlichen Ablauf des Rennens eher nebensächlichen Fakten zu recherchieren. Doch kaum einem Zuschauer ist klar, dass die Randgeschichten nicht zufällig im Fernsehen landen. Dahinter steckt eine genaue Planung der Amaury Sport Organisation (A.S.O.), welche die Tour de France ausrichtet, und ihres Medienpartners France Télévisions (FT), des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Die A.S.O. ist ein privates Unternehmen, das allein schon deshalb nicht nur den sportlichen, sondern auch den finanziellen Erfolg des Radsportspektakels fest im Blick hat. FT legitimiert sich dagegen über Einschaltquoten und kann mit der Übertragung der Tour einem wichtigen Informationsauftrag nachkommen, ist doch das Radrennen längst ein nationales Kulturgut geworden (vgl. Vigarello 2005). Da die Tour de

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France eines der größten globalen sports mega-events darstellt, ist es prinzipiell nicht schwer, Gewinn zu erwirtschaften und gute Einschaltquoten zu erzielen, aber mit einer geschickten Strategie lassen sich selbstverständlich die Einnahmen steigern und noch mehr Zuschauer vor die Bildschirme locken. Dass Fernsehreporter die Schönheiten der Landschaft preisen, ist Teil dieses geplanten Vorgehens, und insofern werden die Reporter von der A.S.O. für ihre Zwecke eingespannt. Auf der anderen Seite profitieren die übertragenden Sender ebenfalls davon, lässt sich eine pittoreske Route dem Publikum doch wesentlich besser vermitteln und sorgt sie für höhere Einschaltquoten als die Fahrt durch langweilige und nichtssagende Landschaften. Die genauen Techniken und Gründe, wie die Fernsehjournalisten, die A.S.O. und FT gemeinsam das mediale Narrativ der Tour de France erzeugen, sind das Thema dieses Beitrags. Der methodische Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass es Produktionsbedingungen für das Medienereignis Tour de France gibt, die sich analysieren lassen. Leider geschieht genau das in der Forschung zu globalen sports mega-events im Allgemeinen und zur Tour de France im Besonderen viel zu selten. Wenn der Zusammenhang zwischen Sport und Medien für diese Großereignisse untersucht wird, steht häufig nur der Stream der Botschaften im Fernsehen, Internet oder Radio im Fokus, jedoch nicht die Frage, unter welchen Bedingungen diese vor Ort entstehen. So hat Keiran J. Dunne (2013) in seinem umfassenden Buch The Tour de France, 1903-1998: A Window on Twentieth-Century French Cultural History zwar ausführlich sowohl die Entwicklung der Rahmenbedingungen der Tour als auch der medialen Darstellung historisch beschrieben. Die Membran zwischen Sport und Medien, an der das Ereignis in die Zeitungen, das Radio oder das Fernsehen übersetzt wird, hat er jedoch weitestgehend ignoriert. Dies hängt zu einem hohen Grad mit der Unzugänglichkeit von sports megaevents zusammen. Forscher haben praktisch nie die Möglichkeit, das strikt abgeschirmte Innere solcher Veranstaltungen kennenzulernen (vgl. Tagsold 2008: 78). Damit können sie nur in sehr seltenen Fällen überblicken, wie Journalisten arbeiten, welche Möglichkeiten ihnen eingeräumt werden und mit welchen Einschränkungen sie leben müssen. Diese strenge Kontrolle des Zugangs ist tatsächlich Teil der Produktionsbedingungen und wird daher ebenfalls besprochen werden. Meine Erfahrungen in diesem Bereich beruhen auf der Tätigkeit als Mitarbeiter des lokalen Organisationskomitees (LOC) von fünf großen Fußballturnieren, darunter die FIFA-Weltmeisterschaft 2006 und die FIFA-Frauenweltmeisterschaft 2011 (vgl. Tagsold 2008). Ich war Team Liaison Officer von japanischen Nationalteams und in dieser Funktion vor allem damit betraut, die Kommunikation zwischen dem LOC, der FIFA und der Teamdelegation reibungslos zu gestalten. Dazu gehörten eine Reihe von Aufgaben im Medienbereich, wie Pressekonferenzen vor

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Spielen zu dolmetschen oder Anfragen von Reportern an den Media Officer der Teamdelegation weiterzuleiten. Damit war ich zwar nicht für die A.S.O. oder im Rahmen der Tour de France im Einsatz, doch die Arbeitsbedingungen für Medienvertreter sind bei sports mega-events relativ ähnlich. Die A.S.O. arbeitet mit vergleichbaren Vorgaben und Ansprüchen wie die FIFA bzw. alle anderen Ausrichter entsprechender Ereignisse. Der Hauptunterschied zwischen Fußball und dem Radsport ist im Wesentlichen, dass die Arbeit der Journalisten und der Medienabteilung der A.S.O. durch die Entfernungen, die das Peloton zurücklegt, komplexer wird. Das gilt sowohl für die einzelnen Etappen der Tour, die bis zu über 200 Kilometer lang sein können, als auch für die Gesamtroute, die durch ganz Frankreich und in der Regel zudem kurz ins Ausland führt. Dadurch sind die Anforderungen an die Logistik und im Bereich der Fernsehübertragung an die technische Koordination hoch. Trotzdem werden Fußball und Radrennen in ganz ähnliche Narrative für die Zuschauer übersetzt. Die Grundlage für die angerissenen Phänomene ist der Sport-Medien-Komplex, der im ersten Abschnitt thematisiert wird und der die Reziprozität beider Bereiche erklärt. Denn selbst wenn es in der Einleitung so gewirkt haben mag, als ob die A.S.O. am längeren Hebel säße oder zumindest richtig erkannt hätte, wie man die Medien zu ihren Gunsten manipulieren kann, herrscht doch im Großen und Ganzen ein Gleichgewicht zwischen beiden Seiten. Anschließend werden die Arbeitsbereiche vorgestellt, die bestimmen, wie die Sportjournalisten mit dem Event in Berührung kommen und wie sie ihren Arbeitsalltag strukturieren. Schließlich kehren wir zur Ausgangsfrage nach der Kontrolle der Story zurück, die über die Tour erzählt wird.

DER SPORT-MEDIEN-KOMPLEX Der Ausgangspunkt für die Analyse von Sportberichterstattungen ist die Theorie des »sport/media complex«. Dieser Begriff stammt ursprünglich aus der marxistischen Sportanalyse seit Mitte der 1980er Jahre. Er wurde von Sut Jhally (1984), einem Professor für Kommunikation der University of Massachusetts, geprägt und war so überzeugend, dass er sich durchgesetzt hat und inzwischen breit verwendet wird, wobei er seine marxistische Prägung verloren hat (vgl. Rowe 2013). Aus Sport und Medien ist im Verlauf des 20. Jahrhunderts ein Komplex geworden, weil beide gesellschaftlichen Bereiche stark aufeinander verweisen und voneinander abhängig sind. Dieser Sport-Medien-Komplex ist das Produkt eines langen Prozesses. Im Prinzip lässt sich die wechselseitige Abhängigkeit bis in das ausge-

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hende 19. Jahrhundert zurückverfolgen, und die Tour de France ist eines der frühen Paradebeispiele. Die Rundfahrt wurde von der Zeitung L’Auto 1903 ins Leben gerufen. L’Auto war damals eine der zwei großen Sportzeitungen in Frankreich, hatte allerdings Probleme, sich gegenüber der älteren und besser etablierten Le Vélo zu behaupten. Deshalb beschloss man, ein Event zu schaffen und darüber zu berichten, um neue Leser zu gewinnen und die Auflage zu steigern (vgl. Vigarello 2005: 462). Die Zeitung generierte also einfach selbst Sportnachrichten, doch dieses Vorgehen ist keineswegs ungewöhnlich. Beispiele dafür finden sich in der ganzen Welt, nicht nur in Frankreich. So initiierte in Japan eine Tageszeitung in den 1920er Jahren das jährliche Baseballturnier der Oberschulen, welches auch heute noch das größte Sportereignis des Landes ist, und zwei von zwölf Profiteams im Baseball gehören Tageszeitungen (vgl. Ariyama 1997). In den USA wurde 1960 die American Football League als Konkurrenz zur National Football League gegründet. Möglich und erfolgreich war das nur, weil die Sendeanstalt ABC direkt einen lukrativen Fernsehvertrag mit der neuen Liga schloss, um damit gegen die beiden Konkurrenzanstalten CBS und NBC ins Feld zu ziehen (vgl. Cashmore 2000: 315). 1970 vereinigten sich die NFL und die AFL zur heutigen NFL. Anfänglich war jedoch die Abhängigkeit des Sports von den Nachrichten in vielen Bereichen noch nicht so extrem wie heute – eher brauchten die Zeitungen den Sport. Die Berichterstattung erzielte noch keine unmittelbaren Gewinne für die Veranstalter der Wettbewerbe, sondern verschaffte nur eine größere Aufmerksamkeit, welche allerdings genutzt werden konnte, um Sponsoren und Mäzene anzuziehen. Mit den Massenmedien Radio und Fernsehen begannen sich die Relationen zu verschieben. Das liegt unter anderem daran, dass beide Medien technisch bedingt einen besonderen Zugang zu den Events brauchen. Ein Zeitungsreporter muss ein Sportereignis nur vor Ort gesehen haben, um darüber schreiben zu können. Schnelle Übertragungswege für seine Berichte sind sicher hilfreich, aber nicht unbedingt an den unmittelbaren Austragungsort gebunden. Für eine Fernsehübertragung müssen jedoch Kameras geschickt aufgestellt werden und die Übermittlung des Signals muss gesichert sein. Das ist in vielen Sportarten ohne die Kooperation mit den Veranstaltern nicht möglich und gibt letzteren daher mehr Einflussmöglichkeiten – ein Punkt, der sich bis heute nicht wesentlich geändert hat. Mit den jeweils neuen Verbreitungsformen schrieb der Sport grundlegend Mediengeschichte mit (vgl. Zielinski 1989: 157). Die Olympischen Spiele in Berlin 1936 waren der Anlass für die erste Fernsehliveübertragung, und die Spiele 1964 in Tokio brachten die erste globale Liveübertragung in Farbe, wobei das Signal über einen US-amerikanischen Satelliten in alle Welt gesendet wurde (vgl. Tagsold 2002: 106f.). Die Tour de France hat ebenfalls ihre eigenen Meilensteine

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in dieser Hinsicht aufzuweisen, und sie konnte damit die Entwicklung der Medien maßgeblich formen (vgl. Thompson 2006: 49). So ist gerade während der Bergetappen die aufwendige Liveübertragung mit Hilfe von Hubschraubern und die Weiterleitung des Signals ins zentrale Sendezentrum und von dort aus in die ganze Welt ein technisch nicht ganz einfach zu lösendes Problem (vgl. Dunne 2013: pos. 3911). Ähnliches gilt für die Begleitung des Felds durch Motorradkameras. Selbst heute ist immer wieder die Verbindung für das Signal zu schwach, so dass es in der Fernsehberichterstattung zu Aussetzern kommt, welche die Regie jedoch angesichts der vielen zur Verfügung stehenden Kameras schnell durch Umschalten übergehen kann. Durch das Fernsehen konnte der Sport größere Aufmerksamkeit erreichen und mehr Menschen gleichzeitig ansprechen als zur Zeit der Printmedien. Hierfür musste er sich freilich selbst mediengerechter ausgestalten. Dadurch wurde eine Entwicklung fortgeschrieben, die in der Genese des Sports im 19. Jahrhundert ihren Ausgangspunkt hatte. Zunächst stellte die Herausbildung einer modernen Gesellschaft jene Zeitkontingente bereit, die es Menschen ermöglichten, regelmäßig Sport zu treiben oder ihn als Zuschauer zu konsumieren. Außerdem wird der Sport durch ein einheitliches Regelsystem und eine grundlegende Werthaltung bestimmt (vgl. Guttman 1978). Beides ist ohne eine zunehmende globale Verflechtung, wie sie im 19. Jahrhundert durch die fortschreitende Industrialisierung und den Imperialismus erzwungen wurde, nicht denkbar. Für die Bedürfnisse der Medien und die Möglichkeiten des Sports, daraus finanziellen Gewinn zu erzeugen, wurden die Regeln noch einmal umgeschrieben und angepasst. Seit dem späten 19. Jahrhundert hat sich die den Menschen im Westen zur Verfügung stehende Freizeit noch einmal deutlich ausgeweitet, während es durch Radio und Fernsehen erheblich leichter wurde, Sport zu verfolgen. Die allermeisten Sportarten sind seitdem schneller und dramatischer geworden, während sie gleichzeitig Pausen einräumen, um Werbung in Fernsehsendungen zu integrieren, ohne etwas Wichtiges zu verpassen. Basketballspiele der NBA in Nordamerika gehen nicht wie sonst weltweit üblich über zwei Hälften, sondern über vier Viertel, weil so zwei zusätzliche Werbeblöcke eingefügt werden können. Außerdem werden den Teams ganz bewusst viele Auszeiten zugestanden, die ebenfalls mit Werbeeinblendungen überbrückt werden können. In der Halle kann ein NBA-Spiel daher eine etwas zähe Angelegenheit werden, weil der Spielfluss immer wieder unterbrochen wird, doch für die Einnahmen der Liga und der Teams kommt es vor allem auf die Fans vor den Fernsehbildschirmen an. Die Tour de France bedarf keiner zusätzlichen Pausen, damit die Sender Geld verdienen können. Die Dramaturgie der Etappen erlaubt relativ problemlos längere Unterbrechungen der Liveübertragung. Sollte sich das Rennen in diesen Momenten zum Beispiel durch Ausreißversuche zuspitzen, kann

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man die Geschehnisse leicht durch kurze Rückblenden aufarbeiten. Die Zielankünfte werden immer so geplant, dass sie zur besten Vorabendsendezeit und noch deutlich vor den Abendnachrichten liegen. Wie präsentieren sich heute die Machtverhältnisse im Sport-Medien-Komplex und inwiefern sind beide Seiten voneinander abhängig? Mit Sport ist hier selbstverständlich professioneller Sport gemeint, denn eine C-Klassen-Mannschaft im Fußball oder ein lokaler Radtreff mit Hobbycharakter kommt problemlos ohne Berichterstattung aus. Für Manchester United oder die Tour de France gilt das schon weit weniger. Das lässt sich sehr einfach daran ablesen, woher das Geld für den Profisport stammt. Ursprünglich waren in den meisten Sportarten einmal Eintrittskarten für Zuschauer die Grundlage der Professionalisierung, also nichts anderes als Zugangsberechtigungen zu räumlich abgeschlossenen Ereignissen. Die Tour de France verlegte zeitweise die Zielankunft in Sportstadien, um Einnahmen durch Eintritt zu generieren, eine Praxis, die heute längst vergessen ist (vgl. Dunne 2013: pos. 4878). Inzwischen wird der Etat der Tour knapp zur Hälfte durch Fernsehrechte eingespielt, und für die Medien ebenso wie die Zielstädte würde eine Ankunft in einem Sportstadion bei Weitem nicht so attraktive Bilder erzeugen wie ein Etappenziel mitten im Stadtzentrum. Der Anteil der Finanzierung verteilte sich bei der Tour de France 2010 wie folgt: 44 % der Gelder stammten aus Fernsehübertragungsrechten, 51 % aus Merchandising sowie Sponsoring. Die noch fehlenden 5 % kamen durch jene Kommunen in den Topf, die den Start oder das Ende einer Etappe ausrichten wollten, sich davon einen Werbewert versprachen und die A.S.O. dementsprechend dafür bezahlten (vgl. Andreff 2016: 237). Im Vergleich dazu sind Einnahmen im professionellen Fußball stärker an die Medien, vor allem jedoch an Erlöse aus Eintrittskarten gebunden. In der englischen Premier League verteilten sich die Einnahmen 2010 wie folgt: 50 % TV-Rechte, 22 % Merchandising und Sponsoring, 27 % Ticketverkäufe (vgl. ebd.). Scheinbar ist die Tour also in etwas geringerem Ausmaß vom Fernsehen abhängig als die Premier League und Fußball im Allgemeinen. Allerdings stellt sich die Frage, wie viele Städte bereit wären, für einen Etappenstart, eine Zielankunft oder auch nur ein Durchqueren des Ortskerns durch das Peloton zu zahlen, wenn das Fernsehen nicht berichten würde. Ebenso würden sich Unternehmen wohl kaum dazu bereit erklären, ganze Teams zu sponsern, würden ihr Name und ihr Logo auf den Trikots dadurch nicht für einige Wochen jeden Abend zu einer guten Sendezeit auf den Bildschirmen erscheinen. Die Tour ist folglich stark auf die Übertragung durch das Fernsehen angewiesen. Die A.S.O. kann andererseits entsprechende Preise für die Übertragungsrechte aufrufen, was zeigt, dass das Ereignis Tour de France für das Fernsehen durchaus lukrativ ist. Die Gelder werden entweder durch die Werbung oder durch die Abgaben der Gebührenzahler wieder

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eingespielt. Doch selbst im Falle öffentlich-rechtlicher Fernsehanstalten wie ARD und ZDF würde man kein Event einkaufen, das keine guten Einschaltquoten garantiert – die ökonomische Logik ist hier nicht wirklich außer Kraft gesetzt, sie ergibt sich nur aus anderen Faktoren. Es ist immer wieder diskutiert worden, wer im Sport-Medien-Komplex am längeren Hebel sitzt. Jhally vermutete in seiner bereits zitierten Studie aus dem Jahr 1984 zunächst, dass es wohl die Medien seien, weil professioneller Sport ohne Gelder aus Übertragungsrechten nicht durchführbar sei. Schaut man sich allerdings an, wie die Bieterwettkämpfe in den letzten Jahrzehnten für die verschiedenen Sportarten abgelaufen sind und welche Summen letztendlich gezahlt werden mussten, wird klar, dass die Mediengruppen heftig miteinander konkurrieren. Seit Jhallys Untersuchung hat sich wahrscheinlich eine Art Gleichgewicht eingestellt, das vermuten lässt, dass der Komplex längst fest verschweißt ist. Manche Sportarten wie der Fußball haben davon in besonderem Ausmaß profitiert, und es stehen ihnen unglaubliche Geldmittel zur Verfügung. Andere Disziplinen haben dagegen konstant Schwierigkeiten, die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, und sie können deshalb nur auf geringe Einnahmen bauen. Selbst wenn zwischen Sport und Medien Ausgewogenheit herrscht, gibt es in beide Richtungen sicherlich Ausschläge der Waage, je nach Disziplin und Markt für die Medien. Da beide Seiten in einem engen gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis stehen, lässt sich leicht erschließen, was tunlichst vermieden werden sollte, um den Wert von sports mega-events nicht zu beschädigen. Für die Medien ist es zunächst einmal nur äußerst bedingt interessant, den Profisport kritisch anzugehen. Wichtiger erscheint es, über ihn und seine Popularität Gewinne zu erzeugen. Das geht aus Sicht der Medien am besten, indem man Werbung für Sport macht und versucht, die Regeln fernseh- und vermarktungsgerechter zu gestalten. Deswegen fächern zum Beispiel die Spieltage der europäischen Fußballligen immer mehr auf, damit die Vermarktung einzelner Spiele leichter wird. Aus Sicht der Sportverantwortlichen ist wiederum ein möglichst dramatisches Geschehen und ein sauberes Image wichtig – aber gleichzeitig die Erschließung neuer Märkte bzw. die optimale Versorgung der bestehenden. So musste die japanische Fußballnationalmannschaft bei der WM 2006 in der Vorrunde zweimal in der Sommerhitze um 15 Uhr spielen, statt wie alle anderen Teams jeweils einmal um 15, 18 und 21 Uhr, weil so der japanische Fernsehmarkt aufgrund des Zeitunterschieds perfekt bedient werden konnte. Die amerikanischen Profiligen im Basketball, Eishockey, American Football und Baseball haben wiederum ein ausgeklügeltes System, wie die Teams neue Spieler rekrutieren dürfen. Diese DraftRegeln stellen sicher, dass immer wieder unterschiedliche Mannschaften die

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Meisterschaft gewinnen und der Abstand zwischen den besten und schlechtesten klein genug bleibt, damit Matches nicht uninteressant werden. Im Zentrum des Sport-Medien-Komplexes ist den Interessen beider Seiten jedenfalls am besten gedient, wenn einfach nur über packenden Sport berichtet wird und alle anderen Fragen außen vor bleiben. Dafür braucht es Arbeitsbedingungen, die es allen Beteiligten einfach machen, Sport in ein spektakuläres und dramatisches Medienereignis zu überführen.

DIE KONTROLLE DER STORY Das wichtigste Medium, um Sport für das breite Publikum in einer dramatischen Form aufzubereiten, ist derzeit das Fernsehen. Eine Veranstaltung wie die Tour de France basiert daher zunächst vor allem auf einem einheitlich hergestellten Fernsehfeed, den France Television als Partner der A.S.O. bereitstellt (vgl. Wallace 2016). Das heißt, dass alle Stationen, die mit der A.S.O. Übertragungsrechte ausgehandelt haben, eine Liveübertragung mit Ton von der Strecke in ihr Netz eingespielt bekommen. Die Sender müssen dann das Geschehen nur noch selbst in ihrer Landessprache kommentieren lassen. Die Kommentatoren können in Kabinen an der Strecke sitzen und damit zumindest einen kleinen Ausschnitt live verfolgen, sie können indes genauso fernab des eigentlichen Geschehens in einem Studio im Sendezentrum arbeiten. Durch den Feed senden alle Vertragspartner dieselben Bilder. Natürlich kann man mit der passenden Akkreditierung eigene Kamerateams an den Straßenrand stellen und so den Feed ab und an mit selbst produziertem Filmmaterial anreichern. Das ergibt sicherlich Sinn, wenn man vor allem über einen bestimmten Fahrer berichten möchte, der womöglich in der Heimat ein Star ist und die Massen besonders vor den Fernseher lockt. Ebenso kann man vorproduzierte Interviews und Begehungen der Strecke zwischenschalten. Doch die eigentlich spannenden Aufnahmen, zumal aus den Bergen, sind sehr aufwendig produziert. Motorräder fahren dem Feld hinterher oder voraus, Hubschrauber machen Aufnahmen aus der Vogelperspektive und dienen gleichzeitig quasi als Antennen für die Weiterleitung der Signale der Kameras am Boden. Es wäre nicht besonders effizient, wenn jeder Sender komplett mit eigenen Aufnahmearrangements arbeiten würde. Die Zahl der Motorräder auf der Strecke muss zum Beispiel möglichst niedrig gehalten werden, um Unfälle zu vermeiden. Dieser Feed gibt jedoch der A.S.O. in Zusammenarbeit mit FT offensichtlich Kontrolle darüber, was weltweit auf den Fernsehschirmen zu sehen ist. Die FIFA stellt bei ihren Turnieren ebenso einen Feed, und die Fußballzuschauer bemerken manchmal sehr konkret, was es bedeutet, dass der Veranstalter Kontrolle über die

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Bilder ausüben kann. Wenn es zu Zwischenfällen kommt, beispielsweise wenn ein Flitzer auf den Rasen gelangt und eine Spielunterbrechung herbeiführt, werden in der Regel neutrale Bilder eingeblendet (vgl. Tagsold 2008: 97). Die Kommentatoren erklären dann zwar, warum das Spiel gerade nicht weiterläuft, doch die Fernsehzuschauer bekommen den eigentlichen Grund für die Unterbrechung nicht zu sehen. Die A.S.O. und FT steuern mit den Bildern noch viel weitreichender das Image der Tour de France. Es werden immer wieder Sequenzen der Landschaft und der Ortschaften an der Strecke gezeigt. Das lockert das Geschehen auf und macht aus der Tour eine kleine landeskundliche Bildungsreise für Sportfans. Diese Schnitte sind gleichzeitig die Grundlage dafür, dass Kommunen sich dazu bereit erklären, dafür zu bezahlen, dass sie in den Streckenplan des Rennens aufgenommen werden (vgl. Vigarello 2005: 471). Für sie ergibt sich aus der Kontrolle der A.S.O. und FT über den Feed die Sicherheit, auf diese Weise relativ direkt Übertragungsminuten im Fernsehen zu kaufen. Die angeschlossenen Fernsehanstalten und ihre Kommentatoren können in diesen kurzen Sequenzen die Anregung aufnehmen und vom sportlichen Geschehen abschweifen. Sie sind wohlgemerkt nicht dazu verpflichtet, sondern es steht ihnen frei, diese Pausen anders zu nutzen, indem sie zum Beispiel Hintergründe zu Strategien erläutern oder über die Verletzung eines Sportlers berichten. Aber es liegt einfach nahe, etwas über die Schönheit der Route zu erzählen, zumal oft historisch interessante Bauwerke oder eindrucksvolle Naturbilder gezeigt werden, während Industriegebiete praktisch nie auf den Bildschirm kommen. Es ist allerdings nicht nur der Feed, der bestimmt, was die Zuschauer vorgesetzt bekommen. Immerhin können die Kommentatoren durch ihre Arbeit die Bedeutung der Bilder für den Zuschauer grundlegend beeinflussen. Oft wundert man sich dabei, welch umfangreiches Wissen Sportkommentatoren zu den Sehenswürdigkeiten am Rand der Strecke bereithalten und über Stunden hinweg abrufen können. Eine extrem umfangreiche Recherche scheint die Grundlage der Kommentatorenarbeit zu sein. Ein guter Veranstalter nimmt den akkreditierten Sportjournalisten jedoch diese Arbeit ab und gibt ihnen einen ausführlichen sogenannten Mediaguide an die Hand, der alle relevanten Informationen bietet. Der Mediaguide der Tour de France ist das Livre de Route, ein dickes Buch, das alles enthält, was die Reporter über die Geschichte der Tour, die teilnehmenden Teams und den Streckenverlauf wissen müssen. Die A.S.O. lässt die Strecke ausführlich vorrecherchieren und fasst die Informationen im Livre de Route zusammen.

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Abbildung 1: Die erste Etappe der Tour 2017 im Livre de Route

Quelle: https://drive.google.com/drive/folders/0B6g1gOm2sMzAOElxMUJMNzFwMTg

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Das Düsseldorfer Einzelzeitfahren verlief zunächst vom Norden kommend in Richtung Innenstadt, führte dann über den Rhein in den Stadtteil Oberkassel und dann erneut durch das Zentrum zurück zum Ausgangspunkt. Dadurch wurden die wichtigsten markanten und werbewirksamen Punkte der Stadt wie die Königsallee passiert. Mit der Fahrt entlang des Rheins und seiner Überquerung war es außerdem möglich, eindrucksvolle Gesamtansichten des Stadtzentrums zu zeigen. Gleichzeitig ermöglichte es der Start am Düsseldorfer Nordpark, Flächen für die Teams, die Sendeanstalten, Sponsoren und schließlich Tribünen für das Publikum problemlos aufzubauen. Abbildung 2: Informationen zum geplanten Ablauf des Zeitfahrens in Düsseldorf

Quelle: https://drive.google.com/drive/folders/0B6g1gOm2sMzAOElxMUJMNzFwMTg

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Ähnlich wie bei der Produktion des Feeds wird durch das Livre de Route ein komplexer und zeitaufwendiger Arbeitsschritt mit hoher Effizienz ausgeführt, so dass die Ergebnisse allen zur Verfügung stehen. Aber diese Effizienz hat ihren Preis. Über den Mediaguide kann der Veranstalter sehr zielgerichtet beeinflussen, was Reporter im Fernsehen berichten. Im Fall der Tour de France ist ein Zweck zweifellos, die Landschaft und die Städte, durch die das Peloton rollt, in einem guten Licht erscheinen zu lassen – zum einen als großartige Kulisse für die Tour, zum anderen als potenzielles Urlaubsziel für die Zuschauer. Abbildung 3: Informationen zum Start- und Zielort der zweiten Etappe im Livre de Route von 2017

Quelle: https://drive.google.com/drive/folders/0B6g1gOm2sMzAOElxMUJMNzFwMTg

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Diese Seite zu Düsseldorf und Lüttich, dem Ausgangspunkt der zweiten Etappe, konstruiert kurze Idealbilder beider Städte. Düsseldorf wird als Stadt der Mode und wichtiger Wirtschaftsstandort vorgestellt. Die Abbildungen verstärken die Botschaft, dass Düsseldorf eine Art Klein-Paris ist, wie es im Livre genannt wird. Sowohl der Feed als auch das Livre de Route sind zunächst insbesondere für die Fernsehberichterstattung relevant. Zeitungsjournalisten nutzen beides jedoch ebenso. Sie greifen gerne auf die vorrecherchierten Informationen zurück und können den Rennverlauf letztendlich kaum anders als über das Fernsehen, also den Feed, verfolgen. Es ist unmöglich, das Feld über die ganze Strecke in irgendeiner anderen Form zu begleiten, schon gar nicht, wenn es sich aufsplittet. Um die Zeitungsberichte trotzdem spannend zu gestalteten und gegenüber dem Fernsehen einen Mehrwert zu erzeugen, sind Hintergrundinformationen und vor allem kurze Zitate der Protagonisten eines Rennens äußert wichtig. Hier kann die A.S.O. die Story der Tour nicht im selben Umfang kontrollieren wie über den Feed des Medienpartners FT und das Livre de Route. Doch selbst bei den Print- und Onlinemedien gibt es grundlegende Rahmenbedingungen, die beeinflussen, wie Artikel anderntags in der Zeitung oder direkt nach dem Rennen im Internet aussehen und auf welche Inhalte Wert gelegt wird.

ZONEN DER BEGEGNUNG Die Medienarbeit bei sports mega-events unterliegt klaren Regeln und Regulierungen. Allein die Zahl der berichtenden Journalisten bei großen Sportereignissen bedingt dies. Bei einer Fußballweltmeisterschaft der Herren sind inzwischen um die 15.000 Journalisten vor Ort, und selbst bei einzelnen Vorrundenspielen sind bis zu 1000 Medienvertreter im Stadion. Bei der Tour de France ist die Zahl der zugelassenen Medienvertreter kleiner, was sicherlich auch daran liegt, dass der Aufwand größer ist, das Event insgesamt abzudecken. Es ist kaum möglich, über die mehrwöchige Tour stationär zu berichten, sondern man muss die Strecke entlang mitreisen, was die Logistik für die Medien erheblich erschwert. Bei der Austragung 2016 wurden von der A.S.O. knapp 700 Journalisten zugelassen, darunter 304 von Zeitungen und Zeitschriften, 136 Fotografen, 48 aus dem Bereich Radio und 204 für TV-Anstalten tätige (vgl. Jäckel-Engstfeld 2017). Die Akkreditierung dient zunächst der Sicherheit des Ablaufs. Die A.S.O. muss kontrollieren können, wer zu welchem Bereich Zugang hat, und sie muss die Sportler vor einer ausufernden Pressearbeit schützen. Außerdem muss sie bei geschlossenen Räumen sicherstellen, dass nicht mehr Menschen anwesend sind, als feuerpolizeilich zugelassen sind (vgl. Tagsold 2008: 83). Daher kontrolliert die

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A.S.O. genau, wohin Medienvertreter und Mitarbeiter gelangen dürfen, und sie kann so sicherstellen, dass keine Probleme auftreten. Die Zulassungen werden von Sicherheitspersonal an den Zugängen überprüft. Bei Sportevents wie der Tour de France gibt es verschiedene Zonen, die durchnummeriert sind. Die Arbeitsbereiche der Presse können so von Funktionären oder Offiziellen freigehalten werden, während die Medienvertreter nicht die Büros der sportlichen Rennleitung betreten sollen. Die Journalisten müssen sich vor Beginn der Veranstaltung bei der A.S.O. bewerben. Das gilt übrigens auch für Fahrer, Kabelträger oder Volunteers, die dabei gleichzeitig einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen werden können. In der Regel verläuft der Prozess für Sportjournalisten reibungslos. Trotzdem gibt es in jüngster Zeit vermehrt Klagen darüber, dass Veranstalter gezielt besonders kritische Geister ausschließen. Der Tourberichterstatter Christian Schwager hat es vor zehn Jahren in der Berliner Zeitung wie folgt formuliert: »Der Entzug der Akkreditierung ist die Höchststrafe für einen Sportreporter. Ohne sie gelangt er nirgendwohin. Bei der Tour braucht er sie in zweifacher Ausführung: für das Auto, um auf die Strecke zu gelangen. Und für sich selbst. Nur mit einer Akkreditierung öffnen sich die Türen zu den Pressezentren, die meist nicht mehr sind als ein Festzelt auf einer Wiese, die Turnhalle einer Schule oder das Parkdeck einer Tiefgarage.« (Schwager 2005)

Für Fernsehrechteinhaber und normale Journalisten ist der Prozess unproblematisch. Wie erwähnt sind sports mega-events dringend auf Medienberichte angewiesen, um jene globale Aufmerksamkeit zu erzeugen, welche die Voraussetzung für die Vermarktung ist. Außerdem sind die Sportorganisationen keine Diktaturen, sondern haben zumindest halbwegs transparente Regeln für die Vergabe der Zugangsberechtigungen. Man kann seine Akkreditierung sicherlich nicht dadurch riskieren, dass man einen einzelnen Artikel veröffentlicht, der negative Entwicklungen benennt, oder als Kommentator im Fernsehen hin und wieder problematische Aspekte anspricht, die im Zusammenhang mit dem Rennen stehen. Ist die Beanstandung berechtigt, wird es vermutlich vor allem Ärger in der Organisation selbst geben, denn schlechte Presse ist dem Geschäft abträglich. Wenn Journalisten aus irgendwelchen von der A.S.O. verschuldeten Gründen nicht wie gewohnt berichten können, sei es, weil der Verkehr ungeschickt umgeleitet wird, sei es, weil eine Pressekonferenz ausfallen muss, erzeugt das ungehaltene Kommentare, und die A.S.O. setzt sofort alle Hebel in Bewegung, um die Widrigkeiten aus der Welt zu schaffen. Ist man hingegen als streitbarer Geist bekannt und gleichzeitig nicht so prominent, dass es hohe Wellen schlagen würde, wenn einen die A.S.O. ausschließen würde, liegt die Sache schon anders. Journalisten, die ständig negativ über die

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Tour schreiben, dürfen sich nicht wundern, wenn sie keine Zulassung mehr erhalten. Thomas Schierl, geschäftsführender Leiter des Instituts für Kommunikationsund Medienforschung an der Deutschen Sporthochschule Köln, merkte dazu 2015 an: »Unliebsame Journalisten kann man im Sport komplett aushungern, und das wird auch ganz konsequent gemacht.« (Herkel 2015) Das Thema ist im Rahmen des FIFA Confed Cups 2017 und der FIFA-Weltmeisterschaft 2018 in Russland verstärkt in den Fokus gerückt. So schlossen die Medienrichtlinien der FIFA für den Confed Cup ausdrücklich die Berichterstattung über politische Themen aus und drohten mit dem Entzug der Akkreditierung (vgl. Ahrens 2017). Das wiederum führte zu einem immensen kritischen Medienecho, was beweist, dass die Medienvertreter alles andere als wehrlos sind. Trotzdem ist dieser Prozess heikel für eine wirklich differenzierte Medienarbeit, denn ohne Zulassung können Reporter kaum Einblick in das Ereignis gewinnen. Das Akkreditierungssystem bei der Tour de France definiert verschiedene Zonen, die in ihrer Ausgestaltung erneut eine gewisse Kontrolle der A.S.O. über die Berichterstattung gewährleisten. Zentraler Ort der Begegnung zwischen den Etappensiegern und führenden Fahrern der verschiedenen Klassements direkt nach der Zieleinfahrt und der Siegerehrung ist die mixed zone. Die Bezeichnung ist etwas irreführend, weil sich hier Sportler und Journalisten nicht wirklich mischen. Vielmehr trennt ein Metallgitter beide Seiten. Die Sportler laufen eine Art Gang zwischen dem Zaun und Werbetafeln auf der Rückseite entlang. Sie können selbst entscheiden, mit welchen Medienvertretern sie sprechen wollen, aber es liegt im Interesse der A.S.O. und der Teams, dass sie die wichtigsten Fernsehjournalisten nicht ignorieren. Diese haben wiederum Vortritt vor Printjournalisten. Die mixed zone wird von der A.S.O. an jedem Etappenziel neu aufgebaut und nach Ende des Renntags von Mitarbeitern wieder abgebaut und zum nächsten Ziel gebracht. Dort wird sie dann wie die Bühne für die Siegerehrung und alle anderen nötigen Installationen neu errichtet. Dieses Arrangement garantiert der A.S.O. zumindest, dass die Sponsoren des Rennens in der Fernsehberichterstattung auftauchen, da die Sportler vor den Werbetafeln stehen, den sogenannten backdrops. Die Fernsehkameras kommen nicht umhin, diesen Hintergrund zu zeigen und damit die Logos der Sponsoren. Die Fahrer werden von Medienoffizieren der A.S.O. begleitet, um Komplikationen jeglicher Art zu verhindern. Übergriffige Journalisten werden direkt ermahnt ebenso wie Sportler, die nicht erlaubte Werbeträger mitführen. Die meisten Zitate der Protagonisten einer Etappe und des Gesamtklassements, die die Printmedien wiedergeben, werden in diesem räumlichen Kontext geäußert. Im Gegensatz zu Fußballspielen, nach denen alle Spieler durch die mixed zone müssen – die üblicherweise als einziger Weg von der Kabine zum Bus führt und deshalb

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nicht umgangen werden kann (vgl. Tagsold 2008: 82) –, dürfen die meisten Radrennfahrer direkt zum Teambus. Sie zu interviewen ist einerseits leichter, weil außerhalb der von der A.S.O. kontrollierten Bereiche keine besondere Voraussetzung von Nöten ist, andererseits aufwendiger, weil die Fahrer nicht verpflichtet sind, zu kooperieren, sondern sich einfach im Bus ausruhen können, wenn sie möchten. Die Teams haben zudem Medienverantwortliche, die den Kontakt zur Presse organisieren und nach eigenen Befindlichkeiten regulieren. Das ist natürlich insofern notwendig, als die Sportler den Medien nicht unbegrenzt Rede und Antwort stehen können. Gerade in der mixed zone ist zum Schluss die Aufmerksamkeit der Sportler hart umkämpft. Die Printjournalisten, die am Ende der Zone stehen und erst nach Fernsehen und Radio zum Zug kommen (vgl. Schaffrath 2002: 15), können sich nicht sicher sein, dass ihre Fragen noch beantwortet werden. Sie halten daher oft Aufnahmegeräte in die Fernsehaufnahme, um wenigstens das nutzen zu können, was die Sportler gegenüber den Vertretern der Bildmedien äußern. Die mixed zone ist einer der Hauptarbeitsbereiche für Journalisten und zeigt am deutlichsten, wie hier die Kontrolle der Story seitens der A.S.O. organisiert ist. Darüber hinaus gibt es Arrangements für Pressekonferenzen mit den Stars und Plätze für kurze Flashinterviews direkt nach dem Rennen. In all diesen Zonen der Begegnung zwischen Sportlern und Medien sind die Sponsoren durch Werbeaufdrucke präsent und die Zugänge durch Akkreditierungen – und für die Flashinterviews durch vertragliche Abmachungen – reguliert. Dieser Rahmen bestimmt mit, welche Möglichkeiten die Medien in ihrer Berichterstattung haben und welche Inhalte wahrscheinlich entstehen. Er ist von außen weitestgehend unsichtbar bzw. zumindest nicht so leicht als Arbeitsrahmen erkennbar. Die wenigsten Zuschauer und Leser werden sich Gedanken über die räumliche Organisation der Hinterbühne sportlicher Großevents gemacht haben. Insofern sind große Teile der Medienarbeit bei sportlichen Großereignissen praktisch eine Blackbox. Man kennt nur die Ergebnisse des Prozesses, weiß allerdings nicht, wie er funktioniert und welche Spielräume die Akteure unter diesen Bedingungen jeweils haben. Die meisten hier aufgezählten Instrumente und Arrangements der Medienarbeit sind keine exklusiven Maßnahmen der A.S.O. Sie finden sich in vielen Sportarten und Stadien weltweit und sind ebenso funktional wie effizient. Wenn sich Sportjournalisten je nach Veranstaltung auf völlig unterschiedliche Regeln und Arrangements einstellen müssten, würde dies ihre Arbeit unnötig erschweren, und durch die entstehende Verwirrung käme es zu Störungen im Arbeitsablauf beider Seiten. Die Tour de France ist insofern nur ein Beispiel für die praktische Organisation des Sport-Medien-Komplexes. Die wesentliche Besonderheit im Falle der Tour ist, dass alle Bereiche und Zonen an jedem Ort, wo sie Halt macht, für einen

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kurzen Zeitraum neu installiert werden müssen und in der Konsequenz deutlich provisorischer angelegt sind als bei Sportarten mit festen Spielstätten. Die Arbeitsbereiche für die Medien sind in Fußballstadien schlichtweg komfortabler, weil sie nicht für jedes Spiel neu aufgebaut werden müssen. In ihrer Funktion unterscheiden sie sich jedoch nicht.

THEMEN UND UNTHEMEN Die wechselseitige Abhängigkeit von Sport und Medien führt dazu, dass bestimmte Stories und heikle Themen strukturell wenig Aufmerksamkeit erfahren. Doping als integraler Bestandteil von Hochleistungssport wurde lange Zeit zu selten in den Medien aufgegriffen und wird selbst heute zu anekdotisch und zu wenig systematisch analysiert. Es gibt aber eine Vielzahl von Fragen, die mehr oder minder unter den Tisch fallen, obwohl sie eigentlich unbedingt diskutiert werden müssten, um die Bedeutung des professionellen Sports für die Gesellschaft besser einschätzen zu können. Sportreporter sind jedoch oft genug mehr Fans denn kritische Begleiter, und der Sport-Medien-Komplex ist explizit darauf ausgerichtet, das Geschäftsmodell am Laufen zu halten. Zwei Beispiele mögen demonstrieren, welche Verwerfungen der professionelle Sport bereithalten würde, wollte man nicht vor allem affirmativ berichten. Beide sollen hier nur kurz angesprochen werden, um zumindest in Ansätzen deutlich zu machen, wie selektiv die Sportberichterstattung verfährt. Auch wenn diese Themenfelder eine größere Aufmerksamkeit verdienen, sind sie nicht nur in den Medien, sondern auch in der Wissenschaft allenfalls kursorisch aufgearbeitet worden. Ein wichtiger Punkt im Profibereich, der selten tiefgründig beleuchtet wird, ist die Frage der Ausbildung des Nachwuchses, wobei hier nicht die sportliche Seite gemeint ist, sondern die Auswirkungen von Leistungssport auf die Biografien junger Menschen. Die sportliche Ebene wird oft genug angesprochen, wenn sich Sportjournalisten zum Beispiel die Frage stellen, ob die Nachwuchsförderung des Bundes Deutscher Radfahrer (BDR) geeignet ist, die professionellen Radteams mit jungen Talenten aus Deutschland zu versorgen und konkurrenzfähig zu halten. Doch die Sorge, ob wir in Zukunft genügend gute Radfahrer haben werden, verdeckt die viel wichtigere Problematik, was mit jenen hoffnungsvollen Talenten geschieht, die nie den Sprung in eine Profikarriere schaffen werden (vgl. Tagsold 2010). Sport hat die verhängnisvolle Tendenz, jungen Menschen Träume einzupflanzen, die sich in aller Regel nicht erfüllen lassen. Der ehemalige britische Radprofi Charly Wegelius hat in einem interessanten Buch über seine Karriere als Domestik, also als Edelhelfer für einen der Fahrer mit reellen Chancen auf einen

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Gesamtsieg oder zumindest eine sehr gute Platzierung im Endklassement, seine Erfahrungen im Profisport ausführlich reflektiert. Über seine persönliche Einstellung mit 15 Jahren schrieb er: »Ich verschwende in der Schule meine Zeit und ich glaube, ich könnte sie besser nutzen.« (Wegelius/Southam 2013: 28) Wegelius schloss zwar die Schule ab, ging dann allerdings direkt nach Frankreich, um Radprofi zu werden, was in seinem Fall erfolgreich war. In den allermeisten Fällen enden solche Biografien jedoch mit geplatzten Träumen und einer mangelhaften schulischen Ausbildung. Mit dieser Frage haben sich die Medien bislang so gut wie gar nicht auseinandergesetzt. In der Sportsoziologie hat der amerikanische Forscher Andrew Zimbalist hier Pionierarbeit geleistet, doch müsste das Thema noch viel intensiver diskutiert werden. Ein zweiter erschreckender blinder Fleck der Berichterstattung lässt sich mit einem Zitat des ehemaligen Basketballtrainers von Bayern München, Aleksander Djordjevic, aufzeigen, das aus der Zeit kurz vor dem Grand Départ der Tour de France 2017 in Düsseldorf stammt: »Ich glaube, kein Spieler der älter ist als 23, 24 Jahre kann sagen, dass er noch 100 % fit auf dem Feld steht. In diesem Alter fängt’s an und verfolgt dich für den Rest deiner Karriere. Von da an gibt’s Cappuccino, Brioche und Diclofenac. So ist es einfach.« (BR Sport 2017) Diclofenac ist landläufig zumindest in Deutschland unter einem anderen Namen bekannt, Voltaren. Das Medikament gibt es als Gel zum Auftragen auf entzündete Muskelpartien, doch im Leistungssport ist es vor allem in Form von Tabletten gebräuchlich. Speziell im professionellen Handball ist es sehr beliebt, was ein Arzt folgendermaßen beschreibt: »Da werden ganze Packungen geschluckt.« (Leoni 2009) Doch nicht nur in Kontaktsportarten gilt es, heftige Schmerzen auszuhalten und diese nach Ende des Spiels oder Rennens mit entsprechenden Medikamenten zu lindern. Wegelius beschreibt sein Verhältnis zum Schmerz wie folgt – und es lohnt sich, hier ausführlicher zu zitieren, da er sehr genau und nuanciert einfängt, was den Unterschied von Leistungssport zu sportlichen Aktivitäten jenseits dessen ausmacht: »Es ist ganz normal, den Radsport zu lieben und in seiner Freizeit gerne Rad zu fahren, aber es als Beruf zu betreiben, ist etwas völlig anderes. Nichts ist normal daran, ein professioneller Radfahrer zu sein. Es ist nicht nur das bedingungslose Engagement. Auf sehr einfache Weise übersteigt der Schmerz, den ein Radprofi selbst an einem normalen Tag empfindet, bei weitem das Maß dessen, was die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben erfahren. Als Radprofi lernt man, mit dem Schmerz zu leben. Es ist nicht der gleiche Schmerz, den jemand erfährt, der das Radfahren nur zum Spaß oder als Freizeitsport betreibt. Er ist viel gravierender und hinterlässt viel tiefere Spuren. Als Profi erfährt man mehr als nur den

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Schmerz körperlicher Anstrengung; man erfährt den Schmerz leistungsorientierter Höchstbelastung. Es ist ein Schmerz, der sich tief einbrennt, und man lernt damit zu leben, sich körperlich und mental bis an die äußerste Grenze zu quälen.« (Wegelius/Southam 2013: 289)

Die Antwort auf diesen Schmerz gibt Wegelius in seinem Buch nicht – sie lautet für den Radsport aktuell Tramadol, ein Mittel, das im Peloton sehr verbreitet zu sein scheint (vgl. Brüngger 2016). Es ist unbestreitbar, dass Schmerzmittel zum Alltag von Profisportlern gehören. Das ist wohlgemerkt kein Doping. Sportler können so viel Diclofenac oder Tramadol einnehmen, wie sie glauben zu benötigen. Doch diese Medikamente sind eigentlich dazu entwickelt worden, normalen Menschen in Ausnahmesituationen Schmerz zu nehmen. Wegelius macht hingegen überaus deutlich, dass Profisportler keine normalen Menschen sind. All diese Medikamente haben Langzeitwirkungen, und so brachten vor einigen Jahren zwei ehemalige dänische Handballnationalspieler dieses Thema in die Medien, indem sie ihre erschreckenden Erfahrungen im Umgang mit Diclofenac anprangerten (vgl. Repplinger 2009: 34). Insgesamt ist das Bewusstsein für diese dunkle Seite des Leistungssports jedoch so gut wie gar nicht ausgeprägt.

SCHLUSS Damit der Sport-Medien-Komplex möglichst reibungslos und kostengünstig funktionieren kann, gibt es eine Reihe von Schnittstellen, an denen beide Bereiche miteinander interagieren. Dazu zählen die Bereitstellung eines Feeds für das Fernsehen, die Produktion passender Informationen für die Medien generell sowie die Eröffnung von Kontaktzonen zwischen Sportlern und Reportern. Was dabei prinzipiell eher an den Rand gedrängt wird, ist die Analyse von komplexeren Zusammenhängen. Darunter fallen viele Themen wie die zuletzt angesprochenen problematischen Bildungskarrieren von Nachwuchstalenten und der Missbrauch von frei erhältlichen Schmerzmitteln. Darüber hinaus sind die wirtschaftlichen Verflechtungen im professionellen Sport kaum aufgearbeitet worden. Solche Fragen liegen nicht wirklich im Interesse des Sport-Medien-Komplexes. Ich glaube allerdings nicht, dass das so sein müsste, und ich denke nicht, dass kritische Fragen zum Nachteil für den Sport oder die Medien sein müssten, sondern eine durchaus positive Wirkung haben könnten. Viele Probleme im Sport scheinen mir eine Folge der ausstehenden Aufarbeitung zu sein. Es wird viel über Aufstellungen, Taktiken oder Trainerposten geredet, aber wenig über die Hintergründe des Geschehens. Dass sich (Leistungs-)Sport insgesamt positiv für eine

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Gesellschaft auswirkt, wird dabei kaum infrage gestellt. Sportfunktionäre sollte es jedoch bedenklich stimmen, dass zum Beispiel Volksentscheide zu Bewerbungen für die Ausrichtung Olympischer Spiele in der Regel negativ ausfallen. Eine offene Diskussionskultur, die die Vor- und Nachteile des Leistungssports jenseits von konkreten Bewerbungen zur Sprache bringt und Fehlentwicklungen klar benennt, um Lösungsstrategien anzustoßen, müsste deshalb eigentlich ganz im Sinne der Sportpolitiker sein. Auf Seiten der Medien wäre es dagegen wichtig, Sport verstärkt als breites gesellschaftliches Phänomen der Moderne zu verstehen und zu beschreiben. Derzeit erfolgen vor allem nur dann Hintergrundanalysen, wenn Skandale aufgedeckt werden. In der aktuellen Form stößt der Sport-Medien-Komplex jedenfalls an seine Grenzen und erodiert in Folge der ausstehenden Selbstreflexion langsam von innen.

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Unfair Play? – Die Vermarktung des Sports und das Recht Rupprecht Podszun

Als die Tour de France 1903 zum ersten Mal ausgerichtet wurde, startete dieses Radrennen als professionell vermarktete Veranstaltung. Die Erfindung der Tour war nicht den Glückshormonen geschuldet, die beim gemeinsamen sportlichen Erlebnis ausgeschüttet werden oder dem Adrenalin des Wettbewerbs. Die Tour de France verdankt sich ganz schlicht dem Streben nach Profit: Von Anfang an rührten die Organisatoren die Werbetrommel. Die Idee für einen solchen Wettbewerb hatte die Sportzeitschrift LʼAuto, die es noch heute unter dem Namen LʼÉquipe gibt. Immerhin braucht eine Sportzeitschrift etwas, worüber sie berichten kann, und so entstand eine Konstellation, von der alle Seiten profitieren konnten: Der sportliche Triumph wurde zum Gewinn für die Zeitschrift. Der Sieger der ersten Tour de France, Maurice Garin, konnte sich über ein ausgelobtes Preisgeld in Höhe von 20.000 Francs freuen (vgl. k.A. 2010). Um eines gleich zu verdeutlichen: Gewinnstreben ist weder im Sport noch in der Wirtschaft anstößig. Im Gegenteil, wir erwarten vom Unternehmer, dass er Erträge erzielen will, so wie wir vom Sportler erwarten, dass er zum Siegen antritt. Die Klarstellung ist dennoch angebracht, da gelegentlich ein antikapitalistischer Unterton als chic gilt, erst recht, wenn sich die Kommerzialisierung auf vermeintlich so reine, idealistische Betätigungen wie den Sport, die Kultur oder soziale Hilfsdienste erstreckt. Der Grundgedanke der Tour de France ist der gleiche geblieben, jedoch hat die Kommerzialisierung zugenommen. Heute werden 2,3 Millionen Euro an Preisgeldern ausgeschüttet, und es ist nicht mehr nur eine Zeitschrift, die berichtet (vgl. Rohe 2017). Die Tour-Organisation ist ein Geschäft geworden. Der Tour de France kann man auch nicht vorwerfen, dass sie ihren ökonomischen Charakter verbergen würde. Bei anderen Sportveranstaltungen ist das anders: Im öffentlichen Bewusstsein hat sich noch längst nicht die Ansicht durchgesetzt, dass etwa

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Fußballvereine Unternehmen sind, die in starkem Maße von den typischen Parametern wirtschaftlichen Erfolgs getrieben sind. Von den kommerziellen Interessen der weltumspannenden Verbände, von IOC bis FIFA, braucht hier gar nicht einmal die Rede zu sein. Für Juristen, die sich mit der Vélomanie anlässlich des Grand Départ in Düsseldorf 2017 befassen, ist damit aber eine bestimmte Perspektive vorgegeben: Der Blick auf die Tour de France ist einer mit wirtschaftsrechtlicher Brille. In diesem Beitrag wird der Sport als Thema des Wirtschaftsrechts beleuchtet. Wie betrachten Juristen das Rennen um das Gelbe Trikot, wenn sie professionell zuschauen und nicht mit den Fahrern von Etappe zu Etappe mitfiebern? Sie rücken den kommerziellen Charakter der Tour in den Fokus. Hier gilt es, mit rechtlichen Mitteln eine ökonomische Wertschöpfung möglichst reibungslos zu organisieren. Recht sichert ab, dass die Marktwirtschaft brummt oder, um dem Geräusch näher zu kommen, das bei der Übersetzung von Muskelkraft auf den Asphalt über Ketten und Räder entsteht: Recht sichert das Schnurren der Marktwirtschaft. Dies schafft es zum einen durch die Vorgabe von Organisationsprinzipien in Rechtsnormen, wie etwa Normen zur Sicherung des Wettbewerbs als wesentlichem Treiber der Marktwirtschaft. Zum anderen stellt es Mechanismen zur Verfügung, um Konflikte (die im Wirtschaftsrecht immer Verteilungskonflikte sind) zu lösen – etwa durch Gerichte. Zugegeben, es gibt noch einen weiteren juristischen Zugang zur Tour. Dieser Weg führt über das Strafrecht, ein Rechtsgebiet, das vielleicht am ehesten mit einer unerfreulichen Bergetappe im Regen zu vergleichen wäre. Wer die Tour de France als Thema in juristischen Datenbanken sucht, findet rasch Urteile zum Doping.1 Jan Ullrich hat es bis in den Titel juristischer Fachaufsätze und zu einem eigenen Fallnamen gebracht (vgl. Mertens 2006; CAS 2012). Die Anti-DopingGesetzgebung, die 2015 in Kraft trat, war von den Entwicklungen im Radsport inspiriert (vgl. Finken 2016). Doch häufiger als die gerichtliche Befassung mit Doping ist für den Bereich des Sports die rechtliche Durchdringung der wirtschaftlichen Verflechtungen. Unternehmen und Märkte brauchen Regeln, für die wiederum Juristen zuständig sind. Das Ziel dieses Beitrags ist es also, Sportveranstaltungen wie die Tour de France aus wirtschaftsrechtlicher Sicht zu beleuchten. Recht kommt immer dann zum Einsatz, wenn Akteure mit unterschiedlichen Interessen organisiert werden sollen oder Konflikte in der Gesellschaft nur durch einen unabhängigen Dritten, das Gericht, aufgelöst werden können. Solche Auseinandersetzungen treten selbstver-

1

Siehe etwa LG Stuttgart, Urt. v. 27.09.2007 - Az. 15 O 285/07; LG Stuttgart, Urt. v. 29.10.2013 - Az. 16 KLs 211 Js 88929/08.

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ständlich auch im Sport auf, insbesondere wenn es Einnahmen gibt, die zu verteilen sind. Dann kommt das Wirtschaftsrecht zum Zuge, das verbindliche Maßstäbe für die Lösung solcher Konflikte und Verfahren vorsieht, um Streithähne voneinander zu trennen. Was das angeht, ist der Sport nicht anders als die Chemiebranche oder die Autoindustrie. Doch das Recht ist nicht blind dafür, dass der Sport neben dem reinen Wettbewerb ums Geld weitere Komponenten hat – inwiefern das Besondere des Sports in der Justiz berücksichtigt wird, ist auch Gegenstand dieses Beitrags.

UNTERNEHMEN UND MÄRKTE – WIRTSCHAFTLICHE BEDEUTUNG DES SPORTS Will man das Feld umreißen, um welches sich die Juristen zu kümmern haben, so hilft es, sich zunächst die wirtschaftliche Bedeutung des Sports zu vergegenwärtigen. Die Europäische Union hat diese in einer Studie aus dem Jahr 2012 messen lassen (vgl. Europäische Kommission 2012). Als Sport sieht sie alle »sportlichen Aktivitäten« (ebd.) an. Sie betrachtet Akteure, die unmittelbar sportliche Aktivitäten anbieten, zum Beispiel Vereine, Verbände, Ligen und Fitnesszentren. Hinzu kommt der Absatz aller Waren und Dienstleistungen, die zur Ausübung des Sports notwendig sind. Nach dieser sogenannten »engen Definition« (ebd.) von Sport wird in der Europäischen Union eine Bruttowertschöpfung von 112,18 Milliarden Euro erzielt. Bei einer weiter gefassten Definition von Sport, bei der alle Aktivitäten hinzugerechnet werden, die den Sport als Vorleistung benötigen, die somit einen Bezug zum Sport haben, ohne zur Ausübung notwendig zu sein, steigt die Bedeutung weiter. Jetzt werden Sporttourismus, Sportmedien oder Sportnahrungsmittel hinzugezählt, sodass die Bruttowertschöpfung in der EU dann 173,86 Milliarden Euro beträgt. Etwa 2 % der Arbeitnehmer in der Europäischen Union sind in diesem Sektor tätig. Wie in jeder Wertschöpfungskette ist eine Vielzahl von Akteuren beteiligt. Für die rechtliche Bewertung in Konflikten ist eine Bestandsaufnahme der Mitwirkenden besonders wichtig. Gerade im Wirtschaftsrecht gilt es, ihre Interessen zu kennen und – mit Hilfe vorgegebener Maßstäbe – abzuwägen. In dieser Koordination der Interessen zeigt sich der »Kampf ums Recht«, wie es der bedeutende Rechtswissenschaftler Rudolf von Jhering im Jahr 1872 in einem Vortrag genannt hat. Bei Sportveranstaltungen stehen die ausübenden Athleten im Mittelpunkt. Sie tragen das Geschehen. Der Jubel der Zuschauer bei der Tour de France gilt nicht Verbandsfunktionären oder Verwertern und auch nur selten den Berichterstattern

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oder Radtechnikern, sondern Christopher Froome, Marcel Kittel und ihren Kollegen. In deutlichem Gegensatz zu dieser Bedeutung steht jedoch ihre Beteiligung an den wirtschaftlich relevanten Operationen. Ihre Konzentration richtet sich nicht auf die Ausarbeitung von Verträgen und die Durchsetzung von Rechten, sondern auf den Muskelaufbau oder die Streckenkenntnis. Für die Organisation und die ökonomische Verwertung sind in der Regel andere verantwortlich, insbesondere die Berater der Athleten sowie die Manager und Eigentümer ihrer Teams. Bei der Tour de France überlagert der kommerzielle Charakter des Rennens die ansonsten klassische Sportorganisation. Während Athleten in der Regel in Vereinen organisiert sind, die zu Verbänden zusammengeschlossen sind, die wiederum Turniere an Turnierausrichter vergeben oder andere medienwirksame Wettkämpfe und Ligen veranstalten, wird die Tour von Mannschaften dominiert, die ihren Ausgangspunkt nicht in gemeinnützigen Organisationen haben. Die Kernteams der Tour de France sind als UCI World Teams bekannt. Hinter den Radrennteams stehen keine klassisch gewachsenen Vereine, sondern sogenannte paying agents, Sponsoren, die sich ihre Teams zusammenkaufen. Verbunden ist die Tour weiterhin der Sportzeitschrift L’Équipe, die Organisation liegt bei der Société du Tour de France, die zum Sportevent-Veranstalter Amaury Sport Organisation (A.S.O.) zählt, einem Unternehmen, das etwa auch die Rally Paris-Dakar veranstaltet. Die A.S.O. ist eine Tochtergesellschaft des Medienkonzerns Éditions Philippe Amaury, in dem L’Équipe erscheint. Ohne Medienöffentlichkeit würden weder Werbeverträge noch Übertragungsrechtesummen funktionieren, sodass der Medienzirkus eine wesentliche Rolle spielt. Im professionellen Bereich wird durch die Vermarktung von Fernsehrechten ein Großteil des Erlöses für den Sport generiert. Hier ist auch im 21. Jahrhundert der Sport noch ganz nah an der Tour de France, dem Medienereignis einer Zeitschrift – ohne mediale Wirksamkeit ist der Wettkampf nicht denkbar.2 Die Athleten, Teams, Vereine, Verbände oder einzelne Events haben als weitere Einnahmequelle Sponsoren, die Werbeverträge abschließen. Im Umfeld sind die wirtschaftlichen Aktivitäten der Ausrüster, etwa der Hersteller von Fahrrädern oder Trikots, zu beobachten. Rund um die Veranstaltung gruppieren sich zahllose weitere Anbieter von Waren oder Dienstleistungen, vom Catering über Ärzte bis zur Security, die aber eigentlich nicht dem engeren Bereich des Sports zuzuordnen sind. Die Genannten – und jeweils deren Subunternehmer, Zulieferer oder Abnehmer – sind als Unternehmen auf Märkten tätig. Unternehmen sind alle Einheiten, 2

Dass ein solches Radrennen auch erhebliche Zuwendungen der öffentlichen Hand erhalten kann, sei mit Blick auf den Grand Départ in Düsseldorf nur am Rande bemerkt.

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die Waren oder Dienstleistungen gegen Entgelt am Markt anbieten. Ein Markt liegt vor, wenn sich Angebot und Nachfrage nach wirtschaftlichen Gütern oder Dienstleistungen treffen, also die knappen Ressourcen in der Gesellschaft in einem privat organisierten Verteilungsprozess neu zugeordnet werden. Wenn dieser Marktmechanismus funktioniert, werden dadurch Bedürfnisse befriedigt, der Wirtschaftskreislauf kommt in Schwung, Steuergelder werden bezahlt und diejenigen, die sich mit Erfolg an diesem System beteiligen, können wiederum weiter investieren oder konsumieren. In dieses System ist auch der Sport integriert, auch wenn die wirtschaftliche Motivation für die Unternehmer in diesem Bereich nicht immer die ausschlaggebende ist. Ein professioneller Sportler wird nicht in erster Linie Rad fahren, weil er so seinen Lebensunterhalt verdient und das für ihn die leichteste Weise ist, das zu tun, sondern weil er auch eine hohe anderweitige Motivation hat. Das ist der Justiz allerdings in ihrer Betrachtung gleichgültig. Motive, Emotionen und Vorlieben sind Aspekte, mit denen Juristen zumindest per Gesetz wenig zu tun haben und auch haben sollten. Insofern gibt es im Recht bei der Abwägung von betroffenen Interessen im Fall eines Konflikts auch keine Privilegierung der Athleten: Die ökonomischen Interessen, die sich im Sport wiederfinden, werden gleichgestellt. Es ist nicht besser oder schlechter, dem Radsport als Athlet verbunden zu sein oder als Trikotsponsor. Justitia hat in dieser Hinsicht die Augen verbunden. Die Beziehung der Akteure zueinander ist nicht unproblematisch. Gerade die Athleten, Hätschelkinder der medialen Aufmerksamkeit, sind häufig einem sogenannten Prinzipal-Agenten-Problem ausgeliefert. Sie richten ihre Aktivitäten auf den Sport. Doch obwohl sie eigentlich im Zentrum der Marktaktivitäten stehen, werden ihre Interessen von anderen Beteiligten wahrgenommen und vertreten. Diese Agenten (zum Beispiel Berater, Verbandschefs, Teammanager) verquicken in ihrer Person massive Eigeninteressen mit der Wahrnehmung der Interessen ihrer Prinzipale, der Sportler. Das kann zu Interessenkonflikten führen und beantwortet die Frage, warum von der Geldmaschine Profisport letztlich oft so wenig bei den Athleten ankommt. Die ökonomische Komponente des Sports, so offensichtlich sie auch ist, wird nicht immer in aller Schärfe wahrgenommen. In der Sportberichterstattung spielt der Antrieb durch wirtschaftliche Interessen eine untergeordnete Rolle. Aber auch im Recht wird der Sport häufig eher dem System Gesellschaft als dem System Wirtschaft zugeordnet. Ein interessantes Schlaglicht auf diesen Aspekt warf die Diskussion um die wirtschaftlichen Aktivitäten des FC Bayern München und seine Einordnung als Verein. Der FC Bayern München ist ein eingetragener Verein mit 290.000 Mitgliedern, dessen wichtigste Aktivität es ist, 75 % der Anteile an der FC Bayern Fußball AG zu halten. Andere Aktivitäten des Vereins treten

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dahinter sowohl in wirtschaftlicher Bedeutung, aber auch in der allgemeinen Wahrnehmung deutlich zurück. Ein Professor für Gesellschaftsrecht hatte daher verlangt, den FC Bayern aus dem Vereinsregister zu streichen, da der Fußballverein sich übermäßig ökonomisch betätige und dies den Anforderungen des § 21 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) widerspräche (vgl. AG München, Urt. v. 15.09.2016 - Az. VR 2463; AG München 2016b). Nur nichtwirtschaftliche Vereine können nach § 21 BGB in das Vereinsregister eingetragen werden und die Rechtsfähigkeit erlangen. Der Kläger führte aus, die ideelle Betätigung sei der wirtschaftlichen gänzlich untergeordnet. Das Amtsgericht München lehnte jedoch die Einleitung eines Verfahrens zur Löschung des FC Bayern als nichtwirtschaftlichem Verein aus dem Vereinsregister ab. Zur Begründung berief sich das Amtsgericht auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) aus dem Jahr 1982 zum ADAC: Eine Auslagerung ökonomischer Tätigkeiten eines Vereins auf Kapitalgesellschaften sei nach dem sogenannten Nebenzweckprivileg dem Grunde nach zulässig (vgl. BGH, Urt. v. 29.09.1982 - Az. I ZR 88/80). Auch Vereine sollen sich ökonomisch betätigen können, solange diese Tätigkeit dem Vereinszweck untergeordnet bleibe. Auch ein Sportverein, der Mehrheitsaktionär eines Unternehmens ist, das über 500 Millionen Euro pro Jahr einnimmt, bleibt das, was die Juristen einen Idealverein nennen.

WAS IST RECHT? Wenn man die Vorgehensweise von Juristen verstehen will, ist es hilfreich, die Grundidee des Wirtschaftsrechts zu skizzieren. Das soll hier nur sehr knapp, in einer Art Einzelzeitfahren, geschehen. Recht ist, so hat es Immanuel Kant einmal formuliert, »der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann« (Kant 1968: 230). Die Willkür des einen und die Willkür des anderen – damit meint Kant die Ausübung des freien Willens, die lebensgestaltenden Entscheidungen des Individuums. Wo diese miteinander in Konflikt geraten, braucht es Regeln, »Bedingungen« bei Kant, und er lädt sie auch mit einem inhaltlichen Anspruch auf: Sie sollen dafür sorgen, dass die Entscheidungen der Individuen »nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden« (ebd.). So viel Freiheit wie möglich für jedermann. Recht ist also, in dieser Tradition der Aufklärung, ein Konfliktlösungsinstrument in der Gesellschaft. Es sind die Regeln, der Bestand an Normen, die das soziale Zusammenleben bestimmen. Dabei sind diese Richtlinien in einer freien Gesellschaft so ausgestaltet,

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dass alle sich möglichst weitgehend verwirklichen können, ohne andere zu belästigen oder zu beschädigen, und ohne dass das System insgesamt zusammenbricht. Das Recht koordiniert die Interessen der Mitglieder in der Gesellschaft. Juristen tun das typischerweise in drei großen Rechtsgebieten: dem Strafrecht, dem öffentlichen Recht und dem Privatrecht. Im Strafrecht verwirklicht der Staat seinen Ordnungsanspruch in besonders gravierenden Fällen. Wenn Doping also – wie in § 4 Anti-Doping-Gesetz – als Straftat eingeordnet wird, dann sendet der Bundestag als demokratisch legitimiertes Gremium die Botschaft: Hier liegt eine fundamentale Verletzung der Voraussetzungen für unser Zusammenleben vor. Das staatliche Gewaltmonopol wird dann in Stellung gebracht, um den Täter zu sanktionieren – mit einer Geld- oder Haftstrafe. Was strafrechtlich verboten ist, gefährdet typischerweise den Bestand der Ordnung insgesamt. In § 1 Anti-Doping-Gesetz hat der Gesetzgeber den Zweck dieser Vorschriften sogar ausdrücklich festgehalten: »Dieses Gesetz dient der Bekämpfung des Einsatzes von Dopingmitteln und Dopingmethoden im Sport, um die Gesundheit der Sportlerinnen und Sportler zu schützen, die Fairness und Chancengleichheit bei Sportwettbewerben zu sichern und damit zur Erhaltung der Integrität des Sports beizutragen.« Dieser Programmsatz hat nur begrenzte rechtliche Bedeutung. Ausgedrückt wird damit aber vor allem der Rang des Sports in der Gesellschaft. Zudem bringt der Gesetzgeber mit Gesundheit, Fairness, Chancengleichheit und Integrität auf den Punkt, was den Sport als eine besondere Branche auszeichnet. Ein Gesetz für die Automobilwirtschaft würde wohl nicht mit einer solchen Schutzzweckbestimmung starten. Um hoheitliche Eingriffe geht es auch bei der zweiten Säule des Rechts, dem öffentlichen Recht. Als öffentliches Recht werden jene Rechtsnormen bezeichnet, die der Staat vorgibt, um im öffentlichen Interesse das Zusammenleben zu strukturieren und zu ordnen, dazu zählen etwa das Baurecht oder das Versammlungsrecht. Auch das gesamte Staatsrecht einschließlich der Grundrechte ist Teil des öffentlichen Rechts. Der Sport ist in vielfältiger Weise davon betroffen, etwa wenn eine Sportveranstaltung organisiert wird. Verwaltungsgerichte haben zum Beispiel zu entscheiden, ob der Polizeischutz für solche Veranstaltungen eine Aufgabe des Staates ist, die dieser im Rahmen der Sicherung der öffentlichen Ordnung zu übernehmen hat, oder ob der Staat dafür den ausrichtenden Sportveranstaltern einen Gebührenbescheid schicken kann. So hat es das Bundesland Bremen mit der Deutschen Fußball Liga (DFL) gemacht, weil der Polizeieinsatz bei einem Bundesligaspiel des SV Werder Bremen gegen den Hamburger SV solche Ausmaße annahm, dass man sich in der ohnehin klammen Bremer Bürgerschaft weigerte, für diesen aufzukommen. 425.708,11 Euro sollte der Polizeieinsatz kosten. Das

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Verwaltungsgericht (VG) Bremen entschied zu Gunsten der DFL (vgl. VG Bremen, Urt. v. 17.05.2017 - Az. 2 K 1191/16). Der Gebührenbescheid sei rechtswidrig gewesen, da der Gebührenerhebung keine rechtmäßige Kostenvorschrift zugrunde läge. Gegen dieses Urteil wehrte sich die Stadt Bremen mit Erfolg. Das Oberverwaltungsgericht (OVG) Bremen erklärte, dass die DFL sich grundsätzlich an den Kosten von Polizeieinsätzen bei Hochrisikospielen beteiligen müsse (vgl. OVG Bremen, Urt. v. 05.02.2018 - Az. 2 LC 139/17). Die DFL habe ein besonderes Interesse an einer störungsfreien Durchführung der Veranstaltung, sodass auch sie einen Teil der Kosten tragen müsse. Auch wenn der Polizeieinsatz bei Radrennen mit ihren doch etwas friedlicheren Fans weniger einschneidend ausfällt, so hat es auch um die Tour de France schon öffentlich-rechtliche Streitigkeiten gegeben. Das Verwaltungsgericht Freiburg wurde im Jahr 2000 im Eilverfahren bemüht, weil Anwohner sich gegen eine zehnstündige Straßensperrung wehrten. Die Tour machte in Freiburg Station und zog mit einem Zeitfahren an Neuenburg-Zienken vorbei Richtung Mulhouse. Das Regierungspräsidium Freiburg hatte dafür einen straßenverkehrsrechtlichen Bescheid erlassen, um den Athleten freie Fahrt zu ermöglichen. Für die Anwohner bedeutete dies, dass sie ihre Häuser nicht per Auto erreichen konnten. Diese Anordnung hielten sie von vornherein für rechtswidrig, da es sich um eine »gewinnorientierte Veranstaltung eines französischen Unternehmers« handle, die »lediglich eine Volksbelustigung darstell[e]«. Das Gericht folgte dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht (vgl. VG Freiburg, Urt. v. 20.07.2000 - Az. 9 K 1603/00). Sportliche Ereignisse brächten Nachteile mit sich, aber auch Vorteile, gewisse Einschränkungen – insbesondere wenn sie mit zeitlichem Vorlauf bekannt gemacht worden seien – seien dann zumutbar und sozialadäquat. Die Abwägung der Interessen zwischen Regierungspräsidium und Anwohnern, also letztlich zwischen dem öffentlichen Interesse am berühmten Sportspektakel und dem privaten Interesse an der Zufahrt zur eigenen Garage, ging für die Radgemeinschaft gut aus – besser jedenfalls als das Rennen für Lance Armstrong, dem der Sieg im Nachhinein wegen Dopings aberkannt wurde. Das zentrale Rechtsgebiet für die Interessenkoordination im Bereich der Wirtschaft ist das sogenannte Privatrecht. Es gibt die Regeln vor, die solche Konflikte entscheiden, die zwischen gleich geordneten Personen entstehen, zum Beispiel zwischen Bürgern, wie etwa Nachbarn, oder auch zwischen Unternehmen und Verbrauchern. Das Mietrecht, das Urheberrecht, das Wertpapierrecht, die Regeln zum Verbraucherschutz, all das fällt unter das Privatrecht, ein Rechtsgebiet, das dem Interessenausgleich untereinander dient.

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So naheliegend es ist, den Sport als wirtschaftliches Subsystem zu begreifen, so selten war er in der Vergangenheit Thema des privaten Wirtschaftsrechts. Konflikte wurden offenbar anders gelöst, vielleicht entstanden sie auch in den Zeiten, als noch nicht derart viel Geld mit Sportereignissen verdient werden konnte, zumindest weniger als im Zeitalter des globalen TV-Konsums. In Europa änderte sich dies grundlegend erst 1995, als ein Rechtsstreit Furore machte, der Maßstäbe für den Interessenausgleich im Profisport setzte. Es war der Fall des Fußballspielers Jean-Marc Bosman (vgl. EuGH, Urt. v. 15.12.1995 - Rs. C-415/93). Bevor dieser Fall hier ausgebreitet wird, sei eine Entschuldigung an alle von der Vélomanie infizierten Leser ausgesprochen. Wenn selbst in diesem Beitrag so oft vom Fußball die Rede ist, der doch häufig das Sportgeschäft dominiert, geschieht dies nicht aus Ignoranz gegenüber kleineren Sportarten. Da in einer derart kapitalträchtigen Branche die Konflikte eher die Gerichte beschäftigen, sind die Entscheidungen aus dem Bereich des Fußballs maßstabbildend für Verhandlungen in anderen Sportarten. Jean-Marc Bosman spielte beim RFC Lüttich, in der Stadt, in der die zweite Etappe der Düsseldorfer Tour de France endete. Lüttich wollte den Fußballer nicht ohne eine erhebliche Ablösesumme für den Wechsel zu einem anderen Verein freigeben. Der französische Zweitligist USL Dunkerque hatte Interesse, fand die Ablösesumme von 800.000 US-Dollar aber abschreckend hoch. Bosman behinderte das – damals völlig sozialadäquate – Verhalten seines bisherigen Vereins in seinem Recht als Arbeitnehmer, den Arbeitgeber frei wählen zu können. Er klagte 1990 und machte das Arbeitnehmerrecht der freien Wahl des Arbeitsplatzes in Europa geltend. Der Europäische Gerichtshof (EuGH), dem der Fall von einem belgischen Gericht vorgelegt worden war, entschied zu Bosmans Gunsten: Profifußballer seien normale Arbeitnehmer. Auch für sie gelte das Arbeitsrecht, so wie es in den europäischen Verträgen und den nationalen Gesetzen niedergelegt sei. Ablösesummen und andere Regeln, die die Freizügigkeit von Arbeitnehmern behinderten, seien europarechtswidrig. Die Mühlen der Justiz mahlen langsam, der EuGH entschied 1995 – der Mittelfeldspieler war da am Ende seiner glanzlos gebliebenen Karriere. Doch er erhielt 780.000 Euro Entschädigung für den erzwungenen Bruch in seiner Laufbahn. Bosman wurde damit zum Helden der Sportler, für ihn persönlich bedeutete der Kampf jedoch kein Glück: Anscheinend lebt er heute am Existenzminimum (vgl. Bischoff 2017). Der Fall war bahnbrechend, weil das für Europa höchste Gericht drei Punkte deutlich machte: (1) Sportverbände und Vereine sind Unternehmen, die juristisch als solche eingestuft werden. (2) Auch vermeintlich machtlose Akteure, die in wirtschaftlichen Fragen oft unerfahrenen Athleten, können sich auf ihre Rechte berufen. (3) Die Regeln für die Organisation der Märkte gelten auch im Bereich

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des Sports und prägen das Untereinander der verschiedenen Beteiligten. Die Maßstäbe sind dabei nicht nur vom Interessenausgleich gekennzeichnet. Sie zielen auch darauf ab, das Funktionieren des Systems insgesamt, der Märkte, zu sichern. Arbeitnehmerschutz beispielsweise wird als wesentliche Voraussetzung für ein funktionsfähiges marktwirtschaftliches System begriffen. So zeigt sich die Doppelnatur des Rechts auf zweifache Weise: Es sichert individuelle Rechte und organisiert mit übergreifenden Maßstäben das Zusammenleben. Es gibt substanzielle Regeln vor und stellt Mechanismen zur Durchsetzung bereit. Dass der EuGH diese Lehre 1995 erteilt, ist übrigens keine Besonderheit. Im Bereich des Wirtschaftsrechts haben die europäischen Organe längst viel stärker die Hoheit inne als nationale Institutionen. Diesen Einfluss des europäischen Rechts illustriert ein weiterer Fall, der das Aufeinandertreffen unterschiedlicher wirtschaftlicher Interessen mit Bezug zum Radsport zum Gegenstand hat. Die Trek Bicycle GmbH versuchte sich gegen die Eintragung der Marke ALLTREK für die Audi AG zu wehren. Trek vertreibt unter der Marke TREK Fahrräder, die besonders bekannt geworden sind durch die Tour de France-Siege von Lance Armstrong, der dabei im TREK-Sattel saß. TREK gegen ALLTREK, der Konflikt zwischen zwei Unternehmen, die mit ihren Marken im Wettbewerb um Kunden punkten wollen. Marken sind längst zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor geworden, ihr Schutz und ihre Absicherung sind daher für Unternehmen wichtig. Die Argumentation der Fahrradbauer: ALLTREK könnte mit TREK verwechselt werden. Entsteht bei Verbrauchern die Fehlvorstellung, dass ALLTREK-Autos aus der amerikanischen Radschmiede stammen? Das Europäische Gericht (EuG) verneinte eine Verwechslungsgefahr (vgl. EuG, Urt. v. 16.05.2007 - Rs. T-158/05). Bei langlebigen und verhältnismäßig teuren Verbrauchsgütern wie Autos und Fahrrädern schaue man nach Überzeugung des Gerichts genau hin, so dass man sich wohl denken könne, dass Autos und Fahrräder nicht unbedingt vom selben Hersteller kämen. Im europäischen Markenregister war folglich für TREK und ALLTREK Platz. Die Interessen von Audi überwogen die von Trek, ein Einschreiten zur Sicherung der Märkte war nicht geboten. Wenn Wirtschaftsrechtler die grundlegenden Regeln für das Funktionieren der Märkte bereitstellen sollen, so versuchen sie letztlich, das in Paragrafen zu gießen, was Volkswirte seit etwa 250 Jahren zu ergründen versuchen: Wie funktioniert das Spiel von Angebot und Nachfrage möglichst störungsfrei? Welche Regeln müssen gelten, damit der Austausch am Markt funktioniert? Adam Smith begründete mit seinem 1776 veröffentlichten Buch Inquiry into the nature and causes of the wealth of nations (»Der Wohlstand der Nationen«) die Suche der Volkswirtschaftslehre nach Antworten auf diese Fragen.

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Auch wenn die Gestaltung der Wirtschaft immer wieder neu verhandelt wird, so hat sich für die Marktwirtschaft doch herauskristallisiert: Wenn Märkte frei sind und alle Akteure frei und gut informiert ihre Angebots- und Nachfrageentscheidungen treffen können, kommen die besten Ergebnisse heraus. Die volkswirtschaftliche Wohlfahrt steigt. Diese grundlegende Erkenntnis ist bis heute gültig. Und so weisen Märkte eine faszinierende Nähe zu Sportveranstaltungen auf: Solange der Wettbewerb frei und fair ist, gewinnen die Besten, und das sichert Wohlstand einerseits und gute Unterhaltung andererseits. Wird in der Wirtschaft auf den freien Wettbewerb Wert gelegt, werden Unternehmen gezwungen, immer wieder effizient zu werden und Kunden mit Weiterentwicklungen und Innovationen zu begeistern. Machtpositionen können so nicht dauerhaft entstehen. Dies aber kann nur garantiert werden, wenn das Regelwerk stimmt. Sonst kommt es leicht zu einem Marktversagen, etwa wenn ein Unternehmen zu mächtig wird, wenn es keine funktionierenden Mechanismen zur Durchsetzung der Regeln gibt, wenn einer den anderen über den Tisch zieht oder wenn zugelassen wird, dass sich einer auf Kosten des anderen bereichert. Parallelen zwischen wirtschaftlichem und sportlichem Wettbewerb dürfen gezogen werden.

RECHT IM PROFISPORT Von diesen Grundüberlegungen ausgehend, sollen im Folgenden einige spektakuläre Rechtsfälle unter die Lupe genommen werden, die den Sport teilweise verändert haben. Das Bosman-Urteil des EuGH war dafür eine Art Startpunkt. Seither wird der Sport stärker wirtschaftsrechtlich durchleuchtet, und gerade in den vergangenen Jahren hat es eine erhebliche Ausweitung des rechtlichen Zugriffs auf den Sport gegeben. Den Ordnungsanspruch verdeutlicht die Meca-Medina-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (vgl. EuGH, Urt. v. 18.07.2006 - Rs. C519/04 P). Geklagt hatten in dem Fall der spanische Langstreckenschwimmer David Meca-Medina und sein Kollege Igor Majcen, indem sie Beschwerde gegen die Dopingkontrollregeln des Internationalen Schwimmverbandes eingelegt hatten. Diese Regeln griffen angeblich in unzulässiger Weise in ihre wirtschaftliche Entfaltungsfreiheit ein. Der EuGH hatte zu entscheiden, ob Regelwerke im Sport, die den Freiraum der unternehmerisch tätigen Athleten begrenzen, überhaupt mit dem Wettbewerbsrecht vereinbar sind. Liegt nicht eine einseitige Einschränkung vor, wenn ein Verband bestimmte Anti-Doping-Regeln oder andere Regeln aufstellt? In jeder anderen Branche wäre es ein grober Verstoß gegen das Kartellrecht, wenn zentral von einem Verband festgelegt werden würde, wer mit wem nach welchen Vorgaben in Konkurrenz treten darf. In der Meca-Medina-Entscheidung fügte der

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Europäische Gerichtshof dem Sportrecht, rund zehn Jahre nach Bosman, weitere wichtige Bausteine hinzu. Erstens sind Verbände Unternehmen, die häufig auch sehr mächtig sind, was zu einer besonderen Kontrolldichte führen kann. Zweitens sind die Dopingregeln aber keine verbotene Wettbewerbsbeschränkung, solange sie verhältnismäßig bleiben: Der Sport, die etwas andere Branche, in der die Verbände Wettbewerbsregeln setzen dürfen. Anders ging die Sache für das Reglement des Deutschen Fußballbunds (DFB) zur Vermittlung von Fußballspielern aus. Zur Umsetzung bestimmter Vorgaben der FIFA hatte der DFB Statuten verabschiedet, auf deren Basis es untersagt wurde, Zahlungen für das Vermitteln minderjähriger Fußballspieler anzunehmen (vgl. OLG Frankfurt, Urt. v. 02.02.2016 - Az. 11 U 70/15 [Kart]). Zahlreiche weitere Regelungen verlangten unter anderem eine generelle Registrierung der Spielerberater beim Verband und bestimmte Einschränkungen für deren Tätigkeit. Das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt hielt die Minderjährigenschutzklausel für wirksam, sah aber die Unterwerfung der Vermittler unter die Verbandsstatuten als unwirksam an. Dies folgte für das Gericht schon daraus, dass es einem Spielervermittler unmöglich sein könne, 35 verschiedene Verbandsstatuten zur Kenntnis zu nehmen und in seiner beruflichen Praxis zu berücksichtigen. Der Staat greift ein, setzt Recht durch und ordnet den Sport. Die folgenden drei Beispiele sollen das mithilfe von Regeln für die Vermarktung besonders beleuchten. Vermarktung von Fernsehrechten Wesentlich für den kommerziellen Erfolg der Sportveranstaltungen ist die mediale Vermarktung. Immer wieder sorgt in diesem Zusammenhang die Vermarktung der Fußball-Fernsehrechte für juristisches Aufsehen. Anders als bei der Tour de France liegen die Rechte nicht bei einem einzelnen Veranstalter, der diese an die Fernsehsender verkaufen kann, sondern bei den an der Liga teilnehmenden Vereinen. Diese haben sich in der DFL zusammengeschlossen, um ihre Fernsehrechte zentral zu vermarkten. Außerhalb des Sports würde ein solches Vorgehen ohne Weiteres als Kartell gelten. Man stelle sich vor, alle Hersteller von Fahrradgangschaltungen würden deren Vermarktung zusammen betreiben. Der Wettbewerb unter ihnen käme praktisch zum Erliegen, da Preise untereinander abgestimmt würden. Nachfrager, also beispielsweise Fahrradgeschäfte, hätten keine Auswahl mehr und müssten sich auf die Konditionen einlassen, die ihnen gesetzt würden. Solche wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen sind nach § 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) und – für den europäischen Binnenmarkt – nach Art. 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) untersagt.

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Bei den Sportrechten wird die Situation aber differenziert beurteilt. Zwar wäre auch hier eine Einzelvermarktung möglich, das heißt die Vereine könnten die Rechte an ihren Heimspielen jeweils getrennt voneinander vermarkten. Dies würde aber dazu führen, dass etwa ein Club wie der FC Bayern München erheblich höhere Erlöse erzielen könnte als ein Verein, der wesentlich weniger Fans hat, beispielsweise der VfL Wolfsburg. Das Ungleichgewicht in der Liga würde zunehmen, der sportliche Wettbewerb würde möglicherweise weniger interessant werden. Dies hat auch das Bundeskartellamt erkannt, das regelmäßig die Ausschreibung der Fußball-Fernsehrechte, die zentral durch die DFL koordiniert wird, überprüft. Die Entscheidungen der Behörde sind bei Weitem nicht unumstritten, bislang hat sie noch jedes Mal die zentrale Vermarktung zugelassen (vgl. Bundeskartellamt 2012; 2016). Dabei wären auch andere Mechanismen denkbar, um die competitive balance in der Fußballbundesliga sicherzustellen. In den USA gibt es dafür zahlreiche Modelle.3 Die Fernsehrechte werden indes immer teurer. Während sie in der Saison 2002/2003 noch für 290 Millionen Euro zu haben waren, lag der Preis in der Saison 2013/14 bereits bei 628 Millionen Euro, und für die Saison 2017/2018 wurden über 1 Milliarde Euro gezahlt (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2016). Ob diesem immer stärker um sich greifenden Kommerz der Fußballbundesliga nicht auch dadurch Einhalt geboten werden muss, dass die Zentralvermarktung der TV-Rechte anders reguliert wird als bislang, ist eine durchaus berechtigte Frage. Bei der vergangenen Prüfung hat das Bundeskartellamt wiederum festgestellt, dass in der zentralen Vermarktung, also der Koordinierung der Anbieter, eine Wettbewerbsbeschränkung vorliegt. Die negativen Folgen dieser monopolistischen Vergabe der TV-Rechte versuchte das Amt dadurch einzufangen, dass verschiedene Pakete ausgeschrieben wurden und eine no single buyer-rule aus dem Kartellrecht herausgelesen wurde. Die Idee dahinter ist, dass nicht ein Sender allein die Fernsehrechte erwerben darf. Damit sollte der Wettbewerb der Sender untereinander belebt werden. Dies führte dazu, dass neben den bisherigen alleinigen Bezahlkanal Sky der Sender Eurosport trat, der einen Teil der Rechte erwarb. Verbraucher benötigen nun zwei Pay-TV-Abonnements, wenn sie alle Spiele der Liga verfolgen wollen. Die Ausnahmen, die dem Sport gewährt werden – hier in Form der Kartellbildung – treiben mitunter seltsame Blüten. Aber auch die Rechtsanwendung ist ein ständiger Prozess, ein Ringen um die beste Lösung. Wie im Sport kann es dann auch einmal vorkommen, dass ein Goldmedaillengewinner nicht mit einer weltrekordverdächtigen Zeit das Ziel erreicht. 3

Beispielsweise Drafts (Auswahl der Spieler vom College, die eine NFL-Karriere anstreben, durch die 32 Klubs der NFL) oder Salary Caps (Gehaltsobergrenze) (vgl. Heermann 2018: 7).

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Teilnahme an Wettkämpfen – Das Ein-Platz-Prinzip Für ihr wirtschaftliches Konzept sind Veranstalter darauf angewiesen, Konkurrenz möglichst zu unterdrücken. Die Tour de France wird immer wertvoller, je weniger konkurrierende Radrennen es gibt. Das Mittel der Wahl zur Konkurrenzvermeidung ist das Ein-Platz-Prinzip, mit dem die internationalen Verbände steuern können, welche Sportveranstaltungen überhaupt relevant werden. Für Olympische Spiele und andere internationale Wettkämpfe sind regelmäßig Zusammenschlüsse nationaler Verbände nötig, wobei je Land nur ein Verband anerkannt wird. So hat sich in fast jedem Land der Erde für fast jede Sportart – eine wichtige Ausnahme bildet das Boxen – ein einziger Verband als der relevante herausgestellt. Die Verbände kommen so gegenüber den Zuschauern und Athleten in eine Schlüsselposition. Letztere sind zudem häufig schlecht vertreten und wenig beraten, sodass ihnen alles vorgeschrieben werden kann. Eine solche Monopolbildung ist nicht grundsätzlich verboten, das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) sieht aber vor, dass ein Unternehmen, das im Markt besonders mächtig ist, seine Marktmacht nicht missbrauchen darf. Deshalb wurde es beispielsweise für unzulässig erklärt, dass ein Autohersteller nur seinen eigenen Vertragswerkstätten, aber nicht freien Werkstätten die notwendigen Informationen für Reparaturen zur Verfügung stellt (vgl. Verordnung [EG] Nr. 715/2007).4 Dies wurde als Missbrauch von Marktmacht verurteilt, und das Verhalten war zu unterlassen. Auch freie Werkstätten, die vom marktmächtigen Autoanbieter abhängig sind, müssen Zugang zu solchen Informationen erhalten können. Im Sport haben die Verbände automatisch ein Monopol inne, wenn der Weg zu den interessanten Sportevents nur über sie führt. Die Macht der Verbände ist damit durch das Ein-Platz-Prinzip gesichert. Daraus resultiert, dass derjenige, der sich dem Verband nicht unterwerfen will, ins Abseits gerät. So hat beispielsweise eine Speerwerferin gegen die Entscheidung ihres Verbands geklagt, für die Nominierung zu den Olympischen Spielen nur Wettkämpfe zu berücksichtigen, die zwischen dem 01. April und dem 10. Juli eines bestimmten Jahres durchgeführt wurden. Sie hatte in einem etwas erweiterten Zeitraum die Nominierungskriterien erfüllt, aber nicht in dieser Zeitspanne. Die Beschwerde wurde vom Oberlandesgericht Frankfurt mit der Begründung zurückgewiesen, es liege im Ermessen des Verbands, welche Werte er berücksichtige (vgl. OLG Frankfurt, Urt. v.

4

Verordnung (EG) Nr. 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge.

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18.07.2016 - Az. 11 W 22/16 [Kart]). In einer anderen Sache hatte sich ein Veranstalter von Triathlonwettkämpfen dagegen zu wehren versucht, dass die Deutsche Triathlon Union (DTU) 10 % der vereinnahmten Startgelder von ihm verlangte, um den Wettkampf zu genehmigen. Wurde der Wettkampf nicht genehmigt, so konnten Athleten, die trotzdem teilnehmen, für bis zu neun Monate von den offiziellen Triathlonwettbewerben der DTU ausgeschlossen werden (vgl. OLG Düsseldorf, Urt. v. 02.04.2013 - Az. VI-U 9/13 [Kart]). Das OLG Düsseldorf sah darin keine unzulässige Behinderung des freien Veranstalters. Die Durchsetzung der Veranstalterabgabe stelle zwar eine Behinderung dar, da der wettbewerbliche Verhaltensspielraum beschränkt werde. Diese Behinderung wurde jedoch als geringfügig eingeschätzt und für legitim gehalten. Beide Entscheidungen illustrieren einerseits, wie abhängig die Athleten von den durch das Ein-Platz-Prinzip abgesicherten Verbänden sind, zumindest solange sie im internationalen Turniergeschäft bleiben wollen. Andererseits werden diese Abhängigkeit und ihre Ausnutzung von den Gerichten auf erstaunlich weitgehende Weise hingenommen. Doch die deutschen Gerichte bekommen Gegenwind, und wieder wird das EU-Recht zum Antrieb des freien Wettbewerbs. Die Europäische Kommission hat in einer Entscheidung gegen die Internationale Eislaufunion (ISU) die Sache anders beurteilt (vgl. Europäische Kommission 2017). Auch die ISU hatte Sperren gegen Athleten vorgesehen, die bei nicht genehmigten Wettkämpfen antreten. Die Düsseldorfer Entscheidung wäre vor diesem Hintergrund und im Einklang mit europäischem Recht vermutlich anders zu fällen. Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager, die in der EU den freien Wettbewerb der Unternehmen sichert und sich sonst mit Google oder Gazprom anlegt, erklärte: »Die internationalen Sportverbände spielen für die Karriere der Sportler eine wichtige Rolle – sie schützen ihre Gesundheit und Sicherheit und die Fairness bei den Wettkämpfen. Die harten Sanktionen, die die Internationale Eislaufunion gegen Eisläufer verhängt, dienen jedoch auch dazu, ihre eigenen geschäftlichen Interessen zu schützen und andere daran zu hindern, eigene Veranstaltungen zu organisieren.« (Ebd.)

Ambush Marketing – Werbung rund um Veranstaltungen Zahlreich sind die Fälle, bei denen es um das sogenannte Ambush Marketing geht, also um Werbemaßnahmen, die sich den guten Ruf eines großen Ereignisses zu Nutzen machen wollen. Die Konfliktlinien verlaufen hier zwischen Veranstaltern, die offiziellen Sponsoren exklusive Rechte einräumen, und Unternehmen, die mit

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ihren Marketingmaßnahmen in diesem Umfeld auffallen wollen. Bei großen internationalen Sportevents ist es längst Standard, dass auf dem Sportgelände und in dessen Umfeld nur offizielle Sponsoren werben dürfen, die sich dieses Recht für viel Geld vom Veranstalter erkauft haben. Der wiederum finanziert damit die Veranstaltung des Sportereignisses. Wer darf dann von der Zugkraft des Sports profitieren? Wo zieht das Recht die Linie zwischen unzulässigem Ambush Marketing und der gerade noch zulässigen Bezugnahme auf große Ereignisse in der Werbung? Legitime Erwartung von Sponsoringgeldern auf der einen Seite, Werbefreiheit, gerade auch bei Athleten und mit Athleten, die im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stehen, auf der anderen Seite. Manche Beispiele wirken absurd: Bekannt wurde der Fall, dass einem Bäcker im Auftrag der FIFA verboten werden sollte, im Jahr 2006 WM-Brötchen zur Fußballweltmeisterschaft in Deutschland anzubieten (vgl. k.A. 2005). Für die Athleten ist die Frage, wie sie werben dürfen, essenziell. Die Standardantwort der Verbände bei den großen Turnieren lautet: gar nicht. Das würde bedeuten, dass zum Beispiel bei Olympischen Spielen, also in der Hochphase der Aufmerksamkeit für einen Sport, ein Diskuswerfer auf seinem Instagram-Account nicht einmal mehr seinem langjährigen lokalen Förderer danken dürfte. Das Bundeskartellamt sieht hier einen Missbrauch von Marktmacht der Verbände und führt 2018 ein Kartellverwaltungsverfahren gegen den Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) und das Internationale Olympische Komitee (IOC). Gegenstand ist die Anwendung der Regel 40 der Olympischen Charta in Deutschland.5 »Es ist zu berücksichtigen, dass die Athleten als Leistungsträger der Olympischen Spiele von den sehr hohen Werbeeinnahmen offizieller Olympiasponsoren nicht direkt profitieren« (Bundeskartellamt 2017), so Andreas Mundt, Präsident des Bundeskartellamtes. Daraufhin haben sich der DOSB und das IOC bereit erklärt, die Regelungen für ausschließlich auf Deutschland bezogene Maßnahmen zu lockern. Bereits zu den Winterspielen 2018 in Pyeongchang wurde beispielsweise die Genehmigungsfrist für Anträge stark verkürzt und Gruß- oder Gratulationsbotschaften der Sponsoren an Athleten waren auch unter bestimmten Voraussetzungen einige Tage vor und nach den Spielen (frozen period) zulässig. Zudem führt das Bundeskartellamt einen Markttest durch, indem es Verbände, Sportler und Sponsoren (hier vor allem die Sportartikelindustrie) befragt.

5

Nach der Richtlinie des IOC zu Regel 40 Nr. 3 der Olympischen Charta darf kein Wettkampfteilnehmer, Trainer, Betreuer oder Funktionär gestatten, dass seine Person, sein Name, sein Bild oder seine sportlichen Leistungen während der Olympischen Spiele (und einiger Tage vor und nach den Spielen, der sogenannten frozen period) zu Werbezwecken genutzt werden, außer dies wurde vom IOC genehmigt.

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Mit Konsequenz und gestützt auf Sondergesetze, die zu spezifischen Anlässen erlassen werden (müssen), gehen FIFA und Olympia-Ausrichter gegen Unternehmen vor, die im Umfeld ihrer Wettkämpfe werben. Der Bundesgerichtshof als höchstes deutsches Zivilgericht hatte in dieser Sache einmal zu entscheiden zwischen der FIFA auf der einen Seite und dem Hanuta-Hersteller Ferrero auf der anderen Seite (vgl. BGH, Urt. v. 12.11.2009 - Az. I ZR 183/07). Die FIFA hatte Fußball-Sammelbilder an Panini lizenziert. Auch in den einzeln verpackten Hanuta-Schnitten lagen Fußballer-Sammelbilder bei, deren Bezug zur Weltmeisterschaft unverkennbar war. Der BGH hat die Klage der FIFA abgewiesen. Weder würden Markenrechte des Fußballverbands verletzt, noch entstehe bei den Süßigkeitenliebhabern der Eindruck, es handele sich bei den Hanuta-Herstellern um einen offiziellen Sponsor der FIFA. Dem Veranstalter eines Sportereignisses könne nicht schlechthin jede wirtschaftliche Nutzung, die auf das Sportereignis Bezug nehme, exklusiv vorbehalten sein. Mit anderen Worten: Mit der Tour de France in Düsseldorf durften auch diejenigen Unternehmen werben, die keine offiziellen Sponsoren der Tour waren. Der Grat ist aber schmal. Wer sich in unlauterer Weise anhängt und den Eindruck vermittelt, er sei offiziell legitimiert, gerät schnell in den Verdacht, rechtswidrig zu handeln.

SCHLAGLÖCHER DER RECHTSDURCHSETZUNG Der kleine Überblick über das, was in Gerichten aktenkundig geworden ist, mag zeigen, wie die Justiz noch damit zu kämpfen hat, das Geschehen rund um Sportereignisse rechtlich zu durchdringen. Im Kartell- und Wettbewerbsrecht, den beiden hier im Fokus stehenden Rechtsgebieten, geht es primär darum, den freien und fairen Wettbewerb in der Wirtschaft zu sichern. Vereine, Verbände und Veranstalter werden demnach wie Unternehmen behandelt, was ihrer wirtschaftlichen Bedeutung und ihren kommerziellen Absichten auch gerecht wird. Gleichwohl ist festzustellen, dass in vielen Einzelfällen den Sportunternehmen sehr viel mehr an Rechten zugestanden wird als Unternehmen auf anderen Märkten. Dafür mag es manchmal gute Gründe geben, etwa wenn es darum geht, mit sportlichen Regelwerken überhaupt erst einen fairen, sportlichen Wettkampf zu schaffen, auch wenn diese Regelwerke die wirtschaftlichen Handlungsfreiheiten der Athleten einschränken. Anderes mag zu weit gehen, etwa wenn das Ein-PlatzPrinzip genutzt werden kann, um andere Anbieter zu behindern oder Athleten bestimmte Konditionen aufzuzwingen.

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Im Vergleich zu den Zuständen, die im Sport zuweilen herrschen, ist es dann wiederum überraschend, wie selten Gerichte damit bemüht werden. Denn wer tiefere Einblicke in die Verträge der Sportgemeinde erhält, kann sich als Jurist oft nur die Augen reiben, was dort gefordert und durchgesetzt wird. Warum kommt es nicht häufiger dazu, dass sich bestimmte Gruppen dagegen vor Gerichten auflehnen? Das hat mehrere Gründe: Zum einen sind gerade die Schwächeren in diesem Bereich oft jung, unerfahren, schlecht beraten und stehen in großer Abhängigkeit von den Platzhirschen. Welcher zwanzigjährige Radprofi möchte schon seine Karriere aufs Spiel setzen, so wie es einst Jean-Marc Bosman tat, der zwar nach Jahren Recht bekam, dessen Karriere aber beendet und der in der Fußballwelt nicht mehr vermittelbar war? Hinzu kommt eine zweite Problematik. In den Verträgen, die geschlossen werden, sind typischerweise Schiedsgerichtsvereinbarungen integriert. Das bedeutet, dass viele der Konflikte nicht vor Gericht ausgetragen werden, sondern in spezifischen Schiedsverfahren, die abseits der Öffentlichkeit von Funktionären veranstaltet werden. Diese Schiedsgerichte stehen immer wieder im Ruf, näher an den Verbänden als an den Athleten zu sein. Öffentlich bekannt wurde die Thematik vor allem durch die Eisschnellläuferin Claudia Pechstein, die wegen des Verdachts, gegen die Anti-Doping-Regeln verstoßen zu haben, gesperrt wurde. Ihre Beschwerden gegen den Ausschluss von wichtigen Wettkämpfen zum Höhepunkt ihrer Leistungsfähigkeit führte sie vor Schiedsgerichte, die jedoch im Ergebnis dem Verband Recht gaben. Pechstein klagte daraufhin vor dem Landgericht (LG) München I mit der Begründung, der Zwang vor das Schiedsgericht gehen zu müssen, stelle bereits den Missbrauch von Marktmacht dar und sei deshalb unwirksam (vgl. LG München I, Urt. v. 26.02.2014 - Az. 37 O 28331/12). Es kam einer kleinen Sensation gleich, als sowohl das Landgericht München I als auch das Oberlandesgericht München Pechstein Recht gaben und damit die Schiedsgerichtsbarkeit in heftige Zweifel stürzten. Das OLG München hielt fest, dass Pechstein die Schiedsvereinbarung unterschreiben musste, um überhaupt an der WM teilnehmen zu können (vgl. OLG München, Urt. v. 15.01.2015 - Az. U 1110/14 [Kart]). Der Internationale Sportgerichtshof (CAS), der am Ende der Verbandsgerichtsbarkeit stehe, garantiere aber kein vollständig neutrales und faires Verfahren. Bei der Richterauswahl würden die Sportverbände gegenüber den Athleten ein strukturelles Übergewicht haben. Das war eine Ohrfeige für die Verbandsschiedsgerichtsbarkeit. Doch das Glück von Claudia Pechstein mit den deutschen Gerichten endete beim Bundesgerichtshof. Obwohl dieser durchaus Zweifel an der Unabhängigkeit und fairen Besetzung des CAS hegte, tat er nicht den letzten Schritt (vgl. BGH, Urt. v. 07.06.2016 - Az. KZR 6/15). In einer Interessenabwägung wurde dem Verband Recht gegeben, dass nur durch den zentralen Gerichtshof ein

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international anerkanntes, effektives Anti-Doping-System gewährleistet werden könne. Die Entscheidung war eine Enttäuschung für Pechstein und alle, die die Macht der Verbände, die bis in die Konfliktlösung hineinreicht, gern beschnitten hätten. Ob sie europarechtlich haltbar ist, wird sich noch zeigen. Claudia Pechstein gibt sich vor Gericht genauso kämpferisch wie auf der Eisbahn, sie zieht mit diesem Fall vor die europäischen Instanzen. Sollte sie am Ende Recht bekommen, könnte dies dazu führen, dass die Gerichte in viel stärkerem Maße als bislang Gelegenheit erhalten würden, den Sport wettbewerbsrechtlich zu strukturieren. Doch bereits die jüngste Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt zur Sportgerichtsbarkeit ist ernüchternd (vgl. OLG Frankfurt, Urt. v. 21.12.2017 - Az. 11 U 26/17 [Kart]). Ein Berufsradrennfahrer hatte vom Bund Deutscher Radfahrer (BDR) Schadensersatz für eine gegen ihn verhängte Dopingsperre verlangt. Das Bundessport- und Schiedsgericht des BDR (BDSSF) hatte die Sperre verfügt. Der BDR ist dabei ein Mitglied des Dachverbands nationaler Radsport-Verbände (UCI), welcher die Lizenzen für die Radsportler ausgibt. Mit dem Lizenzantrag verpflichtete sich der Sportler, die Regelungen des UCI anzuerkennen, dessen Sanktionen zu unterstehen und den CAS als letzte Berufungsinstanz anzusehen. Der Sportler ließ den Beschluss jedoch nicht vom CAS, sondern vom OLG Frankfurt prüfen. Dieses entschied, dass die Unterwerfungserklärung unter die Verbandsgerichtsbarkeit keinen Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung darstelle. Eine Beschränkung auf den CAS sowie der Ausschluss der deutschen Gerichtsbarkeit seien nicht missbräuchlich, so das OLG Frankfurt.

FAZIT Der Sport hat eine gesellschaftspolitische Funktion, er ist ein wichtiger Baustein im System des gemeinsamen Zusammenlebens. Doch wo immer Menschen zusammenleben, kommt es auch zu Konflikten, und dies ist im Sport nicht auf Auseinandersetzungen und Rangeleien am Start oder auf der Strecke beschränkt. Wesentlich wichtiger sind für viele der beteiligten Akteure die Verteilungskonflikte um die Einnahmen, die erzielt werden. Damit ist aber auch klar, dass der Sport eine wirtschaftliche Komponente hat. Das freie Spiel der Kräfte in der Wirtschaft braucht – genau wie der faire Wettkampf der Athleten – klare Regeln, damit tatsächlich Leistung belohnt wird und alle eine Chance haben. Dies sichert das Recht, insbesondere durch Regeln zum freien und fairen Wettbewerb im Kartellrecht und im Lauterkeitsrecht. Wie im Privatrecht üblich, werden die Interessen der Parteien dabei abgewogen und durch die Justiz koordiniert. Übergeordnete Aspekte des Allgemeinwohls, etwa der Schutz des freien Wettbewerbs, werden in

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die Interessenabwägung eingestellt. Die juristische Durchdringung der Materie hinkt allerdings anderen Wirtschaftsbranchen hinterher. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Sportverbände es geschafft haben, einen Großteil der Konfliktlösung in eigene Schiedsgerichte zu verlagern, die durchaus eine gewisse Nähe zu denen aufweisen, die besonders viel Macht haben. Das ist für das Recht eigentlich nur schwer zu ertragen. Die kleinen Fortschritte, die in den letzten Jahren erzielt wurden, etwa im Bereich des Eisschnelllaufs durch die Europäische Kommission und Claudia Pechstein, müssen aber von kämpferischen Naturen hart erarbeitet werden. Auch hier ähnelt das Recht einem engagierten Leistungswettbewerb.

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erstmalig zu einem Alleinerwerbsverbot«, Pressemitteilung vom 11.04.2016, online verfügbar unter: https://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/ Meldung/DE/Pressemitteilungen/2016/11_04_2016_DFL%20 Abschluss.html [Zugriff: 30.05.2017]. Bundeskartellamt (2017): »Markttest über Zusagen von DOSB und IOC«, Meldung vom 21.12.2017, online verfügbar unter: https://www.bundeskartellamt. de/SharedDocs/Meldung/DE/Pressemitteilungen/2017/21_12_2017_DOSB_ IOC.html [09.07.2018]. Bundeszentrale für politische Bildung (2016): »Wer soll das bezahlen? Fußballrechte, Vermarktung und Vermarkter«, online verfügbar unter: https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/PuF_S_15Wer%20soll%das %20bezahlen_0.pdf [Zugriff: 30.05.2017]. CAS (2012): Schiedsspruch vom 09.02.2012 - CAS 2010/A/2083 – Jan Ullrich. EuG (2007): 16.05.2007, Rs. T 158/05 – Trek Bicycle/HABM, in: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht Rechtsprechungs-Report 2007, S. 230. EuGH (1995): 15.12.1995, Rs. C-415/93, ECLI:EU:C:1995:463 – UEFA v Bosman. EuGH (2006): 18.07.2006, Rs. C-519/04 P, ECLI:EU:C:2006:492 – MecaMedina. Europäische Kommission (2012): »Study on the Contribution of Sport to Economic Growth and Employment in the EU«, online verfügbar unter: http://ec.europa.eu/assets/eac/sport/library/studies/study-contribution-sporseconomic-growth-final-rpt.pdf [Zugriff: 30.05.2017]. Europäische Kommission (2017): »Kartellrecht: Einschneidende Sanktionen der Internationalen Eislaufunion gegen Sportler verstoßen gegen EU-Wettbewerbsrecht«, Pressemitteilung vom 08.09.2017, online verfügbar unter: http://europa.eu/rapid/press-release_IP-17-5184_de.htm. Finken, Pia (2016): »Die neue Anti-Doping-Gesetzgebung: Gesetz zur Bekämpfung von Doping im Sport«, in: Pharma Recht 11, S. 445-449. Heermann, Peter W. (2018): »Aktuelle Thesen zur zentralen Vermarktung der Medienrechte an der Fußball-Bundesliga im Lichte von Art. 101 Abs. 3 AEUV«, in: Wettbewerb in Recht und Praxis, S. 7-17. Jhering, Rudolf von (2003 [1872]): Der Kampf ums Recht, Frankfurt/Main: Vittorio Klostermann. Kant, Immanuel (1968 [1797]): »Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre«, in: Kants Werke, Akademie Textausgabe, Bd. 6, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Die Metaphysik der Sitten. Berlin: de Gruyter.

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»Schnecke« gegen »Rennpferd« – Leistungsparameter von Radprofis und Hobbyradsportlern Achim Schmidt

EINLEITUNG Die Leistungen von Radprofis während der Tour de France erscheinen übermenschlich und sind für Laien nur schwer fassbar. Doch hinter diesen 3 Wochen repetitiver Höchstleistung steckt der Fleiß von meist deutlich über 10 Jahren intensiver Trainingsarbeit und ein großer Anteil Talent, also einer genetischen Disposition für Ausdauer. Zu welchen Leistungen ein Radprofi imstande ist und wie sich seine körperlichen Parameter von denen eines Hobbyradlers unterscheiden, ist das Thema dieses Aufsatzes. Beginnend, gewissermaßen als einleitende Grundbetrachtung, soll der Frage nachgegangen werden, ob ein Sieg bei der Tour de France durch Training erreichbar ist und welche anthropometrischen Voraussetzungen dies begünstigen. Im Anschluss wird ein Blick auf das Anforderungsprofil von Etappenrennen geworfen. Weitere Differenzierungsaspekte zwischen »Schnecke« und »Rennpferd« finden ebenfalls Berücksichtigung.

DER WEG ZUR SPITZE: SELEKTION ODER ADAPTATION? Bei der Analyse der Weltspitze im Radsport muss man sich zunächst die Frage stellen, ob das Kollektiv der Sportler einer Disziplingruppe (Straße, Bahn, Mountainbike, mit den jeweiligen Unterdisziplinen) auf internationalem Niveau die Folge eines jahrelangen Selektionsprozesses aufgrund des genetisch festgelegten

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Talents ist oder vielmehr durch eine mehr oder minder zufällige Kombination unterschiedlicher Erfolgsfaktoren, vor allem aber des Trainingsinputs, entsteht. Im ersten Szenario hätte somit nur derjenige, der die optimalen genetischen Voraussetzungen mitbringt, die Chance, in einer Disziplin das Topniveau zu erreichen, um zum Beispiel die Tour de France zu gewinnen. Andererseits ist auch eine sich über Jahre vollziehende morphologische Anpassung (anatomisch, histologisch sowie stoffwechselphysiologisch) an die speziellen Anforderungen einer Disziplin denkbar, wodurch sich ebenfalls Spezialisten entwickeln könnten, die auf höchster Ebene kompetitiv sind. Durch einen 10 Jahre oder länger andauernden Adaptationsprozess wäre somit auch ein weniger talentierter Sportler in der Lage, das Topniveau zu erreichen, wenn zahlreiche andere Faktoren in optimaler Weise im Verlauf dieser Zeit zufällig angeordnet waren bzw. planvoll koordiniert wurden. Moderne sportwissenschaftliche Theorien weisen auf eine erhebliche Bedeutung der genetischen Voraussetzungen (Talent) hin und zeigen einen Zusammenhang mit dem Spezialisierungsgrad einer Sportart auf. In einer Metaanalyse von 88 Studien wird das Verhältnis zwischen Training und Talent deutlich. Nur zu 18 % ist langjähriges Training für die Varianz des Erfolges von Hochleistungssportlern verantwortlich (vgl. Macnamara et al. 2014: 1608f.).1 Das beste Beispiel für die Rolle des Talents im Radsport ist Gerald Ciolek, der 2006 nach nur 3 intensiven und geplanten Trainingsjahren bereits mit 20 Jahren U23-Weltmeister wurde. Je spezieller die Anforderung einer sportlichen Disziplin ist und je höher der geforderte Leistungsstand in nur einer oder wenigen körperlichen Eigenschaften ausgeprägt ist, desto größer wird die Bedeutung des Talents, also der angeborenen körperlichen Voraussetzungen, für die betreffende Sportart. Epigenetische Einflussfaktoren spielen hier wahrscheinlich eine bedeutende Rolle. Werden vom Sportler jedoch viele verschiedene Eigenschaften und Fertigkeiten auf hohem Niveau verlangt, liegt die Möglichkeit einer Beeinflussung durch Training um ein Vielfaches höher als bei der zuvor genannten Variante.

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Noch vor 20 Jahren war vor allem in der Wissenschaft die Ansicht verbreitet, Erfolge in Musik oder Sport hingen maßgeblich von der Übungszeit ab. 10.000 Stunden sollten einen Experten egal in welchem Gebiet formen. Macnamara et al. 2014 zeigten mit ihrer Metaanalyse deutlich die Rolle von Talent auf.

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ANTHROPOMETRIE UND ALTER Die Maße des menschlichen Körpers (Längen, Umfänge und Gewicht) sowie das Trainings- und das biologische Alter spielen bezüglich der Frage, ob ein Radprofi die Tour de France gewinnen kann, eine relevante Rolle. Zusammenhänge zwischen Körperbau und Sportart finden sich in vielen Sportarten. Auch im Radsport bestehen disziplinspezifische Unterschiede. Das Alter ist im Hochleistungsradsport ebenfalls von zentraler Bedeutung. Dabei sind erfolgreiche Straßenprofis signifikant älter als weniger erfolgreiche Fahrer. Die nachfolgende Tabelle bestätigt beispielhaft diese Annahme, auch wenn die Daten bereits über 10 Jahre alt sind. Tabelle 1: Anthropometrische Daten und Alter von Radprofis der Tour de France 2004

Alter Größe Gewicht BMI

Tour 2004 Platz 1-10 (n = 10) 29,3 ± 2,3 * 176,9 ± 4,6 65,9 ± 5,8 * 21,04 ± 1,47 *

Tour 2004 Platz 138-147 (n = 10) 26,6 ± 3,0 178,4 ± 5,0 69,7 ± 4,6 21,89 ± 1,01

Quelle: vgl. Schmidt 2007: 107 (* signifikanter Unterschied)

Die Fahrer auf den Plätzen 1 bis 10 sind mit einer Größe von 176,9 cm etwas kleiner und mit einem Alter von 29,3 Jahren signifikant älter sowie signifikant leichter als die Fahrer auf den letzten 10 Plätzen. Auffällig ist ebenfalls das hohe durchschnittliche Alter der Bestplatzierten bei dieser schweren Rundfahrt. Hier liegt es auf der Hand, dass die notwendige Wettkampfhärte und taktische Erfahrung im Profiradsport bei Rennen dieser Kategorie erst in einem Alter um 30 Jahre erreicht werden. Dies stimmt nur begrenzt mit der Annahme von Neumann et al. (1993) überein, die das Höchstleistungsalter bei Radprofis bei 24 ± 2 Jahren sehen, wenngleich sie einräumen, der Leistungszenit könne etwa 10 Jahre aufrechterhalten werden. Andererseits könnte die taktische Hierarchie einer Mannschaft auch eine mögliche Erklärung für den Altersunterschied darstellen. Während die jüngeren Fahrer in der Regel für taktische Aufgaben im Rahmen der Mannschaftsstrategie herangezogen werden, können sich die (in aller Regel älteren) Kapitäne ganz auf das Finale eines Rennens konzentrieren. Somit haben die jüngeren Fahrer gar nicht die Möglichkeit, in das Finale einzugreifen. Für das flache ProTour-

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Rennen Paris-Tours konnten die gleichen Zusammenhänge in umgekehrter Abhängigkeit nachgewiesen werden (vgl. Bauer 2006: 36ff.).

GROSSE SPRINTER? Vielfach werden Straßensprinter als kleine, muskulöse Fahrer beschrieben. So auch in der Studie von Foley et al. (1989), in der Fahrertypen in verschiedene Kategorien eingeteilt wurden. Die Sprinter waren dabei mit 169,2 ± 2,5 cm recht klein. Die Betrachtung einer Reihe guter Tour de France-Sprinter der letzten Jahre ergibt allerdings ein deutlich heterogeneres Bild mit einem 11 cm höheren Mittelwert. Generell muss wahrscheinlich von einer Erhöhung der mittleren Körpergröße bei Radprofis in den letzten 15 Jahren ausgegangen werden, die damit parallel zur Entwicklung in der Bevölkerung verlief. Radsport scheint somit keine Sportart zu sein, in der kleinere Menschen erhebliche Vorteile genießen. Vergleicht man die 10 Erstplatzierten des auf flachem Terrain stattfindenden Rennens Paris-Tours mit denen der schweren Ardennenklassiker, gibt es eine Reihe von Unterschieden. So sind die Fahrer von Lüttich-Bastogne-Lüttich signifikant kleiner, leichter und weisen einen geringeren BMI auf als die Fahrer von Paris-Tours. Aufgrund des Massensprints bei Paris-Tours (2005) sind die 10 Ersten überwiegend Sprinter. Dass Sprinter in der Regel über eine größere Muskelmasse verfügen, erklärt den Gewichtsunterschied von 63,0 kg zu 68,9 kg. Leichte Bergfahrer werden mit 62,4 ± 4,4 kg (vgl. Padilla et al. 1999: 878), 68,6 ± 6,6 kg und 65,4 ± 6,1 kg (vgl. Bauer 2006: 37ff.) sowie mit 64,3 ± 2,2 kg (vgl. Lucía et al. 2000) als leichter beschrieben im Vergleich mit Flachlandspezialisten, die 76,2 ± 3,2 kg (vgl. Padilla et al. 1999: 878) auf die Waage bringen. Frauenradsportlerinnen, die in Weltcuprennen Plätze unter den ersten 20 belegen, sind durchschnittlich 24,1 ± 4,0 Jahre alt, wiegen 57,9 ± 3,6 kg und weisen eine Körpergröße von 168,7 ± 5,6 cm auf (vgl. Ebert et al. 2005: 536). Martin et al. (2001: 470ff.) geben als Bandbreiten für Straßenfahrerinnen auf internationalem Niveau ein Alter zwischen 21 und 28 Jahren, eine Körpergröße zwischen 162 und 174 cm, ein Gewicht von 55,4 bis 58,8 kg sowie einen Körperfettanteil zwischen 7 und 12 % an (vgl. Martin et al. 2001: 470ff.). Viele Frauen beenden ihre Karriere zeitig, um einem Kinderwunsch nachzugehen, der sich nur schwer mit dem Frauenradsport in der Weltspitze vereinbaren lässt. Dies erklärt das geringere Durchschnittsalter bei den Frauen.

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Tabelle 2: Altersdurchschnitt der ProTour-Mannschaften 2006 Team Francaise des Jeux Saunier Duval-Prodir Bouygues Telecom Euskaltel-Euskadi Liberty Seguros Cofidis Credit Agricole Caisse d'Epargne-Illes Baleares Lampre Rabobank Milram AG2R Liquigas-Bianchi Quick Step T-mobile Gerolsteiner Phonak Discovery Channel Davitamon-Lotto Team CSC Mittelwert Standardabweichung

Alter 26,3 26,6 26,7 26,7 26,7 26,8 26,9 27,1 27,2 27,6 27,7 27,7 28,0 28,3 28,4 28,5 28,5 29,2 29,4 29,5 27,69 0,97

Quelle: vgl. Schmidt 2007: 107

Insgesamt ist der Altersdurchschnitt der ProTour-Mannschaften mit 27,69 Jahren sehr hoch.

BELASTUNGSKENNZIFFERN VON RADPROFIS BEI ETAPPENRENNEN (M/W) Etappenrennen im Radsport gelten als die größten Belastungen, die der moderne Wettkampfsport zu bieten hat, sieht man einmal von Extremausdauerbelastungen ab, wie zum Beispiel dem mehrfachen Ultratriathlon oder Abenteuerrennen, die

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oft über Tage ohne Schlafpausen andauern. Die Einzelbelastungen von Etappenrennen liegen größtenteils im Langzeitausdauerbereich III und setzen sich aus Eintagesrennen und Zeitfahren zusammen. Das Erbringen solcher Leistungen über Tage, manchmal sogar über Wochen hinweg (Tour de France, Giro d’Italia, Vuelta a España: jeweils 3 Wochen) ist ein hervorragendes Beispiel für die extrem trainierbare Ausdauerleistungsfähigkeit des Menschen. Bei einem täglichen Energieverbrauch, der oft über dem liegt, was der Mensch über die Nahrung zuführen kann, kommt es zu einer Grenzbelastung des Stoffwechsels. Nicht selten wird auf einer Etappenfahrt neben Körperfett sogar Muskeleiweiß abgebaut, und der Körper gerät in eine katabole Phase. Herzfrequenz Während der Tour de France (T) und der Vuelta a España (V) konnten bei durchschnittlichen Belastungszeiten von 269,6 ± 122 min (V) und 259,4 ± 119,9 min (T) (ca. 4,5 h) Herzfrequenzen von 133,8 ± 17,9 Schläge/min (V) und 134 ± 18,6 Schläge/ min (T) ermittelt werden (vgl. Fernández-García et al. 2000: 1004). Dabei lagen 25,1/25,2 % der Zeit im Regenerationsbereich, 32,4/31,9 % im moderaten und 29,5/29,2 % im intensiven aeroben Bereich sowie nur 12,99/16,8 % über der individuellen anaeroben Schwelle (IAT). In Flachetappen fuhren die untersuchten Sportler 93 Minuten mit einer Belastung über 70 % der VO2max2, während Bergetappen stieg dieser Wert auf 123 Minuten an. Bei einem kürzeren Etappenrennen über 6 Etappen konnten Vogt et al. (2006: 149) während der Etappen exklusive einem Zeitfahren eine Durchschnittsherzfrequenz von 142 ± 5 Schläge/min berechnen. Im Verlauf eines Etappenrennens verändert sich das Herzfrequenzverhalten. Schmidt und Lötzerich (1999: 73) konnten bei einem nur fünftägigen Amateuretappenrennen zeigen, dass sowohl die maximale Herzfrequenz während der Etappe als auch die durchschnittliche Herzfrequenz im Laufe der Etappen signifikant absinken. Während die erste Etappe in dieser Untersuchung ein Zeitfahren von 13 km war, wiesen die übrigen Etappen Distanzen zwischen 160 und 180 km auf. Infolge einer zentralen Ermüdung werden die zu Beginn gemessenen maximalen und durchschnittlichen Herzfrequenzen nicht mehr erreicht. Wahrscheinlich handelt es sich hierbei um eine Art Schutzmechanismus des Körpers. Die

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Mit VO2max wird die maximale Sauerstoffaufnahme bei einer Ausbelastung bezeichnet. Die VO2max wird als relative also auf das Körpergewicht bezogene Sauerstoffaufnahme in Millilitern Sauerstoff pro Kilogramm Körpergewicht angegeben.

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durchschnittlichen Herzfrequenzen sanken von 155 auf 139, die mittleren maximalen Herzfrequenzen von 195 auf 183 Schläge/min. Parallel dazu konnte ein tendenzieller Anstieg der Ruheherzfrequenz von 48 auf 52 Schläge in der Minute verzeichnet werden. Die untersuchten Fahrer waren bei der Rundfahrt überfordert und erreichten keine vorderen Plätze. Auch bei Jörg Ludewig (Domina Vacanze) veränderte sich im Verlauf der Tour de France 2005 die Herzfrequenz. Laut einem ZDF-Bericht aus dem Jahr 2005 erreichte Ludewig zu Beginn der Tour noch eine maximale Herzfrequenz von 191 Schläge/min und einen Ruhepuls von 39 Schläge/min, wohingegen seine maximale Herzfrequenz bei der elften Etappe nur noch bei 176 Schläge/min und die Ruheherzfrequenz bei 33 Schläge/min lag. Dieses für den Radsport typische Phänomen ist in der Literatur nur unzureichend beschrieben. Bei einem viertägigen Amateuretappenrennen mit einem Zeitfahren (16 km), einem Straßenrennen (110 km), einem Bergzeitfahren (5,5 km) und einem Straßenrennen (105 km) wurden Herzfrequenzen gemessen, die beim Zeitfahren bei 91,1 ± 2,5 % und beim Bergzeitfahren bei 93,2 ± 4,7 % der maximalen Herzfrequenz (in einem Feldtest bestimmt) lagen. Während der beiden Straßenrennen wurden Herzfrequenzen von 81,9 ± 9,6 % und 78,6 ± 8,9 % der maximalen Herzfrequenz ermittelt (vgl. Palmer et al. 1994: 1280f.). Stoffwechsel In Anbetracht der großen Belastungsumfänge bei Etappenrennen liegt die Vermutung nahe, dass die erzielten Leistungen vornehmlich unter aeroben Stoffwechselbedingungen erbracht werden. In einer Studie mit 6 Radprofis konnten Vogt et al. (2006: 150f.) auf die mögliche Fehlinterpretation von Herzfrequenzdaten bezüglich der Stoffwechselintensität hinweisen. Die Fahrer wurden vor einem Etappenrennen (5 Etappen) einem Stufentest unterzogen. Eine Berechnung der ober- und unterhalb der anaeroben Schwelle verbrachten Zeit während der Etappen ergab für die Herzfrequenz im Bereich um die anaerobe Schwelle einen deutlich zu hohen Anteil, während der Zeitanteil unterhalb der Schwelle mittels der Herzfrequenz deutlich zu gering eingeschätzt wurde. Bei korrespondierenden Laktatwerten von 1 mmol/l über der Schwelle konnte durch die Zeitberechnung mittels der Herzfrequenz nur eine geringfügig kürzere Dauer ermittelt werden als über die Leistung.

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Hormone Körperliche Belastungen haben einen großen Einfluss auf die Hormonkonzentrationen im Körper. Dreiwöchige Rennbelastungen wie bei der Vuelta a España führen bei Profiradsportlern zu einer signifikanten Reduktion des Plasmatestosteronwerts. In der Studie von Fernández-García et al. (2002) wurden die Blutproben zweier Profimannschaften vor, während und zum Ende der Vuelta untersucht. Die Mannschaft mit dem intensiveren Wettkampfprogramm vor dem Radrennen startete bereits mit einem erniedrigten Testosteronwert. Während der Spanienrundfahrt sank deren Testosteronwert ebenso ab wie der einer weniger vorbelasteten Mannschaft. Auch die Cortisolwerte im Plasma erfuhren während des Rennens eine signifikante Reduktion. Beides spricht für die katabole Stoffwechselsituation, in die Radprofis während eines großen Radrennens gelangen können. Leistung und Trittfrequenz Die Heterogenität der einzelnen Etappen und die jeweilige taktische Situation bei Rundfahrten macht pauschale Aussagen zu den Parametern Leistung und Trittfrequenz unmöglich. Bei Etappenrennen werden im Profibereich durchschnittlich zwischen 2,8 und 4,5 Watt pro kg Körpergewicht geleistet. Bei einem fünftägigen Etappenrennen lag die durchschnittliche Leistung von 6 Profis bei 220 ± 22 W, was einer relativen Leistung von 3,1 ± 0,2 W entspricht (vgl. Vogt et al. 2006: 149). Bei der 13. Etappe der Tour de France 2004 leistete Jens Voigt durchschnittlich 329 W und erzielte bei den sieben Bergwertungen der Etappe durchschnittlich etwa 400 W Bergfahrleistung bei einer Trittfrequenz zwischen 70 und 80 U/min. Voigt gehörte mit 76 kg zu den schweren Fahrern im Peloton (vgl. Kühnen 2004: 40). Seine durchschnittliche Leistung entsprach einer relativen Leistung von 4,3 W/kg, was sich mit den oben erwähnten Quellen deckt. Während bei Eintagesrennen bestimmte Fahrertypen je nach Topografie und Witterung höhere Siegchancen haben, sind die Anforderungen bei Etappenrennen vielschichtiger. Bei den großen Etappenrennen mit stark wechselndem Terrain können nur absolute Allrounder einen vorderen Platz in der Gesamtwertung belegen. Sprinter haben nur bei flachen Etappenrennen ohne selektive Streckenführung eine Chance, durch ihre Platzierungen bei Massensprints und in einem Prolog die Tour zu gewinnen. Leichte Bergspezialisten können bei Etappenrennen im Hochgebirge zwar Zeit gutmachen, doch reicht diese in den meisten Fällen nicht aus, um die Zeitver-

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luste bei Zeitfahren und Flachetappen (Windkante) auszugleichen. Bei Rundfahrten im Gebirge sind diese Sportler aufgrund ihrer idealen anthropometrischen Bedingungen jedoch unschlagbar. Zeitfahrspezialisten haben die besten Voraussetzungen, auch bei Etappenrennen gute Resultate zu erzielen, sofern längere Zeitfahrten integriert sind und die Athleten auch im Gebirge zurechtkommen. Hier sind allerdings leichte und kleinere Zeitfahrer im Vorteil, die über eine hohe relative Leistung verfügen. Schwere Zeitfahrer können in der Regel nur beim Zeitfahren und bei flachen Eintagesrennen dominieren. Bis auf die Bergspezialisten haben Foley et al. (1989: 30ff.) unter anderem die Körpergrößen aller möglichen Spezialisten des Straßenradsports miteinander verglichen, mit dem Ergebnis, dass sprintstarke Radrennfahrer kleiner sind als Verfolger, Zeitfahrer und Fahrer ohne besondere Fähigkeiten. In einer spanischen Studie von Lucia et al. (2000: 510ff.) werden Zeitfahrer und Bergspezialisten (Radprofis) untersucht. Die Ergebnisse belegen, dass die Bergspezialisten (n = 8; Alter 26 ± 1 Jahre; Größe 176,0 ± 2,0 cm; Gewicht 63,6 ± 2,2 kg) signifikant leichter und kleiner als die Zeitfahrer sind (n = 6; Alter 27 ± 1 Jahre; Größe 181,6 ± 1,7 cm; Gewicht 72,3 ±2,3 kg). Die Bergfahrer erreichen bei zwei Ergometertests höhere maximale Laktatwerte und eine höhere maximale relative Sauerstoffaufnahme als die Zeitfahrer (6,6 ± 0,9 mmol/l vs. 5,0 ± 0,4 mmol/l, 78,4 ± 3,2 ml/kg/min vs. 70,5 ± 2,4 ml/kg/min). Die Unterschiede zwischen verschiedenen Fahrertypen sind ebenfalls Gegenstand einer weiteren spanischen Untersuchung von Padilla et al. (1999: 882ff.), bei der 24 Weltklasseprofis (5 Flachlandspezialisten, 4 Zeitfahrer, 6 Allrounder, 9 Bergfahrer) einem Laborstufentest unterzogen wurden. Während die Bergfahrer das ungünstigste Verhältnis zwischen frontaler Projektionsfläche und Gewicht aufwiesen, waren sie mit 6,47 ± 0,33 W/kg in der Lage, die höchste relative Leistung zu erbringen. Die höchste absolute Leistung erzielten die Flachlandspezialisten mit 481 ± 18 W. Mit 356 ± 41 W bzw. 357 ± 41 W hatten die Flachlandspezialisten und die Zeitfahrer deutlich höhere Schwellenwerte als die Bergfahrer.

FRAUENPROFIRADSPORT Der Frauenprofiradsport unterscheidet sich vom männlichen Profiradsport im Wesentlichen durch die Länge der Rennen und die Dauer der Etappenrennen. Während die Männer Eintagesrennen mit Distanzen von bis zu 290 km fahren und dreiwöchige Etappenrennen bestreiten, sind die Eintagesrennen bei den Frauen meist nur 150 km lang, und die Etappenrennen dauern nicht länger als 10 Tage. Bei einem Vergleich der anthropometrischen Daten männlicher und weiblicher Straßenprofis fällt vor allem der um den Wert 1,3 geringere BMI auf, was

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vornehmlich an der schwächer ausgeprägten Muskulatur der Frauen liegt. Der BMI der Radsportlerinnen ist deutlich geringer als der anderer Leistungssportlerinnen, insbesondere dem der Spielsportlerinnen. Zudem sind die Männer durchschnittlich 5 Jahre älter als die Frauen. Bei den untersuchten Männern handelt es sich um die 10 Erstplatzierten der Tour de France 2005 und bei den Frauen um 15 australische Fahrerinnen, die bei Weltcuprennen unter den Top 20 waren. Tabelle 3: Männliche und weibliche Straßenprofis im Vergleich

Alter Größe Gewicht BMI VO2max Anzahl der Rennen Jahreskilometer

Männer (n = 10)1 29,7 ± 2,0 Jahre 176,9 ± 3,8 cm 67,9 ± 5,0 kg 21,68 ± 1,18 ca. 80 ml kg (-1) min (-1)* 70-150 30.000-40.000 km

Frauen (n = 15)2 24,1 ± 4,0 Jahre 168,7 ± 5,6 cm 57,9 ± 3,6 kg 20,34 ± 1,3 63,6 ± 2,4 ml kg (-1) min (-1) 50-80 20.000-28.000 km

Quelle: 1Bauer 2006; 2Ebert et al. 2005 (* Schätzung)

BELASTUNGSKENNZIFFERN VON HOBBYRADSPORTLERN Ein Vergleich von Tour de France-Profis und Hobbyradsportlern unter wissenschaftlichen Bedingungen fällt schwer. Für Radprofis liegt seit einigen Jahren eine Reihe von Publikationen vor, welche die Belastung und die physiologischen Auswirkungen im Profiradsport dokumentieren. Für den gesamten Bereich des Hobbyradsports finden sich zwar auch einige Untersuchungen, allerdings ist das Leistungsspektrum wesentlich größer. Es bestehen sehr signifikante Unterschiede zwischen einem Radsportanfänger, einem bereits jahrelang aktiven Jedermannfahrer und einem Straßenprofi. Der Profi ist in allen leistungsphysiologischen Kriterien durch die jahrelangen physiologischen Anpassungsprozesse deutlich überlegen. Um eine Vergleichbarkeit zu erzielen, wird sich nachfolgend auf Topsportler aus der Jedermannszene bezogen, die vorwiegend an langen Jedermannrennen teilnehmen, sowie auf Hobbyradsportler, die mit dem Rennrad fahren, aber keinerlei Wettkämpfe bestreiten. Die Jedermannrennfahrer betreiben ihren Sport mit sehr großem Aufwand und sind in der Regel deutlich älter als Straßenprofis. Die Daten zu diesen Sportlern finden sich nicht in wissenschaftlichen Quellen, sondern in

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Radsportmagazinen, die sehr detailliert über solche Sportler berichten. Diese Fahrer sind in Bezug auf ihre Leistungsparameter durchaus mit guten Amateurradsportlern zu vergleichen. Begonnen werden soll die Betrachtung von Radprofis, Jedermannrennfahrern und Hobbyradsportlern jedoch mit einer Gegenüberstellung ihrer Trainingsbelastungen. Tabelle 4: Trainings- und Rennbelastungen von Radprofis, Jedermannrennfahrern und Hobbyradsportlern in der Gegenüberstellung3 Profi km/Jahr km/Tag (365 Tage) h/Jahr h/Tag Radtage/Jahr Anzahl der Rennen km bis zur Profikarriere Gesamtkilometer in aktiver Laufbahn

Jedermannrennfahrer 7000-25.000 km

Hobbyradsportler 1000-3000 km

19,2-68,5 km

2,7-8,2 km

1000-1350 h 2,7-3,6 h ca. 320 80-120 (150)

250-895 h 0,7-2,5 h 120-300 3-30

40-120 h 0,1-0,3 h 25-75 0

50.000-100.000 km 400.000-600.000 km





70.000-250.000 km

20.000-30.000 km

30.000-40.000 km 82-109 km

Quelle: Siehe Fußnote 3

Aus diesen Daten, die auf Erfahrungswerten beruhen, wird der unterschiedliche zeitliche Aufwand der hier betrachteten Gruppen ersichtlich. Die Jahreskilometer stellen im Radsport das Maß für die Belastung dar, wenngleich eine Angabe in Trainingsstunden viel präziser wäre. Je nach Wohnort und Anzahl der Rennen

3

Die hier zusammengetragenen Werte sind aus zahlreichen wissenschaftlichen Quellen, Gesprächen mit Sportlern und Erfahrungswerten abgeleitet worden. Insbesondere die beiden Kategorien Hobbyradsportler und Jedermannrennfahrer decken ein sehr großes Leistungsspektrum ab. Die aufgeführten Werte entsprechen dem oberen Leistungsbereich der Kategorien.

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verändert sich der Kilometerwert recht schnell und verfälscht das Bild. Ein ebenso großer Unterschied zeigt sich in den Radtagen pro Jahr, die bei einem Straßenprofi bei Werten deutlich über 300 Tagen liegen. Somit sitzt dieser Sportlertypus nur wenige Tage im Jahr nicht auf dem Fahrrad. Hierbei handelt es sich vornehmlich um Krankheits- und Reisetage; auch Regenerationstage zählen dazu. Während Radprofis noch vor 10 Jahren teilweise bis zu 200 Renntage pro Jahr aufwiesen, ist diese Zahl in den letzten Jahren rückläufig und liegt bei Vielfahrern bei ca. 180 Renntagen. Das Gros der Radprofis fährt jedoch etwa 100-120 Radrennen pro Jahr. Normalerweise nehmen die Sportler, die bei den großen Rundfahrten (Tour de France, Giro dʼItalia, Vuelta a España) eine herausragende Platzierung im Gesamtklassement anstreben, an weniger Rennen teil. Diese Mannschaftskapitäne fahren teilweise nur 60 bis 70 Rennen pro Jahr.4 Die Jahrestrainingsstunden beziehen sich hier ausschließlich auf die zurückgelegten Radkilometer. Hinzu kommt ein nicht unbeträchtlicher Zeitaufwand für allgemeines athletisches Training, Ausgleichssportarten, Massage und Reisetätigkeit. Tabelle 5: Leistungsparameter und Sauerstoffaufnahmen von Radprofis, Jedermannrennfahrern und Hobbyradsportlern in der Gegenüberstellung Profi Schwellenleistung (FTP über 30-45 min) Spitzenleistung Sauerstoffaufnahme

5,7-6,3 W/kg Körpergewicht

Jedermannrennfahrer 3-5 W/kg Körpergewicht

Hobbyradsportler 2-4 W/kg Körpergewicht

15-22 W/kg Körpergewicht 75-90 ml/kg/min

12-15 W/kg Körpergewicht 55-75 ml/kg/min

9-12 W/kg Körpergewicht 40-50 ml/kg/min

Quelle: Siehe Fußnote 3

Bei der Benennung von Leistungswerten für unterschiedliche Zielgruppen muss insbesondere bei Jedermannfahrern und Hobbysportlern ein sehr großes Spektrum angegeben werden. Ein gesunder und nicht übergewichtiger junger Hobbyradler kann aufgrund seiner Konstitution unter Umständen deutlich bessere Leistungswerte aufweisen als jemand, der deutlich mehr trainiert, dafür aber übergewichtig ist und dessen körperliche Voraussetzungen weniger günstig sind. Lediglich die

4

Die hier genannten Werte resultieren aus persönlichen Gesprächen mit Fahrern.

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Profis stellen ein homogeneres Kollektiv dar, für das recht genaue Angaben gemacht werden können. Zudem sind Leistungsparameter und die Sauerstoffaufnahmen vom Körpergewicht abhängig. Ein großer, muskulöser und damit auch deutlich schwererer Fahrer erreicht höhere absolute Leistungswerte. Seine relative Leistung, also die auf ein Kilogramm Körpergewicht berechneten Werte, sind jedoch mit denen eines ebenso trainierten, aber kleinen und leichten Sportlers vergleichbar, obwohl sich die absoluten Werte wesentlich unterscheiden. Zudem deutet sich an, dass die Leistungen im hochintensiven Spitzenbereich weniger stark einer Verbesserung durch Training unterliegen als Leistungen im Ausdauerbereich. Ernährung Ebenso interessant wie die Betrachtung der Belastungskennziffern ist die Darstellung der Ernährung der unterschiedlichen Gruppen. Tabelle 6: Ernährungskennziffern von Radprofis, Jedermannrennfahrern und Hobbyradsportlern in der Gegenüberstellung* Profi

Jedermannrennfahrer

Hobbyradsportler

Energieaufnahme (durchschnittlich)

4000 kcal/Tag

3500 kcal/Tag

2000 kcal/Tag

Energieverbrauch lange Eintagesrennen

bis 10.000 kcal/Tag

bis 8000 kcal/Tag



Energie/Jahr

1.642.500 kcal/Jahr

1.277.500 kcal/Jahr

730.000 kcal/Jahr

Umrechnung in Nudeln (ungekocht)

460 kg

365 kg

210 kg

Flüssigkeitsaufnahme/Tag

10 l (Tour Bergetappe)

10 l (Langer Marathon)

3l

Flüssigkeitsaufnahme/Jahr

2000 l

1500 l

900 l

Quelle: Siehe Fußnote 3 (* Schätzungen)

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Insbesondere die Profis verbrauchen während eines Jahres eine enorm große Menge an Energie, um die durchschnittlichen täglichen Belastungen von etwa 3 Stunden absolvieren zu können. Ein Energieverbrauch von bis 10.000 kcal während langer und schwerer Eintagesklassiker stellt große Anforderungen an die Ernährung der Fahrer, denn ein solch hoher Energieverbrauch kann nicht durch Nahrungsmittel zugeführt werden. Das wiederum zieht eine negative Energiebilanz an Renntagen nach sich. Selbst bei besonders anspruchsvollen Bergetappen der Tour de France gehören diese Werte allerdings zur Ausnahme. Werte von 7000 kcal kommen hier allerdings häufiger vor. Durch die immer wiederkehrenden negativen Tagesenergiebilanzen während der Tour de France verbrauchen die Sportler in diesen 3 Wochen mehr Energie als sie zuführen können. Das hat einen Gewichtsverlust vornehmlich von Fett von 1 bis 3 Kilogramm zur Folge. Die Flüssigkeitsaufnahme kann während langer Bergetappen bei heißen Temperaturen 10 Liter pro 24 Stunden übersteigen. Der Hauptgrund für diesen erhöhten Flüssigkeitsbedarf ist die erforderliche Kühlung des Körpers über die Schweißverdunstung auf der Haut. Nur auf diese Weise schafft es der Körper, die Kerntemperatur im unbedenklichen Bereich zu halten. Die Flüssigkeitsaufnahme geht mit einer hohen Arbeitsleistung der Nieren einher. Insgesamt setzt sich ein Tour de France-Teilnehmer durch seinen stark erhöhten Nahrungs- und Flüssigkeitsbedarf einem größeren Risiko aus, mit der Nahrung Schadstoffe und gesundheitsbeeinträchtigende Zusatzstoffe zu sich zu nehmen. Hierbei können leicht Grenzwerte überschritten werden, die eine spätere Gesundheitsbeeinträchtigung nach sich ziehen können. Hierzu sind jedoch keinerlei Publikationen veröffentlicht. Treteffizienz Eine kleine Zahl von Studien legt den Schluss nahe, dass die Treteffizienz ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal nicht nur zwischen Radprofis und Hobbyradlern, sondern auch innerhalb der hochspezialisierten Gruppe der Radprofis ist. Die Treteffizienz ist quasi gleichzusetzen mit dem biomechanischen Wirkungsgrad. Der biomechanische Wirkungsgrad beim Treten lässt sich aus dem Verhältnis der auf das Pedal aufgebrachten Gesamtkraft und der tangentialen Kraft ermitteln. Die resultierende Kraft stellt das Ergebnis aus Tangentialkraft und Radialkraft dar. Nur die Tangentialkraft ist vortriebswirksam und wirkt immer im rechten Winkel zur Kurbel. Aus diesem Grund muss sich ihre Richtung im Zyklus ändern. Wenn die gesamte resultierende Pedalkraft gleich der Tangentialkraft wäre, wäre ein biomechanischer Wirkungsgrad von 100 % erreicht. Die Radial-

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kraft hingegen staucht oder verlängert die Kurbel oder erzeugt Lagerreibung. Unter Querkräften fasst man alle Kräfte zusammen, die nicht vortriebswirksam sind und in alle anderen Richtungen weisen als tangential und radial. Die Querkräfte wirken in der Regel nach außen (vgl. Henke et al. 2001: 136) und erreichen maximal 20 % der Werte der Tangentialkräfte. Während Hobbyradler einen biomechanischen Wirkungsgrad von etwa 50 % beim Pedalieren aufweisen, erreichen Radsportler etwa 70 % bei hohen Leistungen (ebd.: 138ff.). Diese Werte erscheinen jedoch sehr hoch angesetzt zu sein, wie die nachfolgende Untersuchung zeigt. In einer Studie von Hillebrecht et al. (1998: 60f.), an der 8 Fahrer aus dem AKader des Bund Deutscher Radfahrer (BDR) (4000 m Verfolger) teilnahmen, wurden deutlich schlechtere Werte festgestellt. So lagen die durchschnittlichen Wirkungsgrade zwischen 35 und 60 %. Nur ein Fahrer war in der Lage, in der Zugphase einen positiven Wirkungsgrad von 25 % zu erzeugen, alle übrigen Probanden wiesen hier Werte zwischen -40 und -60 % auf. Etwa 70 % des Gesamtvortriebs werden im zweiten Sektor erzeugt, weitere 15-20 % im dritten Sektor. Im vierten Sektor schafft es nur ein Athlet, einen Vortrieb von 3,7 % zu erzeugen (ebd.: 61). Eine weitere interessante Feststellung konnte in dieser Untersuchung von Topbahnfahrern gemacht werden. Mit zunehmender Belastung nimmt auch der Wirkungsgrad zu und erreicht bei 2 Fahrern Spitzenwerte von 65 % und bei den übrigen Probanden zwischen 40 und 50 %. Bei dem nur theoretisch möglichen perfekten runden Tritt beträgt der Wirkungsgrad in jedem Sektor 100 % und der Anteil jedes Sektors liegt bei 25 % (ebd.). Erstaunlich sind die großen Unterschiede in der Qualität der Tritttechnik bei einer auf dem Papier homogenen Gruppe auf Topniveau.

ABSCHLUSSBETRACHTUNG Durch die Professionalisierung des Jedermannsports hat es eine Leistungsverschiebung in Richtung der Profis gegeben. So sind die besten Jedermannrennfahrer mittlerweile auf dem Niveau von Radprofis der dritten Kategorie aus sogenannten Continental Teams angelangt. Aufgrund des recht hohen Alters dieser Sportler ist allerdings kein Wechsel in das Profilager möglich. Erfolgreiche Jedermannrennfahrer betreiben einen Trainingsaufwand, der dem eines Profis gleicht. Eine weitere Annäherung an das Leistungsniveau von Radprofis ist unwahrscheinlich, da jüngere und sehr erfolgreiche Jedermannsportler bzw. Amateure eine Pro-

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fikarriere einschlagen könnten und somit nicht mehr im Jedermannsport aktiv wären. Der Hobbyradsport hingegen ist nicht von dieser Leistungsverbesserung betroffen, denn die Sportler dieser Kategorie haben nur ein sehr kleines Zeitbudget für ihren Sport zur Verfügung. Die Variationsbreite der Kategorien Hobbyradsport und Jedermann ist sehr groß. Die Leistungsdichte der Radprofis ist seit vielen Jahren unverändert, wenngleich sich das Leistungsniveau aufgrund verbesserter Dopingkontrollen und einer tendenziell veränderten Dopingethik etwas verschlechtert hat. Teilweise konnte diese Entwicklung durch Materialverbesserungen und Optimierung der Trainingsmethodik vermindert werden.

LITERATUR Bauer, J. (2006): Straßenradsport: Darstellung und Vergleich von Anthropometrie, Alter und Belastungen in verschiedenen Disziplinen, Diplomarbeit Deutsche Sporthochschule Köln. Ebert, T. et al. (2005): »Power output during womenʼs World Cup road cycle racing«, in: European Journal of Applied Physiology 95 (5-6), S. 529-536. Fernández-García, B. et al. (2002): »The response of sexual and stress hormones of male pro-cyclists during continuous intense competition«, in: International Journal of Sports Medicine 23 (8), S. 555-560. Fernández-García, B. et al. (2000): »Intensity of exercise during road race procycling competition«, in: Medicine & Science in Sports & Exercise 32 (5), S. 1002-1006. Foley, J./Bird, S./White, J. (1989): »Anthropometric comparison of cyclists from different events«, in: British Journal of Sports Medicine 23 (1), S. 30-32. Henke, T./Monfeld, C./Heck, H. (2001): »Trettechnik – Einzelzyklusdarstellung im Radsport. Bundesinstitut für Sportwissenschaften«, in: Bundesinstitut für Sportwissenschaften (BISp) Jahrbuch, S. 127-144, online verfügbar unter: https://www.bisp.de/SharedDocs/Downloads/Publikationen/Jahrbuch/Jb_ 2001_Artikel/Henke_etal.pdf?__blob=publicationFile&v=1 [Zugriff: 30.10.2018]. Hillebrecht, M. et al. (1998): »Tritttechnik im Radsport: ›Der runde Tritt‹ – Mythos oder Realität?«, in: Leistungssport 28, S. 58-62. Kühnen, R. (2004): »Kraftakt«, in: Tour 8, S. 40. Lucia, A./Joyos, H./Chicharro, J. (2000): »Physiological response to professional road cycling: climbers vs. time trialists«, in: International Journal of Sports Medicine 21 (7), S. 505-512.

»Schnecke« gegen »Rennpferd« | 275

Macnamara, B./Hambrick, D./Oswald, F. (2014): »Deliberate Practice and Performance in Music, Games, Sports, Education and Professions: A Meta-Analysis«, in: Psychological Science 25 (8), S. 1608-1618. Martin, D. et al (2001): »Physiological characteristics of nationally competitive female road cyclists and demands of competition«, in: Sports Medicine 31 (7), S. 469-477. Neumann, G./Pfützner, A./Hottenrott, K. (1993): Alles unter Kontrolle; Ausdauertraining, Aachen: Meyer & Meyer. Padilla, S.et al (1999): »Level ground and uphill cycling ability in professional road cycling«, in: Medicine & Science in Sports & Exercise 31 (6), S. 878885. Palmer, G. et al (1994): »Heart rate responses during a 4-d cycle stage race«, in: Medicine & Science in Sports & Exercise 26 (10), S. 1278-1283. Schmidt, A. (2007): Das große Buch vom Radsport, Aachen: Meyer & Meyer. Schmidt, A./Lötzerich, H. (1999): »Changes in heart rate during rest and competition at stage races«, in: International Journal of Sports Medicine 20 (Suppl.), S. 73. Vogt, S. et al (2006): »Power output during stage racing in professional road cycling«, in: Medicine & Science in Sports & Exercise 38 (1), S. 147-151.

Tour der Leiden – gesund oder doch ungesund? Ingo Froböse

Seit 1903 treten jährlich die besten Radrennfahrer im bekanntesten Radrennen der Welt gegeneinander an: der Tour de France, dem anstrengendsten Wettkampf auf zwei Rädern. 2017 legten die Fahrer der 22 Teams auf 21 Etappen 3540 Kilometer zurück. Dabei fuhren sie im Durchschnitt 41 Kilometer pro Stunde und konnten Spitzengeschwindigkeiten von über 100 Kilometern pro Stunde erreichen. Zudem müssen viele Höhenmeter bewältigt werden – auf der Königsetappe sind es 5000 an einem Tag –, um schließlich im Gelben Trikot über die Champs-Élysées ins Ziel zu fahren (vgl. A.S.O. 2018). Pro Etappe verliert der Athlet bis zu 14 Liter Wasser. Die Tagesempfehlung für einen Hobbysportler liegt in der Regel bei einer Wasserzufuhr von circa 2 Litern pro Tag (vgl. DGE 2015). Zudem verbrauchen die Rennfahrer täglich 8000 bis 10.000 Kalorien, und trotz ihrer auf die Bedürfnisse des Leistungssports abgestimmten Ernährung nehmen sie bis zum Ende der Tour meist 2 bis 4 Kilogramm ab. Dem Radrennfahrer und dem Fahrrad wird im Verlauf des Rennens eine Menge abverlangt. So kommt es nicht selten zu Unfällen, Verletzungen und starken Ermüdungserscheinungen. Eine solche Belastung ist für Untrainierte undenkbar, und daher werfen wir zunächst einen Blick auf das normale Radfahren.

DENN RADFAHREN IST VIEL MEHR 45 % der Deutschen fahren regelmäßig Fahrrad (mindestens dreimal pro Woche). Obwohl im Durchschnitt mehr als 85 % der 7- bis 74-Jährigen in Deutschland ein Fahrrad besitzen (siehe Abbildung 1), machen Radfahrer nur 13 % des Verkehrsaufkommens aus. Spitzenreiter im Verkehr sind immer noch das Auto und die motorisierten Zweiräder mit 54 %. 21 % der Verkehrsteilnehmer sind Fußgänger,

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und 12 % fahren mit Bus und Bahn (vgl. Bundesministerium für Verkehr, Bau und Städteentwicklung 2010: 87f.). Dabei könnten bis zu 30 % der Autofahrten durch das Rad ersetzt werden (vgl. Umweltbundesamt 2014: 11), da viele Wege von Tür zu Tür mit dem Auto gar keine Zeitersparnis darstellen (siehe Abbildung 2). Strecken knapp unter 4 Kilometern sind mit dem Fahrrad oft schneller als mit dem Auto oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu bewältigen. Bei der Benutzung eines Pedelecs ist man in der Stadt sogar auf Strecken bis zu einer Länge von 9 Kilometern früher am Ziel als mit dem Auto. Abbildung 1: Fahrradbestand nach Altersgruppen sortiert

Quelle: Bundesministerium für Verkehr, Bau und Städteentwicklung 2008: 60

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Abbildung 2: Wegevergleich ‒ von Tür zu Tür im Stadtverkehr*

Quelle: Umweltbundesamt 2014: 9

Die Tour des Alltags weist im Durchschnitt eine Distanz von circa 5,7 Kilometern auf und ist mit der Streckenlänge der Tour de France natürlich nicht zu vergleichen (siehe Abbildung 3). Abbildung 3: Zurückgelegte Distanzen mit dem Rad

Quelle: Fahrrad-Monitor Deutschland 2015: 31

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Doch auch der Alltags-Radfahrer kann auf seinem Fahrrad leiden. Radfahrer kommen im Allgemeinen mit dem Lenker, dem Sattel und den Pedalen in Berührung. Eine falsche Position dieser Kontaktstellen kann selbst bei unregelmäßiger Nutzung zu Schmerzen führen, die auch in den Gelenken auftreten können. Im Leistungssport wird auf eine optimale Einstellung des Fahrrads geachtet, doch opfert man den Komfort der Höchstleistung. So sind zum Beispiel Sättel im Leistungssport oft nur aus Carbon, um besonders leicht zu sein. Normale sportliche Sättel hingegen sind etwas schwerer, da sie durch ihre Polsterung mehr Gewicht haben. Auch für Hobbysportler ist ein ergonomischer Sattel sehr wichtig, denn beim Sitzen auf dem Fahrradsattel wird ein ständiger Druck auf die Schambeinfuge und den Ischiasnerv ausgeübt. Bei Männern wirkt das Körpergewicht zusätzlich auf die Prostata sowie auf viele Nerven und Arterien im Schambereich, bei Frauen auf die Schamlippen (vgl. Froböse 2004: 28). Gerade bei längeren Fahrten auf dem Rad sollte daher auf einen passenden Sattel geachtet werden, damit es in diesen Bereichen nicht zu Quetschungen kommt. Frauen benötigen in der Regel einen 1 bis 2 Zentimeter breiteren Sattel aufgrund des durchschnittlich breiteren Beckens. Auf jeden Fall sollte auf eine ergonomische Einstellung des Fahrrads geachtet werden, da der Körper im Straßenverkehr und besonders auf den Wegen abseits der Straße immer wieder Kraftstößen durch Unebenheiten des Untergrunds ausgesetzt ist. Diese Belastungen, die auf den Stütz- und Bewegungsapparat wirken, können durch Federsysteme am Sattel oder am Hinterbau sowie an der Vordergabel reduziert werden. Besonders ein Federsystem am Hinterbau kann den Rücken entlasten. So ist es möglich, den Kraftstoß an den Händen um 25 %, an den Schultern um 15 %, am Kopf um 20 %, im Nacken um 10 % und am Rücken sogar um 30 % zu reduzieren (ebd.: 30f.). Je nach Häufigkeit und Intensität der Kraftstöße kann es in dem Körperbereich, welcher den Stoß abfedert, zu einer Überlastung kommen. Ist ein Fahrrad dann noch schlecht an den Fahrer angepasst, sind Schmerzen so gut wie vorprogrammiert. Für 77 % der Radfahrer im Alltag sind Bewegung und Fitness das Leitmotiv, und über 80 % möchten ihre Ausdauer verbessern, das Herz-Kreislauf-System fördern sowie die Muskulatur kräftigen. 61 % verfolgen zudem das Ziel, ihren Stoffwechsel anzuregen. Weitere wichtige Gründe für die Nutzung des Zweirads anstelle des Autos sind die Gesundheit, das Naturerlebnis sowie die mobile Flexibilität. Das Fahrradfahren hat viele verschiedene positive Effekte auf die Gesundheit. So wird die Muskulatur schon nach 10 Minuten gekräftigt. Dabei wird nicht nur die Bein-, sondern auch die Rückenmuskulatur gestärkt. Des Weiteren wird die Durchblutung gefördert und durch den Gebrauch von mehr Mitochondrien der Stoffwechsel gesteigert. Die Gelenke werden beweglicher und durch die Bewegung mit wichtigen Nährstoffen versorgt (vgl. Froböse/Wilke/Alles 2015: 43ff.).

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Nur 20 Minuten auf dem Fahrrad stärken bereits das Immunsystem, indem die Immunaktivität und -sensitivität gesteigert werden (vgl. ebd.). Nach einer halben Stunde Fahrradfahren werden die Herzfunktionen verbessert, was das Organ selbst sowie die Gefäße schützt und somit das Risiko senkt, an einem kardiologischen Leiden zu erkranken (vgl. ebd.). 40 Minuten Radfahren verbessern die allgemeine Ausdauerleistungsfähigkeit, und nach 50 Minuten wird auch der Stoffwechsel ökonomisiert (vgl. ebd.). Auf diese Weise lernt der Körper, mehr Energie aus den Fetten zu beziehen, Zucker besser zu verbrennen und Vitalstoffe zu aktivieren. Durch die Vermehrung der Mitochondrien wird der Energieverbrauch sogar im Ruhezustand gesteigert. Aufgrund der verstärkten Fettverbrennung und des erhöhten Grundumsatzes kann bereits nach 60 Minuten Radfahren das Körpergewicht reduziert werden (vgl. ebd.). Wird länger als eine Stunde Fahrrad gefahren, ergeben sich neben den vielen physiologischen auch psychische Effekte. Durch den Abbau von Stresshormonen und das Eintreten einer allgemeinen Entspannung sinkt das Stresslevel, und das subjektive Wohlbefinden wird verbessert (vgl. ebd.). Auch wenn es ein stressiger Alltag nicht immer zulässt, lange mit dem Fahrrad zu fahren, gilt: Jede Bewegung ist besser als keine! Kommen wir nun zum Hochleistungssport, ohne die Hobbysportler aus dem Blick zu verlieren. Anhand eines Vergleichs der beiden bekannten Radrennsportler Fabian Cancellara und Andy Schleck wird deutlich, dass beim Radrennen nicht nur die Ausdauer eine entscheidende Rolle spielt, sondern auch die Kraft. Andy Schleck ist ein sehr leichter Radrennfahrer, der sich durch eine besonders gut ausgeprägte Ausdauerleistungsfähigkeit auszeichnete. Fabian Cancellara hingegen, der ebenso erfolgreich war, konnte seine Leistung vor allem durch seine muskulösen und kräftigen Beine bei den Zeitfahretappen erbringen. Dass die Ausdauer eine wichtige konditionelle Fähigkeit im Radsport ist, kann nicht bestritten werden. Jedoch verkennen viele die Wichtigkeit der Kraft. Denn fehlt die Kraft, um eine bestimmte Übersetzung zu treten oder eine Tempoverschärfung zu fahren, nützt die beste Ausdauer nichts. Daher sollte beim Radrenntraining immer beides trainiert werden. Ebenso wichtig sind die mentale Stärke und eine richtige Ernährung, wenn man aus seinem Körper das Beste herausholen möchte. Mit dem Krafttraining entsteht jedoch ein Problem: Muskeln sind schwer, 12 % schwerer als Fett. Aber sie verbrennen auch am effizientesten Energie. So verbraucht 1 Kilogramm Muskelmasse am Tag circa 30 Kalorien mehr als 1 Kilogramm Fett. Daher ist ein gezieltes Muskeltraining nicht nur für professionelle Radrennsportler sinnvoll, sondern auch für Hobbysportler, die ihr Gewichtsmanagement genauer abstimmen möch-

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ten. Beim Muskeltraining für den Radsport sollten die wichtigsten Muskeln, welche zur Bewegung beitragen, trainiert werden, wie zum Beispiel die Muskulatur der Oberschenkelvorderseite. Zusätzlich sollte ein Fokus auf jene Muskeln gelegt werden, die nicht direkt zur Bewegung beitragen, jedoch den Radfahrer auf dem Fahrrad stützen. Gemeint ist die Muskulatur des Rumpfs, bestehend aus der Bauch- und Rückenmuskulatur. Gerade bei letzterer sollten die tiefen Muskeln, wie die autochthone Rückenmuskulatur, miteinbezogen werden. Diese sind Stabilisatoren der Wirbelsäule und schützen sie. Ebenso ist das Training des Beckenbodens nicht zu unterschätzen. Er schützt nicht nur die Organe im unteren Bereich des Rumpfs, sondern übernimmt auch im Hinblick auf das Sitzen im Sattel eine Schutzfunktion des unteren Rückens und der Hüfte. Vor allem in diesen Bereichen können bei langen Strecken Probleme entstehen. Eine weitere Ergänzung für ein erfolgreiches Radrenntraining ist die Schulung der Sensomotorik. Der Vorteil eines sensomotorischen Trainings liegt nicht nur in der Verletzungsprophylaxe, sondern auch in der Ökonomisierung der Bewegung durch eine Verbesserung der inter- und intramuskulären Koordination (vgl. ebd.), die zu einem Ausgleich von muskulären Dysbalancen beitragen kann und außerdem die Stabilisation des Körpers sowie die Kraftfähigkeit fördert. Eine weitere Stellschraube für eine maximale Leistung ist, neben dem Training, die entsprechende Ernährung. Es empfiehlt sich für einen Radsportler, die Kohlenhydratzufuhr phasenweise bis auf 10 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht am Tag zu steigern, damit sich die Energiespeicher nach der Belastung und sogar während der Belastungsphasen schnell wieder auffüllen. Eine Unterstützung des Muskelwachstums und der Regeneration wird durch einen Eiweißkonsum von bis zu 1,8 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht am Tag erreicht. Mit den Fetten wird der restliche Energiebedarf gedeckt. Die genaue Verteilung der Makronährstoffe wird je nach Trainingsphase und Leistungsumsatz des Athleten angepasst (vgl. International Olympic Commitee 2016: 11ff.). In den ersten 6 Stunden nach der Belastung sollte der Körper vor allem mit ausreichend Kohlenhydraten und Eiweißen versorgt werden, um die Regeneration zu unterstützen (vgl. Beelen/Burke/Gibala/van Loon 2010: 515ff.). Als Kohlenhydratlieferanten dienen zum Beispiel Nudeln, Reis und Vollkornprodukte. Eiweiß wird beispielsweise durch Soja-, Milch- und Käseprodukte aufgenommen sowie durch Fisch und Fleisch. Insbesondere die Kombination aus Eiweiß und Kohlenhydraten begünstigt die Einlagerung von letzteren in den Energiedepots (vgl. ebd.). Hierzu eignet sich zum Beispiel ein Müsli mit Milch und Quark. Ebenso wichtig wie das richtige Essen ist auch die optimale Flüssigkeitszufuhr. Im Training verliert der Körper ca. 0,7 Liter Wasser pro Stunde. Gleichzeitig

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kann ein Mensch in diesem Zeitraum nur 0,8 bis 1 Liter aufnehmen (vgl. DGE 2015). Daher sollte darauf geachtet werden, schon vor dem Training genügend zu trinken. Währenddessen sollten dann etwa alle 15 Minuten in kleinen, langsamen Schlucken 150 Milliliter getrunken werden. Zu den sportgerechten Getränken zählen vor allem stilles Wasser, Mineralwasser und ungesüßte Tees. Je nach Plan zur Auffüllung der Energiespeicher können Fruchtsäfte und Schorlen genutzt werden. Auch das beliebte alkoholfreie Bier oder Malzbier hilft dem Körper, seine Energiespeicher wieder aufzufüllen. Wird nicht ausreichend getrunken, kann der Körper dehydrieren, was sich unmittelbar auf die Leistung auswirkt. So führt schon ein Wasserverlust von nur 1 bis 2 % des Körpergewichts zu einer verminderten Ausdauer, und 3 bis 5 % lösen Müdigkeit aus. Bei einer Dehydrierung von 5 bis 10 % entsteht bereits ein Schwindelgefühl, und bei über 10 % drohen eine Hitzeerschöpfung, Verwirrung oder Schlimmeres. Die Regeneration lässt sich durch die richtige Ernährung sowie durch aktive und passive Maßnahmen unterstützen. Zu den aktiven Maßnahmen gehören zum Beispiel Regenerationsfahrten mit dem Rad, das Dehnen, das Faszientraining oder verschiedene Entspannungstechniken (vgl. Meyer et al. 2016: 33ff.). Passive Maßnahmen sind beispielsweise Massagen, Saunagänge oder das Baden in einem Eisbecken (vgl. ebd.). Einen weiteren wichtigen Einfluss auf die Regeneration hat die Nachtruhe (vgl. ebd.). Daher sollte stets auf eine gute Schlafqualität und -hygiene geachtet werden. Bei den vielen möglichen Maßnahmen zur Leistungssteigerung, die im Radsport möglich sind, sollte trotzdem immer folgender Leitsatz berücksichtigt werden: Radfahren sollte ein Genuss bleiben, bei dem nicht immer Gas gegeben werden muss!

LITERATUR A.S.O., Amaury Sport Organisation (2018): »The history of the Tour de France«, online verfügbar unter: https://www.letour.fr/en/history [12.05.2017]. Beelen, Milou/Burke, Louise M./Gibala, Martin J./van Loon, Luc J. C. (2010): »Nutritional strategies to promote postexercise recovery«, in: International journal of sport nutrition and exercise metabolism 20, 6, S. 515-532. Bundesministerium für Verkehr, Bau und Städteentwicklung (2010): Mobilität in Deutschland 2008. Ergebnisbericht. Struktur – Aufkommen – Emissionen – Trends, online verfügbar unter:http://www.mobilitaet-in-deutschland.de/ pdf/infas_MiD2008_Abschlussbericht_I.pdf [Zugriff: 12.05.2017].

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Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (2008): Alltagsverkehr in Deutschland Erhebungsmethoden – Struktur – Aufkommen – Emissionen – Trends – Anwenderworkshop am 2. September in Berlin, online verfügbar unter: http://www.mobilitaet-in-deutschland.de/pdf/Projekt praesentation_MiD2008_WorkshopSeptember2009_FassungMaerz2010.pdf [Zugriff: 12.05.2017]. DGE, Deutsche Gesellschaft für Ernährung (2015): Richtig trinken – fit bleiben, online verfügbar: https://www.dge.de/presse/pm/richtig-trinken-fit-bleiben/ [Zugriff: 12.05.2017]. Fahrrad-Monitor Deutschland (2015): Fahrrad-Monitor Deutschland. Ergebnisse einer repräsentativen Online-Befragung, online verfügbar unter: https://nationaler-radverkehrsplan.de/de/aktuell/nachrichten/fahrrad-monitor2015-fuer-deutschland [Zugriff: 17.10.2018]. Froböse, Ingo (2004): Cycling & Health. Kompendium gesundes Radfahren, online verfügbar unter: http://service.trsj.de/fileadmin/radschlag/komp-cyclhealth.pdf [Zugriff: 12.05.2017]. Froböse, Ingo/Wilke, Christiane/Alles, Torsten (Hg.) (2015): Training in der Therapie. Grundlagen, 4. Auflage, München: Elsevier Urban & Fischer. International Olympic Commitee (2016): Nutrition for Athletes. A practical guide to eating for health and performance, online verfügbar unter: https://hub.olympic.org/athlete365/wp-content/uploads/2016/01/1378_IOC_ NutritionAthleteHandbook_1e.pdf [Zugriff: 12.05.2017]. Meyer, Tim et al. (Hg.) (2016): Regenerationsmanagement im Spitzensport. REGman ‒ Ergebnisse und Handlungsempfehlungen, 1. Auflage, Köln: Sportverlag Strauß. Umweltbundesamt (2014): E-Rad macht mobil. Potenziale von Pedelecs und deren Umweltwirkung, online verfügbar unter: https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/378/publikationen/hgp_e-rad_macht_mobil _-_pelelecs_4.pdf [Zugriff: 12.05.2017].

Von Stahlrössern, Drahteseln und anderen Rädern – immer eine runde Sache! 1 Jean Pruvost

VORWORT Woher kommt mein Vorname? Vom Radfahren mit der bicyclette. Oder mit dem vélo. Ganz wie man will. Also eigentlich vom Radeln auf einer bécane, einem Drahtesel oder Stahlross. Es muss im Jahr 1931 gewesen sein, mein Vater war fünfzehn und hatte eine Leidenschaft: Radrennen. Und ein festes Vorhaben: Er wollte das Rad seiner Träume erwerben, das Rennrad seiner Zeit, das verlockend im Schaufenster des »Dernier sou« (»Letzten Hellers«) am Ortsausgang von Boulogne-sur-Mer glänzte. Beim »Letzten Heller« befand sich das Haus meiner Großeltern, und nach alter Tradition ließ man dort seine letzten Münzen, bevor man sich aufs Land begab. Und zweifellos waren sehr viele Münzen nötig, damit der Traum meines Vaters in Erfüllung ging. Also arbeitete er während der ganzen Ferien und füllte einen Umschlag nach dem anderen mit dem verdienten Geld. So konnte er eines Tages, von meinem Großvater begleitet, das Objekt seiner größten Begierde endlich sein Eigen nennen. Damit begannen für ihn und seinen besten Freund, Jean Casier, radikale Radfahr-Ferien. An jedem Tag auf eben diesem Rad wurde eine Strecke von etwa hundert Kilometern ausgesucht, inmitten jener Gegend, die von Geologen wegen der Form ihrer Gesteinsaufwölbungen »la boutonnière boulonnaise« (»das Knopfloch von Boulogne«) genannt wird und reich an besonders starken Steigungen ist,

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Aus: Pruvost, Jean (2014): À vélo ou à bicyclette, Paris: Éditions Honoré Champion, S. 9-12, 16-18, 37-40, 47-48, 119-128. Übersetzung: Mona Wodsak (mit herzlichem Dank an Lénaïck Bidan).

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vor allem in einem Gebiet von etwa dreißig Kilometern rund um Frankreichs lange Zeit bedeutendsten Fischereihafen. Und natürlich mussten die beiden auf den letzten Kilometern einen Sprint hinlegen wie der damalige Tour de France-Gewinner André Leducq. Oder wie der tapfere Antonin Magne. 1930 kam der Tour de France die erste Radio-Direktübertragung zugute: Die Begeisterung erfasste die gesamte Jugend jener Zeit! Eines verändert sich nie: Väter erzählen gerne von den Heldentaten ihrer Jugend, und meine eigene ist untrennbar verbunden mit den Fahrrad-Expeditionen meines Vaters, die Jean Casier bei unseren Besuchen noch großartiger ausschmückte; er hatte, als er herangewachsen war, das Café seiner Eltern übernommen. Es lag nicht weit vom »Letzten Heller« entfernt, hoch oben am Ende der Rue de Calais. Wem ich meinen Vornamen verdanke? Jean Casier, dem besten Freund meines Vaters. Wie viele Kinder drehte ich im Alter von vier Jahren meine ersten Runden mit dem Fahrrad, einem Kinderrad mit breiten Reifen und Stützrädern, die mich im Gleichgewicht hielten, bis sie nach und nach höher gesetzt und schließlich ganz entfernt wurden. Die Farbe seines ersten Fahrrades vergisst man nie, es ist ein Meilenstein der Erinnerung: Zum ersten Mal fühlt man sich selbstständig und den Beschränkungen des Laufens entwachsen. Meines war blau mit profilierten Weißwandreifen. Später folgten sonntägliche Familienausflüge, ich in der Mitte zwischen meinem Vater, der mit zwei großen Fahrradtaschen voranfuhr, und meiner Mutter auf ihrem Damenrad, recht schnittig gestaltet, aber ohne Querstange. Ich hatte, passend zu meiner Größe, ein gebrauchtes Fahrrad bekommen, in tristem Mausgrau, und genauso trist war meine Stimmung, denn es war ein Mädchenrad, eine kleinere Ausgabe vom Rad meiner Mutter. Es versteht sich von selbst, dass ich neidisch auf die Querstange am Rad meines Vaters schaute, an der eine beeindruckende Luftpumpe prangte. Aus gutem Grund war es mir verboten, ohne vorher abzusteigen den Dynamo einzuschalten, der mich faszinierte, denn das gleichmäßige dumpfe Surren, das die Reibung auf den Reifen verursachte, gab mir ein angenehmes Gefühl: Es klang wie der Motor eines Motorrades… Der Ungehorsam gehört zur zweiten Natur des Kindes, und so konnte ich nicht widerstehen: Ich nutzte einen Augenblick, in dem meine Eltern miteinander plauderten und nicht auf mich achteten, und schaltete – bei relativ schneller Fahrt – den Dynamo ein. Unmittelbare Folge: ein spektakulärer Sturz. Mein erster Kontakt mit der »Hexe mit den grünen Zähnen«, wie die Giganten der Straße sagen! Vielleicht würde ich mich gar nicht daran erinnern, wenn nicht an den nächsten vier oder fünf Sonntagen ein striktes Radfahrverbot geherrscht hätte. Mein Vater pflegte nicht zu scherzen…

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Ich kam in das Alter, in dem junge Menschen vernünftig werden, und man konnte mir endlich ein richtiges Herrenrad anvertrauen. Mein Vater hatte mir versprochen, ich bekäme sein Rennrad – eben jenes, auf dem er mit Jean Casier die großen Etappen der Tour de France nachgespielt hatte. In meiner Vorstellung entsprach dieses Rennrad in etwa denjenigen, die ich in den Schaufenstern sehen konnte. Als wir wieder einmal nach Boulogne-sur-Mer gereist waren, kam mein Vater eines schönen Morgens mit seiner Überraschung vom Dachboden… Was für eine Katastrophe! Mein Gott, war das hässlich! Es besaß einen Rennlenker, das stimmt schon, aber der war ganz anders gebogen als der meiner Freunde. Auch Ansetzwinkel und Maß und Form der Gabel waren ganz anders. Kurz gesagt, ich machte gute Miene, »vielen Dank, Papa«, aber ich fand mich lächerlich und musste eine Zeitlang ertragen, bei meinen Kameraden als »der mit der alten Krücke« zu gelten. Mit der seines Vaters, der hundert Kilometer am Tag auf einem stählernen Kampfross zurückgelegt hatte! Vor dem Krieg. Was für eine Erleichterung, als ich mit etwa dreizehn Jahren, nach dem bestandenen Certificat d’études – eine legendäre Prüfung, zu der damals die ganze Klasse antrat –, ein neues Fahrrad erhalten sollte. Ich war überwältigt: Es war ein silber-grüner demi-course (Halbrenner) von Captivante. Inzwischen weiß ich, dass es sich dabei um eine Erfolgsmarke aus der Stadt Dole im Jura handelte. So wurden auch die Anquetil-Räder der sechziger Jahre eine Zeitlang von La Captivante produziert, die zur Herstellerfirma Jeunet gehörte. Sie brachte auch einige motorisierte Fahrräder (Mofas) heraus, aber hier gab es schon das erfolgreiche Unternehmen Motobécane, das mit seiner »Mobylette« den Markt beherrschte. Und dann: Was für Wettfahrten zwischen mir auf der Captivante und meinen Freunden! Mit einem täglichen, bis zum forcing betriebenen Training, dessen Umstände ich erläutern muss. Meine Eltern hatten sich in Cusset, Département Allier, tatsächlich auf dem Gipfel des Mont-Béton (493 Meter ü. d. M.) ein Haus gebaut; abends kamen sie immer gegen halb sieben heim. In den unteren und später auch in den oberen Klassen spielte ich nach der Schule (255 Meter ü. d. M.) leidenschaftlich gerne baby-foot – noch ein Anglizismus – und hörte mit dem Kickern beim Tischfußball jedes Mal erst im allerletzten Moment auf, wobei ich jedoch einem ehernen Gesetz folgte: Ich musste vor meinen Eltern zuhause sein, genügend Zeit haben, ein paar Schulhefte auf dem Tisch zu verteilen, und so den Eindruck erwecken, ich hätte schon längst dort gearbeitet. Nun war es so, dass die Steigung zwischen meiner Schule und der Anhöhe mit dem Haus meiner Eltern fast jeden zum Absteigen zwang; ich glaube, sie betrug 14 %. Wenn ich auch, um nicht zu spät zu kommen, morgens mit meiner Schultasche im Rahmendreieck im extremsten Gang und bis an die Grenzen des Möglichen das starke Gefälle hinunterraste, kam es abends überhaupt nicht in Frage, auch nur einmal den Fuß auf den

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Boden zu setzen: Wollte ich vor meinen Eltern ankommen, durfte ich keine Sekunde verlieren. »Hast du gut gearbeitet?« »Ja, ich bin gerade mit den MatheAufgaben fertig.« Und währenddessen schaukelte im Anbau immer noch das Fahrrad, das ich erst eine Minute zuvor an seinen Haken gehängt hatte… Ich habe es kürzlich nachgeprüft. Erbaut auf jenem Hügel, dem Zeugenberg, an dem ich alles andere messe, besitzt das Stadion von Mont-Béton etwas Besonderes: Es enthält die Radrennbahn Roger Walkowiak und ist Sitz des Radsportvereins L’Avenir cycliste cussétois (»Die Radfahr[er]-Zukunft von Cusset«). Ich sehe darin ein Augenzwinkern des Schicksals: Der Hügel steht unter dem Zeichen des Rades, und so sollte auch ich der Radfahr-Magie dieses Ortes meinen Dank erweisen. Ich lege also die folgenden wenigen Seiten am Fuße des Mont-Béton nieder – als Zeichen meiner Liebe zum Fahrrad, der »petite reine« (»kleinen Königin«).

BEMERKUNGEN ZU VELOZIPÈDE UND BICYCLE IM JAHRE 1905 Wenn unter dem Stichwort bicyclette das Fahrrad im ersten Petit Larousse Illustré von 1905 als »vélocipède« bezeichnet wird, denn die Abkürzung »vélo« besaß noch keinen eigenen Eintrag, welche Definition erhält man dann für vélocipède? »VÉLOCIPÈDE, n. m. (lat. velox, ocis, véloce et pes, pedis, pied) Appareil à roues pour se transporter au moyen d’un mécanisme mû par les pieds.« »[…] (lat. velox, ocis, schnell und pes, pedis, Fuß) Mit Rädern versehenes Gerät, um sich mittels eines von den Füßen betätigten Mechanismus fortzubewegen.«2

Die entsprechende Abbildung zeigt ein großes Vorderrad und ein ungefähr halb so großes Hinterrad. Die Bezeichnung bicyclette wirkt somit moderner als das ältlich anmutende vélocipède; man hielt zwar noch an dem Gattungsnamen fest, aber das entsprechende Gefährt befand sich in ständiger Weiterentwicklung. Bicycle, von dem bicyclette im Grunde nur das weibliche Diminutiv ist, wird folgendermaßen definiert: »Vélocipède à deux roues, dont la première est mise en mouvement par l’action des pieds sur deux pédales.« (»Velociped mit zwei Rädern, von denen das vordere durch die Einwirkung der Füße auf zwei Pedale in Bewegung gesetzt wird.«) Natürlich gab es die Benennung bicycle, die bereits

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Übersetzung aller nicht namentlich gekennzeichneten Zitate: Mona Wodsak.

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1869 in der französischen Sprache belegt ist, schon vor der Wortbildung bicyclette, deren früheste Nachweise erst aus dem Jahr 1880 datieren, knapp zwei Jahrzehnte bevor das Stichwort und seine Definition im ersten Petit Larousse erscheinen. Für das zweirädrige Fahrgerät, bei dem das große Vorderrad die Richtung bestimmte und gleichzeitig als Antriebsrad diente, während das kleinere Hinterrad der Bewegung nur folgte, war die Bezeichnung bicycle zu diesem Zeitpunkt aber schon veraltet. Denn durch den Größenunterschied der beiden Räder und die Doppelfunktion des Vorderrades als Führung und Antrieb wurde die Beherrschung des Vehikels erheblich erschwert, und die Bezeichnung bicyclette verharmloste mit ihrem Suffix der Verkleinerung die insgesamt schwierige Handhabung. Indirekt bezeugen auch die Brüder Goncourt 1894 in ihrem Journal die Misslichkeiten beim Fahren des bicycle. Nicht ohne scherzenden Beiklang notieren sie über die Ankunft eines ihrer Freunde, des Kunsthistorikers Gustave Larroumet: »Larroumet, qui fait de la villégiature dans les environs, était venu en bicycle dîner, avouant qu’il tombait souvent, qu’il était couvert de contusions, mais que cela l’amusait.« »Larroumet, der zur Sommerfrische in der Gegend weilt, war mit dem bicycle zum Abendessen gekommen. Er gab zu, dass er häufig stürzte und mit blauen Flecken übersät war, aber er fand es recht vergnüglich.«

Dass dieser Hochschullehrer für Grammatik und Literaturkritik, Professor an der Sorbonne, persönlicher Referent des Bildungsministers und ab 1891 Mitglied der Akademie der Schönen Künste, sich auf dem bicycle von einem Ort zum anderen bewegt, hat Symbolcharakter: Das zweirädrige Fahrzeug übte seinen Reiz auf alle Schichten aus. 1896, zwei Jahre nach jenem Abendessen bei den Brüdern Goncourt, wird Gustave Larroumet von der Zeitung Le Temps als Sonderberichterstatter zu den ersten Olympischen Spielen gesandt. Das war doch ein paar blaue Flecken wert! Umso mehr, als er es »recht vergnüglich« gefunden hatte…

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EINE AUSSERORDENTLICH BREITGEFÄCHERTE FAMILIE Landstraße, Berg und Stadt Noch vor kurzem, in den sechziger Jahren, unterschied man drei Typen von Fahrrädern: Straßenrad, Halbrenner (demi-course) und Rennrad. Der Halbrenner beflügelte die Träume nicht weniger Jungen, die Schutzblech und Gepäckträger entfernten, damit es genauso aussah wie ein Rennrad… Seitdem erfreuen sich das vélo (eher: Sport-/Rennrad) und das bicyclette (eher: Allzweck-/Freizeitrad) eines anhaltenden Erfolges, sodass heutzutage eine Unmenge von Modellen mit mindestens ebenso vielen Benennungen auf dem Markt ist. Beginnen wir mit einem Blick auf die Straßenräder. Im Normalfall ist ihr Lenker geschwungen, der Sattel recht schmal, und sie verfügen über zwei Kettenblätter mit sechs Ritzeln. Wer vorankommen will, darf nicht trödeln… In dieser Gruppe, bei der es ums Vorwärtskommen geht, findet man auch die Modelle für »cyclotourisme«, das »Radwandern«. Das Wort begegnet uns schon 1901 in der Monatszeitschrift des Touring-Club de France und bedeutete von Anfang an ein Reisen auf und mit dem Fahrrad. Dementsprechend sind die Räder mit stabilen Gepäckträgern zum Transport von schweren Campingausrüstungen und folglich breiten Reifen versehen, sowie häufig mit drei Kettenblättern, um in zahlreichen Gängen fahren zu können; nicht zuletzt sind Rahmen und Gabel robust und ausladend gestaltet, damit weiteres Zubehör verstaut werden kann. Mehr zum Sport als nur zum Reisen gedacht ist das Bergrad. Mit geradem Lenker, dicken Reifen zum Abfedern von Stößen und leichtgängigen aber leistungsstarken Handbremsen eignet es sich für holprige Feld- und Forstwege. In der Regel besitzt es drei Kettenblätter und sechs bis neun Ritzel für ein schnelles Wechseln zwischen den Gängen. Hinzu kommen Teleskopgabel und Hinterradaufhängung. Zur Familie der Sporträder gehören, in der Untergruppe der Bergräder, Trekkingbike und Mountainbike. Ersteres ist in der Abkürzung VTC (für »vélo tout chemin«, etwa: »Rad für alle Straßen und Wege«) im Französischen seit 1993 geläufig; letzteres findet sich dort schon einige Jahre früher, 1987, als VTT (für »vélo tout terrain«, etwa: »Rad für jedes Gelände«). Das Trekkingbike hat in der Regel einen höheren Rahmen und größere Räder als das Mountainbike, aber trotzdem weniger Gewicht. Seit der Olympiade 1996 in Atlanta gehört die Mountainbike-Sportart des Cross-Country zu den olympischen Disziplinen. Achtung, nicht verwechseln: In Quebec ist ein VTT ein Geländefahrzeug (»véhicule tout terrain«) und kann auch mehr als zwei Räder haben!

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Dem Mountainbike ähnlich und aus demselben sportlichen Gedanken entwickelte sich das BMX-Rad, zugleich Abkürzung und Bilderrätsel, denn sein englischer Name lautet bicycle moto cross, und das Wort cross (»Kreuz«) wird in der Abkürzung durch den Buchstaben X verkörpert. Seit 1978 in der englischen Sprache belegt, wurde BMX 1995 ins Französische übernommen und ist seitdem als solches in den Wörterbüchern verzeichnet. Ein BMX-Rad besitzt keine Gangschaltung, und seine Räder haben einen geringeren Durchmesser als die von Mountainbikes. Wettkampfräder können weniger als neun Kilo wiegen! Kenner unterscheiden zwei Kategorien von Wettbewerben: race, Rennen, und freestyle, bei dem beeindruckende akrobatische Stunts und Tricks vorgeführt werden. Zu den BMX-Rädern gehört auch das Bicross, eine 1978 eingetragene Marke, die aus dem amerikanischen Bicycle motocross hervorgegangen ist, einem Sport, »pratiqué avec cet engin à pneus épais, sans garde-boue« (»der ausgeübt wurde mit diesem Gerät mit den dicken Reifen, ohne Schutzblech«), wie Alfred Gilder in En vrai français dans le texte (1999) beschreibt. Hier ist auch der Cruiser oder Beachcruiser zu nennen, der dem Vintage-Trend entspricht und an das Amerika von einst erinnert, denn er stammt aus den USA der dreißiger Jahre: Damals war er bei Zeitungsjungen und Fahrradkurieren beliebt, und im Zuge der Retro-Mode erlebte er gegen Ende des 20. Jahrhunderts einen erneuten Aufschwung. Im Unterschied zu den bisher genannten Typen eignet sich das Stadtrad weder für lange Strecken noch für sportliche Herausforderungen. Es ist sehr klassisch gestaltet, häufig ohne Gangschaltung und mit Rücktrittbremse. Einige Stadträder sind mit Nabenschaltung und Trommelbremsen ausgestattet. Der Lenker ist oftmals recht hoch gestellt, der Sattel breit, bequem und gefedert. Zum Gebrauch in städtischem Umfeld dient auch jenes Rad, das – nach dem Land, in dem es sehr verbreitet ist – Hollandrad genannt wird; sein Rahmen erlaubt eine aufrechte Sitzposition, und der Winkel der Sitzstrebe ermöglicht es, beim Anhalten den Fuß auf den Boden zu stellen. Weitere Merkmale sind die großen Räder und ein auffällig hoher Lenker, bei dem der Fahrer sich nicht nach vorne zu beugen braucht. Dem Trekkingbike ähnlich ist das Hybridrad, das die Eigenschaften von Bergund Straßenrad vereint. Mit geradem Lenker, breitem Sattel und breiteren Reifen als das Straßenrad eignet es sich für Spazierfahrten durch unterschiedlichste Landschaften. Nun müssen Sie nur noch Ihre Wahl treffen!

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Im Zeichen der Vielzahl Wie viele Personen können auf einem Rad in die Pedale treten? Wie viele Räder kann man in Bewegung setzen? Kein Zweifel: Das Fahrrad hat sich den vielfältigsten Bedingungen und Erfordernissen angepasst… Das Tandem wurde erdacht und entworfen für zwei Fahrer. Als Übersetzung des englischen tandem bicycle ins französische bicycle tandem ist das Wort erstmals belegt am 02. Februar 1884 in Le Sport vélocipédique. Da sie zwei Personen tragen müssen, sind Tandems sehr stabil gebaut, und es gibt sie als Straßen-, Stadt- oder Hybridräder. Tandems brauchen also besonders widerstandsfähige Räder, folglich mit größerer Speichenzahl, und einen doppelten Rahmen mit zwei Pedalsystemen in synchroner Stellung. Die beiden Trommeloder Scheibenbremsen wirken schnell und kraftvoll; es gibt auch Tandems, die mit drei Bremsen ausgestattet sind… Einen besonderen Aufschwung erlebte das Tandem in den dreißiger Jahren, nachdem die Arbeitszeit reduziert und das Recht auf bezahlten Urlaub errungen worden war. Nun konnte ein Pärchen, für das ein Auto unerschwinglich war, trotzdem auf Frankreichs Landstraßen unterwegs sein. »On pouvait voir le samedi matin des couples, montés sur des tandems, qui pédalaient vers les portes de Paris« (»Am Samstagmorgen konnte man Paare sehen, die auf Tandems zu den Toren von Paris radelten«), vermerkt Simone de Beauvoir in La Force de l’âge (1960). Seinen Namen erhielt dieser Fahrradtyp vom lateinischen tandem (»endlich«). Tatsächlich machten sich englische Studenten einst über die langen, von mehreren Doppelgespannen gezogenen Kutschwagen lustig, und wenn das letzte Pferdepaar vorbeikam, grölten sie »tandem!« (»endlich!«) So wurde das Wort zunächst als Bezeichnung für derlei Gespanne verwendet, sehr viel später dann auch für die ähnlich überlangen Fahrräder. 1898 baute man Tandems – sie wurden weiterhin so genannt – sogar für vier, fünf und selbst sechs Personen. Wer sitzt am Lenker und bestimmt die Richtung? Der, der vorne sitzt. Daraus erklärt sich eine Bemerkung in Le Point vom 26. April 1976: »Rien de changé depuis 1936, les femmes se heurtent toujours à la phallocratie du tandem. On place définitivement l’homme à l’avant et la femme à l’arrière!« »Seit 1936 hat sich nichts verändert, die Frauen stören sich noch immer am phallokratischen Charakter des Tandems. Dort sitzt selbstverständlich der Mann vorne und die Frau hinten!«

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Wie die anderen Fahrräder sind die meisten Tandems zweirädrig. Für einen oder mehrere Fahrer gibt es ferner das Tricycle (»Dreirad« und »Dreirad-Tandem«) sowie das Quadricycle (»Vierrad« und »Vierrad-Tandem«). Darüber witzelt Raymond Queneau in Le Chiendent (Der Hundszahn) (1933): »Par vagues, les bipèdes et quelques rares quadrupèdes se jetaient dans la gare; par vagues, les bi-, tri- et quadricycles défilaient.« »In Wellen stürzten sich die Zweibeiner und ein paar seltene Vierbeiner in den Bahnhof; in Wellen zogen Zwei-, Drei- und Vierräder vorbei.« (Der Hundszahn, Übersetzung: Eugen Helmle 1972)

EIN (VOR-)HERRSCHENDES BILD Die »kleine Königin« aus Holland »Mari et femme, amoureux et promise enfourchaient la petite reine à deux places« (»Gatte und Gattin, Verliebter und Verlobte stiegen auf die zweisitzige kleine Königin«), schrieb Bénigno Cacérès, Anhänger der Bewegung Peuple et culture (»Volk und Kultur«) 1964 in seiner Histoire de l’éducation populaire (»Geschichte der Volksbildung«). Damit beweist er, dass der Ausdruck »kleine Königin« zur Bezeichnung eines Fahrrades seinen festen Platz im Sprachgebrauch gefunden hatte. Wem verdanken wir dieses Synonym? Einer Königin. Hauptsächlich. Denn 1880 wurde in Holland Wilhelmina von Oranien-Nassau geboren, die im Alter von zehn Jahren in der Nachfolge ihres Vaters Königin wurde. Anlässlich ihrer Krönungszeremonie 1898 wurde ihr am 23. April desselben Jahres von der Wochenschrift La France illustrée ein schöner Artikel mit dem Titel »La Reine Wilhelmine« (»Königin Wilhelmina«) gewidmet. Schwarz auf weiß erfuhr man dort, dass das junge Mädchen genauso wie alle anderen Niederländer durch die holländische Hauptstadt radelte und ihre Untertanen von dieser unprätentiösen Schlichtheit begeistert waren. Die »kleine Königin« war also eine Radfahrerin. Übrigens eine königliche. Allerdings war die Bezeichnung »kleine Königin« für jedwede radfahrende Frau auch schon früher geläufig, wie ein Gedicht von Edmond Haraucourt in Le Cycle vom 18. August 1895 beweist: »Ainsi parée, elle apparaît Sur les routes de la forêt La petite Reine à deux roues…«

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»So geschmückt fährt sie dahin / Auf des Waldes Wegen / Die zweirädrige kleine Königin…«

Zweifellos trug die Tatsache, dass die holländische Herrscherin, eine begeisterte Radlerin, den Beinamen »kleine Königin« besaß, wesentlich dazu bei, die Bedeutung »Radfahrerin/Radlerin«, die eine »kleine Königin« war, auf das verwendete Sitzfahrzeug auszuweiten und schließlich mit ihm zur Deckung zu bringen.

BUCH ODER RAD – LESEN ODER TRETEN? Ich erinnere mich gut an lange Diskussionen, die dann auch in der Presse ihren Niederschlag fanden, über die negativen Auswirkungen des Fernsehens. Ihm gab man die Schuld daran, dass niemand mehr ein Buch las. Dies dauerte an, bis Bernard Pivot eine Literatursendung rund ums Buch ins Leben rief, Apostrophes, die fünfzehn Jahre lang, von 1975 bis 1990, ausgestrahlt wurde und als Erlebnis von Gemeinsamkeit und Zusammengehörigkeit im Gedächtnis geblieben ist. Dabei hat man ganz vergessen, dass an der Schwelle zum 20. Jahrhundert dem Fahrrad, der »kleinen Königin«, das gleiche Verbrechen zur Last gelegt wurde: den Mord am Buch. Dafür mangelt es nicht an Zeugnissen: Schon am 03. Dezember 1893 weisen Edmond und Jules de Goncourt darauf hin, dass diese Ansicht nicht nur als Gemeinplatz nachgeplappert, sondern von den höchsten Ebenen des Verlagswesens geteilt wird: »Chez Plon, on disait ces jours-ci, que la bicyclette tuait la vente des livres.« (»Bei Plon sagte man neulich, dass das Fahrrad den Buchverkauf zum Erliegen brachte.«) Allerdings sollte man sich in Erinnerung rufen, dass das Fahrrad nicht nur als Mittel zur Fortbewegung gedacht war, sondern auch als sportliches oder erholsames Freizeitvergnügen, wie das Reiten oder das Rudern auf Wasserläufen mit leicht erreichbaren Ausflugslokalen. Man stößt auch auf Georges Bernanos, der am 01. Dezember 1905 in seinen Briefen an den Abbé Lagrange in einem Atemzug Fahrrad und Buch als allbekannte Mittel gegen Langeweile nennt: »Je n’ai ni bicyclette ni bouquins pour me distraire« (»Ich habe weder Fahrrad noch Bücher, um mich zu zerstreuen«), erwähnt er beiläufig. Zu guter Letzt reicht ein Blick in das 1896 erschienene Vade-mecum du cycliste amateur-photographe um zu erkennen, wie aktuell das Thema im ausgehenden 19. Jahrhundert war, und dass es verdient gehabt hätte, in Flauberts dictionnaire des idées reçues (Wörterbuch der Gemeinplätze) aufgenommen zu werden. Sein dortiges Fehlen erklärt sich wahrscheinlich dadurch, dass das Thema zu

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Lebzeiten Flauberts – er starb 1880 – noch weniger geläufig war. Wie äußert sich Louis Tranchant ganz unverhohlen kurz vor der Jahrhundertwende? »On se plaint dans le monde littéraire et scientifique que la bicyclette tue les livres, la photographie, l’étude des sciences et des lettres. Eh bien! tant mieux, la morale n’y perd rien et pendant qu’on s’emplit les poumons d’air pur, le corps tout entier de lumière et de soleil, les yeux et l’esprit de belles choses, le diable fait la grimace, ces apôtres du vice, qui se disent littérateurs, sont obligés de cesser ou de ralentir leur production et en cela la bicyclette a un rôle admirable: on peut l’appeler la grande moralisatrice de notre époque…« »In der Welt der Literatur und Wissenschaft hört man die Klage, das Fahrrad hätte das Sterben von Buchwesen, Fotografie, der Beschäftigung mit Natur- und Geisteswissenschaften zur Folge. Und wenn schon! Ganz recht so, denn die Moral nimmt keinen Schaden, und während man die Lungen mit reiner Luft, den ganzen Körper mit Licht und Sonne, Augen und Seele mit schönen Dingen füllt, muss der Teufel in den sauren Apfel beißen, und die Jünger des Lasters, die sich als Literaten oder Literaturkenner bezeichnen, sind gezwungen, ihre Produktionen zurückzufahren oder ganz einzustellen; insofern kommt dem Fahrrad eine vortreffliche Rolle zu: Man könnte es die große moralische Instanz unserer Epoche nennen…«

In ihrer uneingeschränkten Begeisterung für das Fahrrad als moralische Instanz ist diese Äußerung zumindest übertrieben! Aber der Brückenschlag zwischen Literatur und Fahrrad blieb nicht ohne Widerhall: Große Schriftsteller huldigten ihm auf unvergessliche Weise.

MARCEL PROUST, ALBERTINE UND DAS FAHRRAD Als unter der Leitung von Annick Bouillaguet und Brian G. Rogers beim Verlag Honoré Champion der Dictionnaire Marcel Proust (Marcel Proust Enzyklopädie) entstand, elfhundert sakrosankte Seiten, lag es nahe, einen Eintrag dem Fahrrad zu widmen. Eigentlich hatte er sich sogar aufgedrängt angesichts des starken Symbolcharakters, den Marcel Proust dem Fahrrad verliehen hatte. Eine wesentliche Rolle spielt es vor allem im Albertine-Zyklus, angefangen mit der Begegnung an der Hafenmole von Balbec; Albertine ist »la jeune fille à la bicyclette« (»das junge Mädchen mit dem Fahrrad«), umringt von »jeunes filles en fleurs« (»Mädchen in der Blüte ihrer Jahre«). Dieses Fahrrad, ein besonderes Attribut, das ausschließlich Albertine zugeschrieben wird, unterscheidet sie von allen anderen. À l'ombre des

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jeunes filles en fleurs, 1918 erschienen, ist inspiriert von zwei Musen: Albertine und ihrem Fahrrad. »Une de ces inconnues poussait devant elle, de la main, sa bicyclette, deux autres tenaient des ›clubs‹ de golf, et leur accoutrement tranchait sur celui des autres jeunes filles de Balbec, parmi lesquelles quelques-unes, il est vrai, se livraient aux sports, mais sans adopter pour cela une tenue spéciale.« »Eine dieser Unbekannten schob mit einer Hand ihr Fahrrad vor sich her; zwei andere waren mit Golfschlägern ausgerüstet; ihr Anzug aber war völlig verschieden von dem der anderen jungen Mädchen in Balbec, von denen einzelne zwar dem Sport huldigten, aber ohne dafür eine Spezialkleidung anzulegen.« (Im Schatten junger Mädchenblüte, Übersetzung: Eva Rechel-Mertens 1954)

In seiner ersten Fassung führten zwei Mädchen ein Fahrrad mit sich, aber beim Redigieren der Druckfahnen versah Marcel Proust einzig Albertine mit dem Privileg der »kleinen Königin«. Isabelle Serça, Verfasserin des Artikels »bicyclette« im Dictionnaire Marcel Proust, zeichnet das Fahrrad in seinem damaligen kulturellen, geistigen und allgemeingesellschaftlichen Umfeld. Sie hebt hervor: Im Romanzyklus À la recherche du temps perdu (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) steht das Fahrrad, ebenso wie das Automobil, für die Seite der Modernität. 1903 fand die erste Tour de France statt; das erste Readymade von Marcel Duchamp zeigt ein Vorderrad in seiner Gabel. Gleichzeitig war die »Frau mit Rad« ein wesentlicher Bestandteil von Berichterstattungen und Zeitzeugnissen. Tatsächlich muss man das Bild der »Frau als Radlerin« im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts verorten, als das Fahrrad, den braven Ärzten zufolge, die Frauen den Gefahren von Schädigungen höchst intimer Natur aussetzte, und, was erschreckend hinzukam, es machte sie hässlich! Auch die Kleidung der Radfahrerin war Gegenstand leidenschaftlicher Debatten. Wie soll man im langen Rock in die Pedale treten? Um sich auf ein Stahlross zu setzen, musste man so ungeniert sein wie Albertine, die »Bacchantin auf dem Rad«. Albertine, sportlich, »sans cesse en fuite sur sa bicyclette« (»auf ihrem Rad immer in Bewegung, immer flüchtig«), verkörpert ein Bild der Unabhängigkeit und Freiheit, das sie ungreifbar macht. Nichts kann die junge Radlerin aufhalten: »Le temps n’effrayât pas Albertine qu’on voyait parfois, dans son caoutchouc, filer en bicyclette sous les averses.«

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»obwohl das Wetter Albertine nicht schreckte, denn man sah sie oft im Regenmantel zu Rad durch strömenden Regen fahren.« (Ebd.)

Selbst Auftreten und Gebaren der jungen Radlerin üben auf den Erzähler eine ebenso verführerische wie herausfordernde Anziehung aus; er ist fasziniert von diesem Mädchen »aux yeux brillants, rieurs« (»mit den strahlenden, lachenden Augen«), »qui poussait une bicyclette avec un dandinement de hanches si dégingandé, en employant des termes d’argot si voyous et criés si fort…« »das ein Fahrrad mit nachlässigem Wiegen der Hüften vor sich herschob und […] mit lauter Stimme so gassenjungenhafte Argotausdrücke verwendete…« (Ebd.)

Darüber hinaus wird eben diese Radfahrerin von Marcel Proust 1922 in der Mitte des Romans La Prisonnière (Die Gefangene) mit einem verstörenden Bild beschrieben: »Pendant un instant la bicyclette tangua, et le jeune corps semblait s’être accru d’une voile, d’une aile immense; et bientôt nous vîmes s’éloigner à toute vitesse la jeune créature mihumaine, mi ailée, ange ou péri poursuivant son voyage.« [»péri«: fée dans la mythologie arabo-persane, du persan »perî«, proprement ailé] »Einen Augenblick lang schlingerte das Gefährt, und der junge Körper schien ein Segel, einen unendlich großen Flügel aufzuweisen; bald aber sahen wir, wie das junge halb menschliche, halb beflügelte Geschöpf, Engel oder Peri, in raschem Tempo seine Fahrt fortsetzte.« (Die Gefangene, Übersetzung: Eva Rechel-Mertens 1956) [»Peri«: Feenwesen aus der arabisch-persischen Mythologie, vom persischen »perî«: mit Flügeln/geflügelt im konkreten Wortsinn]

Zum Fahrrad gesellt sich die Eisenbahn… In Jean Santeuil, um 1900 verfasst und erst posthum erschienen, hört Jean einen Schaffner »dire à un jeune homme qui montait une bicyclette, qu’il devait rester sur la plate-forme avec sa bicyclette, le règlement interdisant l’entrée des bicyclettes dans les wagons. Le jeune homme prit légèrement sa bicyclette et monta sur la plate-forme.«

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»zu einem jungen Radfahrer sagen, er müsse mit seinem Rad auf der Plattform bleiben, denn innerhalb der Waggons seien Räder nicht erlaubt. Mühelos nahm der junge Mann das Fahrrad und stieg auf die Plattform.«

Eigentlich stehen das Fahrrad- und das Zugfahren in direktem Gegensatz: Das Fahrrad eröffnet mehr Möglichkeiten bei der Wahl der Strecke, und manchmal ist es – denkt man an die Bummelzüge – gleichbedeutend mit einem Zeitgewinn, ganz wie das Automobil. Erinnern wir uns an ein Gespräch in À la recherche du temps perdu: »Vous n’étiez pas aux courses de la Sogne? Nous y sommes allés par le train, et […] nous avons mis deux heures! J’aurais fait trois fois l’aller et retour avec ma bécane.« »Bei den Sogne-Rennen sind Sie wohl auch nicht gewesen? Wir sind mit der Trambahn hingefahren […] Wir haben zwei Stunden gebraucht, mit meinem Stahlroß hätte ich in der Zeit dreimal hin- und zurückfahren können.« (Im Schatten junger Mädchenblüte, Übersetzung: Eva Rechel-Mertens 1954)

Das Fahrrad gehört zu einem Bild von Albertine, das sie als weiblich und hemmungslos zeigt: »rapide et penchée sur la roue mythologique de sa bicyclette, sanglée les jours de pluie sous la tunique guerrière de caoutchouc qui faisait bomber ses seins, la tête enrubannée et coiffée de serpents, [qui] semaient la terreur dans les rues de Balbac.« »schnell und gebeugt über ihr mythologisches Rad, bei Regen im Harnisch ihres kriegerischen Gummimantels, der ihre Brust wölbte, das Haupt bedeckt mit dem Schlangenhelm, verbreitete sie Angst und Schrecken auf den Straßen von Balbec.« (Die Flüchtige, Übersetzung: Eva Rechel-Mertens 1956, damals unter dem Titel Die Geflohene)

Hinter dieser Amazone erahnt man aber auch eine jungfräuliche Frische, die von literarischen Erfahrungen unberührt ist. So betont der Erzähler 1918 in La Fugitive (Die Flüchtige): »J’admirai aussi comme la cycliste, la golfeuse de Balbec, qui n’avait rien lu qu’Esther avant de me connaître, était douée« (posthum erschienen 1925). »Ich staunte aber doch, wie begabt diese Radfahrerin und Golfspielerin aus Balbac war, die, bevor sie mich kannte, nichts als Esther gelesen hatte« (ebd.).

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Marcel Proust spielt also mit einem Paradoxon: Lesen und Schreiben in den Dienst des Fahrrades zu stellen.

ÉMILE ZOLA, MIT FAHRRAD UND FAMILIE »Le gros Zola bicyclant avec sa maîtresse« (»Der dicke Zola strampelt sich mit seiner Geliebten auf dem Fahrrad ab«), spötteln Edmond und Jules de Goncourt 1895 in ihrem Journal. Radfahren gegen Übergewicht? Mit seinem Entschluss, durch Radfahren und eine strenge Diät an Gewicht zu verlieren, wollte der achtundvierzigjährige Émile Zola offenbar Jeanne Rozerot (1867-1914) gefallen, Schneiderin und Wäscherin des Ehepaars Zola. Jeanne wird ihm seine beiden Kinder schenken, Denise und Jacques. Ab 1895 mietete Zola, sobald es Sommer wurde, ein Haus in Verneuil-surSeine, nahe Triel, und radelte täglich zu Jeanne Rozerot und ihren Kindern zum gemeinsamen Imbiss. Jeanne hält er auf mehreren Fotografien fest: auf ihrem Fahrrad, vor ihrem Haus oder umgeben von ihren Kindern. Im Sommer 1899, nachdem er den Kindern die (einige Zeit zuvor in England) versprochenen Fahrräder geschenkt hatte, unternahmen sie lange Spazierfahrten rund um Verneuil und seine Wälder. 1902 fotografierte Zola seine Frau Alexandrine, die in der Gegend von Medan auf einem Tricycle umherfuhr, und die Aufnahme verschickte er als Postkarte mit Grüßen und Nachrichten an seine näheren Freunde. Während seines Englandaufenthalts notiert er für Jeanne am 06. August 1898 über die Kleidung, »que les Anglaises sont fort élegantes en jupe, très gracieuses à machine [à vélo], droites sur la selle, drapées à longs plis«. »dass die Engländerinnen in ihren Röcken äußerst elegant wirken und auf dem Fahrgerät sehr anmutig aussehen, in ihrer aufrechten Sitzhaltung und mit dem langen Faltenwurf«.

Und er zieht daraus den heiteren Schluss: »Je ne pense pas, en tout cas, me montrer un hôte impoli en disant qu’elles sont charmantes à bicyclette et qu’elles m’ont reconcilié avec la jupe.« (»Man kann mir sicher nicht vorwerfen, dass ich ein unhöflicher Gast bin, wenn ich sage, dass sie als Radfahrerinnen ihren Charme zeigen und mich mit dem Rock versöhnt haben.«) Fotografie und Fahrrad, das sind die beiden Leidenschaften, die im Leben von Zola neben dem Schreiben einen wesentlichen Platz einnehmen. Eine Aufnahme zeigt ihn auf dem Fahrrad mit umgehängtem Fotoapparat. Und eine 1884 von G.

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Edwards gezeichnete Karikatur beweist ebenfalls Zolas Vorliebe für die »kleine Königin«. »C’est vraiment un plaisir que de filer à bicyclette le long des parcs, de ces haies interminables, entre tant de beaux arbres, par ces routes sans fin, et toutes droites« (»Es ist wahrlich ein Vergnügen, durch die Parkanlagen zu radeln, zwischen den endlosen Hecken und so vielen schönen Bäumen, über die schnurgeraden, niemals endenden Straßen«), schreibt er 1898 in Les Pages d'exil. Und er fährt fort: »Ce qui m’a frappé déjà, c’est toutes les femmes que je rencontre à bicyclette. Elles sont certainement plus nombreuses que les hommes.« (»Ich war überrascht, wie vielen radfahrenden Frauen ich begegnete. Sie sind zweifellos zahlreicher als die Männer.«) Dann wird deutlich, dass das Fahrrad zu weit mehr genutzt wird als nur zu Vergnügungsfahrten über Land: »[…] je remarque que la plupart ne sont pas des promeneuses, mais des bourgeoises, des mères de famille et des jeunes filles, qui vont aux provisions chez les fournisseurs, un petit panier attaché à leur guidon.« »[…] Mir fällt auf, dass es sich bei den meisten von ihnen nicht um Spazierfahrerinnen handelt, sondern um Bürgersfrauen, Hausmütter und junge Mädchen, die mit einem kleinen Korb am Lenker zu ihren Besorgungen unterwegs sind.«

Bei Zola gehören Fahrrad und Familie zusammen. Das belegen schon wenige Worte im 1899 erschienenen Roman Fécondité (Fruchtbarkeit): »Nous emmènerons, à bicyclette aussi, mes suivantes, mes trois petites sœurs […] onze, neuf et sept ans: ça fera l’escalier derrière moi, un joli effet.« »Uns werden, ebenfalls mit dem Fahrrad, meine drei Schwestern folgen […] elf, neun und sieben Jahre alt: Sie bilden hinter mir eine Art Treppe, was hübsch anzusehen ist.«

Zola kam immer gut voran: mit dem Rad auf der Straße und der Feder auf dem Papier.

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ALFRED JARRY UND SEIN EXOSKELETT Der französische Dichter und Theaterautor Alfred Jarry (1873-1907), Schüler von Bergson am renommierten »Lycée Henri IV«, zeichnet sich insbesondere durch sein Drama Ubu Roi (König Ubu) aus; ebenfalls aber, in zwar anekdotischer doch letztlich tiefgründiger Weise, durch sein Faible für das Fahrrad, das er zum Mythos erhob. Sein 1896 erworbenes »Clément Luxe 96 Course sur piste« hat er dem Händler Jules Trochon übrigens niemals bezahlt, obwohl dieser den Kaufpreis von 525 Francs unablässig bei ihm einforderte. Jarry deutete an, dass für ihn vor allem drei Dinge zählten: das Fahrrad, der Revolver und der Absinth… Bis zu seinem Tode wurde dieser »König des Humors« von seinen Gläubigern verfolgt, darunter auch Trochon, der betrogene Verkäufer! Noch bevor die erste Tour de France gestartet war, hatte Jarry im April 1903 im Canard sauvage den Leidensweg Jesu Christi mit respektloser Dreistigkeit in der Art eines Sportjournalisten geschildert. Dieser Text, der von André Breton in seine Anthologie de l’humour noir (Anthologie des Schwarzen Humors) aufgenommen wurde, beginnt mit den Worten: »Barrabas, engagé, déclara forfait. Le starter Pilate, tirant son chronomètre à eau ou clepsydre, ce qui lui mouilla les mains, à moins qu’il n’eût simplement craché dedans, donna le départ.« »Barrabas, der bereits unter Vertrag stand, trat vom Rennen zurück. Der Starter Pontius Pilatus setzte sein Wasserchronometer oder Klepsydra in Gang, wovon er nasse Hände bekam, sofern er nicht einfach hineingespuckt hatte – und gab das Startzeichen.«

In diesem »ubu-esken« Stil geht die Berichterstattung weiter, nicht ohne die Erwähnung eines interessanten Details über das Fahrrad, mit dem Jarry sich fachmännisch und fast so gut wie ein Historiker auskannte: den Kreuzrahmen. »Le cadre est d’invention relativement récente. C’est en 1890 que l’on vit les premières bicyclettes à cadre. Auparavant, le corps de la machine se composait de deux tubes brasés perpendiculairement l’un sur l’autre. C’est ce qu’on appelait la bicyclette à corps droit ou à croix.« »Der Rahmen ist eine relativ neue Erfindung. 1890 sah man die ersten Rahmenfahrräder. Vor dieser Zeit bestand das Kernstück des Fahrrads aus zwei perpendikular aufeinander gelöteten Röhren. Diese Maschinen nannte man Fahrrad mit starrem Gestell oder Kreuzrahmen.« (Übersetzung: Eugen Helmlé 1971)

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Nicht gerade feinsinnig und in der gleichen humoristischen Haltung stellt er am 15. Juli 1901 in La Revue blanche mit »Le piéton écraseur« den zermalmenden, zerquetschenden Fußgänger in den Mittelpunkt; dieser Fußgänger ist aber ein Radfahrer, denn für Jarry ist das Fahrrad nichts weiter als »un prolongement minéral de son système osseux« (»eine mineralische Erweiterung seines Knochensystems«). Alfred Jarry ließ sich sehr gerne auf seinem Rad fotografieren, von dem er sich nur selten trennte. Es nahm sogar einen besonderen Platz in seiner Wohnung ein, denn damit konnte er »faire plus rapidement le tour de la pièce« (»schneller eine Runde ums Zimmer drehen«), scherzte er. Darüber hinaus unternahm er ausgedehnte Radtouren in raschem Tempo. Jarry hielt das Fahrrad für eine Art äußeres Skelett, ein Exoskelett, in gewisser Weise eine Verlängerung des menschlichen Körpers. Er stellte fest: »L’homme s’est aperçu assez tard que ses muscles pouvaient mouvoir par pression et non plus par traction, un squélette extérieur à lui-même.« (»Der Mensch hat erst recht spät gemerkt, dass seine Muskeln durch die Ausübung von Druck und nicht mehr durch Zug ein Skelett in Bewegung setzen konnten, das sich außerhalb des Körpers befindet.«) Und, nicht zu vergessen: »le cycle est un nouvel organe, c’est un prolongement minéral de l’homme.« (»Das Fahrrad ist ein zusätzliches Organ, es ist eine mineralische Erweiterung des Menschen.«) Wie könnte man mehr mit seinem Rad verschmelzen?

ANTOINE BLONDIN: KLEINE ERSCHÜTTERUNGEN FÜR DIE GROSSE WAHRHEIT Als Romanschriftsteller ist Antoine Blondin verbunden mit den Hussards, einer literarischen Bewegung, der auch Roger Nimier, Jacques Laurent und Michel Déon angehörten. Als talentierter Sportjournalist schrieb er ab 1954 für die Zeitschrift L'Équipe, kommentierte dort nicht weniger als siebenundzwanzig Mal die Tour de France und trug dadurch erheblich zu ihrer Legendenbildung bei. Neben seiner literarischen Prosa, darunter Un singe en l’hiver von 1959 (Ein Affe im Winter), der mit dem Preis der Académie Française ausgezeichnet wurde, und L’humeur vagabonde (1955), verdanken wir ihm ein Werk mit dem Titel Sur le Tour de France aus dem Jahr 1979 und ein weiteres von 1984, Le Tour de France en quatre et vingt jours, insbesondere aber seine köstlichen Reportagen für die Équipe, die zwischen 1954 und 1982 gedruckt und vom Verlag La Table Ronde im Jahr 2001 als vollständige Sammlung veröffentlicht wurden.

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»100.000 km dans le sillage de postérieurs court vêtus et relativement inexpressifs« (»100.000 Kilometer im Kielwasser der relativ nichtssagenden kurzhosigen Hintern«) schreibt der Mann mit den viertausend Reportagen und den unvergesslichen Formulierungen. So äußerte er zum Beispiel über das für seine Kopfsteinpflaster-Strecken berühmt-berüchtigte Eintagesrennen Paris-Roubaix: »Dans Paris-Roubaix le haut du pavé est toujours sur les pavés du haut.«3 Ebenso stark wie ergreifend aber auch: »Tom Simpson est mort d’un coup de ce soleil où il s’était fait une place […]. Il gisait à une vingtaine de mètres, en contrebas, dissimulé par un repli de terrain, frappé d’une sorte de paralysie qui lui interdisait le moindre geste, le moindre appel. Et toute cette nature qui l’entourait lui faisait un linceul rugueux.« »Tom Simpson starb durch einen Hitzschlag, getötet von jener Sonne, an der er sich einen Platz erkämpft hatte […]. Er lag rund zwanzig Meter tiefer, verborgen in einer Senke, und durch eine Art Lähmung konnte er sich weder bewegen noch um Hilfe rufen. Und die gewaltige Natur, in der er ruhte, hüllte ihn in ein raues Leichentuch.«

Gelegentlich wurde Blondin sogar als Michel Audiard des Sportjournalismus bezeichnet. Denn so wie jener besaß er eine tiefe Großherzigkeit, die ihn zum eindringlichsten Zeugen der Tour de France werden ließ. »Nous n’adhérons à nos lectures que pour autant qu’elles suscitent en nous ce petit choc à quoi l’on reconnaît une grande vérité humaine.« »Wir stimmen dem, was wir lesen, nur so weit zu, wie es in uns die kleinen Erschütterungen hervorruft, durch die wir eine große menschliche Wahrheit erkennen.«

Die große Wahrheit der Radrennfahrer.

3

Wortspiel mit der Redewendung être sur le haut du pavé (»jemandem überlegen sein, besser sein als jemand«) sowie den Wortbedeutungen »haut« (hoch, erhöht) und »pavé« (Kopfsteinpflaster). Sinngemäß etwa: »Wer beim Rennen Paris-Roubaix die Oberhand gewinnt, entscheidet sich auf dem höher gelegenen Pflaster.« (Gemeint ist die Straßenmitte zwischen den ausgefahrenen, niedrigeren Spurrillen, die durch Pfützen, Matsch und Schlaglöcher weitaus schwieriger zu bewältigen sind.)

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RENÉ FALLET UND MEIN VATER, DER VEGETARIER In Villeneuve-Saint-Georges geboren, aufgewachsen zwischen Vorstadtbauten und Eisenbahngleisen, arbeitet René Fallet (1927-1983) seit seinem fünfzehnten Lebensjahr in Paris. Später wurde er durch seinen heiter-spöttischen und nonkonformistischen Schreibstil bekannt, der ihm 1950 den Prix du roman populiste und 1964 den Prix Interallié einbrachte. In Fallets Leben wie in seinem Werk hat das Fahrrad einen Ehrenplatz. So ist schon 1947 in seinem ersten Roman, Banlieue sud-est, das Herz von Zézette am leichtesten mit einem Alcyon-Rad und einem Sieg beim Prix des commerçants de Villeneuve (»Preis der Kaufleute von Villeneuve«) zu gewinnen. Als er 1967 die Tour de France verfolgt, kommt er auf die Idee, im Jahr darauf eine andere Tour zu organisieren, ein reines Spaß-Rennen, bei dem der Sieger von vornherein feststand und obligatorische »arrêts bistrots« (»Bistro-Pausen«) eingelegt werden mussten… Aus der gleichen Geisteshaltung heraus ist auch Le vélo, das 1973 erscheinen wird, eine heitere Hommage an das Fahrrad. Mein Vater, ein ebenso überzeugter Vegetarier wie eingefleischter Radfahrer, pflegte Fallet gerne zu zitieren. Das ist ein Schriftsteller, sagte er, der das Fahrrad nicht nur liebt, sondern dafür auch die treffenden Worte findet. Worte zum Ende meiner Ausführungen und zugleich zur niemals endenden Freude am Radfahren. Vom Sattel herab, mit lachenden Augen und den Händen am Lenker fasste mein Vater das Wesentliche zusammen: »Mein Sohn«, sagte er, »der beste Freund des Menschen ist nicht das Pferd, sondern das Fahrrad: Denn für Räder gibt es keine Schlachthöfe.«

Rückenwind für die Landeshauptstadt Der Grand Départ als Chance für Düsseldorf – Podiumsgespräch vom 23.05.2017

Mitwirkende: Theresa Winkels (Projektleiterin Grand Départ Düsseldorf 2017), Christopher Schlenker (Senior Manager Sponsoring & Hospitality Grand Départ), Ruben Zepuntke (Radsportprofi) Moderation: Karsten Migels (Radsportexperte Eurosport) Abbildung 1: Podiumsgespräch mit Ruben Zepuntke, Christopher Schlenker, Theresa Winkels und Karsten Migels (von links nach rechts)

Quelle: © Bianca Morales García

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Karsten Migels: Die Tour de France ist nicht einfach nur ein Radrennen, sondern eines der größten jährlich wiederkehrenden Sportereignisse weltweit und, wie ich aus eigener Erfahrung berichten kann, ein ganz besonderes Erlebnis. Wer schon einmal den Start einer Tour de France oder eine Etappe in den Bergen – ob nun in den Pyrenäen oder den Alpen – erlebt hat, weiß, wie mitreißend das sein kann. Ruben, wie ist das für dich, wenn du nun all diese Bilder siehst und die Informationen darüber hörst, was die Stadt Düsseldorf an toller Arbeit geleistet hat? Wie fühlst du dich in Anbetracht der Tatsache, dass du in deiner Heimatstadt nun nicht an den Start gehen kannst? Ruben Zepuntke: Für mich persönlich ist es erst einmal eine große Enttäuschung, nicht dabei sein zu können. Als sich Düsseldorf für den Grand Départ beworben hat, habe ich mir direkt vorgestellt, wie es wäre, die erste Bergetappe an der Rennbahn zu gewinnen, die nur wenige hundert Meter Luftlinie von meinem Wohnort entfernt ist. Aber trotz der persönlichen Enttäuschung sehe ich natürlich die fantastische Möglichkeit für die Stadt Düsseldorf, sich hier auf einer großen internationalen Sportbühne präsentieren zu können. Karsten Migels: Das siehst du natürlich sehr sportlich, wie es sich für einen Berufssportler gehört. Wie wirst du denn den Tag selbst und die Tage im Vorfeld erleben? Deine Mannschaft, das deutsche Team Sunweb, wird bestimmt mit allen deutschen Athleten am Start der Tour de France sein. Wirst du die Mannschaft besuchen oder wie wirst du diese Tage verbringen? Ruben Zepuntke: Obwohl es enttäuschend ist, nicht selbst als Sportler an den Start gehen zu können, werde ich das Team selbstverständlich zu hundert Prozent unterstützen. Zum Beispiel im Vorfeld, um die besten Trainingsstrecken herauszusuchen – schließlich kenne ich Düsseldorf und die Umgebung bestens. Karsten Migels: Ruben, es sind sicherlich viele Gäste heute Abend anwesend, die nicht wissen, warum du die Tour de France in diesem Jahr nicht bestreiten wirst. Kannst du kurz erzählen, wie es dazu kam? Ruben Zepuntke: Man könnte es sportlichen Misserfolg nennen. Im Februar bin ich gestürzt und habe mir einen schweren Armbruch zugezogen, wodurch ich drei Monate auf das Radfahren verzichten musste. So etwas stellt auch eine emotionale Belastung dar. An dieser Stelle hätte ich mir von meinem damaligen Team mehr professionelle Unterstützung gewünscht. Hinzu kommt, dass man sich in einem

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solchen Moment auch fragt, ob es sich lohnt, die unabsehbaren Risiken einzugehen, denen man als Radprofi ständig ausgesetzt ist. Karsten Migels: Aufgeschoben heißt aber nicht aufgehoben. Es könnte schon sein, dass du in ein paar Jahren beim Start der Tour de France dabei sein wirst, oder? Ruben Zepuntke: Ja, auf jeden Fall. Es tut mir schon sehr weh, den Grand Départ in Düsseldorf zu verpassen, denn für einen Sportler ist es ein großes Erlebnis bei so einem Sportereignis in der eigenen Stadt dabei sein zu können. Aber ich sehe das sportlich, der Traum ist trotzdem noch nicht vorbei. Mit Sunweb habe ich eine tolle Mannschaft gefunden, die mich unterstützt und mir auch Mut macht, dass es in ein, zwei Jahren mit der Tour de France klappen könnte. Bis dahin werde ich natürlich weiterhin sehr hart trainieren. Karsten Migels: Eine Frage noch abschließend, bevor wir dich nachher noch einmal zu verschiedenen anderen Bereichen ansprechen werden: Momentan läuft der Giro d’Italia, du verfolgst die Rundfahrt bestimmt auch. Da sind Sportler dabei, die genauso alt sind wie du, auch erst 24 Jahre alt. Ich rede jetzt natürlich explizit von Bob Jungels aus Luxemburg, der dort derzeit in den Nachwuchswertungen führt, und Tom Dumoulin, der mit Hängen und Würgen noch einmal das Rosa Trikot verteidigen konnte. Wenn du diese Athleten siehst, mit denen du früher um die Wette gefahren bist, mit denen du zusammen gekämpft und gelitten hast, und die jetzt zum Beispiel dort beim Giro d’Italia an der Spitze fahren, wie ist das dann für dich? Ruben Zepuntke: Es ist natürlich schön, solche Fahrer, die zur jungen, neuen Generation des Radsports gehören, an der Spitze fahren zu sehen. Besonders Tom Dumoulin gefällt mir, der eine sehr lange Ausbildung als Radfahrer hinter sich hat und der, so wie ich auch, durch viele Development-Teams gegangen ist, um Profi zu werden. Er hat klein angefangen und gewinnt jetzt nicht nur Etappen, sondern ist auch Kapitän seines Teams. Dumoulin ist jung, er fährt im Rennen aggressiv und ist sicherlich auf dem besten Weg der neue Radsportkönig zu werden. So etwas gibt mir auch Selbstvertrauen, vielleicht selbst eines Tages bei den Weltklassesportlern ganz vorne mit dabei zu sein. Karsten Migels: Herr Schlenker, wie ist Ihre persönliche Verbindung zum Radsport?

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Christopher Schlenker: Damals zu Jan Ullrich-Zeiten, also während meiner Studienzeit, haben meine Kommilitonen und ich natürlich auch begeistert die Etappen verfolgt. Ich muss allerdings zugeben, dass das Thema bei mir nach den ganzen Dopingeskapaden eingeschlafen ist. Aber ich muss ganz ehrlich sagen, mit dem Startschuss für das Projekt im Februar 2016 und den Gesprächen mit Sven Teutenberg, unserem Eventdirektor, und auch mit dem ehemaligen Radprofi Steffen Weigold ist die Begeisterung wieder aufgeflammt. Weil ich einige Erfahrungen im Bereich Sponsoring und Vermarktung von Sportveranstaltungen mitbringe, war es für mich eine ganz besondere Herausforderung, mit unserem Team ein Event wie die Tour de France auf die Beine zu stellen. Als gebürtiger Düsseldorfer bin ich sehr stolz und dankbar, Teil des Ganzen zu sein und mitwirken zu dürfen. Karsten Migels: Wie muss man sich als Außenstehender die Konzepterarbeitung mit der A.S.O. vorstellen? Immerhin handelt es sich um ein großes Unternehmen mit millionenschweren Umsätzen, das in Paris sitzt und nicht nur für die Tour de France zuständig ist, sondern auch noch ganz andere Veranstaltungen im Portfolio hat. Wie funktioniert die Zusammenarbeit? Gab es Schwierigkeiten wie zum Beispiel sprachliche Barrieren? Christopher Schlenker: Mein Französisch ist nicht besonders gut bzw. nicht existent, aber in dem Fall hat uns die englische Sprache weitergeholfen. Für uns war die Zusammenarbeit eine spannende Angelegenheit und zunächst auch eine Reise ins Ungewisse. Natürlich wussten wir, dass mit der A.S.O. ein großer Partner auf uns zukommt. Letztendlich war die Zusammenarbeit fantastisch, das muss man wirklich sagen. Sie war aber auch nicht immer einfach, da viel Power und große Partner hinter einem solchen Unternehmen stehen. Das bringt schon gewisse Restriktionen und Rücksichtnahmen mit sich. Ich würde trotzdem nicht sagen, dass unsere Möglichkeiten, was die Vermarktung betrifft, begrenzt waren, da die Stadt Düsseldorf mit der A.S.O. einen ausgesprochen guten Vertrag ausgehandelt hat. Dadurch konnten wir mit den Franzosen gemeinsam ein Official Supporter-Paket vermarkten. Natürlich wollten wir auch Düsseldorfer, regionale und auch nationale Unternehmen mit an Bord holen. Wir sind also sukzessive vorgegangen, was ein unheimlich toller und kreativer Prozess war. Auch wenn es die eine oder andere Ratssitzung gab, bei der Zweifel am Projekt Tour de France aufgekommen sind, war das für uns eine extra Motivation. Insgesamt muss ich sagen, dass es eine sehr interessante Zusammenarbeit und vor allem ein spannendes Projekt war.

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Karsten Migels: Frau Winkels, Sie sind bei der Stadt Düsseldorf für die Wirtschaftsförderung, Tourismus und Sport zuständig. Wie verlief zum Beispiel die Streckenplanung? Es wurde ja lange Zeit ein Geheimnis daraus gemacht, wie die Strecken genau aussehen werden, besonders was die zweite Etappe betrifft – ob der Zielort in Deutschland vorgesehen ist, ob jetzt in Köln, Aachen oder auch Mönchengladbach. Inwiefern hat die A.S.O. ihre Position als Veranstalter an dieser Stelle dann auch zum Ausdruck gebracht? Gab es Momente, in denen die Streckenplanung wegen sportlicher Kriterien oder aus sponsorentechnischen Gründen kritisiert wurde? Theresa Winkels: Zunächst einmal zur ersten Frage: Ich war seit 2013 für die Bereiche, die Sie gerade genannt haben, Referentin und bin dann im letzten Sommer dazu übergegangen, das komplette Grand Départ-Team aus städtischer Perspektive für den Oberbürgermeister zu leiten. Wir haben mehr als zehn Abteilungen, vom Verkehrsmanagement bis hin zum Marketing, die dieses Projekt stemmen. Viele Themen, die ich dort einbringe, kommen aber natürlich aus meinen originären Bereichen. Beispielsweise das Thema Wirtschaftsförderung, das Herr Schlenker gerade angesprochen hat. Wir wollen an erster Stelle die Düsseldorfer Wirtschaft einbinden, also die Partner, mit denen die Stadt bereits viele gemeinsame Projekte realisiert hat. Das sind natürlich auch genau die Unternehmen, die sich beteiligen wollen, denn von einem solchen Sportereignis profitieren wir besonders vor Ort gemeinsam. Vor uns liegt ein einzigartiges Event, das Düsseldorf zu einem höheren Bekanntheitsgrad verhilft und von dem man noch lange reden wird. Dann haben Sie einen zweiten Punkt genannt: nämlich die entsprechenden Verhandlungen zur Streckenplanung und wie so etwas zustande kommt. Wir pflegen zunächst einmal im Alltag viele Partnerschaften mit den Nachbargemeinden, wie zum Beispiel seit vielen Jahren mit dem Rhein-Kreis Neuss und dem Kreis Mettmann. Das sind unsere nächsten Nachbarn, mit denen wir bei unterschiedlichen Themen zusammenarbeiten. Deswegen waren wir immer daran interessiert, möglichst viele Nachbarkommunen einzubinden. Das heißt, wir haben einen Dialog mit der A.S.O. gestartet, um diese Partner an der zweiten Etappe beteiligen zu können. Das Regionalprojekt ist uns sehr wichtig gewesen, sodass für den zweiten Tag eben nicht nur Düsseldorf in den Fokus gestellt wird, sondern das Projekt auf zwei Beinen steht. Der erste Tag ist einfach Düsseldorf pur, der zweite Tag steht für die Kooperationen in der Region. Deshalb sind wir auf die Suche nach Partnern gegangen, zunächst einmal natürlich in unserem ganz nahen Umfeld, die wir einfach involviert haben wollten. Und dann hat sich die A.S.O. mit dem Tour-Chef und den Radsportprofis auf die Straßen begeben, um zu schauen, wie man die Etappe passend und schön gestalten kann. Es gibt hier in der Umgebung unfassbar

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viele wunderschöne Radstrecken. Für entsprechende Tipps ist auch Herr Zepuntke der richtige Ansprechpartner. Karsten Migels: Das heißt die eigenen Ideen der Stadt Düsseldorf konnten miteingebracht werden? Theresa Winkels: Ja natürlich, es ist zwar ein Dialogprozess und man kann nicht alle eigenen Ideen durchsetzen, aber dennoch viele Impulse für eine rundum gelungene zweite Etappe geben. Karsten Migels: Herr Schlenker, war das Thema Doping bei den Sponsoren auch ein wichtiges Thema? Es gab vor Kurzem wieder eine Diskussion über Jan Ullrich, der bei Rund um Köln am 11. Juli sportlicher Leiter werden sollte. Und da haben die Medien den Sponsoren zum Teil Druck gemacht, damit Jan Ullrich diesen Job, der wohl ehrenamtlich sein sollte, nicht übernimmt. Hat dieses Thema bei der Planung der Tour de France und der Akquise der Sponsoren Probleme bereitet? Christopher Schlenker: Ich persönlich habe mit mehr Problemen und Widerstand gerechnet. Natürlich gab es kritische Zwischenfragen, aber letztendlich war eher eine Aufbruchsstimmung spürbar. Es gab andere Themen und Bereiche, die wesentlich herausfordernder waren als das Thema Doping. Karsten Migels: Ruben, du als Berufsradfahrer, wie wirst du mit dem Thema konfrontiert? Ruben Zepuntke: Ich selbst bin schon mit vielen Fahrern gefahren, die gedopt haben. Selbst als junger Sportler musste ich mit Konkurrenten fahren, die schon zwei, vier Jahre gesperrt worden waren, und hatte dann im Rennen Auseinandersetzungen mit ihnen. Für mich ist es ein absolutes No-Go, dass solche Sportler, egal in welcher Sportart, einen Startplatz bekommen. Es gibt viele Fahrer, die wirklich sehr hart für einen sauberen Radsport kämpfen und versuchen, genau das den Leuten und auch den Sponsoren zu beweisen. Aber da liegt eben die Schwierigkeit, denn die Leute sind, was Radsport und das Thema Doping betrifft, einfach voreingenommen. Vor allem in Deutschland stößt man auf eine Kultur der Skepsis. Ich persönlich musste mich erst einmal rechtfertigen und beweisen, dass ich nie etwas mit Doping zu tun hatte und auch nie etwas damit zu tun haben werde.

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Karsten Migels: Du bist in den Niederlanden, in Frankreich und in Belgien unterwegs und fährst überall Radrennen. Wird dieses Thema denn speziell in Deutschland häufiger und kritischer diskutiert als in anderen Ländern? Ruben Zepuntke: Ja, auf jeden Fall, und für diese Skepsis liebe ich Deutschland auch. Wenn ich nach Italien oder nach Belgien schaue, herrscht da eine ganz andere Kultur. In diesen Ländern fahre ich mit jungen Sportlern in meinem Alter, die schon positiv getestet wurden und dann trotzdem noch gefeiert und unterstützt werden. Muss das so sein? Doping hat nichts mit Fairness zu tun. Karsten Migels: Gehen wir einmal weg von diesem Thema und sprechen noch einmal über die Strecken, insbesondere die, an der die zweite Etappe entlangführen wird, denn da kennst du dich ja bestens aus. Findest du das persönlich, aber auch landschaftlich schön? Oder hättest du noch andere Vorschläge gehabt, bei denen es aber vielleicht aufgrund der Straßenbreite für den gesamten Tross, also für die Hunderte von Fahrzeugen, nicht funktioniert hätte? Ruben Zepuntke: Nein, ich selbst starte fast täglich mein Training an der Rennbahn, und oft bin ich in Richtung Mettmann unterwegs. Gerade wenn ich flach und ruhig fahren will, ist das Rheinland zum Trainieren optimal, obwohl es dort oft sehr windig ist. Deswegen bin ich sehr gespannt, wie die zweite Etappe, also die erste richtige Etappe, aussehen wird. Ich denke, dass es aufgrund des Windes ein sehr nervöses Rennen wird, aber es wird auf jeden Fall eine sehr schöne Etappe. Karsten Migels: Frau Winkels, gibt es für Sie spezielle Highlights, die man vielleicht auch den Besuchern ans Herz legen kann? Was ist besonders attraktiv? Welche Punkte im Verlauf der Strecke sind vor allem für die Reporter und Kommentatoren erwähnenswert? Wo kann man als Zuschauer oder Journalist etwas erleben? Theresa Winkels: Auf dem Düsseldorfer Stadtgebiet finden sehr viele Aktionen am Streckenrand statt, da gibt es mehrere Punkte, die sehr interessant sind. Zum Beispiel wird es auf der Strecke zur Bergwertung am Grafenberg ein sogenanntes Alpenpanorama geben. Viele Leute haben darüber gelächelt, dass wir in Düsseldorf eine Bergwertung der vierten Kategorie vorweisen können. Ich glaube, das ist für all diejenigen, die etwas mit Radsport zu tun haben, auch eine Überraschung. Damit das Ambiente stimmt, hat sich ein Sportclub daran gemacht, für

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den Anstieg ein Alpenpanorama zu basteln. Daneben gestaltet ein anderer Sportclub eine Fankurve ähnlich wie im Fußballstadion. Die Fans von Fortuna Düsseldorf können dort die Tour de France unterstützen. Außerdem gibt es noch weitere Events, wie zum Beispiel eine Schlagerparty auf der Yorkstraße. Oder es sind auch viele Vereine dabei, die ihre Sommerfeste auf dieses Wochenende legen und sich dann mit Würstchenbuden und Bierständen am Streckenrand positionieren, um dieses Event gemeinsam zu genießen. Es gibt also ganz viele große und kleine Dinge aus Sport und Kultur, die da zusammenkommen. Karsten Migels: Es wird sicherlich sehr voll in Düsseldorf werden. Zu den Besuchern, die von überall herkommen, um den Grand Départ zu erleben, kommt auch noch der Tross der Tour de France hinzu – nicht nur die ganzen Werbefahrzeuge, sondern auch die ganzen Journalisten. Es sind also Tausende von zusätzlichen Personen, die die drei, vier Wochen der Tour de France verfolgen. Wo bringen Sie in Düsseldorf all die Leute unter? Theresa Winkels: Diesbezüglich sind wir schon relativ früh an den Start gegangen und haben bereits vor der Veröffentlichung die entsprechenden Verbindungen zwischen der A.S.O. und der Düsseldorf Tourismusgesellschaft hergestellt. Das bedeutet, dass wir den ganzen Tour-Tross, also die Funktionäre, die Teams und die aktiven Sportler, in den Düsseldorfer Hotels untergebracht haben. Düsseldorf ist dahingehend sehr gut aufgestellt, weil wir ein Messestandort sind. Karsten Migels: Herr Schlenker, die Messe bietet wirklich hervorragende Voraussetzungen für eine solche Großveranstaltung. Dort ist Platz genug, um die ganze Organisation unterzubringen, das Pressezentrum, den Tour-Tross, die Mannschaftsbusse und alles, was dazu gehört. Christopher Schlenker: Absolut, ja! Die Messe Düsseldorf ist nicht nur ein großer Partner, sondern war auch einer der ersten, die in das Projekt eingestiegen sind, worauf wir mächtig stolz sind. Dort ist ja auch der Start- und Zielbereich des Prologs. 14 Kilometer führt er durch die schönsten Ecken Düsseldorfs, und wenn ich mir vorstelle, dass das in rund 190 Ländern weltweit übertragen wird, dann bekomme ich jetzt schon Gänsehaut. Und wenn dann noch Tony Martin mit der Bestzeit ins Ziel kommt, ist das nicht mehr zu toppen. Karsten Migels: Es wäre natürlich schön, wenn das klappen würde, aber es gibt starke Gegner, die vielleicht auch an die Bestzeit von Tony Martin herankommen möchten und gern dieses wunderschöne Trikot hätten. Lassen Sie uns noch ein

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bisschen über die Sponsoren sprechen, insbesondere über die Messe als Start und Ziel. Da gibt es ja auch jedes Mal, nicht nur bei der Tour de France, sondern auch bei anderen Wettbewerben und sportlichen Highlights, die VIP-Bereiche. Sie haben vorhin über Sponsoren-Pakete gesprochen. Wie wird ein solches Paket eigentlich geschnürt? Handelt es sich dabei nur um Pakete speziell für die Sponsoren oder kann ich auch als einfacher Gast ein solches Paket erwerben? Christopher Schlenker: Ja, selbstverständlich! Sie werden ja zum Glück vor Ort für Eurosport kommentieren, sonst hätte ich Ihnen unseren Flyer in die Hand gedrückt und Ihnen einen unserer vier Hospitality-Bereiche empfohlen. Wie ich eingangs schon erwähnt habe, haben wir das Official Supporter-Paket mit der A.S.O. zusammen definiert. Das ist ein Paket, das unter anderem die Logonutzungsrechte beinhaltet. Hierfür muss man zwar 150.000 Euro auf den Tisch legen, aber dafür bekommt man auch entsprechend viel Leistung. Für uns hatte Priorität, dass auf diese Weise auch städtische Institutionen die Möglichkeit haben, durch BandenPakete eine gewisse Sichtbarkeit zu bekommen, wie beispielsweise Rheinbahn, Stadtwerke, Flughafen und Messe. Die A.S.O. ist in dieser Beziehung recht restriktiv, denn sie hat Jahresverträge mit Partnern wie Vittel oder Crédit Lyonnais, die viele Millionen Euro zahlen. Wir haben uns dann angeschaut, was im Vorfeld stattfindet, also das, was Frau Winkels eben angesprochen hat. Es gibt ein attraktives Rahmenprogramm für die Bürger, aber eben auch für die Sponsoren. Natürlich sind wir bei dem einen oder anderen auf gewisse Vorbehalte gestoßen: »Ja hören Sie mal, Herr Schlenker, Radsport und Sport insgesamt, das ist nicht so einfach…« Da hat es mir geholfen, dass wir in unserem Rahmenprogramm auch im Kunstbereich attraktive Angebote eingeplant haben. So zum Beispiel eine internationale Fotoausstellung zur Tour de France im NRW-Forum. Letztendlich glaube ich, dass wir es geschafft haben, allen Sponsoren attraktive und maßgeschneiderte Angebote zu unterbreiten. Theresa Winkels: Genau. Es wurden neben städtischen Partnern auch sehr viele Unternehmen der Privatwirtschaft angesprochen, die wir zu einem Sponsoring bewegen konnten, worauf wir sehr stolz sind. Hierbei sollte auch auf das Verhältnis hingewiesen werden, denn es ist nicht so, dass die Stadt Düsseldorf lediglich ihre städtischen Tochtergesellschaften angesprochen hat und diese nun die Tour de France finanzieren. Im Gegenteil: Mittlerweile wird lediglich ein Drittel der Gelder aus dem Topf der städtischen Töchter finanziert, und zwei Drittel stammen aus dem privatwirtschaftlichen Topf. Das ist genau die Breite, die Herr Schlenker gerade benannt hat. Das Portfolio der Unternehmen, die wir für dieses Projekt gewinnen konnten, reicht vom Hausmeisterbetrieb, vom Bäckereimeister und Elek-

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troservicebetrieb, also kleinen Unternehmen, die in Düsseldorf zuhause sind und die sich mit Begeisterung engagieren, bis hin zur großen Messe Düsseldorf. Es ist ein beachtlicher Erfolg für das gesamte Team, dass wir auf diese Weise zwei Drittel der Gelder aus der Privatwirtschaft akquirieren konnten. Karsten Migels: Ich bin ganz ehrlich begeistert von dem, was Düsseldorf auf die Beine stellt. Ich war schon viele Male beim Grand Départ, bei anderen Radrennen oder auch bei den Olympischen Spielen 2012 in London, aber wenn ich lese, was Düsseldorf alles bietet, bin ich wirklich hin und weg. Ich habe zwar auch nicht den genauen Einblick, was London zum Beispiel 2007 vorzuweisen hatte, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es eine Stadt oder eine Region gab, die in diesen letzten 100 Jahren Tour de France auch nur annähernd so viel für das breite Publikum getan hat wie Düsseldorf. Theresa Winkels: Ich kann das vielleicht nicht ganz so gut vergleichen wie Sie, und ich würde uns in dieser Hinsicht auch nicht so sehr herausstellen. Das Bemerkenswerte an Düsseldorf ist aber auf jeden Fall, dass wir dieses Projekt als Stadt wirklich auch in der Breite bedienen. Das heißt, wir haben ein Team – Herr Schlenker aus dem Team des Sponsorings ist heute hier an meiner Seite – mit mittlerweile 13 Abteilungen. Vom internationalen Büro des Oberbürgermeisters, über die Stadtmarketinggesellschaft, das Amt für Kommunikation, das Verkehrsmanagement, das Ordnungsamt, bis hin zur Feuerwehr sind wirklich alle Bereiche, die wir als Stadtverwaltung bieten, in dieses Projekt eingebunden, um es aktiv und erfolgreich mitzugestalten. Unter anderem auch der Bereich des Referats für das Ehrenamt. Also haben wir die Möglichkeit, die Stadtgesellschaft in ihrer ganzen Breite zu aktivieren, wofür wir auch eine sehr gute Resonanz bekommen. So haben wir auch unglaublich viele Kunst- und Kulturprojekte unter das Dach des Sports bringen können. Die schönste Geschichte ist vielleicht das Sponsoring-Projekt von Herrn Gursky. Toll ist auch das Projekt der Tour-Lichter. Das sind Kulturprojekte, die den Sport zu finanzieren helfen. Normalerweise ist so etwas praktisch fast unmöglich. Aber hier findet es statt, weil wir in Düsseldorf Künstler haben, die den Sport für sich und ihre Arbeit entdeckt haben. Herr Gursky, der als Professor an der Kunstakademie tätig ist, hat der Stadt originale Abzüge eines seiner Kunstwerke gespendet, die wir als Kernbestandteile eines Sponsoring-Paketes nutzen konnten. Auch auf diese Weise haben wir viele Gelder akquirieren können, um die Summe von 7,5 Millionen Euro für die Finanzierung des Grand Départ zu erreichen. Darüber hinaus hat Herr Gursky auch seine Kontakte zu anderen Künstlern aktiviert, sodass wir jetzt in Düsseldorf eine internationale Foto-

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ausstellung zur Tour de France organisieren konnten. Ein anderes Projekt ist beispielsweise, dass wir das Thema Fahrrad und die Entwicklung einer mobilen und fahrradgerechten Stadt im Stadtmuseum präsentieren. Dort wird die Geschichte des Fahrrads, die am 12. Juni vor exakt 200 Jahren begann, dokumentiert, und zwar im Sinne einer Stadtgeschichte. Vor allem geht es um die Frage, welche Relevanz das Fahrrad hier in Düsseldorf in der Vergangenheit hatte. Dabei suchen wir auch den Schulterschluss zu unserer Radschlag-Kampagne, die heute die Wahrnehmung auf das Fahrrad im Alltag lenken will, und gleichzeitig natürlich auch für eine Politik der Infrastrukturförderung von Radwegen steht. Karsten Migels: Wichtig für dieses Thema sind dementsprechend auch die Nachhaltigkeit und die Zukunft in Sachen sicheres Fahrradfahren und Autoverkehr, was sie gerade schon angesprochen haben. Ich war 2000 in Freiburg, als die Tour de France dort vorbeikam, und 2007 fanden die Straßenweltmeisterschaften in Stuttgart statt. Wenn ich diese Veranstaltungen nehme oder auch die Sportstätten vieler Olympischer Spiele, dann wurde im Nachhinein relativ wenig daraus gemacht. Wenn ich heute durch Freiburg spaziere, dann frage ich mich schon, wie groß die Nachhaltigkeit eines solchen Sportevents ist. Wie sehen die Zukunftspläne für Düsseldorf und Umgebung aus? Theresa Winkels: In der Düsseldorfer Politik und damit auch in der Verwaltung steht die sogenannte Fahrradförderung schon seit einigen Jahren auf der Agenda. Es gibt einen langfristig ausgerichteten Plan, der verschiedene Mittelbindungen in den nächsten Jahren vorsieht. Wunschvorstellung wäre es, dass wir uns an London orientieren können, wo 2007 der Grand Départ ausgerichtet wurde. Die Wahrnehmung wurde dadurch so stark auf das Fahrradfahren gelenkt, dass die Briten mit der Infrastrukturförderung fast nicht mehr nachgekommen sind. London hat sich in den letzten Jahren dadurch sehr intensiv zu einer Fahrradstadt gewandelt. Dort werden auch immer noch Mittel in die Hand genommen, um das Thema weiterhin zu fördern. Genauso hat es Düsseldorf vor. Der Grand Départ und seine öffentliche Wahrnehmung dürften es erleichtern, die Bereitstellung von Mitteln zur Förderung des Fahrradverkehrs in der Stadt zu begründen. Vielleicht werden wir irgendwann einmal so weit sein, wie Kopenhagen es heute schon ist. Karsten Migels: Ruben, ist das auch dein Wunsch, dass sich in Sachen Nachhaltigkeit nach dem Grand Départ 2017 etwas tut? Du bist täglich mit deinem Rennrad unterwegs und kennst viele dieser Schwachpunkte.

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Ruben Zepuntke: Ja, natürlich. Nichtsdestotrotz hat sich wirklich schon sehr viel in Düsseldorf getan. Was ich zum Beispiel immer gerne mache, ist, auf den Radzähler an der Rheinpromenade zu schauen, der die Radfahrer zählt. Morgens bin ich manchmal der zwei- oder dreihundertste und wenn ich wieder vom Training zurückkomme, also nach drei oder vier Stunden, dann bin ich schon Nummer 1800. Da merkt man mittlerweile schon, dass die Zahl der Leute, die in Düsseldorf mit dem Rad unterwegs sind, deutlich gestiegen ist. Obwohl es noch einige Missstände gibt, was das Radnetz betrifft, hat sich doch Vieles zum Positiven entwickelt. Generell ist für mich aber das Bewusstsein der Leute wichtiger, die sich beispielsweise dafür entscheiden, lieber mit dem Fahrrad anstatt mit dem Auto zur Arbeit zu fahren. Und da hilft ein Event wie die Tour de France bestimmt auch dabei, den Menschen vor Ort diese Alternative ins Bewusstsein zu rücken.

Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Vittoria Borsò lehrte romanistische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Sie war Senior Fellow im Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (IKKM) der Bauhaus-Universität Weimar sowie Mitglied des DFG-Fachkollegiums »Literaturen Europas und Amerikas«. Weiterhin wirkte sie als Dekanin der Philosophischen Fakultät, Prorektorin für Internationales und Mitglied des Hochschulrates in Düsseldorf. Ihre Forschungsschwerpunkte sind der New Materialism, die Biopolitik, die Bio-Poetik und die Epistemologie des Lebens in Literatur und visuellen Medien. Als weitere Arbeitsschwerpunkte sind die Ästhetik von Visualität und Schrift, Iberian Postcolonialities, die Literatur und Kultur Mexikos sowie die Erforschung des Konzeptes der Weltliteratur zu nennen. Vittoria Borsò weist ein sehr umfangreiches wissenschaftliches Œuvre in den Bereichen Literatur-, Kulturund Medientheorie sowie in den Literaturen Europas (Frankreich, Italien, Spanien) und Lateinamerikas auf. Wichtige Veröffentlichungen in Auswahl: Wissen und Leben ‒ Wissen für das Leben: Herausforderungen einer affirmativen Biopolitik (2014), Lateinamerika anders denken. Literatur ‒ Macht ‒ Raum, mit einem Vorwort von Dieter Ingenschay (2015, zusammen mit Vera Gerling/Santiago Navarro Pastor/Yasmin Temelli/Karolin Viseneber), Colonia ‒ Independencia ‒ Revolución. Genealogías, latencias y transformaciones en la escritura y las artes de México (2017, zusammen mit Vera Gerling). Dr. Sieglinde Borvitz studierte Italianistik, Frankreichstudien, Ost- und Südosteuropawissenschaften an der Universität Leipzig sowie in Florenz und Paris. Darauf folgte die binationale Promotion in Romanistik und Kulturwissenschaften an den Universitäten Düsseldorf und Palermo. Nachdem sie von 2012 bis 2018 Juniorprofessorin für Romanistische Literatur- und Kulturwissenschaft (Italienisch/Französisch) am Institut für Romanistik der Heinrich-Heine-Universität

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Düsseldorf war, ist sie dort nun als Akademische Rätin tätig. Wichtige Veröffentlichungen in Auswahl: Controcorrente. Die kruden Visionen von Ciprì und Maresco (2014), Luigi Lilio. Il dominio del tempo (2017, zusammen mit Giuseppe Capoano/Francesco Vizza), Phänomene der Verknappung in den romanischen Literaturen und Kulturen (2018, zusammen mit Yasmin Temelli). Prof. Dr. Ingo Froböse hat seit 1995 eine Professur an der Sporthochschule Köln inne, wo er seit 2005 das Institut für Bewegungstherapie und bewegungsorientierte Prävention und Rehabilitation leitet. Bereits in jungen Jahren galt seine Leidenschaft dem Sport, besonders der Leichtathletik und dem Viererbob. 1978 wurde er Deutscher Vizemeister im Viererbob der Junioren und belegte mit seinem Team den vierten Platz bei der Europäischen Juniorenmeisterschaft. In den 1980er Jahren wurde er mehrfach deutscher Vizemeister im Sprint über 100 und 200 Meter sowie Vierter bei der Halleneuropameisterschaft (1982). Im Jahr 2000 gründete er das an der Deutschen Sporthochschule angesiedelte Zentrum für Gesundheit durch Sport und Bewegung. Seit 2004 ist er Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirates des TÜV Rheinland und seit 2018 Sachverständiger des Bundestages in Fragen der Prävention. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Gesundheitsförderung und Prävention sowie die Trainingssteuerung und die Förderung der Gesundheitskompetenz junger wie alter Menschen. Wichtige Veröffentlichungen in Auswahl: Bewegung und Training. Grundlagen und Methodik für Physio- und Sporttherapeuten (2002, zusammen mit Christian Hartmann), Betriebliche Gesundheitsförderung: Möglichkeiten der betriebswirtschaftlichen Bewertung (2012), Leistung messen & steigern: Die besten Methoden aus dem Profisport – für Ausdauer- und Krafttraining (2018). Prof. Dr. Andreas Gelz ist Inhaber des Lehrstuhls für Romanische Philologie am Romanischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Seine Arbeiten beziehen sich auf die Literatur- und Kulturgeschichte Frankreichs und Spaniens des 17. bis 21. Jahrhunderts. Er leitet das Teilprojekt »Sport und das Heroische in der französischen Literatur von der Zwischenkriegszeit bis heute« am Sonderforschungsbereich 948 »Helden-Heroisierungen-Heroismen« und gibt die Zeitschrift lendemains. Études comparées sur la France/Vergleichende Frankreichforschung heraus. Wichtige Veröffentlichungen in Auswahl: Tertulia: Literatur und Soziabilität im Spanien des 18. und 19. Jahrhunderts (2006), Skandale zwischen Moderne und Postmoderne. Interdisziplinäre Perspektiven auf Formen gesellschaftlicher Transgression (2014, zusammen mit Dietmar Hüser/Sabine Ruß-Sattar),

Autorinnen und Autoren | 319

Return Migration in Romance Cultures (2015, zusammen mit Marco T. Bosshard), Der Glanz des Helden. Über das Heroische in der französischen Literatur vom 17. bis 19. Jahrhundert (2016). Dr. Holger Ihle ist Senior Specialist Data Management in Analytics & Insights bei der Unicepta Medienanalyse GmbH in Köln. Er hat Kommunikations- und Medienwissenschaft, Deutsche Philologie und Strafrecht an der Georg-AugustUniversität Göttingen und der Universität Wien studiert. Seit 2005 war er Projektmitarbeiter am Institut für Medienforschung Göttingen & Köln (IM•Gö) sowie von 2010 bis 2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Deutschen Sporthochschule Köln. Von 2015 bis 2018 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften in der Abteilung Kommunikations- und Medienwissenschaft der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Von 2014 bis 2018 war er Sprecher bzw. stellvertretender Sprecher der Fachgruppe »Mediensport und Sportkommunikation« in der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK). Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind Medieninhaltsforschung mit Fokus auf den regionalen und lokalen Medien, Sportkommunikation und Öffentlichkeit des Sports. Wichtige Veröffentlichungen in Auswahl: »Mehr Siege, mehr Likes: Wie beeinflusst sportlicher Erfolg die Facebook-Kommunikation von Fußballspielern zur UEFA-Europameisterschaft 2016?« (2018, zusammen mit Kay Hinz), »Sport in den Fernsehnachrichten: Ergebnisse einer Inhaltsanalyse der Sportberichterstattung in den deutschen Hauptnachrichtensendungen« (2018), Großer Sport, große Show, große Wirkung?: Empirische Studien zu Olympischen Spielen und Fußballgroßereignissen (2018, zusammen mit Holger Schramm/Christiana Schallhorn/Jörg-Uwe Nieland). Dr. Eva-Maria Jung ist Akademische Rätin a.Z. am Philosophischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Sie studierte Philosophie, Mathematik und Physik in Freiburg im Breisgau, Rom und Berlin. Nach dem Magisterabschluss 2005 war sie an der Universität Tübingen (2005 bis 2006) und – nach einem Forschungsaufenthalt an der University of California in Berkeley im Jahr 2007 – an der Ruhr-Universität Bochum (2007 bis 2009) tätig. Im Sommer 2009 schloss sie ihre Promotion in Bochum ab. Seit 2010 arbeitet sie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, wo sie zudem von 2010 bis 2017 Geschäftsführerin des Zentrums für Wissenschaftstheorie war. Ihre Schwerpunkte liegen in der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie sowie der Philosophie des Geistes. Wichtige Veröffentlichungen in Auswahl: Gewusst wie? Eine Analyse praktischen Wissens (2012), Jenseits der Sprache – Interdisziplinäre Beiträge zur Wissenstheorie Michael Polanyis (2014), »Fundament der Wissenschaft oder Relikt

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der Evolution? Kritische Anmerkungen zur epistemischen Funktion von Wahrnehmungsurteilen bei Peter Rohs« (2014, zusammen mit Stephanie Müller/Ansgar Seide). Prof. Dr. Frank Leinen lehrt und forscht seit 1999 als Professor für Romanistische Literaturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seine Publikationen zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, zum Film sowie zu grafischen Erzählungen untersuchen vorrangig Aspekte der interkulturellen Hermeneutik, der Imagologie, des Postkolonialismus und des intermedialen Experiments. Er widmet sich als Wissenschaftler, Herausgeber und Autor ferner populärkulturellen Themen, der Erfassung intermedialer Strukturen und interdisziplinären Forschungsansätzen. Wichtige Veröffentlichungen in Auswahl: Bilderwelten – Textwelten – Comicwelten. Romanistische Begegnungen mit der Neunten Kunst (2007, zusammen mit Guido Rings), Mexiko 2010. Kultur in Bewegung – Mythen auf dem Prüfstand (2012), KITSCH?! Interdisziplinäre Annäherungen an ein unterschätztes Phänomen (2015, zusammen mit Elmar Schafroth). Dr. Jörg-Uwe Nieland ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikationswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Sein Studium der Politikwissenschaft führte ihn an die Universitäten Duisburg, Bochum und Berlin. Er wurde an der Universität Duisburg-Essen promoviert und war von 2009 bis 2016 als Mitarbeiter am Institut für Kommunikations- und Medienforschung der Deutschen Sporthochschule Köln tätig. Seit 2016 forscht und lehrt er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Siegen, und seit 2017 ist er assoziiertes Mitglied im Teilprojekt B07 »Medienpraktiken und Urheberrecht« im Sonderforschungsbereich »Medien der Kooperation«. Seit 2014 ist er als Sprecher bzw. stellvertretender Sprecher der Fachgruppe »Mediensport und Sportkommunikation« in der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) tätig. Ferner ist er Vorstandsmitglied der Initiative Nachrichtenaufklärung e.V. Wichtige Veröffentlichungen in Auswahl: Bewegungskulturen im Wandel. Der Sport der Medialen Moderne – gesellschaftstheoretische Verortungen (2016, zusammen mit Volker Schürmann/Jürgen Mittag/Günther Stibbe/Jan Haut), Globales Mega-Event und nationaler Konfliktherd. Die Fußball-WM 2014 in Medien und Politik (2017, zusammen mit Michael Meyen/Jürgen Mittag), Nachrichten und Aufklärung. Medien- und Journalismuskritik heute: 20 Jahre Initiative Nachrichtenaufklärung (2017, zusammen mit Hektor Haarkötter).

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Prof. Dr. Rupprecht Podszun ist seit 2016 Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht sowie deutsches und europäisches Wettbewerbsrecht an der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf und Affiliated Research Fellow am Münchner MaxPlanck-Institut für Innovation und Wettbewerb. Zuvor war er Professor an der Universität Bayreuth. Er studierte Jura in Heidelberg, London und München und spezialisierte sich auf kartellrechtliche Fragen. In seiner Doktorarbeit untersuchte er die internationale Zusammenarbeit von Kartellbehörden. Er arbeitete zwei Jahre im Bundeskartellamt, bevor es ihn zurück in die Wissenschaft zog. Wichtige Veröffentlichungen in Auswahl: FairEconomy: Crises, Culture, Competition – and the Role of Law (2013, zusammen mit Wolfgang Fikentscher/Philipp Hacker), Wirtschaftsordnung durch Zivilgerichte (2014), Die 9. GWB-Novelle. Kartellschadensersatz, Digitale Ökonomie, Fusionskontrolle, Bußgeldrecht, Verbraucherschutz (2017, zusammen mit Christian Kersting). Prof. Dr. Jean Pruvost lehrte bis zu seiner Emeritierung an der Université de Cergy-Pontoise. Derzeit ist er Programmleiter des Pariser Verlags Honoré Champion und Leiter der Études de linguistique appliquée. Seit 1993 organisiert er jährlich die Journée des dictionnaires, ein Forum des wissenschaftlichen Austauschs, in dessen Rahmen sich regelmäßig mehrere hundert Lexikografen treffen. Für seine wissenschaftlichen Verdienste erhielt Jean Pruvost zahlreiche Auszeichnungen, wie den Prix international de linguistique Logos und den Prix de l’Académie française. Er ist als Kolumnist regelmäßig im französischen Radio zu Gast, vor allem bei France Inter, Canal Académie, RCF, France Bleu und bei Radio France, wo er als Doc Dico bekannt ist. Wichtige Veröffentlichung in Auswahl: Dictionnaire de citations françaises (2007), Journal d’un amoureux des mots (2013), Nos ancêtres les Arabes (2017). Seine private Wörterbuchsammlung umfasst über 10.000 Werke. Dr. Achim Schmidt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Natursport und Ökologie an der Deutschen Sporthochschule Köln in den Bereichen Radsport und Skilanglauf. Er ist Autor zahlreicher Publikationen zum Radfahren sowie zum Ausdauer- und Gesundheitssport. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Radsport und Fahrradmobilität. Mit den Mobilitätsprojekten »Radfahren in der Grundschule« und »Veloversity« war er Preisträger beim Deutschen Fahrradpreis. Schmidt war über 20 Jahre A-Amateur auf der Straße und hat in dieser Zeit zahlreiche Radrennen gewonnen. Bereits Ende der 1990er Jahre machte er auf die Dopingproblematik im Radsport aufmerksam und initiierte in den Folgejahren mehrere Antidopingaktionen. Wichtige Veröffentlichungen in Auswahl: Belastungsstrukturen im Straßenradsport: spezielle Anforderungen von

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Rundstreckenrennen (2007, zusammen mit Brian Eberle/Helmut H. H. Lötzerich/Ralf Dieter Roth), Handbuch für Radsport. Fahrtechnik und Taktik, Training und Ernährung, Physiologie und Psychologie (2013), Competitive cycling (2014). Prof. Dr. Hans Theo Siepe studierte Romanistik und Germanistik in Köln und Aix-en-Provence. Auf das Erste Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien folgte 1976 die Promotion und 1983 die Habilitation an der Universität Duisburg. Als Professor für Romanistische Literaturwissenschaft wirkte er von 1984 bis 1996 an der Universität Duisburg, anschließend bis 2001 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und schließlich bis 2012 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Hier war er auch für den Diplomstudiengang Literaturübersetzen verantwortlich. Seine akademische Laufbahn beendete er als Dekan der Philosophischen Fakultät. Seit seiner Pensionierung lebt Hans Theo Siepe in Frankreich und Deutschland. Wichtige Veröffentlichungen in Auswahl: Übersetzen im Vormärz (2008), »Metropolis, Cyclopolis und Tour de France. Kleine Bemerkungen zum Motiv von Stadt und Fahrrad in der Avantgarde« (2009), Balzac und Deutschland – Deutschland und Balzac (2012). Prof. Dr. Christian Tagsold arbeitet seit 2013 als Professor für Modernes Japan an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seine Dissertationsschrift Die Inszenierung der kulturellen Identität in Japan: Das Beispiel der Olympischen Spiele Tokyo 1964 (2002) wurde mit einem Sonderpreis beim 2. Akademischen Wettbewerb des Nationalen Olympischen Komitees ausgezeichnet. Er war 2005 beim FIFA Confed Cup und 2006 bei der FIFA Weltmeisterschaft als Team Liaison Officer für die japanische Nationalmannschaft Mitarbeiter des Organisationskomitees beider Turniere. Dieselbe Aufgabe hatte er 2010 bei der FIFA Frauenweltmeisterschaft U20 und 2011 bei der Frauenweltmeisterschaft inne. Wichtige Veröffentlichungen in Auswahl: »Remembering the Glory Days of the Nation: Sport as lieu de mémoire in Japan« (2011, zusammen mit Andreas Niehaus), Spaces in Translation: Japanese Gardens and the West. Penn Studies in Landscape Architecture (2017). Prof. Dr. Gottfried Vosgerau hat die Professur für Philosophie des Geistes und der Kognition an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf inne. Er studierte Philosophie, Allgemeine Sprachwissenschaft und Kognitionswissenschaft in Freiburg im Breisgau und in Bonn. Sein Promotionsstudium führte ihn als Mitarbeiter an die Universitäten in Tübingen und Bochum, wo er 2007 mit einer Arbeit zum menschlichen Selbstbewusstsein promoviert wurde. Seit 2009 vertritt er an der

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Heinrich-Heine-Universität die Philosophie des Geistes und der Kognition, zunächst als Juniorprofessor und seit 2014 als Universitätsprofessor. Seine Schwerpunkte liegen in der Erforschung geistiger Fähigkeiten und ihrer Störungen sowie der Erforschung der Sprache, wobei seine Arbeit von der interdisziplinären Zusammenarbeit mit Linguisten, Psychologen und Medizinern geprägt ist. Wichtige Veröffentlichungen in Auswahl: Mental Representation and Self-Consciousness (2009), »Was soll erklärt werden? Funktionalismus, erweiterter Geist und Kriterien des Mentalen« (2016), »Implicit attitudes and implicit prejudices« (2016, zusammen mit René Baston). Dr. Mona Wodsak studierte Romanistik und Germanistik in Düsseldorf und Paris. Sie promovierte mit der Monografie Die Complainte. Zur Geschichte einer französischen Populärgattung, welche mit dem Straßburg-Preis (1985) ausgezeichnet wurde. Neben ihren Forschungen zum »Leser im Bild« war sie wesentlich an der Einrichtung und Konzeption des damaligen Diplom- und jetzigen Masterstudiengangs Literaturübersetzen an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf beteiligt, in dem sie seit seinem Beginn im Wintersemester 1987/88 lehrt. Wichtige Veröffentlichungen in Auswahl: »›Un délire tapé à la machine par un romancier idiot‹? Zum Problem der Übersetzung von Raymond Queneaus Zazie dans le métro« (1994), Poetischer Paris-Führer, Französisch & Deutsch (1999), Ikonographisches Repertorium zur Europäischen Lesegeschichte (2000, zusammen mit Fritz Nies), Seuils – Nouvelles franco-canadiennes / Schwellen – Franco-kanadische Erzählungen (2012, zusammen mit Felix Mayer).

Mitwirkende am Podiumsgespräch

Karsten Migels kam als Zwölfjähriger durch einen Zufall zum Radsport. Sein damaliger Fußballtrainer drückte ihm wegen seines mangelhaften Balltalentes fünf D-Mark in die Hand mit der Bedingung, sein Glück doch in einer anderen Sportart zu versuchen. So wurde er Radsportler und als solcher mehrfacher Badischer Meister auf der Bahn, im Gelände und auf der Straße. Er fuhr einige Jahre in der deutschen Junioren- und Amateur-Nationalmannschaft. Bei den deutschen Querfeldeinmeisterschaften wurde er 1982 in der Gruppe der Junioren Deutscher Meister und belegte bei den Cyclocross-Weltmeisterschaften den neunten Platz. Als Elitefahrer war er im Schweizer Team Paterlini Saxer Look engagiert. Zur Profikarriere kam es aber nicht. Ab 1992 moderierte er Mountainbike-Rennen, später reiste er am Wochenende als Streckensprecher durch die Republik. Seit Juni 1997 berichtet Migels für den Fernsehsender Eurosport von den großen Ereignissen des Radsports. Neben der Tour de France kommentiert er unter anderem den Giro d’Italia, die Vuelta a España sowie zahlreiche Radsport-Klassiker. Christopher Schlenker begann nach der Ausbildung zum Bankkaufmann und dem Diplomstudium zum Medienwirt in Köln seine berufliche Laufbahn bei Air Berlin im Sportmarketing. Dort war er zunächst für die Sponsoring-Partnerschaften aller Fußballbundesligisten im Portfolio von Air Berlin zuständig (unter anderem Schalke 04, Bayer Leverkusen, Hertha BSC, Fortuna Düsseldorf), später hatte er die Gesamtverantwortung für den Sportbereich (Eishockey, Tennis, Handball, Marathon, Golf). Nach fünf Jahren bei Air Berlin wechselte er als Senior Expert in den Dialogmarketing-Bereich zur Deutschen Post nach Bonn. Anschließend leitete er die Bereiche Marketing und Sales zweier Düsseldorfer Start-ups. Anfang 2016 wurde er als Senior Manager Sponsoring in das Projektteam Grand Départ berufen. Schwerpunkt seiner Arbeit war dabei die Vermarktung und Akquise von Sponsoren. Seit Juli 2018 arbeitet Christopher Schlenker als Leiter Sponsoring bei

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der Düsseldorfer EG. Er war in seiner Jugend erfolgreicher Jugend-Hockeynationalspieler und spielt heute noch aktiv für den Zweitligisten DSD Düsseldorf. Darüber hinaus engagiert er sich ehrenamtlich für den Kinderschutzbund Düsseldorf. Maria Theresa Winkels studierte Medienwirtschaft mit dem Schwerpunkt Marketing sowie im Master Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften. Auslandsaufenthalte führten sie nach Irland, China und Costa Rica. Zu Ihren beruflichen Stationen gehören unter anderem die Bertelsmann Stiftung und eine Düsseldorfer Medienagentur. Parallel wirkte sie bei der Gründung und Entwicklung eines Familienbetriebes im Bereich der Immobilienwirtschaft mit. 2013 wurde Maria Theresa Winkels Referentin für Wirtschaftsförderung, Tourismus und Sport im Büro des Oberbürgermeisters der Landeshauptstadt Düsseldorf. Im Sommer 2016 übernahm sie die Projektleitung des Grand Départ 2017. 2018 wechselte sie als stellvertretende Amtsleiterin und Abteilungsleiterin für den Bereich Standortmarketing in die Düsseldorfer Wirtschaftsförderung. Ruben Zepuntke startete seine Radsportkarriere im Jahr 2007. Schon drei Jahre später wurde er deutscher Meister in der Mannschaftsverfolgung der Junioren auf der Bahn und 2011 zweifacher deutscher Juniorenmeister in der Mannschaftsverfolgung sowie im Einzelzeitfahren auf der Straße. Weiterhin belegte er Rang fünf beim Pavé de Roubaix, der Junioren-Austragung des Klassikers Paris-Roubaix. Die Fachwelt wurde neuerlich auf das Talent des Düsseldorfer Radrennfahrers aufmerksam, als er beim Cascade Cycling Classic in Oregon Platz fünf der Gesamtwertung belegte und als bester Nachwuchsfahrer geehrt wurde. Bei der Tour of Alberta gewann er 2014 die erste Etappe und sicherte sich damit seinen bis dahin bedeutendsten Sieg. Zepuntke fuhr in seiner Karriere für mehrere Teams, zuletzt für das Development-Team Sunweb. Nach einem Sturz 2016, der auch die Teilnahme an der Tour de France 2017 vereitelte, beendete der mehrfache deutsche Jugendmeister 2018, an seinem 25. Geburtstag, seine Radsportkarriere. Zepuntke studiert derzeit Sport Business Management, ist aber neben dem Studium mittlerweile auch als Triathlet erfolgreich.

Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)

Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book PDF: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3638-3

Fatima El-Tayeb

Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3

Götz Großklaus

Das Janusgesicht Europas Zur Kritik des kolonialen Diskurses 2017, 230 S., kart., z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4033-5 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4033-9

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Kulturwissenschaft Rainer Guldin, Gustavo Bernardo

Vilém Flusser (1920–1991) Ein Leben in der Bodenlosigkeit. Biographie 2017, 424 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4064-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4064-3

Till Breyer, Rasmus Overthun, Philippe Roepstorff-Robiano, Alexandra Vasa (Hg.)

Monster und Kapitalismus Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2017 2017, 136 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3810-3 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3810-7

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)

POP Kultur & Kritik (Jg. 6, 2/2017) 2017, 176 S., kart., zahlr. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-3807-3 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3807-7

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