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German Pages 529 [532] Year 2007
Marc von der Höh Erinnerungskultur und frühe Kommune
Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit Band 3
Herausgegeben von Andreas Ranft und Monika Neugebauer-Wölk
Marc von der Höh
Erinnerungskultur und frühe Kommune Formen und Funktionen des Umgangs mit der Vergangenheit im hochmittelalterlichen Pisa (1050-1150)
Akademie Verlag
ISBN-10: 3-05-004181-1 ISBN-13: 978-3-05-004181-0
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2006 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: nach einem Entwurf von BARLO FOTOGRAFIK (Tobias Schneider), Berlin Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany
Inhalt
VORWORT
11
EINLEITUNG
13
A . Der Untersuchungsgegenstand
14
B. Zur bisherigen Forschung
17
C. Perspektiven
21
1. Anfange kommunaler Erinnerungskultur in Italien
22
2. Erinnerungskultur und Kommune
26
3. Strukturen städtischer Kommunikationsräume
33
D. Methodisches Vorgehen
38
ERSTER ABSCHNITT: D I E FRÜHE KOMMUNALE GESCHICHTSSCHREIBUNG I. Erinnerungsbestände
41
A. Die Pisaner Annalistik
42
1. Die Überlieferung
43
a. Das Chronicon Pisanum
43
b. Die Annales Pisani Antiquissimi
58
c. Die annalistische Inschrift der Domfassade
61
d. Zusammenfassung 2. Die Entstehung der Pisaner Annalen des 11. Jahrhunderts
62 63
a. Befunde der Handschriften
64
b. Pragmatischer Zusammenhang
64
c. Die Kompilation des Chronicon Pisanum
66
3. Frühe Annalen und Stadtgeschichte
70
a. Vergleich der Texte
70
b. Stadtgeschichte im Chronicon Pisanum
74
c. Der Entstehungskontext des Chronicons
76
6
Inhalt Β. Geschichtsdichtung
80
1. Das Carmen in victoriam Pisanorum 2. Der Liber Maiorichinus 3. Inschriften
80 81 87
C. Die Gesta triumphalia per Pisanos facta
87
D. Die Sammlungen des Guido
91
1. Überlieferung a. Die Brüsseler Handschrift
92 92
b. Die vatikanische Handschrift c. Die Londoner Handschrift 2. Der Kompilator
96 97 98
a. Identifizierung des Kompilators b. Die Geographica c. Guido 3. Die Sammlungen des Guido und das Interesse des Pisaner Publikums E. Ergebnisse und erste Interpretation der Befunde 1. Zeitliche Dimension a. Der Beginn städtischer Geschichtsschreibung b. Die zeitliche Beschränkung des frühkommunalen Geschichtsbildes c. Die Vorgeschichte der Stadt - Wissen über das antike Pisa 2. Thematische Dimension a. Pisa als Bekämpferin der Sarazenen b. Concordia als Zentrum der Pisaner Selbstentwürfe 3. Funktionen des Geschichtsbildes II. Deutungen des Erinnerten A. Das Carmen in victoriam Pisanorum 1. Autor und Entstehungszeit 2. Das Carmen als stadtgeschichtlicher Text a. Militia christi und bellum iustum b. Die Pisaner als Helden der Dichtung 3. Geschichtsbild und Geschichtstheologie a. Gott und Welt b. Historische Vergleiche und ihre geschichtstheologischen Grundlagen 4. Zusammenfassung B. Der Liber Maiorichinus 1. Autor und Entstehungszeit a. Der Dichter b. Datierung 2. Die zeitgeschichtlichen Ereignisse
98 100 101 102 104 104 104 106 108 111 111 112 116 118 120 121 122 123 127 129 129 133 153 155 156 157 161 163
Inhalt
7 3. Geschichtsbild und Geschichtstheologie
164
a. Der Ordo temporis
165
b. Mensch und Gott
180
c. Die Darstellung der Pisaner
183
d. Brüche
193
4. Zusammenfassung
197
C. Ergebnisse
199
ZWEITER ABSCHNITT: GESCHICHTE IM STADTRAUM -
D I E S T A D T ALS ERINNERUNGSRAUM
I. Vorüberlegungen Α. Stadtraum und Stadtgemeinschaft
202 202
1. Spuren und Monumente
203
2. Die Stadt als Palimpsest
206
Β. Das Überlieferungsproblem
208
C. Methodisches
211
1. Korpus-Konstitution
211
2. Zur Entstehung der Monumente - Das Beispiel der Inschriften
213
3. Träger der Erinnerungspraxis
215
4. Die Pisaner Erinnerungslandschaft
217
II. Der Komplex der Porta Aurea A. Die Stadttorinschrift der Porta Aurea 1. Die Porta Aurea im hochmittelalterlichen Stadtraum
219 219 220
a. Lokalisierung des Tores
220
b. Einbindung in den urbanistischen Zusammenhang
222
c. Die Porta Aurea als Ort der Monumentsetzung - Symbolische Dimensionen
223
d. Die Porta Aurea - Triumphtor der Kommune?
225
2. Die Inschrift a. Formale Aspekte
228 228
b. Der Text
229
c. Adressaten
231
d. Die Entstehung der Inschrift
231
B. Das Rodulfus-Monument
234
1. Die Inschrift
234
a. Der Text
235
b. Die ursprünglichen Position der Inschrift
237
8
Inhalt 2. Das Opus
238
a. Das Herkules-Fragment des Camposanto
239
b. Eine Portraitstatue des Rodulfus?
240
c. Die Statue am Arnoufer 3. Der Konsul Rodulfus 4. Rodulfus - Herkules 5. Das Monument im mittelalterlichen Kontext C. Ergebnisse III. San Sisto A. Der Heilige und die Pisaner Geschichte B. Die ecclesia sanctiXisti 1. Der Kirchenbau 2. Der Standort des Baus 3. Institutionelle Einbindung der Stiftung 4. Das Fest des Heiligen C. Ergebnisse IV. Der Komplex des Domplatzes A. Der Dombau zwischen Bischof, Kanonikern und Cives
242 243 246 248 252 254 254 256 257 258 259 260 261 263 264
1. Frühgeschichte des Doms 2. Die Pisaner Cives und der Baubeginn
264 267
3. Vom Diplom Mathildes (1077) bis zur Entstehung der Opera Sancte Marie 4. Die Opera im Zusammenwirken von Kommune und Erzbischöfen
271 275
5. Von den Brevi bis zur Übernahme der Opera durch die Kommune 6. Ergebnisse
278 281
B. Die Umgebung des Doms im hohen Mittelalter - Rekonstruktion des Stadtraums 1. Die Lage des Doms 2. Die Umgebung des Doms 3. Die Verkehrssituation am Dom 4. Die Nutzung der Domumgebung
282 282 283 287 290
C. Der Dom als Memorialbau - Grablegen und Grabinschriften am Dom 1. Der Dom als Begräbnisort 2. Das Grab der Markgräfin Beatrix 3. Weitere Bestattungen am Dom 4. Epitaphe am Dom a. Die Epitaphe des Ugo und des Rodulfus b. Das Epitaph des Konsuls Henricus 5. Der Dom als Ehrenfriedhof ?
292 293 295 298 301 302 307 314
Inhalt
9 D. Inschriften der Domfassade 1. Die Busketus-Inschriften (Dl-3) a. Die zwei Fassaden des Doms b. Das doppelte Epitaph für Busketus
315 315 317 319
c. Die Tympanon-Inschrift d. Zusammenfassung 2. Guido- und annalistische Inschrift (A/B) a. Formale Aspekte
321 325 326 326
b. Die Guido-Inschrift (B) c. Die annalistische Inschrift (A) d. Gesamtdeutung der Inschriftentafel A/B 3. Die Palermo-Inschrift (C)
329 336 344 346
a. Der Text der Inschrift
346
b. Datierung 4. Interpretation des Gesamtkomplexes a. Baugeschichtlicher Befund
349 356 356
b. Das Programm der Fassadeninschriften 5. Ergebnisse
358 362
V. Inschriften im kommunalen Pisa - Die Wiederentdeckung einer epigraphischen Erinnerungspraxis
365
A. Epigraphische Praxis zwischen Spätantike und Frühmittelalter
365
B. Die Anfange kommunaler Epigraphik in Pisa
367
1. Öffentlichkeit der Inschriften 2. Inhalte und Funktionen der Inschriften 3. Träger der inschriftlichen Praxis VI. Nicht-schriftliche Monumente im Stadtraum A. Trophäen 1. Eine städtische Erinnerungspraxis 2. Die Holztüre der Domfassade 3. Der Bronzegreif. Exkurs: Zur Interpretation der Befunde B. Die antiken Inschriftenfragmente des Doms 1. Position der Fragmente am Dom 2. Die Texte der Fragmente 3. Bisherige Interpretationsansätze
367 368 369 371 372 373 378 380 382 386 387 390 391
10
Inhalt 4. Romanitas Pisana - Die Pisaner und die Antike
399
a. Die Antike als ästhetisches Vorbild
400
b. Das antike Rom als ideeller Vergleichspunkt
402
c. Die Antike zwischen aurea aetas und dunkler Vergangenheit ?
406
d. Interpretatio christiana in Pisa
408
5. Ein Lösungsvorschlag C. Das Epitaph für die ,Regina di Maiorca' - Inschriften als Erzählmale
411 413
1. Das Epitaph der 'Regina'
413
2. Sarazenische Kriegsgefangene in Pisa
414
3. Die bestattete Sarazenin
416
4. Die Legende der .Regina di Maiorca'
420
5. Inschriften als Erzählmale
423
D. Ergebnisse
425
ZUSAMMENFASSUNG: ERINNERUNGSKULTUR UND KOMMUNE IN PISA
427
ANHANG
Quellen- und Literaturverzeichnis
435
Abkürzungen
435
Verzeichnis der Handschriften
435
Verzeichnis der gedruckten Quellen
436
Literaturverzeichnis
443
Karten- und Abbildungsnachweis
484
Orts- und Personenregister
489
Vorwort
Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Wintersemester 2003/2004 dem Fachbereich Geschichte, Philosophie und Sozialwissenschaften der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg vorgelegt habe. Bis zu ihrer Fertigstellung mußte ein langer Weg zurückgelegt werden, auf dem mich eine ganze Reihe von Institutionen und Personen gefördert, unterstützt und begleitet haben. An erster Stelle ist hier mein Doktorvater, Prof. Andreas Ranft, zu nennen, der das Entstehen der Arbeit von Anfang an mit großem Einsatz gefördert hat. Er war es, der vor vielen Jahren mein Interesse an ungewöhnlichen mediävistischen Fragestellungen geweckt hat. Auch in schwierigen Situation stand er mir immer mit Rat und Tat zur Seiten, wofür ich ihm zu Dank verpflichtet bin. Mein Dank gilt - stellvertretend für das gesamte DFG-Graduiertenkolleg „Vormoderne Konzepte von Zeit und Vergangenheit" an der Universität zu Köln - dessen Sprechern, Prof. Karl-Joachim Hölkeskamp und Prof. Bernd Manuwald. Die finanzielle Förderung durch das Kolleg stellte eine sichere Grundlage für die Durchführung meiner Forschungen dar. Die anregenden Diskussionen im Kolleg haben mir zudem für viele Aspekte des Themas erst die Augen geöffnet. Dank schulde ich insbesondere Prof. Tilmann Struve, der meine Aufnahme in das Kolleg befürwortet hat und in langjährigen Diskussionen das Entstehen dieser Arbeit begleitet hat. Ein solches Projekt hätte ohne längere Studien in Pisa niemals durchgeführt werden können. Der ehemalige Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom, Prof. Arnold Esch, ermöglichte mir durch die Bewilligung eines Stipendiums, nicht nur die reichen Bibliotheksbestände in Rom und in der Toskana zu konsultieren, sondern vor allem auch die Überreste des Hochmittelalters im modernen Pisa zu erleben und zu studieren. In Pisa selbst fand ich ausgezeichnete Arbeitsbedingungen im Dipartimento di Medievistica und der Biblioteca Universitaria der Universita di Pisa. Für Hinweise und Anregungen danke ich Prof. Maria Luisa Ceccarelli Lemut (Pisa), Prof. Ottavio Banti (Pisa), Prof. Mauro Ronzani (Pisa) und nicht zuletzt Prof. Giuseppe Scalia (Rom). Da Forschung nur in angenehmen sozialen Kontexten wirklich fruchtbar ist, wäre die Arbeit niemals ohne meine Kollegen und Freunde entstanden. Profitiert habe ich insbesondere von der fachlich anregenden und freundschaftlichen Atmosphäre am Institut für
12
Vorwort
Geschichte in Halle. Das oft beschwerliche Korrekturlesen übernahmen Patrick Sahle, Eva Maringer, Tobias Lutz, Jochen Pähl und Michaela Kirst. Besonderer Dank gilt Franz Fischer, der sich die Mühe machte, meine Übersetzungen aus dem Lateinischen zu kontrollieren, und schließlich Hans Fuhrmann (Halle), der die Arbeit noch einmal aus der Perspektive des Epigraphikers gegengelesen hat. Mein Dank gilt schließlich den Gutachtern, PD Dr. Klaus Krüger und Prof. Peter Hertner. Schließlich bedanke ich mich bei den Herausgebern der Hallischen Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit fur die Aufnahme der Arbeit in ihre Reihe. Ich widme diese Arbeit meiner Freundin und meiner Familie, insbesondere meinem Stiefvater, der den Abschluß der Dissertation leider nicht mehr erleben konnte.
Köln, im Sommer 2006
Marc von der Höh
Einleitung
"Inutilmente, magnanimo Kublai, tenterö di descriverti la cittä di Zaira dagli alti bastioni. Potrei dirti di quanti gradini sono le vie fatte a scale, di che sesto gli archi dei porticati, di quali lamine di zinco sono ricoperti i tetti; ma so giä che sarebbe come dirti nulla. Non di questo e fatta la cittä, ma di relazioni tra le misure del suo spazio e gli avvenimenti del suo passato." 1
Wie beschäftigte man sich in den hochmittelalterlichen italienischen Städten mit der eigenen Vergangenheit? Wer sich mit dieser Frage der Überlieferung nähert, stößt schnell auf den allein schon quantitativ herausragenden Fall der toskanischen Seestadt Pisa. Seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts entstand hier eine Reihe historiographischer Texte im weiteren Sinne, die allesamt die Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner thematisieren. In Geschichtsdichtungen, Annalen, aber auch öffentlich angebrachten Inschriften werden Ereignisse der städtischen Vergangenheit geschildert, gedeutet, in den Stadtraum hineingetragen und so vor dem Vergessen bewahrt. Die einzigartige Pisaner Überlieferung überrascht hierbei angesichts der ansonsten im 11. Jahrhundert - selbst in Italien - nicht eben reichen Stadtgeschichtsschreibung und fuhrt so ganz von selbst zu der Frage, wieso gerade in Pisa und gerade zu diesem Zeitpunkt eine derart umfangreiche und vielgestaltige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der Stadt einsetzt. Durch die einzigartige Überlieferungslage bietet dann gerade das Pisaner Korpus die Möglichkeit, Fragen aufzuwerfen und zu beantworten, die in ande-
'
Italo Calvino: Le cittä invisibili, S. 10 f. ("Nutzlos, großmütiger Kublai, wird es sein, dir die Stadt Zaira von ihren hohen Bollwerken aus zu beschreiben. Ich könnte dir sagen, wie viele Stufen die in Treppen angelegten Straßen haben, welche Form die Bögen der Laubengänge, mit welchen Zinkblechen die Dächer überzogen sind. Doch ich weiß schon jetzt, daß das wäre, als würde ich dir nichts sagen: Nicht daraus besteht die Stadt, sondern aus den Beziehungen zwischen den Maßen ihres Raumes und den Ereignissen ihrer Vergangenheit.")
14
Einleitung
ren Fällen nicht oder nur unzureichend beantwortet werden können. Die vorliegenden Studien nähern sich der Pisaner Überlieferung so mit einer doppelten Perspektive: Einerseits wird der Einzelfall Pisa in den Blick genommen, indem gefragt wird, wie diese in ihrer Zeit einzigartige Erinnerungskultur entstanden ist. Andererseits sollen durch die Untersuchung des Einzelfalls Erkenntnisse über Bedingungen und Funktionen hochmittelalterlicher städtischer Erinnerungskulturen gewonnen werden.
A. Der Untersuchungsgegenstand Neben der Quantität ist es die Vielfalt der Pisaner Überlieferung, die einen besonderen Reiz darstellt: Zeitgleich sind hier zwischen 1050 und 1150 unterschiedlichste Formen des Vergangenheitsbezuges zu beobachten. Literarisch hoch gebildete Kleriker besingen die Kämpfe ihrer Stadt gegen die Sarazenen in nicht zuletzt theologisch anspruchsvollen Geschichtsdichtungen. Daneben entstehen nüchterne, die wichtigsten Ereignisse kurz skizzierende Annalen, inschriftliche Versdichtungen erinnern an zentralen Punkten der städtischen Topographie an die Siege der städtischen Flotten, an den Baubeginn des neuen Doms, aber auch an persönliche Heldentaten einzelner Stadtbewohner. Schließlich werden Trophäen und Spolien im Stadtraum positioniert, gleichfalls um allen die glorreiche Geschichte der Stadt vor Augen zu fuhren und sie damit dauerhaft im Gedächtnis der Stadt zu verankern. Die folgende Übersicht verzeichnet nur die im engeren Sinne historiographischen Texte, also Annalen, Geschichtsdichtungen und Inschriften:
1
Text
Entstehung
Epitaph einer Sarazenen-Königin Guido-Inschrift Annalistische Inschrift Carmen in victoriam Pisanorum Annales Antiquissimi Chronicon Pisanum Epitaphe des Busketus Torinschrift der Porta Aurea Epitaph des Ugo [Sammlungen des Guido]' Gesta triumphalia per Pisanos facta Liber Maiorichinus Rodulfus-Inschrift Palermo-Inschrift Epitaph des Henricus
um 1070 nach 1076 zwischen 1076 und 1087 nach 1087 nach 1116 1099-1137 nach 1110 nach 1115 nach 1115 vor 1119 nach 1119 nach 1119 (2. Fassung nach 1130) 1124 um 1135 erste Hälfte 12. Jh.
S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S.
413 ff. 329 ff. 336 ff. 120 ff. 58 ff. 43 ff. 315 ff. 219 ff. 302 ff. 91 ff. 87 ff. 155 ff. 234 ff. 346 ff. 307 ff.
Die bisher in der Forschung herrschende Meinung, daß es sich bei Guido um einen Pisaner Kleriker (,Guido Pisano') handelte, kann durch die Untersuchung der Überlieferung widerlegt werden, dennoch werden die Sammlungen als Zeugnisse der Rezeption nicht-autochthoner Historiographie in Pisa berücksichtigt.
Der
Untersuchunsgegenstand
15
D e n konzeptuellen Rahmen fur den hier unternommenen Versuch, diese ganz unterschiedlichen Formen der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit im Zusammenhang
zu
untersuchen,
bietet
der Begriff der Erinnerungskultur.
1
Versteht
man
,Erinnerung' - in leichter Abwandlung der alltagssprachlichen Bedeutung - als Überbegriff für alle Formen der Repräsentation von Vergangenem, 2 so kann ,Erinnerungskultur'
die
Summe
aller
in einer
gegebenen
Kultur vorhandenen
Formen
der
3
Repräsentation von Vergangenem bezeichnen. Wichtig ist hierbei, daß Erinnerungskultur keineswegs als Gegenbegriff zu ,Geschichtskultur' 4 verstanden werden soll. 5 Eben-
Den Begriff verwendet von mediävistischer Seite etwa
Graf, vgl. GRAF: NACHRUHM, GRAF: Einen guten Überblick über die theoretischen Positionen zum Themenkomplex bietet (mit mediävistischem Schwerpunkt) OEXLE: MEMORIA ALS KULTUR. Zum Stand der Diskussion zuletzt ASSMANN: GEDÄCHTNIS UND ERINNERUNG. Ergänzend ist die jüngste Analyse und Kritik des um (kollektive) Erinnerung und (kollektives) Gedächtnis gruppierten Forschungsfeldes durch KANSTEINER: MEANING IN MEMORY ( 2 0 0 2 ) heranzuziehen. Zur Bestimmung von Erinnerung als Repräsentation ASSMANN: GEDÄCHTNIS UND ERINNERUNG, S. 28. Da es sich hier um einen Arbeitsbegriff handelt, wird man eine Reihe theoretischer Probleme zunächst einmal ausklammern können, die sich aus diesem ersten Definitionsversuch ergeben. So ist etwa der Begriff der Vergangenheit problematisch, da man natürlich auch solche Formen nicht ausschließen kann, die sich auf eine v o r g e b l i c h e Vergangenheit beziehen, die es so nie gegeben hat. Gerade Fälle bewußter oder unbewußter ,Geschichts(ver)falschungen' sind für die Untersuchung historischer Erinnerungskulturen von großem Interesse. Auch die zuletzt von GRAF: FÜRSTLICHE ERINNERUNGSKULTUR, S. 2 oder MARTINI: PROSPEKTIVE UND RETROSPEKTIVE ERINNERUNG akzentuierte Unterscheidung von prospektiver und retrospektiver Erinnerung, die Jan Assmann in die Diskussion gebracht hat (ASSMANN: KULTURELLES GEDÄCHTNIS, S. 7 0 f.), verliert für die aktuelle Fragestellung ihre Bedeutung, wenn man berücksichtigt, daß alle Erinnerung stets auf Vergangenes (wenn auch möglicherweise jüngst vergangenes) gerichtet ist (so auch MARTINI: PROSPEKTIVE UND RETROSPEKTIVE ERINNERUNG, S. 19). Die beiden Formen unterscheiden sich ausschließlich durch das mit ihnen verbunden Interesse. Retrospektiv ist eine Form der Erinnerung, die etwas Vergangenes in der Repräsentation vergegenwärtigt, prospektiv diejenige, die dieses mit Blick auf die Zukunft in der Repräsentation zu bewahren bzw. zu verewigen versucht. K.
FÜRSTLICHE ERINNERUNGSKULTUR, GRAF: ERINNERUNGSFESTE.
2
3
4
5
Geschichtskultur ist etwa für W. Hardtwig „eine Sammelbezeichnung für höchst unterschiedliche, sich ergänzende oder überlagernde, jedenfalls direkt oder indirekt aufeinander bezogene Formen der Präsentation von Vergangenheit in einer Gegenwart" (HARDTWIG: GESCHICHTSKULTUR, S. 8.). Für J. Rüsen ist sie „die durch das Geschichtsbewußtsein geleistete historische Erinnerung, die eine zeitliche Orientierung der Lebenspraxis in der Form von Richtungsbestimmungen des Handelns und des Selbstverhältnisses seiner Objekte erfüllt" (RÜSEN: GESCHICHTSKULTUR, S. 11). Τ. E. Fischer sieht hierin „die Art und Weise, wie die Menschen einer Gesellschaft ihre vielfaltigen Vergangenheitsperspektiven als Geschichte wahrnehmen, wie sie sich selbst in den angenommenen Verlauf von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einordnen, welche Assoziationen und Gefühle sie mit diesen Annahmen verbinden und wie sie diese gestaltend umsetzen" (FISCHER: GESCHICHTE, S. 12). Vgl. zum Begriff jetzt auch HARDTWIG: GESCHICHTSKULTUR. Wenig befriedigend ist der entsprechende Vorschlag bei HOCKERTS: ZUGÄNGE ( 2 0 0 1 ) : „Was man neuerdings "Erinnerungskultur" nennt, dient als lockerer Sammelbegriff für die Gesamtheit des
16
Einleitung
sowenig ist er ein Synonym für das ,kulturelle Gedächtnis'. 1 Indem er einen umfassenden Zugriff auf alle Formen der „Beschäftigung mit der Vergangenheit" 2 benennt, erlaubt der Begriff der Erinnerungskultur, den gerade für die Analyse mittelalterlicher Formen w e n i g fruchtbaren Gegensatz v o n Geschichte und Gedächtnis zu überwinden. 3 Innerhalb dieses bewußt unscharfen Rahmens werden im folgenden die verschiedenen Zeugnisse untersucht. Hierbei wird versucht, die Balance zwischen den Eigenheiten der einzelnen Zeugnisse und einer Gesamtsicht auf das Phänomen zu wahren. Ausgangspunkt ist dabei stets das einzelne Zeugnis. Erst im zweiten Schritt kann man Aussagen über den übergreifenden Gattungs- bzw. pragmatischen Zusammenhang machen, also über die Pisaner Annalistik, die Geschichtsdichtung oder die Epigraphik. D e n Abschluß dieses Voranschreitens v o m Besonderen z u m Allgemeinen bildet dann der Versuch,
durchgängige
Eigenschaften
der
gesamten
Pisaner
Erinnerungskultur
des
Untersuchungszeitraums zu bestimmen.
nicht spezifisch wissenschaftlichen Gebrauchs der Geschichte in der Öffentlichkeit - mit den verschiedensten Mitteln und für die verschiedensten Zwecke, von der Gedenkrede des Bundespräsidenten über die Denkmalpflege bis zum Fernseh-Infotainment über «Hitlers Frauen»" (S. 16) und an anderer Stelle: „Der andere Modus hingegen ist nicht an die Selbstdeutung persönlicher Erfahrungen gebunden. Hier beginnt das Revier der öffentlichen Erinnerungskultur, die sich vom lebendigen Gruppengedächtnis löst, anders geformt und gestützt wird, nämlich institutionell" (S. 18) Für Hockert ist Erinnerungskultur ein bestimmter Ausschnitt aus der Masse der Formen und Praktiken des Umgangs mit der Vergangenheit. Die wissenschaftliche Geschichtsschreibung gehört für ihn offensichtlich ebensowenig zur Erinnerungskultur wie die Formen persönlicher Bewahrung von Erinnerung. Ob er mit seiner im ersten Zitat ausgedrückten Einschätzung der heutigen Verwendung des Begriffs recht hat, mag bezweifelt werden. In einer erweiterten Fassung des Beitrags hebt der Autor dann zumindest seine erste Einschätzung auf: „Der Neologismus ,Erinnerungskultur' wird in der öffentlichen Debatte nicht einheitlich gebraucht. In einem engeren Sinn meint er Vergangenheitsbezüge, mit denen Gemeinschaft' gestiftet bzw. Gruppenidentität gepflegt wird; in einem weiteren Sinne erfaßt er den gesamten Kulturbetrieb, in dem es um Geschichte geht, und wird dann mit dem Begriff,Geschichtskultur' deckungsgleich" (HOCKERTS: ZUGÄNGE ( 2 0 0 2 ) , S. 4 1 , Anm. 5 ) . 1
2
3
Zum .Kulturellen Gedächtnis' vor allem ASSMANN: KULTURELLES GEDÄCHTNIS. Eine Unterscheidung unterschiedlicher Formationen des Gedächtnisses nimmt zuletzt ASSMANN: 1998, hier vor allem S. 35 ff. vor. Diese Umschreibung des Phänomens favorisierte - unter ähnlicher Perspektive - zuletzt BUSCH: MAILÄNDER GESCHICHTSSCHREIBUNG, vor allem S . 2 5 ff. Kritisch zum derart verstandenen Begriff der Erinnerungskultur HÖLSCHER: GESCHICHTE. Eine vergleichbare Bestimmung des Begriffs nehmen jetzt auch CORNELIBEN / KLINKHAMMER / SCHWENTKER: NATIONALE ERINNERUNGSKULTUREN, vor allem S. 12 f f , vor. Der Gegensatz zwischen Geschichte und Gedächtnis, der zuerst bei Μ. Halbwachs auftaucht, wurde dann jüngst vor allem von P. Nora betont, vgl. N O R A : ZWISCHEN GESCHICHTE UND GEDÄCHTNIS, Diskussion und Zurückweisung dieser These zuletzt bei OEXLE: MEMORIA ALS KULTUR, S . 1 6 ff. Indem hier mögliche Vorformen moderner Geschichtsschreibung im Zusammenhang mit anderen Formen des Vergangenheitsbezuges untersucht werden, öffnet sich ganz von selbst die Frage nach Wesen und Bedingungen von Historiographie im umfassenden Rahmen der Erinnerungskultur, so auch OEXLE: MEMORIA ALS KULTUR, S . 14. Vgl. auch JOHANEK: SCHREIBER, S . 1 9 7 , der eine ähnliche Konzeptualisierung vorschlägt, sich allerdings einer anderen Terminologie bedient.
17
Β. Zur bisherigen Forschung Angesichts der Menge, aber auch der Qualität 1 der Pisaner Texte ist es mehr als verwunderlich, daß bisher nur ein einziger Versuch einer Gesamtwürdigung dieses Quellenbestandes vorliegt. 2 Dieser Aufsatz von Craig B. Fisher aus dem Jahr 1966 berücksichtigt nahezu alle oben aufgeführten Texte. 3 Hierbei versucht er, diese sämtlich in einen gemeinsamen Entstehungszusammenhang einzuordnen und damit auf eine einzige Funktion zu reduzieren. Da Fishers These in der hier vorliegenden Untersuchung immer wieder überprüft werden muß, soll sie hier kurz im Zusammenhang referiert werden. Etwa um 1119 sei im Zusammenhang mit dem Bemühen um eine Erhebung Pisas zum Erzbistum in der Stadt ein neues Konzept der lokalen Geschichte entstanden. Die von den Pisanern seit dem Beginn des 11. Jahrhunderts geführten Kämpfe gegen die Sarazenen seien zu diesem Zeitpunkt in die Tradition der Kreuzzüge gestellt worden, um aus dieser Sicht der Ereignisse, die die Pisaner als auserwähltes Werkzeug Gottes erscheinen ließ, eine Legitimation für die Ansprüche des Bischofssitzes abzuleiten. Eine besondere Rolle weist Fisher hierbei dem Domstift zu, unter dessen Angehörigen er die Autoren a l l e r überlieferten Texte sieht. Das sich in der bemerkenswerten historiographischen Produktion zeigende Interesse an der Vergangenheit der Stadt führt Fisher so auf eine konkrete historische Situation zurück, auf die angestrebte Erhebung des Pisaner Bischofssitzes zum Erzbistum. Mit dem Verschwinden dieser Konstellation endete entsprechend Fisher zufolge auch die historiographische Produktion des Domstifts. 4 Wenngleich die Hauptthese seiner Arbeit hier nicht geteilt wird, ist doch ein methodischer Aspekt auch für die weitere Beschäftigung mit der Pisaner Erinnerungskultur bzw. ihren Einzelelementen grundlegend. 5 Dies betrifft vor allem die Auswahl der Quellen: Fisher hat als erster Inschriften, annalistische Texte und Geschichtsdichtungen als Ausdruck eines ,historischen Interesses' 6 aufgefaßt. Er nimmt so schon vorweg, was
2
Zur Bewertung des Pisaner Korpus S C A L I A : A N N A L I S T I C A , S . 1 0 6 : „La cittä toscana e la sola in Italia, agli albori e nel primo secolo della sua esistenza in quanto comune, che possa vantare una produzione storiografica coeva costituita, oltre che da testi annalistici di chiaro impianto cittadino, da un vera e proprio corpus di poesia epico-storica di ispirazione omogenea e di notevole rilevanza letteraria". Nicht viel mehr als eine Übersicht über die erhaltenen Texte ist S C A L I A : A N N A L I S T I C A .
3
FISHER: P I S A N C L E R G Y .
4
Grundlage dieser These Fishers ist die Datierung aller Pisaner Texte in die Zeit um 1119. Da diese, wie die folgenden Einzelanalysen zeigen werden, nicht in allen Fällen haltbar ist, fallt eigentlich schon so die Argumentation Fishers in sich zusammen. Den Begriff der Erinnerungskultur benutzte die hier im folgenden referierte ältere Forschung natürlich nicht. Da gerade Fisher und Scalia aber genau das untersuchten, was hier mit Erinnerungskultur gemeint ist, erscheint die Verwendung des Begriffs in diesem Zusammenhang dennoch gerechtfertigt. „Historical interest", so Fishers Formulierung im Titel seines Aufsatzes ( F I S H E R : P I S A N C L E R G Y ) .
5
6
18
Einleitung
heute im Zusammenhang der erneuten kulturwissenschaftlichen Öffnung der Geschichtswissenschaft und der Etablierung eines Forschungsfeldes um Gedächtnis und Erinnerung 1 zum methodisch und theoretisch fundierten Programm mediävistischer Forschung gehört.2 Diese Erweiterung der Quellenbasis durch Fisher hat in der Folge die gesamte Beschäftigung mit dem Einzelfall Pisa bestimmt. Zwar hat es nach Fisher keine weiteren Versuche gegeben, das g e s a m t e Pisaner Korpus zu behandeln. Dichte und Qualität der Pisaner Überlieferung führten aber dazu, daß einzelne Texte oder auch Aspekte der Pisaner Erinnerungskultur vor allem in kunsthistorischen3 oder stadtgeschichtlichen Arbeiten4 erwähnt oder behandelt wurden. Neben wichtigen Detailstudien, etwa zu den inschriftlichen Zeugnissen,5 entstanden Arbeiten, die der Erforschung der Pisaner Erinnerungskultur wichtige Impulse gaben. Insbesondere eine Studie von Giuseppe Scalia zur Romanitas Pisana ist hier zu nennen. 6 Schon Fisher hatte neben den historiographischen und inschriftlichen Quellen auch eigentlich nicht-schriftliche Zeugnisse herangezogen: die in den Pisaner Dom eingebauten antiken Spolien, allen voran einige Fragmente antiker Inschriften.7 Im Gesamtzusammenhang mit inschriftlichen und historiographischen Pisaner Texten interpretierte Scalia diese antiken Inschriftenfragmente als Ausdruck einer Haltung, die er als Romanitas Pisana bezeichnete.8 Durch die Übernahme von Spolien, in Zitaten, Vergleichen und Anspielungen hätten die Pisaner Scalia zufolge den Vergleich mit der römischen Antike gesucht. Motiv für eine solche intensivierte Auseinandersetzung mit der Antike sei gewesen, daß Pisa sich nach einer mit der Jahrtausendwende einsetzenden Kette von Siegen über die Sarazenen,9 die das Selbstbewußtsein der Stadt prägten, als Nachfolgerin des antiken Rom gesehen habe.10 Wesentlich und richtungsweisend an Scalias Arbeit ist, daß er - wie schon zuvor Fisher - unterschiedliche Medien bzw. Gattungen, also Geschichtsschreibung, Geschichtsdichtung, Inschriften und eben auch ' 2 3
4
5
Vgl. obenS. 14, Anm. 1. Vgl. etwa zuletzt JOHANEK: GESCHICHTSÜBERLIEFERUNG. Neben SEIDEL: D O M B A U ist hier etwa der Aufsatz von FRUGONI: AUTOCOSCIENZA, aber auch die unten S. 386 ff. zitierte Literatur zur Antikenrezeption in Pisa zu nennen. Gerade die Pisaner Stadtgeschichtsforschung greift immer wieder auf die hier interessierenden Texte zurück, diese werden jedoch fast ausschließlich als Quellen für die Rekonstruktion der erwähnten Ereignisse verwendet. Vgl. die Literaturangaben in den entsprechenden Unterkapiteln. Hier sind vor allem die Arbeiten O. Bantis und G. Scalias hervorzuheben. Vgl. die Literaturangaben zu den jeweiligen Inschriften.
6
SCALIA: ROMANITAS P I S A N A .
7
FISHER: PISAN CLERGY, S . 1 6 2
f. Ausführlich zu den Inschriftenfragmenten und den damit verbun-
denen Thesen unten S. 386 ff. 8
SCALIA: ROMANITAS, S . 8 0 1 u n d S . 8 1 7 f f .
9
Hierzu unten S. 70 ff. Vor allem in den weiter unten zitierten Arbeiten O. Bantis wurden die Thesen Scalias dann mit Vehemenz angegriffen. Dieser richtet sich einmal grundsätzlich gegen das Konzept der Romanitas Pisana, daneben aber auch gegen konkrete Ergebnisse Scalias. Die Argumente Bantis werden im Zusammenhang der einzelnen Zeugnisse weiter unten diskutiert.
10
Zur bisherigen
Forschung
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nicht-schriftliche Zeugnisse im Zusammenhang interpretierte. Scalias Schlagwort der Romanitas Pisana hat dann die Erforschung der Pisaner Antikenrezeption, aber auch der gesamten Erinnerungskultur in der Amo-Stadt deutlich geprägt. So erscheint der Fall Pisa seit Scalias Arbeit häufiger in Untersuchungen zur Antikenrezeption des 11. und 12. Jahrhunderts. 1 Doch auch unter diesem engeren Aspekt wurde bisher keine die ersten Ergebnisse Scalias fortführende systematische Untersuchung des Einzelfalls Pisa vorgenommen. Auch im größeren Rahmen einer Geschichte der Historiographie des 11. und 12. Jahrhunderts wird immer wieder auf einzelne der Pisaner Texte zurückgegriffen. Diese werden hier etwa als Vorstufe der kommunalen Annalistik des späten 12. und 13. Jahrhunderts aufgefaßt 2 oder aber als erste Zeugnisse einer städtischen oder kommunalen Erinnerungskultur interpretiert. 3 Allen diesen Versuchen ist gemeinsam, daß sie zwar einzelne Ergebnisse der Forschung aufgreifen, zu den einzelnen Texten selbst und zum Kontext, in dem diese entstanden sind, jedoch keine substantiell neuen Beiträge liefern. Die gesamte Forschungssituation zur Pisaner Erinnerungskultur läßt sich entsprechend so kennzeichnen, daß diese einerseits mittlerweile zu den am besten erschlossenen und erforschten städtischen Erinnerungskulturen des gesamten italienischen Hochmittelalters gehört, daß aber andererseits seit Fisher keine ernsthaften Versuche mehr unternommen worden sind, ein Gesamtbild zu entwerfen. Gerade hierin liegen Chance und Herausforderung zugleich. Einerseits kann man sich bei der Untersuchung der kommunalen Erinnerungskultur Pisas für viele Aspekte auf Vorarbeiten stützen. Dies gilt zum Teil für die philologische und editorische Erschließung der Pisaner Texte,4 nicht zuletzt aber auch für den verhältnismäßig gut untersuchten zeitgeschichtlichen Hintergrund, 5 die Erforschung der Urbanistik 6 und der Architekturgeschichte. 1 Anderer-
1
2
V g l . e t w a G R E E N H A L G : IPSA RUINA DOCET, S . 1 3 4 f f . , SETTIS: C O N T I N U I T Ä , S . 3 8 9 f f . , E S C H :
Uso
DELL'ANTICO, S. 19 f.. Auch zu einzelnen Aspekten der Antikenrezeption in Pisa gibt es umfangreiche Untersuchungen, hier vor allem von kunsthistorischer Seite. Vgl. die unten S. 386 ff. zitierte Literatur. Hier ist etwa auf CLASSEN: RES GESTAE, besonders S. 393 ff. zu verweisen.
3
S o WICKHAM: L A W Y E R ' S TIME, S . 1 7 6 ff.
4
Hier sind vor allem die Leistungen G. Scalias und O. Bantis zu nennen. Neben der von Scalia besorgten kritischen Ausgabe des Carmen in victoriam Pisanorum (SCALIA: CARME PISANO) bereitet dieser schon seit mehr als vierzig Jahren eine (hoffentlich) demnächst erscheinende Neuedition des L i b e r M a i o r i c h i n u s v o r ( v g l . S C A L I A : RIEDIZIONE CRITICA, SCALIA: INTORNO AI CODICI). O .
Banti
hat in drei Einzelveröffentlichungen das gesamte epigraphischen Material des hochmittelalterlichen P i s a z u g ä n g l i c h g e m a c h t : B A N T I : M O N U M E N T A , B A N T I : ISCRIZIONI, B A N T I : EPIGRAFI. 5
6
Einen Überblick bietet ROSSETTI: PISA, S. 1 ff. Zentral für die hier berührten Problemkomplexe sind die Arbeiten von G. Rossetti, M. Ronzani, M. Tangheroni und die neuere Arbeit M. Matzkes zum Pisaner Erzbischof Daibert (vgl. die im Literaturverzeichnis aufgeführten Arbeiten). Grundlegend sind für die Urbanistik neben den Beiträgen von E. Tolaini (vor allem TOLAINI: FORMA PISARUM, TOLAINI: PISA) d i e neueren A r b e i t e n v o n F. R e d i und G. Garzella. W ä h r e n d REDI: PI-
SA COM'ERA sich schwerpunktmäßig auf archäologische und bauhistorische Befunde konzentriert,
20
Einleitung
seits stellt die starke Fragmentierung der Forschung zu den einzelnen Aspekten ein Problem dar. Bei dem Versuch, ein Gesamtbild der frühkommunalen Erinnerungskultur Pisas zu entwerfen, wird man so neben der im engeren Sinne stadtgeschichtlichen Literatur immer auch, die Grenzen der eigenen Disziplin überschreitend, kunsthistorische und literaturwissenschaftliche bzw. philologische Forschungsliteratur rezipieren müssen. Schwierigkeiten macht hierbei einerseits allein schon die Sichtung der weit verstreuten Literatur. Man trifft dabei zusätzlich auf ein Grundproblem jeder interdisziplinären Forschung. Dieses besteht darin, daß sich die Zugänge der einzelnen Disziplinen nicht nur auf jeweils spezifische Quellen, im vorliegenden Fall auf fachspezifische Ausschnitte aus dem Pisaner Gesamtkorpus stützen, sondern daß diese naturgemäß auch jeweils unterschiedliche Erkenntnisziele bzw. -interessen verfolgen.
'
behandelt GARZELLA: PISA COM'ERA die Entwicklung der städtischen Topographie auf der Basis der urkundlichen Überlieferung. Wichtig die neueren Veröffentlichungen zum Domplatz (REDI: DUOMO) und zum Pisaner Dom s e l b s t (PERONI: D U O M O ) .
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C. Perspektiven Die vorliegende Studie verfolgt vor allem zwei Ziele: Auf der Basis einer detaillierten Untersuchung der einzelnen Pisaner Zeugnisse wird versucht, das Entstehen einer derart reichen und in ihrer Zeit einzigartigen Erinnerungskultur zu erklären. Darüber hinaus sind am Fallbeispiel allgemeine Erkenntnisse über städtische bzw. - im engeren Rahmen - frühe kommunale 1 Erinnerungskulturen zu gewinnen. Grundlage für beides ist die Erkenntnis, daß die Art und Weise, wie sich Menschen mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, entscheidend durch die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Bedingungen bestimmt ist, unter denen sie leben. Entsprechend wird man zur Beantwortung der ersten Frage nach den besonderen Umständen suchen müssen, die in Pisa in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts - und nicht vorher und nicht anderswo eine derartig reiche Erinnerungskultur entstehen ließen. Die zweite Frage wird im Gegenzug vor allem zur Suche nach den Bedingungen und Funktionen des Erinnerns in städtischen oder speziell kommunalen Gesellschaften bzw. Kulturen führen, die man auch in Pisa, aber eben nicht nur dort antreffen kann. Versucht der erste Zugang die besondere Pisaner Erinnerungskultur durch die dort gegebenen gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Rahmenbedingungen zu erklären, so zielt der zweite Zugang auf Eigenschaften der städtisch-kommunalen Welt des Hochmittelalters, wie sie sich in der untersuchten Pisaner Erinnerungskultur spiegeln. Quer zu diesen Hauptfragen bzw. -Zugängen verlaufen drei thematische Perspektiven, die für die vorliegenden Studien forschungsleitend sind. (1.) Wie fugen sich die Phänomene der Pisaner Erinnerungskultur der Zeit zwischen 1050 und 1150 in den größeren Rahmen kommunaler und vorkommunaler Erinnerungskulturen Nord- und Mittelitaliens ein? Wo sind Brüche und deutliche Unterschiede zu erkennen, wo hingegen Kontinuitäten und Parallelen? (2.) Lassen sich die hier untersuchten Formen der Pisaner Erinnerungskultur auf die gesellschaftlichen und politischen Problemstellungen der jungen Kommune beziehen? Bietet die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit Lösungsansätze für diese Probleme? (3.) Spiegeln sich strukturelle Eigenschaften städtischer Kommunikationsräume in den hier untersuchten Formen kommunaler Erinnerungskultur?
Der Begriff des ,kommunalen Zeitalters' hat sich in Italien zu einem Epochenkonzept verdichtet, an dem man auch als deutscher Historiker nicht mehr vorbei kommt. Er bezeichnet die Phase der städtischen Geschichte, die von der Entstehung autonomer Stadtrepubliken seit dem Ende des 11. Jahrhunderts bis zur Einführung der Signoria in den jeweiligen Städten seit dem Ende des 13. Jahrhunderts reicht. Vgl. zur kommunalen Entwicklung in Pisa unten S. 26 ff. Unter der frühen Kommune bzw. der frühkommunalen Zeit wird hier im folgenden der erste Abschnitte der kommunalen Entwicklung verstanden, der bis zur ersten Konsolidierung der kommunalen Institutionen kurz nach der Mitte des 12. Jahrhunderts reicht. Vgl. auch unten S. 27, Anm. 1.
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Einleitung
1. Anfange kommunaler Erinnerungskultur in Italien Der ausgeprägte städtische Patriotismus des 13. und 14. Jahrhunderts, wie man ihn in den Städten Nord- und Mittelitaliens beobachten kann, zeigt sich nicht zuletzt in den Phänomenen der Erinnerungskultur der jeweiligen Städte.1 Jede Stadt thematisiert in dieser Zeit die eigenen Wurzeln, sucht oder erfindet die eigene Gründungsgeschichte und ist dabei bemüht, die Nachbarstädte an Alter und Würde zu übertreffen.2 In vielen Städten entwickelt sich ein regelrechter Kult um städtische Heroen: Mantua verehrt seinen berühmten Sohn Vergil,3 Cremona den Retter der Stadt, Giovanni Baldesio, 4 Viterbo seine ,bella Galiana',5 um nur einige Beispiele zu nennen. Auch die städtische Chronistik tritt hier erkennbar in den Dienst städtischer Gloria.6 Doch erscheint die städtische Vergangenheit nicht nur in der Geschichtsschreibung, sondern in einer Vielzahl unterschiedlicher Formen und Medien der Erinnerungskultur: Bildliche Darstellungen7 finden sich hier ebenso wie die Pflege tatsächlicher oder vermeintlicher Gräber
1
Wenn die Frage des städtischen Selbstbewußtseins auch niemals im Zentrum der Forschungen zur Kommune stand, gibt es doch eine Reihe von Untersuchungen zu Einzelaspekten, die Ansatz zu einer systematischen Erforschung dieser Facette frühkommunaler Geschichte bieten. Einen Überblick über die Forschung zur ,coscienza cittadina' bietet zuletzt COLEMAN: THE ITALIAN COMMUNES, S. 390-396. Wichtige Beiträge zur Thematik finden sich schon im Sammelband COSCIENZA CITTADINA. LE GOFF: L'IMMAGINARIO URBANO bietet einen systematischen Zugang, der hier aber nicht aufgegriffen werden kann. Wenngleich der Titel dies nicht ohne weiteres erahnen läßt, beschäftigt sich auch BORDONE: SOCIETÄ CITTADINA nahezu ausschließlich mit diesem Aspekt der Kommune. Z u l e t z t b e h a n d e l t e n RACINE: CONSCIENCE CIVIQUE u n d COLEMAN: SENSE OF COMMUNITY d a s T h e -
ma mit breiterer Perspektive. 2
Ausführlich etwa zu Mailand (mit vergleichendem Blick auf Florenz, Genua, Padua und Rom) BUSCH: MAILÄNDER GESCHICHTSSCHREIBUNG, S. 1 8 4 f f . Z u F l o r e n z BENVENUTI: M I T O DELLE ORIGINI; z u G e n u a : PETTI BALBI: M I T O CITTADINO; ZU P e r u g i a : GALLETTI: MATERIALI; z u s a m m e n f a s -
send j e t z t a u c h BUSCH: VORHUMANISTISCHE GESCHICHTSSCHREIBUNG. 3
4
Z u V e r g i l in M a n t u a HÜLSEN-ESCH: ROMANISCHE SKULPTUR, S . 2 6 f f . , E S C H : U S O DELL'ANTICO, S.
17. Zu diesem unten S. 249, Anm. 2.
5
Z u dieser Epigrafi
6
Aussagekräftig ist in dieser Hinsicht etwa der Prolog der Florentiner Chronik des Giovanni Villani, der die Geschichte von Florenz angesichts der „nobiltä e grandezza" seiner Stadt niederzuschreiben beabsichtigt (Giovanni Villani: Nuova Cronica, Zitat S. 3). Eine brauchbare Gesamtdarstellung zur italienischen Geschichtsschreibung des Mittelalters gibt es nicht. Vgl. zur städtischen Geschichtsschreibung Italiens im 13. Jahrhundert etwa die Beiträge in IL SENSO DELLA STORIA oder STORIO-
medievali
di Viterbo, N r . 7 , S. 3 0 - 3 3 u n d CAROSI: BELLA GALIANA.
GRAFIA Ε POESIA, m i t b r e i t e r e m H o r i z o n t a u c h SOMMERLECHNER: STADT, CAMMAROSANO: ITALIA
MEDIEVALE, S. 2 9 1 - 3 1 4 . 7
Vgl. als Ü b e r s i c h t HÜLSEN-ESCH: ROMANISCHE SKULPTUR, S. 19 ff. N e b e n d e n Bildnissen der
Stadtheroen (etwa des Vergil in Mantua, Baldesio in Cremona) finden sich seit dem 13. Jahrhundert auch ausgearbeitete Skulpturenprogramme, etwa an der Fontana Maggiore in Perugia (dazu GALLETTI: MITOGRAFIA, s o w i e d i e B e i t r ä g e i n SANTINI: LINGUAGGIO FIGURATIVO u n d z u l e t z t BORKENSTEIN NEUHAUS: CIVITAS, S . 9 9 f f . ) .
Perspektiven
23
der lokalen Heroen 1 oder eine intensivierte Auseinandersetzung mit den Überresten der städtischen Geschichte, etwa den Spuren der Antike. 2 Zwar ist auch hier die Erinnerungskultur nur ein Bereich unter anderen, in dem sich das Selbstbewußtsein der Städte ausdrückte. 3 Doch ist die Geschichte der eigenen Stadt, wie man sie im 13. und 14. Jahrhundert in den Städten Nord- und Mittelitaliens sah oder sehen wollte, eindeutig auf die Verherrlichung der Stadt, das städtische Selbstbewußtsein bzw. die städtische Identität bezogen. Ansätze zu einer solchen Funktionalisierung der städtischen Vergangenheit sind schon bei den laikalen Geschichtsschreibern des 12. Jahrhunderts erkannt worden, in den Annales Ianuenses des Caffaro und seiner Nachfolger oder den Pisaner Annalen des Bernardo Maragone. 4 Hingegen hat man am Beginn des kommunalen Zeitalters, also zwischen der Mitte des 11. und der des 12. Jahrhunderts, bisher keine entsprechenden Befunde nachweisen können. Es scheint so, als beginne die kommunale Erinnerungskultur, die Beschäftigung mit der Geschichte der Stadt bzw. der Stadtgemeinschaft im Dienste der Kommune erst mit den kommunalen Laienautoren seit der Mitte des 12. Jahrhunderts. Geschichtsschreibung in der Stadt hat es in Italien aber sicher immer gegeben. 5 Gerade im Vergleich mit den Texten der kommunalen Zeit wird jedoch deutlich, daß im Frühmittelalter weniger Interesse an der Geschichte der Stadt selbst bestand. Dennoch lag diese keineswegs immer außerhalb des Interessenshorizontes der Autoren. So ist die Thematisierung städtischer Vergangenheit Bestandteil der seit dem 8. Jahrhundert
Interessant in vielfacher Hinsicht auch hier der Fall der Bella Galiana in Viterbo, deren vermeintliches Grab in einem antiken Sarkophag seit dem 14. Jahrhundert gepflegt wird. Vgl. oben S.22, Anm. 5. 2 3
Ausführlich zur Antikenrezeption (auch mit allgemeiner Literatur) unten S. 3 9 9 ff. Andere Bereiche sind der Kult des Stadtpatrons bzw. der Stadtheiligen (hierzu mit Blick auf Pisa unten S. 254), der Stolz auf die städtischen Bauten und Institutionen, besondere Stadtfeste, die in dieser Zeit nicht in erster Linie Erinnerungsfunktion hatten (vgl. zu Pisa unten S. 2 6 0 f.). Einen guten Einblick in die unterschiedlichen Felder des städtischen Selbstbewußtseins bietet der Text De magnalibus Mediolani des Bonvicinus de Ripa aus dem 13. Jahrhundert (zu diesem zuletzt SASSE TATEO: TRADITION).
4
Vgl. zu beiden w i e unten S. 35, Anm. 1. Ein Sonderfall, der hier immer nur am Rande berücksichtigt werden kann, ist der Liber Pergaminus des Laien M o s e s de Brolo aus Bergamo (* vor 1100, t wohl 1156/57), ein in der Tradition des Städtelobs stehender Text, der sich unter anderem auch der Geschichte Bergamos widmet (zum Text neben GORNI: LIBER PERGAMINUS, OCCHIPINTI: IMMAGINI DI ciTTÄ, S. 28 ff. (mit älterer Literatur) und zuletzt RACINE: CONSCIENCE, S. 68 ff.).
5
Man denke etwa an das frühmittelalterliche Werk des Andreas von Bergamo, eines Kanonikers aus B e r g a m o ( v g l . M G H S S rer. l a n g . S . 2 2 0 - 2 3 0 ; z u d i e s e m KÖLZER: A N D R E A S VON BERGAMO, BER-
TOLINI: ANDREA DA BERGAMO) oder die vielfach erhaltenen Bischofs- und Herrscherlisten (vgl. unten S. 65 mit Anm. 5). Grundsätzlich ergibt sich dies schon aus dem Umstand, daß viele der geistlichen Zentren der Schriftlichkeit im frühmittelalterlichen Italien in den Städten lagen. Vgl. wiederum CAMMAROSANO: ITALIA MEDIEVALE, S. 39 ff. bzw. den Überblick über die frühmittelalterliche historiographische Produktion in Italien ebd., S. 43 ff.
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Einleitung
nachweisbaren mittelalterlichen laudes civitatum.1 Die Versus de Mediolano civitate aus der Zeit nach 739 erwähnen neben städtischen Bischöfen und Heiligen auch den Aufenthalt langobardischer Könige in der Stadt oder gar die Teilnahme städtischer Truppenkontingente an einer Expedition König Liutprands gegen die provenfalischen Sarazenen. Schon in diesen frühmittelalterlichen Texten ist der enge Zusammenhang zwischen städtischer Geschichte und städtischem Selbstbewußtsein angelegt, wie er dann für die städtischen Erinnerungskulturen des 13. und 14. Jahrhunderts typisch sein wird. Doch erst seit dem 11. Jahrhundert entstehen Werke, deren Autoren sich ausschließlich oder doch hauptsächlich der Geschichte einer Stadt widmen, die also Stadtgeschichte im engeren Sinne schreiben. Hierin liegt die besondere Bedeutung der Pisaner Texte. Diese gehören - das werden die weiteren Untersuchungen zeigen - zu den ältesten mittelalterlichen stadtgeschichtlichen Texten Italiens bzw. des gesamten Abendlandes. Doch die Pisaner Texte stellen nicht nur aufgrund ihres hohen Alters eine Besonderheit dar. Die hier seit dem 11. Jahrhundert entstehenden Texte unterscheiden sich signifikant von der übrigen historiographischen Produktion in den frühen Kommunen. Gut erforscht ist hier die Mailänder Historiographie des 11. und 12. Jahrhunderts. 2 In Mailand beginnen seit den siebziger Jahren des 11. Jahrhunderts Geistliche die Geschichte ihrer Stadt aufzuzeichnen und zu deuten. 3 Doch die geistlichen Autoren Mailands nahmen städtische Geschichte nur wahr, wenn sie die Mailänder Kirche oder ihre eigene Biographie berührte.4 Diese signifikante Beschränkung ist dabei zunächst die Folge der Darstellungsabsicht ihrer Werke, 5 vor allem aber der Vorstellung, die sie von ihrer Stadt hatten, die für sie vor allem eine „kultische Gemeinschaft [war], an de-
1
Vgl. mit Blick auch auf die antike Vorgeschichte der Gattung CLASSEN: STADT, daneben H Y D E : Edition der beiden wichtigsten Texte bei PIGHI: V E R S U S . Zur Gattung im italienischen Raum FASOLI: COSCIENZA CIVICA, FRUGONI: LONTANA CITTÄ, S . 6 1 - 7 9 , OCCHIPINTI: DESCRIPTIONS OF CITIES.
IMMAGINI DI CITTÄ, Z A N N A : DESCRIPTIONES, SIMONI: RITMI CITTADINI, PICARD: CONSCIENCE URBAINE. 2
Vgl. vor allem die Habilitationsschrift der älteren Literatur).
3
Zu den geistlichen Autoren des 11. und frühen 12. Jahrhunderts BUSCH: MAILÄNDER GESCHICHTS-
BUSCH: MAILÄNDER GESCHICHTSSCHREIBUNG
(mit Nachweis
SCHREIBUNG, S. 39 ff. Einen Bereich, der hier aus den Überlegungen herausgelassen werden mußte, stellt Venedig dar, das sich in dieser Zeit aufgrund seiner politischen Struktur und seiner kulturellen Orientierung deutlich von den Städten des italienischen Festlandes unterscheidet. So wundert es dann auch nicht, daß hier schon um das Jahr 1000 eine Chronik der Stadt entsteht, die Chronik des Giovanni Diacono (f wohl nach 1 0 1 8 ) : Cronaca veneziana del Diacono Giovanni. Zu Autor und Werk BERTO: GIOVANNI DIACONO (mit älterer Literatur). Allgemein zur venezianischen Geschichtsschreibung der Zeit FASOLI: NASCITÄ sowie die Beiträge in PERTUSI: STORIOGRAFIA VENEZIANA und - im Vergleich mit Genua - CROUZET P A V A N : G E N E S ET VENISE. 4
BUSCH: MAILÄNDER GESCHICHTSSCHREIBUNG, S . 4 2 .
5
Hierzu wiederum
B U S C H : MAILÄNDER GESCHICHTSSCHREIBUNG,
39 ff.
Perspektiven
25
ren Spitze der Erzbischof stand".1 Aufgrund eines spezifisch geistlichen bzw. kirchlichen Blicks auf die Stadt konnte so etwa die sich abzeichnende Konstituierung der Kommune in den Mailänder Texten nicht Gegenstand der Geschichtsschreibung werden. Doch damit nicht genug: Auch eine Funktionalisierung der Vergangenheit bzw. der Geschichte im Dienst der Stadtgemeinschaft und damit der entstehenden Kommune kann man in den Mailänder Texten des 11. und frühen 12. Jahrhunderts nicht erkennen.2 Anders wurde dies in Mailand erst nach der Mitte des 12. Jahrhunderts, als sich erstmals städtische Laien mit der Geschichte ihrer Stadt beschäftigten.3 Erst in den Texten dieser Laien drückt sich ein spezifisch kommunales Selbstverständnis aus, wird die Kommune geradezu zum Synonym für die Stadt,4 zum handelnden Subjekt der Geschichte und damit zum Gegenstand der Geschichtsschreibung.5 Mit den kommunalen Laienautoren entsteht in Mailand - doch nicht nur dort - eine kommunale Geschichtsschreibung, in der sich ein kommunales Selbstverständnis, eine kommunale Identität ausdrückt. Das Bewußtsein dieser Autoren, zu einer Stadtgemeinschaft zu gehören, deren Geschichte - die so auch die eigene Geschichte ist - man aufzeichnen muß, hat den Anstoß zu ihrer historiographischen Tätigkeit gegeben. Am Beginn der kommunalen Geschichtsschreibung, einer Geschichtsschreibung die auf die Gegenwart der Kommune ausgerichtet ist, steht so die kommunale Identität.6
1
2
3
4
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BUSCH: MAILÄNDER GESCHICHTSSCHREIBUNG, S . 4 2 (mit weiterführender Literatur). Ebenso für die frühen Autoren RACINE: CONSCIENCE, S. 66 f. Dieser betont, daß sich in den Texten der Mailänder Geistlichen eine Vorstellung von der Stadt ausdrückt, die diese mit den Texten des 8. Jahrhunderts gemeinsam haben, eben die einer um den Erzbischof gescharten Gemeinschaft (ebd., S. 67). Entsprechend kann man diese Texte zwar als städtische Geschichtsschreibung bezeichnen (da sie in der Stadt entstanden sind), keineswegs aber als kommunale Geschichtsschreibung, vgl. die entsprechende Einschätzung bei BUSCH: MAILÄNDER GESCHICHTSSCHREIBUNG, S. 236 f. Erstes Werk eines Mailänder Laien ist die anonyme Narratio de Longobardie obpressione (um 1 1 6 2 ) ; zu dieser BUSCH: MAILÄNDER GESCHICHTSSCHREIBUNG, S. 5 1 ff. Im Rahmen einer Funktionsbestimmung städtischer .Ideologie' fragt schon MATTEIS: SOCIETAS CHRISTIANA, S . 20, Anm. 13, „in quale misura la citta si identifichi, attraverso un processo di sviluppo interno, con il comune." Dies ließe sich wohl für alle bisher genannten Werke kommunaler Laien nachweisen. Man vgl. wiederum die Analyse der Mailänder Narratio de Longobardie obpressione bei BUSCH: MAILÄNDER GESCHICHTSSCHREIBUNG, S. 5 1 ff. und den kurzen Vergleich zwischen den geistlichen und laikalen Annalen ebd., S. 42 und Anm. 30. Über die Annales Ianuenses des Caffaro schreibt etwa PETTI BALBI: PRESENTE: „Soggetti privilegiati degli annali sono sempre e solo i cives [...]; protagonista della sua storia e la patria intesa come bene comune" (ebd., S. 4 2 ) . Auch OCCHIPINTI: IMMAGINI DI CITTÄ spricht mit Blick auf die beiden Lodeser Geschichtsschreiber der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts von der unausgesprochenen, aber dennoch klar erkennbaren „passione municipalistica che nelle cronache di Ottone e Acerbo Morena [...] porta di fatto ad evidenziare come vere protagoniste le comunitä cittadine" (ebd., S. 24). So schon PETTI BALBI: CAFFARO über die kommunale Historiographie des 12. Jahrhunderts: „La storiografia comunale nasce infatti nel momento in cui l'orgoglio di appartenere ad una ristretta, ma fiorente, comunitä [...] spingono il cittadino ad interessarsi di questa realtä" (ebd., S. 13).
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Einleitung
Gab es also vor den kommunalen Laien, die seit der Mitte des 12. Jahrhunderts historiographisch tätig waren, keine kommunale Geschichtsschreibung oder sogar keine kommunale Identität, die sich in den entsprechenden Quellen niederschlagen konnte? Keineswegs:1 Es wird zu zeigen sein, daß in Pisa - anders als in Mailand - auch die Texte der frühen geistlichen Geschichtsschreiber in engem Zusammenhang mit der entstehenden und sich verfestigenden Kommune zu sehen sind, daß es sich bei diesen also durchaus schon um Zeugnisse einer kommunalen Erinnerungskultur handelt. 2. Erinnerungskultur und Kommune Daß die Beschäftigung mit der Vergangenheit immer auch politisch und gesellschaftlich relevant ist, gehört nicht erst seit der Diskussion um Gedächtnis und Erinnerung zu den grundlegenden Erkenntnissen der Forschung. Die Untersuchung wird daher die Frage in den Blick nehmen müssen, ob die in Pisa zu beobachtenden Phänomene der Darstellung und Deutung von Vergangenheit einen Beitrag zur Lösung spezifischer Probleme der frühen Kommune leisten konnten. Im folgenden kurzen Überblick über die Frühgeschichte der Pisaner Kommune werden solche Anknüpfungspunkte einer Funktionalisierung von Geschichte herauspräpariert. Zwei Bewegungen prägen die Geschichte Pisas im 11. und 12. Jahrhundert: die militärische und wirtschaftliche Expansion Pisas im westlichen Mittelmeer auf der einen und die Ausbildung der neuen sozio-politischen Formation der Kommune auf der anderen Seite. Waren die Interessen der Stadt immer schon auf das Meer ausgerichtet, so erfährt diese Ausrichtung im 11. Jahrhundert durch eine Kette von Siegen über die Sarazenen, die das westliche Mittelmeer bis zur Jahrtausendwende beherrschten, eine Dynamik, die Pisa im 12. Jahrhundert zu einer der bedeutendsten Seemächte des Mittelmeeres werden läßt.2 Gerade diese militärischen Aktionen gegen die Sarazenen werden in den weiteren Analysen der einzelnen Zeugnisse immer wieder begegnen. Die Entwicklung im Innern der Stadt ist jedoch für die aktuelle Fragestellung von noch größerer Bedeutung. Seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts entsteht in Pisa auf dem Boden der frühmittelalterlichen Civitas die autonome Kommune.3 Innerhalb dieser Entwicklung, 1 2
3
Gegen eine solche Vorstellung auch schon RACINE: CONSCIENCE, S. 71. Hierzu neben der älteren Arbeit von Rossi SABATINI: ESPANSIONE zuletzt - mit weiterfuhrenden Literaturangaben TANGHERONI: PRIMA ESPANSIONE sowie als erste Übersicht EICKHOFF: SEEKRIEG, S . 3 7 4 ff. und LUZZATI: FIRENZE S . 5 6 5 ff. Eine interpretative Einordnung in einen größeren Zusammenhang nimmt jetzt MITTERAUER: KAUFLEUTE vor. Die Literatur zur institutionellen Entwicklung Pisas in der frühkommunalen Zeit ist nur noch schwer zu überblicken. Einer Fülle von Einzeluntersuchungen, die von verschiedenen Seiten auf das Grundproblem der Kommunebildung zustoßen, stehen seit der klassischen Untersuchung von VOLPE: STUDI (1902) nur wenige Syntheseversuche gegenüber. Die bislang beste - wenn auch knappe - Zusammenfassung des Forschungsstandes stellt das Kapitel ,2. Pisa' bei LUZZATI: FIRENZE, S. 5 6 5 - 5 8 7 dar. Vgl. zu speziellen Aspekten zuletzt ROSSETTI: CARATTERI DEL POLITICO, Ros-
Perspektiven
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die in die reife Kommune der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts mündet, 1 wird man zwei Aspekte unterscheiden müssen. Einerseits besteht diese in der Übernahme von Herrschaftspositionen in der Stadt und im Einflußbereich der Stadt durch den Bürgerverband, die Kommune. Gerade dies läßt sich quellenmäßig gut fassen. 2 Weniger offensichtlich, letztlich aber entscheidend ist jedoch die Entstehung der Kommune selbst, also die Konstitution der Stadtgemeinschaft als handlungsfähiges politisches Subjekt. Beide Aspekte, die im historischen Prozeß parallel ablaufen und miteinander verwoben sind, bieten unterschiedliche Ansatzpunkte fur eine Funktionalisierung von Geschichte, von Darstellungen und Deutungen tatsächlicher oder vorgeblicher Vergangenheit. So ist die Aneignung von Herrschaftspositionen durch die Kommune eng mit dem Problem der Legitimation verbunden. Gleich, ob es im Falle Pisas um die Übernahme markgräflicher Rechte in der Stadt geht 3 oder aber um die Sicherung des Pisaner Einflusses im Umland, vor allem auf Sardinien und Korsika: 4 der Verweis auf die Vergangenheit konnte hier zur Legitimierung tatsächlicher oder beanspruchter Rechte verwendet werden.
(mit reichen Literaturangaben) und (mit rechtsgeschichtlichem Schwerpunkt) das Kapitel ,Pisa nel X I I secolo' bei WICKHAM: LEGGE, S. 1 8 5 - 1 9 5 sowie die Bibliographie TREVISAN: BIBLIOGRAFIA I. Für Pisa markiert die Anerkennung des status quo durch Friedrich Barbarossa 1162 einen ersten Abschluß auf dem Weg zur Kommune. Vgl. die Conventio cum Pisanis Friedrich Barbarossas in MGH Const. I, Nr. 2 0 5 , S. 2 8 2 - 2 8 7 bzw. MGH DF.I. 3 5 6 , S . 1 9 8 - 2 0 3 . Zum ereignisgeschichtlichen Hintergrund OPLL: STADT UND REICH, S . 3 8 4 - 3 9 8 , zur Bewertung der Urkunde mit Blick auf die innerstädtische Entwicklung in Pisa zuletzt ROSSETTI: CARATTERI DEL POLITICO, S . 5 8 ff. Grundlegend ist hierfür die ältere Arbeit von VOLPE: STUDI. Pisa gehörte zum Herrschaftsbereich der toskanischen Markgrafschaft. Der Weg zur freien Kommune war hier auch eine Lösung aus dem Herrschaftsverband der Mark, der in Pisa jedoch ohne größere Schwierigkeiten oder gar revolutionäre Ereignisse ablief. Vielmehr handelt es sich um eine schrittweise Aneignung von Rechten durch die Kommune und deren Vertreter (Interpretation dieser Ereignisse zuletzt bei ROSSETTI: CARATTERI DEL POLITICO). Einen vorläufigen Abschluß dieser Entwicklung stellt die Vertreibung der Pisaner Vicecomites durch die Konsuln 1153 dar. Die Visconti waren ursprünglich Vertreter der Markgrafen in der Stadt, jedoch schon zum Zeitpunkt ihrer Vertreibung einerseits stark eingeschränkt, andererseits eng in die neuen Herrschaftsstrukturen des Konsularregimes eingebunden. Hierzu VOLPE: STUDI, S . 1 ff., VIOLANTE: ECONOMIA, S. 1 0 2 f., LEICHT: VISCONTI, ROSSETTI: CARATTERI DEL POLITICO, S. 5 8 f. Edition der auf die Vertreibung der Visconti bezogenen Urkunde von 1 1 5 3 in Brevi consulum, Anhang Nr. 8 , S. 1 1 7 - 1 1 9 . Für die Seestadt Pisa hat das Tyrrhenische Meer mit seinen Inseln eine ähnliche Bedeutung, wie das Umland, der Contado, für die Kommunen des Landesinnern. Zum Ausgreifen der Kommune auf den Contado zuletzt ROSSETTI: COSTITUZIONE CITTADINA, ZU Sardinien und Korsika Rossi SABATINI: ESPANSIONE und zuletzt TANGHERONI: PISA, TANGHERONI: PISE, TANGHERONI: PRIMA ESPANSIONE. Im Zusammenhang mit den jeweiligen päpstlichen Privilegien schildern den Konflikt zwischen Genua und Pisa um die beiden Inseln zuletzt MATZKE: DAIBERT, S. 7 6 f. und SCHILLING: SETTI: COSTITUZIONE CITTADINA
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GUIDO, S. 4 7 9 - 4 8 2 .
28
Einleitung
Doch sollte der naheliegende Gedanke an die Legitimierung erreichter oder angestrebter Herrschaftspositionen nicht verdecken, daß die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit für die junge Kommune auch andere Funktionen hatte. Geschichte, erinnerte Vergangenheit war sicher immer auch mögliche Waffe in der politischen Auseinandersetzung, aber sie war es eben nicht ausschließlich.1 Insbesondere mit Blick auf die Besonderheiten kommunaler Erinnerungskultur wird man einen anderen Aspekt betonen müssen. Gleich, ob man unter Betonung der Kontinuität städtischer Geschichte von Verdichtung oder aber, den revolutionären Charakter betonend, von der Neukonstitution der Stadtgemeinschaft in der Kommune sprechen will, 2 in beiden Fällen fallt der Blick auf die mentalen Voraussetzungen und Grundlagen der Kommune, auf eine gesamtstädtische kollektive Identität als notwendige Bedingung der Bildung der Kommune und als Basis ihrer weiteren Entwicklung.3 Was man allgemein fur die frühen Kommunen formulieren kann, daß sie Friedensbzw. Selbsthilfegemeinschaften waren, die sich angesichts eines in den Städten entstehenden Machtvakuums und der sich daraus ergebenden gewaltsamen Konflikte zusammenschlossen, läßt sich auch für Pisa voll bestätigen.4 Im sogenannten Lodo delle torri tritt dieser Aspekt der Kommunebildung klar zutage.5 Da dieses Dokument den besten
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3
Diesen Vorwurf muß man vor allem der Arbeit von Fisher (FISHER: PISAN CLERGY) machen, der die gesamte historiographische und inschriftliche Produktion Pisas aus der Zeit der frühen Kommune auf ein Ereignis konzentriert, indem er die Texte ausschließlich als Argumente im Kampf der Pisaner um ihre Herrschaftsposition auf Korsika interpretiert. Die unterschiedlichen Positionen referiert im Blick auf Pisa BANTI: CIVITAS, S. 217 ff. Zumindest mit Blick auf die Sicht der Zeitgenossen betont dieser, wie auch ROSSETTI: CARATTERI DEL POLITICO, die Kontinuitäten. Zu einem bewußten Bruch mit den vorkommunalen Traditionen seit der Mitte des 12. Jahrhunderts ROSSETTI: CARATTERI DEL POLITICO, S. 57 ff. Der hier aufscheinende Zusammenhang zwischen kollektiver Identität und Gruppenbildung ist in Soziologie und historischer Anthropologie ausfuhrlich theoretisch diskutiert worden. Vgl. etwa die Beiträge in ASSMANN / FRIESE: IDENTITÄTEN, BRUENDEL / GROCHOWINA: KULTURELLE IDENTITÄT, HENRY: Μίτο Ε IDENTITA, S. 23 ff., den Überblick bei GILLIS: MEMORY und kritisch zum Begriff der kollektiven Identität NIETHAMMER: KOLLEKTIVE IDENTITÄT. Zum Zusammenhang jetzt auch VOLTMER: LEBEN, S . 2 1 3 f f .
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Vgl. die allgemeine Kennzeichnung der Kommunebildung etwa bei TABACCO: EGEMONIE SOCIALI, S . 2 2 6 f f , PINI: CITTÄ, S . 6 9 f., DILCHER: KOMMUNE. Einen Überblick über die Forschungssituation bieten ITALIEN IM MITTELALTER ( 1 9 8 0 ) , HAVERKAMP: STÄDTE ( 1 9 8 2 ) , zu ergänzen durch ROSSETTI: COMUNE ( 1 9 8 8 ) , SANFILIPPO: STUDI RECENTI ( 1 9 9 0 ) , BORDONE: STORIOGRAFIA RECENTE ( 1 9 9 8 , B e -
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richtszeitraum bis 1 9 8 9 ) , und zuletzt: COLEMAN: ITALIAN COMMUNE ( 1 9 9 9 ) . Eine aktuelle bibliographische Übersicht bietet TREVISAN: BIBLIOGRAFIA II, vor allem S . 4 5 6 - 4 7 5 . Der Formulierung Rossettis, die im Lodo delle torri die „prima carta costituzionale della repubblica pisana" sieht (ROSSETTI: LODO DEL VESCOVO, S. 25), widerspricht zwar Matzke, doch kann auch er dem Vertrag nicht den „grundlegenden Charakter" absprechen, da die durch diesen hergestellte innerstädtische Concordia „Voraussetzung für die folgende große kommunale Entwicklung" gewesen sei (MATZKE: DAIBERT, S. 64). Für die Einschätzung Rossettis spricht jedoch, daß der Lodo delle torri später zu einer Art Präambel der Konsularbrevi von 1162 und 1164 wurde und daß die jeweiligen Konsuln sich verpflichteten, diesen zweimal jährlich öffentlich im Dom vorlesen zu lassen
Perspektiven
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Einblick in die Frühgeschichte der Kommune, in den Charakter des entstehenden Gemeinwesens und in die sich diesem von Beginn an stellenden Probleme bietet, soll es hier kurz diskutiert werden. Nach bürgerkriegsartigen Unruhen in der Stadt vermittelte Bischof Daibert 1 um 1090 eine Friedenseinung (pax et securitas).2 In dieser verpflichten sich die Einwohner Pisas gegenseitig durch Eid auf detailliert ausgeführte Normen des städtischen Zusammenlebens, die die andauernden Konflikte beenden und in Zukunft den Frieden sichern sollten. 3 Konkret geloben die Angehörigen der Schwurgemeinschaft, sich in dem Fall, daß ihnen Unrecht geschieht, nicht eigenmächtig zur Wehr zu setzen, sondern sich an das commune colloquium4 der Stadt zu wenden, das dann eine Entscheidung zum gemeinen Nutzen der Stadt {pro communi utilitate civitatis)5 fällen und dem Schwurgenossen zur Hilfe kommen würde. 6 Der sich hier erstmals deutlich zeigende Wille zur Zusammenarbeit im Interesse der Stadt stellt wohl die entscheidende Voraussetzung für die gesamte weitere Entwicklung der Kommune dar.7 Zwar wird man nicht erst in dieser ersten faßbaren Coniuratio der
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(vgl. Brevi consilium, S. 60 bzw. 88). Gerade in der Einschätzung dieser Zeit stellt der Lodo delle torri also eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Kommune dar. Zum Pisaner (Erz-)Bischof Daibert (1040/50-1105) jetzt MATZKE: DAIBERT. Zur Datierung neben ROSSETTI: LODO DEL VESCOVO zuletzt MATZKE: DAIBERT, S . 6 1 f. Hauptsächlich geht es dabei um die Beschränkung der Höhe der Wehrtürme in der Stadt, die eine entscheidende Bedeutung in den innerstädtischen Kämpfen hatten, und um das Verbot, die Türme der Gegner eigenmächtig zu zerstören oder Kampfhandlungen von den eigenen Türmen auszufuhren. Zum Lodo delle torri ROSSETTI: LODO DEL VESCOVO (mit Neuedition der Urkunde), RONZANI: CHIESA Ε CIVITAS, S. 2 4 7 ff., MATZKE: DAIBERT, S. 6 1 ff. Schon zuvor hatte der Vorgänger Daiberts, Gerardus, einen möglicherweise ähnlichen Schiedsspruch ausgehandelt, der jedoch nicht im Original erhalten ist, vgl. ROSSETTI: LODO DEL VESCOVO, S. 3 1 Anm. 4 . Ausgelöst wurden die Kämpfe in Pisa wohl durch ein Privileg Heinrichs IV. von 1081, das vor den Mauern der Stadt gelegenes Reichsgut den Pisanern ,ad communem utilitatem' überließ. Der beginnende Wettlauf um die besten Positionen auf dem vor allem für Handel und Seefahrt wichtigen Uferstreifen des Arno störte in der Folge das offensichtlich empfindliche Gleichgewicht im Innern der Stadt. Vgl. zum Diplom Heinrichs und den entsprechenden Folgen ROSSETTI: PISA Ε L'IMPERO (mit Neuedition der Urkunde, hierzu die kritischen Anmerkungen bei STRUVE: HEINRICH, S. 5 0 8 - 5 3 0 ) und RONZANI: CHIESA Ε CIVITAS, S. 2 0 4 f f .
4
Zu den Begriffen ROSSETTI:
5
ROSSETTI: LODO DEL VESCOVO,
S. 57. S. 29. Zu dieser Formulierung, die als Vorläufer der in der politischen Theorie des 14. Jahrhunderts entwickelten Vorstellung des bonum commune gelten kann, CARATTERI DEL POLITICO,
ROSSETTI: LODO DEL VESCOVO, S . 3 5 f. u n d A n m . 8. 6
Vgl. die Edition der Urkunde bei ROSSETTI: LODO DEL VESCOVO, S. 2 8 f. Die ältere Vorstellung, die Kommune sei eine anfanglich 'private' Veranstaltung der städtischen Maiores, die sich entschlossen hätten, ihre feudalen Privilegien gemeinsam zu nutzen bzw. zu verwalten, ist sicherlich zu korrigieren. Daß die Kommune von Beginn an den Anspruch hatte, die ganze Stadt zu vertreten bzw. zu durchdringen, zeigt im Fall Pisas schon der Umstand, daß alle Einwohner der Stadt der Coniuratio beitreten mußten. Vgl. zur Diskussion der älteren Vostellung BANTI: CIVITAS, S. 2 1 8 , ROSSETTI: CETI DIRIGENTI, S. XXXVII ff.
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ROSSETTI: CARATTERI DEL POLITICO, S . 5 3 u n d 5 6 f.
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Einleitung
Pisaner den Beginn einer irgendwie gearteten Formierung der Stadtgemeinschaft sehen können. Schon die Privilegierung der Pisaner Cives durch Heinrich IV. 1081 setzt die Existenz einer Organisationsform der städtischen Einwohnergemeinde voraus. 1 Gleiches gilt auch für frühere Einbeziehungen der Cives in Regierung bzw. Verwaltung gesamtstädtischer Angelegenheiten, etwa in den Dombau 2 oder die belegten kriegerischen Übersee-Expeditionen, die von den Pisanern seit Beginn des 11. Jahrhunderts betrieben wurden. Dennoch markiert der Lodo delle torri einen wichtigen Einschnitt, da hier erstmals die Schwurgemeinschaft der Einwohner mit exklusivem Anspruch auftritt.3 Für das Verständnis der Vorgänge ist jedoch ein Blick auf die mentalen Grundlagen der Kommunebildung unerläßlich.4 Der für Pisa im Lodo delle torri erkennbare Versuch, die Probleme im Innern der Stadt durch gemeinsames Handeln, durch die Verpflichtung auf die communis utilitas civitatis zu überwinden, setzt das Bestehen einer gesamtstädtischen, einer Pisaner Identität voraus.5 Zumindest in den Kreisen der Füh1
Die in der einzig erhaltenen Fassung des Diploms, einer notariell beglaubigten Abschrift des 12. Jahrhunderts, enthaltene Bestimmung, der Kaiser wolle keine Markgrafen in der Toskana einsetzen, ohne vorher die Zustimmung eines von der Stadtversammlung gewählten Gremiums von 12 Männern einzuholen, wird von Rossetti als Verfälschung des originalen Wortlauts angesehen (ROSSETTL: PISA Ε L'IMPERO, S. 168 f.). Wenngleich dieser Einschätzung von anderer Seite widersprochen worden ist (STRUVE: HEINRICH, S. 514 ff.), wird man bei der Bewertung der sich hier möglicherweise schon andeutenden institutionellen Formung vorsichtig sein müssen. Allgemein zur Nutzungs- bzw. Privilegsgenossenschaft HA VERKAMP: STÄDTE, S. 177. Das Diplom Heinrichs erwähnt Repräsentanten der Stadt, die sicherlich auch schon in vorkommunaler Zeit tätig waren, etwa ein gewähltes Kollegium, das die Nutzung der Allmende überwachte (ROSSETTI: PISA Ε L'IMPERO, S. 165 Z.16 f.).
2
Etwa das Diplom der Markgräfin Mathilde für die Pisaner Bischofskirche von 1077, das die Pisaner Cives als Garanten der Bestimmungen einsetzt, vgl. hierzu ausfuhrlich unten S. 271 ff. Jeder Einwohner Pisas über 15 Jahren mußte sich dem Wortlaut des Vertrags entsprechend durch Eid auf die Normen des Friedens verpflichten, mußte der Schwurgemeinschaft beitreten, wollte er nicht durch den Bischof als geistlichem Garant des Friedens exkommuniziert und aus der Friedensgemeinschaft ausgestoßen werden. Interessant hier die Formulierung des Urkundentextes (ROSSETTI: LODO DEL VESCOVO, S. 30 f.): „ Volumus autem vos scire quod quisquis superbia diaboli inflatus hanc pacem et concordiam facere noluerit et sacramentum quod factum est non fecerit vel facere noluerit, propterea sit excommunicatus et omnes custodite vos ab eo sicut ab homine damnato et ab ecclesia Dei seperato; neque in ecclesia neque in navi cum eo aliquam communionem habeatis". Der Einfluß religiöser Vorstellungen, etwa der Gottesfriedensbewegung, ist sicherlich diskussionswürdig, soll hier aber nicht weiter verfolgt werden, vgl. KELLER: ÜBERGANG, vor allem S. 62-69, und die Diskussion der These Kellers mit Blick auf Pisa bei MATZKE: DAIBERT, S. 64 ff. Diesen Zusammenhang zwischen Identität und Kommunebildung betonen zuletzt RACINE: COSCIENCE, S. 78: „II est difficile de concevoir la naissance des Communes lombardes sans l'existence d'une conscience civique propre ä leurs fondateurs" und DILCHER: KOMMUNE, S. 325 ff.: „Doch ist der Vorgang der Kommunebildung selbst nicht nur von Zeichen eines Bewußtseins der politischen Gemeinsamkeit der Bürger begleitet [...]. Es [=das Bewußtsein politischer Gemeinsamkeit; MH] wird damit selbst zum Faktor der Herausbildung der kommunalen Verfassungsform". In der kommunalen Identität des späten 11. Jahrhunderts einen „Nachhall antiker Urbanität" zu sehen, so DIL-
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Perspektiven
31
rungsschicht mußte ein Bewußtsein bestanden haben, Teil einer Gruppe, einer Gemeinschaft zu sein. Nur so war gewährleistet, daß der einzelne seine Interessen denen der gesamten Stadt unterordnete, daß die Stadtbewohner gemeinsam handelten. Erst als sich die Bewohner der Civitas Pisana als Pisaner fühlten, sich mit ihrer Stadt identifizierten, waren Versuche denkbar, dieses Gemeinwesen Stadt auch politisch zu organisieren. Was so für die Phase der Konstituierung des Schwurverbandes der Bürger gilt, läßt sich auch für die weitere Geschichte der Kommune sagen. Steht am Anfang der Kommune die Ausbildung einer kollektiven Identität, so ist für ihr Fortbestehen die Sicherung, die ständige Aktualisierung und Bewußtmachung dieser kollektiven Identität von Bedeutung. Die Existenz und Durchsetzung einer gesamtstädtischen Identität erhält eine zusätzliche Brisanz, wenn man einen Blick auf die sozialen Grundlagen der Kommunebildung in Pisa wirft. Keineswegs sind alle Einwohner Pisas in gleicher Weise an der Entstehung der Kommune beteiligt. Wer der Motor der Entwicklung war, zeigt schon der Blick auf den zitierten Lodo delle torri. Zwar erscheint in der Urkunde der Pisaner populus, die Gesamtheit der Stadtbewohner, als politisches Subjekt (Rossetti) der Vereinbarung und damit auch der hier im Kern erkennbaren neuen politischen Formation. 1 Doch schon unter den sechs „v/V/ strenui et sapientes, " die Bischof Daibert als socii bei der Aushandlung der Schlichtung zur Seite standen, sind ausschließlich Angehörige der führenden Familien der Stadt. 3 Auch die Bestimmungen der Coniuratio richten sich ausschließlich an Angehörige dieser vor- bzw. frühkommunalen Führungsschicht. Nur sie besaßen die turres, die Wehrtürme, 4 auf die sich fast alle Bestimmungen des Lodo delle torri beziehen. 5 Der vom Bischof vermittelte Vertrag versuchte so die Probleme
CHER: KOMMUNE, S. 325, erscheint jedoch fragwürdig. Unter Akzentuierung des religiösen Hintergrundes formulierte schon KELLER: ENTSTEHUNG, S. 178 f.: „Ihr Autonomiestreben [das der Stadtgemeinden, MH] war getragen von einem neuartigen, oft aggressiven Gemeinschaftsbewußtsein, in dessen Zentrum die Ehre der Stadtgemeinschaft und ihres Patrons stand und das die gesamte Einwohnerschaft, ungeachtet ihres Standes, umschloß". Mit Blick auf Pisa sieht diesen Zusammenhang zwischen gesamtstädtischer Identität und Kommunebildung auch schon BANTI: CIVITAS, S. 221. 1
ROSSETTI: LODO DEL VESCOVO, S . 3 5 .
2
ROSSETTI: LODO DEL VESCOVO, S . 2 7 .
3
Unter den Socii des Bischofs finden sich neben Angehörigen der Familie der Pisaner Visconti, den Vertretern der Markgrafen in der Stadt, Angehörige wohlhabender Grundbesitzerfamilien, die wohl allesamt über Wehrtüme in der Stadt verfügten und zum Teil in späteren Dokumenten als Konsuln der Stadt nachzuweisen sind. Detailliert zur genealogischen und sozialen Zuordnung der Personen
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Zu den in Pisa belegten Bauformen der Wehrtürme ausfuhrlich REDI: PISA COM'ERA, S. 177 ff.
5
V g l . d e n T e x t b e i ROSSETTI: LODO DEL VESCOVO, S . 2 6 - 3 1 . D a ß d e r V e r t r a g v o r a l l e m d i e I n t e r e s -
ROSSETTI: LODO DEL VESCOVO, S . 3 9 f f .
sen der Führungsschicht der Turm-besitzenden Familien berücksichtigte, zeigt sich schon daran, daß dieser keine Bestimmungen zu Gewalthandlungen enthält, die nicht in Zusammenhang mit den Wehrtürmen stehen.
32
Einleitung
einer Gruppe von Familienverbänden zu lösen,1 die über Befestigungen in der Stadt verfügten und die dort seit längerem um die Vorherrschaft konkurrierten. Gleichwohl mußten alle Bewohner der Stadt der Coniuratio beitreten, wenn sie nicht aus der sich konstituierenden Friedensgemeinschaft ausgeschlossen werden wollten. Entsprechend ihrer sicher schon vor dem Lodo delle torri in der Stadt ausgeübten Führungsrolle ist es so ein kleiner Kreis von Familien, der seine eigenen Interessen mit denen der Gesamtstadt gleichsetzte und offensichtlich auch über die Mittel verfügte, die Einhaltung und den Bestand der Coniuratio und der entsprechenden Normen in der Stadt durchzusetzen. Die Zusammensetzung dieser Führungsschicht, die auch bis weit ins 12. Jalirhundert hinein nahezu ausschließlich die Politik der Stadt bestimmte, ist relativ gut erforscht.2 Unter diesen finden sich Familien, die auf die eine oder andere Weise in die feudalen Strukturen der Stadt und des Umlandes eingebunden waren, aber auch solche, die als Notare, Richter oder Kaufleute zu Wohlstand und Einfluß gelangten.3 Allen gemeinsam ist einerseits, daß ihr soziales Prestige auf Grundbesitz im Umland und in der Stadt selbst basierte.4 Andererseits zeigen die ökonomischen Verhältnisse in der Stadt, daß sich die meisten dieser Familien zumindest auch im Seehandel Pisas engagiert haben, sei es aktiv als Reeder oder Kaufmann oder aber durch die Bereitstellung von Kapital.5
1
Zu Verwandtschaftsverbänden als wichtigstem Strukturelement der frühkommunalen Gesellschaft P i s a s ROSSETTI: STORIA FAMILIARE, S . 2 4 3 f f .
2
Grundlegend hierfür die auf einzelne Familien bezogenen Beiträge in ROSSETTI: FORMAZIONE s o w i e d i e Z u s a m m e n f a s s u n g e n d e r E r g e b n i s s e b e i ROSSETTI: STORIA FAMILIARE, ROSSETTI: SOCIETÄ Ε ISTITUZIONI, S. 3 2 0 - 3 3 7 , ROSSETTI: CETI DIRIGENTI, ROSSETTI: ELEMENTI FEUDALI. E r g ä n z e n d
noch heranzuziehen sind die neueren Beiträge von CECCARELLI: FAMIGLIA DI GIURISTI, CECCARELLI: PISAN CONSULAR FAMILIES. 3
Rossetti betont aber, daß die unterschiedlichen Lehnsbeziehungen der Familien der Führungsschicht keine direkten Auswirkungen auf die gesellschaftliche Stellung der entsprechenden Familien innerhalb d e r Stadt hatten. V g l . ROSSETTI: STORIA FAMILIARE, S. 2 3 4 f.,
4
ROSSETTI: STORIA FAMILIARE, S . 2 3 4 .
5
ROSSETTI: SOCIETA Ε ISTITUZIONI, S. 328 f. Naturgemäß gibt es für diese frühe Zeit keine direkten Quellen für die Beteiligung von Mitgliedern der Pisaner Führungsschicht am Mittelmeerhandel. Es kann jedoch kein Zweifel daran bestehen, daß die Pisaner Führungsschichten am großen Reichtum der Seestadt partizipiert hat. ROSSETTI: STORIA FAMILIARE, S. 245 fuhrt die relative Stabilität des Grundbesitzes in Pisa und im Umland der Stadt darauf zurück, daß das Kapital in Pisa in anderen Bereichen, eben im Überseehandel investiert wurde. Hierzu auch TANGHERONI: PRIMA ESPANSIONE, S. 9 ff. VIOLANTE: ECONOMIA, S. 325 geht sogar so weit, die Klasse der Reeder und Kaufleute als führend innerhalb der Führungsschicht anzusehen. Den Zusammenhang zwischen den Interessen der grundbesitzenden Familien der frühkommunalen Führungsschicht und dem intensivierten Seehandel Pisas bringt LUZZATI: FIRENZE, S. 566 prägnant auf den Punkt: „L'espansione marittima di Pisa deve essere cioe vista anche come risultante di una evoluzione economica, politica e sociale che aveva portato all'indebolirsi della Tuscia come aggregato omogeneo: non siamo infatti di fronte ad una improbabile cittä mercantile ante litteram che attrae una « nobiltä » laica ed ecclesiastica e la proietta sul mare, ma piuttosto ad un vescovado, ad un clero, a ceti preminenti di varia origine e formazione che fanno di Pisa il centro di difesa dei loro interessi particolaristici e ne stimolano - in mancanza di altre possibilitä - la funzione marinara."
Perspektiven
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Diese auf das Mittelmeer gerichteten konvergierenden Interessen der frühkommunalen Führungsschicht Pisas kann man so in gleicher Weise für das Ausbrechen der Konflikte in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts verantwortlich machen, 1 wie für das Zustandekommen und die Dauer der dann am Ende des Jahrhunderts erreichten Befriedung, die die Grundlage der Kommune darstellte. War die Kommune also am Anfang in erster Linie eine Angelegenheit dieser, fuhrenden Familien der Stadt, was sich nicht zuletzt in der Besetzung der wichtigsten Ämter, etwa des Konsulats, niederschlägt, 2 so treten ihre Repräsentanten doch von Beginn an mit dem Anspruch auf, die Gesamtstadt zu vertreten und zu fuhren. In einer sozialgeschichtlichen Perspektive stellte sich so der entstehenden Kommune ein doppeltes Problem: Einerseits mußte die Solidarität innerhalb der Gruppe der führenden Familien stabilisiert und gesichert werden, 3 andererseits mußte eine .vertikale', eine schichtenübergreifende Solidarität hergestellt werden, die die nicht zu den führenden Familien gehörenden Bevölkerungsteile in das neu entstehende Gemeinwesen einband und diese dazu brachte, den Führungsanspruch und die Herrschaftspraxis der entstehenden Konsulararistokratie anzuerkennen. 4 Bei der Untersuchung der Erinnerungskultur des frühkommunalen Pisa ist dieser Problemkomplex stets im Blick zu halten. Zu fragen ist so, ob die rekonstruierbaren Formen der Beschäftigung mit der Vergangenheit der Stadt Bausteine und Angebote für eine kollektive Identität der Stadtbewohner boten, ob sich die Deutungen der städtischen Geschichte auf den Vorgang der Ausbildung und Sicherung einer gesamtstädtischen Identität beziehen lassen. 3. Strukturen städtischer Kommunikationsräume Die Zeugnisse der Pisaner Erinnerungskultur des 11. und frühen 12. Jahrhunderts sind nicht nur durch den funktionalen Bezug auf die Problemstellungen der jungen Kommune geprägt, sondern auch durch Grundkonstanten mittelalterlicher Stadtkulturen, die schon vor, aber auch noch nach dem kommunalen Zeitalter städtisches Leben bestimmt haben. Die in Pisa entstandenen Formen, die Erinnerung an die Vergangenheit der Stadt
1
Gerade die Bedeutung der Uferstreifen des Arno als Anlegestelle und provisorisches Arsenal hat nach Rossetti die Auseinandersetzungen um diese von Heinrich IV. freigegebenen Grundstücke p r o v o z i e r t ( R O S S E T T I : P I S A Ε L'IMPERO, S . 1 7 1 f . ) .
2
Hierzu die oben S. 32, Anm. 2 zitierten Arbeiten.
3
V g l . d i e E i n s c h ä t z u n g der S i t u a t i o n durch ROSSETTI: STORIA FAMILIARE, S. 2 4 1 .
4
Wichtig ist jedoch festzuhalten, daß die zur Kommunebildung führenden Konflikte in Pisa gerade nicht durch divergierende Interessen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen gekennzeichnet waren, schon gar nicht durch den Konflikt zwischen dem Stadtherrn oder dessen Vertretern (den Visconti) und aufstrebenden Schichten in der Stadt. Gerade die Lähmung der Markgrafschaft durch den Konflikt mit dem Reich ließ ja das Machtvakuum entstehen, in dem sich die Kommune entwickelte. Vielmehr waren die Konflikte in Pisa durch die Konkurrenz der jeweils gleiche Interessen verfolgenden Familienverbände der Führungsschicht entstanden.
34
Einleitung
zu bewahren, spiegeln dabei v o r allem spezifische Strukturen des städtischen
Kommu-
nikationsraumes.1 Forschungsleitend sind hier z w e i H y p o t h e s e n , die sich aus
Überle-
g u n g e n zur räumlichen Organisation des städtischen L e b e n s ergeben. S i e h t m a n die Stadt z u n ä c h s t e i n f a c h als t o p o g r a p h i s c h e n R a h m e n an, so w i r d m a n die hier herrschende soziale und kulturelle Pluralität als p r ä g e n d e n F a k t o r
städtischer
Erinnerungskulturen ansehen können.2 D i e soziale K o m p l e x i t ä t der Stadt, die einem mit B e g i n n schriftlicher Ü b e r l i e f e r u n g entgegentritt, hat direkte A u s w i r k u n g e n a u f die T o p o g r a p h i e kultureller P r o d u k t i o n . D i e s läßt sich a m B e i s p i e l der S c h r i f t k u l t u r z e i g e n . 3 A n d e r s a l s i m K l o s t e r o d e r a m H o f w i r d m a n i n d e r S t a d t s e h r früh m i t
mehreren
Zentren des U m g a n g s mit Schrift rechnen müssen. Sieht m a n für das frühere Mittelalter Schriftlichkeit e n g an geistliche Institutionen g e b u n d e n , 4 so ergibt sich schon aus d e m Umstand,
d a ß in S t ä d t e n w i e
Pisa neben der B i s c h o f s k i r c h e
und dem
zugehörigen
D o m s t i f t w e i t e r e g e i s t l i c h e I n s t i t u t i o n e n b e s t a n d e n , d a ß h i e r a u c h a n m e h r e r e n O r t e n in der Stadt gelesen und geschrieben w u r d e . 5 A u f die aktuelle Fragestellung be2:ogen b e -
1
Die hier angestrebte Erweiterung des Stadtbegriffs um eine kulturelle bzw. eigentlich kommunikative Dimension hat zuletzt auch K . Schreiner in seiner Einleitung zu einer Sektion des Historikertages 1998 gefordert, indem er feststellte, „daß das, was für bürgerlich-städtische und adligagrarische Gesellschaften des Mittelalters typisch war, nicht allein durch die Rekonstruk tion sozialer Strukturen, Klassen und Konflikte zu erfahren ist, sondern auch und nicht zuletzt aus der A r t und W e i s e ihres kommunikativen Handelns ermittelt werden kann" (SCHREINER: TEXTE, S. 1). L e i der ist keiner der Beiträge der Sektion erkennbar Schreiners Anregung gefolgt.
2
Diesen Aspekt städtischer Lebensformen - vor allem auch in Absetzung zu Dorf, Kloster oder Fürstenhof - thematisiert schon SANDER: GESCHICHTE, S. 15 f. Die Diskussion um die Definitionskriterien von , Stadt' ist für die vorliegende Fragestellung nicht von Bedeutung. V g l . jedoch den Überblick über die Defintionsversuche bei ISENMANN: DEUTSCHE STADT, S. 19-25, speziell bezogen auf den italienischen Raum die Ausführungen bei RENOUARD: VILLES D'ITALIE, S. 9-18 und PINI: C I T T Ä , S. 13-18.
3
Man wird natürlich .kulturelle Produktion' niemals mit ,Schriftkultur' gleichsetzen können. In der Regel hat man als Historiker allerdings wenig Möglichkeiten, über diesen eigentlich engen Bereich hinauszuschauen. V g l . etwa zum Problemkomplex Mündlichkeit-Schriftlichkeit die Kapitel ,Das Mittelalter als orale Gesellschaft' und , Schriftlichkeit in der oralen Gesellschaft' bei GÖTZ: MODERNE MEDIÄVISTIK, S. 349-353 bzw. S. 359-360 und den Beitrag von E. Petter ,Die methodischen Z u g r i f f e auf die Mündlichkeit im Mittelalter', ebd., S. 353-359. A u f die Problematik wird unten S. 371 ff. zurückzukommen sein.
4
V g l . mit Blick auf die Verhältnisse in Italien CAMMAROSANO: ITALIA MEDIEVALE, S. 43 f f . Die Studie zu Venedig, FEES: STADT, ist auch über den engeren Rahmen der Lagunenstadt hinaus von Wert; vgl. vor allem die Einleitung ebd., S. 1-7.
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Beleg hierfür ist für Pisa aus dem engeren Bereich der Erinnerungskultur das aus der Mitte des 11. Jahrhunderts stammende Memoriale des Bonus, A b t von S. Michele in Borgo ( N a r r a t i o quae fecit
Beatus Bonus Abbas pro fundando
ac ditando Monasterio
omnium,
Pisano Sancti Michaelis,
cir-
citer Annum 1048). Zu den geistlichen Zentren der Schriftproduktion treten in Pisa auch laikale: So ist in Pisa seit dem frühen Mittelalter eine ungewöhnlich breite Schicht schriftkundiger Laien nachzuweisen, vgl. PETRUCCI / ROMEO: SCRIPTORES, insbesondere das Kapitel V . : Ί 1 laboratorio pisano: problemi di scritture, problemi di lingue', S. 109-126. Eine hier weiterführende Geschichte der Bildung und der Schulen in Pisa bleibt Desiderat der Forschung. Ansätze stellen Untersuchungen zur
Perspektiven
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deutet dies, daß hier immer zumindest die M ö g l i c h k e i t besteht, daß jeweils spezifische Formen der schriftgestützten Beschäftigung mit der Vergangenheit (mit den jeweils entsprechenden Deutungen) entstehen. Zwei konkrete Ansatzpunkte seien genannt: Schon früh ist beobachtet worden, daß in den italienischen Städten neben dem Klerus, der über lange Zeit zumindest im Bereich schriftlicher Formen der Erinnerungsstiftung eine Monopolstellung einnahm, seit dem 12. Jahrhundert auch schriftkundige Laien beginnen, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, Werke der Geschichtsschreibung hervorzubringen. 1 Es wird daher zu untersuchen sein, ob sich in Pisa in der hier untersuchten frühen Phase der Stadtgeschichte Spuren einer solchen laikalen Erinnerungskultur nachweisen lassen und ob sich diese gegebenenfalls in signifikanter Weise von der Erinnerungskultur der städtischen Kleriker unterscheidet. 2 Doch nicht nur dieser mögliche Gegensatz zwischen geistlicher und weltlicher Sicht auf die Vergangenheit könnte Brüche in der Erinnerungskultur der Gesamtstadt zur Folge haben. So zeigt der Blick auf die Situation des 13. und 14. Jahrhunderts, daß sich hier in der Deutung der städtischen Geschichte die großen innerstädtischen Konflikte der Zeit spiegeln. Zeitgleich entstehen in den Kreisen der einzelnen innerstädtischen Faktionen historiographische Werke, die eine jeweils gruppenbezogene, perspektivische Darstellung der städtischen Geschichte bilden. 3 Ob sich ähnliche Phänomene schon am Anfang der kommunalen Phase nachweisen lassen, wird zu prüfen sein. Da es hier nicht um reine Historiographiegeschichte geht, gewinnt die Frage, in welchen Formen und Medien die gedeutete Vergangenheit in Pisa präsent war, besondere Relevanz. Gerade hier ist die Berücksichtigung der besonderen Bedingungen städtischer Lebenswelten notwendig. Städtische Lebensformen sind nicht nur durch spezifische
1
Pisaner Rechtskultur des 1 2 . Jahrhunderts dar. Vgl. neben CLASSEN: BURGUNDIO auch die kurzen Ausführungen bei CLASSEN: STUDIUM, S . 3 9 ff. und 6 8 ff. Nach R. S . Lopez soll es in Pisa bereits im 1 2 . Jahrhundert öffentliche Schulen für Laien gegeben haben, vgl. LOPEZ: CULTURE, hier S. 5 6 . Zu hochmittelalterlichen Bibliotheken in Pisa (bzw. vor allem zu den Problemen, die deren Erforschung im Wege stehen) PETRUCCI: LIBRI Ε SCRITTURE. Allgemein zum Problem der städtischen Bildung im kommunalen Zeitalter SASSE TATEO: FORME, FEES: STADT, S . 1 8 3 - 1 9 4 (mit Schwerpunkt auf Venedig). Die bekanntesten Fälle aus dem italienischen Raum sind sicher der Genueser Chronist Caffaro ( * 1 0 8 0 / 8 1 , F 1 1 6 6 ) (Caffaro: Annales Ianuenses; zu diesem FACE: SECULAR HISTORY, PUNCUH: CAFFARO, PETTI BALBI: CAFFARO, WICKHAM: SENSE, S . 1 7 3 - 1 7 6 , PLACANIA: OPERA, GOETZ: GESCHICHTSSCHREIBUNG, S . 3 7 3 ff. und jetzt SCHWEPPENSTETTE: POLITIK) oder der wenig später aktive Pisaner Bernardo Maragone (* ca. 1110, T nach 1186) (zu diesem unten S. 50 ff.). Vgl. allgemein zu den Laienautoren CAMMAROSANO: ITALIA MEDIEVALE, S . 2 9 1 ff., CLASSEN: RES GESTAE, S . 3 9 3 - 3 9 7 u n d z u l e t z t BUSCH: MAILÄNDER GESCHICHTSSCHREIBUNG, S . 4 3 f f .
2 3
Dieser Frage geht für Mailand schon BUSCH: MAILÄNDER GESCHICHTSSCHREIBUNG nach. Vgl. auch hierzu die zeitlich breiter angelegte Habilitationsschrift von BUSCH: MAILÄNDER GESCHICHTSSCHREIBUNG, hier vor allem S . 148 ff., aber auch H Y D E : VIEWS, SOMMERLECHNER: STUPOR MUNDI, S . 66 ff. und die oben S . 22, Anm. 1 ff. zitierte Literatur zur Geschichtsschreibung des 13. und 14. Jahrhunderts
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Einleitung
Formen des Wirtschaftens, der gesellschaftlichen Strukturierung und der politischen Organisation bestimmt, nicht nur durch die sich aus den genannten Faktoren ergebende Herausbildung spezifisch städtischer Mentalitäten. Stadt als kulturelles, soziales und politisches System zeichnet sich vor allem durch eine charakteristische räumliche Organisation dieser Bereiche aus. Eine wichtige Rolle spielt hierbei die Bevölkerungsdichte in der Stadt. Schon die hochmittelalterliche Stadt unterscheidet sich durch die überdurchschnittlich hohe Konzentration von Einwohnern auf kleinstem Raum von nicht-städtischen Siedlungsformen. So sind für Pisa seit dem 11. Jahrhundert nicht nur die später zu den charakteristischsten Merkmalen italienischer Städte gehörenden Wohntürme belegt, die man zumindest teilweise auch auf die räumliche Konkurrenzsituation in der Stadt zurückfuhren kann.1 Auch das Bevölkerungswachstum war hier so hoch, daß schon in der Mitte des 12. Jahrhunderts ein neuer Mauerring angelegt wurde, der mehr als das doppelte des zuvor befestigten Areals umschloß.2 Dieser zunächst rein quantitative Aspekt der hohen Bevölkerungskonzentration in der Stadt wirkt sich jedoch auch auf die Form des Zusammenlebens aus. Zwangsläufig wird die Stadt zu einem Ort des „gesteigerten Gesellschaftslebens" (P. Sander).3 Der intensive innerstädtische Verkehr, die sich hieraus und aus der räumlichen Nähe bzw. Enge ergebende ständige Interaktion der Stadtbewohner bildet die Voraussetzungen für das Entstehen einer städtischen Öffentlichkeit.4 Straßen, Plätze und Kirchenräume der Stadt waren öffentli-
1
Z u d e n W o h n t ü r m e n a l l g e m e i n BORKENSTEIN NEUHAUS: CIVITAS S. 4 8 ff., speziell zu Pisa REDI: PISA COM'ERA, S . 1 7 7 f f .
2
Zur zweiten (kommunalen) Stadtmauer REDI: PISA COM'ERA, S. 139 ff. Am Ende des 13. Jahrhunderts wird die Bevölkerung Pisas auf 35 000 Einwohner geschätzt, vgl. zur Demographie Pisas
3
Für die aktuelle Fragestellung äußerst anregend sind die Ausführungen von P. Sander zu Unterschieden zwischen Stadt und Dorf: SANDER: GESCHICHTE, S. 14-18, die zitierte Passage auf S. 15. Um den Begriff der Öffentlichkeit ist in Auseinandersetzung mit den Thesen J. Habermas' (HABERMAS: STRUKTURWANDEL DER ÖFFENTLICHKEIT) eine Kontroverse entstanden, die auch in der mediävistischen Geschichtswissenschaft geführt wird. Vgl. neben dem Sammelband MELVILLE / Moos: DAS ÖFFENTLICHE, die theoretisch aufschlußreichen - wenn auch auf die Neuzeit ausgerichteten - Ausführungen bei IMHOF: ÖFFENTLICHKEIT. Nicht zuletzt Mediävisten haben sich dabei an den Habermasschen Thesen gestoßen, der für das Mittelalter einzig die Existenz einer repräsentativen Öffentlichkeit' feststellt (HABERMAS: STRUKTURWANDEL, S. 58 ff.). Entsprechende Versuche, auch für das Mittelalter den Begriff der Öffentlichkeit zu reklamieren, etwa von A. Haverkamp
S ALV ATORI : DEMOGRAFIA.
4
(HAVERKAMP: ÖFFENTLICHKEIT, v o r a l l e m S. 2 8 7 ff.) o d e r B. T h u m (THUM: ÖFFENTLICHKEIT) f a n -
den daher in Auseinandersetzung mit Habermas statt. Ohne tiefer in die Dikussion eindringen zu wollen, sei jedoch angemerkt, daß in vielen Beiträgen eine Um- bzw. Fehldeutung des Habermasschen Theorieangebotes vorliegt. Dieser hatte die (bürgerliche) Öffentlichkeit als die „Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute" (HABERMAS: STRUKTURWANDEL, S. 86) verstanden. Dieses Konzept von Öffentlichkeit als eine in bestimmter Weise strukturierte gesellschaftliche Formation wird jedoch in vielen geschichtswissenschaftlichen Beiträgen - sicher in Übereinstimmung mit dem Alltagsverständnis - verräumlicht; aus der gesellschaftlichen Konfiguration wird Öffentlichkeit zu einem in bestimmter Weise gekennzeichneten (Teil-)Raum einer Stadt, eines Hofes etc. Vgl. die Kritik an der Auseinandersetzung mit Habermas bei MAH: PHANTASIES, vor allem S. 156 ff.
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Perspektiven
che Orte des gemeinsamen Lebens und Arbeitens, des informellen Austausches von Informationen, aber eben auch Bühnen der mehr oder weniger dauerhaften Inszenierung und Repräsentation. 1 Die Untersuchung wird zeigen, daß zur Zeit der frühen Pisaner Kommune gerade die städtische Öffentlichkeit zu einem zentralen Raum der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit wurde.
Hier kann es nun nicht um eine Auseinandersetzung mit Habermas und der von ihm ausgehenden Forschungsdebatte gehen. Vielmehr wird in der vorliegenden Arbeit bewußt auch das räumliche Konzept von Öffentlichkeit aufgegriffen, das als Kategorie etwa in der Stadtsoziologie verwendet wird (vgl. LICHTENBERGER: STADT, S . 115 ff., BAHRDT: GROBSTADT, S . 3 0 ff. [in Auseinandersetzung mit Habermas], SENNETT: VERFALL UND ENDE, vor allem S . 15 ff.). Öffentlichkeit' in diesem Sinne ist eng mit der uneingeschränkten Zugänglichkeit verbunden: öffentliche Räume bzw. die Öffentlichkeit sind diejenigen Bereiche einer sozialtopographischen Struktur, zu denen jeder Zugang hatte (so auch G . Melville: ,Geleitwort' in: MELVILLE / Moos: DAS ÖFFENTLICHE, S. I I I - X I , hier S. VII, ähnlich Moos: D A S ÖFFENTLICHE, S. 29, HOFFMANN: ÖFFENTLICHKEIT, S. 71). Entsprechend soll hier Öffentlichkeit als allgemein zugänglicher Bereich der (städtischen) Topographie verstanden werden, der von einer offenen Kommunikationsgemeinschaft genutzt wird (so auch SCHNEIDER: PRESSEFREIHEIT, S . 11 u n d m i t i h m HOFFMANN: ÖFFENTLICHKEIT, S. 7 1 ; v g l . d i e v e r -
gleichbare Bestimmung des Begriffs schon bei BAHRDT: GROBSTADT, S. 8 6 ff). Wie die entsprechenden Räume konkret genutzt wurden, ob sich in ihnen also eine politische Öffentlichkeit im Habermasschen Sinne ausbildete oder in welcher Weise Herrschaftsträger in diesen öffentlichen Raum hineinwirkten, ist für jede historische Situation durch entsprechende Analysen zu klären. Vgl. für den Bereich der hochmittelalterlichen italienischen Stadt zuletzt ZUMHAGEN: KONFLIKTE, S. 80 ff., der die Existenz bzw. Ausbildung einer städtischen politischen Öffentlichkeit herausarbeitet. 1
Hierzu schon
GAI: MEMORIA STORICA,
S. 362 f., GALLETTI:
MOTIVATIONS.
D. Methodisches Vorgehen Zur Beantwortung der umrissenen Fragestellung werden in der Arbeit drei Zugänge verfolgt, die jeweils auf unterschiedliche Aspekte der Erinnerungskultur ausgerichtet sind. In einem ersten Zugang wird nach den Erinnerungsbeständen gefragt, also nach dem, was die verschiedenen überlieferten Repräsentationen thematisierten und so im Gedächtnis der Nachwelt bewahrten. Ein zweiter Zugang untersucht die Deutungen des Erinnerten. Der dritte Zugang richtet sich schließlich auf die Formen, in denen die Vergangenheit in Pisa repräsentiert wurde. Welcher Medien bediente man sich hierbei und in welche kommunikativen Kontexte waren die entsprechenden Zeugnisse eingebunden? Schon diese kurze Skizzierung läßt erkennen, daß man die drei Zugänge eigentlich nicht trennen kann: Was erinnert wird, hängt ebenso davon ab, wie das entsprechende Ereignis, aber auch der Gesamtzusammenhang der Geschichte gedeutet wird, wie andererseits die Deutung der Vergangenheit durch die überlieferten und damit zugänglichen Elemente bestimmt ist. Gleiches gilt natürlich für die Form der Darstellung und Präsentation von Vergangenheit. Dennoch werden in den folgenden Kapiteln Schwerpunkte gesetzt. Im Zentrum des ersten Abschnitts {Die frühe kommunale Geschichtsschreibung) steht die handschriftliche Geschichtsschreibung. Hier wird zunächst gefragt, was in den überlieferten Texten thematisiert und damit erinnert wird (Kapitel Erinnerungsbestände), um in einem zweiten Teilkapitel die Deutungsebene zu untersuchen (Kapitel Deutungen des Erinnerten). Der zweite Abschnitt (Geschichte im Stadtraum - Die Stadt als Erinnerungsraum) widmet sich dann einem zentralen Aspekt der Darstellung und Präsentation von Vergangenheit im kommunalen Pisa, den öffentlichen Fo rmen der Erinnerungsstiftung im Stadtraum. Im Mittelpunkt der einzelnen Kapitel wird jeweils eine Quellengruppe stehen, die für die einzelnen Zugänge besonders günstige Bedingungen bietet. Die Frage nach den Erinnerungsbeständen wird sich vor allem auf die annalistischen Texte konzentrieren, da diese bei aller Kargheit der Einträge die städtische Geschichte im zeitlichen Überblick darstellen und somit am besten die Auswahlkriterien ihrer Autoren erkennen lassen. Doch werden im Anschluß an die Untersuchung der Annalistik auch die weiteren Zeugnisse der Pisaner Erinnerungskultur mit einbezogen. Die Deutungen der Vergangenheit werden am Beispiel der beiden großen Pisaner Geschichtsdichtungen der frühkommunalen Zeit untersucht. Diese bieten anspruchsvolle geschichtstheologische Deutungen zweier zeitgeschichtlicher Ereignisse und sind daher im Zusammenhang zu interpretieren. Die entsprechenden Analysen der übrigen Texte wurden aus darstellungstechnischen Gründen in den jeweiligen Unterkapiteln vorgenommen. Im Mittelpunkt des zweiten Abschnitts stehen schließlich die Formen der Erinnerungsstiftung im Stadtraum. Untersucht werden hier in erster Linie die inschriftlichen Zeugnisse, aber auch nicht-sprachliche Formen wie Trophäen und Spolien.
Methodisches
Vorgehen
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Zum Stilus Pisanus
Eine letzte Bemerkung zu den Datierungen: Fast alle im folgenden untersuchten Quellen bedienen sich zur Datierung des Pisaner Datierungsstils (stilus Pisanus). Im mittelalterlichen Pisa begann das Kalenderjahr nicht mit dem 25. Dezember (Nativitätsstil) oder - wie heute üblich - dem 1. Januar (Circumcisionsstil, im folgenden: stilus communis), sondern mit dem 25. März vor dem heute üblichen Jahreswechsel, so daß die Pisaner Jahreszählung vom 25. März bis zum 31. Dezember der heutigen Zeitrechnung stets um eine Einheit voraus war. 1 Da eine Umrechnung des Stilus Pisanus in den heute üblichen Stilus communis nur bei feststehendem Tagesdatum möglich ist, wird in den Fällen, in denen ein solches fehlt, keine Umrechnung vorgenommen. Das entsprechende Datum im Pisaner Datierungsstil wird in diesen Fällen immer durch ein nachgestelltes ,st. pis.' gekennzeichnet.
1
Detailliert zum Stilus Pisanus unten S. 178 f.
Erster Abschnitt: Die frühe kommunale Geschichtsschreibung
I. Erinnerungsbestände Erinnern und Vergessen: Diese beiden gegensätzlichen Prozesse bringen das Geschichtsbild einer Kultur hervor. 1 Zwar bestimmt die Deutung des Erinnerten wesentlich das Bild von der Vergangenheit, wie es der einzelne entwirft, wie es aber auch als konsensualer Kern von mehr oder weniger großen Teilen einer Gesellschaft geteilt wird. Auf dem Weg der Analyse ist aber die Frage nach den Beständen des Erinnerten der erste Schritt. 2 Was wird in den einzelnen Texten und dann auch in der Gesamtheit der Formen, also in dem, was hier Erinnerungskultur genannt wird, erinnert? Was wird nicht erinnert? 3 Die folgenden Untersuchungen richten sich so zunächst weniger auf die Deutungen der einzelnen Ereignisse, sondern bleiben an der Oberfläche. Es wird verglichen, was die einzelnen Texte aus der Vergangenheit der Stadt thematisieren, und so ermittelt, was die Pisaner Autoren für würdig bzw. wichtig genug hielten, um erinnert und damit dem Vergessen entzogen zu werden. Die Bestimmung dessen, was erinnerungswürdig ist oder gar ,die Geschichte' ausmacht, hat dabei eine zeitlich-diachrone und eine synchrone, eine räumliche und thematische Dimension: 4 Wie weit steigen die Pisaner Autoren von der eigenen Gegenwart in die Vergangenheit zurück (wie weit können sie zurücksteigen); welchen geographischen Bereich halten sie für so bedeutend, daß sie ihn zur Kenntnis nehmen und darüber berichten (über welchen können sie berichten); welchen Aspekten der eigenen Gegen1 2
Differenziert zum Begriff des Geschichtsbildes GOETZ: GESCHICHTSSCHREIBUNG, S. 15 ff. Vgl. zum Selektionsprinzip als wesentlicher Bestimmung des Geschichtsbildes schon LAMMERS: GESCHICHTSDENKEN, S . X V I f . , z u l e t z t GOETZ: KONSTRUKTION DER VERGANGENHEIT, S . 2 3 4 ff. In
3
den Kontext der mittelalterlichen historiographischen Praxis ordnet dies MELVILLE: SYSTEM, hier vor allem S. 312 ff. ein. Einen ersten Versuch, sich dem Problem sogenannter ,geschichtsloser Zeiten' zu widmen, also durch die Analyse der Überlieferung das nicht Überlieferte in den Blick zu nehmen unternimmt KERSKEN: GESCHICHTSLOSE ZEITEN. Ausführlich zu den Funktion der Nicht-Erinnerung bzw. des V e r g e s s e n s MEIER: ERINNERN, WEINRICH: LETHE, HAVERKAMP / LACHMANN: MEMORIA u n d j e t z t d i e B e i t r ä g e i n BUTZER / GÜNTER: KULTURELLES VERGESSEN.
4
V g l . g r u n d s ä t z l i c h SCHMALE: FUNKTIONEN, S . 1 2 4 f f .
42
Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
wart billigen sie eine historische Dimension zu, indem sie ihre Vorgeschichte thematisieren, sie in der Erinnerung bewahren und dem Gedächtnis anvertrauen? Schon die Bestimmung dieser Grenzen, die die erinnerte von der vergessenen Vergangenheit trennen, führt - so wird sich zeigen - mitten hinein in das Geschichtsbild einer Kultur. Am Anfang der Untersuchung stehen die annalistischen Texten des 11. und frühen 12. Jahrhunderts. Diese Texte gehören zu den ältesten nachweisbaren Formen einer Beschäftigung mit der Vergangenheit in Pisa. Sie sind daneben aber auch die einzigen Texte, die so etwas wie ein Gesamtbild der Geschichte der Stadt bieten, indem sie von den ältesten erinnerten Ereignissen bis in ihre eigenen Gegenwart eine Kette von Daten liefern. Methodisch wird die Untersuchung wie auch in den folgenden Kapiteln immer beim einzelnen Zeugnis ansetzen. Grundlage für die sinnvolle Interpretation der Einzeltexte, erst recht aber für den Versuch, zu einem Gesamtbild zu gelangen, ist die Untersuchung der Entstehung dieser Texte: Wann und in welchem funktionalen und sozialen Zusammenhang sind sie entstanden? Erst wenn diese grundlegenden Fragen geklärt sind, kann man sich der weiteren Analyse der Texte zuwenden.
A . D i e Pisaner Annalistik Die Pisaner Annalen des 11. und frühen 12. Jahrhunderts haben in der bisherigen Forschung nicht die Aufmerksamkeit erfahren, die ihnen als den zentralen Quellen für die frühe Geschichte der Stadt, aber auch für die Erinnerungskultur der Pisaner zukommt. 1 Es haben sich drei annalistische Texte bzw. Texttraditionen erhalten. Einen ersten Text hat Michele Lupo Gentile unter dem Titel Chronicon Pisanum seu fragmentum auctoris incerti (im folgenden kurz: Chronicon Pisanum) publiziert. 3 Auf der Basis einer Handschrift in der Biblioteca Governativa di Cremona edierte F. Novati die sogenannten Annales Pisani Antiquissimi (im folgenden kurz Annales Antiquissimi).4 Schließlich 1
2
Eine eigenständige Würdigung erfuhren die Pisaner Annalen, obwohl sie doch immer als Quellen für die Geschichte der Stadt im 11. Jahrhundert herangezogen wurden, eigentlich nur bei FISHER: PISAN CLERGY, S . 1 5 1 ff. Der ältere Aufsatz von SCHEFFER-BOICHORST: ANNALISTIK geht ebenso wie die Einleitung zur Ed. Gentile (RIS2 6.2, S. 83 f.) ausschließlich - und auch nur kurc: - auf die Überlieferung der Texte ein. Nicht in die Untersuchung werden die von Karl Pertz herausgegebenen Notae Pisanae einbezogen (MGH SS XIX, S. 266). Diese bieten Informationen zu Kämpfen zwischen Pisa und Lucca (ad Ann. 1128), zu einer Episode des 2. Kreuzzugs (ad Ann. 1148) und schließlich zu Kämpfen der Genueser in Spanien (ad Ann. 1154). Der von Pertz edierte Text ist in der Pariser Handschrift der Annales Pisani des Bernardo Maragone enthalten (vgl. zu dieser unten S. 50, Anm. 3). Wahrscheinlich handelt es sich bei diesen Notizen um Teile eines heute verlorenen annalistischen Werkes, das aber vermutlich erst nach der Jahrhundertmitte entstanden ist (das letzte Ereignis, in den Notae 1154 datiert, wird von den Annales Ianuenses allerdings auf 1146 datiert, vgl. Caffaro: Annales Ianuenses, S. 34 f.).
3
Chronicon Pisanum seu fragmentum auctoris incerti. Ed. Gentile in RIS2 6.2, S. 99-103.
4
NOVATI:
Nuovo TESTO.
43
Erinnerungsbestände
haben sich an der Fassade des Pisaner Doms inschriftliche Annalen erhalten. 1 Allen diesen Texten ist gemeinsam, daß sie - beginnend mit der Wende vom 10. zum 11. Jahrhundert - die Geschichte der Pisaner Stadtgemeinschaft in chronologischer Reihung darstellen. 1. Die Überlieferung Die unbefriedigende Erforschung der Pisaner Annalistik des 11. und frühen 12. Jahrhunderts zeigt sich vor allem darin, daß ganz grundlegende Fragen bisher nicht behandelt worden sind. Weder ist bekannt, wer die Texte verfaßt und bearbeitet hat, noch wann und wie sie entstanden sind. Gerade die Rekonstruktion der Textgeschichte der Pisaner Annalen ist im Zusammenhang der hier verfolgten Fragestellung jedoch nicht nur mit Blick auf die übliche Quellenkritik notwendig. Eine solche Untersuchung ermöglicht wichtige Einsichten in die Praxis historiographischer Produktion und damit erste Erkenntnisse über den Umgang mit der Vergangenheit im hochmittelalterlichen Pisa. a. Das Chronicon Pisanum Das Chronicon Pisanum ist in drei Versionen überliefert, die alle auf eine gemeinsame Vorlage zurückgehen. Da sich die drei Versionen nicht nur sprachlich leicht unterscheiden, sondern auch unterschiedliche Berichtszeiträume abdecken, soll hier zunächst die Beziehung der einzelnen Versionen zueinander bestimmt werden. Hierdurch werden Einblicke in die Textgeschichte des Chronicons und damit auch in die frühe annalistische Produktion in Pisa insgesamt gewonnen. Um das Verständnis der folgenden Ausfuhrungen zu erleichtern, sei an dieser Stelle die älteste erhaltene Fassung des Chronicons, überliefert im Codex Lucca (L), in einer diplomatischen Abschrift abgedruckt:
1
BANTI: M O N U M E N T A , N r . 4 7 , S . 4 4
ff.
44
Die frühe kommunale Geschichtsschreibung „Anni d(omi)ni dclxxxviii.
Pipinus senior regnare c?pit.
dccxvi.
Carulus filius Pipini regnare csep(it).
dccxli. dccxlvi. dcclxviiii.
Carolo defuncto. carul(us) et pipin(us) regnare cep(er)unt insirn(u)l. Carolu(s) magn(us) roma(m) p(er)rexit. Pipin(us) rex defunct(us). viii. k(alendas) oct(o)b(ris).
dcclxxi. dcccx.
Carolu(s) magn(us) defunct(us) e(st) .ii. k(alendas) dec(em)b(iis). Pipin(us) rex italie defunct(us) e(st).
dcccxiii.
v. k(alendas) feb(ruarii). Carol(us) imp(er)ator defunct(us). lodogicus filius regnare c?pit. Lotharius imp(er)ator. o(biit). iiii. k(alendas) oct(o)b(ris). Lodogic(us) imp(er)ator int(ra)uit in regionem beneuentina(m). Exier(unt) agareni de bari p(er) franco(s). iii non(as) feb(ruarii). Lodogic(us) imp(er)ator romanor(um) filiu(s) Lotharii i(m)p(er)atori(s) .o(biit). Greci de beneuento p(er) francos exier(unt). Exier(unt) saraceni de gariliano. Int(ra)uer(unt) ungari in italia(m) m(en)se febr(uari)o. Dep(re)data e(st) apulia a gente grecor(um) .v. k(alendas) mar(tii). Int(ra)uer(unt) ungari in capua(m). Eglipsi sol(is) facta e(st). xiiii k(alendas) aug(usti). vi. f(e)r(ia) in vi. hor(a) diei usq(ue) in ultima parte terr?. Beringariu(s) cu(m) alb(er)to filio suo regnare cepit. Fuer(unt) pisani in calabria. Octo magn(us) i(m)p(er)ator o(biit) Octo s(e)c(un)d(u)s o(biit). Vgo marchio de tuscia. o(biit). Octo t(er)tius. o(biit). Fecer(unt) bellu(m) pisani cu(m) lucensib(us) in aq(u)a longa et uicer(unt) illos. Fuit capta pisa a saracenis. Fecer(unt) pisani bellu(m) cu(m) saracenis ad regium. et gra(tia) d(e)i uicer(unt) illos in die s(ancti) sixti. Stolus de ispania uenit pisa(m). et destrux(it) ea(m). Fecer(unt) pisani (et) genuenses bellu(m) cu(m) mugieto et uicerunt illu(m). Fuit reuersus mugiet(us) in sardinea(m) et cep(it) ibi ciuitate(m) aedificare atq(ue) ho(m)i(n)es uiuos in cruce murare. et t(un)c pisani et genuenses illuc uenere. et ille p(ro)pt(er) pauore(m) eor(um) fugit in africa(m) pisani u(ero) (et) genuenses reuersi sunt turrim in q(uo) loco t(un)c insurrexer(unt) genuenses in pisanos. et pisani uicer(unt) illos. Obsedit enrig(us) imp(er)ator troiam.
dccclv. dccclxvii. dccclxxi. dccclxxv. dccclxxxv. dccccxvii. dccccxxii. dccccxxxvi. dccccxxxvii. dccccxxxviiii. dccccli. dcccclxviiii. dcccclxxii. dcccclxxxiiii. mi. mii. miiii. mv. mvi. mxii. mxvi. mxvii.
mxxii.
45
Erinnerungsbestände mxxnii.
Enrig(us) imp(er)ator o(biit).
mxxviii.
Cunradus c^p(it) regnare in italiam .
mxxx.
In nativitate d(omi)ni pisa exusta est
mxxxv.
Pisani fecer(unt) stolu(m) in africa ad ciuitate(m) bonam gra(tia) d(e)i uicer(unt) illa(m).
mliiii.
Bonefacius marchio o(biit) ii non(as) ma(di)i.
mlv.
Fuit bellu(m) int(er) pisanos et lucenses ad uacule. pisani u(ero) uicer(unt) illos.
mlxv.
Pisani fuer(unt) panorma(m) gra(tia) d(e)i uicer(unt) illos in die s(ancti) agapiti.
mlxvi.
Vener(unt) genuenses cu(m) stolo ad fauces ami.
mlxx.
Gottefredus dux et marchio o(biit).
mlxxii.
Iuerunt pisani ad portum dalfini. et fuer(unt) in g(raui) p(er)icolo iudicio d(e)i non ho(min)is. Comitissa beatrix .o(biit). xiiii. k(alendas) ma(di)i Genuensis stolus usq(ue) ad fauces arni occulte deuenit t(un)c strenui pisani concite in eos surrexer(unt) (et) fugauer(unt) illos usq(ue) ad uenere(m) portu(m). Hoc factu(m) e(st) in die s(an)c(t)i cassiani
mlxxvii. mlxxviii.
mlxxviiii.
Genuensis p(o)p(u)l(u)s p(er) latrociniu(m) ad uadense castru(m) deuenit. t(un)c pisani manifeste ad rapallu(m) uirilit(er)q(ue) p(er)rexer(unt). (et) castru(m) igne succender(unt). (et) plurimos eor(um) gladio int(er)fecer(unt). uiros ac mulieres manib(us) post tergu(m) ligatis captiuos tripudiant(ur) p(er)duxer(unt). t(un)c pisani hoc triu(m)pho reuertentib(us) genuensib(us) obuiati sunt, (et) pene usq(ue) domos eor(um) fortit(er) illos infugauer(unt) hoc fuit t(er)cio id(os) madii.
mlxxxvi.
Valida fames maxima mortalitas fuit fere p(er) tota(m) italia(m). Vendebat(ur) enim sextariu(m) tritici sol(idos) .v. Fecer(unt) pisani et genuenses stolu(m) in africa. (et) cep(er)unt duas munitissimas ciuitates almadiam. et sibilia(m) in die s(an)c(t)i sixti. in q(uo) bello vgo uicecomes filius ugonis uicecomitis mortuus e(st). Ex q(ui)b(us) civitatib(us) saracenis fere om(n)ib(us) int(er)fectis. maxima(m) p(re)da(m) auri. argenti. pallior(um) et eram(en)tor(um) abstraxer(unt). De q(u)a p(re)da thesauros pisane eccl(esi)e in diuersis ornam(en)tis mirabilit(er) amplificauer(unt). et eccl(esi)am beati sixti in curte uet(er)i edificauer(ant). Concremata e(st) pene tota kinthica vi non(as) iulii. (et) stolus pisan(us) in ier(usa)l(e)m iuit cu(m) nauib(us) cxx. De q(u)o stolo daib(er)t(us) ei(us)d(em) aeccl(esi)e archiep(iscopu)s fuit ductor et d(omi)n(u)s. q(ui) t(un)c t(em)p(o)ris in ier(usa)l(e)m pat(ri)archa remansit.
mlxxxviiii.
mc.
Jer(usa)l(e)m a (christ)ianis capta (est), xviii. k(alendas) aug(usti)"
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Die frühe kommunale Geschichtsschreibung
Der Codex Lucca (L) Das älteste Textzeugnis des Chronicon Pisanum findet sich im Codex 618 der Biblioteca Capitolare in Lucca. 1 Die Fassung, die den Zeitraum bis einschließlich 1100 st. pis. abdeckt, steht hier auf einer Lage aus zwei Doppelblättern, die einer Handschrift des Martyrologiums des Ado von Vienne vorgebunden wurde. 2 Anhand eines Besitzvermerkes kann die Handschrift eindeutig als Luccheser Handschrift identifiziert werden, sie gehört also nicht zu den vielen Pisaner Handschriften, die in späterer Zeit in andere toskanische Bibliotheken gelangten. 3 Im Falle der Luccheser Fassung bietet der handschriftliche Befund erste Datierungshinweise. Die bisher einzige Analyse des Überlieferungszusammenhanges nahm Craig B. Fisher vor. 4 Über die Analyse der gesamten Handschrift kommt er zu ersten Ergebnissen, die hier kurz diskutiert werden sollen. Der Grundstock der heute vorliegenden Handschrift ist nach Fisher das Maityrologium des Ado von Vienne gewesen, dessen Abschrift er ins 11. Jahrhundert datiert.5 In dieses Martyrologium habe man an den Rand Necrolog-Notizen eingetragen, die dann
1
2
ACL, Biblioteca Feiiniana, pluteo V I I I , cod. 618. Allgemein zur Handschrift: HARTWIG: QUELLEN, Bd. II, S. 48-51 Anm. 1 (mit Edition der annalistischen Texte), Ed. Gentile, S. 83 f., FISHER: PISAN CLERGY, S. 1 6 0 f., zuletzt SAVIGNI: EPISCOPATO, S . 4 7 5 - 4 9 0 (mit Edition des Necrologs). Das Chronicon Pisanum findet sich auf fol. 2v. Zusätzlich stehen auf dieser Lage neben dem Besitzvermerk der Bibliothek des Luccheser Domkapitels (vgl. unten S. 46, Anm. 3), eine Herrscherliste (fol. 2r - ediert von HARTWIG: QUELLEN, Bd. II, S. 48) und schließlich annalistische Aufzeichnungen aus Lucca, die bis 1178 reichen, aber sicher von einer deutlich späteren Hand stammen (fol. 3r-4r). Zu erwähnen ist schließlich auch die später ausgelöschte Abschrift der Grabinschrift des Gegenpapstes Viktor IV., die ebenfalls von späterer Hand stammt (fol. 2r). Der Rest der Handschrift enthält folgende Texte (genannt wird immer die Seite, auf der die einzelnen Texte beginnen): 5r: Ado von Vienne: Martyrologium·, 86r: Passio Sancti Iacobi intercisi; 88v: Hieronymus: Vita des Paulus von Theben; 91v: Vita des Hl.Augustinus; 96v: Hieronymus: Vita Sanctae Paulae; 105v: Odo Fossatensis: Vita S. Mauri; 117r: Kalendarium in Versen; 121v: Brießvechsel des Hieronymus mit Chromatius und Heliodor; 139v: Necrolog des Luccheser Domstifts; 151v152r: Notiz über eine Schenkung an die Kanoniker, Abschriften von Urkunden Papst Alexanders II.
3
Fol. 2r: „Iste liber est beati Martini Lucensis episcopati. „ Es ist jedoch denkbar, daß die beiden älteren Texte des Doppelblattes, die Herrscherliste auf fol. 2r und die Fassung des Chronicon Pisanum in Pisa geschrieben wurden und dann nach Lucca gelangten, wo sie der Handschrift des Domkapitels vorgebunden wurden. Da es an paläographischen Untersuchungen zu Pisaner Handschriften fehlt, kann dies jedoch nicht belegt werden. Der Rest der Handschrift ist sicher in Lucca entstanden. Dies ergibt sich aus den Necrolog-Einträgen des Ado-Martyrologiuras. Unter dem 21. April findet sich etwa der folgende auf Alexander II. (Anselm von Baggio, seit 1056 Bischof von Lucca) bezogene Eintrag (fol. 23r): „dominus Alexander papa et huius ecclesie episcopus obiit." Vgl. SAVIGNY: EPISCOPATO, S . 480, Anm. 8.
4
FISHER: PISAN CLERGY, S . 1 6 0 f.
5
Das Martyrologium in der Handschrift auf fol. 5r-86r. Schon S. Bongi datiert die Schrift des Martyrologiums ins 10. oder 11. Jahrhundert, dessen Bericht abgedruckt bei HARTWIG: QUELLEN, Bd. II, S. 48, Anm. 1.
Erinnerungsbestände
47
später in ein selbständiges Necrologium übertragen worden seien. 1 Da die Einträge der Todesdaten Luccheser Bischöfe bis Rangerius (1098-1112) von einer Hand vorgenommen worden seien, das auf Bischof Rudolfiis (1112-1118) bezogene Datum hingegen schon von einer anderen, könne man schließen, daß das Necrolog zwischen 1112 und 1118 begonnen und später von anderer Hand ergänzt wurde. 2 Dieses Necrolog sei schließlich von Beginn an Teil der Handschrift gewesen. Schon hier wird man jedoch der Argumentation Fishers nicht mehr folgen können. So ist festzustellen, daß in beiden Texten, also dem Martyrologium des Ado und dem jüngeren selbstständigen Necrolog ein datierbarer Eintrag aus der Zeit nach 1118 enthalten ist.3 Offenbar ist der ältere Text nach der Anlage des selbstständigen Necrologs weiterhin benutzt worden. Eben dies wäre jedoch sehr unwahrscheinlich, wenn beide Texte zu diesem Zeitpunkt schon in einem Band vereint gewesen wären. Man wird also schon die Vorstellung Fishers, die heutige Handschrift sei zwischen 1112 und 1118 durch Zusammenbindung unterschiedlicher Teile entstanden, zurückweisen müssen. Jeder Grundlage entbehrt eine weitergehende Schlußfolgerung Fishers. Seiner Meinung nach ist die hier interessierende Version des Chronicon Pisanum nach der Anlage des selbstständigen Necrologs, also nach 1112 bzw. 1118 in die heutige Handschrift aufgenommen worden. 4 Hierfür bleibt er jedoch jeden Beleg schuldig. 5 Angesichts der handschriftlichen Befunde muß man feststellen, daß es keine Hinweise darauf gibt, daß die erste Lage, die das Chronicon Pisanum enthält, in irgendeinem ursprünglichen Zusammenhang mit den der Handschrift am Ende zugefugten Teilen steht, etwa auch dem selbständigen Necrolog. 6 Für die Suche nach Datierungshinweisen ist der Rest der Handschrift also unerheblich. Nachdem so der Versuch Fishers, über eine Analyse der gesamten Luccheser Handschrift zu einem Datierungshinweis zu kommen, als gescheitert angesehen werden muß, wird man sich auf den Teil der Handschrift konzentrieren müssen, der die Fassung des Chronicons enthält. Das Doppelblatt mit der Version des Chronicon Pisanum enthält zusätzlich eine Herrscherliste und auf Lucca bezogenen annalistische Notizen. Schon aus paläographischen Gründen müssen die Einträge zur Luccheser Geschichte auf fol. 3r-4r als spätere Hinzuftigungen betrachtet werden. 7 Sie bilden zwar zeitlich den An1
In der Handschrift auf fol. 139v-151r. Dieses Necrologium ist publiziert bei S. 475-490.
SAVIGNI: EPISCOPATO,
2
FISHER: PISAN CLERGY, S . 1 6 0 , A n m . 6 2 .
3
Beide verzeichnen unter dem 3. September den Tod des Bischofs Gilbert von Poitiers: „Obiit sancte memorie magister Gislibertus Pictaviensis episcopus qui pro anime sue remedio librum S. Ylarii de Trinitate ecclesie b. Martini donavit (SAVIGNY: EPISCOPATO, S. 4 8 6 ) . Dieser starb im Jahre 1 1 5 4 (COURTH: GILBERT), der Eintrag muß also nach diesem Datum erfolgt sein.
4
FISHER: PISAN CLERGY, S . 1 6 0 .
5
Man wird diese Behauptung wohl in den Zusammenhang von Fishers Bestreben einordnen können, nahezu die Gesamtheit der Pisaner Texte in die Zeit um 1120 zu datieren (vgl. oben S. 17, Anm. 4). So auch SANDMANN: HERRSCHERVERZEICHNISSE, S. 63. Sie umfassen die Jahre 1 1 0 5 - 1 1 6 9 . Die Editionen bei HARTWIG: QUELLEN, B d . I I , S. 5 1 und Ed. Gentile, S. 102, Anm. 6 (Teile) sind irreführend, da sie den Eindruck einer fortlaufenden Chronolo-
6 7
48
Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
schluß an die aus Pisa stammenden Annalen, sind aber keinesfalls als direkte Fortführung derselben zu verstehen. 1 Ein terminus post quem für die Niederschrift läßt sich aus d e m Berichtszeitraum der anderen beiden Texte des Doppelblattes gewinnen. Die Version des Chronicon Pisanum auf fol. 2v endet mit 1100 st. pis. 2 D i e s e m geht auf fol. 2r eine Herrscherliste voraus, die entsprechend sicherlich den ältesten Bestandteil des Doppelblattes bildete. 3 D e s s e n Text führt jedoch in die Zeit nach 1100. Letzter Eintrag in dieser Liste ist eine Nachricht zu Heinrich I V . 4 : "Enrig(us)
fllius
ei(us) p(r)imo
ann(i). mlvi. Reg(nauit)
ann(os).
A u s der Formulierung regnavit
anno sui regni.
erant ab incarnat(ione)
a'(omi)ni .
Iii. "5 und den entsprechenden Regierungsjahren kann man
schließen, daß Heinrich IV. zum Zeitpunkt der Anlage der Liste und damit bei der N i e derschrift des Textes schon tot war. 6 Die Herrscherliste muß also zwangsläufig nach dem Tod des Kaiser im Jahr 1106 geschrieben und auf das Doppelblatt kopiert worden sein. Entsprechend ist auch die auf diese Liste folgende Fassung des Chronicon Pisanum nach 1106 niedergeschrieben bzw. kopiert worden. Leider fehlt die Möglichkeit,
1
2
3
4
5
6
gie der Einträge vermitteln. In der Handschrift folgen die Einträge folgendermaßen aufeinander: fol. 3v: Nachrichten zu 1160, 1169, 1178; fol. 4r: Nachrichten zu 1104, 1105, 1144, 1150 (Gentile und Hartwig: 1140) und schließlich 1159. So jedoch etwa HARTWIG: QUELLEN, Bd. II, S. 48. Ed. Gentile S. 102, Anm. zu Z. 6 will hier gar die gleiche Schreiberhand am Werk sehen. FISHER: PISAN CLERGY, S . 161 vermutet, daß das Chronicon Pisanum in der Luccheser Version nur ein Auszug aus einem umfangreicheren Werk war. Vgl. dazu unten S. 56, Anm. 7. Diese Herrscherliste ist unzulänglich publiziert bei HARTWIG: QUELLEN, Bd. II, S. 4 8 . Es handelt sich um eine knappe Zusammenstellung italienischer Könige bzw. Kaiser von Karl d.Gr. bis zu Heinrich IV. Diese Liste steht in enger Beziehung zu einer Fortsetzung der Chronik des Isidor von Sevilla, die in einer Pisaner Handschrift überliefert ist (Kompilation des Guido, heute in Brüssel, vgl. unten S. 9 2 ff.). Diese Fortsetzung ist abgedruckt bei REIFFENBERG: GUIDONIS LIBER, S. 3 2 4 - 2 8 und in MGH SS V, 6 4 f. Vermutlich beziehen sich die angegebenen 52 Jahre der Herrschaft Heinrichs IV. auf das Datum seiner Krönung durch Hermann von Köln am 17.Juli 1054. Zum Zeitpunkt seines Todes (7.August 1106) hatte Heinrich tatsächlich 52 Jahre regiert. In der Herrscherliste folgt der Eintrag direkt auf den zu Konrad II. Daß es sich hierbei jedoch nicht um Heinrich III. handelt, machen schon die Daten deutlich. Ein Vergleich mit dem oben S. 48, Anm. 3 erwähnten Paralleltext in der Brüsseler Handschrift des Guido zeigt, daß der Kopist offenbar einen Eintrag vergessen hat. Hier heißt es: „Anno dominicae inc. 1047. ind. 15. Henrigus imperator regnare cepit in Italia, et regnavit a. 9; in 10° obiit. Anno dominicae inc. 1056. ind.9. Henrigus imperator, fllius Henrici, cepit regnare in Italia, et regnavit annos 51; in 52° obiit, anno dominicae inc. 1108, ind.15" (Guidonis Chronica, MGH SS V, S. 65). Offenbar hat der Verfasser dieser Herrscherliste hier einiges durcheinander gebracht. ACL 6 1 8 , fol. 2r. Die Transkription S . Bongis (abgedruckt bei HARTWIG: QUELLEN, Bd. II, 4 8 f., Anm. 1, hier S. 49) liest statt ,LIF ,11'. Daß die Angaben der Herrscherliste nicht korrekt sind, kann hier zunächst außer Acht gelassen werden.
Erinnerungsbestände
49
einen terminus ante quem für die Abschrift des Pisaner Textes zu fixieren, wenn man nicht das Fehlen späterer Nachrichten aus Pisa in der Fassung des Chronicon als Argument gelten lassen will. Dies wird aber weiter unten noch zu diskutieren sein. 1 Der Codex Florenz (F) Eine weitere Fassung des Chronicon Pisanum findet sich in einer Handschrift der Biblioteca Laurentiana in Florenz. 2 Diese vergleichsweise prächtig ausgestattete Handschrift des 13. oder beginnenden 14. Jahrhunderts enthält eine ganze Reihe von Pisaner Texten des 12. Jahrhunderts.3 Neben dem Liber Maiorichinus finden sich hier die Gesta triumphalia per Pisanos facta und auch eine Version des Chronicon Pisanum. 4 Aus paläographischen Gründen kann man die Fassung des Chronicons als eine spätere Zutat zur Handschrift ansehen. Im Gegensatz zu den beiden größeren Texten, die in einer sorgfaltigen gotischen Textura ausgeführt sind, ist der Text des Chronicons in Kursive geschrieben. 5 Der Schreiber der Handschrift hat den Text in drei Blöcke eingeteilt. Diese umfassen folgende Zeiträume: Block 1: 688-1016, Block 2: 1017-1080, Block 3: 1086-1099 (1100 6 ), Block 4: 1101-1138 7 (alle st. pis.). Die Vermutung liegt nahe, daß diese Gliederung des Textes einen Befund der Vorlage bzw. der Vorlagen wiedergibt, die der Schreiber übernahm. Aus dem Berichtszeitraum der im Codex Florenz überlieferten Fassung des Chronicons (688-1138 st. pis.) folgt, daß die entsprechende Vorlage nach 1138 st. pis. entstanden ist. Die Handschrift stammt sicher aus Pisa und ist dort auch bis ins 16. Jahrhundert aufbewahrt worden. 8
2 3
Anhand des paläographischen Befundes kann man nur sehr schwer zu einer Datierung der Niederschrift kommen, da ein solcher Versuch die Untersuchung der übrigen zum in Frage kommenden Zeitpunkt in Lucca (oder Pisa) entstandenen Handschriften voraussetzte. Biblioteca Medicea Laurentiana, Ms. Rediano 202. Beschreibungen der Handschrift in der Edition Gentile, Chronicon Pisanum, S. 80 f., Liber Maiorichinus,
4 5 6
7 8
S. X X X I - X X X V , SCALIA: INTORNO AI CODICI, S. 2 5 8 f f .
Der Text des Chronicon auf fol. 49r/v. Die Abbildung einer Seite des Liber Maiorichinus bei Liber Maiorichinus, Tav.III. Aufgrund eines Irrtums ist in diesem Block die Reihenfolge der Einträge durcheinander geraten: der Eintrag zur Teilnahme der Pisaner am ersten Kreuzzug (1099 st. pis. ) folgt auf den zur Eroberung Jerusalems (1100 st. pis.). Der Eintrag ist zwar mit, 1136' eingeleitet, der entsprechende Bericht reicht jedoch bis 1138. Die gesamte Handschrift kann als Beleg für die Rezeption der Texte des frühen 12. Jahrhunderts in späterer Zeit angesehen werden. Darauf deuten die vielen Kommentare und Randnotizen hin, die das Interesse eines Pisaner Lesers verraten. So markiert eine Hand des 16.Jahrhunderts im Liber Maiorichinus Stellen, die sich auf die Geschichte Pisaner Familien beziehen lassen. Calisse vermutet, daß die Handschrift Rediano mit derjenigen identisch ist, die der Pisaner Viviani (1581-1641) Ferdinando Ughelli für seine Edition Pisaner Texte zur Verfügung stellte (Liber Maiorichinus, S. XXV ff. und XXXIII ff.). Damit wäre deren Benutzung in Pisa auch für die spätere Zeit belegt. Gegen die Identifizierung jedoch demnächst G. Scalia in seiner angekündigten Neuedition des Liber Maiorichinus, in der er dem ,Codex Viviani', auf den die Ughelli-Edition zurückgeht, große Bedeutung zumißt.
50
Die frühe kommunale
Die Annales Pisani des Bernardo Maragone
Geschichtsschreibung
(M)
Drittes Textzeugnis des Chronicon Pisanum sind die in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts entstandenen Annales
Pisani
des Bernardo Maragone. 1 Dieser hat für die
Frühzeit Pisas auf eine Reihe älterer Texte zurückgegriffen, darunter auch auf das Chronicon Pisanum, das er komplett übernommen hat. Im weiteren interessiert hier nur die lateinische Version des Maragone-Textes, 2 die in einer Handschrift der Bibliotheque de l'Arsenal in Paris überliefert ist. 3 In dieser ist der ältere Teil des Werks, der das Chronicon enthält, durch einen Seitenwechsel und eine folgende (nicht ausgeführte) Initiale v o n den folgenden Teilen abgesetzt. 4 Paläographisch läßt sich die Pariser Hand-
1 2
3
4
Vgl. zu diesem CECCARELLI LEMUT: BERNARDO MARAGONE. Die Annalen des Bernardo Maragone sind in zwei Fassungen überliefert. Neben einer VolgareVersion, die jedoch den Anfang des Werkes nicht komplett überliefert (sie beginnt mit 1016), wird im folgenden vor allem auf die lateinische Version zurückgegriffen (zu den Versionen C'ECCARELLI LEMUT: BERNARDO MARAGONE, S. 189 ff.). Die von Ceccarelli Lemut formulierte Vorstellung vom Verhältnis der beiden Fassungen kann hier jedoch nicht geteilt werden. Diese sieht - hierbei eine These der älteren Forschung (Bötteghi) aufgreifend - die italienische Fassung des Textss, überliefert in einer Handschrift der Sammlung Roncioni, als die dem ,Original' Bernardo Maiagones näherstehende an (die Handschrift ist heute aufgeteilt zwischen dem Archivio Capitolare di Pisa und dem dortigen Archivio di Stato: ACP, cod. 105 [erste Hälfte bis 1172] und ASP, Archivio Roncioni, Nr. 352 [zweite Hälfte der Hs. bis 1191]). Die lateinische Version, die im Codex Paris und einer jüngeren Abschrift derselben Handschrift durch Roncioni (ASP, Archivio Roncioni, Nr. 344) vorliegt, sei ein Auszug des Textes, den die Volgare-Version getreuer überliefere (CECCARELLI LEMUT: BERNARDO MARAGONE, S.193 ff.). Ein Vergleich zeigt aber, daß die lateinische Fassung durch viele Unregelmäßigkeiten gekennzeichneten ist, insbesondere die Datierung der einzelnen Einträge erfolgt in unterschiedlicher Weise, während sie in der Volgare-Version nach einem einheitlichen Schema durchgeführt ist. Da es mehr als unwahrscheinlich ist, daß sich ein späterer Überarbeiter oder Übersetzer die Mühe gemacht hat, die einheitliche Datierungsform durch eine Mischung unterschiedlicher Formen auszutauschen, wird man die Hypothese Ceccarellis zurückweisen müssen. Viel wahrscheinlicher ist es doch, daß ein späterer Überarbeiter bzw. Übersetzer des Textes diese in einer ersten Phase unregelmäßig verfaßten Annalen (repräsentiert durch die lateinische Fassung) systematisierte und glättete. Wenngleich die Diskussion an dieser Stelle nur angerissen werden kann, wird man so vermuten dürfen, daß die lateinische Version eine ältere Fassung des Textes überliefert. Paris, Bibliotheque de l'Arsenal, Nr. 1110 (Hist. 80). Ein Vergleich mit der Volgare-Version des Codex 105 des ACP ergibt nur wenige nennenswerte Abweichungen (vgl. zur Handschrift CECCARELLI LEMUT: BERNARDO MARAGONE, S. 191 ff. mit der älteren Literatur zur Handschrift). Interessant ist hier aber die Übersetzung. So wird etwa der auf die Eroberung Jerusalems verweisende Eintrag folgendermaßen ,übersetzt': Lateinische Version: „MC. Ierusalem a Xristianis capta est xviii kal. Augusti". Volgare-Version: ierusalem fu preso da Pisani a di 16 di luglio. " Schließlich korrigiert die Volgare-Version die offensichtlich falsche Datierung des ersten Italienzugs Heinrichs V. von 1007 in 1012. Ich danke an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich Frau Prof. Ceccarelli Lemut (Pisa), daß sie mir ihre Vorarbeiten zu einer Neuedition der Annalen Bernardo Maragones zur Einsicht überlassen hat. Vgl. auch NOVATI: Nuovo TESTO, S. 1
Erinnerungsbestände
51
schrifit an den Beginn des 13. Jahrhunderts datieren. 1 Die Annales Pisani wurden von ihrem Autor bis 1181 st. pis. gefuhrt, so daß man vermuten kann, daß das Chronicon spätestens zu diesem Zeitpunkt Eingang in das Werk Maragones fand. 2 Auch die Handschrift der Annales Pisani stammt zweifelsfrei aus Pisa. 3 Um die von Maragone verwendete Fassung des Chronicon Pisanum genauer zu datieren, müßte man deren Berichtszeitraum näher bestimmen. Dies ist jedoch nicht möglich, da Maragone sowohl am Beginn seiner Darstellung (also vor der Benutzung des Chronicon) als auch für die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts eindeutig auf andere Quellen zurückgreift, die jedoch bisher nicht alle identifiziert werden konnten. 4 Ob Maragone auf eine weiter reichende Fassung des Chronicons zurückgegriffen hat, bleibt so unklar. Man kann aber feststellen, daß das letzte gemeinsame Ereignis der Fassungen Florenz und Maragone die Nachrichten zu 1101 st. pis. bzw. 1116 st. pis. sind. 5 Das Verhältnis der Fassungen Die Unterschiede zwischen den drei Fassungen des Chronicons sind gering. Die Versionen der Handschrift Florenz (F) und die der Annales Pisani Maragones (M) weisen dabei die größte Gemeinsamkeit auf. Sie unterscheiden sich in einigen Punkten signifikant von der Version des Codex Lucca (L). Einige Beispiele machen das schnell deutlich: 1
2
3
4
5
CECCARELLI LEMUT: B E R N A R D O M A R A G O N E , S . 1 8 9 spricht von einer italienischen Hand des 1 3 . Jahrhunderts. In der Volgare-Version liest man zu 1181 st. pis.: Jnfine a qui ha fatto Bernardo di Bernardo Maragone, homo buono, savio et pronto in dicti et facti et in ogni opera per honor della cittä in terra et in mare, il quale visse anni octanta in bona vecchiaia et vide e'ßgloli de sua figloli infino in terza et quarta generatione, et tutte queste cose vidde et cognove per grazia et misericordia dello omnipotente Idio, et compose et fece questo regestro insieme con Salem suo flglolo, homo dotto in legge et savio, buono et pronto in praticar et giudicar, il quale Salem tenne le vestigie di suo padre, et tanto piü che lui era doctor di legge, pieno di scienzia, homo di bona progenie nato et nobile cittadino della cittä di Pisa. Et da qui inanzi farä solo esso Salem, aiutandolo Idio il quale vive et regna per infiniti seculi de seculi, amen" (Bernardo Maragone: Annales Pisani, S. 73). Selbst wenn man annimmt, daß diese Angabe sich nur auf den Berichtszeitraum bezieht, so ist dennoch zu vermuten, daß Bernardo Maragone, der seit 1142 in Pisaner Quellen nachzuweisen ist, doch schon früher mit der Abfassung seiner Annalen begonnen hat. Vgl. auch zur Person Bernardo Maragones die Zusammenfassung der Forschungsergebnisse bei CECCARELLI LEMUT: B E R N A R D O M A R A G O N E , S. 182 ff.
Hieran waren in letzter Zeit Zweifel geäußert worden. Doch findet sich auf fol. 15r folgende Marginalie: „Guerra fuit jnt(er) pi(sa) et \ lu(cca) Ja(m) su(n)t a(nnos) cc Ix \ xiv. cu(m) nu(n)c a(nno) do(mini) m \ c.c.lxxx°". Diese Randnotiz steht neben der Erwähnung eines ersten Konfliktes zwischen Pisa und Lucca im Jahr 1005 st. pis. Sie bezeugt das Interesse des anonymen Kommentators an der Auseinandersetzung zwischen Pisa und Lucca, wie sie sich auch in den weiteren Kommentaren zeigt, und deutet so auf eine Benutzung der Handschrift in Pisa. Von deren Beginn an, d.h. seit 1099 st. pis., schreibt Bemardo Maragone etwa die Gesta triumphalia aus. Vgl. den entsprechenden Bericht beider Texte zum ersten Kreuzzug. Dazu genauer unten S. 55 f.
52
Die frühe kommunale
Lucca
Florenz
mxvii. Fuit reversus
Mueietus
Geschichtsschreibung
Maragone
MXVII. Fuit Mueietus
reversus
MXVII Fuit Mueietus
reversus
in Sardineam et cepit ibi ciui-
in Sardineam et cepit civitatem
in Sardineam et cepit civitatem
tatem edificare atque homines
edificare ibi, atque homines
edificare ibi. atque homines
vivos in cruce murare.
vivos in cruce murare.
Sardos vivos in cruce murare.
In der Sache vollkommen identisch, unterscheiden sich die Versionen Florenz; und Maragone in diesem Eintrag zweimal in der Wortstellung von der Version Lucca. Ähnliches zeigt sich an einer auf den ersten Blick nicht sehr wichtigen Stelle: L
F
Pisani vero et Genuenses
Μ
Pisani vero et Ianuenses
reversi
Pisani vero et Ianuenses
rever-
reversi sunt Turrim in quo loco sunt Turrim, in quo insurrexe-
si sunt Turrim, in quo insurre-
tunc insurrexerunt
runt Ianuenses in Pisanos et
xerunt Ianuenses in Pisanos, et
Pisani vicerunt illos.
Pisani vicerunt illos
Genuenses
in Pisanos. et Pisani vicerunt illos.
Das Auslassen von loco durch die beiden Versionen F und Μ bzw. deren gemeinsame Vorlage, führte in der Volgare-Version des Maragone dann zu einer Entstellung des Sinns. Aus dem Kampf im sardischen Porto Torres wurde hier eine Schlacht um einen Turm: ,ßt Ii pisani et Genovesi ritornono, et preseno una torre in nella quale i Genovesi si levorno contro e Pisani et Ii Pisani Ii vinseronoDenkbar ist, daß dieses Mißverständnis schon dem Schreiber der Vorlagen der Versionen Florenz und Maragone zuzuweisen ist. Auch die durchgehend unterschiedliche Schreibung der Einwohner der konkurrierenden Seestadt (Ianuenses/Genuenses), markiert den Unterschied zwischen der Version Lucca und Florenz/Maragone. Eine letzte Stelle möge genügen, um die Beziehung der Versionen zu zeigen: F
L
MLXXVII1I. Genuensis populus MLXXVIIII. lanuensis
MLXXVIII. lanuensis
populus
per latrocinium ad Vadense
per latrocinium ad Vadense
Castrum devenit. Tunc Pisani
Castrum devenit. Tunc Pisani ad
Castrum devenit, et tunc Pisani
manifeste ad Rapallum virili-
Rapallum viriliterque
ad Rapallum viriliter perrex-
terque perrexerunt. et Castrum
erunt, et Castrum igne suc-
erunt et Castrum igni suc-
igne succenderunt.
cenderunt.
cenderunt.
per latrocinium ad Vadense
1
Μ populus
perrex-
Bernardo Maragone: Annales Pisani, S. 4, Anm. zu Z.20.
Erinnerungsbestände
53
Die gemeinsame Vorlage von F und Μ haben das vermutlich in der ursprünglichen Fassung enthaltene 'manifeste' ausgelassen. Aus der späteren Entstehung der Handschrift Florenz ergibt sich schon, daß Μ natürlich nicht direkt auf F zurückgehen kann. Daß F wiederum nicht auf Μ zurückgeführt werden kann, läßt sich damit belegen, daß in Μ mehrere Notizen fehlen, die sowohl in L als auch in F vorkommen. 1 F und Μ gehen somit direkt oder indirekt auf eine gemeinsame Vorlage fin zurück. Möglich wäre hingegen, daß auch L auf diese gemeinsame Vorlage zurückgeht, die Unterschiede im Vergleich zu den Versionen F und Μ erst nach der verlorenen Vorlage fm in den Text eingetreten sind. Wie sieht das Verhältnis zwischen der verlorenen Vorlage fm und der Version L aus? Zunächst fällt auf, daß die Version L durchgehend die Einträge zu Pisaner Bischöfen ausläßt. 2 Dies hat man bisher damit erklärt, daß ein Luccheser Schreiber aus dem Umkreis des dortigen Domkapitels an diesen Informationen kein Interesse gehabt habe. 3 Was auf den ersten Blick plausibel klingt, verliert allerdings seine Gültigkeit, wenn man sich die Inhalte des durch den Luccheser Schreiber kopierten Chronicons anschaut: Sie enthalten ja nahezu ausschließlich auf Pisa bezogene Nachrichten. Warum sollte ein Schreiber geradedie Erwähnung der Pisaner Bischöfe unterdrücken, wo er doch die fur die Luccheser nicht gerade schmeichelhaften Niederlagen gegen Pisa 1004 und 1055, schließlich auch die Notizen zu Stadtbränden in Pisa kopierte? 4 Viel wahrscheinlicher ist es da doch, daß die Eintragungen zu den Bischöfen zu einem späteren Zeitpunkt zur Gemeinsamen Vorlage von fm und L hinzugefugt wurden. 5 Man gelangt somit zu folgendem Stemma 6 :
1
2
3
In Μ fehlen die Notizen zu 855, 867, 875, 939, 950, 972, 984/85, 1002/01, 1004 und schließlich zu 1027 (alle st. pis.). Einträge zu 1077 (Tod Bischof Guidos), 1080 (Tod Landulphus) und schließlich 1086 (Tod Gerardus) (alle st. pis.). So zuerst SCHEFFER-BOICHORST: ÄLTERE ANNALISTIK, S . 5 0 9 , dann auch HARTWIG: QUELLEN, S . 4 8 , A N M . 1 u n d z u l e t z t FISHER: PISAN CLERGY, S . 1 6 1 .
4 5
6
Vgl. Einträge zu 1030 st. pis. und 1099 st. pis. Vermutlich stammen diese aus einer necrologartigen Aufzeichnung, da ausschließlich die Todesdaten der Bischöfe erwähnt werden (so auch FISHER: PISAN CLERGY, S. 152). Für eine solche Beziehung der Versionen spricht auch, daß Worte, die in fm fehlen oft nur schwer als Zutat des Schreibers der Version L zurückgeführt werden können. Wenn man die Einfügung von ,/oco' (vgl. oben S. 52) eventuell noch als klärende Zutat der Version L betrachten könnte, so ist dies im Falle von ,manifeste' (vgl. oben S. 52) schon mehr als unwahrscheinlich. Es ist wahrscheinlicher, daß sie den Textbestand der Vorlage aller Versionen wiedergibt (im Stemma ch).
54
Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
IT! ( 1 . Hälfte 12. Jh.)
f ( nach 1137)
fm |_
A A ( nach 1117 st.p.)
(zwischen 1115 und 1119)
(nach 1106)
C h ( nach 1099 )
aa
(vor 1099)
X (nach 1087)
Der Berichtszeitraum der Annalen
Der Versuch, die Entstehung des Chronicons in seinen verschiedenen Fassungen zu datieren, wird sich zunächst auf den Berichtszeitraum der überlieferten Fassungen konzentrieren müssen. Das Ende des Berichtszeitraums bildet hierbei einen zuverlässigen terminus post quem für die Abfassung der Annalen. Das Fehlen wichtiger jüngerer Ereignisse stellt daneben zumindest ein Indiz dafür dar, daß die jeweilige Fassung vor diesem Ereignis abgeschlossen wurde. Alle drei Versionen des Chronicons umspannen unterschiedliche Berichtszeiträume. Die Fassung in der Luccheser Handschrift beginnt mit 688 und endet im Jahr 1100 st. pis. Die Version Florenz beginnt ebenfalls 688, endet aber 1138 st. pis.1 Welchen Berichtszeitraum die von Bernardo Maragone verwendete Fassung abdeckte, is t, wie oben schon gesagt, nicht leicht zu beurteilen. Dessen Annalen beginnen bei Adam und bieten
1
Die von Gentile in der Einleitung zur Edition geäußerte Vermutung, der Codex Florenz habe sowohl im Falle des Chronicons als auch in dem der Gesta triumphalia nur einen Teil seiner Vorlage wiedergegeben bzw. diese als unvollständig erkannt, ist auf eine fehlerhafte Lesung der Handschrift zurückzuführen. Dort findet sich am Ende beider Texte, aber auch am Ende der Titelüberschrift der Gesta triumphalia ein von Gentile als ,et cetera' gedeutetes Zeichen (Ms.Rediano 202 45r, 48v und 49v., Ed. Gentile, S. 96, Anm. 1 und S. 103; ähnlich FISHER: PISAN CLERGY, S. 152). Hierbei handelt es sich jedoch um ein durchaus übliches Interpunktionszeichen, das das Ende eines Abschnittes oder Textes markiert (vgl. BISCHOFF: PALAOGRAPHIE, S. 227). Die These des Fragmentcharakters beider Texte ist also auf der Basis des Handschriften-Befundes nicht zu halten.
55
Erinnerungsbestände
einen sehr knappen Überblick über die Geschichte des Altertums, um dann von Konstantin direkt zum ,Regierungsbeginn' Pippins des Mittleren 688 überzugehen. 1 Ob die bei Maragone zu findenden Einträge vor 688 aus der von ihm benutzten Fassung des Chronicons stammen, kann nicht sicher bestimmt werden. Möglich ist zumindest, daß er auch hier auf weitere Quellen zurückgegriffen hat. 2 Ist so schon der Beginn der von Maragone benutzten Fassung nicht zu bestimmen, so gilt gleiches für deren Ende, da er für die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts nachweislich auf weitere Quellen neben dem Chronicon zurückgegriffen hat. 3 Für die Fassungen Lucca und Florenz - und möglicherweise auch fur Maragone läßt sich so eine Vorlage erschließen, deren Berichtszeitraum mit dem Jahr 688 begann. 4 Unterschiedlich weit fortgeführt lassen die überlieferten Texte erkennen, daß das Chronicon auch noch am Beginn des 12. Jahrhunderts um annalistische Notizen ergänzt wurde. Zur Datierung der erschlossenen Fassungen: In gleicher Weise kann man die erschlossenen Vorlagen der überlieferten Fassungen datieren und so einen weiteren Einblick in die Textgeschichte des Chronicons gewinnen. Die Nachricht über die Eroberung Jerusalems 1099 stimmt in allen drei Fassungen überein. Unter 1100 st. pis. liest man in allen Versionen: „MC. Ierusalem a Christianis capta est xviii kal. Augusti."
Hier endet die Luccheser Fassung. Die Fassungen Florenz und Maragone stimmen noch in zwei Einträgen überein: F "MCI. Tota Kinthica exusta est, de quo igne flante vento pene Foreporta concremata est iii° Nonas lulii."
Μ "MCI. Tota Kintica exusta est, de quo igne, flante vento, pene tota Foreporta concremata est, iii nonas lulii."
Schließlich im Eintrag zum Tod der Markgräfin Mathilde:
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Bernardo Maragone: Annales Pisani, S. 3. Man vergleiche auch die Hinweise auf mögliche Quellen (Beda, Eutropius und Julius Obsequens) für diesen Teil der Annales Pisani in der älteren Edition von Karl Pertz in MGH SS XIX, S. 238. Sicher hat er die Gesta triumphalia benutzt, die aber auch nur in einer bis 1119 st. pis. reichenden Fassung erhalten sind. (Vgl. dazu unten S. 87 ff.) Unter diesem Datum wird der Regierungsbeginn Pippins des Mittleren verzeichnet: ,JDCLXXXVIII. Pipinus senior regnare cepit." Vgl. zum gleichen Ereignis die Annales Mettenses (MGH SRG in us. schol. X, S. 1): ,^4nno ab incarnatione domini nostri Iesu Christi DCLXXXVIII. Pippinus filius Ansegisili nobilissimi quondam Francorum principis [...] suscepit principatum." Hier wird also nicht der stilus pisanus verwendet. Zum Ereignis selbst HASELBACH: AUFSTIEG, S. 55.
56
Die frühe kommunale
F 'MCXVI. Comitissa Mattilda obiit.
Geschichtsschreibung
Μ 'MCXVI. Comitissa Matilda obiit'
Man kann schließen, daß die gemeinsame Vorlage der beiden Fassungen F und Μ mit diesem Eintrag zu 1116 st. pis. (1115 st. comm.) endete.1 Diese Beobachtung deckt sich mit den Ergebnissen Fishers, der sich bei seiner Untersuchung auf die Überlieferung des Codex Florenz konzentrierte. Einen Datierungshinweis für diese Fassung sieht Fisher wie vor ihm schon Scheffer-Boichorst2 - in der Art, in der die Todesdaten der Pisaner Bischöfe wiedergegeben werden. Bis zu Daibert (f 1105) wird durchgehend der Todestag angegeben, beginnend mit Petrus (|1119) jedoch nur noch das Jahr des Todes.3 Die sich aufdrängende Vermutung wird auch durch einen Vergleich der Fassungen F und Μ bestätigt: Bei Maragone finden sich nach Daibert keine der von der Fassung; Florenz überlieferten Todesdaten der Pisaner Erzbischöfe.4 Die Einträge zu den Pisaner Erzbischöfen seit Petrus in der Fassung Florenz sind offensichtlich eine Zutat zur gemeinsamen Vorlage fm. Entsprechend kann man annehmen können, daß diese Vorlage fm vor dem Tod des Erzbischofs Petrus ( | September 1119) entstanden ist.5 Die Entstehung der Vorlage fm wird man daher in die Zeit zwischen 1115 und 1119 datieren können.6 Wann jedoch entstand die erste Fassung ch, die allen drei Texten zugrunde liegt? Die Fassung des Codex Lucca ist kurz nach 1100 st. pis. (letztes erwähntes Ereignis), wahrscheinlich vor 1101 st. pis., dem Brand der Stadtviertel Kinzica und Fuorisporta, entstanden.7 Da die Fassung Lucca ebenso wie die Vorlage der Fassungen Florenz und
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Da der Eintrag zu Tod der Mathilde sehr knapp ist, kann eine Übereinstimmung hier jedoch auch zufällig sein. Vgl. etwa die entsprechenden Formulierungen in den Annales Florentini I (HARTWIG: QUELLEN, Bd. II, S. 3): „1115 mense Julii obiit Mactilda commitissa;" Annales Ferrarienses (MGH SS XVIII, S. 663): ,Jn 1115 obiit comitissa Matelda/" Annales Veronenses breves (MGH SS XVIIII, S. 2): „1115 comitissa Matilda obiit." SCHEFFER-BOICHORST: ÄLTERE ANNALISTIK, S . 5 0 8 f. Dieser stützt sich bei seinen Ausführungen jedoch nur auf die älteren Editionen von Mansi und Ughelli. FISHER: PISAN CLERGY, S . 1 5 2 . Vgl. Chronicon Pisanum zu 1 0 7 7 (Guido), 1 0 8 0 (Landulf), 1 0 8 6 (Gerardus) und 1106 (Daibert) bzw. 1120 (Petrus), 1122 (Atho), 1132 (Roger). Einschränkend muß jedoch erwähnt werden, daß Maragone für den gesamten Berichtszeitraum weniger Einträge zu den Bischöfen bietet als die Fassung Florenz.
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V g l . z u P e t r u s VIOLANTE: CRONOTASSI, S . 3 1 f f . u n d CECCARELLI LEMUT / GARZELLA: PIETRO.
6
Nicht ganz klar ist, woher die von F zu 1106 st. pis. gebrachten Nachricht zum Tod des Erzbischofs Daibert stammt. Diese ist in keiner anderen Pisaner Quelle zu finden. War sie Teil der Vorlage fm und wurde (versehentlich?) von Bernardo Maragone ausgelassen? Ist sie wie die späteren Nachrichten eine Zutat der Version F zu fm gewesen? Die zuerst von SCHEFFER-BOICHORST: ÄLTERE ANNALISTIK, S . 5 0 9 geäußerte Vermutung, der Codex Lucca gebe nur einen Teil seiner Vorlage wieder, ist nicht begründet. Dessen Überlegungen werden auch von Hartwig (HARTWIG: QUELLEN, Bd. II, S. 4 8 , Anm. 1 ) und Fisher (FISHER: PISAN CLERGY, S. 161) übernommen. Scheffer-Boichorst begründet seine Annahme damit, daß die vom Luccheser Schreiber angeblich ausgelassenen jüngeren Nachrichten ausschließlich Pisaner Lokal-
7
Erinnerungsbestände
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Maragone (fm) auf einen gemeinsamen Text zurückgehen, wird man schließen können, daß die Fassung ch kurz nach 1099 (1100 st. pis.) entstanden ist. Zusammenfassung Eine erste Fassung des Chronicon Pisanum ist so zwischen 1100 und 1101 st. pis. entstanden. Ihr Berichtszeitraum umspannte die Zeit zwischen dem Regierungsantritt Pippins d. M. im Jahre 688 und der Eroberung Jerusalems durch das christliche Kreuzfahrerheer im Jahre 1099 (Fassung ch). Eine Kopie dieser ersten Fassung gelangte am Beginn des 12. Jahrhunderts von Pisa nach Lucca, w o sie später der Handschrift in der Bibliothek des Luccheser Domkapitels beigefügt wurde. In Pisa wurde diese erste Fassung dann in einer ersten Stufe bis 1115 (Tod der Mathilde) weitergeführt und um weitere Eintragungen ergänzt (Fassung fm). Diese erweiterte Fassung fm war dann Grundlage fur zwei noch einmal ergänzte Versionen des Textes, die im Codex Florenz und den Annales Pisani des Bernardo Maragones überliefert sind. 1
ereignisse betreffen, die den Luccheser Schreiber entsprechend nicht interessiert hätten. Gleiches gilt jedoch auch für viele trotzdem kopierte frühere Einträge. Wieso hätte der Luccheser Schreiber schließlich die Nachricht vom Tode der Mathilde auslassen sollen? Sie war für Lucca sicherlich ebenso bedeutend wie für Pisa. Hartwig vermutet als Grund für die Auslassung weiterer Teile in der Fassung Lucca, daß „die lucchesische und pisanische Auffassung der Kriegsereignisse [zwischen Lucca und Pisa, MH] von 1104 an zu sehr voneinander abwichen" ( H A R T W I G : QUELLEN, Bd. II, S. 48, Anm. 1). Diese Begründung für eine mögliche Auslassung von Teilen der Vorlage ist gegenstandslos, da es nur in der Fassung Μ - und hier auch nur in rudimentärer Form - einen Hinweis auf die Kämpfe zwischen Pisa und Lucca gibt. Hier heißt es lakonisch „A. D. MCV. Incepta est lis inter Pisanos et Lucenses" (Annales Pisani, S. 8). Wie konnte man mit dieser 'Auffassung der Kriegsereignisse' (Hartwig) nicht einverstanden sein ? Schließlich fallt das Argmument Hartwigs gänzlich in sich zusammen, wenn man berücksichtigt, daß eben dieser Eintrag in nahezu identischer Formulierung - und mit Sicherheit auf eine Pisaner Quelle zurückgehend - später in die Gesta Lucanorum eingegangen ist (Gesta Lucanorum, S. 285: ,JSi comincio guerra tra Luca e Pisa"). Die Fassung Florenz enthält nach 1101 st. pis. nur noch Todesdaten von Bischöfen bzw. die isoliert dastehende Erwähnung Mathildes. Erst zu 1136 st. pis. findet ein Ereignis der Pisaner Lokalgeschichte Eingang in den Text. Das Fehlen weiterer Nachrichten ist umso erstaunlicher, als vor dem erwähnten Tod Mathildes 1116 die für die Pisaner Geschichtsschreibung äußerst wichtige Balearen-Expedition stattfand (1113-1115).
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Die frühe kommunale Geschichtsschreibung
b. Die Annales Pisani Antiquissimi Ein weiterer annalistischer Text liegt unter dem Titel Annales Pisani Antiquissimi in einer Edition F. Novatis vor.1 Der Text ist in einer Handschrift des frühen 12. Jahrhunderts überliefert,2 die sich heute in der Biblioteca Governativa in Cremona befindet. 3 Am Ende der Handschrift, die zwei theologische Kommentare enthält,4 sind vermutlich von gleicher Hand knappe Pisaner Annalen nachgetragen worden:5 „Anno mill, quinto ciuitas Pisana capta fuit a Saracenis. Mill. VI. Pisani uicerunt Saracenos ad Regium. Mill. XVI Pisani uicerunt Mugertum regem in Sardiniam. Mill. XXXV Pisani uicerunt Bonam urbem Africe. Eodem tempore Pisa combusta est. Mill. LXV Pisani fecerunt bellum in portum Palarmi. Mill. LXVI in uigilia natalis Domini ingens terremotus factus est et mirabiliter apparuit. Mill. LXXXVIII die sancti Xisti Pisani ceperunt Sibiliam. Alia die ceperunt Almadiam. Mill. XCVIIII Pisani destruxerunt Luccatam urbem Grecie. Mill. CXIIII iuerunt Pisani Maioricam. Mill. CXVII ingens terremotus fuit quod multe Pisanorum turres corruerunt."
Wie dieser Text nach Cremona gelangte, ist leider nicht zu rekonstruieren. Mann kann jedoch annehmen, daß die Handschrift in Pisa entstanden ist.6 Für den Zeitraum bis 1088 st. pis. finden sich mit zwei Ausnahme alle hier festgehaltenen Ereignisse auch im Chronicon Pisanum. 7 Sprachlich unterscheiden sich beide Texte jedoch deutlich. In welchem Verhältnis die Annales Antiquissimi zu den Fassungen und Vorstufen des Chronicons stehen, kann auch hier ein genauerer Textvergleich zeigen. 8
1 2 3
Annales Pisani Antiquissimi, Ed. F. Novati. Nach Novati „di bellissimo carattere del sec. XII ineunte" (NOVATI: N u o v o TESTO, S. 2 ff.). Biblioteca Governativa di Cremona, Cod. LXXIX, fol. 99v. Vgl. allgemein zur Handschrift NOVATI: Nuovo TESTO, S . 2 ff. und den Katalogeintrag von V. Dainotti in ΜΑΖΖΑΤΓΝΤΙ / SORBELLI: INVENTARI, S . 5 7 f.
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Vgl. zum Inhalt der Handschrift NOVATI: N u o v o TESTO, S. 12. Es handelt sich um je einen Kommentar zum Hohelied (vermutlich der des Angelomus von Luxeuil oder aber dessen Vorlage, Justus von Urgel) und zur Apokalypse. Da die Edition Novatis schwer zugänglich ist, sei der Text hier noch einmal abgedruckt. Orts- und Personennamen sowie Nomina sacra wurden hier jedoch - anders als in Novatis Edition - groß geschrieben. Die Handschrift befand sich zuvor in der Bibliothek der Augustiner in Cremona. Vgl. NOVATI: BIBLIOTECA, S. 2 7 u n d 5 4 f f .
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8
Das Erdbeben des Jahres 1066 st. pis. und ein Stadtbrand 1035 st. pis. fehlen im Chronicon Pisanum. Möglicherweise ist der Stadtbrand der gleiche, der im Chronicon Pisanum zu 1030 st. pis. überliefert ist. Der unter 1099 st. pis. verzeichnete Überfall auf Leukas (das ,Luccata' der Annales Antiquissimi) findet sich nur in der Version Bernardo Maragones. NOVATI: N u o v o TESTO, S. 14 glaubt hier ein Abhängigkeitsverhältnis erkennen zu können.
Erinnerungsbestände
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Das Verhältnis zum Chronicon Pisanum Die deutlichen Abweichungen von den erhaltenen Fassungen des Chronicons lassen ausschließen, daß die Annales in direkter Beziehung zu diesen stehen. Anhand des Berichtszeitraumes (-1117 st. pis.) kann man weiterhin feststellen, daß die Annales Antiquissimi zeitlich sicher nach den rekonstruierten Fassungen fm und ch des Chronicon Pisanum verfaßt bzw. kompiliert wurden. Hinsichtlich der in engerem Sinne stadtgeschichtlichen Einträge zeigen sich jedoch bis 1088 st. pis. inhaltliche Übereinstimmungen zwischen den Annales Antiquissimi und dem Chronicon Pisanum. Danach fallen signifikante Unterschiede ins Auge. So berichtet das Chronicon Pisanum zu 1099 st. pis. von der ruhmreichen Teilnahme der Pisaner am ersten Kreuzzug: „Stolus Pisanus in Jerusalem ivit cum navibus centum viginti"
Unter dem gleichen Datum findet sich in den Annales Antiquissimi ausschließlich ein Detail dieser Expedition, das kein so gutes Licht auf die Pisaner wirft: „Mill. XCVIIII Pisani destruxerunt Luccatam urbem Grecie."
1098 hatte die Pisaner Flotte auf ihrem Weg nach Palästina die an der Route liegenden byzantinischen Inseln Leukas und Cephalonia verwüstet, da diese, wie es später in den Gesta triumphalia heißen wird, ,Jerosolimitanum iter impedire consueverunt," also den Weg nach Jerusalem behinderten. 1 Diese Aktion der Pisaner, also das Niedermetzeln von Christen, gehörte 1102 zu den Vorwürfen, die schließlich zur Absetzung Daiberts, des Patriarchen von Jerusalem und Erzbischofs von Pisa, führten. 2 Schon weil dieses Ereignis in keiner der Fassungen des Chronicons erwähnt wird, darf man schließen, daß der Kompilator der Annales Antiquissimi zumindest für die Ereignisse des ersten Kreuzzugs nicht eine der erschlossenen Fassungen des Chronicon Pisanum benutzt hat. Zudem hätte er in diesem Fall zumindest a u c h die doch für Pisa ruhmvollere Teilnahme am Kreuzzug erwähnt. Das völlige Fehlen einer Einbindung des Angriffs auf die griechischen Inseln in den Rahmen der Kreuzzüge, wie sie in den Annales Antiquissimi begegnet, ist allerdings erklärungsbedürftig. Zwar ist die Darstellung der Pisaner Beteiligung an den Kreuzzügen im Chronicon Pisanum durch starke Überbetonung der Rolle der Pisaner Flotten gekennzeichnet. 3 Der Autor der Annales Antiquissimi scheint jedoch im Gegenteil überhaupt nichts von einer Beteiligung Pisas an den Kreuzzügen zu wissen bzw. dies nicht für erwähnenswert gehalten zu haben. Da sich keine Gründe für das Verschweigen der Pisaner Teilnahme am Kreuzzug finden lassen, wird man annehmen dürfen, daß dem Kompilator der Annales Antiquissimi, der Gesta triumphalia S. 89. Daß Byzanz den Kreuzfahrern auf ihrem Weg Probleme bereitete, ist keine Pisaner Erfindung zur Legitimation ihres Angriffs auf die griechischen Inseln. So heißt es auch in der Chronik Bernolds von Konstanz, S. 535: „Constantinopolitanus rex [...] iterque lerosolimitanum per suam potestatem omnibus peregrinis omnino prohibuit." Zur Pisaner Teilnahme am ersten Kreuzzug jetzt MATZKE: DAIBERT, S. 141-152, zum Angriff auf Leukas ebd., S. 147 f. 2
H i e r z u a u s f ü h r l i c h MATZKE: DAIBERT, S . 1 9 3 f f .
3
V g l . h i e r z u FISHER: PISAN CLERGY, S . 1 5 7 .
60
Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
nach 1117 st. pis. die für ihn zentralen Punkte der Pisaner Stadtgeschichte zusammenstellte, zu diesen Ereignissen keine schriftlichen Quellen vorlagen. Für die Zeit vor dem ersten Kreuzzug erwähnt der Verfasser der Annales Antiquissimi hingegen alle aus dem Chronicon bekannten Siege der Pisaner über die Sarazenen, also diejenigen bei Reggio, auf Sardinien, in Bona, Palermo und schließlich ,Sibilia' und ,Almadia' (1087). Auch die Datierungen der Ereignisse stimmen überein.1 Möglich ist daher, daß beide Texttraditionen bis 1087 direkt oder indirekt auf eine gemeinsame Vorlage zurückgehen. Das Vorkommen ähnlicher Formulierungen stützt diese Vermutung. So heißt es zu 1005 st. pis.: Chronicon Pisanum
Annales
Antiquissimi
"MV. Fuit capta Pisa a Saracenis."
"Anno mill, quinto ciuitas Pisana capta fuit a Saracenis;
Die Übereinstimmung der alles andere als ungewöhnlichen Formulierungen beider Berichte reicht noch nicht als Beleg für eine Verwandtschaft der Texte aus. Anders ist dies dann schon im Bericht zum Jahr 1088 st. pis.: Chronicon Pisanum
Annales
.MLXXXVIII. Fecerunt Pisani et Genuenses stolum in Africa, et ceperunt duas munitissimas civitates Almadiam. et Sibiliam in die sancti Sixti."
„Mill. LXXXVIII die sancti Xisti Pisani ceperunt Sibiliam. alia die ceperunt Almadiam."
Antiquissimi
Beide Quellen erwähnen hier zwei Städte, die erobert worden sind. Auch die Schreibweise der Namen ist identisch. Diesen übereinstimmenden Details wird man einiges Gewicht beimessen können, da das Carmen in victoriam Pisanorum, die wichtigste Quelle zu diesem Kriegszug der Pisaner, hiervon deutlich abweicht. Dies betrifft zunächst die Anzahl der Städte. Dem Bericht des Carmen läßt sich entnehmen - und hierin wie in anderen Details entspricht dieser der tatsächlichen Situation - , daß ,Sibilia' der Name eines Stadtviertels von al-Mahdiya, der Hauptstadt des nordafrikanischen Ziriden-Reiches, war.2 Diese selbst (im Arabischen ,al-Mahdiya') heißt im Carmen ohne den arabischen Artikel - einfach ,Madia'. 3 Gerade die Übereinstimmungen im Bericht über die Eroberung al-Mahdiyas deuten auf eine gemeinsame Quelle oder Vorlage der Annales Antiquissimi und des Chronicon Pisanum. Nach 1087 finden sich jedoch keine Übereinstimmungen mehr, so daß man schließen kann, daß Annales Antiquissimi und Chronicon Pisanum von diesem Zeitpunkt an nicht mehr einer gemeinsamen Vorlage gefolgt sind. Es folgen in den Annales Antiquissimi noch drei weitere Einträge: Die Nachricht zum Angriff der Pisaner Flotte
1 2
3
Einzig die Expedition nach Kalabrien 969 bzw. 971 (Bernardo Maragone) fehlt. Vgl. etwa Carmen in victoriam Pisanorum, Vv. 153 ff. Als eigenständiges städtisches Gebilde sieht die Vorstadt ZawTla jedoch COWDREY: M A H D I A CAMPAIGN, S. 10. Ausfuhrlich zum Bericht des Carmen in victoriam Pisanorum unten S. 120 ff.
Erinnerungsbestände
61
auf Leukas, eine allerdings äußerst knappe Erwähnung der Balearen-Expedition der Pisaner 1113-1115 und schließlich die Schilderung eines Erdbebens in Pisa 1117 st.
Zusammenfassung
Nach 1117 st. pis. hat ein Pisaner Kompilator auf der Basis älterer Texte und für die jüngere Vergangenheit möglicherweise auf eigene Erinnerung oder Notizen zurückgreifend 2 die für ihn wichtigsten Ereignisse der Pisaner Geschichte zusammengestellt. Die Übereinstimmungen mit dem Chronicon Pisanum sprechen dafür, daß er dabei kurz nach 1087 entstandene Pisaner Annalen ausschrieb, die jedoch nicht mit den erhaltenen bzw. rekonstruierten Fassungen des Chronicon Pisanum identifiziert werden können. Der Textvergleich läßt jedoch vermuten, daß diese Vorlage der Annales Antiquissimi und die rekonstruierte Fassung ch des Chronicon Pisanum auf eine gemeinsame Texttradition zurückgehen. c. Die annalistische Inschrift der Domfassade Neben den analysierten vier handschriftlichen Zeugnissen der Pisaner Annalistik vom Anfang des 12. Jahrhunderts ist in diesem Zusammenhang kurz auch auf eine der beiden großen historiographischen Inschriften der Domfassade einzugehen. 3 Eingebunden in einen dem Städtelob verwandten Text wird die Geschichte Pisas hier auf drei militärische Ereignisse reduziert, den Sieg einer Pisaner Flotte bei Reggio/Messina 1006 st. pis., den Sieg der Pisaner über den Sarazenen-Herrscher Mugähid auf Sardinien 1016 st. pis. und schließlich den erfolgreichen Angriff auf die nordafrikanische Stadt Bona 1035 st. pis. Diese in den 1080er Jahren entstandene Inschrift bildet das älteste erhaltene Zeugnis einer annalistischen Darstellung der Pisaner Geschichte. Obwohl sich alle hier erwähnten Ereignisse auch in den beiden handschriftlichen Traditionen, also den Annales Antiquissimi und dem Chronicon Pisanum finden, kann man doch keine signifikanten Gemeinsamkeiten ausmachen. Zwar erklärt schon die metrische Form des Inschriftentextes, wieso man hier vergeblich nach sprachlichen Übereinstimmungen sucht. Ein signifikanter Unterschied ist jedoch als tragfähiger Beleg für eine von der handschriftlichen Überlieferung unabhängige Entstehung des Inschriftentextes zu werten. Während die beiden handschriftlichen Texttraditionen bei der Lokalisierung des Sieges einer Pisaner Flotte gegen die Sarazenen im Jahre 1016 st. pis. übereinstimmen, weicht die Dieses Ereignis ist bemerkenswerterweise in keine der Versionen des Chronicon Pisanum eingegangen. Es wird hingegen ausfuhrlich in einem Zusatz zu einer der Kompilationen des Guido geschildert (vgl. unten S. 96 ff.). 2
3
Gerade die zwar knappe, aber ansonsten in der Pisaner Annalistik nicht auftauchende Schilderung des Erdbebens von 1117 st. pis. spricht für diese These. Vgl. den Abdruck des Inschriftentextes und zu allen hier nur kurz angedeuteten Fragen die ausführliche Interpretation unten S. 336 ff.
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Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
Darstellung der Inschrift hier in signifikanter Weise ab. Diese spricht nicht von einem Sieg bei Reggio, sondern nennt den Namen des sizilianischen Messina als Ort des Sieges. Zwar läßt sich das Problem aus heutiger Sicht schnell aufklären, da die entsprechende Seeschlacht vermutlich in der Straße von Messina, also in der Meerenge zwischen Reggio di Calabria und Messina stattfand.1 Dennoch zeigt dieses Detail deutlich, daß hier auf unterschiedliche Informationsquellen zurückgegriffen wurde. d. Zusammenfassung Erhalten haben sich insgesamt drei Fassungen des Chronicons: die Fassung Lucca (L), die bis 1099 reicht und wahrscheinlich nach 1106 in der heutigen Form kopiert wurde, die Fassung Florenz (f), die bis 1137 reicht und nur in einer späten Kopie (F) erhalten ist und schließlich eine nicht genau zu datierende Fassung (m), die in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts in die Annales Pisani des Bernardo Maragone (M) aufgenommen wurde. Schließlich sind die nach 1117 st. pis. niedergeschriebenen Annales Antiquissimi (AA) überliefert. Die Analyse der verschiedenen Textzeugen ergab, daß alle auf ältere, heute verlorene Annalen zurückgehen. Für das Chronicon wurden zwei relativ sicher zu erkennende heute verlorene Fassungen bestimmt: Die in die Florentiner Handschrift und die Annalen Bernardo Maragones eingeflossenen Fassungen gehen auf eine zwischen 1115 und 1119 entstandene Fassung (fm) zurück. Diese und die erhaltene Fassung aus Lucca entstanden wiederum auf der Grundlage einer kurz nach 1099 entstandenen Fassung (ch). Für die Annales Antiquissimi läßt sich eine bis 1087 reichende Vorlage (aa) annehmen, die vermutlich ebenso wie die älteste Fassung des Chronicons (ch) auf einen nach 1087 abgeschlossenen Text (x) zurückgeht:
1
Vgl. dazu unten S. 337.
63
Erinnerungsbestände
m ( 1. Hälfte 12. Jh.)
f ( nach 1137)
fm
L (nach 1106
A A ( nach 1117 st.p.)
(zwischen 1115 und 1119)
\ C h ( nach 1099 )
aa
(vor 1099)
X ( nach 1087 )
Unabhängig von dieser handschriftlichen Tradition ist die vor 1087 entstandene Inschrift der Pisaner Domfassade zu sehen. Spätestens seit den 1090er Jahren kann man so in Pisa annalistische Aufzeichnungen zur Stadtgeschichte nachweisen. Durch die bisherigen Analyse konnte aber noch nicht bestimmt werden, wer diese Nachrichten aufzeichnete und in welchem pragmatischen Zusammenhang er dies tat bzw. welchem Zweck diese rohen Aufzeichnungen dienten. 2. Die Entstehung der Pisaner Annalen des 11. Jahrhunderts Das formlose Notieren wichtiger Ereignisse in chronologischer Reihung gehört wohl zu den elementarsten Formen der Geschichtsschreibung. Bei den erhaltenen Pisaner Annalenwerken ist aber durchaus nicht sicher zu bestimmen, ob diese kontinuierlich gewachsen sind, ob also seit Beginn des Berichtszeitraumes jeweils für relevant gehaltenen Ereignisse der chronologischen Liste hinzugefügt worden sind. 1 Der später noch zu '
GOETZ: GESCHICHTSSCHREIBUNG, S. 110 unterscheidet in diesem Zusammenhang mit Blick auf „chronologische Jahresberichte" zwischen „kurzen, von verschiedenen Verfassern fortlaufend geführten, ereignisbetonten Annalen und [...] ausführlicheren, in der Regel von einem Verfasser bearbeiteten, auf historische Zusammenhänge achtenden Chroniken." Auf die Diskussion um die mittelalterlichen historiographischen Gattungen soll hier jedoch nicht weiter eingegangen werden. Vgl. hierzu ausfuhrlich GOETZ: GESCHICHTSSCHREIBUNG, S. 110-124. Gerade das Beispiel der hier analysierten Texte wird zeigen, daß eine formale Unterscheidung zu einer Analyse historischer Erinnerungskulturen nur wenig beiträgt. Vgl. allgemein zur annalistischen Grundform auch GUENEE: HISTOIRES u n d M C C O R M I C K : A N N A L E S .
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Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
diskutierende relativ späte Beginn eigentlich stadtgeschichtlicher Notizen deutet eher darauf hin, daß seit den achtziger Jahren des 11. Jahrhunderts bisher in anderer Weise (mündlich?) überliefertes Wissen über die Geschichte der Stadt in annalistischer Form zusammengestellt wurde. Doch nicht nur die Frage nach der Herkunft der so überlieferten Nachrichten macht die Untersuchung der Entstehungsgeschichte der Texte notwendig. Die schon einleitend reflektierte Auswahl einzelner Ereignisse aus der Gesamtheit der Gegenstände, die der historischen Erinnerung zugänglich waren, verweist stets auf ein spezifisches Interesse der jeweiligen Autoren oder Kompilatoren. a. Befunde der Handschriften Mögliche Hinweise auf die Entstehungszusammenhänge der Texte kann man den Überlieferungsbefunden der Handschriften entnehmen. Die Fassungen Maragone und Florenz des Chronicon Pisanum sind hierbei eher Zeugnisse der Rezeption des Textes in späterer Zeit, für die hier interessierenden Fragen bieten sie keine weiteren Hinweise. Die Luccheser Fassung, die zumindest in zeitlicher Nähe zum Abschluß der Annalen kopiert wurde, belegt eine Rezeption des Textes in geistlichem Umfeld, allerdings nicht in Pisa, sondern in der seit Beginn des 11. Jahrhunderts immer wieder mit Pisa Krieg fuhrenden Nachbarstadt Lucca. Ob der so belegte Austausch historiographischer Werke über das Pisaner Domstift lief, muß zunächst Spekulation bleiben.1 Eindeutig auf ein geistliches Publikum verweist die Handschrift der Annales Antiquissimi. Dieser Text ist am Ende einer Handschrift mit ausschließlich theologischen Inhalten überliefert. Aus paläographischen Gründen kann man auch bei dieser Handschrift davon ausgehen, daß sie nicht lange nach der letzten Aktualisierung der Annalen 1117 st. pis. entstanden ist. Aus der Rezeption in geistlichem Umfeld wird man jedoch nicht ohne weiteres auf den oder die Verfasser der Texte schließen können. Eine weitergehende Analyse des Textbestandes der Annalenwerke ist hierzu notwendig. b. Pragmatischer Zusammenhang Das Chronicon Pisanum und die Annales Antiquissimi sind mit einer ganzen Reihe von annalistischen Texte aus anderen italienischen Städten oder kirchlichen Institutionen vergleichbar.2 Gemeinsames Merkmal dieser Texte ist ihre Formlosigkeit, das Fehlen Kontakte zwischen beiden Institutionen sind allerdings im ersten Viertel des 12. Jahrhunderts belegt. So erscheint unter dem 31. Januar ein ,Gratianus Pisane ecclesie vicedominus'' im Necrolog des Luccheser Domstifts (SAVIGNI: EPISCOPATO, S . 4 7 7 ) . Bei diesem Gratianus handelt es sich vermutlich um den Custos und späteren Vicedominus des Pisaner Domstifts, der in den Pisaner Urk u n d e n bis 1 1 2 9 belegt ist ( v g l . z u d i e s e m SCALIA: RIEDIZIONE CRITICA, S. 93, A n m . 3 und FISHER:
S. 197 f.). Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß der Domcustos auch für die Bibliothek des Kapitels zuständig war (FISHER: PISAN CLERGY, S. 198). PISAN CLERGY, 2
Man vergleiche etwa die in MGH SS XVIII und XVIIII zusammengestellten italienischen Annalen (vor allem aus Mailand, Parma, Verona und Florenz). Eine systematische Untersuchung dieser frühen Annalen gibt es bisher nicht. Neben SOMMERLECHNER: STUPOR M U N D I , S . 59-66 sei daher zunächst auf CAMMAROSANO: ITALIA MEDIEVALE, S . 88 ff. verwiesen. Einen Überblick über die
Erinnerungsbestände
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eines einheitlichen, durchgehenden Formulars der einzelnen Einträge, wie es die späteren Kommunalannalen kennzeichnen wird. 1 In denkbar knapper Form wird entweder am Beginn oder am Ende des Eintrags das Datum genannt, worauf in sprachlich anspruchsloser Form eine prägnante Kennzeichnung des jeweiligen Ereignisses folgt. Neben der Formlosigkeit gehört zu den Kennzeichen dieser Texte, daß die einzelnen Eintragungen ohne expliziten Zusammenhang einfach aneinandergereiht sind. Es finden sich weder einleitende, noch einzelne Einträge weiter kommentierende Passagen. 2 Daher kann nur eine Analyse der einzelnen Einträge Hinweise auf Funktion und Bedeutung dieser Texte liefern. Bei den meisten derartigen Annalen wird man davon ausgehen müssen, daß sie Auszüge aus umfangreicheren Texten sind. So wurden etwa in Necrologien oder anderen kalendarischen Aufzeichnungen auch wichtige Ereignisse der Stadt- oder Klostergeschichte notiert. 3 Spätere Schreiber haben dann die unter dem Tagesdatum verzeichneten Einträge in eine lineare, also nach Jahren sortierte Form gebracht. Da das Chronicon Pisanum und die Annales Antiquissimi nur in Einzelfallen das Tagesdatum nennen, wird man jedoch ausschließen können, daß beide Texte Auszüge aus solchen kalendarischen Aufzeichnungen sind. 4 Eine weitere Form, bei der eine Anlagerung annalistischer Notizen beobachtet werden kann, sind die früh- und hochmittelalterlichen Herrscher- und Bischofslisten. Diese bestehen zunächst einfach aus einer Liste von Daten zu den jeweils amtierenden Bischöfen oder Herrschern. 5 Ähnlich wie die kalendarischen Aufzeichnungen wurden auch sie dann im Laufe der Zeit genutzt, um weiterfuhrende Einträge, etwa zu Stadt-
1
erhaltenen Annalenwerke des italienischen Hochmittelalters ermöglicht der entsprechende Abschnitt in REPFONT II, S. 243 ff. (,Annales...'). Zu Beispielen aus anderen Städte und dann auch zu den späteren, durch den Wechsel der städtischen Amtsträger gegliederten Kommunalannalen (etwa den Podestä-Katalogen des 13. Jahrhunderts) SOMMERLECHNER: STUPOR MUNDI, S. 59-66. Die einschlägigen Überblicksdarstellungen über die historiographische Gattung Annalen sind in diesem Zusammenhang wenig hilfreich; vgl. etwa MCCORMICK: ANNALES.
2
3
Beide Merkmale verbinden die hier interessierenden Texte mit den Annalenwerken aus anderen geographischen und funktionalen Zusammenhängen. Ein Beispiel hierfür stellen die Mailänder Notae S. Mariae dar. Zu beachten ist hier jedoch, daß die chronologische Anordnung der Einträge, wie sie etwa in der MGH-Edition begegnet, einen Eingriff des Herausgebers darstellt. In der Handschrift des sogenannten Beroldus vetus sind die Einträge am jeweiligen Jahrestag in den Kalender eingetragen. Zu den Notae S. Mariae BUSCH: MAILÄNDER GESCHICHTSSCHREIBUNG, S. 42 f. Allgemein zu dieser Form wiederum CAMMAROSANO: ITALIA MEDIEVALE, S. 88-90 (mit Blick auf Italien) und die methodisch wegweisende Studie von FREISE: GRUNDFORMEN (überwiegend zum nordalpinen Raum).
4
Was nicht heißen muß, daß eventuelle Kompilatoren nicht auch auf solche Notizen zurückgegriffen haben, etwa - im Falle des Chronicons - für die Todesdaten der Bischöfe.
5
Zu solchen Listen wiederum allgemein CAMMAROSANO: ITALIA MEDIEVALE, S. 90 ff.; zu den italienischen Herrscherlisten SANDMANN: HERRSCHERVERZEICHNISSE; vor allem zu den Bischofslisten PICARD: SOUVENIR, S . 3 9 5 - 5 7 2 .
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Die frühe kommunale
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bränden, Kriegen usw. aufzunehmen.1 Es ist entsprechend zu prüfen, ob auch die beiden Pisaner Annalentraditionen in Zusammenhang mit älteren Königs- oder Bischofslisten stehen. Während sich im Falle der Annales Antiquissimi nichts darüber aussagen läßt, ob sie Auszüge aus einer Bischofs- oder Herrscherliste sind, da sie ausschließlich städtische Ereignisse nennen,2 kann eine Analyse des Chronicon Pisanum hier weiterfuhren. c. Die Kompilation des Chronicon Pisanum Innerhalb des Chronicon Pisanum lassen sich mehrere thematische Zeitreihen unterscheiden. Das chronologische Skelett des Textes ist eine von 687 bis 1027 bzw. 10563 reichende Liste fränkischer und später italienischer Herrscher. Im Gegensatz zu den übrigen Ereignissen sind die Einträge der Herrscherliste durchgehend nicht nach dem in Pisa üblichen Annunziationsstil datiert,4 so daß man schließen kann, daß die den Kern des Chronicons bildende Herrscherliste nicht in Pisa selbst entstand, sondern nach 1027 oder nach 1056 in die Arno-Stadt gelangte. Hier wurde sie dann durch verschiedene Einträge ergänzt. Neben den weiter unten zu analysierenden Eintragungen zu wichtigen Ereignissen der Geschichte Italiens und der engeren Stadtgeschichte Pisas finden sich eine mit Hugo (flOOl) beginnende Liste der toskanischen Markgrafen und eine - allerdings nur in einem Teil der Handschriften enthaltene - Liste Pisaner Bischöfe seit (f 1076).5 Beide Listen sind nach dem Pisaner Annunziationsstil datiert, sind also in Pisa in die Vorstufe des Chronicons gelangt.6
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PICARD: SOUVENIR, S . 538 ff. Zur Verbindung zwischen den Herrscherlisten und der chronikalischen Überlieferung SANDMANN: HERRSCHERVERZEICHNISSE, S . 64. Ein Beispiel für die Ausweitung einer Herrscherliste zu einer regionalen Chronik stellt der sogenannte Catalogus regum Langobardorum et imperatorum Aretinus dar. Der anonyme Verfasser hat die bis 1056 reichende Herrscherliste um Einträge zur Geschichte der Kirche von Arezzo ergänzt. Da der Text in einer theologischen Handschrift überliefert ist, würde es aber wundern, wenn der Schreiber die Nennungen der Bischöfe ausgelassen hätte. Wahrscheinlicher ist da schon, daß er die Einträge zu den weltlichen Herrschern weggelassen hat, die für den vermutlich Pisaner Geistlichen von geringerem Interesse waren. Die Fassung Bernardo Maragone nennt zuletzt den Tod Heinrichs II. 1024, die Fassung Lucca die Kaiserkrönung Konrads II. 1027, die Florentiner Fassung erwähnt als letzten Herrscher des 11. Jahrhunderts den Tod Heinrichs III. 1056 (im Text jedoch irrtümlich Konrad genannt!). Dieser wird in Pisa seit der Mitte des 10. Jahrhunderts verwendet. Vgl. unten S. 178 f. Vollständig enthalten nur in L, zum Teil enthalten in M. Es ist nicht sicher, ob alle Einträge zu den Markgrafen in Pisa niedergeschrieben wurden, da erst seit Gottfried dem Bärtigen (f Dezember 1069) zweifelsfrei der Stilus Pisanus verwendet worden ist. Möglicherweise enthielt die nach Pisa .importierte' Herrscherliste schon Einträge zum Tod der Markgrafen Hugo (t Dezember 1001, L, F: 1001, Nachricht fehlt in M) und Bonifatius (fl052, L, F, M: 1054). Gerade die um zwei Jahre abweichende Angabe zum Tod des Bonifatius, die auf unterschiedliche Weise gedeutet werden kann, zeigt, wie schwierig hier im Einzelfall die Identifizierung des verwendeten Datierungsstils ist.
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Die den Grandstock des Chronicons bildende Liste unterscheidet sich in signifikanter Weise von anderen aus Pisa bekannten Herrscherlisten.1 Während diese detaillierte Informationen zum Antritt der Herrschaft, zu eventuellen Kaiserkrönungen etc. enthalten,2 erwähnt die Liste des Chronicons in einigen Fällen den Herrschaftsantritt, in der Regel jedoch ausschließlich das Todesjahr der Herrscher.3 Dies wirft die Frage nach der Funktion einer solchen Liste auf. Die sonstigen aus Pisa bekannten Herrscherlisten hatten vermutlich eine praktische Funktion: Sie dienten der Umrechnung bzw. Überprüfung von Datierungsangaben in Urkunden.4 Zu einem solchen Zweck sind die Eintragungen des Chronicons jedoch denkbar ungeeignet, da sie nur in einigen Fällen das fur die Datierung unerläßliche Datum des Regierungsantritts nennen. Auch hat die Pisaner Liste wohl nicht liturgischen Zwecken gedient, da sie nicht das für das Gebetsgedenken wichtige Tagesdatum des Todes überliefern. Möglich ist aber immerhin, daß die Einträge zu den Herrschern im Chronicon einer ursprünglich umfangreicheren Herrscherliste entnommen wurden, die - hierauf deutet der verwendete Datierungsstil hin - Mitte des 11. Jahrhunderts nach Pisa gelangt ist.5 Zu erwähnen ist schließlich noch ein wichtiger Unterschied zwischen der Herrscherliste des Chronicons und den übrigen italienischen Herrscherlisten. Während diese üblicherweise entweder mit der fränkischen Herr-
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Als Vergleichsbeispiele bieten sich die in der Brüsseler Kompilation des Guido enthaltene Herrscherliste (zu dieser unten S. 92 ff.) und die verwandte Liste des Codex ACL 618 an (vgl. zu dieser oben S. 48). Charakteristisch ist der folgende Eintrag aus der Liste der Luccheser Handschrift des Chronicons: „Octo p(r)im(us) imp(er)ator, p(r)imo anno sui regni erant ab incarnatione d(omi)ni ann(i) dcccclxi. Reg(nauit) ann(os) xi et m(en)ses iii" (ACL 618, fol. 2r.). Nur sieben Einträge beziehen sich auf den Herrschaftsantritt, 12 auf den Tod eines Herrschers. Bei keinem Herrscher wird Beginn und Ende der Herrschaft verzeichnet. Zur Funktion solcher Königslisten für Richter, Rechtsgelehrte und Notare WICKHAM: LAWYER'S TIME, S. 57 ff., vor allem S. 66. Das Bedürfnis nach präzisen Angaben zu Herrschaftsantritt, Regierungsjahren etc. ergab sich für Pisa konkret aus dem Umstand, daß sich hier erst seit der zweiten Hälfte des 10. Jahrhundert die Datierung von Urkunden unter Verwendung einer christlichen Ära durchzusetzen begann. Zuvor beschränkte sich die Jahresangabe auf die Nennung von Herrscherjahren und Indiktion (vgl. PICOTTI: OSSERVAZIONI). Die erste Datierung nach Annunziationsjahren findet sich in Pisa in einer Urkunde aus dem Jahr 985/86 (PICOTTI: OSSERVAZIONI, S. 52). Auf diese computistische Funktion der Herrscherlisten weist auch der Einleitungssatz zu einer weiteren Herrscherliste aus Pisa hin (Pisa, Biblioteca Catheriniana del Seminario, Ms. 27 - 11./12. Jh.): Jncipit argumentum ad indictionem per tempora regum inueniendam" (zitiert nach SANDMANN: HERRSCHERVERZEICHNISSE, S . 19). Allgemein zum Zusammenhang SANDMANN: HERRSCHERVERZEICHNISSE, S . 6 4 f.
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Eine Durchsicht der von SANDMANN: HERRSCHERVERZEICHNISSE zusammengestellten Herrscherlisten hat jedoch keine hinreichende Übereinstimmung finden können. Der auffälligste - weil jüngste - Fehler, die Verwechslung von Heinrich III. und Konrad II. zu 1056 findet eine Erklärung mit Blick auf den Catalogus excerptus, in dem es heißt: „Cunradus imperator, primo anno sui regni erant ab inc. Domini anni 1027; regn. ann. 30". Rechnet man nach, erhält man für Konrad das Todesjahr 1057. Die Frage nach eventuellen Beziehungen muß jedoch unbeantwortet bleiben.
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schaftsübernahme in Italien oder aber mit langobardischen Herrschern beginnen,1 setzt die Liste des Chronicons mit dem Herrschaftsantritt des fränkischen Hausmeiers Pippin ein. Sie führt also Vorfahren der Karolinger auf, die gar nicht in Italien herrschten, läßt aber die zeitgleichen Langobardenkönige Italiens aus. Wenngleich denkbar ist, daß dieser Befund auf die Vorlage des Pisaner Textes zurückgeht, wird er dennoch weiter unten bei der Interpretation des Chronicons zu berücksichtigen sein. Die Pisaner Kompilatoren haben jedoch nicht nur die Herrscherreihe einem älteren Werk entnommen. Vor dem ersten direkt auf Pisa bezogenen Eintrag 969/9712 folgen einige Nachrichten, die sich thematisch auf die Einfalle von Ungarn, Sarazenen und Byzantinern in Süditalien konzentrieren.3 Der Gedanke liegt nahe, daß diese Informationen einer süditalienischen Quellen entnommen worden sind. Und tatsächlich, läßt sich in diesem Fall ein süditalienisches Annalenwerk bestimmen, auf das die Pisaner Einträge zurückgehen.4 Ein Vergleich mit dieser Vorlage zeigt aber, daß der Pisaner Kompilator in diesem Falle alle Einträge in den stilus Pisanus umgerechnet hat. Hieraus läßt sich wieder schließen, daß der Kompilator fur seine Nachrichten zu den Herrschern nicht auf diese süditalienische Quelle zurückgegriffen hat, da er diese sonst auch in den stilus Pisanus umgerechnet hätte. Daß die Daten der Herrscherliste nicht umgerechnet worden sind, kann in unterschiedlicher Weise erklärt werden. Entweder wußte der Kompilator nicht, daß die von ihm für die Einträge zu den Herrschern verwendete Quelle nicht aus Pisa stammte, also nicht nach dem stilus Pisanus datiert war. In einem solchen Fall hätte er die Daten natürlich nicht umgerechnet. Oder aber die Herrscherliste ist nicht zeitgleich mit den Ergänzungen aus süditalienischen Quellen in das Pisaner Annalenwerk gelangt und der in diesem Fall aktive Kompilator wußte im Gegensatz zu seinem Kollegen nicht, daß er die unterschiedlichen Datierungsstile anpassen mußte. In diesem Fall hätte man ein Indiz für eine schrittweise Ergänzung bzw. Vervollständigung der ursprünglichen Annalen durch mehrere Personen.
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V g l . SANDMANN: HERRSCHERVERZEICHNISSE, S . 5 5 f f .
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Den Eintrag uerunt Pisani in Calabria" datieren die Fassungen L und F auf 969, die Fassung Μ auf 971. Da dieses Ereignis nicht durch die Annales Antiquissimi überliefert wird, ist auch hier denkbar, daß die entsprechende Nachricht der süditalienischen Quelle entnommen wurde. Die Einträge zu 885/890 (L,F/M), 917, 936 und 937. Schon die ältere Arbeit von SCHEFFER-BOICHORST: ÄLTERE ANNALISTIK hatte auf Parallelen des Pisaner Textes mit Lupus Protospatarius hingewiesen. Aufgrund von Abweichungen kommt Scheffer-Boichorst zu dem Ergebnis, daß die Pisaner Annalen nicht direkt auf Lupus zurückgehen, sondern daß beide eine gemeinsame Vorlage benutzten (SCHEFFER-BOICHORST: ÄLTERE ANNALISTIK, S. 510). Übereinstimmungen zwischen Lupus und dem Chronicon bestehen für die Zeit von 866 bis 936, wobei sich alle enstprechenden Ereignisse auf süditalienische Ereignisse beziehen, so daß man eine süditalienische Herkunft des Textes als sicher ansehen kann. Vgl. zu weiteren Verbindungen nach Süditalien innerhalb des Pisaner Textkorpus unten S. 100 ff.
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Zur Entstehung des Chronicons Klammert man die Einträge zu Königen und Kaisern und die Übernahmen aus der süditalienischen Quelle aus, so bleiben 20 Einträge zur Stadtgeschichte Pisas sowie die Todesdaten der Pisaner Bischöfe und der toskanischen Markgrafen bzw. Markgräfinnen übrig. Beim derzeitigen Kenntnisstand gibt es keine Hinweise darauf, daß die Einträge zu den Markgrafen nicht von Beginn an Bestandteil des Chronicons waren oder etwa aus einer älteren Quelle übernommen worden sind. 1 Anders ist dies jedoch im Fall der Bischofsliste, die im Luccheser Codex fehlt. 2 Zudem ist auffallig, daß die Liste der Pisaner Bischöfe erst spät, mit dem Tod des Bischofs Guido 1076 einsetzt, während die stadtgeschichtlichen Einträge schon seit Beginn des Jahrhunderts reichhaltig sind. Wie bereits oben vermutet, wurden die Todesdaten der Bischöfe wohl erst nach dem Abschluß der Fassung Lucca - also nach 1099 - in den Text des Chronicons eingearbeitet. Auf der Basis der bisher erzielten Ergebnisse läßt sich eine Hypothese zur Entstehung der ältesten Vorlage der überlieferten Fassungen des Chronicon Pisanum (x) aufstellen: Nach 1087 wurde in Pisa aus Bestandteilen unterschiedlicher Provenienz ein annalistischer Text zusammengestellt. Die älteste Fassung dieses Textes bestand aus einer Liste fränkischer, später italienischer Herrscher von Pippin dem Mittleren (f 714) bis Konrad II. bzw. Heinrich III., den Sterbedaten der toskanischen Markgrafen sowie einer Reihe stadtgeschichtlicher Nachrichten. Zusätzlich enthielt dieser Text Eintragungen zu den Invasionen von Ungarn und Sarazenen in Süditalien, die entweder schon Teil der Herrscherliste waren oder später hinzugefugt wurden. Vermutlich erst nach 1100 wurden dieser ersten greifbaren Fassung dann die Sterbedaten Pisaner Bischöfe seit Guido von Pavia hinzugefügt.
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Vgl. oben S. 66, Anm. 6. Gegen die These, die Einträge zu den Pisaner Bischöfen seien erst in Lucca ausgelassen worden, oben S. 56, Anm. 7.
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3. Frühe Annalen und Stadtgeschichte
Kämpfe Pisas gegen die Sarazenen im westlichen Mittelmeer nach dem Chronicon Pisanum und den Annales Pisani Antiquissimi (alle Daten st. pis.)
a. Vergleich der Texte Die bisherige Untersuchung konzentrierte sich auf Struktur und Datierung der Texte. Auf der Grundlage der Einsichten in die Textgenese der Pisaner Annalen können nun weitere Fragen beantwortet werden. Da nur die stadtgeschichtlichen Nachlichten in allen annalistischen Texten zu finden sind, also im Chronicon, in den Annales Antiquissimi und in der annalistischen Inschrift der Domfassade, sollen diese zunächst gesondert betrachtet werden. Hierbei ist die unterschiedlich starke ,Komprimiemng' der Stadtgeschichte auffällig: Das Chronicon erwähnt bis 1080 15 stadtgeschichtliche Ereignisse, die Annales Antiquissimi noch 6, die Inschrift der Domfassade beschränkt sich
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Erinnerungsbestände
schließlich auf ganze 3 bzw. 4 Ereignisse.1 Die so zu beobachtende schrittweise Verdichtung der Stadtgeschichte auf immer weniger Ereignisse verweist auf das Interesse der Pisaner Autoren an der Geschichte ihrer Stadt, das auch in den weiteren Zeugnissen der Pisaner Erinnerungskultur nachzuweisen sein wird. Die folgende Übersicht enthält nur die im engeren Sinne stadtgeschichtlichen Einträge des Chronicon Pisanum bis 1088 st. pis. (alle Daten nach dem Stilus Pisanus)2:
969/971
Kämpfe der Pisaner in Kalabrien
1004
Sieg der Pisaner über Lucca
1005
Sarazenen überfallen Pisa
1006
Sieg der Pisaner über die Sarazenen bei Reggio/Messina
1012
Spanische Sarazenen zerstören Pisa
1016
Pisaner und Genuesen vertreiben die Sarazenen Mugähids von Sardinien
1017
Mugähid kehrt nach Sardinien zurück und wird wiederum von dort vertrieben. Im Anschluß greifen die Genuesen die Pisaner an, werden aber von diesen besiegt.
1030
Stadtbrand in Pisa
1035
Pisaner Sieg über die nordafrikanische Stadt Bona
1055
Pisaner siegen in einem Krieg gegen Lucca.
1065
Pisaner Sieg über die Sarazenen in Palermo
1066
Genueser Flotte in der Arno-Mündung
1072
Pisaner Flotte vor Portofino in Bedrängnis
1078
Genueser Flotte wird in der Arno-Mündung von den Pisanem zurückgeschlagen
1079
Genuesen dringen auf Vada vor. Pisaner greifen Rapallo an und brennen die dortige Burg nieder. Pisaner schlagen eine Genueser Flotte zurück
1086 1088
Hungersnot in Italien Pisaner und Genuesen siegen in al-MahdTya. Tod des Vicecomes Ugo. Aus den Mitteln der Beute wird der Bau von San Sisto finanziert.
Vor allem drei Bereiche der engeren Stadtgeschichte interessieren den oder die Autoren des Chronicons: (1.) Die Kämpfe Pisas mit den Sarazenen, (2.) die Kämpfe mit den christlichen Nachbarstädten, mit Lucca und der Rivalin im tyrrhenischen Meer, Genua und schließlich (3.) Naturkatastrophen, Stadtbrände und Hungersnöte. Sieht man davon ab, daß bei all diesen Ereignissen die Stadt bzw. die Stadtbewohner die Protagonisten (bzw. im Falle der Katastrophen die Leidtragenden) sind, daß es sich also in allen Fällen um Ereignisse der Stadtgeschichte handelt, so hält sich diese Mischung aus Krieg
2
3 oder 4 je nachdem, ob man den Angriff der Sarazenen auf Pisa, der im ersten Eintrag der Inschrift als Grund für den Kriegszug der Pisaner genannt wird, als eigenständiges Ereignis mitzählt. Zu den Einträgen zu Königen, Markgrafen und Pisaner Bischöfen unten S. 74 ff.
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Die frühe kommunale
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und Naturkatastrophen durchaus im Rahmen dessen, was in der frühmittelalterlichen Historiographie üblich war. 1 Allerdings ist die Geschichte der Stadt, wie sie einem im Chronicon entgegentritt, keineswegs ausschließlich eine Erfolgsgeschichte: Zweimal ist die Stadt von den Sarazenen überfallen bzw. zerstört worden, und auch die ^Vktionen der Pisaner auf dem Meer sind nicht immer von Erfolg gekrönt, wie das erwähnte Ereignis vor Portofino 1072 st. pis. zeigt.2 Ein anderes und unter bestimmtem Blickwinkel verengtes Bild zeigen dann die Annales Antiquissimi (auch hier Daten nach dem Stilus Pisanus):
1005
Sarazenen überfallen Pisa
1006
Sieg der Pisaner über die Sarazenen bei Reggio/Messina
1016
Pisaner vertreiben die Sarazenen unter Mugähid von Sardinien
1035
Pisaner besiegen das nordafrikanische Bona. Stadtbrand in Pisa
1065
Pisaner Sieg über die Sarazenen in Palermo
1066
Erdbeben in Pisa
1088
Sieg der Pisaner in al-Mahdlya
1099
Pisaner verwüsten Leucas
1114
Pisaner ziehen gegen Mallorca
1117
Erdbeben in Pisa
Würden hier nicht Ereignisse erwähnt, die im Chronicon fehlen, 3 man könnte die Annales Antiquissimi durchaus für einen Auszug aus diesem halten. 4 Zwar werden auch hier Naturkatastrophen verzeichnet, ansonsten erscheint die städtische Vergangenheit aber als Erfolgsgeschichte. Beginnend mit dem Überfall der Sarazenen auf Pisa 1005 st. pis. ist die Geschichte der Stadt gleichbedeutend mit einem siegreichen Kampf gegen die Sarazenen. Hier zeichnet sich so schon ein Entwurf der Stadtgeschichte ab, wie er auch später in den großen Geschichtsdichtungen zu sehen sein wird: Bedeutend und damit erinnerungswürdig ist der in Einklang mit der christlichen Ethik stehende Kampf gegen
1
Zur „Omnipräsenz des Krieges in der Historiographie" (vor allem des Frühmittelalters) zuletzt SCHARFF: KÄMPFE, S . 1. Vgl. zum Krieg als Startpunkt kommunaler Geschichtswerke W I C K H A M : S E N S E OF THE P A S T S . 1 7 6 ff.; zum Krieg als Antrieb zur Ausbildung kollektiver Identität in den mittelalterlichen Städten VOLTMER: LEBEN.
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3
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Wobei sich der Verfasser hier direkt bemüht, dieses Mißgeschick durch Verweis auf den göttlichen Ratschluß zu relativieren: ,Jverunt Pisani ad Portum Dalfini, et fuerunt in gravi pericolo, iudicio Dei, non hominis"' („Die Pisaner segelten nach Portofino und gerieten dort in große Gefahr, nach dem Urteil Gottes, nicht der Menschen"). Es fehlt das Erdbeben von 1066 st. pis. und der hier verzeichnete Stadtbrand von 1035 st. pis. Vgl. aber oben S. 58, Anm. 7. Zum Verhältnis der beiden Texte oben S. 59 f.
Erinnerungsbestände
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die Feinde des Glaubens, die heidnischen Sarazenen. 1 Diese Sicht der Geschichte vermag auch zu erklären, wieso die Konflikte mit den christlichen Nachbarn nicht als erinnerungswürdig gelten und damit nicht in die Reihe wichtiger Ereignisse aufgenommen bzw. aus ihr getilgt wurden: 2 Die Kämpfe gegen die christlichen Nachbarn können in diesem Zusammenhang nur als zänkisches Fehlverhalten aufgefaßt werden. Parallel zum Verschweigen der Konflikte mit Genua und Lucca wird auch die im Chronicon Pisanum noch erwähnte Teilnahme der Genuesen an den Kämpfen auf Sardinien und in al-Mahdlya unterdrückt. Der exklusiv-triumphalistische Grundcharakter des Pisaner Selbstbildes tritt hier erstmals deutlich hervor: Es sind vor allem - wenn nicht gar ausschließlich - die Pisaner, die ganz alleine die Sarazenen besiegen und deren Einfluß im tyrrhenischen Meer und später dann im ganzen westlichen Mittelmeerbecken zurückdrängten. Die in den Annales Antiquissimi noch parataktisch nebeneinander stehenden Einträge werden dann im Text der Inschrift in signifikanter Weise verbunden 3 :
1006
Nachdem die Sarazenen Pisa angegriffen hatten, wehren die Pisaner die Bedrohung durch die Sarazenen ab, indem sie diese ihrerseits bei Messina angreifen.
1016
Die Pisaner siegen auf Sardinien
1035
Pisaner erobern das nordafrikanische Bona.
In eine monumentale Steinplatte eingegraben und an der Fassade des mit Abstand wichtigsten Gebäudes der Stadt, der Kathedrale, angebracht, hält diese Geschichtsschreibung an der Kirchenwand die Essenz der Pisaner Geschichte des 11. Jahrhunderts fest: Nachdem es die Sarazenen waren, die Pisa angriffen, die die Stadt zerstören wollten, hat sich Pisa gegen die Sarazenen gewendet und diese mehrfach geschlagen. 4 In diesen Siegen ist der Ruhm der Stadt begründet, diese Großtaten der Stadt dürfen niemals vergessen werden. 5
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Hierzu ausführlich unten S. 120 ff. Die Textanalyse hatte ergeben, daß Annales Antiquissimi und Chronicon Pisanum auf eine gemeinsame Vorlage zurückgehen. Es ist daher wahrscheinlich, daß der Kompilator der Annales Antiquissimi die Einträge zu den Kämpfen mit Genua und Lucca nicht übernommen hat, obwohl sie in seiner Vorlage verzeichnet waren. Vgl auch unten S. 336 ff. Der gesamte Komplex der Inschriften des Domplatzes wird später noch ausführlich dokumentiert und interpretiert, vgl. unten S. 263 ff. Vgl. hierzu den gesamten Text der Inschrift unten S. 336.
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b. Stadtgeschichte im Chronicon Pisanum Die stadtgeschichtlichen Nachrichten des Chronicons sind durch eine ganze Reihe weiterer Einträge ergänzt. Die Auswahl der so kompilierten historischen Daten ist bisher in der Forschung nicht thematisiert worden, obwohl sie doch ein interessantes Licht auf das Interesse der Pisaner Kompilatoren wirft. Erst durch die Aufnahme von Einträgen aus nicht-Pisaner Quellen fuhrt das Chronicon hinter die ansonsten die zeitliche Grenze der Pisaner Überlieferung bildende Jahrtausendwende zurück. 1 Es liegt nahe, in den erwähnten Ereignisse - nicht nur im rein zeitlichen Sinne - eine Vorgeschichte der Pisaner Geschichte des 11. Jahrhunderts zu sehen: Das Chronicon stellte die Geschichte der Stadt in eine Traditionslinie, die mit Ereignissen und Personen des frühen Mittelalters beginnt. Eindeutig scheint dies bei der Übernahme von Nachrichten zu den Invasionen der Ungarn und Sarazenen aus der identifizierten süditalienischen Quelle zu sein. Sie bilden die Vorgeschichte: zu den Kämpfe der Pisaner mit den sarazenischen Angreifern des 11. Jahrhunderts. Durch die Kompilation wird dokumentiert, daß Sarazenen und andere heidnische Völker schon lange vor dem Angriff auf Pisa zu Beginn des 11. Jahrhunderts das christliche Abendland bedrohten. 2 Hierdurch wird die Bedeutung der Pisaner Siege betont, die eine seit Jahrhunderten bestehende Bedrohung des christlichen Italien endgültig beenden. Möglicherweise kann man aber noch einen Schritt weiter gehen. Schon oben wurde auf die Besonderheit der Herrscherliste des Chronicons verwiesen. Im Unterschied zu den sonstigen italienischen Herrscherlisten geht das Chronicon nicht bis zu den Langobarden-Herrschern zurück, sondern beginnt seinen Bericht mit der Übernahme der Herrschaft im Frankenreich durch Pippin den Mittleren 688, obwohl dieses Ereignis für die Geschichte des Regnum Italicum erst viel später Bedeutung erhalten sollte.3 Durch die Erwähnung dieses für die Geschichte der Karolinger wichtigen Datums wird so der fränkische Ursprung der Herrschaft italienischer Könige und Kaiser des 9.-11. Jahrhunderts betont. 4 Für das Verständnis des Chronicons ist wichtig, daß hier die fränkische
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Hierzu ausfuhrlich unten S. 106 f. Es ist allerdings nicht sicher, daß der Pisaner Kompilator wußte, daß die ,Agareni', die im 9. Jahrhundert von den Franken besiegt wurden (vgl. das Chronicon zu 871), nur eine andere Bezeichnung für die Sarazenen war. Vgl. hierzu unten S. 136, Anm. 1. Vgl. zum historischen Ereignis die oben S. 55, Anm. 4 angeführte Literatur. Gerade dies steht in interessantem Kontrast zur Auffassung der späteren Mailänder Autoren, die vor dem Hintergrund der eigenen Auseinandersetzung mit Friedrich Barbarossa - die Geschichte der fränkisch-deutschen Herrschaft in Italien als eine weitere Etappe fremder Invasionen auffaßten. So berichtet etwa die anonyme Mailänder Narratio de Longobardie Obpressione von der „Misere itaque Longobardie, que sevitiam et inmanitatem Romanorum primum, Vandalorum, Gothorum, Vinilorum, Francorum, Ungarorum, Teotonicorum experta est" (S. 240) („der Bedrückung der unglücklichen Lombardei, die zunächst die Grausamkeit und Unmenschlichkeit der Römer, Wandalen und Gothen, Winiler, Franken, Ungarn und Deutschen erfuhr"). Zum Text B U S C H : M A I L Ä N D E R G E SCHICHTSSCHREIBUNG, S. 51 ff. Eine ähnliche Einschätzung der Reichsherrschaft in Italien findet
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Geschichte bzw. die Geschichte der fränkischen Herrscher in Italien mit der Vorgeschichte der Pisaner Sarazenen-Kämpfe verbunden wird: Der erste Gegenschlag gegen die sarazenischen Invasoren wird von den Franken geführt: 1 "DCCCLXXI Exierunt Agareni de Bari per Francos III nonas Februarii." Die Nachricht bezieht sich auf die Einnahme Baris, das seit der Eroberung 847 ein sarazenisches Emirat bildete, durch den König von Italien und Kaiser Ludwig II.2 Der oder die Autoren des Chronicons betonen so den Zusammenhang wischen der Erneuerung kaiserlicher Herrschaft in Italien seit den Karolingern und der Bekämpfung der (heidnischen) Sarazenen. 3 Die Kämpfe der Pisaner gegen die Sarazenen stehen im Chronicon in einer Linie mit den Kämpfen der Könige und Kaiser gegen fremde Invasoren. 4 Hier scheint hier erstmals ein Gedanke auf, dem man auch an anderer Stelle wieder begegnen wird: Die Pisaner stellen sich und ihre Kämpfe gegen die Sarazenen immer wieder in imperiale Traditionen. Sehen Pisaner Autoren an anderer Stelle ihre Stadt als ,secunda Roma', als zweites oder neues Rom, 5 so scheint der Autor bzw.
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sich bei Johannes Codagnellus, vgl. zu diesem BUSCH: MAILÄNDER GESCHICHTSSCHREIBUNG, S. 70 ff. Chronicon Pisanum, S. 99 zu 871. Vgl. zum Ereignis RI, I. 3, T.l, Nr. 316 (2. Februar 871) (mit weiterer Literatur), allgemein MusCA: BARI.
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Diese Auffassung der Pisaner Sarazenenkämpfe als Übernahme kaiserlicher Pflichten könnte man mit dem Text der Anonymen Exhortatio ad proceres regni kontrastieren. Der zur Zeit der Unmündigkeit Heinrichs IV. entstandene Text fordert Italien auf, sich gegen die fremden Invasoren zu wenden, um das Reich zu schützen (Exhortatio, V. 5 ff.; zum Text zuletzt STRUVE: KAISERTUM, S. 424 f.): "Subdite Nortmanni iam colla ferocia regi, Imperio adsocii bella parate duci. Hinc Saracenos deuincite, tum simul Hunos, Reddite securam gentibus Hesperiam."
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Dieser Gedanke konnte natürlich an die verbreiteten Vorstellungen von den Aufgaben der Könige und Kaiser anknüpfen. Vgl. hierzu allgemein GOETZ: KAISER (mit reichen Literaturangaben). Nur am Rande kann daran erinnert werden, daß gerade Karl der Große (als im Mittelalter prominentester Vertreter der Karolinger) in der Heldenepik mit den Kämpfen gegen die Heiden verbunden wurde. Insbesondere die Tradition der Chansons de geste fuhrt diesen Zusammenhang immer wieder in Erinnerung. Deren Rezeption in Pisa ist für die hier interessierende Zeit zumindest indirekt belegt. Vgl. unten S. 193, Anm. 1. Wieso der Kompilator, der doch die Nachrichten über die Ungarneinfälle übernimmt, in diesem Zusammenhang nicht auch den Sieg Ottos I. über die Ungarn oder die Kämpfe der Ottonen gegen die Sarazenen erwähnt, von denen Lupus Protospatarius berichtet, ist nicht klar. Den Zusammenhang zwischen Imperium und Heidenkampf stellt dann auch die Torinschrift der Pisaner Porta Aurea her (BANTI: MONUMENTA, Nr.9, S. 22, Z.3 f.): „HA(n)C URBE(m) DEC(us) I(m)PERII GENERALE PUTETIS QUE FERA PRAVORU(m) COLLA FERIRE SOLET."
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Kompilator des Chronicon Pisanum die Stadtgeschichte an die Geschichte der fränkischen Herrscher und ihrer Nachfolger anschließen zu wollen. Welche Konsequenzen man aus einer solchen historischen Traditionslinie gezogen hat, ist aufgrund der Kargkeit des Annalentextes nicht zu bestimmen. Hier werden die Analysen anderer Texte mehr Klarheit bringen. Noch etwas anderes wird jedoch schon an dieser Stelle deutlich: Das Chronicon Pisanum zeigt einen betont weltlichen Blick auf die Geschichte der Stadt. Erwähnt werden kriegerische Ereignisse und Naturkatastrophen, Kaiser und Könige und schließlich auch die toskanischen Markgrafen. Bemerkenswert ist dann vor allem, was im Chronicon nicht erwähnt wird: So findet sich kein einziger Eintrag zur Geschichte des Papsttums. Zumindest bis zur Erweiterung der Fassung fm enthält das Chronicon auch keine Nachrichten zu den Pisaner Bischöfen - sieht man von der Rolle Daiberts beim ersten Kreuzzug ab. Selbst für den engen Bereich der städtischen Kirchengeschichte fehlt das zentrale Datum: Zwar wird die Expedition gegen Palermo erwähnt. Kein Wort aber verliert der Text über den Baubeginn des neuen Doms im gleichen Jahr, ein Ereignis, das gleichermaßen im Zentrum der städtischen Geschichte und der Erinnerungskultur der Stadt steht.1 c. Der Entstehungskontext des Chronicons Kann man hieraus Hinweise auf den Kontext ableiten, in dem das Chronicon Pisanum entstanden ist?2 Der Befund der Luccheser Handschrift des Chronicons hatte vermuten lassen, daß der Text im Umkreis des Pisaner Domkapitels entstanden ist.3 Dies läßt sich
(„Haltet diese Stadt [sc. Pisa] für den Stolz des ganzen Reiches, die die wilden Nacken der Bösen zu schlagen pflegt.") Am Ende des 12. Jahrhunderts heißt es dann in einem anonymen VersFragment explizit (Liber Maiorichinus, S. 133): „Ego Roma altera iam solebam dici, [...] Propter gentes barbaras quas ubique vici."
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(„Einst wurde ich zweites Rom genannt, [...] da ich an allen Orten die barbarischen Völker besiegte.") Weiter unten wird auf die Pisaner Rom-Idee noch ausfuhrlich einzugehen sein. Vgl. vor allem unten S. 399 ff. Vgl. dazu ausführlich unten S. 263 ff. Eine hier nicht weiter verfolgte Möglichkeit bestünde darin, nach gesellschaftlichen Gruppen in der Stadt zu suchen, die zum Zeitpunkt der Entstehung des Textes eine pro-imperiale Position eingenommen haben (zu den Auswirkungen des Investiturstreites auf Pisa S. 331 f.). Ein solches Vorgehen würde jedoch vermutlich daran scheitern, daß man den Entstehungszeitpunkt der rekonstruierten Fassung nicht so präzise bestimmen kann, wie ein solcher Versuch es erforderte. Auch ist nicht sicher, ob es legitim ist, die spezifische Auswahl, wie sie im Chronicon vorliegt, mit einer dezidierten Position im Konflikt zwischen Regnum und Reformpapsttum zu identifizieren. Vgl. etwa auch die in der Guido-Inschrift der Domfassade durchscheinende Ausgleichs-Position (unten S. 329 ff.). Vgl. oben S. 64, Anm. 1. Zu diesem Ergebnis kommt auch Fisher, da er das Chronicon Pisanum und die Gesta triumphalia einem Autor zuschreibt (vgl. FISHER: PISAN CLERGY, S. 156). Der Autor
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jetzt aber nahezu zweifelsfrei ausschließen, da das Chronicon das für das Pisaner Domkapitel vielleicht wichtigste Ereignis des 11. Jahrhunderts nicht erwähnt: Den Beginn des Domneubaus im Jahr 1064.1 Auch ist nicht sehr wahrscheinlich, daß ein Domkanoniker in seinen Pisaner Annalen Kaiser, Könige und Markgrafen erwähnte, die Pisaner Bischöfe aber nicht. Aufgrund des besonderen Interesses an den kriegerischen Aktionen, gerade auch an den Kämpfen mit Lucca und Genua, möchte man hier eher an eine Entstehung im Umkreis der laikalen Führungsschicht der Stadt denken.3 Leider gibt es jedoch keine sicheren Indizien für eine literarische Produktion im Umkreis dieser Familien, wenngleich man gerade den im Bereich der Rechtssprechung involvierten Personen einen solchen Umgang mit dem Medium Schriftlichkeit durchaus zutrauen könnte.4 Dem Text selbst sind zwar keine zweifelsfreien Hinweise auf den oder die Autoren zu entnehmen, einige Spuren seien aber dennoch erwähnt.5
der Gesta triumphalia gehörte mit großer Wahrscheinlichkeit zum Domkapitel oder war doch zumindest in dessen Umkreis tätig (vgl dazu unten 87 ff.). Da die These der Identität der Autoren beider Texte hier nicht geteilt wird (vgl. unten S. 77, Anm. 5), entfällt natürlich auch die sich daraus ergebende Schlußfolgerung. Hier wie auch in anderen Fällen stellt das Fehlen einer systematischen Untersuchung der literarischen Betätigung und der Bibliotheksgeschichte im Umkreis des Pisaner Domkapitels ein nicht zu überwindendes Hindernis dar. Vgl. zur Problematik P E T R U C C I : LIBRI Ε SCRITTURE, S. 20. Da sich an vielen Stellen die große kulturelle Bedeutung des Domstifts für Pisa aber auch weit darüber hinaus abzeichnet, ist der Versuch einer Rekonstruktion der heute über die ganze Welt verstreuten Bibliothek des Stifts ein wirkliches Desiderat. Ein geringer Trost sind die bisher publizierten Inventare des Domkapitels, die zumindest eine Ahnung davon vermitteln, welche Texte im Umkreis der Kanoniker rezipiert und stellenweise auch produziert wurden. Vgl. PECCHIAI: I N V E N T A R » u n d B A R S O T T I : A N T I C H I INVENTARI. 1
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Vgl. ausfuhrlich unten S. 264 ff. Die Erwähnung des Dombaus bei Bernardo Maragone geht mit Sicherheit nicht auf das Chronicon zurück, sondern auf die von ihm bzw. einer seiner Vorlagen abgeschriebenen Inschrift der Domfassade (Bernardo Maragone: Annales Pisani, S. 5 f.). Diese finden sich ja nicht in der ältesten rekonstruierten Fassung ch, sondern wurden dem Chronicon erst später hinzugefugt. Spätestens seit Bischof Guido sind die Beziehungen zwischen Bischof und Domkapitel wieder als gut zu bezeichnen, so daß man mögliche Spannungen wohl nicht als Erklärung heranziehen kann (vgl. zum Verhältnis Domstift-Bischof unten S. 264 ff.). In seinem Interesse an den Kämpfen der Stadtgemeinde ähnelt das Chronicon den späteren Annalen des Pisaner Richters Bernardo Maragone ( t nach 1186), der den Text ja auch für die Frühzeit der Stadtgeschichte komplett übernommen hat. Zu diesem oben S. 50, Anm. 1 ff. Zum Umgang mit Schriftlichkeit in Pisa unten S. 371 f. Gerade die schon oben erwähnten Herrscherlisten sind vermutlich im Umkreis juristisch gebildeter Laien entstanden. Zum historischen Interesse italienischer Rechtsgelehrter und Notare W I C K H A M : L A W Y E R ' S T I M E . Eine ältere These zur Identifizierung des Autoren des Chronicons ist nicht haltbar. Seit SchefferBoichorst vermutet man in der Forschung, das Chronicon und die ausführlicheren Gesta triumphalia, seien Werke eines Autors ( S C H E F F E R - B O I C H O R S T : Ä L T E R E A N N A L I S T I K , S . 5 1 1 und zuletzt FISHER: P I S A N C L E R G Y , S. 1 5 1 ) . Grundthese der Argumentation Scheffer-Boichorsts ist, daß das Chronicon nicht vor 1115 entstanden ist. Ein Vergleich der Berichte des Chronicons und der Gesta zu 1100 st. pis. ergibt zwar tatsächlich Übereinstimmungen, diese interpretiert Scheffer-Boichorst nun aber nicht als Abhängigkeiten der beiden Texte voneinander. Vielmehr handle es sich um
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Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
Der Text des Chronicons enthält zwei Detailinformationen zur Expedition gegen alMahdiya, die angesichts des ansonsten eher mageren Textes überraschen:1 „MLXXXVIII. Fecerunt Pisani et Ianuenses stolum in Africa, et ceperunt duas munitissimas civitates, Almadiam et Sibiliam in die S. Sixti, in quo bello Ugo Vicecomes filius Ugonis Vicecomitis mortuus est. Ex quibus civitatibus Saracenis fere omnibus interfectis, maximam predam auri et argenti, palliorum et homamentorum abstraxerunt. De qua preda thesauros Pisane Ecclesie et diversis ornamentis mirabiliter amplificaverunt, et Ecclesiam Beati Sixti in curte veteri edificaverunt."
Erwähnt wird hier einmal der gefallene Ugo Visconte, dann aber auch die mit der Beute der Expedition finanzierte Stiftung der Kirche San Sisto in Cortevecchia, Daß als einziger Pisaner überhaupt ein Angehörigen der Familie der Pisaner Vizegrafen erwähnt wird, könnte darauf hindeuten, daß der Text des Chronicons bzw. dieser Eintrag von jemandem verfaßt wurde, der in - allerdings nicht näher zu bestimmender - Beziehung zu den Visconti stand.2 Übereinstimmungen, die sich daraus ergeben würden, daß hier der gleiche Autor am Werk gewesen sei. Vor dem Hintergrund der oben vorgenommenen Datierung des Chronicons ist es jedoch wahrscheinlicher, daß der Autor der Gesta triumphalia das Chronicon kannte und diesem Details und Formulierungen für seine Darstellung der Vorgänge entnahm. Die Vorstellung Fishers, das Chronicon sei vom Autor der Gesta triumphalia gewissermaßen als Vorbericht zu dieser umfangreicheren Darstellung verfaßt worden, ist ebenso abzulehnen. Zur Untermauerung seiner These fuhrt Fisher an, Chronicon und Gesta triumphalia hätten keine Ereignisse des jeweils anderen Textes erwähnt. Ihm ist jedoch selbst schon aufgefallen, daß sowohl die Gesta triumphalia als auch das Chronicon einen Bericht zum ersten Kreuzzug enthalten (Gesta triumphalia, S. 89 bzw. Chronicon Pisanum, S. 102). Die Berichtszeiträume beider Texte überschneiden sich also: das Chronicon in seiner ersten Fassung reicht bis einschließlich 1099, die Gesta triumphalia umfassen den Zeitraum von 1099-1119. Gegen die Auffassung, daß Gesta triumphalia und Chronicon ursprünglich einen zusammen gehörenden Text gebildet hätten, spricht auch der Befund der einzigen Handschrift der Gesta triumphalia. Diese Handschrift (Ms. Rediano 202; zur Handschrift oben S. 49 f.) enthält auf fol. 45r-48v den Text der Gesta triumphalia. Das Chronicon hingegen wurde hier von einer anderen Hand erst später auf fol. 49 nachgetragen. Wären beide Texte als Einheit konzipiert worden (so Fisher), hätte man sie sicher als einheitlichen Text und in chronologischer Reihenfolge kopiert. 1
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Chronicon Pisanum, S. 101f,. ad Ann. 1088. („1088. Pisaner und Genuesen unternahmen eine Flottenexpedition nach Nordafrika und eroberten dort zwei stark befestigte Städte, Almad ia und Sibilia, am Tag des heiligen Sixtus. In diesem Krieg ist Ugo Visconte, Sohn des Ugo Visconte gestorben. Nachdem sie fast alle Sarazenen getötet hatten, haben sie aus diesen Städten eine ungeheure Beute an Gold, Silber, Kleidern und Schmuck mitgebracht. Von dieser Beute haben sie den Schatz der Pisaner Kirche um verschiedene Schmuckstücke vergrößert und die Kirche des heiligen Sixtus in Cortevecchia erbaut.") Ausfuhrlich gewürdigt wird Ugo Visconte auch im Carmen in victoriam Pisanorum (Carmen, Vv. 165 ff.). Der in dieser Dichtung enthaltene Nachruf auf den Toten macht eine Beziehung des Dichters zur Familie des Gefallenen noch wahrscheinlicher. Als Möglichkeit nicht wirklich ausschließen kann man, daß Carmen und Chronicon in irgendwie gearteter Beziehung zueinander stehen: Beide Texte erwähnen den Tod des Ugo und die im folgenden noch zu diskutierende Votivstiftung von San Sisto. Gegen eine solche These spricht jedoch die abweichende Be zeichnung al-Mahdlyas (vgl. oben S. 60, Anm. 2). Auch erwähnt das Carmen im Gegensatz zum Chronicon
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Für eine Entstehung des Textes im Umkreis der Familien der späteren Kommunalaristokratie - zu der auch die Visconti zu zählen sind - spricht auch die Erwähnung des zweiten Details, der Votivstiftung von San Sisto. Die aus al-Mahdiya zurückkehrenden Pisaner stifteten dem Heiligen, an dessen Festtag sie den Sieg über die Sarazenen errungen hatten, eine Kirche, deren Patronat sich seit Beginn der dokumentarischen Überlieferung in der Hand der Pisaner Kommune befand. Schließlich bildete San Sisto bis ins 13. Jahrhundert eines der symbolischen Zentren der Stadtgemeinde. 1 Daß die Pisaner Annalen, wie sie im Chronicon Pisanum vorliegen, in Zusammenhang mit dieser geistlichen Institution entstanden, ist zumindest zu erwägen. 2 In jedem Fall hatten der oder die Autoren ein besonderes Interesse an dieser Stiftung der sich konstituierenden Kommune. Einiges deutete so darauf hin, daß das Chronicon Pisanum im Umkreis der laikalen Führungsschicht Pisas entstand.
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weder die Ortsbezeichnung der Stiftung ,in curte veteri', noch den Vater des Gefallenen Ugo. Sprachliche Entsprechungen, die eine solche These untermauern könnten, finden sich ebenfalls nicht. Zu dieser ausführlich unten S. 254 ff. Schon A. Schaube wollte die im Chronicon vorliegenden Annalen nach San Sisto benennen, ohne jedoch Gründe hierfür anzuführen (SCHAUBE: BERNARDO MARAGONE, S. 153).
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Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
Β. Geschichtsdichtung Die annalistischen Texte bieten für die Analyse der Erinnerungsbestände der Pisaner Erinnerungskultur, also für die Frage, was erinnert wurde, was die Autoren an der Vergangenheit ihrer Stadt interessierte, die besten Bedingungen. Die Autoren der bisher untersuchten Annalen haben alle unter bestimmten Aspekten dasjenige verzeichnet, was ihnen innerhalb einer bestimmten Zeitspanne als erinnerungswürdig erschien. Hierbei hatte sich schon im engeren Rahmen der Annalistik ein Schwerpunkt herauskristallisiert, der in den Kämpfen der Pisaner mit den Sarazenen lag. Der Vergleich der drei annalistischen Texte (Chronicon Pisanum, Annales Antiquissimi und annalistische Inschrift) konnte eine Art Kanon von Ereignissen aufdecken, der offensichtlich zum Kern des Pisaner Geschichtsbild der frühkommunalen Phase gehörte: Der Angriff der Sarazenen auf Pisa 1005, der Pisaner Gegenschlag bei Reggio/Messina 1006, die Kämpfe mit Mugähid auf Sardinien seit 1016, der Schlag gegen Bona 1035, gegen Palermo 1065 und schließlich die erfolgreiche Eroberung al-Mahdlyas 1088 (alle Daten stilus pis anus)} Daß es sich hierbei nicht um ein auf die Annalistik beschränktes Phänomen handelt, wird die folgende Einbeziehung der übrigen Pisaner Texte des Untersuchungszeitraums zeigen. Auch Dichtung, Inschriften und die Ansätze zu einer Stadtchronistik bewegen sich innerhalb des thematischen Rahmens, der schon durch die Analyse der Annalen aufgedeckt werden konnte. Im Zentrum der Pisaner Erinnerungskultur steht die Erinnerung an die erfolgreichen Kämpfe der Stadt gegen die Sarazenen. 1. Das Carmen in victoriam Pisanorum Neben den Inschriften der Domfassade ist das kurz nach 1087 entstandene Carmen in victoriam Pisanorum das älteste erhaltene Werk städtischer Geschichtsschreibung in Pisa. In nahezu 300 Versen besingt ein anonymer Pisaner Kleriker den erfolgreichen Angriff einer von Pisa und seinen Verbündeten aufgestellten Flotte gegen die nordafrikanische Stadt al-Mahdlya im Jahr 1087. Diese auch von den annalistischen Texten der Folgezeit verzeichnete Expedition 2 gehört zu den erfolgreichsten Schlägen der Pisaner gegen die Sarazenen im westlichen Mittelmeerbecken. 3 Wenngleich der Text voll von 1
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Zumindest im Falle der handschriftlichen Annalistik verdankt sich dieser Kanon natürlich auch der gemeinsamen Vorlage aller Texte. Daß in der unabhängigen Tradition der Inschrift jedoch dieselben Ereignisse erwähnt werden - sieht man einmal von der jüngsten Expedition gegen al-Mahdlya ab, bestätigt aber die Vorstellung eines ausgebildeten Kanons erinnerungswürdiger und damit erinnerter Ereignisse. Das Ereignis fehlt einzig in der annalistischen Inschrift der Domfassade, die jedoch möglicherweise vor 1087 entstanden ist. Vgl. unten S. 336 ff. Vgl. zu den historischen Hintergründen Rossi SABATINI: ESPANSIONE, S. 4 f f , COWDREY: M A H D I A CAMPAIGN, S . 8 f f . , TANGHERONI: PISA, S . 4 4 f f . , HETTINGER: BEZIEHUNGEN, S . 1 9 0 f f . , RONZANI: CHIESA Ε CIVITAS, S . 2 2 2 f f . , MATZKE: DAIBERT, S . 4 9 f.
Erinnerungsbestände
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historischen Anspielungen ist,1 findet sich hier jedoch - anders als im etwa 40 Jahre jüngeren Liber Maiorichinus - kein Verweis auf die Vorgeschichte dieser Expedition, die so nicht in den Zusammenhang der früheren Kämpfe der Pisaner gegen die Sarazenen eingebunden wird. Man könnte dem Autor aufgrund des Fehlens von Bezügen auf die vorangehende Geschichte der Stadt ein gewisses Desinteresse an der historischen Entwicklung Pisas attestieren, andererseits handelt es sich bei diesem Text doch um eine der frühesten Thematisierungen des weltlichen Handelns einer mittelalterlichen Stadtgemeischaft.2 2. Der Liber Maiorichinus Thematisch und hinsichtlich der narrativen Struktur mit dem Carmen in victoriam Pisanorum vergleichbar ist der in einer ersten Fassung zwischen 1119 und 1126/27 entstandene Liber Maiorichinus.3 Dieser wesentlich umfangreichere Text (3526 Verse) schildert detailliert eine zwischen 1113 und 1115 von den Pisanern und ihren christlichen Verbündeten durchgeführte Flottenexpedition gegen die sarazenischen Balearen, die mit der Eroberung der Inseln Ibiza und Mallorca mit ihren jeweiligen Hauptorten endete. Auch hier steht wieder die gemeinschaftlich handelnde Stadtgemeinschaft im Zentrum der Darstellung. Im Gegensatz zum Carmen wird im Liber Maiorichinus jedoch an einigen Stellen Bezug auf die älteren Kämpfe der Pisaner gegen die Sarazenen genommen, wodurch die zeitgeschichtlichen Ereignisse in eine historische Traditionslinie gestellt werden, die es im folgenden aufzudecken gilt. Diese historischen Rückverweise sind für die Untersuchung der Pisaner Erinnerungskultur von großem Interesse, da sie - oft nicht mehr als Anspielungen - den historischen Horizont des Pisaner Dichters und zumindest zum Teil auch des von ihm angesprochenen Publikums erkennen lassen. Dabei zeigt sich eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit den in der Annalistik erwähnten Ereignissen. Schon am Beginn der Darstellung wird ein Bezug zu den Sarazenen-Kämpfen des 11. Jahrhunderts hergestellt. Die alten Pisaner fordern hier die die Jugend durch die Beschwörung der Erinnerung an die vergangenen Siege zum Kampf auf. Hierdurch
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Diese werden unten S. 133 ff. eingehend interpretiert. Der Autor - soviel sei vorweggenommen - ist sicherlich ein Kleriker und hat vor allem ein geschichtstheologisches Interesse an den Ereignissen. Dennoch kann weiter unten herausgearbeitet werden, daß Ziel seiner Darstellung doch die Aufwertung der Stadtgemeinschaft war. Anders als die gleichzeitigen Mailänder Texte, die nach Busch die städtische Umwelt nur wahrnahmen, wenn sie „das Geschick ihrer Kirche oder gar ihr eigenes beeinflußten" (BUSCH: MAILÄNDER GESCHICHTSSCHREIBUNG, S. 42), steht im Carmen in victoriam Pisanorum die handelnde Stadtgemeinschaft im Mittelpunkt der Darstellung. Die Gründe hierfür werden weiter unten noch zu diskutieren sein. Zum Text und zu den ereignisgeschichtlichen Zusammenhängen detailliert unten S. 155 ff.
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Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
wird auch für die Leser bzw. Zuhörer der Zusammenhang zwischen den Ereignissen des 11. Jahrhunderts und der jüngsten Vergangenheit hergestellt: 1 „Concitat ira senes, qui Punica vincere regna, Subdere quique suo gentes potuere tributo. Hi memorant dum facta Bone, dum bella Panormi Victaque per varios quam plurima prelia casus, Accendunt animos iuvenum, quibus orrida facta Et labor et sudor et duri gloria Martis Divitiis et delitiis potiora fuerunt." Unter den Alten, v o n denen es heißt, daß sie die die Punica regna besiegten und tributpflichtig machten, befanden sich sicher die Veteranen der al-Mahdiya-Expedition des Jahres 1087, die z u m Zeitpunkt der Vorbereitungen des Kriegszugs gegen die Balearen (1113) gerade einmal 26 Jahre zurücklag. 2 N e b e n diesem indirekten B e z u g auf die alMahdlya-Expedition wird aber auch an die länger zurückliegenden Sarazenen-Kämpfe Pisas erinnert: A n den Angriff auf das nordafrikanische Bona und die Kämpfe in und um Palermo. Die im Liber geschilderte Expedition wird so in die schon aus der Annalistik bekannte Kette der Pisaner Siege über die Sarazenen eingereiht. A u c h an anderer Stelle bezieht der Dichter des Liber Maiorichinus die aktuellen Ereignisse auf die Vergangenheit Pisas. So erinnert er anläßlich des Auslaufens der Flotte am Tag des heiligen Sixtus an vergangene Ereignisse, die am Festtag des Heiligen stattfanden: 3 „Iamque dies aderat sancti celeberrima Sixti, In qua Pisani de Penis marte subactis Annales recolunt votiva laude triumphos."
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Liber Maiorichinus, Vv. 3 2 - 3 8 . („Der Zorn [über die Untaten der Sarazenen] erregte die Alten, die die Punischen Reiche besiegen und die Heiden ihrem Tribut unterwerfen konnten. Sie riefen die Taten in Bona, die Kämpfe in Palermo und die zahllosen durch wechselndes Glück gewonnenen Schlachten in Erinnerung und entflammten so die Gemüter der Jungen, die die schrecklichen Taten, die Mühen, den Schweiß und den Ruhm des harten Krieges den Reichtümern und Vergnügungen vorzogen.") Die Bezeichnung Punica regna spielt hierbei auf die geographische Lage al-Mahdlyas an, das in der Nähe des antiken Karthago lag und schon im Carmen in victoriam Pisanorum mit dem großen Gegner des antiken Rom verglichen wurde (zu dieser Gleichsetzung unten S. 149 ff.). Daß hier tatsächlich al-Mahdlya gemeint ist, zeigt auch die Fomulierung ,subdere tributo'. Diese bezieht sich auf die - wiederum auch vom Carmen in victoriam Pisanorum, Vv. 237 ff. erwähnten Tributzahlungen, zu denen sich der Herrscher al-Mahdlyas verpflichtete. Vgl. zum historischen Hintergrund dieser Tributzahlung ERDMANN: ENTSTEHUNG DES KREUZZUGSGEDANKEN, S . 2 7 3 und COWDREY: MAHDIA CAMPAIGN, S . 1 8 sowie SCALIA: CARME PISANO, S . 5 6 , Kommentar zu Vv. 2 3 7 39.
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Liber Maiorichinus, Vv. 160 ff. („Schon war der hoch gefeierte Tag des heiligen Sixtus gekommen, zu dem die Pisaner Annalen mit geschuldetem Lob die Triumphe über die im Kampf bezwungenen Sarazenen ins Gedächtnis rufen.")
Erinnerungsbestände
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Bei den Siegen über die ,P(o)eni'/Punier, die am Tag des heiligen Sixtus errungen wurden, handelt es sich um die ebenfalls auch von den Pisaner Annalen überlieferten Siege in der Seeschlacht bei Reggio/Messina 1006 st. pis. 1 und schließlich wiederum um den Sieg in al-Mahdlya 1087. 2 A n anderer Stelle weitet sich dieser B e z u g auf frühere Ereignisse der Stadtgeschichte zu einem mehrere Verse umspannenden Exkurs aus. A l s der Sarazenen-Herrscher der Balearen versucht, über Kontakte, die er zur Pisaner Führungsschicht hatte, einen Friedensschluß zu erreichen, nimmt der Dichter dies zum Anlaß, auf die ältere Aktion gegen den ,König' von Denia, Mugähid (Mugetus) zurückzublicken: 3 „Rex fuerat Balee Mugetus rexque Diane4. Invasit Sardos rabida prestantior ira. His igitur propere violento marte subactis, Omnia cum piano tenuit montana tyrampnus. Huius Pisanus populus mox concitus actis, Conscendit celeres sulcantes equora naves. Tunc non erubuit quisquam de nobilitate Viribus equoreas remos urguere per undas:
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Vgl. Chronicon Pisanum, S.100, ad Ann. 1006, Annales Antiquissimi, ad Ann. 1006, und die annalistische Inschrift der Domfassade, die jeweils den San Sisto-Tag als Siegestag angeben. Zu San Sisto in der Pisaner Erinnerungskultur detailliert unten S. 254 f. Liber Maiorichinus, Vv. 924-959. („König der Balearen und Dianas war Mugetus. Mit unvergleichlich wildem Zorn überfiel er die Sarden. Nachdem er sie durch einen schnellen und gewaltsamen Krieg unterworfen hatte, hielt der Tyrann alle Berge und die Ebene besetzt. Durch seine Untaten aufgebracht, bestieg alsbald das Pisaner Volk die das Meer durchfurchenden schnellen Schiffe. Damals verschmähte keiner aus dem Adel, mit Kraft die Ruder durch die Wellen der See zu treiben: Wenn nur leicht der Wind wehte oder gänzlich ausblieb, wurde der gewählte Kurs mit gemeinsamer Anstrengung zurückgelegt. So wie die Habichte die furchtsamen Tauben angreifen und die libyschen Löwen den Herden nachstreben, wenn Hunger schon lange in ihren Eingeweiden wühlt, so eilen, so sehnen sich schreiend nach Krieg diejenigen, die Pisa gegen die wilden Feinde führte. Kaum konnte das edle Volk, aus der Stadt Pisa herangeführt, vom Ufer aus gesehen werden, da verließ der König mit seinen Truppen fliehend das Land. Die Helden aber, nachdem sie die Ehre des Siegs errungen hatten, kehrten als Sieger zurück in das Land ihrer Väter. Im folgenden Jahr aber führte der erzürnte Mugetus seine Mauren in das Reich von Cagliari. Zahlenmäßig übertraf das neue Heer das erste. Wo man das Mauerwerk stärken mußte, stützten es die Leiber der Sarden, und wer einen ganzen Tag lang Wasser und Steine herantrug, wurde dann in die Mauer eingebaut und füllte sie an Stelle eines Steines. Von vielen Sarden, die der Zorn des Tyrannen traf, wird berichtet, daß sie mit einem so grausamen Tod bestraft wurden. Daher zögerten die Pisaner nicht, mit frischen Kräften und neuem Mut wiederum die kristallenen Wellen zu durchschiffen. Sobald die Pisaner Länder und Felder besetzt hatten, kam die Kunde, der König sei geflohen. Während viele im Kampf getötet wurden, entkam der Barbar, Kind und Frau gefangen zurücklassend. Die Sarden wurden verteidigt und so dem Morden entrissen: Dadurch blieben alle diese Reiche den Pisanern unterworfen.") Vgl. zum besseren Verständnis die Inhaltsangabe des Liber Maiorichinus unten S. 155. Zur Episode auch unten S. 414 ff. Vgl. zu Abü-l-Gais Mugähid (1011-44) zunächst DEL ESTAL: DENIA.
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Denia im Golf von Valencia, Hauptstadt des gleichnamigen Taifareiches. Vgl.
D E L ESTAL: DENIA.
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Die frühe kommunale Geschichtsschreibung Si levis extiterat vel tota remanserat aura, Optatos cursos robur commune replebat. Qualiter accipitres pavidas peciere columbas, Et sicut Libici poscunt armenta leones, Tunc cum longa fames in viscera serpit eorum, Sic sic accelerant, sic poscunt bella frementes, Quos Pisana manus sevos duetabat in hostes. Sardinie postquam potuit de litore cerni Eximius populus Pisana ductus ab urbe, Rex cum gente sua terras fiigiendo reliquid. Heroes igitur, suseepta laude triumphi, Victores redeunt, fines intrantque patemos. Post ilium vero Mugetus concitus annum, Perduxit Mauros in regnum Calaritanum, Et numero primos excedunt posteriores. Robora murorum, quo scilicet edificante, Subsidiabantur Sardorum corpora muris, Quique die tota latices et saxa ferebat, Impositus muro murum pro caute replebat. Multi Sardorum, quos presserat ira tyrampni, Tarn seve mortis penas habuisse putantur. Hinc pisanus honor, vires animosque resumens, Non dubitat vitreas iterum transire per undas. Post ubi Pisani terras camposque tenebant, Rex fugisse datur. Multis nam marte peremptis, Barbarus abscessit capto cum coniuge nato. Erepti Sardi iugulis tutique fuerunt. Indeque tota manent Pisanis subdita regna1."
Diese im Liber Maiorichinus enthaltene eigenständige kleine Erzählung zeigt zunächst, wie lebendig noch zu Beginn des 12. Jahrhunderts die Erinnerung an die damals etwa 100 Jahre zurückliegenden Kämpfe der Pisaner auf Sardinien war. Der Bericht gleicht zudem in vielerlei Hinsicht den anderen Geschichtsdichtungen Pisas. Dies betrifft zunächst formal die Struktur der Erzählung. Sowohl die beiden großen Geschichtsdichtungen als auch der später noch zu betrachtende Text der PalermoInschrift der Domfassade folgen einem einheitlichen Schema, in das sich auch dieser Sardinien-Exkurs einordnen läßt. Auf eine mehr oder weniger ausfuhrliche Schilderung der Untaten der Sarazenen folgt in allen Geschichtsdichtungen die Entsendung einer Pisaner Flotte, deren Taten den Hauptteil der Darstellungen bilden. Abschluß aller Dichtungen ist stets die triumphale Rückkehr der siegreichen Pisaner in ihre Heimatstadt. Diese narrative Struktur hängt natürlich in erster Linie mit dem Darstellungsgegenstand der Pisaner Texte zusammen, die ja alle eine der überseeischen Kriegszüge der Pisaner behandeln. Dennoch ist zu beachten, daß sich hieraus eine Eigenschaft der Pi-
Die sardischen Kleinkönigreiche bzw. Judikate (seit dem 10. Jh. Cagliari, Torres, Logudoro und Arborea, vgl. zunächst SIMBULA: SARDINIEN).
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Erinnerungsbestände
saner Texte ergibt, die sich auch auf den thematischen Horizont der gesamten Pisaner Erinnerungskultur ausgewirkt hat. Form und Gegenstand der Pisaner Geschichtsdichtungen bedingen, daß die Geschichte der Stadt bzw. der Stadtgemeinschaft ausschließlich in ihren Expeditionen im Mittelmeerraum wahrgenommen wird, daß auf der anderen Seite mögliche Ereignisse in Pisa selbst aus dem Blickfeld ausgeschlossen werden. Gerade dadurch, daß alle Geschichtsdichtungen in Pisa beginnen und nach den verschiedenen Ereignissen während der Expedition auch wieder am Ausgangspunkt in Pisa enden, erhält das Bild der Stadt - wenn man angesichts der nur rudimentären Informationen überhaupt davon sprechen will - etwas statisches, das in auffalliger Weise mit der Welt des Meeres als der Welt der großen Kämpfe, Siege oder allgemein der Veränderungen kontrastiert. 1 Schließlich - und auch dies ist im aktuellen Zusammenhang natürlich von einigem Interesse - kann man im Sardinien-Exkurs des Liber Maiorichinus einen - möglicherweise direkten - Niederschlag der Pisaner Annalistik sehen. Gerade zwei Punkte sind es, die die große Nähe des Berichts im Liber Maiorichinus zur Texttradition des Chronicon Pisanum erkennen lassen. Sowohl die Annales Antiquissimi als auch die annalistische Inschrift der Domfassade wissen nur von einem Kampf im Jahre 1016 st. pis. 2 Nur das Chronicon Pisanum berichtet von zwei aufeinanderfolgende Expeditionen in den Jahren 1016 st. pis. und 1017 st. pis. Hierbei entspricht der Bericht des Chronicons bis ins Detail dem des Liber Maiorichinus. In beiden Texten endet die erste Expedition mit dem Sieg der Pisaner, ist der Auslöser der zweiten Expedition der erneute Versuch Mugähids, auf Sardinien Fuß zu fassen. Da auch die arabischen Quellen nur von einem einzigen Versuch der Eroberung Sardiniens durch Mugähid im Jahr 1015 wissen, 3 wird man vermuten können, daß beide Texte auf den gleichen (fehlerhaften?) Bericht über die Kämpfe zurückgehen. Die gemeinsame Vorlage legt auch ein von beiden Texten berichtetes Detail nahe: die Schilderung der Grausamkeiten Mugähids gegen die sardische Bevölkerung, die in allen anderen Darstellungen der Ereignisse fehlt. Den Bericht des Chronicons versteht man hierbei nur mit Mühe: 4
Dieser Schwerpunkt auf einer Geschichte großer Ereignisse scheint insgesamt charakteristisch für die Stadtgeschichtsschreibung des 11. und 12. Jahrhundert zu sein. So formuliert auch SIMONI: RITMI CiTTADtNi, S. 190 f.: „Ciö che invece colpisce nella poesia cittadina a partire dalla fine del secolo XI [ . . . ] e il prevalere dei fatti rispetto ai luoghi. Mentre decade l'interesse verso la realtä territoriale, sono gli eventi che la cittä vive a divenire oggetto di scrittura, piü della cittä in se con la sua configurazione e le sue tradizioni." 2
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Vgl. Annales Antiquissimi (oben S. 58) zum Jahr 1016 st. pis. bzw. die annalistische Inschrift der Domfassade (unten S. 336) ebenfalls zum Jahr 1016 st. pis. Vgl. den Bericht in der Tärih al-kämil des arabischen Historikers Ibn al-Atlr (1160-1233), bei AMARI: BIBLIOTECA, S.
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Chronicon Pisanum zum Jahr 1017 st. pis. („Mugietus ist nach Sardinien zurückgekehrt und begann dort eine Stadt zu erbauen und lebende Menschen kreuzweise einzumauern.") Man vergleiche die italienische Übersetzung der Annales Pisani des Bernardo Maragone, die die Schwierigkeiten des Übersetzers mit der lateinischen Formulierung zeigt: „Mozetto ritornö in Sardignia e comincio
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Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
„Fuit Mugietus reversus in Sardineam et cepit civitatem edificare ibi. atque homines vi vos in cruce murare."
Der Sinn dieses Abschnittes erschließt sich jedoch, wenn man den Bericht des Liber Maiorichinus hinzuzieht. Dieser berichtet, daß die versklavten Sarden nach geleisteter Arbeit lebendig in die Mauern der Festung Mugähids eingebaut wurden.1 Obwohl ihm so offensichtlich ein dem Chronicon Pisanum zumindest verwandter Text vorlag, erwähnt der Dichter nicht - wie schon vor ihm Annales Antiquissimi und die Inschrift der Domfassade - die Teilnahme der Genuesen an den Kämpfe auf Sardinien. Während die anderen Details, der doppelte Kriegszug und die Grausamkeiten der Sarazenen, seiner Darstellungsabsicht entgegenkam, hat er die Teilnahme der konkurrierenden ligurischen Seestadt aus den gleichen Gründen ausgelassen. Zusammenfassend kann man feststellen, daß der Dichter des Liber Maiorichinus die zeitgeschichtlichen Ereignisse, die sein eigentlicher Gegenstand sind, in eine Reihe mit den früheren Kämpfen der Pisaner gegen die Sarazenen stellt. Bemerkenswert ist nicht nur das sich hier zeigende Bewußtsein historischer Kontinuität. Die Reihe der Ereignisse, die im Liber Maiorichinus erwähnt werden, also die Kämpfe in Reggio/Messina 1006 st. pis., die gegen Mugähid auf Sardinien 1016 und 1017 st. pis., der Angriff auf Bona 1035 st. pis., der auf Palermo 1064 und schließlich die Aktion gegen al-Mahdlya 1087, entspricht exakt den in der Annalistik erwähnten Kämpfen gegen die Sarazenen. Diese Kette von Pisaner Siegen über die Sarazenen ist auch für den Dichter des Liber Maiorichinus der Kern der Geschichte seiner Stadt. Entsprechend erwähnt er auch sich hierbei vom Chronicon Pisanum unterscheidend - keine anderen Ereignisse der älteren Stadtgeschichte, weder die Kämpfe mit Lucca, noch die mit Genua. Gerade dies fällt auf, da der Konflikt mit beiden Städten im zeitgeschichtlichen Bericht des Liber wie noch zu zeigen sein wird - durchaus eine Rolle spielt.2
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quinde α edificare una cittä e pigliare Ii homini Sardi vivi e metterli in Croce" (Bernardo Maragone: Annales Pisani, S. 4, Anm. zu Z. 20). Liber Maiorichinus, Vv. 947 ff. Vgl. Liber Maiorichinus, Vv. 89 ff., 449 ff.
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Erinnerungsbestände
3. Inschriften In ähnlicher Weise trifft man den herausgearbeiteten Interessenshorizont der Pisaner Geschichtsschreiber in den Pisaner Inschriften des 11. und frühen 12. Jahrhunderts wieder. Da diese Texte weiter unten noch ausführlich analysiert werden, kann an dieser Stelle nur summarisch auf die dort dokumentierten Ergebnisse vorgegriffen werden. Es wird sich zeigen, daß die Kämpfe der Pisaner gegen die Sarazenen auch im Stadtraum, in den Inschriften und sonstigen Erinnerungszeichen zu den zentralen Gedächtnisinhalten gehörten. So verewigt die Stadttorinschrift der Porta Aurea die Erinnerung an den Pisaner Sieg auf den Balearen. 1 Die schon erwähnte annalistische Inschrift erinnert an die Siege bei Reggio bzw. Messina, auf Sardinien und Bona. Die Palermo-Inschrift der Domfassade schildert in 21 Versen die Expedition der Pisaner gegen das sarazenische Palermo im Jahre 1064.2 Und auch das Epitaph für den Pisaner Ugo nennt die Teilnahme des Verstorbenen an den Kämpfen gegen die Sarazenen der Balearen. 3 Auch die Inschriften reihen sich so in das zu erkennende einheitliche Geschichtsbild der Pisaner Erinnerungskultur zur Zeit der frühen Kommune ein.
C. Die Gesta triumphalia per Pisanos facta Eine Sonderstellung innerhalb der Pisaner Geschichtsschreibung des Untersuchungszeitraumes nimmt ein letzter zu behandelnder Text ein. Die Gesta triumphalia per Pisanos facta sind deutlich mehr als alle anderen Pisaner Texte der frühkommunalen Zeit auf eine konkrete zeitgeschichtliche Situation bezogen. 4 Das Hauptanliegen des sicher geistlichen Verfassers 5 der Gesta triumphalia kann man in der Legitimierung der Erhe1 2 3 4
5
Vgl. zu dieser unten S. 219 ff. Zu dieser ausfuhrlich unten S. 346 ff. Vgl. die Analyse der Inschrift unten, S. 302 ff. Gesta triumphalia per Pisanos facta (ed. Gentile). An einigen Stellen wird auf die teilweise abweichende Lesart der Neuedition des Textes durch Jose Barrai zurückgegriffen. Dies wird jeweils ausdrücklich vermerkt. Der vollständige Titel des Textes lautet nach der einzigen überlieferten Handschrift: Gesta triumphalia per pisanos facta de captione Jerusalem et civitatis Maioricarum et aliarum civitatum et de triumpho habito contra Januenses. Erhalten ist der Text in der für die Überlieferung der Pisaner Geschichtsschreibung des 12. Jahrhunderts wichtigen Handschrift Rediano 202 der Biblioteca Laurentiana di Firenze. Vgl. zur Handschrift oben S. 49 f. Die bisher einzige eigenständige Veröffentlichung zu dieser Quelle MULET MAS: GESTA TRIUMPHALIA geht nicht weit über eine Skizzierung der Quelle und der Geschilderten Ereignisse hinaus. Wie bei nahezu allen anderen Pisaner Texten kann man auch hier keine konkreteren Aussagen zum Verfasser des Textes machen. Wahrscheinlich handelte es sich um einen Angehörigen des Pisaner Domstifts (FISHER: PISAN CLERGY, S. 156). Der Text insgesamt hat bisher keine eigenständige Würdigung erfahren, die seiner Bedeutung entspräche. Man vgl. aber neben der Einleitung zur Edition S.
Gentiles
119 f.
( S . 7 9 f f . ) FISHER: PISAN CLERGY,
S . 151 f f . u n d
zuletzt
SCALIA: ANNALISTICA,
88
Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
bung der Pisaner Kirche zum Erzbistum und der Verleihung entsprechender Metropolitanrechte über Korsika sehen.1 Zu diesem Zweck stellt der Autor ausführlich die Teilnahme Pisaner Kontingente am ersten Kreuzzug und die Balearen-Expedition der Jahre 1113-1115 dar. Mit diesen kriegerischen Erfolgen der Pisaner verbindet er dann in seiner Darstellung - und hier liegt der entscheidende Unterschied zu den bisher betrachteten Texten - Nachrichten zur Geschichte der Pisaner Kirche und zu den gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Genua. So berichtet er zu 1118 von der Weihe des Pisaner Doms durch Gelasius II., der mit dem Besuch des Papstes verbundenen Erhebung der Pisaner Kirche zum Erzbistum und der Eingliederung Korsikas in den Pisaner Metropolitanverband. Anschließend schildert er eine Reise des Pisaner Erzbischofs Petrus nach Korsika, wo dieser den Elekten von Mariana zum Bischof weihte und die Eide („obedientiam et fidelitatem")2 anderer korsischer Bischöfe empfing. Was auf den ersten Blick unverbunden erscheint, ist jedoch eng aufeinander bezogen. So leitet der Autor den Text mit einem knappen aber programmatischen Satz ein:3 „ Ad memoriam habendam cure fuit nobis ea seribere, que Deus Omnipotens per Pisanum populum dignatus est efficere."
Die folgenden Schilderungen der beiden großen militärischen Aktionen der Pisaner in der jüngeren Vergangenheit erscheinen hier als Taten Gottes, der sich dazu der Pisaner als seines Werkzeuges bediente. Der hier auftauchende Gedanke einer besonderen Erwähltheit der Pisaner, der sich auch in den Geschichtsdichtungen wiederfindet, kann geradezu als eine Art Leitgedanke der gesamten Beschäftigung der Pisaner mit ihrer Vergangenheit gesehen werden.4 Anders als in den übrigen Texten wird dieser Gedanke hier allerdings e i n d e u t i g instrumentalisiert. So ist es kein Zufall, daß der Autor von der Schilderung der 1115 abgeschlossenen Balearen-Expedition direkt zum Besuch Papst Gelasius' II. in Pisa im Jahre 1118 und der Erhebung des Pisaner Bischofs zum Metropoliten übergeht. Diese Erhöhung der Pisaner Kirche erscheint so als eine direkte Konsequenz der Pisaner Verdienste im Kampf gegen die Ungläubigen.5 Entsprechend kann der Autor in dem sich an die Erhebung zum Metropolitansitz anschließenden Krieg der Genuesen gegen Pisa, der das Ende der Gesta triumphalia bildet, nur ein Werk des Teufels erkennen:6
'
Zum Hintergrund ausführlich die Beiträge in
CECCARELLI LEMUT / SODI: CENTENARIO,
vor allem
VIOLANTE: CHIESA PISANA. 2 3
4 5
6
Gesta triumphalia, S. 95. Gesta triumphalia, S. 89. („Um die Erinnerung daran zu bewahren, müssen wir die Dinge aufschreiben, die der allmächtige Gott für würdig hielt, daß sie durch das Pisaner Volk ausgeführt wurden.") Vgl. hierzu die ausführlichen Analysen der beiden großen Geschichtsdichtungen unten S. 118 ff. So schon FISHER: PISAN CLERGY, S. 1 5 2 f. Genau dieser Gedanke durchzieht dann auch tatsächlich die Päpstlichen Privilegien für die Pisaner Kirche. Vgl. dazu ausführlicher unten S. 372 ff. Gesta triumphalia, S. 95. („Daher kam es, daß der teuflische Neid, der stets Schmerz und Trauer angesichts der Güter anderer empfinden läßt, in ungeheurer Weise die dummen Herzen der Genue-
Erinnerungsbestände
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„Unde factum est ut invidia diaboli, super alterius bonis semper dolens atque merens, immanissime bruta corda Ianuensium inflaret, et eorum ora superbissima pessime fedaret. Audientes namque Ecclesiam Pisanam tanto honore exaltatam et gloriosiorem habitam, velut amentes effecti, contra Pisanos fremebant illico feraliter, et dentibus frendebant, dicentes, sicut homines insanientes, urbem Pisanam in tantum honorem non esse sublimandam, et ei satis sufficere si Patrum suorum honore contenti fuerint. [...]Nam quoniam Deus et Ecclesia Romana de proprio jure Romani Pontificis digne ac magnifice sublimaverat Ecclesiam Pisanam, Ianuenses, livore pessimo aspersi et omni sensu perdito amentes effecti, Pisanis amicitie vinculum frangere vilipendunt, atque sacramenta pacis diu ad invicem habita frangere nullatenus renuunt." D i e sich g e g e n die Erhebung Pisas w e n d e n d e n G e n u e s e n werden dann auch im A u g u s t 1 1 1 9 durch die Pisaner besiegt, worin der Autor dann - w i e s c h o n zuvor in den S i e g e n über die Sarazenen - das Wirken Gottes sieht: 1 „Felici de Ianuensibus habito triumpho, Pisanus exercitus laudem et gloriam reddit omnipotenti Deo, qui tantam victoriam concessit Pisano populo" M a n wird den Texte der Gesta triumphalia
w i e schon angedeutet in einen ganz konkre-
ten historischen Kontext eingebettet sehen müssen. A u s heutiger Sicht w e i ß man ja, daß die Einbindung Korsikas in den Pisaner Metropolitanbezirk durch Gelasius II. nur ein weiterer Schritt in der Auseinandersetzung z w i s c h e n Pisa und Genua u m die (auch politische und wirtschaftliche) Beherrschung der Insel war. 2 S o nimmt schon dessen N a c h folger Calixt II. nach einer ersten Bestätigung der Pisaner Metropolitanrechte diese unter d e m Eindruck des Genueser Widerstandes - und nicht zuletzt w o h l unter d e m Eindruck entsprechender Genueser Zahlungen - w i e d e r zurück. In seiner Urkunde v o m 3. Januar 1121 unterstellt Calixt die korsischen Bistümer wieder direkt der römischen Kirche. Erst 1126 wird Korsika durch Honorius II. wieder d e m Pisaner Metropoliten
sen anfüllte und ihre hochmütigen Mäuler auf das Schlimmste besudelte. Als diese nämlich hörten, daß die Pisaner Kirche durch soviel Ehre erhöht und ihr Ruhm gewachsen war, wurden sie wie von Wahnsinn erfüllt und brüllten sogleich wild gegen die Pisaner, knirschten mit den Zähnen und sprachen wie Verrückte, daß die Stadt Pisa nicht zu solchen Ehren zu erheben sei und daß es ihr ausreichen sollte, sich mit der Ehre ihrer Väter zufrieden zu geben. [...] Nachdem nämlich Gott und die römische Kirche nach dem Recht des römischen Bischofs würdevoll und herrlich die Pisaner Kirche erhoben hatten, scheuten sich die Genuesen nicht, von schlimmster Mißgunst erfaßt, ohne jeglichen Verstand und vom Wahnsinn ergriffen, die Bande der Freundschaft mit den Pisanem zu brechen, noch hielt sie etwas davon ab, die oft und gegenseitig geleisteten Friedensschwüre zu brechen.") 1
2
Gesta triumphalia, S. 96. ("Für diesen glücklich über die Genuesen erzielten Sieg sprach das Pisaner Heer Lob und Ehre dem allmächtigen Gott zu, der dem Pisaner Volk diesen großen Sieg gewährte") F I S H E R : P I S A N C L E R G Y , S . 1 5 3 weist darauf hin, daß der Pisaner Autor hier erstaunlicherweise nicht die schon unter Daibert (allerdings nur vorübergehend) wahrgenommenen Metropolitanrechte der Pisaner (Erz-)Bischöfe auf Korsika erwähnt. Vgl. zu den Verhältnissen unter Daibert M A T Z K E : D A I B E R T , S . 7 6 f.
90
Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
unterstellt.1 Bemerkenswert ist, daß Honorius in seiner Urkunde - in ähnlicher Weise wie zuvor der Pisaner Autor der Gesta triumphalia - Genua als Verursacher der Streitigkeiten nennt, die Calixt, einen ,pacis amator", dazu bewegt hätten, Pisa die Metropolitanrechte wieder zu entziehen: 2 „Januenses autem honori Pisani populi invidentes, et eorum incrementum aequo animo non ferentes, hujus rei sumpta occasione guerram contra Pisanos moverunt."
Die Entscheidung Papst Honorius' II. kann man so wohl als einen weiteren temporären Pisaner Erfolg im jahrzehntelangen Ringen um Korsika ansehen, das dann erst in den 1130er Jahren unter Innozenz II. durch die Aufteilung der Insel zwischen Pisa und Genua ein Ende gefunden hat. 3 Man wird so die Gesta triumphalia in diesen zeitgeschichtlichen Kontext ei nbinden müssen. Ziel des Autors war es, die Pisaner Position in diesem Streit auch publizistisch zu unterstützen, indem er einerseits die Pisaner Erfolge im Heidenkampf herausstellte, andererseits den Sieg der Pisaner über Genua als eine Art Gottesurteil im Kampf um die Beherrschung Korsikas erscheinen ließ. 4 Durch diese für die anderen Pisaner Texte wohl nicht anzunehmende direkte politische Zielrichtung erklärt sich der im "V ergleich ungewöhnlich weite thematische Horizont, der den Text fast als Bindeglied zwischen den älteren Pisaner Texten und dem späteren Werk des Bernardo Maragone erscheinen läßt.
1
2
3 4
Vgl. zu all diesem die oben S. 88, Anm. 1 genannte Literatur. Regesten der jeweiligen Papsturkunden in Italia Pontißcia X, Corsica, Nr. 25 ff., S. 471 ff. Urkunde Honorius' II., 21. Juli 1126, PL 166, Sp. 126; vgl. auch Italia Pontificia X, Nr. 42, S. 475 f. („Die Genuesen, die neidisch auf die Ehre des Pisaner Volkes waren und dessen Erhöhung nicht ruhig hinnehmen konnten, haben diese Sache zum Anlaß genommen, einen Krieg gegen die Pisaner zu beginnen.") Italia pontificia X, Nr. 44 und 45, S. 476 f. FISHER: PISAN CLERGY, S. 153 ff. vermutet, der heute vorliegende Text der Gesta triumphalia gebe nur einen Teil des ursprünglichen Umfangs wieder. Ähnliches vermutete der Herausgeber Gentile (ιGesta triumphalia, S. 96, Anm. 1), der aber einen paläographischen Befund schlichtweg fehlinterpretierte (dazu oben S. 54, Anm. 1). Die Hypothesen Fishers sind jedoch kritisch zu sehen. Weder gibt es m.E. einen Grund anzunehmen, daß die Gesta triumphalia in einer ersten Fassung mit März 1119 endeten (FISHER: PISAN CLERGY, S. 152), noch daß diese über das Datum August 1119 hin a u s g i n g e n (FISHER: PISAN CLERGY, S . 1 5 3 ) .
Erinnerungsbestände
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D. Die Sammlungen des Guido Die Pisaner Texte waren keineswegs gleichsam erratische Blöcke, die nicht mit der historiographischen Kultur des europäischen Mittelalters verbunden waren. Man kann davon ausgehen, daß es in Pisa vor und auch neben den bisher untersuchten stadtgeschichtlichen Texten eine Rezeption der älteren nicht-Pisaner Historiographie gegeben hat. Dies zu belegen scheitert zunächst an der Überlieferungssituation, vor allem am Verlust der Pisaner Bibliotheken des Hochmittelalters. 1 So ist man fur die Frage nach den in Pisa rezipierten Texten fast ausschließlich auf Vermutungen und Rückschlüsse aus den erhaltenen Werken angewiesen. 2 Einem Glücksfall der Überlieferung ist es jedoch zu verdanken, daß man zumindest einen Einblick in die - wie sich zeigen wird auch in dieser Hinsicht reiche Pisaner Erinnerungs- bzw. Geschichtskultur gewinnen kann. Drei heute in London, Brüssel und Rom/Vatikanstadt aufbewahrte Handschriften werden von der älteren Forschung mit einer als Guido Pisanus bezeichneten Persönlichkeit in Verbindung gebracht, die am Beginn des 12. Jahrhunderts am Pisaner Domstift tätig gewesen sein soll. Dies Handschriften enthalten Sammlungen von Texten des spätantik-frühmittelalterlichen Bildungskanons, darunter auch eine große Anzahl historiographischer Texte. Über die Analyse der Sammlungen des Guido könnte man so Einblicke in die Rezeption historiographischer Texte im Pisa des frühen 12. Jahrhunderts gewinnen. Im folgenden wird zunächst die bisherige Vorstellung von der Entstehung dieser Textsammlungen einer grundlegenden Neubewertung unterzogen, die vor allem die Identifizierung Guidos mit einem Pisaner Kleriker revidieren wird. Anschließend werden die Sammlungen auf der Basis dieser neuen Ergebnisse nach ihrer Aussagekraft für die Pisaner Beschäftigung mit der Vergangenheit befragt.
Im Laufe der wechselvollen Geschichte der Stadt haben sich die Pisaner Handschriftenbestände mittlerweile über ganz Europa verteilt. Entsprechend fehlen bisher auf Pisa bezogenen bibliotheksgeschichtliche Studien, die möglicherweise auch am Problem der sicheren Zuweisung scheitern könnten. Vgl. die Einschätzung von PETRUCCI: LIBRI, S. 20. Bibliothekskataloge aus späterer Zeit sind zwar erhalten, für die vorliegende Fragestellung jedoch nur von geringem Wert. Vgl. die beiden Editionen Inventarii della Biblioteca Capitolare del Duomo di Pisa und Barsotti: Antichi inventari. 2
Im Laufe der Arbeit wird immer wieder auf mehr oder weniger eindeutige Zitate antiker Klassiker in den Pisaner Texten hingewiesen. Vgl. zusammenfassend unten S. 399 ff.
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Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
1. Überlieferung Bevor die zentrale Frage nach der Entstehung der Sammlungen und der Verfasserschaft und Identität des Guido beantwortet werden kann, sollen zunächst die drei wichtigsten Zeugnisse vorgestellt werden.1 a. Die Brüsseler Handschrift Im Zentrum der Auseinandersetzung mit Guido Pisanus stand bisher nahezu ausschließlich eine Handschrift der Brüsseler Bibliotheque Royale (Ms.3897-919). 2 Aufgrund der Schrift und der reichen Illustrierung läßt sich die sicher italienische3 Handschrift in das 12. Jahrhunderts datieren.4 Diese enthält Texte, die man nach heutigen Maßstäben in vier Gruppen unterteilen kann. Neben einem großen Teil, der der Geographie gewidmet ist, stehen historiographische Texte, Romane nach antiken Stoffen und schließlich einige Exzerpte aus Isidors Etymologien.5 Hier das summarische Inhaltsverzeichnis1: Da die Sammlungen des Guido Pisanus nur einen Randbereich der vorliegenden Arbeit darstellen, konnten hier nicht alle Textträger berücksichtigt werden, die mit Guido in Verbindung gebracht worden sind. Eine eigenständige Studie zu den Sammlungen des Guido wäre wünschenswert. An dieser Stelle sei neben den im folgenden besprochenen Handschriften noch auf weitere mögliche Zeugnisse hingewiesen. Neben den von UGGERI: CONTRIBUTO, S . 2 3 5 aufgelisteten Handschriften, die sicher eng mit dem Brüsseler Codex zusammenhängen, ist auch eine Handschrift des Erzbischöflichen Seminars in Pisa (um 1100) von Interesse, die die auch in der Brüsseler Kompilation des Guido zu findende Herrscherliste und die veränderte Fassung der Chronica Maiora des Isidor enthält (vgl. MGH SS. rer. lang., S. 505, D2). Daneben fand Bate eine Reihe von Handschriften, welche die seiner Meinung nach von Guido selbst überarbeitete Fassung des Excidium Troiae enthalten (Ecidium Troie, Ed. Bate, S. 10 ff.). Besonders ist hier die Handschrift Paris, Bibliotheque Nationale, Lat. 5 6 9 2 zu erwähnen, die neben dem Excidium Troiae weitere Exzerpte aus der Brüsseler Handschrift des Guido enthält (vgl. Ecidium Troie, Ed. Bate, S. 14). 2
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4
5
Vgl. allgemein zur Handschrift THOMAS: CATALOGUE, S . 10 f., VAN DEN G H E Y N : CATALOGUE, S . 2 7 ff., G A S P A R / L Y N A : PRINCIPAUX MANUSCRITS, S . 8 8 f. und Tafel XVIII, schließlich CALCOEN: INVENTAIRE, S . 7 9 f. und Tafel XVII-XIX, hier auch eine Zusammenstellung der älteren Literatur. UGGERI: CONTRIBUTO, S. 2 3 6 glaubt, die Handschrift sei in Süditalien entstanden. Dies ist aber angesichts der zumindest in einem Fall (Carmen in victoriam Pisanorum) eng auf die Pisaner Geschichte bezogenen Texte mehr als unwahrscheinlich. Nicht von der Hand zu weisen ist hingegen die von Schnetz gemachte Beobachtung, daß eine Reihe von Fehlern in der Brüsseler Handschrift nur zu erklären ist, wenn die Vorlage in Beneventana geschrieben war (Guido: Geographica, S. V, Anm. 2). Da auch der Buchschmuck der Brüsseler Handschrift süditalienische Einflüsse zeigt, stammte die Vorlage dieser Handschrift wohl aus Süditalien. So DE SMET: GUIDO, S . 161. Zur Geschichte der Handschrift ist neben de Smet immer noch heranzuziehen BOCK: LETTTRES. Hier ist nicht der Platz, um ausführlich auf die kodikologischen Merkmale der Handschrift einzugehen. Für die Analyse des heutigen Textes ist aber wesentlich, daß die Handschrift keine kodikologischen oder paläographischen Unregelmäßigkeiten aufweist. Es sind also keine Teile nachträglich in die Handschrift eingefugt worden. Schließlich lassen Nota-Zeichen neben den Erwähnungen Pisas als sicher annehmen, daß die heutige Handschrift in Pisa benutzt worden ist. Ob sie dort auch geschrieben wurde, muß zunächst offen bleiben. BRINCKEN: LATEINISCHE WELTCHRONISTIK, S. 2 1 1 f. versucht, die Brüsseler Kompilation Guidos in den Zusammenhang enzyklopädischer Schulchronistik einzuordnen. In der Kompilation „den ersten
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- Prolog2 - Geographica3 - Exzerpte aus Isidor von Sevillas Etymologien4 - [Fortsetzung der Geographica] - Isidor von Sevilla: Chronica minora5 - Liste langobardischer und fränkisch/deutscher Herrscher (-1106)6 - Carmen in victoriam Pisanorum7 - Überarbeitete und fortgeführte Fassung von Isidor von Sevilla: Chronica maiora (-943)8 - Liber historiae magni Alexandri imperatoris9 - Dares Phrygius: De excidio Troiae historia.l0 - Excidium Troiae1' - Paulus Diakonus: Historia romana (Ausschnitte) Im Gegensatz zu den beiden anderen Handschriften steht am Beginn der Brüsseler Handschrift ein ausfuhrlicher Prolog, ein Inhaltsverzeichnis der Sammlung und ein Incipit in Versen. Dieses nennt den Autor der Zusammenstellung, Guido, und gibt ein Datum an. Es gibt Hinweise, daß die drei am Beginn stehenden Texte, also Prolog, Inhaltsverzeichnis und Incipit zu unterschiedlichen Zeitpunkten Eingang in die Samm-
1
Beitrag Italiens zur Universalhistoriographie seit den Tagen Benedikts von St.-Andreas" sehen zu wollen (ebd., S. 212) geht aber wohl am Charakter der Kompilation vorbei. Die ausfuhrlichsten Angaben zu den Inhalten der Brüsseler Handschrift jetzt bei G A U T I E R D A L C H E : CARTE MARINE, S. 2 5 5 - 2 6 1 .
2 3
4
5 6
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9 10
Guido: Geographica, S. 113 f. Unter diesem Titel wurde der geographische Teil der Handschrift zusammen mit dem Prolog von Schnetz herausgegeben (vgl. Guido: Geographica, Ed. Schnetz). Hierbei handelt es sich um einen aus älteren, teilweise ergänzten bzw. überarbeiteten Teilen zusammengestellten Text. Im einzelnen wurden verarbeitet (vgl. Ed. Schnetz): große Teile des Geographus Ravennas, Publius Victor: Liber de origine situque et qualitate Romanae urbis, dem Itinerarium des Antoninus Augustus und schließlich Exzerpte aus Solinus, der Historia Langobardorum des Paulus Diakonus und den Ethymologien des Isidor von Sevilla. Genauer gesagt handelt es sich um die Kapitel XI, 3 (De regnis militieque vocabuüs), XV, 2 (De edificiis publicis), XV, 3, i.g (De habitaculis), IX, 4 (De civibus), XIX, 32, 2 fr. (De anulis). Isidor: Ethymologiae, Buch 6. Ediert in M G H SS V, S. 64 f. (Nachträge seit den Karolingern) und bei R E I F F E N B E R G : G U I D O N I S LIBER, S. 324-28 (komplett) sowie zuletzt in M H G SS Rer. Lang., S. 504 ff. Vgl. dazu ausführlich unten S. 120 ff. Teiledition in MGH AA XI, S. 498-501. Fortführung der Chronik Isidors durch eine Liste Langobardischer Herzöge ediert in MGH SS III, S. 211-213. Alexanderroman, Ed. A. H I L K A . Ed. F. Meister. Zusammen mit Dares Phrygius sind hier zwei weitere Texte überliefert, die ursprünglich nicht zum Werk des Dares gehören: Ein Gedicht auf den letzten Kampf Hektors (ediert bei B O C K : L E T T R E S , S . 6 1 ) und ein Origo Troianorum betitelter Text (Teiledition bei S P E Y E R : E P I TOME, S . 9 1 ) .
11
Ed. Atwood / Whitaker bzw. Ed. Bate.
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lung g e f u n d e n haben. A m Ende des Prologs nennt sich der Autor Guido selbst in der ersten Person: 1 „[...] Unde ego Guido inductus pro scientia mea et virtutibus statui in humani generis societatem et vite communionem operum et studiorum meorum quandam conferre particulam longo conquisitam labore, ut eorum qui de officiis scripsere studiis concord ans, re ipsa et exercitio et in praesenti et ceteros meo incitem exemplo, et in futuro - ad quod laboro et intendo - consequar praemium." N a c h der Rubrik ,Explicit das f o l g e n d e Incipit folgt:
prologus'
folgt dann das Inhaltsverzeichnis, d e m w i e d e r u m
2
"Felices tarn magna queunt qui dona mereri, Ut sua post obitum vivere facta putent. Terra fretumque simul qua consistunt ratione Et regum Seriem nos liber iste docet. Hic reperire potes positos ex ordine reges, Gentes, monstra, feras pandit et historias. Ex quibus hec Guido documenta decora reliquit, Per quae perpetuo commemorandus erit. In nomine domini Jhesu Christi dei eterni. Anno ab incarnatione eius millesimo centesimo XIX Indictione XII." N i c h t nur w e g e n des W e c h s e l s v o n der ersten Person ( i m Prolog) zur dritten Person ist z u vermuten, daß dieses Incipit nicht v o n Guido selbst verfaßt w o r d e n ist. D i e A n s p i e lungen auf den andauernden R u h m des Autors nach s e i n e m T o d und der signifikante T e m p u s w e c h s e l könnten darauf hindeuten, daß Guido zur Zeit der A b f a s s u n g dieses Textes s c h o n verstorben war. D a s Jahr 1 1 1 9 (st. pis.? 3 ) b e z ö g e sich so nicht auf den Zeitpunkt der Zusammenstellung der Sammlung, sondern nur auf die A b f a s s u n g des
2
3
Guido: Geographica, S. 113 f. („[...] Daher habe ich, Guido, veranlaßt durch mein Wissen und meine Fähigkeiten, beschlossen, der Gemeinschaft des Menschengeschlechts und der Gemeinschaft des Lebens ein unter großer Mühe ausgeführtes Stück meiner Arbeit und meines Bemühens zu widmen, damit ich in Übereinstimmung mit denen, die von den Pflichten schreiben, das Interesse an der Sache selbst und an seiner Betrachtung auch in der Gegenwart bei anderen durch mein Beispiel wecke und ich in der Zukunft - auf die ich hinarbeite und zustrebe - einen Lohn erha lte.") Guido: Geographica, S. 114 f. („Glücklich diejenigen, die sich so große Gaben erwerben können, daß sie glauben dürfen, daß ihre Taten nach dem Tode weiterleben. Die Lage von Land und Meer und die Abfolge der Könige lehrt uns dieses Buch, in dem du. Könige in ihrer Ordnung aufgestellt finden kannst, das Völker, Monster, wilde Tiere und Geschichten vor dir ausbreitet. Von denen hat Guido diese schönen Zeugnisse hinterlassen, wodurch er auf Ewig in der Erinnerung zu bewahren sein wird. Im Namen des Herrn Jesus Christus, des ewigen Gottes, im 1119. Jahr nach seiner Fleischwerdung, im 12. Jahr der Indiktion.") Ob hier der stilus Pisanus verwendet wurde, kann nur vermutet werden. Die Indiktionsangabe läßt beide Datierungsstile (also stilus Pisanus und communis) zu.
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Incipits.1 Man wird so der Datierung ausschließlich entnehmen können, daß die Sammlung des Guido vor 1119 entstanden ist und im Jahre 1119 von einem nicht näher zu bestimmenden Autor um den zitierten Incipit-Text erweitert worden ist. Ein Vergleich zwischen dem sich anschließenden Inhaltsverzeichnis und der heutigen Handschrift vermag andererseits zu belegen, daß der heutige Inhalt nicht dem der ursprünglichen Sammlung entspricht:2 „PRIMUS über continet Italiam, urbes et provincias Italiae et Romanam historiam. SECUNDUS de regnis militiaeque vocabulis, de aedificiis publicis, de habitaculis, de civibus et de anulis. TERTIUS de divisione orbis. De Asia. De Africa. De Europa. Nomina philosophorum. De Mare Mediterraneo. De finibus maris. De insulis et promuntoriis. Hue usque Occeani insulae. De promuntoriis, de montibus caeterisque vocabulis. QUARTUS liber Regum, cronicas Ieronimi et Augustini. QUINTUS Alexandri Magni historiam. Daretam .... Contin. historiam Romanam"
Zunächst einmal läßt sich erkennen, daß auch das Inhaltsverzeichnis nicht ursprünglicher Bestandteil der Sammlung war.3 Wichtiger ist jedoch, daß zwei Texte nicht in diesem Inhaltsverzeichnis auftauchen: Das Carmen in victoriam Pisanorum und der Text des anonymen Excidium Troiae. Hieraus wird man schließen dürfen, daß beide Texte in die Sammlung gelangten, nachdem ein wiederum nicht zu identifizierender Schreiber das Inhaltsverzeichnis der Sammlung anlegte.4 Man wird so auf der Basis des bisher zusammengetragenen Materials mindestens drei Stufen auf dem Wege zur heute im Brüsseler Codex vorliegenden Sammlung unterscheiden müssen. Ein sich selbst Guido nennender Autor, der vermutlich vor 1119 starb, legte eine Sammlung historischer und geographischer Texte an. Nach diesem hat ein unbekannter Schreiber dieser Sammlung ein Inhaltsverzeichnis - möglicherweise bei der Anfertigung einer Kopie der Handschrift - hinzugefugt, indem er die Rubrikenüberschriften kopierte.5 In einem weiteren Schritt hat jemand - ob vor oder nach der Anlage des Inhaltsverzeichnisses ist nicht zu bestimmen - das Incipit als eine Art Nachruf auf den verstorbenen Guido dessen Sammlung hinzugefugt. Schließlich wurden 1
2 3
4
5
FISHER: PISAN CLERGY, S. 178 bezieht dieses Datum auf die Entstehung der Handschrift. Dies ist jedoch nicht zwingend. Guido: Geographica, S. 114. Ein Schreiber, der dieses der Sammlung hinzufugte, kopierte offenbar einfach nur die Rubrikenüberschriften der ihm vorliegenden Handschrift. Hierbei unterlief ihm ein Fehler, als er den Anfang des Buchs 3 „hue usque Occeani insulae" (Z.5 des zitierten Verzeichnisses) versehentlich mitkopierte. Grundsätzlich ist jedoch denkbar, daß der Schreiber des Inhaltsverzeichnisses glaubte, das Excidium Troiae sei Teil des Texts des Dares Phrygius. Aufgrund des dem Schreiber unterlaufenen Fehlers (vgl. oben S. 95, Anm. 3) ist es mehr als unwahrscheinlich, daß das Inhaltsverzeichnis von Guido selbst stammte.
Die frühe kommunale
96 zwei Texte, das Carmen
in victoriam
Pisanorum
Geschichtsschreibung
und das Excidium
Troiae
in die
Sammlung aufgenommen, die entsprechend nicht im älteren Inhaltsverzeichnis enthalten sind. b. Die vatikanische Handschrift Eine weitere Handschrift, die mit Guido in Verbindung zu bringen ist, ist der Codex Vaticanus latinus 11564. Im Gegensatz zu den beiden anderen Zeugnissen, den Brüsseler und Londoner Sammlungen, ist diese dritte Sammlung nur in einer späten Abschrift, einer Papierhandschrift des 15. Jahrhunderts erhalten. 1 Der Codex in seiner heutigen Form enthält wiederum eine Reihe historiographischer Texte: 2 - kurze Chronik der Jahre 756-11063 - sogenannte .Chronik des Hieronymus' 4 - Chronica Maiora des Isidor5 - Exzerpte aus Bedas Chronica Maiora.6 - Liste Langobardischer und fränkischer bzw. römisch-deutscher Herrscher (-1106).7 - Paulus Orosius: Historiarum adversuspaganos libriI-VII* - Gennadius von Marseille: Vita des Orosius9 - Sententiae Septem sapientium10 - Bericht über das Erdbeben in Pisa 1117"
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RUYSSCHAERT: CODICES VATICANI, S . 311 ff. In der Handschrift (fol. 185v) befindet sich eine Datierung durch den Kopisten: ,JZgo ... de ancona scripsi h(unc) librum Mcccc°lviiiioi". Vgl. zur Geschichte der Handschrift: RUYSSCHAERT: CODICES VATICANI, S . 3 1 4 . Vgl. das detaillierte Inhaltsverzeichnis bei RUYSSCHAERT: CODICES VATICANI, S. 3 1 1 ff. Auszug aus der ebenfalls in der Handschrift enthaltenen Liste Langobardischer bzw. fränkischer Herrscher, vgl. RUYSSCHAERT: CODICES VATICANI, S . 3 1 1 . In Wirklichkeit handelt es sich um eine nicht weiter bekannte Zusammenstellung aus Exzerpten der Chroniken Isidors und Bedas. Am Ende des Textes heißt es: ,ßxplicit chronica sancti ieronimi presbiteri". Entspricht in weiten Teilen dem Text in MGH AA XI, S. 426,1.2-S. 481,1.11. Text endet Explicit chronica. Ab initio mundifiunt anni usque in quinto anno eraclii et daip(er)ti francorum regis xi eius anno v. dccc xx iii." Der ganze Text Bedas in MGH AA XIII,1, S. 312, 1.1-S. 321,1.8. Text der Handschrift entdet „Sunt autem ab initio mundi usque ad aduentum domini anni νΛ. cxcv. et usque adpassionem. vAcc. xxviC [der nachgestellte Zirkumflex ersetzt hier den Strich über dem vorhergehenden Zeichen, der leider im hier verwendeten Zeichensatz nicht abbildbar ist. Dieser Strich deutet an, daß hier Tausender gemeint sind; also ν Λ fur 5000, ΜΗ], MGH SS rer. lang., S. 506, Sp.C, S. 509, Sp.E, S. 511, Sp.E, S. 516, Sp.E. Ed. Zangemeister. Auszug aus Gennadius von Marseille: De viris illustribus. Der hier vorliegende Text ist nach Ruysschaert der griechischen Version in Fragmente der Vorsokratiker, Teil 1, S. 63-66, vergleichbar. Allgemein zum Text BRUNHÖLZL: GESCHICHTE, S. 482-483. Abdruck des Textes bei RUYSSCHAERT: CODICES VATICANI, S . 3 1 4 und SCALIA: EPIGRAPHICA PISANA, S. 285 f.
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Die Zuweisung zu Guido kann sich auf mehrere Indizien stützen. Einmal entspricht die auch in dieser Handschrift zu findende Herrscherliste nahezu exakt derjenigen im Brüsseler Codex. 1 Wichtiger ist jedoch, daß auch hier zweimal der Name Guido genannt wird. Er findet sich einmal im Kolophon am Ende der Handschrift: 2 „[Respice] ... [Guidonis] Ipse tibi patrieque sue post cronica bina Reddidit Orosium doctrine luce reffertum Conclusitque simul longo quesito labore."3 Letzter Beweis, daß man hier tatsächlich Werke derselben Person vor sich hat, ist die identische Formulierung „longo quesito labore" im Kolophon der Vatikanischen und im Prolog der Brüsseler Handschrift. 4 V o m anderer Hand teilweise ausradiert, findet sich am Ende der Sententiae septem sapientium noch der Vermerk „ Guido collegit".5 c. Die Londoner Handschrift Im Bestand Egerton der British Library in London befindet sich unter der Signatur 818 ein um 1100 entstandener Codex, der die letzte der hier zu untersuchenden Sammlungen des Guido enthält. 6 Schrift und sonstige Ausstattung der Handschrift deuten auf eine Entstehung in Italien. 7 Neben den Collectanea rerum memorabilium des C. Iulius Solinus 8 enthält die Handschrift den anonym überlieferten Text De septem miraculis Orbis9.
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Beide stehen wiederum in engem Zusammenhang mit der Herrscherliste im schon behandelten Luccheser Codex des Chronicon Pisanum, vgl. oben S. 46 ff. RUYSSCHAERT: CODICES VATICANI, S. 314 (die erste Zeile ist nur noch schwer zu lesen). („Sieh zurück auf [das Werk ?] des Guido. Er hat dir und seinem Vaterland nach zwei Chroniken auch noch den Orosius wiedergegeben, der mit dem Licht der Gelehrsamkeit angefüllt ist, und hat so zugleich abgeschlossen, was er unter großer Mühe zusammengesucht hat.") Aus metrischen Gründen müßte hier wie im Fall des Kolophons der Londoner Handschrift eigentlich ,longo quesitä labore' stehen. Für den Hinweis danke ich meinem Kölner Kollegen Franz Fischer. Vgl. oben S. 94. Die wiederum nahezu identische Formulierung findet man in der Londoner Handschrift, vgl. unten S. 97 Vgl. die Formulierung am beginn des Londoner Kolophons: „Me guido collegil". Zur Zuschreibung zu Guido Pisano SCALIA: R O M A N I T A S , S . 8 1 0 und SCALIA: C A R M E PISANO, S . 5 6 8 . Die Datierung um 1 1 0 0 nach IDRIS B E L L : SOLINUS, S . 4 5 1 (hier auch die detaillierteste Analyse der gesamten Handschrift). Vgl. allgemein zur Handschrift LIST OF ADDITIONS, S . 1 6 , M Ü N K O L S E N : A U T E U R S CLASSIQUES, Bd. II, S . 4 9 9 f. (C.37). Abbildungen aus der Hs. bei U L L M A N : H U MANISM, Tafel VII,3 (=fol. 2v) und U L L M A N : O R I G I N , Tafel 2 8 (=fol. 3r). O L S E N : A U T E U R S CLASSIQUES, Bd. II, S. 499. Hier auch eine genaue Zusammenstellung der in der Handschrift enthaltenen Federzeichnungen. Ed. T. Mommsen. Ed. H. Omont.
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Auch hier fußt die Zuschreibung zu Guido auf dem Kolophon der Handschri ft:1 „Me guido collegit studiose meque peregit. Hic est solinus describere gesta peritus, Post hunc ex astris sequitur doctrinaque grandis. Discere captandi nec abest ars enumerandi, Invenies tandem metiendi qui cupis artem Conclusitque simul longo quesita labore"
Wie in den anderen Sammlungen wird Guido auch hier namentlich genannt. Auch hier findet sich - allerdings leicht abgewandelt - wie schon im Kolophon der Londoner Handschrift die Formulierung „conclusitque simul longo quesita labore", so daß man die Zuweisung zu Guido als sicher annehmen kann. 2. Der Kompilator Bevor man versuchen kann, die Inhalte der Sammlungen mit der Pisaner Beschäftigung mit der Vergangenheit in Verbindung zu bringen, muß noch einmal die Argumentation überprüft werden, aufgrund derer man den Urheber der drei Sammlungen mit einem Pisaner identifiziert hat. Zunächst muß festgestellt werden, daß nur für zwei der drei Sammlungen sicher nachzuweisen ist, daß diese mit Pisa in Verbindung stehen: die Sammlungen aus Brüssel und Rom. Beide enthalten Texte, die aufgrund ihrer Inhalte einwandfrei als Werke Pisaner Autoren zu bestimmen sind: das Carmen in victoriam Pisanorum in der Brüsseler Handschrift und der kurze Bericht über die Folgen des Erdbebens von 1117 in Pisa am Ende der vatikanischen Handschrift. Das Inhaltsverzeichnis am Beginn der Brüsseler Kompilation zeigt aber ebenso zweifelsfrei, daß der Text des Carmen in victoriam Pisanorum nicht ursprünglicher Bestandteil der Handschrift war. Gleiches läßt sich auch für den äußerst knappen Bericht über das Erdbeben von 1117 vermuten.2 Bewiesen ist hierdurch also ausschließlich eine Benutzung bzw. Erweiterung der Sammlungen in Pisa, keineswegs aber deren Entstehung. a. Identifizierung des Kompilators Zwar ist als sicher anzusehen, daß alle drei besprochenen Sammlungen von einer Person namens Guido zusammengestellt wurden, die möglicherweise am Beginn des 12. 1
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IDRIS BELL: SOLINUS, S. 455 (Der von Idris Bell kopierte handschriftliche Interpunktionsbefund wird hier durch eine moderne Interpunktion ersetzt). („Guido hat mich zusammengetragen und mit Eifer vollendet. Hier findet man Solinus, den kundigen Geschichtsschreiber, danach folgt eine bedeutende Lehre von den Sternen. Weder fehlt etwas zur Jagd, noch zur Kunst des Rechnens, und wenn Du suchst, wirst Du hier zuletzt auch die Kunst des Messens finden, und so hat er [Guido] zugleich unter großer Anstrengung seine Sammlung vollendet.") Der entsprechende Eintrag wurde an das Ende der Herrscherliste der Sammlung eingetragen. Da die heutige Handschrift nur eine späte Abschrift ist, kann nicht sicher festgestellt werden, ob es sich hierbei um einen Nachtrag, möglicherweise von anderer Hand handelte.
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Jahrhunderts tätig war. Daß Guido, wie mittlerweile gemeinhin angenommen wird, ein Pisaner war, ist jedoch keineswegs zu beweisen. 1 Die Identifizierung Guidos mit einem Pisaner Kleriker beruht vor allem auf zwei Indizien. 2 Zum einen enthalten zwei der drei Handschriften Texte, die eindeutig in Pisa entstanden. Dieses Indiz konnte schon entkräftet werden, da beide Texte nicht zum ursprünglichen Bestand der Sammlungen des Guido gehörten. Daneben hat man bisher stets zwei Stellen aus der Brüsseler Sammlung, die sich auf Pisa beziehen, als Hinweis auf die Pisaner Herkunft Guidos gewertet. 3 So hat der Überarbeiter des Excidium Troiae, der von der neueren Forschung mit Guido identifiziert wird, 4 in den Text zwei vorher vermutlich nicht vorhandene Erwähnungen Pisas eingefugt. 5 Nun ist aber, wie anhand des Inhaltsverzeichnisses der Sammlung
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So zuletzt noch einmal - hierbei auf Scalia zurückgreifend - G A U T I E R D A L C H E : C A R T E MARINE, S. 9 5 . Zuerst äußerte diese Meinung B O C K : LETTRES. Weitere Argumente, die aber wenig tragfähig sind, führt B O C K : LETTRES an. So weist er daraufhin, daß in der Brüsseler Sammlung der stilus pisanus verwendet worden ist (S. 126). Dies gilt aber nur mit Einschränkungen, da der Pisaner Stil eindeutig nur fur die Angabe des Todesjahres Heinrichs IV. (und das übrigens auch in der Londoner Sammlung) nachzuweisen ist. Man wird aus dem Befund daher nur ableiten können, daß der entsprechende Eintrag zu 1106 in Pisa enstand, die Vorlagen der Handschriften also schon zu diesem Zeitpunkt nach Pisa gelangt waren. Auch ein weiteres Argument Bocks weist - wenn überhaupt - ausschließlich auf die Benutzung der Sammlung in Pisa hin. So findet sich innerhalb der Herrscherliste des Brüsseler Codex eine aus einer Urkunde Ottos I. oder Ottos II. stammende Signumszeile ( B O C K : LETTRES, S. 129). Wie jedoch auch U G G E R I : C O N TRIBUTO, S. 237 bemerkt, ist die von Bock vorgenommene Identifizierung dieser Signumszeile mit einem Ausschnitt aus einer Pisaner Urkunde keineswegs zwingend. Vgl. etwa FISHER: PISAN C L E R G Y , S . 179, SCALIA: C A R M E PISANO, S . 567-570. Excidium Troiae, Ed. Bate, S. 10. Interessant ist hier die umgekehrte Argumentation Bates: „It [die Fassung des Excidio im Brüsseler Codex, MH] is a reworking of the original text, almost certainly by Guido, for it contains two lengthy additions about Pisa." Die Zuweisung zu Guido erfolgt hier, da Bate als gesichert annimmt, daß Guido ein Pisaner ist, obwohl doch Versuche, Guido als Pisaner zu identifizieren, unter anderem auf gerade diese Erwähnung Pisas im Excidium zurückgreifen. Das Excidium Troiae wird an der entsprechenden Stelle durch eine größtenteils aus Vergils Aeneis stammende Liste Toskanischer Kontingente, die Aeneas unterstützten, ergänzt (vgl. Vergil: Aeneis X, Vv. 166 ff.). Diesem Zitat aus Vergil wurde jedoch - mit erkennbarem Interesse - die entsprechende auf Pisa bezogene Passage hinzugefügt (Excidium Troie, Ed. Atwood / Whitaker, Anm. zu S. 41): „Pisa atque Tuscie civitas nobilissima dedit ei milites mille bello expertissimos, densos acie atque horrentibus hastis [Aeneis X, 178], Quibus Adsiles astronomicus mirabilis et augur futurorumque prescius princeps constitutus est. Que civitas predicta in Tuscia a Pelopide Tantali filio constructa et hedificata est, apud earn exulans. „ („Pisa, die edelste unter den Städten Tusziens, stellte ihm 1000 äußerst kriegserfahrene Soldaten, in dichter Schlachtreihe und mit starrenden Lanzen. Diesen wurde Adsiles, der bewundernswerte Sternenkundige und die Zukunft erschauende Seher, als Anfuhrer bestimmt. Die genannte Stadt wurde in der Toscana von Pelops, Sohn des Tantalus, gegründet und erbaut, als er dort im Exil lebte.") Der Vergleich zwischen dieser Passage und der entsprechenden Stelle aus der Geographica (wie unten S. 109) zeigt eine exakte Übereinstimmung des letzten Satzes. Welcher der beiden Text älter ist, kann nur vermutet werden. Da der entsprechende Satz im Zusammenhang des Excidium
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gezeigt werden konnte, auch die überarbeitete Fassung des Excidium Troiae vermutlich gar kein originaler Bestandteil der Sammlung des Guido.1 Es kann also nicht belegt werden, daß Guido der Bearbeiter des Excidium Troiae war,2 weshalb man daraus natürlich dann auch nicht ableiten kann, daß dieser Pisaner war. b. Die Geographica Schließlich erscheint auch im geographischen Teil der Sammlung, genauer gesagt in der Erweiterung der Cosmographica des Geographus Ravennas3, eine Erwähnung der toskanischen Seestadt.4 Auf diese Geographica sei daher hier kurz etwas ausführlicher eingegangen. Der frühmittelalterliche Text des Geographus Ravennas wurde an vielen Stellen ergänzt. Hierbei wurden teilweise Orte nachgetragen, teilweise das Vorhandene durch historische Informationen ergänzt.5 Ein Blick auf diese Erweiterungen vermag jedoch zu zeigen, daß die Angabe zu Pisa durchaus kein Einzelfall ist. Zu vielen Städten finden sich derartige Nachträge, die sich auf die antiken Gründungslegenden, an den jeweiligen Orten aufbewahrte Reliquien und ähnliches beziehen. Aus dem entsprechenden Eintrag an sich wird man also nicht ableiten können, daß der Text bzw. die Erweiterung in Pisa entstanden ist.6 Nahezu unmöglich wird eine derartige Argumentation, wenn man sich kurz den Eintrag zu Capua anschaut. Hier heißt es über die Staclt:7 „Capua. Caput campaniae. Fertilis gloriosa principalis atque splend[idi]issima, una ex tribus regiis ac famosis, Roma, Kartagine ipsaque tertia."
Ähnlich überschwenglich äußerst sich der Text auch über andere Städte. Selbst wenn man annimmt, daß der vermeintliche Guido ,Pisanus' die Passage zu Capua nicht geschrieben hat, sondern sie schon in seiner Vorlage gefunden hat, wieso sollte er dann wenn er schon, wie der überwiegende Teil der bisherigen Forschung annimmt, ein be-
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Troiae allerdings keinen rechten Sinn ergibt, die Geographica in der Fassung des Guido hingegen voll solcher antiker Legenden sind, wird man vermuten können, daß die Passage von den Geographica ins Excidium Troiae kopiert worden ist. Auch dieser Text erscheint ja nicht im Inhaltsverzeichnis. Vgl. oben S. 95. Es gibt für keinen Text der erhaltenen Sammlungen einen Hinweis darauf, daß Guido in deren Textbestand eingegriffen hat. In den Kolophonen und Prologen der Sammlungen ist stets nur von der Sammlung bzw. Zusammenstellung der Texte die Rede. Zu diesem knapp KRATOCHWILL: GEOGRAPHUS R A V E N N A S (mit der älteren Literatur) sowie M A N SUELLI: GEOGRAFI.
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Vgl. zur Stelle unten S. 108 ff. Vgl. die beiden Fassungen in der Ed. Schnetz. Entsprechende ,Hintergrundinformationen' finden sich etwa zu Aquileia, Padua, Mantua, Ravenna, Lucca, Benevent, Salerno, Capua, Montecassino, Brindisi, Metapontum, Tarent, Catania, Syracus u.a. Guido: Geographica, S. 17. („Capua. Hauptort Campaniens. Fruchtbare, ruhmreiche, fürstliche und herrlichste Stadt, eine der drei königlichen und berühmten Städte, nach Rom und Karthago die dritte")
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sonderes Interesse an Pisa hatte - nicht auch dieser Stadt ein paar wenigstens annähern gleichwertige Epitheta beifügen? Wieso erwähnte er nur die antike Gründungslegende? Sieht man sich an, für welche Regionen Italiens der Bearbeiter dem Text des Ravennas weitere Ortsnamen hinzufugte, w o er schließlich die meisten Ergänzungen mit historischen Hintergrundinformationen vornimmt, so erweisen sich die süditalienischen Provinzen Kampanien, Apulien und Kalabrien eindeutig als Interessensschwerpunkt des Bearbeiters. 1 Man wird daher sicher nicht fehlgehen, wenn man die Bearbeitung des Geographus Ravennas, wie sie in der Brüsseler Handschrift vorliegt, einem süditalienisehe Autor zuschreibt. Für eine Herkunft oder enge Beziehung zu Pisa lassen sich zumindest für den Bearbeiter des Geographus Ravennas keinerlei Hinweise finden.3 Man wird jedoch einschränkend wiederum festhalten müssen, daß hiermit nicht zwingend etwas über die Person des Guido ausgesagt ist, da keineswegs sicher ist, daß dieser der Bearbeiter des Geographus Ravennas ist. c. Guido Die stadtgeschichtliche Forschung zu Pisa hat Guido nur allzugern in das durch die vielzitierte Romanitas Pisana geprägte kulturelle Klima der Arno-Stadt eingebunden. 4 So hat man ihn mit einem in den Quellen verhältnismäßig gut nachzuweisenden Diakon des Pisaner Domstifts identifiziert. 5 Wenngleich es auch nicht möglich ist (wie mehr1
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Hierzu ausfuhrlich U G G E R I : CONTRIBUTO, S . 2 3 7 ff., der den Interessensschwerpunkt des Bearbeiters - den er mit Guido identifiziert - in Apulien sieht. Dies würde auch die oben S. 92, Anm. 3 angesprochene süditalienische Herkunft der Vorlage der Brüsseler Handschrift bestätigen. Es wäre sicher lohnend, die verschiedenen historischen Angaben, die der Bearbeiter des Geographus Ravennas in seinen Bericht einstreut, einer systematischen Untersuchung zu unterziehen. Möglicherweise ließe sich so exakter der Zeitpunkt der Entstehung dieser Bearbeitung bestimmen. Vieles spricht dafür, daß diese vor 1087 entstanden ist. So weiß der Bearbeiter etwa, trotz seines ansonsten großen Interesses an Apulien, nichts von der wichtigen Verehrung der Reliquien des Hl. Nikolaus in Bari, während er den Heiligen andererseits bei der Behandlung Myras erwähnt. Da dessen Reliquien 1 0 8 7 von Myra nach Bari gebracht wurden (vgl. B R Ü C K N E R : N I K O L A U S ) , ist zu vermuten, daß die Bearbeitung vor diesem Zeitpunkt abgeschlossen war (vgl. jedoch die abweichende Interpretation von U G G E R I : CONTRIBUTO, S. 2 4 5 f.). Als terminus ante quem könnte die Erwähnung des Grabs des Apostels Matthäus in Salerno dienen. Dessen Leichnam wurde erst 1084 von Paestum nach Salerno gebracht ( S E E L I G E R : M A T T H Ä U S ) . Ein eher problematischen Eintrag findet sich zu Ravenna. Hier heißt es (Guido: Geographica, S. 3): „Nunc deo volente dignitate ecclesiastica atque pontificali, martirium in ea coruscantium meritis famosior excelsior exeolitur."
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Bezieht sich dieser Eintrag auf die Intronisation des vormaligen Erzbischofs von Ravenna, Wibert, als Gegenpapst im Jahre 1 0 8 4 (vgl. S T R U V E : C L E M E N S III.)? Hiermit ließe sich sowohl die Datierung zwischen 1084 und 1087 bestätigen, als auch etwas über die politische' Orientierung des Bearbeiters aussagen. Nach B O C K : LETTRES ausfuhrlich und im Grunde überzeugend FISHER: PISAN C L E R G Y , S . 1 7 7 ff. SCALIA: C A R M E PISANO, S . 5 6 9 und mit diesem auch G A U T I E R D A L C H E : C A R T E MARINE, S . 9 5 .
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fach versucht), den Kompilator Guido mit einem gleichnamigen literarisch tätigen Mönch des Klosters Montecassino zu identifizieren, so weisen eine ganze Reihe von Indizien doch tatsächlich in den Süden der Halbinsel.1 Gerade die Fortfütirung der Chronica Maiora Isidors in der Brüsseler Handschrift, die ausschließlich die Herzöge bzw. Duces von Salerno, Benevent und Neapel auffuhren, 2 aber auch die eindeutig in den Süden Italiens führende Bearbeitung des Geographus Ravennas sprechen gegen einen Pisaner Autor bzw. Kompilator. Zudem weist die Beobachtung von Schnetz, daß die Vorlage der Brüsseler Handschrift wahrscheinlich in Beneventana geschrieben war, schließlich der erwähnte süditalienische Einfluß im Buchschmuck der Brüsseler Handschrift deutlich in den Raum Apulien-Kampanien-Kalabrien. Man wird daher wohl davon absehen müssen, weiterhin von Guido ,Pisanus' zu sprechen und diesen als Angehörigen des Pisaner Domstifts nachweisen zu wollen. Doch bedeutet dies keineswegs, daß die Sammlungen des Guido für die Untersuchungen zur Erinnerungs- und Geschichtskultur Pisas am Beginn des 12. Jahrhunderts nicht mehr von Interesse sind. 3. Die Sammlungen des Guido und das Interesse des Pisaner Publikums Zwar wird man nicht mehr versuchen können, die an sich hochinteressanten Prologe und Kolophone der Sammlungen des Guido auf das Selbstverständnis der Pisaner Autoren zu beziehen. Gerade der Prolog der Brüsseler Handschrift mit seiner Kombination christlicher bzw. biblischer und heidnisch-antiker Autoritäten (Lukan, Cicero, Cato) würde sich gut in das auch in Pisa zu beobachtende rege Interesse christlicher Schriftsteller der Zeit um 1100 an antiken Traditionen einfügen, das nicht unwesentlich zur Vorstellung einer Renaissance des 12. Jahrhunderts beigetragen hat. Die Rezeption der Sammlungen und deren Erweiterungen und Kommentierungen in Pisa zeigt aber, daß man diesen Texten großes Interesse entgegenbrachte. Da leider nicht zu bestimmen ist, wann und wo die einzelnen Texte zur ursprünglichen Sammlung des Guido hinzugekommen sind, ob also etwa das Inhaltsverzeichnis des Brüsseler Codex den schon aus Süditalien nach Pisa gelangten Textbestand widerspiegelt oder aber eine erste Erweiterung in Pisa, verbietet es sich eigentlich, die Kombination der Texte auf spezi fisch Pisaner Interessen zu beziehen.3 Man wird sich mit der Beobachtung begnügen müssen, daß es in Pisa ein Publikum für derartige geographisch-naturwissenschaftliche und historische Texte gab. Die in Pisa rezipierten Sammlungen Guidos schließen so teilweise eine Lücke im bisherigen Bild von der Beschäftigung der Pisaner mit der Vergangenheit. Sie zeigen einerseits das sich auch in den weiteren Analysen bestätigende Interesse der Pisaner an 1 2 3
So zuerst Pertz in MGH SS V, S. 63. MGH SS III, S. 211-213. So ausfuhrlich und im Prinzip überzeugend DALCHE: CARTE MARINE, S . 9 6 f f .
FISHER: PISAN CLERGY,
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ff. und zuletzt
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der Antike, hier repräsentiert durch die spätantiken Troja-Bearbeitungen und den Alexander-Roman in der Brüsseler Sammlung. Zwar lassen sich zwischen den Texten der Guido-Sammlungen und den literarischen Produkten der Pisaner keine direkten Beziehungen herstellen, da bisher in den Pisaner Texten keine Zitate der hier zusammengestellten spätantiken Autoren identifiziert werden konnten. Doch kann man die hier überlieferten Texte generell als Spuren einer breiteren Rezeption antiker Literatur in Pisa werten, die sich im folgenden noch anhand der sprachlichen Form der Pisaner Texte belegen läßt. Vielleicht von noch größerem Interesse sind aber die im engeren Sinne historiographischen Texte der in Pisa rezipierten Sammlungen des Guido. Die Sammlungen in London und Brüssel weisen Orosius, Beda, Isidor und Paulus Diaconus in Pisa nach, also einige der Klassiker der spätantiken und frühmittelalterlichen Geschichtsschreibung. Hierdurch ist zumindest teilweise die Überschreitung des engen stadtgeschichtlichen Rahmens belegt. Gerade vor diesem Hintergrund ist es dann signifikant, daß in Pisa selbst keine Versuche unternommen worden sind, diese Traditionen fortzufuhren, also etwa an die Tradition der Weltchronistik anzuknüpfen. Sieht man einmal von dem singulären Bericht über das Erdbeben in Pisa im Londoner Codex ab, so fallt auf, daß keiner der chronikalischen Texte in den Sammlungen durch Einträge zur Pisaner Geschichte erweitert wurde. Diese Beobachtung deckt sich mit den Ergebnissen der Untersuchung der in Pisa entstandenen Texte. Wenngleich im weiteren gezeigt werden kann, daß sich die Pisaner Texte durchaus auf Traditionen mittelalterlicher Geschichtstheologie beziehen lassen, so ist doch das Fehlen expliziter Bezüge zu christlichen Autoren oder Werken der Spätantike und des Frühmittelalters bemerkenswert. Dies gilt um so mehr, stellt man dem die große Masse von Anspielungen auf die heidnische Antike gegenüber. Es drängt sich der Eindruck auf, daß man in Pisa die eigene historiographische Tätigkeit und die nachweislich rezipierte ältere christliche Geschichtsschreibung sauber trennte. Vielleicht zeigt sich auch hier das an anderer Stelle erkennbare bemerkenswerte Selbstverständnis und Selbstbewußtsein der Pisaner Autoren, die möglicherweise auch durch die Akzentuierung des Bruchs mit der mittelalterlichen Vorgeschichte - die gewissermaßen übersprungen wird - den direkten Anschluß an antike Maßstäbe gesucht haben.
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Ε. Ergebnisse und erste Interpretation der Befunde Schon dieser erste Zugang zum Pisaner Korpus ermöglicht neben Aussagen über die einzelnen Texte auch die Bestimmung zentraler Eigenschaften der gesamten Pisaner Erinnerungskultur am Beginn des kommunalen Zeitalters. Wie am Beginn dieses Teilkapitels formuliert, hat die Frage, was erinnert wird, stets eine zeitliche und eine inhaltlich-thematische Dimension. Die folgenden Ausführungen, die über eine Zusammenfassung der bisher gewonnenen Ergebnisse hinausgehen, indem sie auch eine erste Interpretation der Befunde bieten, werden bei der zeitlichen Dimension ansetzen. 1. Zeitliche Dimension In zeitlicher Hinsicht bestimmen zwei Schwellen die Pisaner Erinnerungskultur in der Zeit zwischen dem 10. und dem 12. Jahrhundert. Einerseits scheint es, als habe man in Pisa erst in der Mitte des 11. Jahrhunderts begonnen, sich mit der Geschichte der Stadt zu beschäftigen und die Ereignisse der jüngeren Vergangenheit im Medium der Schrift vor dem Vergessen zu bewahren. Diesem Beginn einer städtischen Geschichtsschreibung entspricht eine in charakteristischer Weise versetzte Begrenzung des von den überlieferten Texten thematisierten Zeitraums. a. Der Beginn städtischer Geschichtsschreibung Vor der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts scheint es in Pisa keine städtische Geschichtsschreibung gegeben zu haben. Weder haben sich ältere Texte erhalten, die Ereignisse der Stadtgeschichte thematisieren, noch lassen sich in den späteren Texten Spuren einer solchen älteren Geschichtsschreibung ausmachen. 1 Erst in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts hat man offenbar in Pisa begonnen, sich mit der Geschichte der eigenen Stadt zu beschäftigen. Die Frage nach den Gründen für ein solches E r w a chen des historischen Interesses' 2 wird noch drängender, wenn man berücksichtigt, daß dieser Beginn städtischer Geschichtsschreibung nicht auf eine einzelne Gattung oder ein einzelnes Werk beschränkt ist, sondern in unterschiedlichen pragmatischen Kontexten nahezu zeitgleich - zu beobachten ist. Nach der Jahrhundertmitte entstehen erste annalistische Aufzeichnungen, ein geistlicher Dichter besingt eine der großen Flottenexpeditionen seiner Heimatstadt, gleichzeitig trägt man die Erinnerung an die vergangenen Großtaten in den Stadtraum, schreibt sie etwa in Stein ein, um sie auf ewig im Gedächtnis der Stadt zu bewahren.
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Gerade die Analyse der annalistischen Überlieferung hatte keine Vorlagen nachweisen können, die vor den 1080er Jahren entstanden sind. So im Titel des bisher einzigen Versuches, sich dem Gesamtphänomen zu nähern: FISHER: P I S A N CLERGY.
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Gründe für diesen Aufbruch zu finden, ist nicht leicht. Keinesfalls läßt sich das frühere Schweigen der Quellen durch den Verweis auf fehlende darstellungswürdige Gegenstände erklären. Auch vorher gab es schon Ereignisse, die wert gewesen wären, in schriftlicher Form der Nachwelt übermittelt zu werden. Erwähnt sei nur die Teilnahme eines Pisaner Flottenkontingents an einem im Jahre 828 vom Luccheser Grafen Bonifacius geleiteten Angriff auf die nordafrikanische Küste oder die Beteiligung von Pisaner Schiffen an der Verteidigung Salernos gegen die Sarazenen 871.' Auch die zunehmende Vertrautheit im Umgang mit Schriftlichkeit, die man sicher immer als einen die Überlieferung prägenden Faktor berücksichtigen muß, stellt allein doch keine hinreichende Erklärung für das Einsetzen einer städtischen Geschichtsschreibung in dieser Zeit dar. 2 Gerade in Pisa waren diese technischen bzw. medialen Bedingungen einer Stadtgeschichtsschreibung schon lange vor der Mitte des 11. Jahrhunderts gegeben. So wird der Stadt am Arno von vielen Seiten eine kulturelle Kontinuität zwischen Spätantike und frühem Mittelalter attestiert, die sich vor allem in einem - im frühmittelalterlichen Kontext untypischen - intensiven Einsatz von Schriftlichkeit zeigte. 3 Angesichts dieser Bildungstradition, die gerade auch laikale Kreise mit einschloß, 4 wird man davon absehen müssen, den Grund für das Einsetzen einer eigenständigen städtischen Geschichtsschreibung in der zuvor fehlenden Medienkompetenz sehen zu wollen. 5 Zwar kann die aufgeworfene Frage an dieser Stelle noch nicht abschließend beantwortet werden. Es scheint aber, als sei tatsächlich in eben dieser Zeit in Pisa so etwas wie ein Interesse an der eigenen Vergangenheit erst entstanden, als habe eine ganz bestimmte politische und/oder gesellschaftliche Konstellation in eben dieser Zeit den Rückgriff auf die Vergangenheit - zum Erreichen welcher Ziele sei zunächst dahingestellt - besonders notwendig oder sinnvoll gemacht. Hierauf wird später im Zusammen-
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Zu diesen frühen Belegen LUZZATI: FIRENZE, S. 565 sowie wiederum ausführlicher Rossi SABATINI: L ' E S P A N S I O N E , S . 3 u n d S . 4 4 f .
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Im Einzelfall ist es schwierig, die qualitativen Wandlungen im Umgang mit Schrift von der quantitativen Zunahme zu trennen. Die wachsende Vertrautheit im Umgang mit Schriftlichkeit wird man bei fast allen hier untersuchten Formen immer a u c h berücksichtigen müssen. V g l . a l l g e m e i n PETRUCCI: LIBRI Ε SCRITTURE, S. 18 ff. u n d für d i e f r ü h m i t t e l a l t e r l i c h e S i t u a t i o n in
Pisa das Kapitel Ί1 laboratorio pisano: problemi di scritture, problemi di lingue' in PETRUCCI / ROMEO: SCRIPTORES, S . 4
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109-126.
V g l . PETRUCCI / R O M E O : S C R I P T O R E S IN U R B I B U S , S . 1 0 9 - 1 2 6 , w o d i e a u c h f ü r I t a l i e n
ungewöhnlich
starke Verbreitung von Schriftkenntnis unter Laien herausgestellt wird. Zur engen Beziehung der Pisaner Laien zur Schriftlichkeit auch unten S. 371 f. So für die historiographischen Betätigung Mailänder Laien auch BUSCH: MAILÄNDER GESCHICHTSSCHREIBUNG, S. 44, der aber die auf die schriftkundigen kommunalen Laien wartenden Aufgaben dafür verantwortlich macht, daß diese ihre Energie nicht für die Geschichtsschreibung verwendeten. Ob die auf Mailand bezogene Einschätzung Büschs, die frühe Kommune habe noch „zu sehr in der . M ü n d l i c h k e i t ' " g e l e b t (BUSCH: MAILÄNDER GESCHICHTSSCHREIBUNG, S. 2 3 7 ) , auch fiir das
frühkommunale Pisa zutrifft, ist zu bezweifeln.
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hang mit der thematischen Beschränkung bzw. Bestimmung des Geschichtsbildes zurückzukommen sein. b. Die zeitliche Beschränkung des frühkommunalen Geschichtsbildes Die erwähnte Teilnahme von Pisaner Kontingenten an Flottenexpeditionen gegen die Sarazenen im 9. Jahrhundert hat in keinem der überlieferten Pisaner Texte eitlen Niederschlag gefunden. Man wird vermuten können, daß diese eigentlich doch ruhmreichen Ereignisse im 11. Jahrhundert schlicht in Vergessenheit geraten waren. Ein Blick auf die annalistischen Texte zeigt, daß keiner von ihnen stadtgeschichtliche Ereignisse erwähnt, die deutlich hinter die Jahrtausendwende zurückgehen. Ältestes stadtgeschichtliches Ereignis im Chronicon ist die Pisaner Flottenexpedition nach Kalabrien im Jahr 971 st. pis. 1 Annalistische Inschrift und Annales Antiquissimi beginnen ihre Berichte gar erst mit dem Überfall der Sarazenen auf Pisa 1005 st. pis. Diese Schianke der Jahrtausendwende bestätigt auch der Blick auf die Geschichtsdichtung und die Inschriften. Zwar wird die Geschichte Pisas gerade in der Geschichtsdichtung in einen die 1
Vgl. zu dieser Expedition, die wohl in keinem Zusammenhang mit den Aktionen Ottos I. in Süditalien stand, LUZZATI: FIRENZE, S. 5 6 5 u n d a u s f u h r l i c h e r R o s s i SABATINI: ESPANSIONE DI PISA,
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S. 45 f. Ausschließlich die Fassung Bernardo Maragone des Chronicons bietet das Datum 971 st. pis., die beiden anderen Versionen stimmen im (nach Rossi Sabatini falschen) Datum 969 überein. Möglicherweise ist für die Abweichung ein Rechenfehler bei der Umwandlung des Normaljahrs in den Stilus pisanus verantwortlich, wie man ihn auch später noch oft in der Pisaner Annalistik findet. Als Überlieferungsproblem war dies schon einem Historiker des 14. Jahrhunderts aufgefallen. Dieser versuchte zu erklären, wieso es fur die Zeit vor der Jahrtausendwende keine schriftlichen Nachrichten zur Geschichte seiner Heimatstadt gab (Cronaca Pisana ASL 54, fol. lr., Ed. Silva, S. 39): „Ma e stato cagione le grande aversitä che ae avuto la provincia d'Italia dalli anni CCCC fine al DCCLXXV, che IIa magior parte delle citä d'Italia in quelli tenpi funo distrutte e disfacte e cosi si perderono scritture e altre nobile cose [...] e questo e la prima cagione che poche scritture si trovano. Ε la sequente cagione si e che nel MVI la citä di Pisa essendo Ii Pisani iti con grande armata alla citä di Regio in Calauria la quale si tenea per Ii Sarracini dove stenno circha a uno ano, in quello tenpo lo re Mugietto barbaro fe' grande armata et vene a Pisa et trovandola sproveduta d'omini entrö in dicta citä et abrugiö la magior parte et cosi si perderono scritture [...] e questo sono le cagione che poche scritture ο non niente si trovano antiche." ("Der Grund hierfür sind die großen Unglücksfälle, die die Provinz Italien zwischen den Jahren 400 und 775 erleiden mußte, so daß in dieser Zeit der größte Teil der italienischen Städte zerstört und ausgelöscht worden sind und sich so Schriften und andere kostbare Dinge verloren haben [...] Dies ist der erste Grund, warum sich so wenige Schriften finden lassen. Ein weiterer Grund ist, daß im Jahr 1006 die Stadt Pisa, als die Pisaner mit einer großen Flotte zur von den Sarazenen besetzten Stadt Reggio in Kalabrien zogen und dort ein Jahr blieben, daß in dieser Zeit der Barbarenkönig Mugietto eine große Flotte aufstellte und nach Pisa kam. Da er die Stadt unbewehrt vorfand, drang er in die sie ein und brannte den größten Teil derselben nieder, wodurch [auch] die Schriften verloren gingen [...]; Dies sind die Gründe, wieso sich so wenige oder gar keine alten Schriften über die
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g e s a m t e W e l t - b z w . H e i l s g e s c h i c h t e u m s p a n n e n d e n Z u s a m m e n h a n g eingeordnet. 1 Versuche, die G e s c h i c h t e der Stadt und der S t a d t g e m e i n s c h a f t hinter das E n d e d e s 10. Jahrhunderts z u r ü c k z u v e r f o l g e n , sucht m a n j e d o c h auch hier v e r g e b l i c h . 2 W i e g e s a g t hat e s vor den achtziger Jahren des 11. Jahrhunderts, a l s o v o r den ältesten V o r l a g e n der überlieferten A n n a l e n w e r k e , v o r d e m C a r m e n und den Inschriften der D o m f a s s a d e , keine Stadtgeschichtsschreibung in Pisa g e g e b e n . Entsprechend wird m a n v e r m u t e n k ö n n e n , daß die hinter d i e s e n Zeitpunkt z u r ü c k g e h e n d e n ältesten N a c h r i c h t e n zur Stadtgeschichte seit 9 7 1 st. pis., w i e sie in den Pisaner A n n a l e n überliefert sind, aus m ü n d l i c h e r Tradition s t a m m e n . D i e B e s c h r ä n k u n g des z e i t l i c h e n Horizonts der h o c h mittelalterlichen Pisaner Erinnerungskultur könnte m a n damit a u f die bekannte
floating
Ereignisse [bzw. ,die Geschichte'] finden.") Eine Transkription dieses wichtigen Textes liegt bisher nur in zwei Tesi di Laurea der Universität Pisa vor: A. F R A C A S S O : Cronaca pisana di autore anonimo contenuta nel cod. 54 dell'Archivio di Stato di Lucca, cc. 1-34. (=Tesi di Laurea... a.a. 19661 9 6 7 ) und L. O R L A N D I N I : Cronaca pisana di autore anonimo contenuta nel cod. 54 dell'Archivio di Stato di Lucca, cc. 35-74. (=Tesi di Laurea... a.a. 1 9 6 6 - 1 9 6 7 ) . Zur Chronik selbst S I L V A : Q U E S T I O N S S . 38-53, B A N T I : S T U D I O SULLA GENESI, vor allem S . 282 ff. Am Rande sei bermerkt, daß diese Erklärung des Anonymus zumindest teilweise auf die entsprechende Einleitungspassage der Chronik des Florentiners Giovanni Villani zurückzugehen scheint, vgl. Giovanni Villani: Nuova Cronica I, 1 ff. 1 2
Dies wird unten S. 118 ff. ausführlich untersucht werden. Gleichwohl entstanden in Pisa sicher vor der Mitte des 11. Jahrhunderts Texte, die man als historiographisch bezeichnen kann, sie haben aber eben nicht die Geschichte der Stadt, sondern nur bestimmte Aspekte aus dieser thematisiert und hatten entsprechend keinen erkennbaren Einfluß auf die Texte der frühkommunalen Zeit: Erwähnt sei etwa ein Text aus der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts, die Narratio omnium, quae fecit Beatus Bonus Abbas pro fitndando ac ditando Monasterio Pisano Sancti Michaelis. Zeugnis einer Beschäftigung mit der Pisaner Kirchengeschichte ist auch die im 6. Jahrhundert verfaßte Passio des Heiligen Torpes bzw. die dann in karolingischer Zeit entstandene Legende von der Landung des Heiligen Petrus in Pisa (vgl. C E C C A R E L L I L E M U T : SAN PIERO). Beide stellen alternative (und sich gegenseitig ausschließende) Entwürfe der Christianisierung Pisas dar. Während es in der Passio des Heiligen Torpes ein aus Pisa stammender Heiliger ist, der die Christianisierung seiner Heimatstadt einleitete (Passio S. Torpetis), ist es in der Legende von der Landung des Apostelfürsten Petrus bei San Piero in Grado ein von außen kommender Impuls (man beachte gerade bei der jüngeren Petrus-Legende die sich hieraus klar ergebende Verbundenheit mit dem späteren Papsttum). Die hier entworfenen .Geschichten' richten sich jedoch in erster Linie auf die Institution des Pisaner Bistums, nicht auf die auch weltliche Stadtgemeinschaft. Beide Texte bzw. Legenden haben im Untersuchungszeitraum dieser Arbeit dann auch keinen erkennbaren Niederschlag gefunden. Erst in späterer Zeit, als der Blick auf die Geschichte der Stadt sich weitete und etwa auch die antike Geschichte miteinbezogen wurde, hat man diese älteren Legende wiederentdeckt und verarbeitet. Beleg hierfür ist die Anfang des 13. Jahrhunderts in Pisa entstandene volgare- Version der Passio des Heiligen Torpes. Vgl. die Edition dieser Leggenda di San Torpe durch M. S. Elsheikh.
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gap zurückfuhren, auf die zeitliche Beschränkung des kommunikativen Gedächtnisses,1 das immer nur 80-100 Jahre in die Vergangenheit zurückreicht.2 Die Identifizierung einer solchen floating gap löst allerdings im vorliegenden Fall das Problem in keiner Weise. Auch so stellt sich noch die oben aufgeworfene Frage, wieso man im 11. Jahrhundert (und nicht früher) beginnt, Stadtgeschichte aufzuzeichnen. Zudem ist bisher ungeklärt, was denn mit der Zeit vor dieser Lücke ist, ob es also jenseits der lebendigen' Erinnerung und der von den Gedächtnistheoretikern konstatierten Lücke auch in Pisa Vorstellungen von einer ,mythische Vorzeit' gegeben hat und wo diese Vorstellungen - wenn es sie denn gab - Spuren hinterlassen haben. c. Die Vorgeschichte der Stadt - Wissen über das antike Pisa Betrachtet man die Zeugnisse der frühkommunalen Erinnerungskultur Pisas, so scheint es, als hätten diese Annalisten und Dichter nichts von der Geschichte ihrer Stadt vor dem 11. Jahrhundert gewußt.3 Zwar ist zu vermuten, daß auch im 11. und 12. Jahrhundert die Legenden von der Christianisierung Pisas bekannt waren, die im frühen Mittelalter entstanden waren.4 Keiner der hier untersuchten Texte erwähnt diese jedoch auch nur andeutungsweise. Etwas anders ist dies im Fall der antiken Geschichte der Stadt. Zwar hat keiner der erhaltenen Pisaner Texte des 11. und 12. Jahrhundert die antike r ö m i s c h e Vorgeschichte Pisas thematisiert oder erwähnt.5 Es lassen sich jedoch zumindest Spuren einer Rezeption der schon in der Antike kursierenden Legende von der Gründung Pisas durch griechische Einwanderer finden, die um so mehr die Frage aufwerfen, wieso dieses Wissen nicht genutzt worden ist. Die vor 1119 entstandene Brüsseler Kompilation Guidos enthält den frühesten Beleg einer griechischen Gründung Pisas. In der vermutlich nicht von Guido selbst verfaßten
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Zur Unterscheidung von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis
A S S M A N N : KULTURELLES
GEDÄCHTNIS, S . 4 8 f f . 2
Der Begriff .floating gap' geht auf den Ethnologen Jan Vansina zurück ( V A N S I N A : O R A L TRADITIvor allem S . 2 3 f.). Ausfuhrlich hierzu A S S M A N N : KULTURELLES GEDÄCHTNIS, S . 4 8 ff. Auf diesen Aspekt der städtischen Geschichtsschreibung des 11. und 12. Jahrhunderts hat schon G. Arnaldi hingewiesen: „Quando si comincia ad avere una storia, che e soltanto storia cittadina [...], ci troviamo di fronte ad una storia senza passato, come se tutto fosse cominciato in quel momento," und an anderer Stelle: „La contemporaneitä e la struttura stessa del discorso degli autori di annali cittadini" (G. Arnaldi, Diskussionsbeitrag zu MARTINI: SPIRITO CITTADINO, in: FONSECA: PROBLEMI DELLA CIVILTÄ COMUNALE, S. 153-54, beide Zitate S. 153). Erst mit Beginn des 13. Jahrhunderts werde sich dies (wieder) ändern (ebd.). Vgl. zu den alternativen Legenden um San Torpes und Petrus oben S. 107, Anm. 2 Die ändert sich jedoch Anfang des 14. Jahrhunderts. Vgl. neben der unten S. 395, Anm. 1 erwähnten Deutungen eines antiken Marmorkraters vor dem Dom auch die Chroniken des 14. Jahrhunderts, etwa Ranieri Sardo: Cronaca di Pisa, S. 10 f. ON,
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Erweiterung einer Erdbeschreibung des Geographus Ravennas heißt es anläßlich der Erwähnung der Stadt:1 „Pisa, quae civitas praedicta in Tuscia a Pelopide Tantali filio constructa et edificata est, apud eam exulans." Eine nahezu identische Nachricht wurde in der gleichen Kompilation dem Text des Excidium Troiae,2 einer spätantiken Verarbeitung des Troja-Stoffes, hinzugefugt. Quelle für die Legende von der Gründung Pisas durch den Griechen Pelops ist vermutlich der Servius-Kommentar zu Vergils Aeneis. 3 Hiermit in engem Zusammenhang steht eine Legende zur Gründung der Stadt, die im Liber Maiorichinus verarbeitet worden ist. Anläßlich des Auslaufens der Pisaner Flotte referiert der Text über den griechischen Namen des Arno und verbindet damit die Legende von der griechischen Gründung der Stadt: 4 „Accepit has Sarnus, greco vocatus ab amne Alpheus, cui Pisa vetus, nunc lapsa5, cohesit, Ex qua Pisanus, qui Pisas condidit istas, Italie fluvio nomen donavit et urbi." Diese griechische Gründung Pisas ist einerseits im gesamten Liber Maiorichinus präsent; alternativ zum üblichen Arnus bzw. Sarnus wird der Arno hier - eben in Erinnerung an den gleichnamigen Fluß des griechischen Pisa - Alpheus genannt, 6 die Pisaner selbst heißen Alphei. 7 Doch wird die Legende der griechischen Gründung im Liber nicht weiter ausgebaut. 1 1
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Guido: Geographica, S.121 und 131. ("Pisa - diese Stadt wurde in Tuszien von Pelops, Sohn des Tantalus erbaut, als er dort im Exil lebte.") Excidium Troiae, Ed. Atwood / Whitacker. Diese und noch eine weitere auf Pisa bezogene Hinzufügung ebd., S. 41 und 44. Vgl. zu den Unterschieden zwischen Servius und der Kompilation des Guido FISHER: PISAN CLERGY, S. 179, Anm. 111. Liber Maiorichinus, (Vv. 138 ff.). („Der Arno empfing [die Schiffe], der auf Griechisch Alpheus heißt nach dem Fluß, an dem das alte Pisa lag, das nun untergegangen ist. Von dort kam jener Pisaner, der das heutige Pisa gründete und der Stadt und dem Fluß in Italien den Namen gab.") Vgl. die antiken Versionen bei Vergil: Aeneis X, 179 und vor allem Servius: Commentarius in Vergilii Aeneidos libros, Bd.2, S. 409: ,ΜΡΗΕΑΕ AB OR1GINE P1SAE Alpheus fluvius est inter Pisas et Elidem, civitates Arcadiae, ubi est templum Iovis Olympici: ex quibus locis venerunt qui Pisas in Italia condiderunt, dictas a civitate pristina." („,Pisa, die Stadt alpheischen Ursprungs' [Vergil: Aeneis, X, 179] - Der Fluß Alpheus liegt zwischen Pisa und Elis, Städten in Arcadia, wo der Tempel des olympischen Jupiter steht: Aus diesen Städten kamen jene, die Pisa in Italien gründeten, das nach der älteren Stadt benannt war.") Dieses - falsche - Detail fuhrt FISHER: PISAN CLERGY, S. 179, Anm. 111 auf einen Fehler bei der Lektüre der entsprechenden Servius-Stelle zurück. Liber Maiorichinus, Vv. 139 und 163. Liber Maiorichinus, Index s.v. 'Alphei'. Die Bezeichnung 'Alphea' für Pisa erscheint schon im 10. Jahrhundert bei Liutprand von Cremona, der sich hier explizit auf eine Angabe Vergils bezieht (Liutprand von Cremona: Antapodosis, 111,16): ,J)eus itaque, qui hunc in Italia regnare cupiebat, pro-
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In der bisherigen Forschung wurde den Spuren dieser Legende große Bedeutung zugemessen.2 Man wird dies aber in zweifacher Weise einschränken müssen. Zunächst einmal ist es im Fall der Kompilation des Guido eindeutig, daß die Erwähnung der Legende nicht von einem Pisaner Verfasser stammt.3 Zudem wurde die entsprechende Information zwar im selben Codex noch einmal abgeschrieben, in Pisa im 12. Jahrhundert aber nicht wieder an anderer Stelle aufgegriffen. Die spätere Anspielung auf dieselbe Legende im Liber Maiorichinus geht wohl nicht auf die Nachricht in der GuidoKompilation zurück. Während diese vor allem den Gründer Pelops erwähnt, legt die Version des Liber Maiorichinus den Akzent auf die Neugründung Pisas durch aus Griechenland kommende Exilanten. Zwar lassen sich beide Versionen als Teil der gleichen Legende auffassen, 4 die Unterschiede sind aber zu groß, um hier einen direkten Zusammenhang sehen zu können. Beide Belege wird man wohl als voneinander unabhängige Früchte einer Lektüre antiker Texte ansehen müssen. Auf eine verbreitete Kenntnis dieser Legende in Pisa am Anfang des 12. Jahrhunderts lassen sich keine Hinweise finden. Was man jedoch vor allem nicht nachweisen kann - und dies unterscheidet das Pisa des 11. und frühen 12. Jahrhunderts wesentlich von späteren städtischen Erinnerungskulturen in Italien - ist eine Instrumentalisierung oder Funktionalisierung dieser Legende einer griechischen Gründung der Stadt. Gerade wenn man den Pisaner Befund mit der späteren Suche nach den antiken Anfängen der eigenen Stadt vergleicht, wird dieser Unterschied deutlich. In späterer Zeit werden sich gerade auch die italienischen Städte darin überbieten, ihre Gründung immer weiter in eine sagenhafte Antike zurückzuverlegen. Hauptziel war dabei oftmals, die schon bestehenden Legenden der Nachbarstädte an Würde und vor allem an Alter zu übertreffen.5 Pisa am Beginn des 12. Jahrhunderts zeichnet sich zwar durch eine bemerkenswerte Affinität zur (römischen) Antike aus. An vielen Stellen suchen die Pisaner Texte den Vergleich mit dem Rom der Antike.6 Doch baute man die Legende der griechischen Gründung nicht weiter aus, obwohl doch die Parallele mit der Gründungslegende Roms gerade in der Fassung der Kompilation des Guido aufgefallen sein mußte. Wie Aeneas war auch Pelops dem Text zufolge ein Exi-
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speris eum flatibus brevi Alpheam, hoc est Pisam, quae est Tusciae provinciae caput, duxerat, de qua sie Maro: ,Alpheae ab origine Pisae "' („Gott aber, welcher ihn zum Beherrscher dieses Landes haben wollte, führte ihn mit günstigem Winde in kurzer Zeit nach Alphea, d.h. Pisa, der Hauptstadt der Provinz Tuszien, von der Maro sagt: ,Pisa, die Stadt alpheischen Ursprungs'" [Übers. Bauer/Rau].) SCALIA: ROMANITAS, S . 8 1 0 , Anm. 8 6 sieht in dieser Herkunftslegende eine Erklärung für den „frequente ricorso, nella produzione letteraria pisana in genere di quel tempo, a similitudini con personaggi e fatti del mondo greco." Vgl. vor allem SCALIA: ROMANITAS, S . 810 f. und zuletzt FRUGONI: AUTOCOSCIENZA, S . 292. Vgl. auch oben S. 100 ff.
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S o SCALIA: ROMANITAS, S . 8 1 0 , A n m . 8 6 .
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Vgl. auch oben S. 22, Anm. 2. Vgl. hierzu ausführlich unten S. 149 ff., S. 307 ff. und S. 399 ff.
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lant, ein heimatlos Gewordener, der sich im italienischen Pisa eine neue Heimat schuf. Als Sohn des mythischen Königs Tantalos hätte er zusätzlich auch noch einen besonders prestigereichen Ahnherrn abgegeben. Doch an keiner Stelle versuchten sich die Pisaner auf diesen zu berufen. Ihre eigene antike Vorgeschichte interessierte die Pisaner im 12. Jahrhundert offenbar noch nicht.' 2. Thematische Dimension In der Einleitung wurde thesenhaft als eines der Merkmale städtischer Erinnerungskulturen deren Pluralität herausgestellt. Man könne - so wurde hier vermutet - in der Stadt stets mit mehreren unterschiedlichen oder gar einander entgegengesetzten Geschichtsbildern rechnen. 2 Gerade dies lassen die ersten Analysen der Pisaner Geschichtsschreibung nicht erkennen, im Gegenteil: die Auswahl dessen, was der Erinnerung würdig erachtet wurde, stimmt im wesentlichen in allen Pisaner Texten überein. Es entstand geradezu ein Kanon erinnerungswürdiger Ereignisse, der der frühkommunale Erinnerungskultur bzw. dem hier dominanten Geschichtsbild eine verblüffende Einheitlichkeit verlieh. a. Pisa als Bekämpferin der Sarazenen Das Bild, das die Pisaner Autoren von ihrer Stadt entwarfen und das sie durch ihre Texte anderen vermitteln wollten, bringt die Inschrift der Pisaner Porta Aurea auf den Punkt: 3 „HA(n)C URBE(m) DEC(us) I(m)PERII GENERALE PUTETIS QUE FERA PRAVORU(m) COLLA FERIRE SOLET."
Pisa erscheint hier und in fast allen anderen Texten vor allem als die große Kämpferin gegen die heidnischen Sarazenen. Die erzielten Siege stehen im Zentrum des triumphalen Selbstbildes der Stadt. Alles was nicht zu diesem Bild der Stadt beiträgt, wird im Laufe der Zeit aus der Erinnerung ausgeschlossen. So findet sich in den Pisaner Texten an keiner Stelle eine Erwähnung der wechselnden Parteinahmen der Stadt im Investiturstreit. 4 Auch wird jede Erinnerung an die innerstädtischen Kämpfe im Vorfeld der Kommunebildung ausgeschlossen. 5 Keiner der Pisaner Texte erwähnt diese Konfliktbereiche, die doch für die Entwicklung der Stadt von entscheidender Bedeutung waren.
Dies wird später anders. So findet sich die Legende der Gründung durch Pelops etwa in der anonymen Pisaner Chronik ASL 54, fol. 3r und der Cronaca di Pisa des Ranieri Sardo, S. 6 f. 2 3
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Vgl. oben S. 33 f. BANTI: MONUMENTA, Nr. 9, S. 22. („Haltet diese Stadt für die Zierde des ganzen Reiches, die die wilden Nacken der Bösen zu schlagen pflegt.") Zur Inschrift ausführlich unten S. 219 ff. Hierzu unten S. 331 ff. Vgl. zu diesen oben S. 26 ff. Die abschließende Coniuratio, der Lodo delle torri, die ja ohne die vorangehenden Konflikte gar nicht zustande gekommen wäre, wird jedoch noch im 12. Jahrhundert Teil der kommunalen Brevi sein (vgl. oben S. 28, Anm. 5).
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Ähnliches gilt zum Teil auch für die Kämpfe mit den christlichen Nachbarn, die noch das Chronicon Pisanum erwähnt hatte. Die komprimierteren Texte, wie die Annales Antiquissimi oder die annalistische Inschrift der Domfassade, erwähnen diese gar nicht mehr. Offenbar hielt man auch dieses Gezänke unter christlichen Nachbarn nicht fur angemessen, das Lob der Stadt zu vergrößern. Gerade die auf den ersten Blick äußerst rudimentär wirkenden Annales Antiquissimi spiegeln das frühkommunale Pisaner Geschichtsbild in der wohl prägnantesten Weise. Pisa ist hier vor allem die Stadt der Heidenkämpfer. Diese zunächst nicht an die Auffassung der Vergangenheit gebundene, sich auch auf Gegenwart und Zukunft erstreckende Vorstellung1 erscheint in den Annales Antiquissimi in ihrer historiographischen Umsetzung: Gründungserlebnis der Pisaner Stadtgemeinschaft ist der durch die Bedrohung durch die Sarazenen ausgelöste erste Schlag gegen die Muslime im westlichen Mittelmeer. Von diesem Startpunkt an erscheint die Geschichte der Stadt als eine immer größere Erfolge hervorbringende Kette von Siegen über die Sarazenen, die in der BalearenExpedition 1113-1115, dem wohl größten antisarazenischen Unternehmen der Pisaner, gipfelte. b. Concordia als Zentrum der Pisaner Selbstentwürfe Einerseits ist die frühkommunale Erinnerungskultur Pisas so durch das kontinuierliche Heraufbeschwören der Erinnerung an die siegreichen Kämpfe der Vergangenheit geprägt. Neben diesen triumphalen Charakter tritt aber schon früh noch ein anderes Element, das etwa auch das beobachtete Schweigen der Texte zu den heftigen innerstädtischen Konflikten zu erklären vermag. Komplementär zum Verstummen der Quellen angesichts der Spannungen in der Stadt findet sich implizit oder explizit in nahezu allen Pisaner Texten der Appell an einen der zentralen kommunalen Werte, die Concordia, die Eintracht im Innern der Stadt. Verschweigen der Spannungen auf der einen Seite und das ständige Appellieren an das harmonische Zusammenleben scheinen beide auf die gleiche Angst vor dem Aufbrechen von Konflikten in der Stadt zurückzugehen.2 So ruft etwa im Liber Maiorichinus einer der Teilnehmer der Expedition seinen Mitstreitern entgegen:3 „Et maneat nostro concordia semper in actu, Sitque carens odio qui vult servire Tonanti."
Doch es bleibt nicht bei diesem programmatischen Aufruf. In den Pisaner Texten wird immer wieder dieses einträchtige Handeln der Stadtgemeinschaft in der Vergangenheit 1
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Symptomatisch hierfür ist eben die Formulierung der Porta Aurea-Inschrift, in der es im Präsens heißt: ,/era pravorum ferire solet - sie pflegt die Nacken der Bösen zu schlagen (wie oben S. 111). Diese Qualität der Pisaner gilt eben nicht nur für die Vergangenheit sondern ist Beschreibung des gegenwärtigen Selbstverständnisses und Programm für die Zukunft. Zu dieser Funktion des Vergessens als Verdrängen M E I E R : E R I N N E R N , S. 937 ff. Liber Maiorichinus, Vv. 405 ff. („Möge immer Einigkeit in unserem Handeln sein, und möge frei von Zwietracht bleiben, der dem Herrn dienen will.") Zur Stelle ausführlich S. 168.
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betont. So stellt der schon zitierte Sardinien-Exkurs des Liber Maiorichinus das gemeinsame Wirken aller Gesellschaftsschichten heraus: 1 „Tunc non erubuit quisquam de nobilitate Viribus equoreas remos urguere per undas" Was sich hier als vielleicht sogar kontrapräsentisches Beschwören eines vergangenen goldenen Zeitalters zeigt, in dem sich auch die Angehörigen der Führungsschichten nicht zu schade waren, selbst Hand an die Ruder zu legen, 2 verdichtet sich in der Palermo-Inschrift der Domfassade zum Bild des harmonischen Zusammenwirkens der städtischen Schichten, die hier programmatisch unter der Begriffstrias „omnes maiores medii pariterque minores" zusammengefaßt werden. 3 Eben diese Harmonie zwischen den Gesellschaftsschichten bei gleichzeitiger funktionaler Differenzierung kann man im gleichen Text in der Schilderung der Kämpfe auf Sizilien erkennen. Die Reiterkämpfer der sozial höher stehenden Gruppen sowie die Fußkämpfer der niedrigeren Gesellschaftsschichten 4 kämpfen hier Seite an Seite gegen die Feinde: 5 „MOX EQUITU(m) T(ur)BA PEDITU(m) COMITANTE CATERVA ARMIS ACCINGUNT SESE CLASSE(m)Q(ue) RELINQUUNT" In ein solches Bild der harmonisch zusammenwirkenden Cives werden auch der Klerus Pisas, der Bischof und die Visconti als Vertreter der Markgrafen eingebunden. 6 So legt der Dichter des Carmen in victoriam Pisanorum den Pisanern angesichts des Todes des
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Liber Maiorichinus, Vv. 930 f. („Damals verschmähte keiner aus dem Adel, mit seiner Kraft die Ruder durch die Wellen der See zu treiben") Zu pax et concordia als eine der Eigenschaften der Aurea aetas in kommunaler Zeit B O R D O N E : P A S S A T O STORICO, S. 52 ff. Ob der Autor des Liber Maiorichinus hier eine versteckte Kritik an den Zuständen seiner Gegenwart übte, wäre zu erwägen. B A N T I : M O N U M E N T A , Nr. 5 1 , S . 4 7 f., hier Z . 7 ; vgl. zur Inschrift unten S . 3 4 6 ff. Allgemein zu dieser dreiteiligen Terminologie K E L L E R : A D E L S H E R R S C H A F T , S . 4 2 f. Konkret zur Formulierung der Inschrift R O S S E T T I : S T O R I A FAMILIARE, S . 2 3 8 f. Man beachte aber die Kritik an Versuchen, aus der dichterischen Darstellung auf soziale Verhältnisse rückzuschließen durch K E L L E R : A D E L S H E R R SCHAFT, S . 4 3 , A n m .
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Soweit kann man die militärisch-funktionale Differenzierung Reiterkämpfer-Fußsoldaten sicherlich mit der sozialen Gliederung der Stadtgemeinschaft in Verbindung bringen. Zur Beziehung zwischen sozialen bzw. ökonomischer Stellung und entsprechender Partizipation an den militärischen Unternehmungen R O S S E T T I : STORIA FAMILIARE, S . 239 (was hier für Pisa formuliert wird, ist natürlich ein schon seit der Antike bekanntes Prinzip). Vgl. aber auch hier die Kritik Kellers an der entsprechenden Interpretation Rossettis, wie oben S. 113, Anm. 3. B A N T I : M O N U M E N T A , Nr. 51, S. 47 f., hier Z. 15 ff. („Bald darauf legt die Reiterschar die Waffen an und verläßt begleitet vom Trupp der Fußsoldaten die Flotte.") Vgl. zur Darstellung des Verhältnisses zwischen Cives und Klerus die unten S. 191 ff. analysierte Episode des Liber Maiorichinus.
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in den Kämpfen gegen die Sarazenen gefallenen Vizegrafen Ugo eine Art Treueschwur in den Mund:1 „Erimus in domo tua fideles et placidi Et vivemus apud tuos tutores et baiuli. Nullus umquam contra tuos levabit audaciam, Quia tu, care, pro Pisa posuisti animam."
Besonderes Gewicht bekommt dieses Treuegelöbnis, wenn man es mit den Parteienkämpfen innerhalb der Stadt während der achtziger Jahre des 11. Jahrhunderts zusammensieht. Als Heinrich IV. die seit dem Beginn des 11. Jahrhunderts in Pisa ansässigen Vizegrafen, zu denen auch der im Carmen erwähnte Ugo gehörte, absetzte und gegen eigene Anhänger austauschte, haben diese sicherlich auch bei Teilen der Bü rgerschaft Unterstützung gefunden. Der Treueschwur im Carmen hat so nicht nur eine in die Zukunft weisende Dimension, sondern beinhaltet - wie übrigens die gesamte Expedition2 - auch die Zusage, daß so etwas, wie das Fehlverhalten der Vergangenheil:, niemals wieder geschehen wird, ist so also auch eine Art Distanzierung von der Vergangenheit.3 Hier bestätigt sich die eingangs formulierte These. Während sich der Appell an die (neue) Eintracht innerhalb der Stadt indirekt auf die vorausgegangenen Wirren bezieht, werden diese selbst nicht in Erinnerung gerufen, als hätte man Angst gehabt, die schweren Erschütterungen der Stadt ins Bewußtsein zurückzurufen. Aussagekräftigstes Zeugnis dieses Harmonie suchenden, Konfliktlinien verdrängenden Bildes des Stadtgemeinschaft ist der Liber Maiorichinus. Hier finden sich einige fast didaktisch wirkende Passagen, die die innerstädtische Eintracht beschwören, indem sie die negativen Konsequenzen der nicht beherrschten Einzelinteressen herausstellen. Ein Beispiel aus der Darstellung mag dies verdeutlichen: Auf der Hinfahrt zu den Balearen kommt es dem Bericht zufolge zu einem Wettrennen auf dem Meer, obwohl die führenden Konsuln die Leitung der Flotte erfahrenen Seeleuten anvertraut hatten und diese vor den Folgen eines solchen Rennens gewarnt hatten. Die im Text als eine Verkehrung des ordo bezeichnete Übertretung hatte schwere Konsequenzen für das Unternehmen.4 Die Flotte gerät in einen Sturm, kommt dadurch vom ursprünglichen Kurs ab
Carmen in victoriam Pisanorum, Vv. 189 ff. („Wir werden treu und friedlich in deinem Haus verweilen und werden als Beschützer und Hüter mit den deinen zusammenleben. Niemand wird je gegen die deinen eine Frechheit begehen, denn du, Teurer, hast für Pisa dein Leben gegeben.") 2
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ROSSETTI: PISA Ε L'IMPERO, S. 1 7 4 u n d zuletzt ROSSETTI: VESCOVI, S. 8 9 sieht in der E x p e d i t i o n
gegen al-Mahdlya eine Art Bußleistung für den vorausgehenden Abfall der Stadt vom Reformlager. Vgl. zu den konkreten Hintergründen RONZANI: CHIESA Ε CIVITAS, S. 2 2 7 f., der die entsprechende Passage aber auf die genealogische Situation der Familie Ugos bezieht. Zu den von Heinrich IV. neu eingesetzten Vizegrafen ebd., S. 204 ff. Liber Maiorichinus, V. 214: „Iussa patrum contempta iacent, convertitur ordo" („Die Anordnungen der Konsuln wurden mißachtet, die Ordnung wurde verkehrt.")
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und greift versehentlich die Küste des christlichen Kataloniens an. 1 Das Grundprinzip dieser und ähnlicher Episoden ist klar: Verstöße gegen die auf dem Konsens der ganzen Stadt beruhende Ordnung ziehen unmittelbar schwere Folge nach sich. Neben diesen didaktischen Negativbeispielen wird im Liber Maiorichinus aber immer wieder auch ein positiver Entwurf der innerstädtischen Ordnung geboten. So gerät die Schilderung des Pisaner Heerlagers auf Mallorca zu einem idealisierten Bild der Stadtgemeinschaft. Das Bild der sich um das Zelt des Bischofs und der Kleriker gruppierenden Schichten der Stadt, die sich in harmonischer Ordnung um ihren geistlichen und politischen Führer versammelte, ist sicherlich das eindinglichste Zeugnis der Concordia-Vorstellung in den Pisaner Texten: Um das Zelt des Bischofs lagern sich die Zelte der Konsuln, da diese immer wieder zu Beratungen mit dem Bischof zusammenkommen mußten, es folgen die der Angehörigen der Führungsschicht und schließlich die des einfachen Volkes: 2 „Antistes Petrus tectum de parte marina Cum cleris habuit. fuerat vice domnus in ίIiis Cui Gratianus erat, dedit hoc sibi gratia, nomen. Non humilis, non alta nimis domus affuit, unde Prelia cum socio crebro suadebat Obertus3. Iuxta pontificis tectum tentoria patrum, Ut citius veniant ad eum cum sepe vocentur. Nobilitatis honor non longe densus habebat Hospicium. fortes steterant a fronte caterve Pisani populi, qui vitam duxit in armis Totam, perpetuos solitus tolerare labores."
Die in dieser Zeit noch spärlich fließenden Quellen machen es schwer, sich ein klares Bild von den innerstädtischen Verhältnissen in Pisa zu machen. Man wird so in diesem Entwurf des Liber Maiorichinus - aber auch in denen der anderen Texte - zunächst nur eine literarische Vision eines harmonischen und klar geordneten Gemeinwesen sehen können. 4 Dennoch sind die entsprechenden Passagen fur die hier zu verfolgende Fragestellung von großem Wert, zeigen sie doch, welches Bild von der Stadt, welche Ideale 1 2
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Liber Maiorichinus, Vv. 21 I f f . Liber Maiorichinus, Vv. 2090 ff. („Bischof Petrus hatte seine Unterkunft zusammen mit dem Klerus zum Meer hin. Unter diesen war auch der Vicedominus der den Namen Gratianus wegen seines gefälligen Wesens (=gratia) führte. Es befand sich dort auch eine Behausung, weder ärmlich noch allzu groß, von wo aus Obertus mit seinem Genossen immer wieder zu neuen Kämpfen anhielt. Nahe der Unterkunft des Bischofs lagen die Zelte der Konsuln, damit sie schneller zu ihm kommen konnten, da sie oft gerufen wurden. Nicht weit von dort hatte dichtgedrängt die Zierde der Edlen ihr Lager. Davor lagen die tapferen Scharen des Pisaner Volkes, das sein ganzes Leben unter den Waffen zubrachte, gewohnt, ständige Mühen zu ertragen.") Ein Diakon des Domstifts. So schon F I S H E R : PISAN C L E R G Y , S. 2 1 8 . Vgl. jedoch auch ausführlich zur Darstellung der Stadt im Liber Maiorichinus V O L P E : L I B E R M A I O R I C H I N U S . Dieser hatte in den Darstellungen noch einen direkten Niederschlag der politischen Situation in der Stadt gesehen.
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vom Zusammenleben in der Stadt über den Umweg der historische Darstellung vermittelt werden sollten. 3. Funktionen des Geschichtsbildes Schon von der Untersuchung der Erinnerungsbestände ausgehend kann man versuchen, Funktionen eines derart in Umrissen zu erkennenden Geschichtsbildes zu bestimmen. Thematisch war das sich in den untersuchten Texten niederschlagende Geschichtsbild vor allem durch zwei Aspekte geprägt. Einerseits ist in allen Texten zu erkennen, daß im Zentrum des Pisaner Selbstbildes die Siege über die Sarazenen standen. Auf der anderen Seite werden Ereignisse, die das Bild einer einträchtig handelnden Stadtgemeinschaft stören könnten, nicht thematisiert bzw. geradezu verdrängt. Beide Aspekte gehen eine Verbindung ein, wenn die Pisaner Texte - und hier vor allem die Geschichtsdichtungen - in der vorgeblich das Leben im Innern der Stadt bestimmenden Concordia die Grundlage für die Erfolge im Heidenkampf sehen. Ein derartiges Selbstbild war fur die Pisaner Stadtgemeinschaft in zweifacher Weise produktiv. Zunächst war die Selbststilisierung zur Stadt der Heidenkämpfer gerade vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Kreuzzugsbewegung besonders geeignet, politische Ansprüche nach außen zu legitimieren: Für Pisa ist hier etwa an die Ansprüche auf Herrschaft bzw. Hegemonie über Sardinien und Korsika zu denken.1 Doch dieses Bild war auch Kern einer tragfahigen kollektiven Identität der Stadtgemeinschaft. Indem die gemeinschaftlich errungenen Siege akzentuiert wurden, konnte der Blick von den innerstädtischen Konfliktlinien weggelenkt werden. 2 Dem so in unterschiedlicher Weise immer wieder ausgedrückten positiven Entwurf der einträchtig handelnden Stadt entspricht dann das in allen Pisaner Texten zu erkennende Stillschweigen über die Auseinandersetzungen und Spannungen innerhalb der Stadtgemeinschaft. Man kann hier möglicherweise auf der Ebene der Erinnerungskultur erkennen, was Hagen Keller bei der Analyse der institutionellen Entwicklung der italienischen Kommunen festegestellt hatte, deren Grundidee es ihm zufolge nicht erlaubt habe, einen Dissens zwischen den einzelnen Gruppen anzuerkennen.3 Gerade die Erinnerungskultur der frühen Kommune war offenbar noch nicht in der Lage, die de facto vorhandenen und sich eben auch in gewaltsamen Auseinandersetzungen Bahn brechenden Konfliktstellungen in fruchtbarer Weise in das Geschichtsbild zu integrieren.4 An die Stelle einer Aufarbeitung der durch die Schiedssprüche der Bischöfe Gerardo und Daibert zunächst doch gelösten innerstäd1 2
Vgl. auch unten bei Anm. 2. Hier ließen sich natürlich leicht theoretische Einsichten zum Verhältnis von Integration und Distinktion, der Schaffung von kollektiver Identität durch die Konstruktion von Alterität, die Schaffung eines gemeinsamen Feindbildes, anschließen. Vgl. hierzu etwa die Ausführungen bei A S S M A N N : KULTURELLES GEDÄCHTNIS, S . 1 5 1 f f .
3
KELLER: ÜBERGANG, S . 7 0 .
4
Dies scheint später anders zu werden. Wie schon erwähnt, nehmen die innerstädtischen Auseinandersetzungen in den Texten des 13. Jahrhunderts großen Raum ein.
Erinnerungsbestände
117
tischen Spannungen tritt hier offensichtlich das Verdrängen, das gleichzeitig mit dem immer wiederkehrenden Beschwören der städtischen Eintracht verbunden ist. Die schon mehrfach aufgeworfene Frage nach den Gründen fur das Entstehen einer derart reichen Erinnerungskultur in der Mitte des 11. Jahrhunderts wird man so zum Teil schon durch die erkennbaren Funktionen des hier vermittelten Geschichtsbildes erklären können. Es liegt wohl mehr als eine bloße zeitliche Koinzidenz vor, wenn die intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte der Stadt in dem Moment einsetzt, in dem die Stadtgemeinschaft beginnt, sich nach der Überwindung der innerstädtischen Konflikte zur Kommune zusammenzuschließen. 1 Eine Stadtgemeinde, die trotz der jüngst aufgebrochenen Konfliktlinien gemeinsam zu handeln versuchte, war auf ein konsensfahiges Identifikationsangebot angewiesen, wie es das hier herausgearbeitete Geschichtsbild zu bieten vermochte. 2 Eine Stadtgemeinschaft, die über den engen Rahmen der eigenen Stadtmauer hinausgehend Herrschaft auszuüben begann, brauchte eine Legitimationsstrategie, wie sie die Vorstellung von der Stadt als einer Befreierin des westlichen Mittelmeeres mit seinen Inseln von der muslimischen Bedrohung darstellte.
1
2
Vgl. den Überblick über die Kommunebildung in Pisa in der Einleitung S. 26 ff. Wichtig ist, gerade an dieser Stelle daraufhinzuweisen, daß der Fall Pisa eben nur eine mögliche Ausprägung kommunaler Erinnerungskultur darstellt. Das Beispiel Mailand, das hier immer wieder als Vergleichspunkt herangezogen werden kann, zeigt, daß eine solche enge Verbindung zwischen Kommunebildung und (schriftgebundener) Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in dieser frühen Phase nicht zwingend gegeben sein mußte. Man kann über eine solche Auffassung hinausgehen, wenn man das schon thematisierte Verhältnis von Kommunebildung und städtischer Identität, von gemeinschaftlicher Organisation städtischer Herrschaft und Ausbildung des Bewußtseins, Teil einer Gemeinschaft (eben der Stadt) zu sein, als sich wechselseitig bedingend betrachtet. Was für die Entstehung der Kommune gilt, gilt dann auch für die Entstehung einer städtischen oder besser kommunalen Erinnerungskultur: Grundlage für beides ist die Ausbildung einer kollektiven Identität. Erst die sich ihrer Zusammengehörigkeit bewußt gewordene Stadtgemeinde entwickelt ein Interesse an der Vergangenheit der eigenen Gemeinschaft. Zusammen mit der Entstehung der sich selbst als Gemeinschaft begreifenden und als solche politisch handelnden Stadtgemeinde konstituiert sich die Stadt auch als historisches Subjekt. Eine in diesem Zusammenhang interessante Beobachtung hat Busch in den Mailänder Texten gemacht. Er beobachtete, daß die geistlichen Mailänder Autoren in ihren Texten nicht das handelnde Subjekt der Geschichte, die Stadtgemeinde der Mediolanenses nannten, sondern sich einer passivischen Ausdrucksweise bedienten (BUSCH: MAILÄNDER GESCHICHTSSCHREIBUNG, S. 42 und Anm. 30). Busch führt dies auf das Desinteresse der Mailänder Kleriker an der Kommune zurück. Erst die kommunalen Laien hätten in ihren annalistischen Texten von ,den Mailändern' gesprochen. Im oben skizzierten Sinne interpretiert könnte man so formulieren, daß erst das Bewußtsein, daß die Stadtbevölkerung eine Gemeinschaft bildet, den Blick für die Geschichte dieses Gebildes ermöglichte. Ein Mailänder Laie, der sich selbst als Teil dieser Gemeinschaft empfand, konnte auch die Geschichte dieser Gemeinschaft behandeln. Ein Kleriker, der die Kommunebildung ignorierte, konnte entsprechend hinter den - für ihn - zusammenhanglos handelnden Menschenmassen kein handelndes Subjekt erkennen.
II. Deutungen des Erinnerten Ein erster Schritt zur Analyse der Pisaner Erinnerungskultur der frühkommunalen Zeit bestand in der Bestimmung der spezifischen Auswahl erinnerungswürdiger Ereignisse. Hierbei lag der Schwerpunkt auf den annalistischen Texten, da diese bei aller Kargheit der Einträge die städtische Geschichte im zeitlichen Überblick darstellen und somit besser die Auswahlkriterien ihrer Autoren erkennen lassen. Zwar konnten schon diese Auswahlkriterien an die Deutung der städtischen Geschichte zurückgebunden werden, da über die Frage, was erinnerungswürdig ist, nicht zuletzt die Deutung des Erinnerten entscheidet.1 Aufgrund der Kargheit der annalistischen Texte bleibt deren Interpretation jedoch notwendig immer im Bereich des Hypothetischen bzw. bedarf der Ergänzung durch andere Quellen. Anders ist dies im Fall der großen Pisaner Geschichtsdichtungen. Diese sind zwar fur die Frage nach der spezifischen Auswahl weniger ergiebig, da sie jeweils nur über ein Ereignis der Pisaner Geschichte berichten.2 In ihrer breiten Durchdringung des Stoffs bieten sie aber beste Bedingungen fur die Untersuchung der Deutung des historischen Geschehens. An dieser Stelle werden daher die beiden großen Pisaner Geschichtsdichtungen, das Carmen in victoriam Pisanorum (im folgenden kurz: Carmen) und der Liber Maiorichinus (kurz: Liber) untersucht. Wie in den anderen Pisaner Texten sucht man jedoch auch hier vergebens nach expliziten Aussagen zur Bedeutung einer Beschäftigung mit der Vergangenheit.3 Weder Prologe noch reflektierende Passagen verraten etwas über Ziele und Funktionen der historiographischen Praxis. Um diese aufzudecken, müssen die impliziten Deutungsstrategien und Deutungsmuster aus der historiographischen Umsetzung der zeitgeschichtlichen Ereignisse herauspräpariert werden. Bei den folgenden Untersuchungen das sei ausdrücklich angemerkt - wurde so bewußt darauf verzichtet, der Darstellung der beiden Texte eine ,historische Wirklichkeit' gegenüberzustellen und eventuelle Abweichungen zu verzeichnen. Nur an wenigen Stellen kann auf eindeutige Verzerrungen hingewiesen werden. Diese Entscheidung wurde zunächst aufgrund der spezifischen Überlieferungssituation getroffen. Die hier untersuchten Texte stellen für beide Ereignisse die bei weitem ausführlichsten, für viele Aspekte gar die einzigen Quellen dar. Es gibt also in der Regel ohnehin keine Möglichkeit, die Darstellung der Pisaner Dichtungen mit den Befunden anderer Quellen zu vergleichen. In erster Linie handelt es sich hierbei aber um eine methodisch motivierte Entscheidung. Beide Texte werden im 1
Vgl. zu den die historiographischen Entwürfe bestimmenden Faktoren Auswahl-AnordnungD e u t u n g GOETZ: KONSTRUKTION DER VERGANGENHEIT, S . 2 3 4 f f . u n d GOETZ: GESCHICHTSSCHREIBUNG, S . 1 4 1 f f .
2
3
Eine Ausnahme stellen hier die schon analysierten historischen Rückverweise des Liber Maiorichinus dar. Vgl. oben S. 81 ff. Als - wenn auch nur rudimentär zu nennende - Ausnahme ist hier auf den schon untersuchten Einleitungssatz der Gesta triumphalia zu verweisen. Vgl. oben S. 87 ff.
Deutungen
des
Erinnerten
119
folgenden primär als Dichtungen aufgefaßt, die zwar auf historische Ereignisse bezogen sind, vor allem aber eine bestimmte Sicht dieser Ereignisse vermitteln wollten. Die folgenden Analysen bewegen sich daher immer innerhalb der Logik der Texte. Ziel ist es, das Bild herauszuarbeiten, das von den Ereignissen, vor allem aber von den Pisanern als Protagonisten beider Dichtungen entworfen wird, um schließlich dieses Bild mit dem Kontext in Beziehung zu setzen, in dem die Texte entstanden sind. Das Carmen in victoriam Pisanorum und der Liber Maiorichinus sind Werke Pisaner Kleriker. 1 Beide schreiben Stadtgeschichte, indem sie das das kriegerische Handeln der Pisaner Stadtgemeinschaft darstellen. Doch ist - mehr als in den späteren Werken kommunaler Geschichtsschreibung - die Deutung der zeitgeschichtlichen Ereignissen in beiden Texten eine geschichtstheologische. Dies betrifft zunächst die sich hier zeigenden Vorstellungen von den Rahmenbedingungen des menschlichen Handelns in der Welt, die für beide Texte nur vor dem Hintergrund des hochmittelalterlich-christlichen Weltbildes zu verstehen sind. 2 Dies betrifft aber vor allem auch die ,Methode' der beiden Autoren. Wenngleich sich beide Texte hier in wesentlichen Punkten unterscheiden, ist ihnen doch gemeinsam, daß sie eine geschichtstheologische Auslegung der zeitgeschichtlichen Ereignisse vornehmen. Diese geschichtstheologischen Deutungen gilt es im folgenden aufzudecken. Hierbei wird sich zeigen, daß diese in beiden Texten der Verherrlichung der Pisaner Stadtgemeinschaft und ihrer glorreichen Kämpfe dient. Um die besondere Würde ihrer Heimatstadt herauszuarbeiten, greifen die Pisaner Kleriker auf ihre theologischen Kenntnisse zurück. Gerade die Analyse des Carmen in victoriam Pisanorum kann dabei ein Deutungsmuster städtischer Geschichte aufdecken, das in Ansätzen schon in der Pisaner Annalistik erkennbar war, dann aber vor allem auch für die noch zu untersuchenden Formen der Erinnerungsstiftung im Stadtraum von Bedeutung sein wird. In den Blick geraten so auch die geschichtstheologischen Prämissen der gesamten Pisaner Erinnerungskultur des hier untersuchten Zeitraumes.
1
2
Zu den Autoren unten S. 121 f. (Carmen in victoriam Pisanorum) bzw. 156 ff. (Liber Maiorichinus). Dies wird zwar in den beiden Geschichtsdichtungen deutlicher als in anderen Texten, doch wird man es letztlich für keinen mittelalterlichen historiographischen Text ernsthaft in Zweifel ziehen können. Auch die unter bestimmten Aspekten so ,moderne' kommunale Chronistik eines Bernardo Margone oder eines Caffaro verläßt diesen Rahmen des christlichen Weltbildes nie. Beleg hierfür mag das etwa in den Annales Pisani verbreitete Berufen auf die Gnade Gottes (gratia Dei) sein. Die geschichtstheologischen Grundlagen der mittelalterlichen Geschichtsschreibung beschäftigen schon seit langem Historiker, Philologen und Theologen. Für den hier interessierenden Zeitraum sei daher neben den im folgenden zitierten Einzelstudien auf den Überblick bei GOETZ: GESCHICHTSSCHREIBUNG verwiesen.
120
Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
Α. Das Carmen in victoriam Pisanorum Das Carmen in victoriam Pisanorum ist einer der ältesten erhaltenen stadtgeschichtlichen Texte Pisas.1 Die Dichtung berichtet in 291 trochäischen Septenaren von einer 10872 durchgeführten Expedition gegen die nordafrikanische Stadt al-MahdTya.3 Bevor auf Entstehung und Autorschaft des Textes eingegangen wird, soll hier kurz der Inhalt der Dichtung zusammengefaßt werden, da so das Verständnis der folgenden Analysen erleichtert wird. Am Anfang des Textes steht eine ausführliche Schilderung der von al-MahdTya (im Text ,Madia') und seinem Herrscher Timinus ausgehenden Greueltaten. Unter seiner Führung hatten die Sarazenen Nordafrikas wiederholt die christlichen Küsten des westlichen Mittelmeers angegriffen und gefangene Christen von dort verschleppt. Vor allem die Klagen dieser Gefangene sind es, die Pisa und Genua bewegen, eine Flotte gegen Madia auszusenden, der sich auch Kontingente anderer italienischer Städte anschließen. Auf ihrem Weg nach Nordafrika erobert diese Flotte zunächst die sarazenische Festung auf der Insel Pantelleria in der Straße von Sizilien. Nach Ablehnung eines ersten Verhandlungsangebots des Timinus landen die christlichen Truppen am Tag des heiligen Sixtus in der Nähe Madias. Sofort zur Verteidigung der Stadt ausrückende Sarazenen werden von den Verbündeten in einem ersten Aufeinandertreffen geschlagen und bis zur Vorstadt Madias, Sibilia, zurückgedrängt. Diese Vorstadt wird anschließend erobert, deren Einwohner getötet. Im Anschluß wird auch Madia belagert und bis auf die Festung, das Cassarum, eingenommen. In dieser Festung eingeschlossen, verhandelt Timinus nun mit den christlichen Belagern, die schließlich auf dieses zweite Friedensangebot eingehen. Unter weitreichenden Zusagen des Sarazenen-Herrschers sehen die Christen von einer Erstürmung 1
2
3
Der Text wird im folgenden zitiert nach SCALIA: CARME PISANO. Diese Edition des wahrscheinlich besten Kenners der Pisaner Geschichtsdichtung des 11. und 12. Jahrhunderts wird hier der neueren Ausgabe von Η. E. J. Cowdrey vorgezogen: COWDREY: MAHDIA CAMPAIGN (Edition des Textes im Anhang S. 2 3 - 2 9 ) . Aufschlußreich zur Beurteilung der Arbeit Cowdreys ist schon, daß dieser die philologisch gut aufbereitete wenig ältere Edition Scalias nicht wahrgenommen hat. Vgl. zur Edition Cowdreys auch SCALIA: ANNALISTICA, S. 1 1 3 . Die Datierung des Ereignisses ins Jahr 1087 ergibt sich schon aus den Angaben im letzte Vers der Dichtung: ,^4nno Domini millesimo octuagesimo octavo" (st. pis.). Es wird hier zwar nicht explizit gemacht, worauf sich die Jahreszahl konkret bezieht, doch deckt sich diese Angabe mit denen der weiteren Quellen. Eine ausführliche Diskussion der Datierungsfrage nimmt COWDREY: MAHDIA CAMPAIGN, S . 5 ff. vor. Er bezieht sich hierbei sowohl auf die christlichen als auch auf die islamischen Quellen. Gelegen am Golf von Hammamet im heutigen Tunesien. Al-MahdTya war seit 1057 Hauptstadt des nordafrikanischen ZTriden-Reichs. Die ZTriden-Dynastie der Emire von Kairuan war aufgrund eines Partei wechseis von den Fätimiden-Kalifen zu den Abassiden seit 1052 unter den Druck nomadischer Verbündeter der Fätimiden geraten, die sie dazu zwangen sich auf al-Mahdiya zurückzuziehen. Auf die hier nicht weiter zu vertiefenden politischen Zusammenhänge, vor allem das Interesse des Papsttums an den Kämpfen, gehen ausfuhrlich COWDREY: MAHDIA CAMPAIGN, S . 8 ff., HETTINGER: BEZIEHUNGEN, S . 1 9 0 ff. und zuletzt RONZANI: CHIESA Ε CIVITAS, S . 2 2 2 ff ein, zu militärtechnischen Aspekten ROGERS: SIEGE W A R F ARE, S . 2 0 8 - 2 1 2 .
Deutungen des Erinnerten
121
des Cassarums ab. Nachdem ein überraschender Angriff arabischer Nomaden auf den Landungsplatz der christlichen Flotte nur mit Mühe von den dorthin zurückeilenden Truppen abgewehrt werden kann, kehren Heer und Flotte zusammen mit den in Madia befreiten Gefangenen nach Italien zurück. 1. Autor und Entstehungszeit Der Text des Carmen in victoriam Pisanorum liefert weder für den Zeitpunkt der Entstehung der Dichtung, noch fur die Identifizierung des Autors sichere Hinweise. Auch die handschriftliche Überlieferung kann hier nicht weiterhelfen. 1 Der deutlich patriotische Charakter des Textes und die noch zu analysierenden biblischen Anspielungen weisen jedoch darauf hin, daß der Dichter ein Pisaner Kleriker war. 2 Das sich am Ende der Dichtung zeigende besondere Interesse an den Stiftungen für den Dom und die dort Dienst verrichtenden Kleriker deutet darauf hin, daß der Autor selbst zum Domstift gehörte oder diesem zumindest nahestand. 3 Erwähnt werden hier die Schenkung eines Teils der Beute der Expedition an D o m und Domkanoniker. 4 Ähnlich dürftig sind die Hinweise auf den Entstehungszeitpunkt des Textes. Der große Detailreichtum der Darstellung läßt jedoch vermuten, daß der Dichter Augenzeuge
2 3
4
Die älteste Kopie des Carmen in victoriam Pisanorum in der oben schon analysierten Brüsseler Sammlung des Guido (vgl. S. 92 ff.) stammt aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, liefert also ausschließlich einen wenig hilfreichen terminus ante quem. So schon FISHER: PISAN C L E R G Y , S. 1 8 4 und SCALIA: C A R M E PISANO, S. 6 und S. 2 5 . So schon FISHER: PISAN C L E R G Y , S. 1 8 4 . Letzte Gewißheit wird man aber auch hier nicht erlangen können, da der Text nicht den Namen des Dichters nennt, man diesen also nicht mit einem dokumentierten Kleriker des Domstifts identifizieren kann. Die von SCALIA: C A R M E PISANO, S . 5 angedachte, aber als unwahrscheinlich eingeschätzte Zuweisung zum sogenannten Guido Pisanus ist vor dem Hintergrund der oben abgelehnten Identifizierung dieser Person mit einem Pisaner Kleriker gegenstandslos (vgl. oben S. 98 ff.). Carmen, Vv. 281 ff.: „ S e d tibi, R e g i n a c e l i , Stella m a r i s inclita, donant c u n c t a pretiosa et c u n c t a e x i m i a ,
unde tua in eternum splendebit ecclesia, auro, gemmis, margaritis et palliis splendida. Clericis qui remanserunt pro tuo servitio donaverunt partes du[as] communi consilio. Sic volebas tu, Regina, sie rogasti Filium, cuius illis prebuisti in cunctis auxilium." („Doch dir, Königin des Himmels, ruhmreicher Stern des Meeres, schenkten sie alles Kostbare und Ausgezeichnete, wodurch deine Kirche in Ewigkeit durch Gold, Edelsteine, Perlen und prächtige Stoffe erstrahlen wird. Den Klerikern, die zu deinem Dienst bestellt sind, schenkten sie nach gemeinsamer Beratung zwei Teile [der Beute], So wolltest du es, Königin, darum hast du deinen Sohn gebeten, dessen Hilfe du jenen [dem Pisaner Expeditionsheer] in allem zukommen ließest.")
122
Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
oder zumindest doch Zeitgenosse der Expedition g e w e s e n ist. Vermutlich ist der Text nicht lange nach 1087 entstanden. 1
2. Das Carmen als stadtgeschichtlicher Text W i e die meisten anderen Pisaner Texte ist auch das Carmen in victoriam Pisanorum in der bisherigen Forschung wenig beachtet worden. 2 Die Forschung zum hochmi ttelalterlichen Pisa, die für die Rekonstruktion des Ereigniszusammenhangs immer wieder auf den Text zurückgreift, 3 hat sich dennoch nur selten eingehender mit diesem wichtigen Zeugnis der Kultur der frühen Kommune beschäftigt. 4 Interessanterweise hat der Text jenseits stadtgeschichtlicher Forschung seit langem mehr Aufmerksamkeit erfahren. Man sah im Carmen eine Vor- oder Frühform der Kreuzzugsdichtung. 5 Die Gründe für eine solche Auffassung liegen auf zwei Ebenen. A u f der ereignisgeschichtlichen Ebene weist die Expedition gegen al-Mahdlya Merkmale der späteren Kreuzzüge auf, so daß man hier von einer ,precrociata 1
crociata'
gesprochen hat.
8
16
oder
,semi-
A u f der Darstellungsebene zeigt der Text des Carmen
selbst, seine Form und die spezifische Deutung der Ereignisse auffällige Parallelen zur 1
So SCALIA: CARME PISANO, S . 6 . Anders hingegen FISHER: PISAN CLERGY, S . 1 8 5 ff., der eine Datierung um 1120 vorschlägt. Die von ihm angeführten Argumente wurden aber schon hinreichend von SCALIA: CARME PISANO, S. 6 f., Anm. 20 widerlegt. Wie Scalia und gegen Fisher sprechen sich auch a u s SEIDEL: DOMBAU, S . 3 4 4 f. u n d HETTINGER: BEZIEHUNGEN, S . 2 1 1 .
2
Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht die Einschätzung von Manitius, der nach einer oft fehlerhaften Paraphrase des Textes lapidar feststellt: „Zum Gedicht ist wenig zu bemerken" (MANITIUS: GESCHICHTE, S . 6 6 0 ) .
3 4
5
So etwa zuletzt wieder durch RONZANI: CHIESA Ε CIVITAS, S. 2 2 2 ff. Eine Ausnahme stellen hierbei die Arbeiten von G. Scalia dar (vor allem SCALIA: CARME PISANO, sowie zuletzt SCALIA: ANNALISTICA, S . 1 1 3 f.). Doch Scalia interessiert sich vor allem für philologische Fragen, geht auf weiterführende Aspekte nur am Rande ein. Schließlich ist auch zu diesem Text auf die Arbeit von Fisher zu verweisen, der als einziger versucht hat, den Text in den Zusammenhang der Auseinandersetzung der Pisaner mit ihrer Vergangenheit einzuordnen (FISHER: PISAN CLERGY, S. 183 ff.). Dessen Ergebnisse sind jedoch in entscheidenden Punkten zu relativieren. So zuerst dezidiert ERDMANN: ENTSTEHUNG, S. 272 ff. Erdmann sieht im Carmen „das klarste Dokument der populären Kreuzzugsidee jener Zeit" (S.274). Dieser Einschätzung als (wenn auch partielle) Vorwegnahme der eigentlichen Kreuzzüge verdankt auch das Ereignis selbst seinen verhältnismäßig großen Bekanntheitsgrad in der historischen Forschung. So findet man nahezu in jeder neueren Darstellung der Kreuzzüge auch eine Erwähnung dieser Aktion der Pisaner und Genuesen. Über eine bloße Erwähnung und lose Verknüpfung mit übergreifenden Problemkomplexen geht diese Beachtung jedoch in der Regel nicht hinaus. Vgl. jedoch jetzt auch JACOBSEN: EROBERUNG JERUSALEMS, S . 3 4 3 f f .
6
So
PETTI BALBI: LOTTE ANTISARACENE,
S.
519
mit Verweis auf den Forschungsbericht von
CARDI-
NI: STORIA. 7
8
,Demi-croisade' bzw. ,presque-croisade' bevorzugt P. Rousset, da er den älteren Begriff der 'precroisade' für irreführend hält. Vgl. ROUSSET: ORIGINES, S . 2 7 , Anm. 2 . Die den Kreuzzugscharakter betonenden Elemente der Unternehmung arbeitet detailliert COWDREY: MAHDIA CAMPAIGN, S. 21 ff. heraus.
Deutungen
des
123
Erinnerten
späteren Kreuzzugsdichtung. Das Carmen weist geschichtstheologische Muster auf, die auch in den späteren Kreuzzugsdichtungen erkennbar sind und hat sicher Anregungen aus der zeitgenössischen Diskussion aufgenommen. 1 Der Pisaner Text ist aber nicht nur Kreuzzugsdichtung. Seine Besonderheit besteht darin, daß er im Schnittpunkt zweier Traditionen steht. Er ist nicht zuletzt auch ein Text, der Stadtgeschichte thematisiert und so am Anfang einer Reihe vergleichbarer Dichtungen aus städtischem Umfeld steht. Daß der Pisaner Text beide Aspekte in sich vereint, ergibt sich schon aus dem dargestellten Ereignis: Der Pisaner Dichter schildert, wie gesagt, ein Unternehmen, das in vielem den späteren bewaffneten Pilgerfahrten ins Heilige Land gleicht. Der wichtigste Unterschied ist aber, daß Initiative und Durchführung der Flottenexpedition gegen die nordafrikanische Küste von zwei Städten ausgeht, von Pisa und - dies wird allerdings in der Dichtung immer mehr zurückgedrängt - Genua. Indem der Pisaner Dichter vor allem das erfolgreiche Handeln seiner Mitbürger darstellt, schreibt er Stadtgeschichte, denn an den Expeditionen der Pisaner gegen die Sarazenen nimmt die ganze Stadt teil. Die Stadt selbst - um eine Formulierung Gioacchino Volpes zu modifizieren - zieht hier in den Kampf. 2 Daneben ist es aber auch die Darstellungsabsicht, die das Carmen zu einem Werk früher Stadtgeschichte macht: Ziel der Dichtung ist die Verherrlichung Pisas und seiner tapferen Bürger. Auf dieses Ziel ist auch die Rezeption von Elementen der zeitgenössischen theologischen Diskussion ausgerichtet, wie die folgenden Analysen zeigen werden. a. Militia christi und bellum iustum In der Darstellung des Carmen hat man Anklänge an die zeitgenössischen Vorstellung von der militia Christi gesehen. 3 Waren Krieg und Kampf innerhalb der christlichen Ethik bisher als unvereinbar mit gottgefälligem Handeln in der Welt bewertet worden, so trat mit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts ein entscheidender Wandel ein: Krieg zum Schutze der Kirche und des Glaubens war nicht nur gerechtfertigt, eine Militia Christi konnte und sollte gar im Namen Christi das Schwert erheben. 4 1
Man vergleiche etwa die Charakterisierung der Kreuzzugsdichtung bei BOEHM: WISSENSCHAFTSTHEORETISCHER ORT (zitiert unten S. 148, Anm. 2) oder auch die ausführliche Analyse der Historia Hierosolymitana des Fulcher von Chartres bei EPP: FULCHER.
2
Volpe hatte über die spätere Expedition gegen die Balearen geschrieben „e lo stato stesso che si muove" (VOLPE: LIBER MAIOLICHINUS, S. 205). Gleiches kann man natürlich auch für die früheren Aktionen sagen, wobei Volpes Verwendung des Begriffs ,stato' - ,Staat' für die Kommune des frühen 12. Jahrhunderts einem älteren Forschungsstand verpflichtet ist.
3
Den Zusammenhang zwischen der Expedition gegen al-Mahdiya und dem Konzept der Christi
militia
s i e h t e x p l i z i t CARDINI: MOVIMENTO CROCIATO, h i e r S. 2 9 , ä h n l i c h PETTI BALBI: LOTTE AN-
TISARACENE, S . 5 3 4 . 4
Stärksten Ausdruck fand diese Vorstellung dann natürlich im Kreuzzugsaufruf Papst Urbans II. (1095). Vgl. zur militia Christi neben der grundlegenden Arbeit von ERDMANN: ENTSTEHUNG, S . 1 8 5 f f . A L T H O F F : N U N C FIANT CHRISTI MILITES u n d z u l e t z t d i e B e i t r ä g e CROCIATA.
i n M I L I T I A CHRISTI Ε
124
Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
A u c h die Pisaner kämpfen in Nordafrika für Christus. So fordert der Führer der Expedition die christlichen Milites auf, für Christus in den Kampf zu reiten: 1 „Preparate vos ad pugnam, milites fortissimi, et pro Christo omnes mundi vos obliviscimini." Immer wieder wird im Text auf die religiöse Motivation der Kämpfe verwiesen. Die Schilderung der Greueltaten der Sarazenen unter ihrem König Timinus gegen die Christen des Mittelmeerraums macht die Bekämpfung der Ungläubigen zu einer gottgefälligen Tat: 2 „Hic cum suis Saracenis devastabat Galliam, captivabat omnes gentes que tenent Ispaniam et in tota ripa maris turbabat Italiam, predabatur Romaniam3 usque Alexandriam. Non est locus toto mundo neque maris insula, quam Timini non turbaret orrenda perfidia: Rodus, Ciprus, Creta [simul], simul et Sardinia vexabantur , et cum illis nobilis Sicilia." Vor allem das Flehen der christlichen Gefangenen um göttlichen und menschlichen Beistand habe dann Pisa und Genua zur Ausrüstung der Flotte bewegt: 4 „Hinc captivi Redemptorem clamabant altissime et per orbem universum flebant amarissime: reclamabant ad Pisanos planctu miserabili, concitabant Genuenses fletu lacrimabili. Hoc permotus terremotu hic uterque populus iniecerunt manus suas ad hoc opus protinus et componunt mille naves solis tribus mensibus, quibus bene preparatus stolus lucet inclitus."
1
2
3 4
Carmen, Vv. 93 f. („Bereitet euch zum Kampf, starke Ritter, und vergeßt für Christus alles Weltliche.") Carmen, Vv. 25-32. („Mit seinen Sarazenen verwüstete er [der Herrscher al-Mahdiyas. Timinus] Gallien, versklavte alle Völker Spaniens, versetzte die ganze Küste Italiens in Unruhe und plünderte die Romania bis Alexandria. Kein Ort auf der ganzen Erde noch eine Insel im Meer, die nicht die schreckliche Verschlagenheit des Timinus bedrohte: Rhodos, Cypern, Kreta und Sardinien wurden heimgesucht, und mit ihnen das edle Sizilien.") Gemeint ist wohl das byzantinische Reich, vgl. MAKSIMOVIC: ROMANIA. Carmen, Vv. 33-40. („Von dort riefen die Gefangenen laut zum Erlöser und ließen ihr bitteres Klagen auf der ganzen Erde hören. Mit erbärmlichem Jammern wandten sie sich an die Pisaner, riefen die Genuesen mit tränenreichem Weinen zu Hilfe. Erschüttert durch dieses , Erdbeben' legten beide Völker sogleich Hand an dieses Werk, bauten in nur drei Monaten 1000 Schiffe, die die wohl gerüstete Flotte erstrahlen ließen.") Überfälle sarazenischer Piraten aus al-Mahdlya auf christliche Küsten sind tatsächlich zu belegen Vgl. etwa zu entsprechenden Überfällen auf Genua: CARDINI: EUROPA, S. 3 7 .
Deutungen
des
Erinnerten
125
Gehörte die Befreiung Gefangener an sich schon zur Umsetzungen christlicher Caritas, 1 so wird dieser Zusammenhang in der Dichtung noch zusätzlich akzentuiert, indem den Pisanern und ihren Verbündeten selbstloses Eintreten für ihren Erlöser attestiert wird: 2 „Non curant de vita mundi nec de suis filiis, pro amore Redemptoris se donant periculis."
Noch deutlicher erscheint hingegen der Hintergrund der zeitgenössischen Auseinandersetzung um den heiligen und - als dessen Grundlage - den gerechten Krieg (bellum iustum). 3 Dieser wird in der hochmittelalterlichen Diskussion auf Augustinus zurückgreifend vor allem durch den gerechten Grund (iusta causa) und die guten Absichten (rectae intentiones) der Kriegsfuhrenden bestimmt. Die iusta causa bezieht sich hierbei auf den Anlaß des Krieges, der in der Unrechtshandlung eines Gegners liegen mußte, die rectae intentiones hingegen sind als die Ziele des Krieges aufzufassen, die in Übereinstimmung mit der Verpflichtung des Christen zur Caritas stehen mußten. 4 Indem das Carmen einerseits die Bedrohung der christlichen Küsten durch Timinus und die Greueltaten seiner Sarazenen herausstreicht, andererseits die Ziele des Heeres in der Befreiung der christlichen Gefangenen als ein Werk der Caritas darstellt, erfüllt die so interpretierte kriegerische Expedition die Forderung nach dem allein legitimen bellum iustum. Die Notwendigkeit einer solchen Argumentation wird deutlich, wenn den Pisaner in diesem aber auch in anderen Zusammenhängen vorgeworfenen wird, hier keinen gerechten Krieg zu fuhren. So bietet der nahezu zeitgenössische normannische Historiograph Gaufredus Malaterra eine deutlich abweichende Schilderung der Motive der Pisaner: 5 Hierbei stand zu Beginn von kirchlicher Seite allerdings der Loskauf der Gefangenen im Vorderg r u n d . V g l . A N G E N E N D T : GESCHICHTE, S . 5 9 0 f. u n d ERLER: LOSKAUF. 2
Carmen, Vv. 43 f. („Weder um ihr irdisches Leben noch um ihre Kinder sorgten sie sich, aus Liebe zum Erlöser setzten sie sich den Gefahren aus.")
3
Z u m K o n z e p t d e s H e i l i g e n K r i e g e s a u s f u h r l i c h HEHL: KIRCHE UND KRIEG, BRONISCH: RECONQUI-
STA, S. 201-229. Hierzu - allerdings mit anderer Quellenbasis - auch BANTI: GIUSTIZIA. 4
V g l . h i e r z u z u s a m m e n f a s s e n d RILEY-SMITH: KREUZZUG, h i e r S . 1 5 0 8 , CAVANNA: BELLUM IUSTUM u n d a u s f u h r l i c h e r CARDINI: GUERRA SANTA, BRONISCH: RECONQUISTA, S . 1 5 - 3 2 ( m i t d e r ä l t e r e n L i -
teratur). 5
Gaufredus Malaterra: De rebus gestis Rogerii, S. 86. („Nachdem den Pisanern, die oft um Handel zu treiben nach Afrika fuhren, dort Unrecht zugefugt worden war, stellten sie ein Heer auf und belagerten die Hauptstadt des Königs Thuminus, die sie bis auf das Kastell, in dem man den König verteidigte, eroberten.") Der Text Malaterras wurde vor 1101 abgeschlossen (Cuozzo: GAUFREDUS MALATERRA). Eine ähnlich negative Charakterisierung der Pisaner findet sich bei Malaterra auch im Zusammenhang der früheren Expedition gegen Palermo 1064. Dort heißt es „Pisani ergo mercatores, qui saepius navali commercio Panormum lucratum venire soliti erant, quasdam injurias ab ipsis Panormitanis passi vindicari cupientes, navali exercitu undique conßato, vela per mare ventis commitentes, apud Siciliam, in portu vallis Deminae applicuerunt [...]" (ebd., S. 45). Seine Sicht der Ereignisse muß man jedoch vor dem Hintergrund der sich auch an anderen Stellen zeigenden Versuche des Normannen sehen, die Pisaner auf die Rolle kriegsuntüchtiger Händler zu re-
126
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Geschichtsschreibung
„Pisani, qui apud Africam negotiando proficiscebantur, quasdam injurias passi, exercitu congregato, urbem regiam regis Thumini oppugnantes, usque ad majorem turrim, qua rex defendebatur, capiunt."
Die zunächst harmlos daher kommende Behauptung, der Kriegszug der Pisaner, die Handelsbeziehungen zur afrikanischen Küste unterhalten hätten, sei durch diesen dort zugefügtes Unrecht (im Zusammenhang mit ihrer Handelstätigkeit, so wird man ergänzen dürfen) ausgelöst worden, gewinnt natürlich vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Auseinandersetzung um legitime und nicht legitime Kriegsführung deutlich an Brisanz. Ohne eine Entscheidung für die eine oder andere Sicht auf die Ereignisse vornehmen zu wollen, zeigt sich, daß der Pisaner Dichter bemüht sein mußte, die kriegerische Aktion seiner Heimatstadt als einen gerechten Krieg erscheinen zu lassen. Denn daß bei dieser Unternehmung auch wirtschaftliche Interessen im Spiel waren, hat auch die neuere wirtschaftshistorischen Forschung bestätigt.1 Einerseits waren die nordafrikanischen Handelsplätze wichtige Märkte für die Pisaner und andere Kaufieute des Mittelmeerbeckens.2 Andererseits sind sarazenische Piraten durch ihre Überfall e auf die christlichen Küsten und die von ihnen ausgehenden Gefahrdung des Seehandels insgesamt ein Störfaktor der Wirtschaft des Mittelmeerraums. Diesen Aspekt betont auch die
duzieren. Dies zeigt sich etwa in der Charakterisierung der Pisaner. Diese seien „commercialibus lucris plusquam bellicis exercitiis ex consuetudine dediti" (ebd.). In dieser Darstellung der Expedition gegen al-Mahdiya hat man einen Beleg für den allgemein schlechten Ruf der Pisaner gesehen ( s o SCALIA: ANCORA INTORNO, S. 5 0 4 , A n m . 1 0 3 u n d z u l e t z t PETTI BALBI: LOTTE ANTISARACENE,
S. 536). Cardini stellt diese negative Sicht der Expedition jedoch richtig in den Zusammenhang der besonderen politischen Situation im Umkreis der Eroberung Siziliens durch Roger I., die durch allzu häufige Angriffe auf die nordafrikanischen Küsten - etwa durch die Pisaner - nicht gerade positiv beeinflußt wurde (vgl. CARD INI: EUROPA, S. 72). Malaterra, der am Hofe Rogers I. tätig war, spiegelte so bloß dessen Bemühungen, gute Beziehungen zu den nordafrikanischen Herrschern aufrecht zu erhalten. Vgl. allgemein zum Autor neben Cuozzo: GAUFREDUS MALATERRA auch CANTARELLA: FONDAZIONE.
'
Allgemein betont die wirtschaftlichen und politischen Motive für die Kämpfe der Seestädte gegen die Sarazenen im 11. Jahrhundert auch PETTI BALBI: LOTTE ANTISARACENE, S. 522. Vgl. aber auch den Kommentar zu Petti Balbis Beitrag durch Pierre Racine (in: MILITIA CHRISTI Ε CROCIATA, S. 548), der Pisanern und Genuesen religiöse Motive bei ihren Aktionen gänzlich absprechen möchte. Vgl. allgemein zu den wirtschaftlichen Interessen Pisas die Arbeiten von Marco Tangheron i , e t w a TANGHERONI: PISA, TANGHERONI: PRIMA ESPANSIONE.
2
Diesen Aspekt arbeitet COWDREY: MAHDIA CAMPAIGN, S. 10 f. heraus. Hierbei betont er besonders die Rolle des Goldes, das aus den Lagerstätten des westlichen Sudans über Karavanenrouten an die nordafrikanische Küste gelangte und von dort aus die Märkte auch der nördlichen Mittelmeeranrainer erreichte. Die strategische und wirtschaftlichen Bedeutung al-Mahdlyas betont auch HEYD: GESCHICHTE, S. 56 f. Eben diese Bedeutung der nordafrikanischen Handelsplätze machten sie auch zu lukrativen Zielen der vermutlich nicht minder ausgeprägten christlichen Piraterie (etwa der Pisaner und Genuesen). Den Aspekt des Beutemachens wird man sicherlich auch bei den größeren Aktionen, wie etwa der gegen al-Mahdiya, nicht unterbewerten dürfen.
Deutungen
des
127
Erinnerten
arabische Geschichtsschreibung. So heißt es in der Tärih al-kämil 1233) zum Jahr 481 (27.3.1088-15.3.1089): 1
des Ibn al-Atir (1160-
„In diesem Jahr eroberten die Rüm 2 die Stadt Zawtlah in Nordafrika, in der Nähe al-Mahdlyas. Grund hierfür war, daß der Emir Tamim 'ibn 'al Mucizz 'ibn Bädis, Fürst dieses Landes, häufige Piratenüberfalle gegen die Rüm unternahm, deren Länder verwüstete und die Bevölkerung in Angst versetzte."
Im Gegensatz zu Stimmen vermutlich auch direkter Zeitgenossen, die den Pisanern in diesem wie in anderen Fällen vor allem das Verfolgen wirtschaftlicher Interessen unterstellten, macht das Carmen in seiner historiographischen Aufbereitung der Ereignisse vor allem die religiöse Komponente stark. Die Deutung des Carmens könnte man so als direkte Antwort auf anti-Pisaner Ressentiments betrachten, 3 wie sie etwa Gaufredus Malaterra überliefert. Doch auch wenn man diesen politischen oder wirtschaftlichen Hintergrund einmal beiseite läßt, dienen die beobachteten Anleihen bei der zeitgenössischen theologischen Diskussion dem Interesse Pisas und seiner Bürger. Die Sicht des Carmens läßt die Expedition in den Koordinaten christlicher Ethik als vorbildlich erscheinen. Die Pisaner fuhren hier einen Krieg aus rein religiösen Motiven, sie stellen ihre militärischen Ressourcen in den Dienst der Christenheit, ja sie kämpfen für Christus selbst, hierbei ihre persönlichen Interesse hintanstellend. 4 b. Die Pisaner als Helden der Dichtung Bevor die geschichtstheologische Dimension des Textes untersucht wird, muß kurz auf einen für die Darstellung wesentlichen Punkt eingegangen werden. Zwar werden am Anfang des Textes neben den Pisanern auch andere Teilnehmer der Expedition genannt. 5 Im Zentrum der Darstellung stehen jedoch eindeutig die Pisaner. So verkündet schon die Eingangsstrophe, daß hier die Geschichte der ruhmreichen Pisaner (historia
1
Arabische Quellen zitiere ich nach der italienischen Übersetzung bei AMARI: BIBLIOTECA, hier S. 112: „Quest'anno i Rüm espugnarono la cittä di Zawilah nell'Affrica [propria], presso Al Mahdiah. La cagione fu che l'emiro Tamim 'ibn al Mucizz ibn Bädis, principe del paese, facea frequenti correrie marittime contro i Rüm, dava il guasto ai paesi e ne scompigliava le popolazioni."
2 3
4 5
Die lateinischen Christen. Eine Untersuchung des sich zu einem Stereotyp entwickelnden Pisa-Bildes der nicht-Pisaner Quellen ist leider bisher nicht in Angriff genommen worden. Interessante Einsichten bietet aber schon die Untersuchung zum Pisa-Bild in den Annales Ianuenses bei SCAGLIONE: RAPPRESENTAZIONE. Vgl. das Z i t a t o b e n S . 125. Vgl. „Convenerunt Genuenses virtute mirabili | et adiungunt se Pisanis amore amabili." (Carmen, 41 f.) bzw. ,Jiis accessit Roma potens potenti auxilio" (Carmen, Vv. 45) und „£/ refulsit inter istos cum parte exercitus \ Pantaleo Malfitanus, inter Grecos hypatus" (Carmen, Vv. 49 f.).
128
Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
inclitorum Pisanorum) geschrieben werden soll.1 Und auch weiter im Text ist nach der einmaligen Erwähnung von Genuesen, Römern und Süditalienern fast nichts mehr von deren Anteil am Gelingen des Kriegszugs zu hören. Wenngleich die moderne Forschung hierin Ausdruck der tatsächlichen Verhältnisse gesehen hat, wird man liier doch etwas vorsichtiger sein müssen. 2 So sprechen die muslimischen Quellen, die von den Kämpfen berichten, nur allgemein von den ,Rüm', den westlichen Christen. 3 Nur Ibn al-Atlr kennzeichnet die Flotte näher. Er berichtet, daß Genuesen und Pisaner sich der Expedition anschlossen. 4 Von einer Führungsrolle der Pisaner weiß er nichts. Auch die christlichen Quellen sind hier nicht eindeutig. Bernold von Konstanz 5 und die Annales Beneventanf erwähnen Pisaner und Genueser gleichermaßen. Dies gilt auch für die Annales Ianuenses des Caffaro. 7 Die Chronica monasterii Casinensis nennt ein Heer, das aus nahezu allen Italienischen Völkern bestand. 8 Einzige nicht-Pisaner Quellen, die die Rolle der Pisaner hervorheben sind die Annales Casinenses9 und Gaufredus Malaterra. 10 Selbst die Pisaner Quellen sind schließlich nicht so eindeutig, wie man bei einer historischen Fundierung der Führungsrolle denken müßte: Im Gegensatz zu den Annales Antiquissimi,n die nur die Pisaner erwähnen, nennt das Chronicon Pisanum in allen drei Fassungen Pisaner und Genuesen. 12 Man wird also die Ausgestaltung der Pisaner Rolle im Rahmen der Expedition durch den Dichter des Carmen nicht unbedingt als den historischen Verhältnissen entsprechend werten müssen. Gerade der Eintrag des Chronicon Pisanum, das im Vergleich zur übrigen Pisaner Annalistik durch eine vergleichsweise ausgewogene Darstellung gekennzeichnet ist, deutet darauf hin, daß die Führungsrolle, die das Carmen den Pisanern zuweist, nicht den historischen Verhältnissen entspricht. Nach Gründen für eine solche Verzerrung wird man nicht lange suchen müssen: Den Pisaner Autor interessierte vor allem die Rolle seiner Mitbürger. Indem er den Anteil etwa der Genuesen verschweigt, 1 2
3
Vgl. das Zitat unten S. 149. Neben SCALIA: CARME PISANO, S . 5 8 0 auch COWDREY: M A H D I A CAMPAIGN, S . 1 1 . HETTINGER: BEZIEHUNGEN, S . 2 0 8 sieht in Pisanern und Genuesen die Hauptakteure der Expedition. Die Initiative zum Unternehmen geht aber auch für sie auf die Pisaner allein zurück (ebd., S. 213). Einen Überblick über die Quellen zum Kriegszug bieten COWDREY: M A H D I A CAMPAIGN, S . 3 - 5 und HETTINGER: BEZIEHUNGEN, S . 2 0 9 f f .
4
5 6 7 8 9 10 11 12
„Ragunatasi allora i Rüm d'ogni banda, deliberarono di costruir delle sini (galee) affin di portare la guerra in 'Al Mahdiah. Entrarono in questa lega i Pisani e i Genovesi, che son gli uni e gli altri Franchi." (Tärih al-kämil in AMARI: BIBLIOTECA, S. 112) Bernold von Konstanz: Chronik, S. 468. Annales Beneventani, S. 182, Codex 3. Caffaro: Annales Ianuenses, S. 13 f., Anm. 4. Petrus Diaconus: Chronica monasterii Casinensis, S. 751. Annales Casinenses, S. 1424 f. Gaufredus Malaterra: De rebus gestis Rogerii, S. 86. Vgl. oben S. 58. Chronicon Pisanum, 101 f.
Deutungen
des
Erinnerten
129
glänzen seine Helden, die Pisaner um so mehr. Einmal mehr zeigt sich, daß der Pisaner Dichter seine Heimatstadt in besonders günstiges Lichts setzen wollte. 3. Geschichtsbild und Geschichtstheologie Schon die wenigen Anmerkungen zu Beziehungen des Textes zur zeitgenössischen Diskussion um Militia Christi und heiligen Krieg konnten zeigen, daß die theologische Interpretation der Zeitgeschichte im Carmen nicht nur reflektierendes Beiwerk ist. Die Deutung der Ereignisse im Carmen ist nicht ohne den theologischen Rahmen denkbar. Nur vor dem Hintergrund der normativen Setzungen der zeitgenössischen christlichen Ethik, etwa der im Umkreis des Reformpapsttums vorgenommenen Umwertung militärischer Gewalt, erschließt sich das funktionale Potential des Carmens. Dieses selbst ist jedoch vollkommen auf die Stadt ausgerichtet, auf die Überhöhung der Verdienste der Stadt als Mittel der Legitimation bzw. Propaganda, aber auch als Identifikationsangebot an die junge Stadtgemeinde. Alles dies gilt ebenso fur die im folgenden aufzudeckenden geschichtstheologischen Implikationen des Textes, die untrennbar mit der Darstellung verbunden sind. Dies wird sich zunächst bei einem Blick auf das der Darstellung des Carmens zugrunde liegende allgemeine Welt- und Geschichtsbild zeigen. Die sich anschließende Analyse der im Carmen verarbeiteten biblischen und historischen Bezüge wird dann einen geschichtstheologischen Entwurf aufdecken, der in ungeahnter Weise die weit- und heilsgeschichtliche Bedeutung der Stadt Pisa herausstellt. a. Gott und Welt Daß ein enger Zusammenhang zwischen der mittelalterlichen Geschichtsschreibung und dem christlichen Weltbild besteht, ist seit langem von der Forschung herausgearbeitet worden. Hierbei kommt der Frage nach dem Wirken Gottes in der Geschichte zentrale Bedeutung zu. Wer das „schaffende Subjekt der Geschichte" ist,1 Gott oder die Menschen, und wie das Einwirken Gottes auf den Geschichtsverlauf konzeptualisiert wurde, ist hierbei nicht nur unter ideengeschichtlicher oder theologischer Perspektive von Interesse. 2 Im Carmen werden Zeichen übernatürlichen bzw. göttlichen Einwirkens als Beweise gottgefälligen Handelns in der Welt gedeutet. Wenn die zeitgeschichtliche Handlung 1
PANNENBERG: WELTGESCHICHTE, S . 3 0 8 .
2
Ohne hier zu weit ausgreifen zu wollen, kann man die Entwicklung von den mittelalterlichen zu den neuzeitlichen Geschichtskonzepten auch als Bewegung von einer theozentrischen zu einer anthropozentrischen Geschichtsauffassung begreifen (vgl. PANNENBERG: WELTGESCHICHTE, S. 307323). V. Epp konnte an den Überarbeitungsstufen der Historia Hierosolymitana des Fulcher von Chartres feststellen, daß hier ein gradueller Wechsel von einer Geschichtskonzeption, in der „Gott de[r] alleinige Lenker des Geschichtsablaufs" ist, zu einer Konzeption vorliegt, in der dem Menschen „Selbstverantwortlichkeit" für sein Tun zukommt (EPP: FULCHER, S. 128 ff.). Zwischen diesen beiden Positionen scheinen sich auch die Pisaner Geschichtsdichtungen zu bewegen.
130
Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
des Carmens durch das tatkräftige Eingreifen übernatürlicher bzw. himmlischer Mächte bestimmt ist, 1 so verweist dies unmittelbar auf die Wirkungsabsicht des Werkes. Christus - so heißt es explizit im Text - ist der eigentliche Führer der Expedition, 2 dessen himmlischen Führerschaft verdankt die christliche Streitmacht am Ende auch den Sieg über die Sarazenen. 3 Wie diese Zusammenarbeit v o n Gott und Menschen gedacht ist, wird schon am Beginn der Dichtung deutlich. Programmatisch wird hier das Zusammenwirken Gottes und der Pisaner formuliert. Die gens Pisana
besiegt zwar als handelndes Subjekt, aber nur
durch die Hand Gottes die Feinde der Christenheit: 4 „Manum primo Redemptoris collaudo fortissimam, qua destruxit gens Pisana gentem impiissimam." Zwar vollzieht der Autor in seinen Formulierungen noch nicht den Schritt zu den gesta dei per Pisanos.5
2
D o c h steht das Handeln der Pisaner in Übereinstimmung mit oder ist
Eben dies sieht A. Angenendt als typisch für die mittelalterliche Weltauffassung an (ANGENENDT: GESTA DEI, vor allem S. 41 f.). Erst die Neuzeit habe ein Gegenmodell entwickelt, das man mit E. Troeltsch als ,Antisupranaturalismus' bezeichnen könne. Vgl. zu Wundern als Einbruch des Übernatürlichen in die mittelalterliche Darstellung historischer Ereignisse W A R D : MIRACLES, S. 201213. Am Beispiel zweier Texte der Mailänder Historiographie des 11. Jahrhunderts untersucht zuletzt C. Dartmann die Funktion des Wunders als Argument: DARTMANN: WUNDER. Zur Unterstützung durch Gott und Heilige im Kampf zuletzt SCHARFF: KÄMPFE DER HERRSCHER, S. 175 ff. Speziell zu Petrus und Michael als Schlachtenhelfer im Carmen: PETTI BALBI: LOTTE ANTISARACENE, S. 535. Zum Zusammenhang der Kreuzzüge auch AUFFARTH: MITTELALTERLICHE ESCHATOLOGIE, S. 69 ff. Carmen, V. 53: „Hos conduxit Iesus Christus, quem negabat Africa."
3
(„Jesus Christus führte sie, den Afrika verleugnete.") Carmen, V. 268: „Quod est totum tuum donum, Iesu, sine dubio."
4
5
(„All dies ist ohne Zweifel dein Geschenk, Jesus!") Carmen, Vv. 5 f. („Ich rühme zunächst die übermächtige Hand des Erlösers, durch die da s Volk der Pisaner die Ungläubigen vernichtete.") Die Bedeutung der zitierten Textstelle wird durch den sich im Carmen anschließenden Vergleich der Pisaner Expedition mit dem Kampf Gideons mit den Midianitern ausgebaut. Vgl. dazu weiter unten. Der programmatische Titel der Kreuzzugsgeschichte des Guibert von Nogent: Gesta Dei per Francos (vgl. zu diesem zunächst BULST: GUIBERT VON NOGENT) findet eine spätere Entsprechung in der kurzen Eileitung zu den Gesta triumphalia per Pisanos facta. Dort heißt es: „ Ad memoriam habendam cure fuit nobis ea scribere, que Deus Omnipotens per Pisanum populum dignatus est efficere." („Um die Erinnerung daran zu bewahren, müssen wir die Dinge aufschreiben, die der allmächtige Gott für würdig hielt, daß sie durch das Pisaner Volk ausgeführt werden.") Vgl. hierzu oben S. 87 ff. An einer entsprechenden Geschichtskonzeption im Carmen kann aber gar nicht gezweifelt
Deutungen des Erinnerten
131
gar Ausfluß des göttlichen Willens. Die Pisaner zerstören, brandschatzen und töten die Sarazenen, weil Gott es so will. 1 Bischof Benedikt von Modena, der geistliche Führer der Expedition, ist nach Gottes Willen v o m heiligen Geist erleuchtet, als er das erste Friedensangebot des Timinus ablehnt. 2 Die Entscheidung über den Sieg wird vor der Landung an der afrikanischen Küste dem göttlichen Ratschluß anvertraut, wobei das Ergebnis dann das Wohlwollen Gottes bestätigt. 3 Durch die gehäuften Verweise auf die göttliche Führerschaft und die Übereinstimmung der historischen Ereignisse mit dem göttlichem Willen wird der Kampf in Nordafrika natürlich ungeheuer aufgewertet. Doch ist die Beziehung zwischen irdischer und himmlischer Sphäre im Carmen an anderer Stelle auch ganz konkret aufgefaßt, indem übernatürliche Instanzen, allen voran die Heiligen, in die geschichtliche Handlung eingreifen. 4 Dies zeigt sich erstmals bei der Landung der christlichen Truppen an der nordafrikanischen Küste. Hier finden die
1
werden. Parallelen zwischen dem Text des Guibert und dem Carmen hat auch C O W D R E Y : M A H D I A C A M P A I G N , S. 21 ff. nachgewiesen. Cowdrey sieht hier aber vor allem wiederum einen Beleg für die Beeinflussung des Carmen durch die entstehende Kreuzzugsidee. Allgemein formuliert Petti Balbi fur die Historiographie der Kämpfe gegen die Sarazenen im 11. Jahrhundert, diese sei „una storiografla apologetica per eccelenza, quasi sempre dovuta a degli ecclesiastici i quali [...] si preoccupano di esaltare le gesta Dei piü che le imprese degli uomini, per cogliere attraverso queste l'azione della Prowidenza e la volontä divina" ( P E T T I B A L B I : L O T T E ANTISARACENE, S. 520). Carmen, Vv. 67: „Destruxerunt, occiderunt, sicut Deus voluit" („Sie [die Christen] zerstörten und töteten, wie Gott es wollte.") Auch hier wird man sicherlich nicht ohne Grund an das spätere ,deus le volf des Konzils von Clermont bzw. der Kreuzzüge allgemein erinnert (vgl. zu den unterschiedlichen Belegen und Schreibweisen dieses ,Kriegsschreis' L A C R O I X : D E U S LE VOLT).
2
Carmen, V. 80: „Dei nutu luminatus luce Sancti Spiritus"
3
(Auf Gottes Wink durch den Heiligen Geist erleuchtet.") Carmen, Vv. 85-87: „Hinc conscendunt parvas naves, tracti ad concilium: decreverunt solam pugnam, parati ad prelium, ut hoc solum iudicaret divinum judicium"
(„Von hier aus besteigen sie kleine Schiffe, nachdem sie sich zur Beratung versammelt hatten: Sie beschlossen allein den Kampf, bereit zur Schlacht, damit allein das göttliche Urteil entscheide.") 4 P A N N E N B E R G : W E L T G E S C H I C H T E , S. 309 faßt das unvermittelte Eingreifen Gottes in den Gang der Geschichte mit Blick auf das Alte Testament als eine entwicklungsgeschichtlich ältere Stufe der jüdisch-christlichen Geschichtsauffassung auf, die von einem Modell abgelöst wird, in dem Gott in Menschen, die er zum Werkzeug seiner Pläne macht, in der Geschichte erkannt wird. Übertragen auf die Pisaner Texte stellt das Carmen eben diese ältere Stufe dar. Die Analyse des Liber Maiorichinus wird zeigen, daß hier nur noch das indirekte Eingreifen Gottes und anderer transzendenter Agenten zu finden ist. Vgl. unten S. 180 ff.
132
Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
christlichen Kämpfer die Unterstützung des Erzengels Michael, des heiligen Petrus und der Apostel:1 „Sed fit clamor Pisanorum altus et nobilior: nam intonuit de celo sonus terribilior. Michael cecinit tuba ad horum presidium, sicut fecit pro dracone cum commisit prelium Altera ex parte Petrus cum cruce et gladio Genuenses et Pisanos confortabat animo, et conduxerat hue prineeps cetum apostolicum: nam videbat signum sui in scarsellis positum."
Auf dem Höhepunkt der Schlacht entsendet dann Gott den Engel, der schon das Heer des Sennacherib besiegt hatte,2 woraufhin die Sarazenen die Flucht ergreifen:3 „Misit namque Deus celi angelum fortissimum, qui Senacherib percussit in nocte exercitum. Quod cum vident hi qui stabant intra muros fieri, obserarunt portas illis qui fugebant miseri."
Die Betonung des übernatürlichen Anteils am Sieg bedeutet keineswegs eine Schmälerung der Verdienste der Pisaner und ihrer Verbündeten, im Gegenteil: Die Unterstützung durch Gott und seine Heiligen kommt einer direkten Auszeichnung gleich. Was an anderer Stelle im Text nur behauptet wurde, daß Gott die Kämpfenden anführte, daß alles nach seinem Willen ablief, das tatkräftige Eingreifen der Engel und Heiligen beweist es. 4 Auf dem Weg der Aufwertung des Siegs der Pisaner hat man so schon die zweite Stufe erreicht. Die Pisaner und ihre Verbündeten verfolgten nicht nur religiös legitimierte Ziele, Gott hat ihre Sache sogar zu der seinen gemacht, in dem er die christlichen Kämpfenden tatkräftig unterstützte. Daß der Dichter des Carmens noch weiter geht, werden die folgenden Analysen zeigen.
'C armen, Vv. 129-136. („Doch das Rufen der Pisaner wurde laut und erhabener, denn vom Himmel ertönte ein furchtbarerer Klang. Michael blies die Tuba zu ihrer Hilfe, wie er es tat, als er mit dem Drachen kämpfte. Von der anderen Seite stärkte Petrus mit Kreuz und Schwert den Mut der Genuesen und Pisaner, und der Apostelfürst führte hierhin die Schar der Apostel, denn er sah sein Zeichen auf den Taschen der Kämpfer angebracht.") Vgl. zu Details der Passage auch den Kommentar von SCALIA: CARME PISANO, S . 4 8 . 2 3
4
Vgl. 4 Kg 19, 35. Carmen, Vv. 1 4 1 - 1 4 4 . („Denn Gott entsandte vom Himmel jenen gewaltigen Engel, der schon das Heer des Sennacherib in der Nacht geschlagen hatte. Da die, die innerhalb der Mauern waren, dies sahen, verschlossen sie die Tore vor den Elenden, die zu flüchten versuchten.") Mit Blick auf die karolingische Historiographie formuliert diesen Zusammenhang auch SCHARFF: KÄMPFE DER HERRSCHER, S . 1 7 5
Deutungen
des
Erinnerten
133
b. Historische Vergleiche und ihre geschichtstheologischen Grundlagen Auffälligstes Merkmal der Darstellung der zeitgeschichtlichen Ereignisse im Carmen in victoriam Pisanorum ist die große Zahl biblischer und historischer Vergleiche. Immer wieder werden so im Verlauf des Berichts Bögen vom zeitgeschichtlichen Geschehen in die Vergangenheit geschlagen. Hierbei überziehen diese Vergleiche den Text wie ein Netz von Bedeutungszuweisungen (vgl. Ü B E R S I C H T Ü B E R D I E V E R G L E I C H E I M CARMEN).1 Ein erster Blick auf die Übersicht zeigt, daß sich die Mehrzahl der Vergleiche auf das Alte Testament beziehen (5 bzw. 6).2 Hinzu kommen 2 (3) Vergleiche mit der antiken Profangeschichte, jeweils ein Fall aus der römischen und aus der griechischen Geschichte. 3 Schließlich findet sich je ein Bezug auf die Erlösungstat Christi (Höllenabstieg Christi) und auf die eschatologische Zukunft (Antichrist).
Auch hier ist wiederum auf die Parallelen zum Text Fulchers von Chartres hinzuweisen, der in ähnlicher Weise biblische Stoffe als Vergleichpunkte des zeitgeschichtlichen Geschehens heranz i e h t ( v g l . EPP: FULCHER, S . 1 5 2 f f . ) . 2
3
Die unterschiedliche Zählung ergibt sich je nachdem, ob man doppelte Erwähnungen eines Vergleichsfalles an verschiedenen Stellen des Textes berücksichtigt oder nicht. Zum Antikenbild des Carmens schon knapp EPP: SICHT DER ANTIKE, vor allem S. 311 f.
134
Die frühe kommunale Geschichtsschreibung
Übersicht über die Vergleiche im Carmen
Rom
-— Pisa
Vv.iff.
besiegt — Karthago
al-Mahdiya
Gideon
Pisa -—
7ff
^
besiegt ohne Waffen nur mit der Kraft des Herrn
—
—-—
Midianiter ^
'
Antichrist
47
ff·
Jericho
David
al-Mahdiya
Timinus (Herrscher al-Mahdiyas)
Scipio als Sieger über Karthago
99ff.
l··
^
Pisaner und Verbündete
wird trotz hoher Mauern besiegt
^
al-Mahdiya
—
— — Pisaner
103f.
besiegt/werden b e s i e g e n d e r ^ "
Goliath 4
105f.
Maccabaeus
l09f.
Pharao -
• · al-Mahdiya
^
-
vertraut auf Gott/sollen auf Gott vertrauen
^
Μ
Pisaner
bedrückt/en das Volk Gottes
Sanizenen
^ wird/werden besiegt
178f.
Codro von Athen
^
opfert sein Leben für den Sieg seiner Stadt
Μ
Christus
Ugo Visconte
Ugo Vis conte um zu retten
181
ff.
J ^ > * < > G e f a n g e n e des Timinus
Seelen in der Hölle stirbt um zu besiegen Sathan 4 — • Israeliten
269ff.
^
—
•T;minus Pisaner und Verbündete
besiegen Ägypten/Pharao
"
^
Sarazenen/Timinus
Deutungen des Erinnerten
Analyse des
135
Gideon-Vergleichs
U m das grundlegende Verfahren der Vergleiche im Carmen in victoriam Pisanorum zu verdeutlichen, wird zunächst der am Anfang des Textes stehende Vergleich der Eroberung al-Mahdiyas mit der alttestamentlichen Geschichte Gideons ausführlicher nachvollzogen. 1 Der Text bezieht sich hierbei auf den biblischen Bericht im Buch Richter, Kapitel 67. Nachdem Israel schon länger unter der Herrschaft der heidnischen Midianiter gelitten hatte, berief Jahwe Gideon zum Retter Israels. Dieser griff die Midianiter in der Nacht mit einer kleinen Schar an, die nur mit Posaunen und Fackeln bewaffnet war. Durch die Posaunen der Israeliten und Vorzeichen der Niederlage wurden die Midianiter in Panik versetzt, und - so heißt es im biblischen Bericht - „der Herr ließ das Schwert in dem ganzen Lager wüten und sie töteten einander."2 Die biblische Geschichte wird im Carmen mit dem Kampf der Christen gegen die Sarazenen al-Mahdiyas gleichgesetzt: 3 „Fit hoc totum Gedeonis simile miraculo , quod perfecit sub unius Deus noctis spatio. Hic cum tubis et lanternis processit ad prelium, nil armorum vel scutorum protendit in medium: sola virtus Creatoris pugnat terribiliter, inter se Madianitis cesis mirabiliter." Der Kern der biblischen Ereignisse, auf dem der Vergleich fußt, liegt darin, daß Gott selbst die Feinde seines auserwählten Volkes tötet. 4 Ausnahmsweise liefert das Carmen hier jedoch noch eine weitere Begründung für den Vergleich. Im anschließenden Vers heißt es über die Bewohner al-Mahdiyas: 5 „Sunt et hi Madianite signati ex nomine."
2
3
4 5
H. Toubert hat in einer Arbeit zur Ikonographie der gregorianischen Reform eine Interessante Parallele aufgedeckt, auf die hier nur verwiesen werden kann. Teil eines Freskenzyklus in Sant'Angelo in Formis (Capua), entstanden am Ende des 11. Jahrhunderts, der sich Toubert zufolge auf die Aktion gegen al-MahdTya bezieht, ist auch eine Darstellung der Gideon-Geschichte (TOUBERT: A R T D I R I G E , vor allem S. 167 ff). War die Gleichsetzung des Kampfes gegen die nordafrikanischen Sarazenen mit dem Kampf Gideons über das Carmen hinaus verbreitet oder kann man in den Fresken in Capua einen Beleg für eine Rezeption des Carmens sehen? Ri 7,22. Gerade die von Gideon besiegten Midianiter geistern auch später immer wieder durch die mittelalterliche Vorstellungswelt, wenn es darum geht, unbekannte, heidnische Völkerscharen einzuordnen. Vgl. etwa zuletzt fur den osteuropäischen Bereich H E C K E R : M O A B I T E R , besonders S. 232 ff. Carmen, Vv. 7-12. („All dies [der Sieg der Pisaner] war ein Wunder, das dem des Gideon gleicht, welches Gott in der Spanne einer Nacht vollbrachte. Dieser zog mit Trompeten und Fackeln in die Schlacht, ohne Waffen und Schilde stürzte er sich mitten hinein: Die Kraft des Herrn allein wütete furchtbar, als sich die Madianiter auf wundersame Weise gegenseitig niedermachten.") Vgl. auch die Interpretation der vorangehenden Verse des Carmen oben S. 130. Carmen, V. 13. („Auch sind diese nach den Madianitern benannt.")
Die frühe kommunale
136
Geschichtsschreibung
Der Vergleich ergibt sich also zunächst aus der Namensgleichheit der beiden Städte: Sowohl die Midianiter des Alten Testaments als auch die Bewohner al-Mahdiyas werden im Text als ,Madianiti'
bezeichnet. 1
D o c h jenseits dieser etymologischen bzw. genealogischen Argumentation lassen sich weitere Elemente benennen, die einen Vergleich der beiden Ereignisse zu begründen vermögen. So wird man einerseits sicherlich das auf der Seite der Christen herrschende Gefühl zahlenmäßiger Unterlegenheit als möglichen Identifikationspunkt mit der kleinen Schar der Mitstreiter des Gideon ansehen können. 2 A u c h der biblische Bericht über die Bedrückung Israels durch die Midianiter zeigt erkennbare Parallelen zu der v o m Autor am Beginn der Dichtung beschworenen Bedrohung der christlichen Küsten durch die sarazenischen Piraten. Das Buch Richter berichtet über die Bedrohung Israels durch die Midianiter: 3 „Und so oft Israel gesät hatte, zogen die Madianiter und Amalektiter und andere Völker aus dem Osten herbei, und schlugen ihr Lager bei ihnen auf und vernichteten alles, was grün war, bis nach Gaza hin; auch ließen sie keinerlei Lebensmittel in Israel übrig, weder Schafe, Der Autor konnte hier auf eine bestehende Tradition zurückgreifen, die in den Midianitem ein noch im Mittelalter existierendes östliches Volk sah. So kennt der Autor der Fredegar-Chronik zwei Madian genannte Gebiete: „Madianitae maiores, quod expugnavit Moyses, inter Mesopotaniam et mare Rubrum; minor autem Madiam est contra mare Rubrum iuxta Aegyptum" (Chronicarum quae dicuntur Fredegarii scholastici, S. 25). Ob zwischen diesen beiden Gebieten bzw. den entsprechenden Bewohnern ein sozusagen genealogischer Zusammenhang besteht, sagt die FredegarChronik nicht (vgl. allgemein zu den Midianitem als Bewohner Arabiens ROTTER: ABENDLAND UND SARAZENEN, S. 95 f.). Die Identifizierung des Madiam minor, das contra mare Rubrum iuxta Aegyptum liegt, mit dem Gebiet der nordafrikanischen Sarazenen und ihrer Stadt Mahdia ist angesichts der unscharfen mittelalterlichen Geographie-Kenntnisse nicht auszuschließen. Eine solche Gleichsetzung von Sarazenen und Midianitem läßt sich auch auf eine ,aufmerksame' Lektüre der Bibel gründen. Grundlage ist hierfür die im Mittelalter verbreitete Gleichsetzung von Sarazenen und Ismaeliten einerseit (vgl. THORAU: SARAZENEN), bzw. zwischen Ismaeliten und Midianitem andererseits (ROTTER: ABENDLAND UND SARAZENEN, S. 252). Durch diesen exegetischen ,Kurzschluß' kann sich jeder mittelalterliche Autor aus der Bibel Informationen über die Sarazenen beschaffen, die ihm die antike Tradition nicht zu geben vermag. So erscheinen dann Ismaeliten/Sarazenen als die Handlanger der Brüder Josephs in der Genesis (Gen.37, 25-36). Warnungen vor ihnen als Feinde Gottes finden sich in Psalm 82 (Vv. 5-8), wo die Sarazenen dann gleich unter zweien ihrer biblischen Vorgängervölker auftauchen, Ismaeliten und Agarenen. Zum Sarazenenbild im Mittelalter ist auf die sich allerdings auf einen etwas früheren Zeitraum beschränkende Arbeit ROTTER: ABENDLAND UND SARAZENEN, vor allem S . 231 ff. und auf CARDINI: EUROPA, S. 16 ff. zu verweisen. 2
3
Vgl. etwa Carmen, V. 97. Die zahlenmäßige Überlegenheit der Sarazenen ist sicher historisch, da es sich um den Überfall eines Expeditionsheeres auf das zlridische Kemland handelte (vgl. oben S. 120, Anm. 3). Erklärungsversuche für den Sieg der Pisaner und ihrer Verbündeten scheinen das Erstaunen darüber zum Ausdruck zu bringen (vgl. die bei SCALIA: CARME PISANO, S. 15 ff. zitierten arabischen Quellen). Im Gegensatz zum biblischen Bericht kann man jedoch sicher sein, daß das christliche Expeditionsheer bis an die Zähne bewaffnet war und nicht etwa nur mit Posaunen und Fackeln kämpfte. Richter 6, 3.
Deutungen des
Erinnerten
137
noch Rinder, noch Esel. Denn sie zogen mit all ihrem Vieh und ihren Zelten heran und erfüllten alles wie Heuschrecken, eine unzählbare Menge von Menschen und Kamelen und verheerten alles, was sie berührten. So ward Israel sehr von Madian erniedrigt."
Es ist leicht vorstellbar, wie sich die von den sarazenischen Piratenüberfällen gebeutelten Christen in der Situation Israels wiedererkannten, über das die Midianiter ,wie Heuschrecken' herfielen. 1 Dies wird vor allem dadurch unterstrichen, daß es sich in beiden Fällen um Heiden, also um Feinde Jahwes bzw. des christlichen Gottes handelt. Man kann den Vergleich also folgendermaßen systematisieren: Altes Testament
Zeitgeschichte
Midianiter (lat. Madianiti): - fallen immer wieder über Israel her
Sarazenen al-MahdTyas (lat. Madianiti): - überfallen immer wieder die Küsten der Christenheit - Feinde des christlichen Gottes
- Feinde Jahwes Gideon und Mitkämpfer: - zahlenmäßig unterlegene Gruppe - besiegen durch Gottes tätige Mithilfe die Midianiter
Pisaner und Verbündete: - zahlenmäßig unterlegene Gruppe - besiegen durch Gottes tätige Mithilfe die Sarazenen al-MahdTyas
Auf der Suche nach der Funktion solcher Vergleiche wird man zunächst feststellen müssen, daß die Parallelisierung von Personen, Sachen oder Ereignissen im Vergleich ein gängiges literarisches Stilmittel ist. Im Carmen leisten solche Vergleiche jedoch mehr als eine bloße Illustration des darzustellenden zeitgeschichtlichen Ereigniskomplexes. Die Parallelisierung der Ereignisse fuhrt dazu, daß Wertungen und Bedeutungen von der einen Situation auf die andere, von der biblischen Geschichte auf die Zeitgeschichte übertragen werden. 2 Der Vergleich dient - so kann man in einem ersten Schritt formulieren - der Deutung der zeitgeschichtlichen Ereignisse. Während die biblische Situation in ihrer Bedeutung nicht zuletzt durch die christliche Deutungstradition einigermaßen sicher bestimmt ist, ist es die zeitgeschichtliche hingegen zunächst nicht. Um im Beispiel des GideonVergleichs zu bleiben: Den Sieg Israels über die Midianiter muß man als eine der vielen Etappen im Kampf des auserwählten Volks Gottes gegen seine Feinde auffassen. 3 Hier
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Vgl. den Bericht über die Überfalle der Sarazenen auf die christlichen Küsten im Carmen, Vv. 2532, zitiertoben S. 124. In einem noch genauer zu beachtenden Zusammenhang formuliert dieses Prinzip P. Michel: Wird „die gegenwärtige Konstellation mittels einer historisch analogen gedeutet, so können die dort implizierten Warnungen und Hoffnungen auf die Gegenwart bezogen werden" (MICHEL: ÜBERGANGSFORMEN, S . 5 5 ) .
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Interpretationen des biblischen Berichtes können sich schon auf die alttestamentliche Ausdeutung in Jes.9,3 und 10,26, vor allem aber auf Psalm 83 stützen, der die Midianiter unter diejenigen zählt,
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Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
manifestiert sich der alttestamentliche Gott, der immer wieder zugunsten seines erwählten Volkes in die Geschichte eingreift. Das Ergebnis dieser Deutung der Ereignisse nimmt der Dichter im Text vorweg, wenn er zu Beginn seiner Darstellung die „übermächtige Hand des Erlösers" lobt, „durch die die Pisaner die ungläubigen Heiden vernichtet haben."1 Auch der Kampf des christlichen Heeres unter Führung der Pisaner gegen die Sarazenen wird so als ein Kampf des (neuen) auserwählten Volks Gottes gegen seine Feinde verstanden.2 Innerhalb dieser Auseinandersetzung sind die Pisaner besonders von Gott berufen, wie es auch Gideon im biblischen Bericht war. Auch hier kann das tätige Eingreifen Gottes (seiner Engel und Heiligen) als Ausweis der Treue zu seinem Volk angesehen werden. Exempla
in den
Reden
Im Carmen kann man zwei Typen historischer Vergleiche unterscheiden, die jeweils auf unterschiedlichen geschichtstheologischen Prämissen basieren. Die Analyse dieser Vergleichstypen wird im folgenden einen geschichtstheologischen Argumentationsgang aufdecken, der für das Verständnis des Carmens, möglicherweise aber auch vieler anderer Phänomene der Pisaner Erinnerungskultur grundlegend ist. Man trifft im Carmen sowohl Vergleiche, die man als exemplarisch kennzeichnen kann, als auch typologische Vergleiche.3 Ein Teil der Vergleiche steht eindeutig in rhetorischen Zusammenhängen. So finden sich etwa Vergleiche in der Rede des Bischofs Benedikt (Carmen Vv. 93-112).4 Kurz vor der Landung wendet sich dieser an das christliche Heer. Schon der Beginn dieser Rede zeigt die fur diesen Zusammenhang typische Verwendung des historischen Vergleichs. Benedikt fordert die Kämpfer auf, sich für den Kampf zu bereiten und um Christi willen alle weltlichen Rücksichten zu-
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die Gott haßten und sich gegen sein auserwähltes Volk gewandt hatten, danach aber von Gott vernichtet wurden (Ps. 83, 10 ff.). Carmen, Vv. 5 f., zitiert oben S. 130. Nur am Rand kann darauf hingewiesen werden, daß die Bedingung einer Auffassung der Christenheit als neuem auserwählten Volk eine gemeinsame Identität der christlichen Welt zur Eledingung hat. Die Idee der ,christianitas' entsteht eben in dieser Zeit durch die Auseinandersetzung mit dem Islam. Dieser Prozeß spiegelt sich nun eben auch im Carmen. Vgl. dazu PETTI BALBI: LOTTE ANTISARACENE, S. 521 und MANSELLI: R E S PUBLICA CHRISTIANA, speziell zum Carmen S. 133 ff. Allgemein auch MANSELLI: CHRISTIANITAS. Die Begriffsbildung ist hier in der Forschung offenbar noch nicht ganz abgeschlossen (vgl. die weiter unten zitierte Literatur). Während man seit längerem von ,typologischen' Vergleichen spricht, wird das im weiteren verwendete Adjektiv exemplarisch' bisher nicht oft verwendet. In der Regel ist einfach von Exemplum bzw. Exempla die Rede. Für die hier vorgestellte Argumentation ist jedoch die Abgrenzung beider Formen des Vergleichs wesentlich, so daß von typologischen und exemplarischen Vergleichen gesprochen werden wird. Es handelt sich sicher nicht um den originalen Wortlaut einer Rede des Bischofs. Die Analyse bewegt sich im folgenden jedoch im Rahmen der literarischen Fiktion. Wenn hier also davon gesprochen wird, daß Benedikt sich einer bestimmten Argumentation bedient, ist selbstverständlich nicht der historische Benedikt gemeint sondern die im Text redende Figur.
Deutungen des Erinnerten
139
rückzustellen. 1 Seinen Aufruf, sich nicht vor der Übermacht der Sarazenen und der Befestigung der Stadt zu furchten, verbindet er dann mit einem ersten historischen Vergleich: 2 „Non expavescatis, queso, de eorum numero: nam sunt turpiter defuncti timentes in heremo; neque vos conturbent domus altis edificiis: Hierico namque prostrata cum muris altissimis." Nach einer Anspielung auf die Folgen zaghaften Handelns 3 fuhrt er das Beispiel Jerichos an. Dieses wurde von Israel unter Führung des Josua erstürmt und zerstört, nachdem die Stadtmauern durch den Klang der Posaunen zum Einsturz gebracht waren. 4 Wie schon im Fall des Vergleichs mit Gideon wird auch hier eine Episode des Kampfes Israels mit seinen Feinden herangezogen, die in ihrer Bedeutung hinreichend bestimmt ist. Auch das Beispiel Jerichos verweist auf die Treue Gottes, der durch seinen Engel 5 die Israeliten zum Sieg gegen ihre Feinde führte. 6 In diesem Fall ist die Funktion des historischen Vergleiches eindeutig: Er dient als Exempel der Orientierung im Hand-
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Carmen, Vv. 93-96: „Preparate vos ad pugnam, milites fortissimi, et pro Christo omnes mundi vos obliviscimini. Maris iter restat longum, non potestis fiigere, terram tenent quos debetis vos hostes confundere."
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(„Bereitet euch zum Kampf, starke Ritter, und vergeßt für Christus alles Weltliche. Der Weg über das Meer ist weit, ihr könnt nicht fliehen, das Land hält der Feind besetzt, den ihr vernichten müßt.") Carmen, Vv. 97-100. („Erschreckt nicht - so bitte ich euch - vor ihrer Zahl: Denn die, die sich fürchteten, starben auf schändliche Weise in der Wüste. Mögen euch die hohen Häuser und Gebäude nicht erschrecken: Jericho wurde trotz seiner hohen Mauern zerstört.") Das „nam sunt turpiter defuncti timentes in heremo" des Carmen ist Anspielung auf Num. 14, 29 ff., dann vor allem wohl auf 1 Cor. 10, 5 f., wo das in der Wüste sterben und beerdigt werden als Strafe für nicht gottgefälliges Handeln aufgefaßt wird (man beachte auch die figurativ-moralische Audeutung durch Paulus): ,JSed non in pluribus eorum beneplacitum est Deo: nam prostrati sunt in deserto. Haec autem in figura facta sunt nostri, ut non simus concupiscentes malorum, sicut et Uli concupierunt" , die Parallele ist noch deutlicher in Heb.3, 17 J\bnne Ulis, quipeccaverunt, quorum cadavera prostrata sunt in deserto". Der Wortlaut im Carmen legt aber die hier vorgeschlagene etwas andere Akzentuierung des biblischen Zusammenhangs nahe. Vgl. wiederum den biblischen Bericht in Jos. 5, 10 ff. Bei dem ,princeps exercitus Domini" der Vulgata handelte es sich der Tradition nach um den Erzengel Michael (vgl. zu diesem als , Völkerengel Israels' und Anführer des Engels-Heeres KRÜG E R : M I C H A E L und die dort erwähnten Bibelstellen), der ja auch den Pisanem mit seiner Posaune im Kampf voranzog (vgl. Carmen, V. 131). Vgl. Jos.4, 13 ff.
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Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
lungszusammenhang.1 Die christlichen Kämpfer sollen durch das biblische Exempel des Falls Jerichos in ihrem Glauben und Mut gestärkt werden. Die Erinnerung an den historischen Fall dient hier dazu, eine Glaubensgewißheit in den Zuhörern wachzurufen,2 die Grundlage des zuversichtlichen Handelns sein soll: ,Gott hilft den Seinen, also wird er auch euch helfen'. 3 So kann man die Verwendung des Exempels im vorliegenden Zusammenhang mit Recht als einen ,verkürzten Induktionsbeweis' (M. Menzel) bezeichnen.4 Es wird von einem Einzelfall - der Zerstörung Jerichos - auf einen Einzelfall - den Fall al-Mahdlyas - geschlossen. Die ausgelassene jedoch mitgedachte und auch als Bedeutung transportierte Verallgemeinerung ist der schon genannte Glaubenssatz: Gott unterstützt aktiv die, die für ihn kämpfen bzw. von ihm erwählt sind. Daß das christliche Expeditionsheer unter der Führung Pisas fur Gott und den christlichen Glauben kämpft, wird dabei stillschweigend vorausgesetzt, unterliegt aber im Zusammenhang der Dichtung auch keinem Zweifel.5 Der Verwendung des Exempels als historischer Beweis liegt so schon eine bestimmte Konzeption von Geschichte zugrunde. Exempel verweisen stets auf die überzeitliche (ahistorische) Gültigkeit des Axioms, das den Kern der exemplarischen Eieziehung bildet. Nur wenn es nicht historischer Veränderung unterworfene konstante Muster in der Geschichte gibt, kann man aus einem historischen Fall eine sinnvolle Orientierung für gegenwärtiges Handeln ableiten.6 Eine andere Funktion innerhalb des Textes kommt jedoch den Vergleichen außerhalb des rhetorischen Zusammenhangs der Reden zu.
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Die Literatur zum Exempel ist breit und vielgestaltig. Es sei auf die für den aktuellen 2'usammenhang zentrale Arbeit Moos: GESCHICHTE und - stellvertretend für vieles - auf die neuere Arbeit MENZEL: PREDIGT verwiesen. Diese Funktion des Erinnerns wird in Carmen, V. 103 explizit, dort heißt es „mementote vos!" .erinnert euch!'. Wie bereits angedeutet, handelt es sich hier sicher um eine fiktive Rede. Diese kann man aber bei aller Vorsicht als Niederschlag der zeitgenössischen Predigtpraxis ansehen. MENZEL: PREDIGT, S . 2 2 . Vgl. zur wichtigen Unterscheidung zwischen ,künstlichem' und .unkünstlichem Beweis' durch das Exempel Moos: GESCHICHTE, S. 73. Vgl. dazu oben S. 124. Hierbei ist es gleich, ob es sich um ethische Normen handelt, an denen sich Handeln orientiert oder aber um metaphysische Einsichten in den Lauf der Geschichte (etwa die vielzitierte Tre ue Gottes). Die Existenz solcher Muster in der Geschichte ist Bedingung für die in der Formulierung von Cicero geprägte, aber natürlich auch vor und nach diesem wirkmächtige Vorstellung von der Historia magistra vitae. Vgl. zur Ablösung dieses Prinzips in der Neuzeit: KOSELLECK: HISTORIA. Unter dem Aspekt christlicher Geschichtskonzeptionen (vor allem Augustinus): KOSELLECK: GESCHICHTE. Da das Exempel stets auf ein überzeitlich gültiges Axiom verweist, gründet eine sol che exemplarische Geschichtsauffassung stets auf einem statischen Geschichtsbild (hierzu Moos: GESCHICHTE, S. 7 ff.). Die hier am Einzeltext gewonnenen Ergebnisse stehen dabei in Übereinstimmung mit den (geschichts-)theologischen Prämissen, wie sie etwa W. Knoch zuletzt für das hochmittelalterliche Geschichtsdenken formuliert hat. Vgl. KNOCH: GESCHICHTE, vor allem S. 22.
Deutungen des Erinnerten
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Exempla außerhalb der Reden Der analysierte Gideon-Vergleich ist sicher nicht im Sinne einer Orientierung im Handlungszusammenhang der Dichtung aufzufassen. Die Parallelen zwischen Gideon/Israel und dem christlichen Heer stehen nicht in argumentativem Zusammenhang mit der Durchführung der Expedition, sondern dienen hier der (nachträglichen) Deutung der Ereignisse. 1 Wie schon im Falle der historischen Exempel in der Rede wird auch an dieser Stelle durch die Gegenüberstellung der beiden Ereignisse zunächst eine allgemeine Aussage ins Bewußtsein gerufen: Beide Fälle zeigen zunächst, daß Gott die seinen im Kampf gegen ihre Feinde unterstützt. Mit Blick auf das dahinter stehende Konzept des Geschichtsverlaufs ist allerdings unerheblich, ob dieser Glaubenssatz Grundlage einer auf zukünftiges Handeln ausgerichteten Argumentation ist oder aber der Deutung (jüngst) vergangener Ereignisse dient. In beiden funktionalen Zusammenhängen liegt der Verwendung des Exempels die Vorstellung von der Statik und Unveränderbarkeit der göttlichen Weltordnung zugrunde. Um im Beispiel des GideonVergleichs zu bleiben: Daß Gott sowohl Gideon gegen die Midianiter als auch den Christen gegen die Sarazenen al-Mahdlya geholfen hat, belegt auch für die Gegenwart die Treue Gottes zu seinem Volk. Wie zu Zeiten des alten Bundes kann sich auch die Christenheit als das Volk des neuen Bundes auf Gottes Unterstützung verlassen. Auch hier operiert der Bezug auf die biblische Vergangenheit mit der Statik der Welt. Eine historische Bewegung im Sinne etwa eines heilgeschichtlichen Entwicklungsprozesses findet man zunächst nicht. Typologische Vergleiche An anderer Stelle des Carmens findet sich jedoch ein Vergleich, der sich nicht in dieser Weise als Exempel auffassen läßt. Hier zeigt sich eine andere Vorstellung des Verhältnisses zwischen biblischen und zeitgeschichtlichen Ereignissen. Die Analyse dieser Vorstellung wird eine ungeheuer folgenreiche geschichtstheologische Deutung der zeitgeschichtlichen Ereignisse - aber auch der Pisaner Geschichte überhaupt - in den Blick treten lassen. Am Ende der Dichtung wird eine Analogie zwischen der Geschichte des Auszugs der Israeliten aus Ägypten und den zeitgeschichtlichen Ereignissen aufgebaut. Die Rückfahrt der christlichen Flotte nach dem Sieg über die Sarazenen wiederhole, so heißt es
1
Natürlich kann man Exempel nicht auf die argumentative Funktion im rhetorischen Zusammenhang beschränken, sondern exemplarisches Denken ist auch eine ganz bestimmte Bedingungen voraussetzende Art des Erkenntnisgewinns. Vgl. dazu M o o s : GESCHICHTE, S. 22 ff. Im folgenden soll jedoch gezeigt werden, daß im Text neben exemplarischen auch (oder vor allem) andere Formen des historischen Vergleichs vorkommen.
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Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
hier, zum zweiten Mal die Niederlage des Pharaos und die Durchquerung des Roten Meeres durch Israel:1 „Ecce iterum Ebrei Egyptum expoliant et confuso Pharaone iterum coniubilant. Transeunt in mari magno, ut terra siccissima, Moyses educit aquas de petra durissima."
schon die Formulierung, mit der die Parallelisierung signalisiert wird, zeigt, daß hier etwas anderes gemeint ist als im Falle der Exempel: Nicht similiter' oder ,similatus\ sondern 'iterum'. Gerade der letzte Vers deutet auf eine andere Beziehung zwischen den Ereignissen hin: Moses habe Wasser aus einem Stein fließen lassen (V. 272). Der Vers erklärt sich, wenn man den biblischen Bericht der sich an die Durchquerung des Roten Meeres anschließenden Wüstenwanderung der Israeliten hinzunimmt, auf den der Autor sich hierbei bezieht.2 Doch bleibt der Übergang auffallig abrupt. Warum wählt der Dichter gerade dieses Detail aus der biblischen Geschichte des Auszugs der Israeliten? Eine Antwort findet sich in der direkt folgenden Strophe des Carmen. Auf ihrem Rückweg gelangt die christliche Flotte an eine Inselgruppe:3 ,Iterum...iterum...'
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„Nam, ut veniunt ad Curras, quasdam maris insulas, ubi nullus vidit aquas ad potandum limpidas, fit hoc visu et auditu nimis admirabile: terra parum circumfossa, potant aquas largiter."
Dort, vom Meer umgeben, wo niemand Trinkwasser vermutete, stoßen die Pisaner wie durch ein Wunder auf trinkbares Wasser. Auch hier wird schnell die Gegenüberstellung der Situationen klar: Wie die Israeliten in der Wüste befinden sich auch die Pisaner und ihre Verbündeten in der ,Wasserwüste' des Meeres in einer Notsituation, in der sie auf wundersame Weise an Trinkwasser gelangen.4 Hier liegt mehr vor als ein exemplarischer Vergleich, der die durchgängige Unterstützung Gottes für sein Volk belegt. Kann man die Entsprechung zwischen dem Sieg der Christen und der Israeliten noch durch ein gleichbleibendes Prinzip erklären, das die Geschichte strukturiert und analoge Phänomene hervorruft, so wird hier eine Ereigniskette bis in eigentlich für den Handlungsverlauf nicht notwendige Details in einem ganz konkreten Sinne wiederholt. In der Geschichte der Pisaner und ihrer Verbündeten wie1
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Carmen, Vv. 269-272. („Wiederum plünderten die Hebräer Ägypten, wiederum jubilierten sie über den niedergeworfenen Pharao. Sie überquerten das große Meer wie allertrockenste Erde, Moses entlockte Wasser dem härtesten Stein.") Vgl. den biblischen Bericht des Wunders: Num.20,8 bzw. Deut.8,15. Carmen, Vv. 273-276. („Denn, als sie zu den Kuriaten kamen, einigen Inseln im Meer, wo niemand sauberes Wasser zum trinken sah, geschah dies, wunderbar zu sehen und zu hören: Von wenig Erde umgeben, tranken sie reichlich Wasser.") Was an dieser Situation nun so ,wundersam' war, sagt der Autor nicht. Der Ort des Wunders wurde von Scalia mit der Inselgruppe der Kuriaten (wenige Kilometer vor Monastir) identifiziert (SCALIA: CARME PISANO, S. 6 0 , A n m . z u V v . 2 7 3 - 2 7 6 ) .
Deutungen des
Erinnerten
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derholt sich die Geschichte der Befreiung Israels aus Ägypten: Jterum Ebrei Egyptum expoliant" (V. 269). Wie schon im Fall der Verwendung historischer Exempel verweist auch diese Art des Vergleichs auf eine bestimmte Konzeption des Geschichtsverlaufes. ExempelStrukturen deuten wie gesagt auf allgemeine Grundmuster oder Grundstrukturen des Geschichtsverlaufes, die sich aus theologisch zu bestimmenden Wesenszügen der göttlichen Weltordnung ergeben. Die Suche nach solchen Mustern in der Geschichte führt in platonischer Tradition von den Wandelbarkeiten des Irdischen (der irdischen Geschichte) zum Bleibenden, Überzeitlichen und keinem Wandel Unterzogenen. 1 Damit ist eine Abwertung der Erscheinungen in der Welt und damit auch der Geschichte als prozeßhaftem Wandel der Welt verbunden. Welt und Geschichte werden hier auf einen Steinbruch von Argumenten und Belegen für die Existenz überzeitlich gültiger Wahrheiten reduziert. Anders ist aber ein Geschichtsverlauf zu verstehen, in dem sich bestimmte Ereignisketten in unterschiedlich stark ausgeprägter Analogie direkt wiederholen. Die Parallelisierung dieser Ereignisse, das Auffinden und Aufdecken solcher Entsprechungen geht über die zuvor beschriebene Methode der Geschichtsdeutung hinaus. Was sich hier offenbart, ist mehr als eine Wiederholung von Ereignissen, die beide als Emanation eines ontologisch Höheren aufgefaßt werden, sondern hier werden strukturelle Wiederholungen in ihrer Geschichtlichkeit als Elemente des göttlichen Heilsplans ernstgenommen. 2 Schon an dieser Stelle rückt die Parallelisierung der bibli-
2
Diese Grundtendenz der hochmittelalterlichen Geschichtsschreibung drückt etwa Otto von Freising im Prolog seiner Chronik aus: roinde quia temporum mutabilitas stare non potest, ab ea migrare, ut dixi, sapientem ad stantem et permanentem eternitatis civitatem debere quis sani capitis negabit?" (ebd., S. 10). Vgl. zu Otto: G O E T Z : G E S C H I C H T S B I L D . W. Kölmel spricht in diesem Falle von einer ontischen Typik, die er im Verhältnis von durchgehender Grundform zum typisierten Einzelnen sieht (vgl. K Ö L M E L : T Y P I K , S. 280). Vgl. auch zu einer Absetzung dieser Konzeption vom Geschichtssymbolismus K Ö L M E L : T Y P I K , S. 279. Die sich hier innerhalb eines Textes zeigenden unterschiedlichen Vorstellungen vom Geschichtsverlauf spiegeln so übrigens das, was man allgemein für die mittelalterliche Geschichtstheologie beobachtet hat. Im christlichen Gottesbild konkurrieren demnach unterschiedliche Elemente, die sich auch auf die Auffassung von Geschichte auswirken (vgl. als Überblick dazu: A N G E N E N D T : G E S C H I C H T E , S. 8 9 - 1 2 0 ) . So weist etwa Hans Blumenberg auf den im patristischen und mittelalterlichen Gottesbild enthaltenen Widerspruch zwischen dem ,jtoische[n] Gott der kosmischen Vorsehung und de[m] alttestamentliche[n] Gott des Zornes und des Gerichts" hin ( B L U M E N B E R G : LEGITIMITÄT, S . 1 6 3 ; so auch G O E T Z : G E S C H I C H T S B I L D , S . 1 0 0 f.). Die Frage nach dem Verhältnis Gottes zu den Menschen als Grundlage jeder christlichen Geschichtsauffassung war dadurch unmittelbar berührt. Je nachdem, wie hier Akzente gesetzt wurden, resultierten aus dieser Frage unterschiedliche Bewertungen des Geschichtsverlaufs zwischen Erlösungstat als Erfüllung der Zeit und der Parusie als dem Ende von Zeit, Welt und Geschichte. Ein Beispiel für abweichende Auffassungen des Geschichtsverlaufes bieten schon die apologetischen Entwürfe des Augustinus und des Orosius. Während Augustinus das durch die Kritik heidnischer Autoren am Christentum aufgeworfene Theodizee-Problem durch die Ausklammerung der civitas terrena aus der Heilsgeschichte löste, entwirft Orosius in seinen Libri historiarum adversum paganos ein christliches Fortschrittsdenken, das von der Idee einer durch einen allmächtigen Gott geleiteten zielgerichteten
144
Die ftiihe kommunale Geschichtsschreibung
sehen und zeitgeschichtlichen Ereignisse in die Nähe der aus der Bibelexegese seit Paulus nicht mehr wegzudenkenden Typologie. 1 Exkurs: Das typologische
Geschichtskonzept
Typologischen Vergleichen bzw. Gleichsetzungen, wie sie auch im Carmen nachzuweisen sind, liegt eine bestimmte Vorstellung vom Geschichtsverlauf zugrunde. 2 Die Grundlage einer typologischen Ausdeutung biblischer Ereignisse ist im Neuen Testament selbst gelegt. Ein Beispiel, das zugleich auch das Grundprinzip biblischer Typologie erkennen läßt, findet sich etwa im Matthäus-Evangelium. Auf die Bitte der Pharisäer und Schriftgelehrten, ihnen ein Zeichen seiner besonderen Erwähltheit zu geben, antwortet Jesus mit einem typologischen Vergleich: 3 „Denn gleichwie Jonas drei Tage und drei Nächte in dem Bauch des Wales war, so wird auch der Sohn des Menschen im Herzen der Erde drei Tage und drei Nächte sein."
Er bezieht so ein Ereignis des Alten Testaments, die Gefangenschaft des Propheten Jonas im Walfisch (Jon. 2,1), auf ein zukünftiges Ereignis der neutestamentliehen Geschichte des Heils, auf die Grabesruhe des Gekreuzigten und die sich anschließende Auferstehung. 4 Die alttestamentliche Figur des Propheten Jonas wird in diesem Vergleich zum Typus, der den zeitlich folgenden Antitypus Christus präfiguriert. Nach diesem Muster werden in den biblischen Schriften selbst, vor allem aber in der Bibelexegese seit der Patristik, Figuren aber auch ganze Ereigniskomplexe des Alten Testaments als Realprophetien neutestamentlicher Antitypen aufgefaßt. 5 Im exegetiGeschichte ausgeht. Vgl. zum Geschichtsbild des Augustinus zuletzt MÜLLER: GESCHICHTSBEWUBTSEIN, zu Orosius GOETZ: OROSIUS. Vgl. zum Problem des Entwurfs einer ,inneren Teleologie' als dem „Versuch, Vorstellungen vom natürlichen' [...] Geschichtsverlauf mit dem sicheren Wissen dieser Zeiten vom übernatürlichen Ziel der Geschichte zu verknüpfen" FUNKENSTEIN: HEILSPLAN (das Zitat a u f S. 7). 1
Zentrale Arbeiten zur Typologie sind im Sammelband BOHN: TYPOLOGIE vereint. Anregend sind vor allem die Arbeiten F.Ohlys (vgl. etwa OHLY: SCHRIFTEN). In der vorliegenden Arbeit wird der Versuch gewagt, Exempel und Typologie als zwei grundverschiedene Formen des historischen Vergleichs aufzufassen. Vgl. den älteren, jedoch nicht ganz zufriedenstellenden Abgrerzungsver-
2
Hierbei soll zunächst einmal die Frage beiseite gelassen werden, ob es legitim ist, in außerbiblischen Zusammenhängen von Typologie zu sprechen. Eine solche Ausweitung des Typologiebegriffes wurde in der Forschung lange diskutiert. Vgl. den Überblick über die Diskussion bei MOHNHAUPT: BEZIEHUNGSGEFLECHTE, S. 19 ff. Die hier versuchte Übertragung des TypologieKonzepts auf das mittelalterliche Geschichtsdenken kann sich etwa au ff. Ohly berufen, vgl. etwa
s u c h v o n MICHEL: ÜBERGANGSFORMEN.
OHLY: TYPOLOGIE. 3 4 5
Mt. 12,40. Vgl. zur Interpretation der Stelle detaillierter MOHNHAUPT: BEZIEHUNGSGEFLECHT, S. 13 f. Grund für den Erfolg dieses Exegese-Modell wird man zum einen in der Anwendung dieser Methode in den biblischen Schriften selbst sehen können. Die verschiedenen Formen der biblischen Typologie versucht KÖLMEL: TYPIK, S. 280 zu systematisieren. Unterscheidungen zwischen Personaltypik, Korporationstypik oder etwa Verlaufstypik können hier aber außer Betracht gelassen wer-
Deutungen
des
Erinnerten
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sehen Zusammenhang - wie auch schon im Neuen Testament - kann die Funktion einer solchen Gegenüberstellung zunächst in der Bestimmung des Sinns des Antitypus durch den Typus gesehen werden. Indem Jesus im Text des Evangelisten das Ereignis des Alten Testaments auf seine eigene Zukunft bezieht, legitimiert er sich in einer Weise, die schon durch das bekannte „non veni solvere sed adimplere" (Mt 5.14) ausgedrückt wird. Nicht nur die Prophetenworte, sondern auch die Ereignisse des Alten Testaments führen alle auf Christus als Erfüllung des Verheißenen zu. Doch auch der Typus erhält durch die Erfüllung des Antitypus eine erweiterte Bedeutung. Aus der Sicht des typologisch zugeordneten Heilsgeschehens von Kreuzigung und Auferstehung verweist Jonas im oben skizzierten Beispiel auf der Ebene der interpretatio christiana auf Christus. Wichtig ist jedoch, daß man sich klar vor Augen hält, daß es hierbei nicht um die allegorische Ausdeutung des Bibelwortes geht, sondern daß es in typologischer Vorstellung die beiden Ereignisse selbst sind, die aufeinander verweisen. 1 Im Laufe der Entwicklung der christlichen Bibelexegese kristallisierte sich das Grundmuster einer dreistufigen Typologie heraus, das erstmals deutlich bei Ambrosius hervortritt. 2 Einem dreiteiligen Modell der Heilsgeschichte (Alter Bund - Neuer Bund Gottesreich nach dem Weltende) werden hier jeweils typologische Beziehungen zugeordnet. 3 So entspricht den typologischen Entsprechungen zwischen Altem Testament und Neuem Testament dann eine ebensolche Entsprechung zwischen den Ereignissen des Neuen Testaments und dem eschatologischen Ziel der Heilsgeschichte im Gottesreich. 4 Die gleiche Person oder Sache kann in diesem System gegenseitiger Verweisungen Antitypus und Typus zugleich sein. Sie ist Antitypus als Erfüllung dessen, was
den, da ihnen allen das gleiche Prinzip zugrunde liegt. Auf die wichtige Unterscheidung zwischen Prophetie und Typologie im Zusammenhang der biblischen Texte, aber auch zwischen Typologie, A l l e g o r i k u n d S y m b o l i s t i k w e i s e n OHLY: TYPOLOGIE, S . 2 8 u n d KÖLMEL: TYPIK, S. 2 7 9 hin. Im
Gegensatz zur Prophetie - wie sie etwa im Alten Testament auftaucht - handelt es sich bei der Typologie nicht um eine Bezugnahme in dictis, sondern in /actis, eben im Sinne einer Realprophetie. 1
V g l . O H L Y : TYPOLOGIE, S . 2 2 .
2
OHLY: TYPOLOGIE, S. 32. Bei Ambrosius wird dieser Dreierschritt durch die Stufen umbra-imagoveritas gekennzeichnet. Die verbreitete Vorstellung einer dreiteiligen Heilsgeschichte, der unterschiedliche Grade der Enthüllung zuzuweisen sind, drückt sich etwa auch bei Bernhard von Clairvaux aus. Dieser schreibt in der 31. Predigt über das Hohelied: „Quomodo namque apud veteres quidem umbram flguramque dieimus exstitisse, nobis autem per gratiam Christi in carne praesentis ipsam per se illucescere veritatem, ita nos quoque respectu futuri saeculi in quadam interim veritatis umbra vivere non negabit, nisi qui non acquiescit Apostolo dicenti ..." (Sermones super cantica canticorum, XXXI, 8: „Wie wir nämlich sagen, daß bei den Alten Schatten und Abbild bestimmend waren, uns aber durch die Gnade des im Fleisch gegenwärtigen Christus die Wahrheit selbst aufleuchtet, so wird auch nur der leugnen, daß doch auch wir in Hinblick auf die künftige Welt vorläufig gewissermaßen im Schatten der Wahrheit leben, der nicht dem Wort des Apostels beipflichtet ... ." [Übersetzung der Ausgabe leicht modifiziert]).
3
4
V g l . d a z u H A N S E N / V I L L W O C K : EINLEITUNG, S . 8 u n d M O H N H A U P T : BEZIEHUNGSGEFLECHT, S . 1 6 f.
mit weiterführender theologischer Literatur.
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Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
durch den Typus aus der Zeit des alten Bundes präfiguriert wurde. Typus ist sie wiederum, indem sie auf ihren Antitypus in der Zukunft des Gottesreiches verweist.1 Zunächst bedeutet diese Erweiterung der ,innerbiblischen' bzw. .evangelischen' Typologie natürlich auch eine Ausweitung der Funktionalität typologischen Denkens. Lag das Ziel der innerbiblischen Typologie darin, die Kohärenz und Zusammengehörigkeit des Alten und Neuen Testaments zu untermauern,2 so stellt die ,apokalyptische' Typologie, die Geschehen des Neuen Testaments auf die Zukunft der letzten Dinge bezieht, einen qualitativen Sprung dar. Typologie ist nicht mehr nur Mittel, die Kohärenz des göttlichen Heilsplanes aufzuzeigen, sondern sie erlaubt durch die Konzentration auf den realprophetischen Aspekt der Präfiguration die Zukunftsbestimmung. Für den aktuellen Zusammenhang ist vor allem von großer Bedeutung, daß sich spätestens in der Erweiterung der Typologie um eine dritte Stufe deutlich zeigt, daß typologisches Denken eng mit historischem Denken, genauer gesagt, mit heilgeschichtlichem Denken verknüpft ist. Die typologische Beziehung zwischen den Stufen ist stets eine Steigerung oder Erfüllung.3 Dadurch unterscheidet sich die Typologie grundlegend von einer Beziehung zwischen Ereignissen, wie sie der Vemendung von Exempeln zugrunde liegt. Während im Falle der exemplarischen Argumentation dem späteren Ereignis Bedeutung durch das in der Zeit vorangehende zuwächst, ist es im Falle der Typologie genau umgekehrt: Das frühere Ereignis wird in seiner ganzen Bedeutung erst durch das spätere erkennbar.4 Ohne die Vorstellung einer Aufwärtsbewegung in der Heilsgeschichte, die sowohl eine Statik als auch eine ungerichtete Entwicklung ausschließt, ist typologisches Denken nicht möglich.
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Schematisch: AT-NT-Eschata Typus —> Antitypus / Typus —• Antitypus Erst die Klammer der Typologie macht aus Altem und Neuem Testament einen Text (MOHNHAUPT: BEZIEHUNGSGEFLECHT, S. 14). Die Entstehung des typologischen Denkens führt Michel dann auch auf eine spezifische historische Situation zurück, die durch ein gebrochenes Verhältnis zu einer Tradition geprägt war, die aber noch nicht ihre Verbindlichkeit verloren hatte (MICHEL: Ü B E R GANGSFORMEN, S. 50). Typologie - so kann man vor diesem Hintergrund sagen - stiftet hier tatsächlich die „Kohärenz des Systems" (MOHNHAUPT: BEZIEHUNGSGEFLECHT, S. 16). Insbesondere die Steigerung im typologischen Verhältnis wird als eines der notwendigen Elemente der Definition von Typologie angesehen. Hiermit scheidet in vielen Fällen die Anwendung des Typologie-Begriffes in der außerbiblischen Geschichte aus bzw. werden ihr enge Grenzen gesetzt. Das Verhältnis zwischen Typus und Antitypus bringt F. Ohly in einem treffenden Bild zum Ausdruck: ,JDer Typus bleibt im Antitypus gegenwärtig; er geht nicht unter, er geht ein in die Gestalt seiner Erfüllung als eine Zeugnisspur des gottgedachten Plans der Erlösung" ( O H L Y : SYNAGOGE, S. 312). Diese Struktur des typologischen Vergleichs ergibt sich nicht zu einem geringen Teil aus seinem heuristischen Zusammenhang. Während es Ziel der exemplarischen Geschichtsbetrachtung ist, eine relativ unbestimmte Konstellation zu deuten (ob nun mit oder ohne handlungsorientierende Absicht), liegt das Ziel des typologischen Vergleichs eben im Nachweis des inneren Zusammenhangs der verglichenen Elemente.
Deutungen des
Erinnerten
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Die Verbindung von Typologie und heilsgeschichtlichem Plan ergibt sich auch aus der Zeitstruktur des typologischen Vergleichs. Im typologischen Geschichtsbild verweisen Personen oder Ereigniskomplexe auf Späteres, strukturell Ähnliches. Das oben genannte Sinngefälle fuhrt dazu, daß dem Früheren der Sinn aus dem Späteren zuwächst. Hierin liegt eine Umkehrung des Grundprinzips moderner (aber nicht nur moderner) Auffassung von Zeit und Geschichte. Es liegt keine sich aus dem Früheren über Ursache-Wirkungs-Ketten ergebende Abfolge der Ereignisse vor, sondern eine mit der Zeit fortschreitende Enthüllung dessen, was jedoch schon seit Anbeginn der Zeiten bzw. in der überzeitlichen Ewigkeit Gottes feststeht. 1 Typologie ist nur dann denkbar, wenn sie einem außerhalb der Zeit stehenden Punkt entspringt, da die typologische Bedeutungszuweisung der natürlichen Zeitenfolge entgegenläuft. Bedingung des typologischen Denkens ist somit die Existenz eines von Anfang an bestehenden göttlichen Heilsplans, wie sie auch in den prophetischen Schriften des Alten Testaments postuliert wird. 2 Das der Typologie zugrunde liegende Geschichtsbild ist so vor allem durch zwei Elemente gekennzeichnet. Die Welt ist durch Veränderung, durch Geschichte bestimmt. Hierin unterscheidet sich die Grundlage der Typologie von der skizzierten exemplarischen Geschichtskonzeption. Diese geschichtliche Veränderung der Welt folgt zudem einer Fortschrittsbewegung, die nach einem Gott bekannten und von ihm eingesetzten Plan abläuft. 3 Eine typologische Interpretation der Pisaner Geschichte Kann man den Begriff der Typolgie als Denkfigur der Bibelexegese auf die untersuchten historischen Vergleiche des Pisaner Dichters übertragen? Der typologische Vergleich stellt aufgrund von Ähnlichkeiten eine Beziehung zwischen zwei Personen oder Ereigniskomplexen der Heilsgeschichte her. Diese Ähnlichkeitsbeziehung als Grundlage des Vergleichs wurde auch oben schon an mehreren Stellen des Carmens nachgewiesen. Auch für das Carmen konnte gezeigt werden, daß hinter einem Teil der Vergleiche wie im Falle der biblischen Typologie die Vorstellung einer konkreten Wiederholung historischer Ereignisse steht.
Diese Vorstellung ist nach Funkenstein auf die jüdische Apokalyptik zurückzufuhren. Vgl. FUNKENSTEIN: H E I L S P L A N , S . 1 1 f f . 2
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Vgl. etwa Is. 46.10: „Ich bin Gott [...] Ich habe von Anfang an den Ausgang verkündet, von längsther, was noch ungeschehen war; mein Ratschluß erfüllt sich und alle meine Vorhaben führe ich aus." Auf diese Verbindung von Typologie und (Heils-)Geschichte weist auch N.Frye hin. „Was die Typologie als Denkweise auszeichnet, was sie zugleich voraussetzt und zur Folge hat, ist eine Theorie der Geschichte, genauer eine Theorie des historischen Prozesses: die Voraussetzung, daß Geschichte einen Sinn und Zweck hat und daß früher oder später irgendein Ereignis oder irgendwelche Ereignisse eintreten werden, die anzeigen, was ihr Sinn ist bzw. worauf sie abzielt" (FRYE: TYPOLOGIE, S . 6 7 ) .
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Wesentlich für die typologische Denkfigur ist, daß der zeitlich gesehen spätere Antitypus als Erfüllung der realprophetischen Präfiguration des Typus aufgefaßt wird. Wesentlich ist also das Element der Steigerung bzw. Erfüllung. Will man die vom Dichter des Carmen betonten Parallelen zwischen den zeitgeschichtlichen und alttestamentlichen Ereignissen mit typologischem Denken identifizieren, so bereitet die Erfüllung bzw. Steigerung im Verhältnis Typus-Antitypus ein Problem. Sollte der Dichter in typologischem Sinne den Auszug Israels aus Ägypten als Typus für den zeitgeschichtlichen Sieg des christlichen Expeditionsheeres über die Sarazenen aufgefaßt haben, so wäre darin impliziert, daß die zeitgeschichtlichen Ereignisse eine Steigerung bzw. Erfüllung der alttestamentlichen Ereignisse darstellen. Ist eine solche Auffassung der Zeitgeschichte denkbar bzw. auch durch andere Elemente zu belegen? Schon aus Grundkonzeption, die dem typologischen Denken zugrunde liegt, ergibt sich, daß die Geschichte nach der Erlösungstat Christi im Bezugsrahmen der Heilsgeschichte als höher stehend aufgefaßt werden kann bzw. muß. Vor diesem Hintergrund kann ein Ereignis wie der Sieg des christlichen Expeditionsheeres unter Fültrung der Pisaner, das in der Sicht des Autors in Analogie zu den angeführten Siegen Israels über seine Feinde steht, eine Steigerung des alttestamentlichen Typus sein. Grundlage hierfür ist die schon angerissene Bewertung der Pisaner und ihrer Verbündeten. Diese sind als Exponenten der Christenheit in besonderer Weise mit dem göttlichen Heilswillen verknüpft. Wie Israel das auserwählte Volk des alten Bundes war, ist die Christenheit das neue Volk Gottes. Dies läßt sich für den konkreten Fall des Carmen belegen, unterliegt aber auch im Zusammenhang des mittelalterlichen Weltbildes keinem Zweifel. 1 Der Kampf der Christen mit der „gens impiissima" (Carmen V. 6) unter ihrem König Timinus, dem „Saracenus impius, similatus Antichristo, draco crudelissimus" (Vv. 17 f.) ist der erneute Kampf der Angehörigen des Volks Gottes mit seinen Feinden. So wie die Christenheit als neues Volk Gottes antitypisch zu Israel gesehen wird, ist auch der erneute Kampf der Christen mit den Widersachern Gottes als heilsgeschichtliche Steigerung der alttestamentlichen Kämpfe Israels zu sehen." Man kann so schon grundsätzlich die Bedingung der Steigerung in der typologischen Beziehung als gegeben ansehen. Die Christenheit und an ihrer Spitze Pisa wird im Carmen als das neue Volk Gottes angesehen. Pisa - als der eigentliche Akteur im Carmen - wird dabei in vielfacher Weise mit alttestamentlichen Präfigurationen in Bezie'
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Vgl. etwa die Darstellung der Bedrohung christlicher Küsten durch Timinus und der damit verbundenen Motive für die Expedition im Carmen, Vv. 17 ff. Zum Christentum als neuem Volk Gottes FREVEL / K R A U S / WIEDENHOFER: V O L K GOTTES. Diese Vorstellung kann sich teilweise schon auf die neutestamentlichen Schriften berufen (vgl. ebd. Sp.846 f.). Eine vergleichbare Auffassung attestiert L. Boehm insgesamt der wenig späteren Geschichtsschreibung zu den ersten Kreuzzügen. „Aus intensivierter eschatologischer Erwartung unternimmt sie den Versuch, den heiligen Krieg und das als direktes Eingreifen Gottes gedeutete Zeitgeschehen als einzigartigen Höhepunkt der Heilsgeschichte vor dem Kommen des Antichrist auf dem Hintergrund alttestamentlicher Prophetien und Parallelen zu interpretieren" ( B O E H M : WISSENSCHAFTSTHEORETISCHER O R T , S . 6 8 8 ) .
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hung gesetzt. Hierdurch wächst der Arnostadt und ihren Kämpfen gegen die Sarazenen im christlichen Kontext eine ungeheure Bedeutung zu, die die Verdienste der Stadt um die Verteidigung der Christenheit und die Befreiung christlicher Gefangener weit übersteigt. Pisa erfüllt eine Rolle im göttlichen Heilsplan, die der des Gideon, der Israeliten unter Moses und der anderen Helden Gottes im Alten Testament entspricht bzw. sie sogar noch übersteigt. Doch der Dichter zieht vergleichbare Parallelen auch zur säkularen Geschichte der heidnischen Antike. Pisa und Rom Der Großteil der Vergleiche im Carmen bezieht sich auf das Alte Testament. Am Beginn der Dichtung wird jedoch eine weitere historische Parallele aufgebaut, die besondere Aufmerksamkeit verdient. Hier heißt es programmatisch: 1 „Inclitorum Pisanorum scripturus istoriam, antiquorum Romanorum renovo memoriam: nam extendit modo Pisa laudem admirabilem, quam recepit olim Roma vincendo Cartaginem."
Der Text beschwört die Erinnerung an das Rom der Antike, das hier erstmals als Maßstab der Pisaner Größe erscheint. 2 Durch den Sieg über die Sarazenen-Stadt al-Mahdlya habe Pisa den von Rom einst erworbenen Ruhm noch vergrößert. Dieser Vergleich zwischen Rom und Pisa ist nicht nur dadurch motiviert, daß Rom im gesamten Mittelalter Inbegriff militärischen Erfolges war. Es gibt auch hier auffällige Parallelen zwischen den beiden Ereignissen, dem Kampf Roms gegen Karthago und dem Pisas gegen alMahdTya.
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Carmen, Vv. 1 ff. („Um die Geschichte der ruhmreichen Pisaner zu schreiben, erneuere ich die Erinnerung an die alten Römer: Denn Pisa hat heute den Ruhm vergrößert, den Rom einst durch den Sieg über Karthago erworben hatte.") Vgl. ausfuhrlicher zum Verhältnis Pisas zur Antike unten S. 399 ff.
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Geschichtsschreibung
So wußte der Dichter des Carmen offenbar, daß das antike Karthago in der Nähe al-Mahdlyas lag. Wie im Fall Gideons bzw. des biblischen Madian die Namensgleichheit, legt hier zunächst die geographische Lokalisierung beider Städte den Vergleich nahe.1 Doch nicht nur diese rückt al-Mahdiya in die Nähe Karthagos. Wie die Sarazenen bis zu den ersten Gegenschlägen der christlichen Seestädte, so beherrschten auch die Karthager vor den Punischen Kriegen das westliche Mittelmeer mit seinen Inseln. Wie die Karthager für Rom, so stellten die Sarazenen für Pisa eine die Existenz der Stadt bedrohende Gefahr dar.2 Der Vergleich zwischen den beiden Ereignissen geht auch hier weit über eine beliebige Illustration hinaus. Grundlegend für den Vergleich Rom-Pisa sind zunächst die offensichtlichen historischen Parallelen. Es drängt sich jedoch der Gedanke auf, daß der Pisaner Dichter auch hier keine zufallige Koinzidenz sieht, sondern daß die Parallelen wie schon im Falle des Vergleichs Pisa-Israel auch hier auf einen inneren Zusammenhang der Geschichte verweisen. Pisa hat nicht einfach wie Rom einen mächtigen Gegner besiegt, Pisa ist das zweite oder neue Rom in offensichtlich typologischem Sinne.3 So erklärt sich auch, daß Pisa - wie es in den zitierten Eingangsversen heißt - den Ruhm Roms vergrößerte, während im zeitgenössischen Rom nur die Erinnerung an die vergangene Größe wiedererweckt wird.4 Pisa, nicht das gegenwärtige Rom ist Erbe und Nachfolger Roms, so wie die Christen, nicht die Juden, in christlich-mittelalterlicher Vorstellung Erben der Verheißungen Gottes geworden sind. Gerade diese doppelte Typologie ist in besonderer Weise geeignet, die heilsgeschichtliche Bedeutung Pisas herauszustellen. Einerseits werden die zeitgeschichtlichen Ereignisse als typologische Entsprechung der Kämpfe Israels mit den Feinden Gottes gedeutet, andererseits wird aber eine Entsprechung zu den Kämpfen Roms mit Karthago herausgearbeitet:
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Ob der Dichter die geographische Koinzidenz für zufällig hielt oder ob er Karthago sozusagen als Vorfahrin al-Mahdlyas betrachtete, ist nicht klar. Vgl. die Gleichsetzung von Sarazenen und Karthagern/Puniern im übrigen Pisaner Korpus, etwa im Liber Maiorichinus (Vgl. oben S. 82, Anm. 2). Als existenzbedrohend wird der Angriff der Sarazenen auf Pisa 1005 st. pis. durch die Annalistische Inschrift der Domfassade bewertet. Vgl. zur Inschrift unten S. 336 ff. Zu den weiteren Rom-Vergleichen im Kontext des Gesamtkorpus unten S. 399 ff. Anläßlich der Erwähnung stadtrömischer Kontingente, die an der Expedition teilnahmen, heißt es im Carmen (Vv. 45f): „His accessit Roma potens potenti auxilio, suscitata pro Timini infami martirio: renovatur hinc in illa antiqua memoria, quam illustris Scipionis olim dat victoria." („Diesen schloß sich das mächtige Rom mit einem starken Kontingent an, angetrieben, Timinus einen schändlichen Tod zu bereiten. Daher wird dort die alte Erinnerung an den Sieg des ruhmreichen Scipio wachgerufen.")
Deutungen des
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Erinnerten
durch Einwirken Gottes
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besiegt
Gideon Israel
Madian bedroht
Feinde Israels=Feinde Gottes lot madianiti
durch Einwirken Gottes
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besiegt
Einwohner tat madianiti Heiden heimle Gottes/der Christenheit
Sarazenen Mahdiya
Pisa (Christenheit)
hallen Sardinien und SizUien besetzt; Seemacht; bedrohen Existenz Pisas; Stadt liegt an der Nordafrikanischen Küste
besiegt
Beherrschen Sardinien und Teile Siziliens; Seemacht; bedroht Existenz Roms; Stadt liegt an der Nordafrikanischen Küste
Karthago Rom
Pisa und die von ihm geführten Kämpfe gegen die Sarazenen stehen so im Brennpunkt zweier historischer Linien. Die Stadt wird einmal als Antitypus Israels in eine dezidiert heilsgeschichtliche Linie gestellt, daneben ist Pisa als Erbe oder Nachfolger Roms auch vorläufiger Endpunkt einer zunächst irdisch-diesseitigen Linie. Gerade diese doppelte Typologie läßt auch an eine etwas andere Interpretation denken. Auch das imperiale Rom hat im Mittelalter über weite Strecken eine heilsgeschichtliche Bedeutung. 1 Seit der Daniel-Interpretation des Hieronymus ist die vier-WeltreicheLehre mit ihrer (heilsgeschichtlich gesehen) positiven Bewertung des Römischen Reiches wichtiges Element mittelalterlicher Geschichtstheologie. 2 Nach dieser Weltreiche-Vorstellung ist das Ende des letzten, des Römischen Reichs direkt mit der Ankunft des Antichristen verbunden. Dem Fortbestand dieses letzten Reiches kommt dadurch heilsgeschichtliche Bedeutung zu. 1
Vgl. allgemein zur hochmittelalterlichen Romidee S C H R A M M : K A I S E R , S T R U V E : K A I S E R T U M , PEsowie zuletzt die Ausführungen bei D I E F E N B A C H : B E O B A C H T U N G E N , S. 42 ff. Vgl. Hieronymus: Commentariorum in Danielem Libri III. In der Geschichtsschreibung erstmals von Orosius aufgegriffen, kommt dieser Auslegung vor allem in der translatio imperii-Vorstellung große Bedeutung zu. Vgl. grundlegend G O E Z : T R A N S L A T I O IMPERII, zuletzt G E R W I N G : W E L T E N D E (mit ausführlichen Literaturangaben). TERSON: R O M I D E E
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Geschichtsschreibung
Hat also der Pisaner Dichter versucht, seine Stadt durch eine der imperialen Translatio Imperii-ldee vergleichbare Argumentation als Erbin des Römischen Reiches und seiner heilsgeschichtlicher Mission darzustellen?1 Auf den ersten Blick erscheint dies zu verwegen. Doch wie verwegen muß ein Dichter bzw. Geschichtstheologe sein, der sich an anderer Stelle nicht scheut, den Tod des Pisaner Vizegrafen mit der Höllenfahrt Christi gleichzusetzen?2 Einen weiteren Beleg fur die These, daß sich Pisa hier in symbolischer Genealogie auf Rom zurückführt, liegt in einer schon oben bei der Analyse des Chronicon Pisanum gemachten Beobachtung. Hier waren die Pisaner Kämpfe mit den Sarazenen in die Tradition fränkisch-imperialer Heidenkämpfe eingebunden worden. 3 Die historische Linie, die in Pisa gezogen wird, beginnt so scheinbar im antiken Rom, verläuft über die sich durch die Translatio-Vorstellung an die Geschichte des Römischen Reiches anschließenden fränkischen Kaiser des Frühmittelalters und findet seinen (vorläufigen) Endpunkt in Pisa. Selbst wenn man den letzten Schritt hin zu einer heilsgeschichtlichen Mission der Arno-Stadt nicht mitgehen will, der Text ist durch die typologische Verknüpfung städtischer Geschichte mit der Geschichte Israels auf der einen, der Geschichte Roms auf der anderen Seite durchdrungen vom Gedanken der göttlichen Auserwähltheit Pisas. Gerade der Anschluß an die römische Geschichte fugt sich dann auch nahtlos in die im weiteren Verlauf der Arbeit aufzudeckende Antiken-Rezeption in Pisa ein.4
In Pisa läge so eine frühe - und im Anspruch übersteigerte - Vorstellung von der heilsgeschichtlichen Bedeutung der eigenen Civitas sancta vor. Vgl. etwa HAVERKAMP: HEILIGE STÄDTE, mit Blick a u f I t a l i e n D E MATTEIS: SOCIETAS CHRISTIANA. 2
Carmen, Vv. 181 ff.: „O dux noster atque princeps cum corde fortissimo! Similatus es Grecorum regi nobilissimo, qui sic fecit, ut audivit responsum Apollinis: nam ut sui triumpharent sponte mortem subiit. Sic infernus spoliatur et Satan destruitur, cum Iesus, redemptor mundi, sponte sua moritur , pro cuius amore, care, et cuius servicio martyr pulcher rutilabis venturo iudicio."
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(„O unser Führer und Fürst mit dem allerstärksten Herzen! Du gleichst dem alleredelsten König der Griechen, der ebenso handelte, als er die Antwort des Apoll hörte: Damit die seinen triumphierten, erlitt er freiwillig den Tod. Ebenso wurde die Hölle entleert und Satan zerstört, als Jesus, Erlöser der Welt, aus eigenem Willen starb. Aus Liebe zu ihm, ο Teurer, und den Dienst an ihm, wirst du beim kommenden Gericht als Märtyrer golden glänzen.") Vgl. oben S. 74 ff. Hierzu ausführlich unten S. 307 ff. und 399 ff.
Deutungen des
Erinnerten
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Der symbolische Ursprung der Stadt Schon oben war das auffällige Desinteresse der Pisaner Autoren an der Frühgeschichte der eigenen Stadt bemerkt worden. 1 Weder die seit der Antike bekannte Gründungslegende, noch die frühmittelalterliche Geschichte der Stadt hatte die Pisaner Autoren interessiert. Im Gegensatz zum Schweigen zur frühmittelalterlichen Geschichte der Stadt hatte etwa das Chronicon Pisanum Daten zur Geschichte der karolingischen Dynastie und des von dieser erneuerten Kaisertums angeführt. Auf eine mögliche Bedeutung dieser Vorgeschichte war schon oben hingewiesen worden. 2 Auch im Carmen in victoriam Pisanorum findet sich der Verweis auf eine solche symbolische bzw. hier eindeutig typologische Vorgeschichte der Stadt. Israel-Rom-Pisa, so wird hier die durch die typologischen Entsprechungen motivierte Linie gesehen. In dieses Schema ließe sich problemlos - gewissermaßen als weitere Generation dieser symbolischen Genealogie - der im Chronicon beobachtete Bezug zur Geschichte des fränkisch-karolingischen Kaisertums einreihen. Der Gedanke liegt nahe, daß diese Befunde in Zusammenhang mit dem Fehlen von Nachrichten zur älteren Pisaner Geschichte stehen. Die eigenen Gegenwart und die jüngere Vergangenheit wurde in Pisa zumindest von einigen Autoren als weiterer Schritt einer Geschichte gesehen, die eben nicht in den verhältnismäßig unbedeutenden Ursprüngen des antiken und frühmittelalterlichen Pisa lag. Akzentuiert wird hier eine symbolische Linie, die im alten Israel beginnt und vorerst bei den glorreichen Siegen der Pisaner über die Sarazenen endet. Spuren der tatsächlichen Vorgeschichte konnten angesichts einer solchen Konzeption kein Interesse finden.3 4. Zusammenfassung Die geschichtstheologischen Grundannahmen, so konnten die Analysen zeigen, sind entscheidend fur die Deutung der zeitgeschichtlichen Ereignisse und damit auch für das funktionale Potential des Carmen in victoriam Pisanorum. Eine erste Lektüre des Textes förderte zunächst ein in der Historiographie verbreitetes Muster zu Tage. Einer Verteufelung des Gegners entspricht hier das Herausarbeiten der besonderen kriegerischen und ethischen Vorzüge der eigenen Seite: Grausame Sarazenen, heldenhafte Pisaner. Schon an dieser Stelle ist die Darstellung des Carmen jedoch eng in zeitgenössische theologische Diskussionzusammenhängen eingebunden. Es geht nicht zuletzt darum, die eigene Sache als heilige Sache darzustellen, den Krieg gegen die Sarazenen als heiligen Krieg. Wieweit dies die tatsächlichen Motivationen und Intentionen der Pisaner wiedergibt, ist
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Vgl. oben S. 108 ff. Vgl.oben S. 74 f. Grundsätzlich ist aber auch denkbar, daß die Situation geradezu umgekehrt war, daß das oben bemerkte Fehlen historischer Nachrichten die Konstruktion einer solchen symbolischen Vorgeschichte motiviert hat.
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Geschichtsschreibung
dabei zunächst unerheblich und kann auch gar nicht zweifelsfrei bestimmt werden.1 Es interessiert hier zunächst die Art, in der Zeitgeschichte gedeutet wird und das mit dieser Deutung verbundene funktionale Potential. Die Analyse der geschichtstheologischen Tiefenschicht im zweiten Schritt konnte dann eine Interpretation städtischer Geschichte aufdecken, die in dieser Zeit einzigartig ist. Der Text bindet die Expedition gegen al-Mahdlya durch eine zweifache typologische Verknüpfung in den Gesamtzusammenhang der Welt- bzw. Heilsgeschichte ein. Pisa erscheint hier einerseits als das neue Israel, von Gott auserwählt, seine Feinde zu vernichten. Parallel hierzu verläuft die Gleichsetzung mit Rom, Symbol militärischer Stärke, in christlicher Deutung aber ebenfalls von heilsgeschichtlicher Bedeutung. Pisa als neues Israel und neues Rom wird so in der Interpretation des Carmens zum zentralen Akteur der Heilsgeschichte. Das funktionale Potential einer solchen Geschichtsdeutung liegt auf der Hand: Schon an sich ist ein solcher Texte geeignet, den Ruhm Pisas zu vergrößern, da er die Erinnerung an den erfolgreichen Kriegszug bewahrt. Um so mehr gilt dies natürlich angesichts der skizzierten geschichtstheologischen Deutung der Ereignisse, die das Verdienst und die historische Rolle der Pisaner ins Unermeßliche steigert.
Eine Einschätzung von K. Schreiner umschreibt den Zusammenhang und die sich hieraus ergebenden Probleme ganz gut: „Geht es darum, politische und militärische Gegner ins Unrecht zu setzen, sind in den diesbezüglichen Beschreibungen Fakten und Fiktionen kaum voneinander zu trennen. Zu übertreiben, gebietet der höhere Zweck. Kommt es doch insbesondere darauf an, für Kriegsziele Legitimationsformeln zu finden, die bei den Betroffenen Begeisterung wecken. Kriegsverläufe zu schildern, ist nicht eine Sache abwägender Kritik und sorgfaltiger Prüfung. Je schlimmer die Greueltaten des Gegners, desto heller leuchtet die eigene Unbescholtenheit und Integrität" (SCHREINER: TEXTE, S . 7 )
Deutungen des Erinnerten
B. Der Liber
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Maiorichinus
Der Liber Maiorichinus de gestis Pisanorum illustribus1 ist mit 3526 HexameterVersen 2 der umfangreichste historiographische Text Pisas, der aus dem Untersuchungszeitraum erhalten ist. Auch diese Dichtung ist in der bisherigen Forschung eigentlich so gut wie gar nicht wahrgenommen worden. Zwar gibt es detaillierte Untersuchungen zu den Überlieferungsverhältnissen 3 und auch dieser Text wird immer wieder als Quelle für die ereignisgeschichtlichen Zusammenhänge der Balearen-Expedition herangezogen. 4 Eine eingehendere Analyse liegt jedoch bisher nicht vor. 5 Wie schon im Falle des Carmen steht auch im Mittelpunkt dieser Geschichtsdichtung eine kriegerische Unternehmung der Pisaner und ihrer Verbündeten gegen die Sarazenen, diesmal gegen die muslimisch beherrschten Balearen 6 : Die Dichtung beginnt mit einer ausführlichen Schilderung der Untaten, die von den Sarazenen der Balearen unter ihrem Herrscher Nazaredeolus ausgehen. Vor allem die Berichte über diese Greueltaten und die Klagen der christlichen Gefangenen veranlassen die Pisaner im Frühsommer 1113 eine Flotte auszurüsten. Noch vor Beginn der Flottenexpedition wird zunächst eine Delegation nach Rom entsandt, die vom Papst Kreuzzeichen und die Zusage der Sündenvergebung für die im Kampf Fallenden erhält. Unter Teilnahme von Verbündeten aus Lucca und Rom (Genua verweigert die Teilnahme) sticht die Flotte am Tag des hl. Sixtus (6. August) von der Arnomündung aus in See. Nach einem Zwischenstop auf Sardinien, wo sardische Kontingente hinzustoßen, landet die Flotte irrtümlicherweise zunächst an der katalanische Küste. Dort nehmen die Führer der Expedition Verhandlungen mit Graf Raimund Berengar III. von Barcelona auf, der sich den Pisaner zusammen mit südfranzösischen Kontingenten anschließt. Da ein erster Versuch, die Balearen zu erreichen, scheitert, überwintert die christliche Flotte zunächst auf dem Festland. Ein dort die Führer der Expedition erreichendes erstes Verhandlungsangebot des Balearen-Herrschers wird abgelehnt. Im folgenden Frühjahr (1114) sticht die Flotte erneut mit Kurs auf die Balearen in See. Sie landet zunächst auf Ibiza, dessen Hauptort belagert
Der Text wird zitiert nach der Ausgabe von C. Calisse: Liber Maiolichinus de gestis Pisanorum illustribus. Rom 1904 (=Fonti 29). Eine Neuedition des Textes durch G. Scalia ist angekündigt, vgl. jedoch schon heute dessen Kritik an der älteren Edition: S C A L I A : RIEDIZIONE CRITICA. Schon zuvor hatte Scalia den Titel des Werkes korrigiert (er liest statt ,Maio/ichinus' ,Maiorichinus'): S C A L I A : I N T O R N O AI C O D I C I , S . 2 5 6 . 2
Zur Metrik ausfuhrlich
3
S C A L I A : I N T O R N O AI C O D I C I , S C A L I A : RIEDIZIONE CRITICA.
4
S C A L I A : RIEDIZIONE CRITICA, S . 6 3 FF.
Vgl. etwa den Tagungsbericht
TREVISAN: LIBER MAIORICHINUS
und zuletzt
T A N G H E R O N I : SPEDI-
ΖΙΟΝΕ PLSANA. 5
6
Ansätze zu einer literaturwissenschaftlichen Beschäftigung findet man bei S C A L I A : O L I V E R I U S . Wie immer ist auch hier auf die - allerdings in diesem Fall sehr knappen - Ausführungen bei F I S H E R : PISAN C L E R G Y , S . 1 9 3 ff. zu verweisen. An vielen Stellen greift auch B O R D O N E : SOCIETÄ CITTADINA auf den Liber zurück, ohne sich jedoch eingehender mit der Quelle auseinanderzusetzen. Zum ereignisgeschichtlichen Hintergrund der Expedition T A N G H E R O N I : SPEDIZIONE PISANA, O R V I E TANI B U S C H : PISA, S . 1 3 9 - 1 4 4 , C E C C A R E L L I L E M U T / G A R Z E L L A : PIETRO, S . 9 1 FF.
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Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
und erobert wird. Auf Mallorca, das man nach dem Sieg über Ibiza ansteuert, stößt das Heer der Verbündeten trotz der Belagerungsmaschinen der Pisaner auf größeren Widerstand. Dennoch wird ein weiteres Verhandlungsangebot der Sarazenen abgelehnt. Die hierdurch entstehenden Spannungen innerhalb des christlichen Heeres können zunächst beigelegt werden. Am Ende des Jahres wird auf Mallorca das Winterlager errichtet. Da Versuche des Balearen-Herrschers, Unterstützung vom Festland heranzufuhren, scheitern, richtet dieser ein weiteres Verhandlungsangebot an die christlichen Belagerer. Als die Pisaner auch dieses ablehnen, kommt es erneut zu Konflikten innerhalb des christlichen Lagers. Doch auch diesmal können die Spannungen beigelegt werden. Nach dem (natürlichen) Tod des Herrschers der Balearen, Nazaredeolus, wird dessen Sohn Burabe König. Ein im Fmhling 1115 beginnender erneuter Sturmversuch der christlichen Belagerer ist erfolgreich: Die äußere Stadt wird erobert. Wiederum wird ein Kapitulationsangebot des Burabe abgelehnt. Durch einen letzten Angriff fällt auch der Rest der Stadt in die Hände der Christen. Burabe wird von den Pisanern gefangengenommen, sein von den Sarazenen eingesetzter Nachfolger Alante kann fliehen. Nach der Plünderung der besiegten Stadt setzen die Pisaner den Sohn des Burabe zum neuen Herrscher ein und kehren mit dem gefangenen Burabe nach Pisa zurück.
1. Autor und Entstehungszeit Wenngleich die Quellenlage in diesem Fall wesentlich besser ist und sich auch aus dem Text der Dichtung eine ganze Reihe von Indizien gewinnen lassen, die auf den Autor und die Entstehungszeit der Dichtung hindeuten, so ist auch hier zumindest was die Verfasserfrage angeht, bisher noch keine wirkliche Klarheit zu gewinnen. Obwohl sich in drei der vier erhaltenen bzw. überlieferten Handschriften des Textes 1 ein möglicher Hinweis auf den Verfasser findet, wird dieser heute in der Regel vollkommen außer acht gelassen. A m Ende dieser Handschriften heißt es: 2 „Laurentii Veronensis liber de bello Maioricano explicit. Tunc fiiit a Christo tecto velamine carnis centenus quintus decimus millesimus annus. ! " Die sich aus diesen Versen ergebende Zuweisung des Textes zu einem Laurentius V e ronensis oder Varnensis, der nach Ughelli Diakon des Pisaner Erzbischofs g e w e s e n sein soll, 4 wird vor allem zurückgewiesen, da sich in den Pisaner Quellen für die in Frage
1
Zu den Handschriften neben der Einleitung zur Edition Calisse ausfuhrlich
SCALIA: INTORNO AI
CODICI. 2
3
4
Liber Maiorichinus, S. 132, Anm. zu V. 3526. („Das Buch des Laurentius Veronensis über den Krieg auf Mallorca ist zu Ende. Damals war das 1115. Jahr seit Christus durch die Hülle des Fleisches bedeckt worden ist, [vergangen].") Nach Pisaner Stil endete die Expedition gegen die Balearen Ostern 1116. Entsprechend wird man hier eine ähnliche Datierungsweise vermuten können, wie sie auch später noch in den Pisaner Inschriften auftaucht. Genannt werden hier nur die vergangenen Jahre, so daß Pisaner Stil und Nativitätsstil - zumindest über weite Strecken - übereinstimmen. Vgl. unten S. 339, Anm. 1. Liber Maiorichinus, Ed. Ughelli, Sp. 897 f. Vgl. zu den verschiedenen Vorschlägen einer Identifizierung des Laurentius SCALIA: RIEDIZIONE CRITICA, S . 101 f. (vor allem S . 102, Anm. 1).
Deutungen des
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Erinnerten
kommende Zeit keine Person dieses Namens nachweisen läßt. 1 Im folgenden soll zunächst einmal die bis dato allgemein akzeptierte Argumentationslinie referiert werden, wobei schon jetzt gesagt sei, daß man dieser - wie kritisch man sie auch sehen mag bisher keine annehmbare Alternative entgegenstellen kann. a. Der Dichter In den Istorie di Pisa des Pisaner Kanonikers Raffaello Roncioni (*1553) 2 findet sich eine Identifizierung des Autors des Liber Maiorichinus, der in der Forschung großer Erfolg beschieden war. 3 Roncioni schreibt über seine Quelle für die Ereignisse der Balearen-Expedition: 4 „L'anno mille cinquecento novantasei, mi fiiron mostrati due autori che di Pisa hanno scritto, dal signor Cosimo Rossermi, giovine e nelle armi e nelle lettere valoroso: il primo e intitolato Majorchino, scritto da Enrico cappellano dell'arcivescovo di Pisa; ilo quale si trovö presente all'assedio ed alla presa di Mallorca fatta dai Pisani"
Die Quelle, auf die sich Roncioni hier bezieht, ist eindeutig die Pisaner Handschrift des Liber Maiorichinus. 5 In dieser fehlt zwar die oben erwähnte Nennung des möglichen Verfassers Laurentius, einen Hinweis auf einen Verfasser Namens Enrico sucht man aber auch dort vergeblich. Dennoch schenkt die Pisaner Forschung seit S. Marchetti (1893) der Angabe Roncionis mehr Vertrauen als dem handschriftlichen Befund der Codices. 6 Die entsprechende Argumentation beruht hierbei auf zwei Überlegungen. In erster Linie wird die Zuweisung zu einem Laurentius Veronensis abgelehnt, da ein Laurentius in der urkundlichen Überlieferung Pisas in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts nicht nachzuweisen ist. Auch die Ortsbezeichnung ,Veronensis', ,Varnensis' oder ,Vernensis' wird allgemein ausgeschlossen, 7 da es sich beim Autor des Textes um einen Pisaner handeln müsse. 8 Daneben ist es aber vor allem die Autorität des Roncioni, die zur Übernahme seiner Identifizierung führte. Wenngleich kein direkter Hinweis zu finden ist, wieso Roncioni gerade in einem Enrico cappellano den Dichter des Liber sah, geht man doch davon aus, daß Roncioni zu seiner Zeit entsprechende Dokumente vorliegen hatte,
1
M A R C H E T T I : V E R O A U T O R E , S . 2 6 8 f f . , S C A L I A : R I E D I Z I O N E CRITICA, S . 1 0 5 f .
2
Z u R o n c i o n i L O N A R D O : A N N O DI N A C I T Ä .
3
Einen Überblick über die ältere Forschung bietet SCALIA: RIEDIZIONE CRITICA, S. 101 ff.
4
R O N C I O N I : ISTORIE DI P I S A , S .
5
Dies ergibt sich schon aus seiner Paraphrase der Quelle. Sicher ist auch, daß der Pisaner Codex des Liber im Besitz Roncionis war (heute in der Biblioteca Universitaria di Pisa, Ms. 723, ehemals Ms. Roncioni 87) und daß dieser ihn von der Familie Rosselmi erhalten hat. Vgl. zur Provenienz des Pi-
100.
s a n e r C o d e x ' SCALIA: INTORNO AI CODICI, S. 2 4 3 f. 6
MARCHETTI: V E R O AUTORE.
7
V g l . z u d e n v e r s c h i e d e n e n V o r s c h l ä g e n SCALIA: RIEDIZIONE CRITICA, S. 1 0 1 f.
8
S C A L I A : R I E D I Z I O N E CRITICA, S . 1 0 2 f .
158
Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
die man für heute verloren hält.1 Die abweichenden Angaben in den übrigen Handschriften fuhrt man auf einen Fehler des Kopisten oder eine bewußte Verfälschung zurück.2 Das Grundproblem liegt darin, eine Erklärung für die Behauptung Roncionis zu finden, also zu bestimmen, woher Roncioni seine Information hatte. Eine Suche nach entsprechenden Dokumenten in der reichen Handschriftensammlung Roncionis ist jedoch bisher ohne Ergebnis geblieben.3 Doch glaubt man Hinweise auf die Richtigkeit dieser Zuweisung im Text des Liber Maiorichinus selbst gefunden zu haben. Es kann als sicher gelten, daß der Dichter des Liber selbst Teilnehmer der BalearenExpedition war. Nur so läßt sich die ungewöhnlich detailreiche Darstellung der Vorgänge erklären.4 Ferner wird die weitere Analyse des Textes mehr als plausibel machen können, daß der Dichter Geistlicher war. Unter den vielen im Liber erwähnten Klerikern ist jedoch kein Laurentius erwähnt, wohl aber ein Henricus. An einer für den Verlauf der Expedition zentralen Stelle erscheint die Vision des Pfarrpriesters Henricus:5
1
MARCHETTI: VERO AUTORE, S . 3 0 7 : „L'affermazione del Roncioni e piü antica e piü autorevole dell'affermazione dell'Ughelli: quella infatti si appoggia di necessitä a qualche document®, che altrimenti non si concepirebbe come mai il Roncioni potesse assorgere alia conoscenza dell'autore, di cui nel suo codice non ritrovava il nome: questa invece riposa tutta, manifestamente, ο sopra un errore ο sopra un'impostura relativamente recenti." Hätte er keine entsprechenden Dokumente vorliegen gehabt, so sei er „uomo da confessare ingenuamente la propria ignoranza" gewesen (ebd., S. 308).
2
MARCHETTI: V E R O AUTORE, S. 305, SCALIA: RIEDIZIONE CRITICA, S . 103. Die von einigen Autoren vorgeschlagene Lösung, in Enrico den Verfasser des Textes, in Laurentius aber den Urheber der zweiten, überarbeiteten Fassung zu sehen (so zuerst NOVATI: INFLUSSO, S. 195), konnte von G. Scalia widerlegt werden (SCALIA: RIEDIZIONE CRITICA, S. 91, vgl. auch ebd. die ausführliche Analyse der Unterschiede zwischen beiden Fassungen).
3
SCALIA : RIEDIZIONE CRITICA, S. 1 0 5 .
4
So schon SCALIA: OLIVERIUS, S. 296 Anm. 31. Liber Maiorichinus, Vv. 3165 ff. („Der Pfarrpriester Henricus sah, als die Nacht nahe war, in einem prophetischen Traum die kommenden Glücksfälle. Eine Stimme ließ den Mann folgendes vernehmen: ,Höre! Die Sterne wollen, daß Pisa heute von der Stadt zurückgedrängt wird. Morgen zur Abendzeit aber wird das lorbeertragende Volk der Alpheer nach dem Willen Gottes in die Stadt eindringen.' Dies sagte dem Bruder der Verstorbene voraus und sprach: ,Fürchte dich nicht, ich komme als dein Gefährte mit dir in die Schlacht.'") Vgl. zur Stelle ausführlich unten S. 171.
5
159
Deutungen des Erinnerten „Presbiter Henricus plebanus nocte propinqua Somnia leticie vidit presaga future. Talis facta viro vox auribus: «Accipe», dixit, «Astra volunt hodie Pisanos urbe repelli, Cras vespertinis horis intrabit in urbem Lauriger Alpheus populus 1 pro velle Tonantis.» Hoc et idem 2 monuit fratrem defiinctus, et inquit: «Nec timeas, veniam socius per prelia tecum»." Für die Vermutung, daß eben dieser Henricus
plebanus
der gesuchte Autor des Liber
ist, spricht die auch i m Mittelalter zumindest in rhetorischer Tradition noch präsente Vorstellung des Dichters als Seher, 3 z u d e m ist festzustellen, daß alle i m Text des Liber v o r k o m m e n d e n Kleriker mit e i n e m s c h m ü c k e n d e n Epitheton belegt werden: Einzig im Falle der Erwähnung des Henricus - der übrigens nur an dieser Stelle erscheint - fehlt ein solches. 4 Hätte der Dichter sich selbst lobend in Erinnerung gebracht? Schließlich ist auch eine Veränderung im Text der Prophezeiung des Henricus aussagekräftig. S o heißt es in der überarbeiteten Fassung: 5 „Presbiter Henricus plebanus luce sub ista Letitie didicit presagia cuncta future. Talis facta viro vox auribus: «Accipe», dixit, «Astra volunt hodie Pisanos urbe repelli. Cras vespertinis horis intrabit in urbem Plurima passa manus vincens pro velle Tonantis.» Hoc et idem Karoli defuncti spiritus inquit Fratri: «Ne timeas, venient ad prelia sancti, Innumerique aderunt subeuntes menia tecum, Telaque non poterunt tibi me comitante nocere.»"
2
Gemeint sind die Pisaner. Die Lesart folgt hier gegen die Edition Calisse dem Vorschlag Scalias, vgl.
S C A L I A : RIEDIZIONE
CRITICA, S . 5 8 f. 3
Z u e r s t betont v o n MARCHETTI: VERO AUTORE, S. 312 f. Vgl. z u r V o r s t e l l u n g d e s D i c h t e r - S e h e r s in
der römischen Antike N E W M A N : C O N C E P T . Gegen eine solche Interpretation ist einzuwenden, daß es etwa in der karolingischen Historiographie vor allem Heilige sind, die durch ihre Vorhersage kommender Siege Entscheidungen herbeifuhren (vgl. S C H A R F F : K Ä M P F E DER H E R R S C H E R , S . 4 5 ff.). Ist es wahrscheinlich, daß sich der Dichter selbst so darstellte? 4
FISHER: PISAN CLERGY, S . 1 9 5 .
5
Zitiert nach S C A L I A : RIEDIZIONE CRITICA, S. 5 7 f. („Bei Tagesanbruch empfing der Pfarrpriester Henricus Weissagungen aller kommenden Glücksfälle. Er hörte eine Stimme, die folgendes sagte: ,Höre! Die Sterne wollen, daß Pisa heute von der Stadt zurückgedrängt wird. Morgen zur Abendzeit aber wird, nachdem sie vieles erlitten hat, die siegreiche Schar nach dem Willen Gottes in die Stadt eindringen.' dies sagte dem Bruder der Geist des verstorbenen Karolus: ,Fürchte dich nicht. Die Heiligen werden in die Schlacht mitkommen, unzählig werden sie zur Hilfe sein und mit dir die Mauern erklettern und die Geschosse können dich nicht verletzen, wenn ich dich begleite.'") Ebd. auch ausführlich zur Beziehung zwischen den Fassungen.
160
Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
Von den anderen Änderungen einmal abgesehen fallt vor allem die namentliche Nennung des verstorbenen Bruders des Henricus, Karolus, auf. Sie wäre zu erklären, wenn man in Henricus tatsächlich den Verfasser des Liber Maiorichinus sieht, der so die Erinnerung an seinen verstorbenen Bruder bewahrt hätte.1 Im Gegensatz zu Laurentius Veronensis ist der Pfarrpriester Henricus schließlich in den Pisaner Quellen gut dokumentiert.2 Dieser erscheint seit 1108 als Priester und Angehöriger des Pisaner Domkapitels, wo er um 1130 das Amt des Custos übernimmt. Seit 1116 ist er Pfarrpriester (plebanus) in Calci nahe Pisa. Zum letzten Mal wird er in einem Dokument von 1134 erwähnt, so daß man schließen kann, daß er kurz nach diesem •y
Datum verstorben ist. Man wird zwar gerade vor dem Hintergrund des Befunds der Mehrzahl der Handschriften, die den Text ja alle einem Laurentius zuschreiben, gerechtfertigte Zweifel an der Stichhaltigkeit der hier referierten Identifizierung des Dichters mit Henricus äußern können. Doch gibt es beim derzeitigen Kenntnisstand keine wirkliche Alternative zu einer solchen Zuschreibung. Andererseits wird man der Frage, ob der Autor des Libers Laurentius oder Henricus hieß, auch gar nicht so große Bedeutung zumessen müssen, da dies nur wenig zum Verständnis der Dichtung und des Entstehungszusammenhanges beitragen würde.4 Gleich wie man sich hier entscheidet, einige Kernpunkte lassen sich in jedem Fall festhalten: Sicher ist, daß ein Pisaner Kleriker, der an der Balearen-Expedition teilnahm, den Text verfaßt und später noch einmal überarbeitet hat. Wahrscheinlich ist ferner, daß dieser Dichter Angehöriger des Pisaner Domkapitels war bzw. diesem doch zumindest nahestand.5 Nachdem schon im Falle des Carmen in victoriam Pisanorum Hinweise zu finden waren, daß dessen Dichter Angehöriger des Domkapitels war, verdichten sich so die Indizien, die auf eine fuhrende Rolle des Pisaner Kathedralklerus innerhalb der Erinnerungskultur der Stadt verweisen.
1
SCALIA: RIEDIZIONE CRITICA, S . 1 0 7 .
2
Z u r P e r s o n z u l e t z t CECCARELLI LEMUT: ENRICO.
3
Z u d e n B e l e g e n a u s f u h r l i c h SCALIA: RIEDIZIONE CRITICA, S. 1 0 7 f f .
4
S o a u c h s c h o n FISHER: PISAN CLERGY, S. 195.
5
SCALIA: OLIVERUS, S. 299. Dies ergibt sich aus der großen Vertrautheit, die der Dichter im Text mit den übrigen Angehörigen des Pisaner Kapitels beweist. Hinweis hierauf mag auch sein, daß eine heute nicht mehr erhaltene bzw. nicht mehr aufzufindende Handschrift des Liber Maiorichinus am Ende des 14. Jahrhunderts in der Bibliothek des Pisaner Domkapitels nachzuweisen ist. So heißt es in einem Inventar der Bibliothek von 1394: „CXXV'. Librum qui vocatur ,Maiorichinus' in quo est Liber Maiorichinus, Vocatus Calculatio Grecorum et Kalendarium in quo sunt scripta nomina benefactorum. Et incipit in secundo folio: adducunt, et finit in penultimo: occulorum sensit (Inventarii della Biblioteca Capitolare, S. 142). SCALIA: INTORNO AL CODICI, S. 264 vermutet mit P. Pecchiai, daß es sich bei dieser Handschrift um das Autograph der Dichtung handelte, das in der Bibliothek des Domstifts aufbewahrt wurde.
Deutungen
des
161
Erinnerten
b. Datierung Bleibt die Suche nach dem Autor des Liber weitgehend auf Vermutungen angewiesen, so gibt es einige Hinweis auf die Datierung des Textes.1 Zunächst ist - wie auch schon im Falle des Carmen in victoriam Pisanorum - aufgrund des großen Detailreichtum der Darstellung eine Entstehung des Textes allzu lange nach dem Ende der Expedition auszuschließen. Ein terminus post quem könnte sich aus der Art ergeben, in der der Pisaner (Erz-)bischof Petrus im Text erwähnt wird.3 An mehreren Stellen wird dieser im Text in der zweiten Person angeredet. C. B. Fisher hat plausibel gemacht, daß der Autor nur solche Personen in dieser Weise anspricht, die zur Zeit der Abfassung des Textes schon verstorben sind.4 Entsprechend wird man davon ausgehen können, daß Petrus zum Zeitpunkt der Entstehung des Textes schon nicht mehr lebte. Hierauf deuten auch die ansonsten ungewöhnlichen Epitheta hin, die der Verfasser dem Erzbischof zuweist.5 Da Erzbischof Petrus zwischen März und September 1119 gestorben ist,6 ergibt sich fur die Entstehung des Liber das Jahr 1119 als terminus post quem. Ein terminus ante quem läßt sich laut Scalia aus der Erwähnung des Diakons Obertus gewinnen.7 Im Text heißt es im Anschluß an eine Rede des Pisaner Erzbischofs Petrus:8 „Flos levitarum vir nobilis et bene earns Ista satis melius querenti narret Obertus."
Als Diakon des Domkapitels ist Obertus in den Pisaner Quellen seit 1108 nachzuweisen.9 Zwischen 1125 und 1126 wird dieser Obertus, der später Erzbischof von Pisa wird, zum Kardinalpriester von San demente ernannt.10 Da der Verfasser des Liber Maiorichinus ansonsten immer präzise die Würde bzw. das Amt der von ihm erwähnten Kleriker angebe, könne man laut Scalia schließen, daß der Text vor der Ernennung des 1
2
Angesichts der Unsicherheit der Identifizierung des Verfassers verbietet es sich, biographische Daten des Henricus zur Datierung des Textes heranzuziehen. Mit Blick auf Detailreichtum und Zuverlässigkeit der Angaben hat man den Liber Maiorichinus eine ,Chronik in Versen' genannt (BANTI: CARATTERI, S. 487). Sicher ist, daß der Liber Maiorichinus vor der Mitte des 12. Jahrhunderts entstanden ist, da aus dieser Zeit der Pisaner Codex, die älteste erhaltene Handschrift des Textes stammt (zu dieser ausfuhrlich SCALIA: INTORNO AI CODICI, S . 244 ff.).
3
Z u d i e s e m V I O L A N T E : C R O N O T A S S I , S . 3 1 f f . u n d CECCARELLI L E M U T / G A R Z E L L A : PIETRO.
4
FISHER: P I S A N C L E R G Y , S .
197.
5
FISHER: P I S A N C L E R G Y , S .
197.
6
Z u d i e s e m VIOLANTE: CRONOTASSI, S. 3 1 ff.
7
S C A L I A : O L I V E R U S , S . 2 9 9 f.
8
Liber Maiorichinus, V. 852 f. („Die Zierde der Diakone, der edle und äußerst geschätzte Obertus könnte dies dem, der danach fragt, besser schildern.")
9
V g l . d i e B e l e g e b e i SCALIA: OLIVERUS, S . 2 9 9 ff.
10
Die Identität, die schon Scalia vermutete, belegt TIRELLI: NOTE, S. 683. Zu Oberto/Uberto auch VIOLANTE: CRONOTASSI, S . 3 9 ff.
162
Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
Obertus zum Kardinalpriester entstanden ist, also vor 1126/27.' Die erste Fassung des Textes wäre so zwischen 1119 und 1126/27 zu datieren. Auch die Überarbeitung des Textes, die, wie Scalia nachgewiesen hat, vom gleichen Verfasser stammt, läßt sich eventuell etwas näher eingrenzen. Unter den im Text erwähnten Angehörigen des Pisaner Domkapitels ist auch der Vicedominus Gratianus.2 Dieser wird erst in der überarbeiteten Fassung in der zweiten Person angeredet,3 was ja nach Fisher Anzeichen dafür ist, daß er verstorben ist.4 Man wird so mit Fisher schließen dürfen, daß Gratianus zwischen dem Abschluß der ersten Fassung und deren Überarbeitung verstarb.5 Da Gratianus zuletzt 1130 in den Pisaner Quellen nachzuweisen ist, könnte die zweite Fassung des Liber nach 1130 entstanden sein.6 All diese Hypothesen - um mehr handelt es sich nicht - basieren jedoch auf der Annahme, daß der Dichter bei der Erwähnung der jeweiligen Personen die von Slcalia und Fisher beobachteten Muster befolgt hat.7 Gerade bei der Datierung nach den Titeln bzw. Würden der Geistlichen ist jedoch nicht endgültig zu klären, ob der Dichter hier nicht doch historisch gedacht hat, ob er den Personen also nicht einfach nur die Titel zugewiesen hat, die sie zum Zeitpunkt der Expedition hatten. Für eine solche Vermutung spricht, daß der Pisaner Bischof Petrus, der seit 1118 den Erzbischof-Titel führte 8 - also nach übereinstimmender Meinung vor der Abfassung des Liber Maiorichinus im Text niemals als Erzbischof bezeichnet wird, sondern stets nur als presul oder pontifex\ Man wird die referierten Argumentationen also mit einer gewissen Vorsicht betrachten müssen. Hinsichtlich der Verfasser- und Datierungsfrage des Liber Maiorichinus steht man auf eher unsicherem Boden. Als sicher kann angesehen werden, daß der Verfasser der Dichtung ein Pisaner Kleriker war, der an der Expedition teilnahm und möglicherweise Angehöriger des Pisaner Domkapitels war. Ob dieser Laurentius oder Henricus hieß, ist nicht endgültig zu entscheiden, wobei doch einige Indizien - gegen die handschriftli1
2 3
Gerade mit Blick auf eine mögliche Datierung der Überarbeitung des Liber Maiorichinus wird man sich aber fragen müssen, wieso die entsprechende Erwähnung des Obertus in dieser Fassung nicht verändert worden ist. Gleiches gilt für den nicht erwähnten Wechsel des Bischofs von Volterra (Liber Maiorichinus, V . 3 1 1 6 f.) auf den Pisaner Erzbischofssitz 1 1 2 3 (VIOLANTE: CRONOTASSI, S. 38 f.). Zu diesem mit reichen Quellenbelegen SCALIA: RIEDIZIONE CRITICA, S . 93 f., Anm. 3. Liber Maiorichinus, V. 2092 bzw. die entsprechende Überarbeitung im textkritischen Apparat ebd.
4
FISHER: PISAN CLERGY, S . 1 9 7 .
5
FISHER: PISAN CLERGY, S . 1 9 8 .
6
Diese Datierung wird bei gleicher Argumentation durch die überarbeitete Erwähnung des Bischofs von Volterra gestützt, vgl. FISHER: PISAN CLERGY, S . 1 9 8 Anm. 1 7 4 und VIOLANTE: CRONOTASSI, S . 3 8 f. Eine Abweichung von dem von Fisher formulierten Prinzip war schon diesem selbst aufgefallen: Die Anrede des Pisaner Bischof Petrus in der zweiten Person wird in der Überarbeitung an einer Stelle durch den Dichter in die dritte Person umgewandelt (vgl. FISHER: PISAN CLERGY, S. 1 9 7 Anm. 170). Ganz so streng wird dieser sein , System' wohl doch nicht angewandt haben.
7
8
CECCARELLI LEMUT / GARZELLA: PIETRO, S . 9 3 .
Deutungen
des
Erinnerten
163
chen Befunde - eher für den Plebanus von Calci Henricus sprechen. Gleiches gilt für die Datierung. Auch hier ist sehr wahrscheinlich, daß der Text bzw. beide Fassungen des Textes nicht allzu lange nach der Rückkehr der Pisaner Flotte entstanden sind. 2. Die zeitgeschichtlichen Ereignisse Der Liber Maiorichinus ist im gleichen Sinne Stadtgeschichtsschreibung, wie dies oben schon für das Carmen in victoriam Pisanorum festgestellt wurde. Auch dieser Text entstand in städtischem Umfeld, auch hier steht das Handeln der Pisaner Stadtgemeinschaft im Mittelpunkt. Wie das Carmen in victoriam Pisanorum ist auch der Liber Maiorichinus durchdrungen vom Stolz auf die Leistungen der Pisaner. Dies zeigt schon der Beginn der Dichtung. Auch hier wird der Anteil, den die Pisaner an der Expedition hatten, deutlich akzentuiert, wenn nicht gar überbewertet. Obwohl der Text explizit erwähnt, daß das Pisaner Expeditionsheer durch eine ganze Reihe von Verbündeten unterstützt wurde, stehen im Mittelpunkt der Dichtung die Leistungen des Populus Pisanus, wie es schon die ersten Verse programmatisch verkünden: 1 „Pisani populi vires et bellica facta Scripsimus ac duros terre pelagique labores, Maurorum stragem, spoliata subactaque regna."
Wie weit diese .patriotische' Grundstimmung der Dichtung geht, ist von vielen Seiten betont worden. 2 Ziel der Darstellung des Liber Maiorichinus ist die Verherrlichung der Leistungen Pisas im Kampf gegen die heidnischen Sarazenen der Balearen. Diese äußerst subjektive Sicht der historischen Ereignisse wird weiter unten noch beschäftigen. 3 Auch im Liber Maiorichinus finden sich zudem klare Niederschläge der Kreuzzugsidee. 4 So wird auch die Expedition gegen die Balearen als ausschließlich religiös moti-
1
Liber Maiorichinus, V. 1 ff. („Die Streitkräfte und die kriegerischen Taten des Pisaner Volkes, ihre schweren Anstrengungen zu Land und auf dem Meer haben wir beschrieben, die Vernichtung der Mauren, die Plünderung und Unterwerfung ihrer Reiche.") Gerade dieser starke Akzent auf den Verdiensten der Pisaner wird in der Überarbeitung des Textes etwas zurückgenommen. Vgl. SCALIA: RIEDIZIONE CRITICA, S. 48 ff. Diese zweite Bearbeitungsstufe kann hier jedoch stets nur am Rande berücksichtigt werden.
2
V g l . e t w a a u s f u h r l i c h FISHER: P I S A N C L E R G Y , S . 1 9 8 f f . , z u l e t z t T A N G H E R O N I : SPEDIZIONE PISANA,
3
Vgl. unten S. 183 ff. Die zentralen Aspekte, die sich daraus ergeben, daß die meisten mittelalterlichen Werke der Geschichtsschreibung institutionenbezogen sind, hat GOETZ: GESCHICHTSSCHREIBUNG, S. 336 ff. und S. 381 ff. herausgestellt. Aus der Identifikation mit der Institution ergibt sich zwangsläufig eine Parteinahme für diese und die Überzeichnung des Anteils, den diese an der Geschichte hatte (ebd., S. 345).
4
So sieht etwa M. Tangheroni auch hier einen Niederschlag der Diskussion um den gerechten Krieg, denkt in diesem Fall aber vor allem an den entsprechenden Beitrag Bernhards von Clairvaux
S. 2.
( T A N G H E R O N I : SPEDIZIONE PISANA, S . 9 f . ) .
164
Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
viert angesehen.1 Kein Zweifel wird daran gelassen, daß die Pisaner aus Liebe zu Gott und den christlichen Gefangenen der Sarazenen die Strapazen der Überfahrt und des Kampfes auf sich nehmen. Wieder sind es die vielen christlichen Gefangenen und die Bedrohung der christlichen Küsten, die die Pisaner zum Einschreiten veranlaßt haben.2 Ähnlich wie im Carmen heißt es dann auch hier:3 „Cuius [sc. dei] amore suos cognatos, atque parentes, Divitias, patriam Pisani deseruere."
Zwar liegen für die Balearen-Expedition keine ähnlich negativen Zeugnisse vor, wie das des Gaufredus Malaterra zu den Kämpfen in al-Mahdlya. Doch wird auch hier der schon angesprochene schlechte Ruf der Pisaner mit dazu geführt haben, daß sich der Dichter - vielleicht aber auch schon die Führer der Expedition selbst - große Mühe gab, den Angriff auf die Balearen religiös zu motivieren.4 Die Gründe hierfür sind die gleichen, die schon für das Carmen in victoriam Pisanorum herausgearbeitet worden sind: Ein Text, der herausstellt, daß Pisa selbstlos für die Christenheit eintritt, ist geeignet Ruhm und Würde der Stadt zu vergrößern. Gerade auch im Innern der Stadtgemeinschaft ist eine solche Deutung der Stadtgeschichte als Baustein zu einer Selbststilisierung von großem Nutzen. Ein Selbstbild, das sowohl militärische und politische Stärke als auch ethische Überlegenheit umfaßt, ist ein geeignetes Identifikationsangebot an eine Stadtgesellschaft, die noch durch die Zusammenarbeit von städtischer Kirche und Kommune bestimmt ist. 3. Geschichtsbild und Geschichtstheologie Auch im Liber Maiorichinus wird die schon in den oben zitierten Eingangsversen erkennbare Stoßrichtung durch einen (geschichts-)theologischen Subtext unterstützt. Der Pisaner Kleriker verfolgt so mit seiner Dichtung unter Rückgriff auf sein theologisches Wissen letztlich wiederum die Interessen der gesamten Stadt. Die Analyse dieser immanenten Geschichtstheologie füllt auch hier eine Lücke in der Forschung. Wie schon im Fall des Carmen kann man auch für die entsprechende Analyse des Liber Maiorichinus auf keine nennenswerten Vorarbeiten zurückgreifen, da auch dieser Text bisher ausschließlich als Quelle für die geschilderten Ereignisse genutzt wurde. Hieran ändern auch die grundlegenden und verdienstvollen Arbeiten von G. Scalia nichts, die die Basis für eine literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Text gelegt haben.5
1
2 3
4 5
Die Auseinandersetzung um die Motive der Pisaner wird allerdings auch in die Darstellung des Liber selbst hineingetragen. Vgl. unten S. 183 ff. Vgl. Liber Maiorichinus, Vv. 5 ff. Liber Maiorichinus, Vv. 158 f. („Aus Liebe zu Gott haben die Pisaner ihre Verwandten und Eltern, ihren Reichtum und ihr Vaterland verlassen.") Vgl. Carmen, Vv. 43 ff. (wie oben S. 125). Vgl. oben S. 125 f. Vgl. die Übersicht über die ältere Literatur oben S. 155, Anm. 3 ff.
Deutungen
des
Erinnerten
165
a. Der Ordo temporis Anders als im Carmen kommt den historischen und biblischen Vergleichen im Liber keine größere Bedeutung zu. Die besonderen Qualitäten der Pisaner werden im Liber auf andere Weise herausgestellt. Einer der Wege, die hierbei beschritten werden, liegt im Entwurf einer Zeit-Ethik: Die Darstellung der zeitgeschichtliche Ereignisse und des Verhaltens der beteiligten Pisaner liest sich wie eine Parabel über den rechten Umgang mit der Zeit. Hierbei belegt gerade die Art, wie die Pisaner mit ihrer Zeit und vor allem der göttlichen Zeitordnung umgehen, deren Vorbildlichkeit. Einmal mehr liegt hier ein zwar spezifisch klerikaler, ein theologischer Blick auf die Zeitgeschichte vor, der aber doch in seinem Ziel eng mit der Stadtgemeinschaft verbunden ist, da er auf deren Glorifizierung ausgerichtet ist. Ein Schlüssel zur Interpretation des Liber Maiorichinus liegt in einer Art Exkurs, in dem die theologischen Grundgedanken zum Zeitverlauf und vor allem zum Verhältnis zwischen Gott und Zeit dargelegt werden. Dieser Zeit-Exkurs (Vv. 146-159) knüpft an die Schilderung der Aufstellung der Kriegsflotte durch die Pisaner an. Jedes Schiff und jeder Truppenteil, so erfährt man, haben ihr Erkennungszeichen erhalten, wodurch die Orientierung im Kampf erleichtert werden sollte. 1 Diesen Glauben an die technische Seite der Kriegsführung nimmt der Autor zum Anlaß, auf die menschliche Ohnmacht in der Geschichte hinzuweisen: 2 „Istorum virtus 3 , populis bene nota Latinis, Credidit ad bellum facili conducere cursu Agmina. Decipiunt mortalia pectora eure Consiliis hominum quoniam fortuna repugnat."
Das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten sei unbegründet, so heißt es, da es am Ende doch Fortuna ist, die den Gang der Ereignisse entscheidet. Doch der weitere Zusammenhang der Passage zeigt, daß Fortuna hier nicht das blinde Schicksal, Symbol der Unbeständigkeit alles Irdischen ist. Sie ist hier Sinnbild des göttlichen Planens, der sich nicht durch das Wollen oder die Taten der Menschen beirren läßt. Denn - so heißt es 1
Liber Maiorichinus,
Vv. 144 f.:
„Et dantur ratibus certissima signa quibusque. At vexiliferi per turmas atque cohortes."
1
3
(„Und allen Schiffen wurden ihre fgestgelegten Zeichen gegeben und den Einheiten der Reiter und Fußsoldaten ihre Bannerträger.") Liber Maiorichinus, V v . 146 ff. ("Die Führer des Heeres, die den lateinischen Völkern wohl bekannt waren, glaubten, die Scharen der Kämpfer auf leichtem Weg in den Krieg zu fuhren. Doch all ihr Planen täuscht die Herzen der Sterblichen, denn Fortuna durchkreuzt die Ratschlüsse der Menschen") Die jüngere Fassung R/B ergänzt noch: „Quodque putat quisquam (B: quisque) vix perficietur ab ipso" ("Was immer auch jemand plant, wird schwerlich von ihm selbst vollbracht"). Istorum virtus ist hier metonymisch aufgefaßt; eine vergleichbare Figur im Liber auch in Vv. 2483 ff., ,Rome potestas' für Rom bzw. das römische Reich, bzw. V. 953 ,Pisanus honor' für Pisa bzw. die Pisaner.
166
Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
weiter - auch den Untaten der Bösen hat Gott ein feststehendes Ende gesetzt, das der Mensch nicht beeinflussen kann:1 „Atque malis factis alicujus ponere finem Ante suum tempus non vult divina voluntas."
Die Erkenntnis, daß allen Dingen im göttlichen Heilsplan ein Zeitpunkt gesetzt ist, wird dann in poetischer Weise ausgeführt:2 „Temporibus sata quaeque virent, et temporis albent Articulo, cunctis data sunt sua tempora rebus. Temporis ordo monet, naturae postulat usus, Ne, nisi maturi, rapiantur ab arbore fructus."
Der Blick auf den Bereich der Natur, die Ordnung der Jahreszeiten, die den Pflanzen die jeweiligen Zeiten für Wachstum und Reife bestimmt, erweist, daß allen Dingen ihre Zeitpunkte bzw. Termine gesetzt sind. Doch bleibt kein Zweifel, wer letztlich der Herr der Zeiten ist, dem auch dieser usus naturae unterworfen ist und auf den der ordo temporis zurückgeht:3 „Sed Domino, qui cuncta potest, sunt subdita queque, Et quodcunque bonum nutu distinguitur eius, Cuius amore suos cognatos, atque parentes, Divitias, patriam Pisani deseruere."
1
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Liber Maiorichinus, Vv. 150 f. („Und der göttliche Wille erlaubt nicht, daß irgendjemandes bösen Taten vor dem von ihm festgesetzten Termin ein Ende gesetzt wird.") Liber Maiorichinus, Vv. 152 ff. („Jede Saat grünt zu ihrer Zeit und reift zu ihrer Zeit. Allen Dingen sind ihre Zeiten gegeben. Die Ordnung der Zeit erfordert, der Brauch der Natur verlangt, daß die Früchte nicht vom Baum gepflückt werden, bevor sie reif sind.") Liber Maiorichinus, Vv. 156 ff. („Doch dem Herrn, der alles vermag, sind alle Dinge unterworfen, und ein jedes Gute wird durch den Willen dessen beschieden, dem zuliebe die Pisaner ihre Verwandten und Eltern, ihren Reichtum und ihr Vaterland verlassen haben.") Diese Rückführung des usus naturae auf die divina voluntas findet eine Parallele etwa auch bei Petrus Damiani (10071072). Dieser schreibt in De divina omnipotentia über das Verhältnis von lex oder necessitas naturae (was dem usus naturae des Liber Maiorichinus entspricht) und der voluntas Dei: ,,Quid ergo mirum est si is qui naturae legem dedit et ordinem, super eamdem naturam sui nutus exerceat ditionem, ut ei naturae necessitas non rebellis obsistat, si ejus substrata legibus, velut ancilla deserviat." (Petrus Damiani: De divinna omnipotentia, Sp.612 C). Und dann heißt es kurz und bündig: ,Jpsa quippe rerum natura habet naturam suam, Dei scilicet voluntatem" (ebd.). Eben dies drückt auch der Zeit-Exkurs des Liber aus. Es ist sicherlich eine Überlegung wert, ob die hier aufscheinende Spannung zwischen dem usus naturae, der stabilen Ordnung der Welt und der Allmacht Gottes, „dem alle Dinge unterworfen sind", eine Thematik spiegelt, die auch die zeitgenössische P h i l o s o p h i e diskutiert hat. Vgl. CHENU: NATURE (hier v o r a l l e m Kapitel 2), RABY: NUDA NATURA, z u l e t z t d i e S y n t h e s e n v o n GREGORY: N A T U R u n d SPEER: N A T U R .
Deutungen des Erinnerten
167
Genau dieser Gedanke findet sich dann noch einmal an anderer Stellen in der Dichtung wieder. So weiß der Pisaner Konsul Azzo: 1 „«Quod Domini nutu disponitur, a ratione Funditus humana cognoscitur esse remotum. [...] vis est ea nempe Tonantis, Nam pro velle suo mundanos destinat actus, Arbitrioque pio causa dominatur in omni.»"
Man kann diese Ausführungen als einen Schlüssel zum Verständnis des ganzen Liber Maiorichinus ansehen. Dem Text liegt die Überzeugung zugrunde, daß allen Dingen von Gott ihre Zeiten zugewiesen sind und - als Konsequenz daraus - daß der Mensch gut daran tut, sich diesem göttlichen Zeitplan zu unterwerfen. Für die Deutung der zeitgeschichtlichen Ereignisse hat dieser theologische Gedanke zwei Konsequenzen. Auf der einen Seite werden die Protagonisten des Liber an der hier aufgestellten Forderung nach Unterwerfung unter den göttlichen Plan gemessen. Recht zu handeln bedeutet, sich demütig dem göttlichen Plan zu fügen, die Zeichen des Heilsplans zu suchen und ihnen gemäß zu agieren. Daß sich hierbei in der Sicht des Liber die Pisaner besonders hervortun, verweist wiederum auf die Grundhaltung der Dichtung. Daneben hat die Überzeugung von einer Planhafitigkeit der irdischen Geschichte eine weitere Konsequenz für die Deutung der zeitgeschichtlichen Ereignisse im Liber. Gelingt es, das Handeln der Christen bzw. vor allem der Pisaner als in Übereinstimmung mit dem göttlichen Heilsplan zu erweisen, so zeigt sich hieran wieder, was schon der Dichter des Carmen beweisen wollte: Die Pisaner sind von Gott auserwählt, sie sind Werkzeug seiner Geschichte, der Geschichte des Heils. Konflikte um den Zeitplan der Expedition Der Zeitexkurs des Liber scheint zum Teil eine direkte Antwort auf Konflikte zu sein, die während der Expedition im christlichen Heer aufgetreten sind. Der im Frühjahr 1113 geplante und im August des gleichen Jahres begonnene Kriegszug gegen die Balearen hat deutlich mehr Zeit in Anspruch genommen, als man in Pisa und in den Lagern der Alliierten vermutet hatte. So ist diese Expedition mit nahezu zwei Jahren die längste der dokumentierten kriegerischen Unternehmungen der Pisaner im Mittelmeer. Die sich daraus offensichtlich ergebenden Probleme spiegeln sich auch in der Darstellung. Nachdem die Flotte der Pisaner und ihrer Verbündeten vom Kurs abgekommen war und nach einer ersten Landung versehentlich die christlichen Bewohner der katalanischen Küste attackiert hatte, 2 kommt es zu einer ersten Meuterei im christlichen Lager: 1 1
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Liber Maiorichinus, Vv. 308 f. und 313 ff. („«Was durch den Willen Gottes bestimmt ist, das ist wie jeder weiß - dem menschlichen Planen gänzlich entzogen. [...] So beschaffen ist die Macht des Herrn, denn nach seinem Willen richtet er alles irdische Geschehen aus und nach seinem gerechten Ermessen gebietet er über alles. »") Liber Maiorichinus, Vv. 239 ff.
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Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
„Interea vulgus pelagi terrore solutum Murmurat, et patriae exoptat turpiter horas, Inque duces stultas temptans agitare querelas, Hostibus ommissis, pariter remeare minatur."
Auf die Klagen der Meuterer antwortet der Luccheser Fralmo mit einer Rede.2 Zunächst versucht er die Zuhörenden an ihrem Stolz zu fassen, indem er ihnen als Gegenbild die biederen Daheimgebliebenen entgegenhält, die nur mit ihrem eigenen Acker beschäftigt sind. Die Teilnehmer des Kriegszugs aber - so Fralmo - sollten von ganz anderem Holz sein:3 „«Nos bonitas clarumque decus seiungat ab illis Et maneat nostro concordia semper in actu, Sitque carens odio qui vult servire Tonanti. Si decies prohibetur iter, decies repetatur, Et via temptetur crebro dum perficiatur. Ut tenuit semper, teneat reverentia nostras Curas, quod gerimus quia totus conspicit orbis.»"
Schließlich fordert er sie auf, sich in Geduld zu fassen, und hier scheint dann wieder das vom Autor zu Beginn der Dichtung theoretisch formulierte auf. Angesichts des mühsamen Fortschreitens des Expedition solle man nicht verzweifeln, sondern zu Gott beten und auf den von ihm bestimmten Moment warten:4 ,,«Si cito non aderit quod gestit nostra voluntas, Tactus ob hanc causam maneat formidine nemo. Quod prohibet mensis, reddunt tibi namque kaiende, Cum Deus oratur, quod ab ipso forte vetatur Tempore non modico, cito prestat luce sub una.»"
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Liber Maiorichinus, Vv. 377 ff. („Inzwischen murrte das Volk, vom Schrecken der See befreit, und sehnte sich schändlich nach den Küsten der Heimat. Dumme Klagen versuchte es gegen die Anführer zu erheben und drohte, weil es die Feinde schon vergessen hatte, sogleich zurückzukehren.") Dieser gehörte zu dem Truppenkontingent, daß Lucca zur Expedition beisteuerte. Daß gerade Fralmo hier die Position vertritt, die später nur noch die Pisaner auszeichnen wird, ist angesichts der traditionellen Feindschaft zwischen den Nachbarstädten verwunderlich. Vgl. etwa schon die für 1004 st. pis. belegten Kämpfe zwischen beiden Städten (Chronicon Pisanum, ad Ann. 1004). Liber Maiorichinus, Vv. 405 ff. („«Unsere edle Gesinnung und unsere Tugend unterscheide uns von ihnen. Möge immer Einigkeit in unserem Handeln sein, und mögen die frei von Zwietracht bleiben, die dem Herrn dienen wollen. Wird uns zehnmal der Weg versperrt, so nehmen wir zehnmal neuen Anlauf und den Weg versuchen wir so oft, bis wir ihn zu Ende gegangen sind. Möge die Ehrfurcht [vor dem Herrn] unser Streben bestimmen, wie sie es immer bestimmte, denn die ganze Welt blickt auf unser Tun.»") Liber Maiorichinus, Vv. 412 ff. („«Niemand bleibe von Angst erfüllt, wenn nicht schnell eintritt, was unser Wille verlangt. Was du einen ganzen Monat lang nicht erreichst, das schenkt dir nämlich der erste Tag des kommenden; wenn man zu Gott betet, so gewährt er vielleicht eines nicht fernen Morgens, was er selbst über lange Zeit nicht zugelassen hat.»")
Deutungen des Erinnerten
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Die hier formulierte Forderung nach Demut angesichts des göttlichen Zeitplans durchzieht die ganze Dichtung. Auch die Reden, die den Pisaner Klerikern U g o und Guido in den Mund gelegt werden, als im Herbst 1113 das Luccheser Kontingent die Flotte verlassen will, beziehen sich auf dieses Thema. Wer die Flotte verlasse, zeige dadurch, daß sein Motiv nicht die Liebe zu Gott war, sondern allein weltlicher Ruhm. 1 Der Wunsch nach Abbruch der Expedition, den die Luccheser äußerten, richte sich, so heißt es dann, gegen nichts anderes als den rechten Umgang mit der Zeit: 2 „«Unde Dei vestras cernendo potentia mentes, Contra quem vestrum toto fuit agmine murmur, Hunc dignum vobis largitur temporis usum. »" Zu den Lucchesern, die einzig weltlichen Ruhm verfolgen, passe es auch, daß sie nicht in rechter Weise die Zeit nutzen, also nicht ihr einmal gefaßtes Ziel verfolgen, bis ihnen Gott den Sieg geschenkt hat, sondern vorher aufgeben und zur heimatlichen Scholle zurückkehren. Die rechte Nutzung der Zeit wird hier zu einem zentralen Punkt christlicher Ethik gemacht: Diese besteht zunächst darin, daß man die Zeit in den Dienst Gottes stellt. So heißt es dann von den Pisanern, daß Gott sie zu ihren Handlungen bewegt: 3 „Sola Dei bonitas, qui cuncta gubernat habetque, Pisanos cives tantos animavit ad actus." Hingegen wird das Meutern der Luccheser mit dem Aufbegehren von Teilen Israels verglichen, als es galt, sich von der Ägyptischen Unterdrückung zu befreien: 4 „«Hebreis populis murmur fuit instar ad huius, Quando memorabant repletas carnibus ollas Et cuncta simul dilectaque grataque multum Fercula, Niliacis quibus utebantur in horis. 1
Liber Maiorichinus, Vv. 643 ff.: „Cum Deus in cunctis preponi debeat actis, Nec pietas nec amor pietatis habetur in ullo Qui pro mundano tantum contendit honore."
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(„Da Gott in allen Handlungen zum Führer gemacht werden sollte, findet man keine Frömmigkeit noch Lieben zur Frömmigkeit bei jemandem, der nur nach weltlicher Ehre strebt.) Liber Maiorichinus, Vv. 649 ff. ( „«Daher will Gott, der eure Absichten zu erkennen vermag, euch gerade das ermöglichen, wogegen sich euer Aufbegehren richtet, nämlich den rechten Umgang mit der Zeit. »") Liber Maiorichinus, Vv. 626 f. ("Nur die Güte Gottes, die alles regiert und beherrscht, bewegte die Pisaner Bürger zu so großen Taten") Liber Maiorichinus, Vv. 652 ff. („«So groß war auch das Murren der Hebräer, als sie sich an die mit Fleisch gefüllten Töpfe erinnerten und an all die anderen äußerst leckeren und angenehmen Speisen, die sie an den Ufern des Nils genossen hatten. Denn sie wollten lieber das Joch des strengen Tyrannen tragen, lieber in der Knechtschaft bleiben, als der Kehle ihr Laster zu verwehren oder Mangel an Speisen zu leiden. Jenes alte Volk wohnt in eurem Herzen, ihr habt deren Sitten, deren Geist und Art. »")
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Die frühe kommunale Geschichtsschreibung Nam cuperent sevi potius iuga ferre tyrampni Servilique magis sub conditione manere, Quam prohibere gule vicium dapibusve carerent. Ille vetus populus residet sub pectore vestro, Illius et mores animosque viasque tenetis. »"
Im Gegensatz zu den Pisanern, die sich demütig dem göttlichen Zeitplan unterwerfen, werden die Luccheser mit den abtrünnigen Israeliten verglichen, die weltliche Güter den von Gott bestimmten Zielen vorzogen. Auch hier treten die Pisaner so wiederum als die auch ethisch vorbildlichen Helden der Dichtung hervor. Zeichen des göttlichen
Heilsplans
Das v o m Dichter theoretisch formulierte zeigt sich dann auch im Fortgang der Ereignisse. Vorzeichen, die die Teilnehmer der Expedition wahrnehmen und als Ankündigungen für Kommendes verstehen, werden an zentralen Stellen des Libers erwähnt. 1 So wird den christlichen Truppen der bevorstehende Sieg nach der Landung auf Mallorca durch eine astronomische Erscheinung angekündigt. Eine Sternschnuppe, die auf die Balearen gefallen ist, wird von den Teilnehmern als Vorzeichen für den kommenden Sieg aufgefaßt: 2 „Signa polus demonstrat nocte sub ilia. Stella cadens divisa comas per mille videtur. Dispersum Balee signat divisio regnum. «Ad Baleam», clamat populus. «nos sidus ad illam Crinitum properare monet; properate potentes; Est superare datum nobis Balearica regna. Sideris in Baleam radios cecidisse videtis»." Ähnliche Bedeutung wie astronomische Erscheinungen haben Träume, die ebenfalls als Ankündigungen zukünftigen Geschehens gelesen werden können. So ist es denn ein
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Die Vorstellung, daß historische Ereignisse durch Vorzeichen angekündigt werden, ist in der hochund spätmittelalterlichen Geschichtsauffassung weit verbreitet. Nur vor diesem Hintergrund ist das große Interesse, das mittelalterliche Geschichtsschreiber Himmelserscheinungen wie Mond- der Sonnenfinsternissen, aber auch sonstigen ungewönhlichen Naturschauspielen widmen, zu erklären (vgl. etwa die entsprechenden Nachrichten bei Bernardo Maragone, der sich ansonsten durch seine äußerst nüchternen Berichte auszeichnet.). Vgl. zu Astronomie und Prodigia DAXELMÜLLER: VORZEICHEN, NORTH / VAN DER WAERDEN: ASTROLOGIE). Einen besonders gut dokumentierten Fall untersucht WERNER: GOTT. Johannes Fried beschäftigte sich jüngst mit der Rolle, die die Suche nach solchen Vorzeichen bei der Entwicklung der Naturwissenschaften spielte. Hierbei blickte er aber ausschließlich auf die eschatologische Dimension einer solchen ,Methode', vgl. FRIED: ALFSTIEG. Liber Maiorichinus, Vv. 1626 ff. („Der Himmel gab in dieser Nacht ein Zeichen. Man sah einen Stern fallen, der sich in tausend Strahlen teilte. Diese Teilung bedeutete die Zerschlagung des Balearen-Reiches. „Nach Mallorca," rief das Volk. „Die Sternschnuppe fordert uns auf, nach dort zu eilen. Macht schnell! Der Sieg über das Balearen-Reich ist uns gegeben. Ihr seht, daß die Strahlen des Sternes auf das Balearen-Reich gefallen sind.")
Deutungen des Erinnerten
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Traum, der im entscheidenden Moment der Expedition den christlichen Kämpfern neuen Mut verleiht, 1 und sie erneut den Kampf bis zum Sieg antreten läßt: 2 „Presbiter Henricus plebanus nocte propinqua Somnia leticie vidit presaga future. Talis facta viro vox auribus: «Accipe», dixit, «Astra volunt hodie Pisanos urbe repelli, Cras vespertinis horis intrabit in urbem Lauriger Alpheus populus3 pro velle Tonantis». Hoc et idem4 monuit fratrem defunctus, et inquit: «Nec timeas, veniam socius per prelia tecum»." Einerseits treten diese himmlischen Prodigia im Liber an die Stelle des direkten Eingreifens himmlischer Instanzen in den Gang der Ereignisse, wie es das ältere Carmen bestimmt hatte. Auch sie - aufgefaßt als Vorankündigungen des göttlichen Plans - beeinflussen in gewisser Weise die Geschichte, indem sie die Zuversicht der Kämpfer stärken. Vor allem belegen sie aber, daß die Geschichte der Pisaner tatsächlich dem göttlichen Planen folgt, da die Planhaftigkeit der Ereignisse notwendige Bedingung der Prodigia bzw. der Ankündigung zukünftiger Ereignisse in der Gegenwart ist. 5 Als Geschichtsschreiber und Theologe geht der Autor aber - wie vor ihm schon der Dichter des Carmen - einen entscheidenden Schritt weiter: Ihn interessieren nicht nur
Die Hoffnung auf einen Sieg war im christlichen Lager schon geschwunden, Liber Maiorichinus, V.3173: „Urbem posse capi iam desperaverat agmen." 2
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(„Schon hatte die Schar die Hoffnung aufgegeben, daß die Stadt eingenommen werden könnte") Liber Maiorichinus, Vv. 3165 ff. („Der Pfarrpriester Henricus sah, als die Nacht nahe war, in einem prophetischen Traum die kommenden Glücksfälle. Eine Stimme ließ den Mann folgendes vernehmen: ,Höre! Die Steme wollen, daß Pisa heute von der Stadt zurückgedrängt wird. Morgen zur Abendzeit aber wird das lorbeertragende Volk der Alpheer nach dem Willen Gottes in die Stadt eindringen.' dies sagte dem Bruder der Verstorbene voraus und sprach: ,Fürchte dich nicht, ich komme als dein Gefährte mit dir in die Schlacht.'") Man vergleiche aber die Varianten der überarbeiteten Fassung: Vv. 3170-72: „«Plurimapassa manus vincenspro velle Tonantis.» | Hoc et idem Karoli defuncti spiritus inquit | Fratri: «Ne timeas, venient ad prelia sancti. | [und zusätzlich nach Vers 3172:] Innumerique aderunt subeuntes menia tecum, \ Telaque non poterunt tibi me comitante nocere.»" Die Pisaner, vgl. oben S. 109, Anm. 4. Die Lesart folgt hier gegen die Edition Calisse dem Vorschlag Scalias, vgl. SCALIA: RIEDIZIONE CRITICA, S . 5 8 f.
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Μ. E. Reeves hat die Bedingungen der Prophezeiung in der mittelalterlichen Vorstellung herausgestellt: „The medieval concept of prophecy presupposed a divine providence working out its will in history, a set of given clues as to that meaning implanted in history, and a gift of illumination to chosen men called to discern those clues and from them to prophesy to their generation" ( R E E V E S : INFLUENCE, S. VII.). Grundlage von Prophezeiungen ist eben die Existenz eines feststehenden göttlichen Plans und die Möglichkeit, diesen anhand von Zeichen in der Geschichte zu entziffern. Vgl. ergänzend auch ARDurNi: R U P E R T , S. 332 ff.
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Die fiiihe kommunale
Geschichtsschreibung
Zeichen und Visionen, wie sie von den Protagonisten der zeitgeschichtlichen Ereignisse, zu denen er ja wahrscheinlich selbst gehörte, wahrgenommen wurden. Er sucht auch nach den zunächst verborgenen Zeichen und Mustern des göttlichen Plans in der Welt. Schon der Dichter des Carmen hatte nachträglich Parallelen zwischen der Zeitgeschichte und der biblischen Geschichte herausgestellt, um so die Planhaftigkeit der Geschichte und vor allem die heilsgeschichtliche Bedeutung der Pisaner Unternehmung nachzuweisen. Eine solche typologische Ausdeutung der Zeitgeschichte findet sich im Liber jedoch nicht. Zwar werden auch hier Deutungsmuster für das Geschehen der BalearenExpedition gesucht. Doch diese finden sich nicht in analogen Ereignissen der biblischen und antiken Vergangenheit,1 sondern in Entsprechungen zwischen linearer und zyklischer Zeit. Schon im oben vorgestellten Zeitexkurs wird das Beispiel zyklischer Strukturen in der Natur als Beleg für die Planhaftigkeit der irdischen Ereignisse angeführt.2 Die Saat keime im Frühling und reife im Herbst, so sei die Vegetation an die Jahreszeiten gebunden und auch der Mensch sei diesen unterworfen, auch er könne die Frucht nicht ernten, bevor sie in der dazu bestimmten Jahreszeit gereift ist. Doch der usus naturae wird vom Dichter auch dort auf die Welt der Menschen bezogen, wo man es zunächst nicht erwarten würde. Nachdem ein Vorauskommando der Flotte auf der Balearen-Insel Ibiza gelandet war, beginnt das niedere Volk das Umland des befestigten Hauptortes zu plündern.3 Der Beschreibung dieser 'Erntetätigkeit' der Christen und des ersten Erfolgs der Kämpfer, der Besetzung Ibizas, geht nicht zufällig unmittelbar die Erwähnung der herrschenden Jahreszeit voran:4 „Tempus erat quo ferre soles, auguste, racemos Cum citius solito potarunt agmina mustum."
Zwischen der Plünderung der Insel, die der Dichter wohl als Erntetätigkeit auffaßt, und der Jahreszeit wird hier ein Zusammenhang hergestellt. Was an dieser Stelle möglicherweise nur eine literarische Spielerei ist, wird im Liber systematisch durchgeführt, 1
2 3
Vgl. zu den wenigen Vergleichen mit antiken Ereignissen oder Personen unten S. 403 ff. Eine Ausnahme stellen wie schon im Carmen auch im Liber Maiorichinus die Vergleiche innerhalb der (fiktiven) Reden der Protagonisten dar. Vgl. etwa der Vergleich Luccas mit den meuternden Israeliten oben S. 169. Liber Maiorichinus, Vv. 152 ff., zitiert oben S. 166. Liber Maiorichinus, Vv. 1529 ff.: „Vulgus ab introitu capte regionis, et ante Quam populus quicquam superaret bellicus urbis, Collectam passim predam de rure trahebat."
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(„Schon mit dem Betreten des gewonnenen Gebietes, noch bevor die Truppen auch nur einen Teil der Stadt erobern konnten, raffte der Pöbel überall Beute von den Feldern zusammen.") Liber Maiorichinus, Vv. 1525 f. („Es war die Zeit, ο August, in der du stets die Trauben hervorbringst, als die Männer früher als üblich den Most tranken.")
Deutungen des Erinnerten
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wenn Parallelen zwischen Zeitgeschichte und Kirchenjahr bzw. christlichem Wochenzyklus aufgezeigt werden. 1 So startet die Expedition der Pisaner, die ja vor allem die Befreiung der christlichen Gefangenen zum Ziel hatte, nicht zufällig an einem Sonntag: 2 „Namque die Domini, quo Christus Tartara cuncta Vicit, et humanas animas de morte resurgens Tartarei dominus traxit de fauce profundi, Hortaris3 populos celestis signa salutis4 Sumere." In der Sicht des Dichters ist es kein Zufall, daß sich die Pisaner gerade an dem Tag, an dem Christus die Seelen aus der Hölle befreite, zur Befreiung der christlichen Gefangenen aus den Händen der Sarazenen entscheiden. 5 Die durch den christlichen Jahreskreis bzw. die christliche W o c h e vorgegebenen Bedeutungen einzelner Tage werden hier mit dem aktuellen Geschehen in Verbindung gebracht. 6 A n anderer Stelle laufen die Schiffe der Christen gerade am Wochenfest von Mariae Himmelfahrt, also des Tages, an dem Maria in den Himmel einging, in den sicheren Hafen einer Insel ein: 7 „lila dies letis populis octava refulsit In qua felicem matrem super astra recepit Virgineus partus, de qua Deus est homo factus, Parva venientes qua congregat insula puppes." A m Tag des heiligen Viktor und an dessen Wochenfest fand j e w e i l s ein Sieg der Pisaner statt, 8 w i e auch gerade am Tag des heiligen Sixtus die Flotte auslief, da dieser Tag den Pisanern immer besondere Siege gebracht hatte: 1
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Vgl. zum Kirchenjahr J Ö R N S / B I E R I T Z : K I R C H E N J A H R , hier S. 5 7 6 auch zu den sich im Kirchenjahr überlagernden Zeitkreisen: der christlich geprägten Woche, den Festkreisen von Ostern und Weihnachten sowie dem Jahr der Heiligen. Uber Maiorichinus, Vv. 42 ff. („Denn am Tag des Herrn, an dem Christus die Hölle besiegte und der Herr, als er vom Tode auferstand, die Seelen der Menschen aus dem Schlund der tiefen Hölle zog, ermunterst du die Truppen, die Zeichen des himmlischen Sieges zu nehmen") Gemeint ist Bischof Petrus von Pisa. Vermutlich die Kreuzzeichen. Exakt auf die gleiche Entsprechung zielt der Dichter des Carmen, wenn er Ugo Visconte mit Christus vergleicht. Vgl. Carmen, Vv. 181 ff. und Tafel ,Übersicht über die Vergleiche im Carmen', oben S. 134. Dies entspricht grundsätzlich einer allgemein für das Mittelalter festgestellten Vorstellung. So schreibt Arnold Angenendt über die Bedeutung des Kalenders in christlichem Kontext: „Im Mittelalterlichen Kalender richtete sich die Qualität eines jeden Tages danach, wie er von Jesus Christus oder einem Heiligen heilvoll geprägt war, und dieses Heil galt es zu nutzen" ( A N G E N E N D T : HEILIGE, S. 131). Liber Maiorichinus, Vv. 1562. („Der glücklichen Truppe strahlte gerade der achte Tag nach demjenigen, an dem der jungfräulich Geborene die gesegnete Mutter, in der Gott Mensch wurde, über den Sternen zu sich nahm, als die Schiffe eine kleine Insel aufnahm, an die sie gelangten.") Liber Maiorichinus, Vv. 1472 ff.
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Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
„Iamque dies aderat sancti celeberrima Sixti, In qua Pisani de Penis marte subactis Annales recolunt votiva laude triumphos, Quando per Alphei fluctus populosa natabat Classis."
Überdeutlich werden die Beziehungen zwischen dem Jahreskreis und den Ereignissen der Expedition aber am Ende der Dichtung. Am Festtag der Darbringung Jesu im Tempel 2 beginnen die Pisaner beim Angriff auf die befestigte Hauptstadt Mallorcas auch Griechisches Feuer einzusetzen.3 Über die dadurch ausgelösten Brände in der Stadt heißt es dann:4 „Et candela velut siccis bene proxima lignis Siccam materiem tenues convertit in ignes, Et ceu paulatim grandis cito candet acervus, Sic Castrum reliquum subito candere videres, Virgine cum sanctis natum genitrice rogante, Qui propria solus replet omnia saecula luce."
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Liber Maiorichinus, Vv. 160 ff. („Schon war der hohe Festtag des heiligen Sixtus gekommen, zu dem die Pisaner Annalen mit geschuldetem Lob die Triumphe über die im Kampf bezwungenen Sarazenen ins Gedächtnis rufen, als die stark bemannte Flotte über den Arno schwamm.") Vgl. zu San Sisto ausfuhrlich unten S. 254 ff. Insbesondere Heiligentage erwähnt der Dichter immer wieder im Text. Einzelne Analysen könnten sicher jeweils die entsprechenden Zusammenhänge bestimmen. Hier geht es zunächst nur darum, das Grundprinzip des Autors offenzulegen. Im Text heißt es (Liber Maiorichinus, Vv. 3124 ff.): „Quadragena dies seclis celebranda quibusque Virginis a partu populis festiva redibat, Qua pia cum nato virgo sacra templa petivit, Infantemque pium Symeon gestavit in ulnis." Gemeint ist das Anfang Februar gefeierte Fest Purificatio Mariae (heute am 2. Februar). Vgl. MAAS-EWERD: DARSTELLUNG DES HERRN u n d LUCCHESI PALLI / HOFFSCHOLTE: DARBRINGUNG JESU.
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Liber Maiorichinus, Vv. 3129 ff. Vgl. zum griechischen Feuer, einem sich selbst entzündenden explosivem Gemisch aus Erdöl, Schwefel, Harz und Kalk, das gegen feindliche Schiffe oder Befestigungsanlagen gespritzt wurde GABRIEL: GRIECHISCHES FEUER. Ob mit dem ,νοη den Griechen erfundenen' Feuer (Liber Maiorichinus, V. 3131) tatsächlich die ursprünglich in Byzanz entwickelte ,Wunderwaffe' gemeint ist, kann nicht sicher bestimmt werden. Die entsprechende Passage wäre so ein Beleg für die Anwendung dieser Waffe durch die Pisaner. Bisher ging man davon aus, daß die Rezeptur des griechischen Feuers zu den bestgehütetsten Staatsgeheimnissen von Byzanz gehörte (GABRIEL: GRIECHISCHES FEUER). Keine Verbreitung dieser Technik über Byzanz hinaus; stellt auch DEVRIES: MILITARY TECHNOLOGY, S. 1 4 0 ff. fest.
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Liber Maiorichinus, Vv. 3136 ff. („Und wie die Kerze, wenn sie dem trockenen Holz zu nahe ist, das trockene Material in Flammen aufgehen läßt, und wie nach und nach schnell ein großer Haufen brennt, so könntest du das übrige Kastell brennen sehen, da die jungfräuliche Mutter mit den Heiligen den Sohn darum bittet, der allein mit seinem Licht die Welt erfüllt.")
Deutungen des Erinnerten
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Die hier verborgene Anspielung erschließt sich gänzlich erst bei Kenntnis der entsprechenden Bibelstelle. Das Fest der Darbringung Jesu im Tempel geht auf den biblischen Bericht im Evangelium nach Lukas zurück. Der v o m heiligen Geist erfüllte Simeon nimmt Jesus im Tempel auf den Arm und begrüßt in ihm das Licht, das die Heiden erleuchten, also zum wahren Glauben bringen wird: 1 „Nun entlässest du, Herr! deinen Diener nach deinem Worte im Frieden; denn meine Augen haben dein Heil gesehen, das du bereitet hast vor dem Angesichte aller Völker, ein Licht zur Erleuchtung der Heiden und zur Verherrlichung deines Volkes Israel." In der Schilderung der brennenden Stadt setzt der Dichter diese mit dem Festtag verbundene Licht-Metapher mit dem Brand der Sarazenen-Stadt in Verbindung. 2 Auch hier erscheint der Vergleich bemerkenswert durchdacht. 3 Wie sich das Licht der Welt, also
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Lk 2,29 ff. Neben dem direkten Zeugnis der Bibelstelle ist auch denkbar, daß hier auf die mit dem Fest verbundenen Lichtprozessionen angespielt wird (die aber letztlich auch auf die Bibelstelle zurückgehen). Vgl. S C H U L Z : M A R I E N F E S T E . In Rom etwa ist eine Kerzenweihe an diesem Tag seit dem 10. Jahrhundert nachzuweisen (ebd. Sp.67). Ob es auch in Pisa eine solche Prozession am Tag der Darstellung des Herrn bzw. Purißcatio Mariae, wie es im Zusammenhang einer Bedeutungsverschiebung von einem Herren- zu einem Marienfest genannt wird (vgl.ebd.), gegeben hat, ist nicht sicher. Dafür spricht aber einerseits, daß Pisa spätestens seit der Mitte des 10. Jahrhunderts ein besonders ausgeprägtes Verhältnis zur Gottesmutter hatte, das sich etwa in dem auf Maria bezogenen Pisaner Datierungsstil ausdrückt (vgl. dazu PICOTTI: OSERVAZIONI). E S ist daher wahrscheinlich, daß auch die Pisaner dieses Marienfest in irgendeiner Weise begangen haben, möglicherweise eben auch mit einer Lichterprozession, wie sie für Rom bezeugt ist. Sicher belegt ist für die spätere Zeit eine Lichterprozession am Tag der Maria Assunta (vgl. G H I G N O L I : B R E V I , S. 247 ff. und die ältere Arbeit von VIGO: FESTA).
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Einen ähnlichen Bericht - auch mit dem hergestellten Zusammenhang zwischen Fest und Brand geben die Gesta triumphalia von den Ereignissen (Gesta triumphalia, S. 92): „Factum est ut de ingenio Pisanorum ignis pennacius de castello Christianorum per antennam porrigeretur in castellum Saracenorum, ascenditur ergo urbis castellum et combuntur, et divina virtute faciente et intercessione Beate Marie Virginis interveniente, cuius Purificatio tunc erat Celebris Christiano populo, ignis ab ipso quod comburebatur castello ad aliud eiusdem urbis castellum divinitus transfertur et similiter comburitur." („Es geschah aber, daß von einer Belagerungsmaschine der Pisaner griechisches Feuer mit einer Stange [also wohl einem Katapult, MH] von einem Belagerungsturm der Christen auf die Befestigung der Sarazenen geschleudert wurde, wodurch eine Befestigungsanlage der Stadt in Brand geriet und in Asche gelegt wurde; durch das Wirken der göttlichen Kraft und die Vermittlung der Heiligen Jungfrau Maria, deren Reinigungsfest an diesem Tag von den Christen begangen wurde, wurde dann das Feuer, das die Befestigungsanlage in Asche gelegt hatte, von dieser auf wundersame Weise [divinitus] zu einer weiteren Befestigungsanlage der Stadt getragen, wodurch diese gleichfalls in Asche gelegt wurde.") Da die beiden Berichte ansonsten nicht voneinander abhängig sind, kann man schließen, daß die entsprechende Koinzidenz entweder für die Zeitgenossen so offensichtlich war, daß eben beide Autoren unabhängig voneinander zu dieser Beobachtung gelangten oder aber - und dies ist wahrscheinlicher - daß dieses Phänomen auch Gegenstand der mündlichen Auseinandersetzung mit den Ereignissen war, möglicherweise schon bei der Expediti-
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Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
Christus, in der Welt verbreitet, so brennt die Stadt der Heiden wie ein Holzstoß, der einer Kerze zu nah war. Gottesmutter und Heilige hatten Christus darum gebeten, da er allein und - so wird man ergänzen dürfen - nicht Mohammed die Welt mit seinem Licht erfüllt. Einerseits liegt hier eine Ausdeutung des historischen Geschehens vor, w i e sie ähnlich auch schon im Carmen begegnet war. Im Unterschied zum Carmen wird man hier aber sicher keine typologische Beziehung sehen können. Vielmehr wird das historische Ereignis, der Brand der Sarazenen-Stadt, symbolisch ausgedeutet. Der Kern der symbolischen Ausdeutung liegt jedoch nicht so sehr in Entsprechungen zwischen Ereignissen, sondern vielmehr in der zeitlichen Koinzidenz v o n historischem Ereignis und Festtag im Kirchenjahr. 1 Handlungsstrukturen der Zeitgeschichte werden also im Liber in Entsprechung zu Ereignissen der Heilsgeschichte gesehen, die den jeweiligen Tagen des Kirchenjahres zugeordneten sind. 2 D i e s e Koinzidenzen werden jedoch nicht als Zufälligkeiten aufgefaßt, sondern die im Kirchenjahr in zyklischer Vergegenwärtigung präsente Heilsgeschichte spiegelt sich in den Ereignissen der (linearen) Zeitgeschichte. 3
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on selbst. Man wird mit einer gewissen Vorsicht erkennen können, daß das für den Autor des Liber typische Denken in Entsprechungen zwischen dem Kirchenjahr und den zeitgeschichtlichen Ereignissen kein Einzelfall ist, sondern auch bei seinen Zeitgenossen verbreitet war. Belegt ist dies so zumindest für den anonymen Autor der Gesta triumphalia. Nicht ganz eindeutig in der Verschränkung von Kirchenjahr und Zeitgeschichte als Teil der Heilsgeschichte ist die Einsetzung des neuen Herrschers auf Mallorca durch die Pisaner. Am Ende des Liber Maiorichinus heißt es dazu (Vv. 3520 ff.): „Pasca celebratur. Burabe de nexibus exit, Cuius dat nato Pisana potentia regnum." ("Das Osterfest wurde begangen. Burabe wurde aus den Ketten gelöst [vgl. Vv. 3442 f.] und die Pisanern gaben dessen Sohn die Herrschaft."). Daß gerade einem Sohn an Ostern die Herrschaft übertragen wurde, steht vielleicht in Zusammenhang mit dem Anbruch der Herrschaft Christi nach seiner Auferstehung (dagegen spricht, daß es sich um den Sohn des besiegten Herrschers handelt). In jedem Fall wird man den Triumph der Pisaner über die Sarazenen - der in der Einsetzung des neuen Herrschers kulminierte - und den damit verbundenen Neuanfang in engem Zusammenhang mit der entsprechenden Bedeutung des christlichen Osterfestes sehen könne (Vgl. K L Ö C K N E R : OSTERN, besonders Sp.l 178 f.)
2
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Hierbei müßte man natürlich eigentlich noch verschiedene Formen der Zuordnung unterscheiden. So gibt es Fälle, in denen der Autor die Ereignisse, die den Festen des Kirchenjahres zugrundeliegen, als Bezugspunkte verwendet (wie etwa das Beispiel der Puriflcatio Mariae). In anderen Fällen ist es der Name des Heiligen, der zu einer Zuordnung anregt oder aber, wie im Falle Sistos, ein gewissermaßen traditioneller Zusammenhang zwischen Heiligenfest und bestimmten Ereignissen. Allen diesen Formen ist aber gemeinsam, daß sie eine Beziehung zwischen dem Zyklus des Kirchenjahres und der Geschichte postulieren. Vgl. auch die unten S. 173, Anm. 1 angeführte Literatur (vor allem mit der Unterscheidung der sich überlagernder Zyklen des Kirchenjahres). Für die Parallelisierung des zyklischen Kirchenjahrs und der linearen Heilsgeschichte, wie sie hier im Liber Maiorichinus begegnet, kann auf vergleichbare Konzeptionen verwiesen werden. So bezieht auch Joachim von Fiore in De Vita Sancti Benedicti das Kirchenjahres in ähnlicher Weise auf
Deutungen des
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Erinnerten
Wie schon im Falle des Carmen dient das Aufzeigen solcher Entsprechungen aber nicht der Zukunftsbestimmung oder der Handlungsorientierung. An keiner Stelle wird hier der Eindruck erweckt, man habe das Eintreten der entsprechend mit dem Kirchenjahr verklammerten Ereignisse vorausgesehen oder erwartet. 1 Auch tragen solche Zuweisungen nur wenig zum Verständnis der einzelnen Ereignisse bei. Das Beispiel der Purificatio Mariae stellt hier eher eine Ausnahme dar. Vielmehr scheint es, als solle hiermit eine tiefere Ordnung der Geschichte erwiesen werden. Die sich erst ex post zeigende kunstvolle Verschränkung der beiden Zeitebenen läßt sich am analysierten Beispiel schematisch so darstellen:
Brand der Sarazenen-Stadt
Die lineare Geschichtszeit ist im Liber Maiorichinus durch die zyklische Zeit des Kirchenjahres, der christlichen Woche und der Jahreszeiten strukturiert. Die zyklischen Elementen der Zeitbestimmung werden so zu einem Element der Zeit- und Geschichtsdeutung. Auch der Dichter des Carmen hatte schon Strukturen in der Geschichte erkannt und verdeutlicht. Diese standen aber in keiner Beziehung zu ihrer zeitlichen Bestimmung,
die Stufen der Heilsgeschichte. Ähnliches findet sich in der Chronik des 1215 gestorbenen Sicard v o n C r e m o n a . V g l . z u d i e s e m ARIS: SICARD VON CREMONA.
'
Ein solches Vorgehen ist in anderen Fällen jedoch gut belegt. Vgl. SCHALLER: HEILIGER TAG und A N G E N E N D T : HEILIGE, S .
2
131.
Für die Geschichtsschreibung der Kreuzzüge weist hierauf jetzt auch HERBERS: EROBERUNG JERUSALEMS, S . 4 2 8 f f . h i n .
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Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
sieht man einmal von der relativen Position in der Heilsgeschichte ab. Eine ganz andere Auffassung findet sich im Liber. Durch die Verortung im Jahreskreis erhält die Bezeichnung des Tages eine Bedeutung, die weit über die technische Datierung hinausgeht. So kann in der Rückschau erkannt werden, daß ein Ereignis, das an einem Sonntag stattfindet, hierdurch in besonderer Weise geprägt ist. Grundlage für diese Vorstellung ist, daß die Festtage des Kirchenjahres nicht bloß konventionelle Symbole eines vergangenen Geschehens sind, sondern die Wiederkehr desjenigen Momentes im Zyklus bezeichnen, an dem sich in der Vergangenheit das begangene, also das im Gedächtnis vergegenwärtigte Geschehen ereignete.1 Die in der gesamten Pisaner Überlieferung nachzuweisende Auffassung, der Tag des heiligen Sixtus sei Tag des Sieges für die 2
3
Pisaner, ist so in diesem Sinne zu interpretieren: Die Siege der Pisaner werden nicht so sehr auf die direkte Unterstützung durch den Heiligen zurückgeführt, die nebenbei gesagt an keiner Stelle in den Quellen erwähnt wird, sondern vielmehr auf die zyklische Wiederkehr eines besonders günstigen Momentes, der dann allerdings in Zusammenhang mit dem am entsprechenden Tag verehrten Heiligen steht.4 Wie auch schon im Fall des Carmen in victoriam Pisanorum hat die Aufdeckung von Mustern im Geschichtsverlauf auch im Liber Maiorichinus die Funktion, die Planhaftigkeit der Geschichte zu begründen. Die damit verbundene Aufwertung der Zeitgeschichte, die als Teil der Heilsgeschichte gesehen wird, dient so direkt der Deutung der historischen Rolle der Stadt Pisa. Da die Siege der Pisaner gegen die Sarazenen Teil des göttlichen Heilsplans sind, wächst Pisa selbst heilsgeschichtliche Bedeutung zu. Exkurs: Der stilus Pisanus
Auf ein gesteigertes Bewußtsein für die Bedeutung von Zeit und Zeitbestimmung kann man vielleicht auch den Stilus Pisanus zurückführen, der eigentlich eine eigenständige Untersuchung verdienente. Der Jahresbeginn am 25. März vor dem heute üblichen Jahreswechsel ist in Pisa seit der Mitte des 10. Jahrhunderts nachweisbar.5 Hier wird die Ära Christi im Gegensatz zu anderen Datierungsstile in den Moment der Empfängnis Jesu durch Maria gelegt. Leider gibt es keine früh- oder hochmittelalterlichen Quellen, 1 2 3
4
Vgl. allgemein zum Heiligentag ANGENENDT: HEILIGE, S . 1 2 9 - 1 3 2 , SCHALLER: HEILIGER TAG. Vgl. unten S. 254 ff. Eine solche Auffassung des Heiligenfesttages könnte man als zeitliche Präsenz im 2yklus des Heiligenkalenders in Parallele zur räumlichen Präsenz des Heiligen in seinem Grab bzw. seiner Reliquie sehen. Vgl. zu den zeitlichen und räumlichen Aspekten bei der Heiligenverehrung ANGENENDT: HEILIGE, S. 123-137. Konkret mit dem Wirken des Heiligen verbunden sieht allerdings Arnold Angenendt dieses Phänomen: „Im ganzen Mittelalter gestaltete die Person des Heiligen den ihr gehörigen Tag und strahlte eine besondere Heilskraft aus: Was immer an einem solchen Tag geschah, stand im Zeichen des T a g e s h e i l i g e n . " (ANGENENDT: HEILIGE, S . 1 2 9 ) .
5
Allgemein ENZENSBERGER: CALCULUS FLORENTINUS sowie BRINCKEN: HISTORISCHE CHRONOLOGIE, S. 66. Vgl. zur spätantiken Vorgeschichte einer christlichen Ära am 25. März: DECLERCQ: A N N O DOMINI, S . 1 4 3 f f .
Deutungen des Erinnerten
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die etwas über die Begründung für die Wahl gerade dieses Termins aussagen. 1 Man kann aber einerseits den Stilus Pisanus vor allem im Vergleich mit dem Stilus Florentinus als eine überzeugend durchdachte Art der Jahreszählung ansehen. Im eigentlichen Sinne des Wortes ist ja der Moment der Verkündigung an Maria (vgl. Luk. 1, 35) die Inkarnation des Herrn, da er der Geburt Jesu neun Monate vorausgeht. 3 Die christliche Ära auf diesen Tag zu legen entbehrt somit nicht einer gewissen Folgerichtigkeit, da Christus an diesem Tag sein irdisches Dasein begann. 4 Die Vermutung, diese Inkarnations-Ära im engeren Sinne stehe in Zusammenhang mit dem aufblühenden Marienkult, verdient hier Beachtung. 5 Eine besondere Verehrung Marias ist für Pisa nicht nur durch das Marien-Patrozinium des Doms, 6 sondern auch durch die in dieser Arbeit untersuchten Texte zu belegen. 7 Obwohl der von den Gewohnheiten nahezu des gesamten restlichen Abendlandes abweichende Pisaner Datie-
1
Es ist zudem nicht sicher, ob sich hinter der Wahl des Annuntiations-Termins für den Pisaner Datierungsstil tatsächlich eine bewußt getroffenen Entscheidung verbirgt. So sieht C. Higounet den Ursprung dieses Datierungsstils nicht in Italien, sondern in der Provence ( H I G O U N E T : S T Y L E PISAN, S. 37). Sie nimmt an, dieser Datierungsstil sei durch Vermittlung provenpalischer Kanzleien nach Pisa gelangt. In jedem Fall ist entscheidend, daß nach den Untersuchungen Picottis der Pisaner Stil nicht als Reform einer älteren christlichen Ära in die Pisaner Dokumente eingeführt worden ist, sondern daß gleichzeitig mit der Einfuhrung der christlichen Ära (vorher war in Pisaner Urkunden nach Herrscheijahren datiert worden) auch der Pisaner Stil auftaucht (vgl. PICOTTI: OSSERVAZIONI, S. 50 ff.). Es ist daher denkbar, daß man sich bei Einfuhrung der christlichen Ära eben an den Usus der provenfalischen Kanzleien anschloß. Historischer Hintergrund einer solchen Übernahme könnte die italienische Königsherrschaft des Proven^alen Hugo in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts gewesen sein.
2
Der Stilus florentinus hängt der christlichen Zeitrechnung - vom Inkarnationstermin am 25. März aus gesehen - stets ein Jahr hinterher. Vgl. zum Fest und vor allem zur problematischen theologischen Interpretation des ,Zeugungsaktes'
3
K Ü G L E R : VERKÜNDIGUNG DES H E R R N . 4
Eine weitere mögliche Erklärung für die Wahl dieses Termins führt aus der religiösen Sphäre in die des astronomischen Zeitberechnung: Der 25. März war eben nicht nur ein christlicher Festtag, sondern auch Tag der frühjahrlichen Tag- und Nachtgleiche, also ein astronomisch zu bestimmender Termin (vgl. zum Zusammenhang zwischen dem christlichen Fest und dem astronomischen Ereig-
5
Gestützt wird diese These auch durch die Verwendung des Incarnationsstils (allerdings stilus florentinus) durch die Zisterzienser, die in besonderer Weise mit dem Marienkult verbunden waren (vgl. SCHEFFCZYK: M A R I O L O G I E ) . Vgl. zur Bedeutung des Doms unten S. 263 ff. Das Marien-Patrozinium des Pisaner Doms ist seit 748 urkundlich belegt (Urkunde Pisa, Februar oder März 748, CDL 1, Nr. 93, S. 266 ff. Vgl. zur Urkunde R O N Z A N I : A U L A CULTUALE, S. 80). In der Pisaner Tradition findet sich die Nachricht, daß der Dom zuvor der Heiligen Reparata geweiht war (so etwa in der Cronica di Pisa, RIS XV, Sp. 973). Auf welche Quellen dies letztlich zurückgeht, konnte nicht bestimmt werden. Vgl. auch PECCHIAI: GLORIOSA PISA, S. 66, der jedoch irrt, wenn er behauptet, das Marien-Patrozinium am Dom sei erst seit 930 nachzuweisen. Vgl etwa Carmen, Vv. 281 ff.
n i s A N G E N E N D T : HEILIGE, S . 1 3 1 ) .
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GINZEL: HANDBUCH, S. 161.
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rungsstil sicher ganz praktische Probleme aufgeworfen hat, wurde er bis weit in die Neuzeit hinein beibehalten.1 b. Mensch und Gott Der Nachweis, daß das Handeln und die Siege der Pisaner von Gott vorherbestimmt sind, daß Pisa und seine Kämpfer von Gott auserwählt sind, durchzieht als roter Faden beide bisher analysierten Geschichtsdichtungen. Die Texte unterscheiden sich jedoch nicht nur hinsichtlich der Methode, mit der diese Übereinstimmung der zeitgeschichtlichen Ereignisse mit dem göttlichen Heilsplan nachgewiesen wird. Die irdische Geschichte selbst wird im Liber entscheidend anders konzeptualisiert. An keiner Stelle kommen im Liber Zweifel daran zum Ausdruck, daß die Geschichte dem göttlichen Willen unterworfen ist, daß ein Handeln ohne bzw. gegen Gott von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist.2 Dies wird in der Dichtung mehr als einmal explizit formuliert.3 Alle Verteidigungsversuche der Sarazenen sind vergeblich, da sie sich gegen Gott richten:4 „Indigenis populis et ob auctas fortiter artes Menia tuta forent, si nutus Omnipotentis Iustitieque caput dicto cum rege manerent. In populi numero non debet fidere quicquam, Qui Dominum contra sublimes erigit arces."
Der göttliche - oder allgemein übernatürliche - Einfluß auf die irdischen Ereignisse erscheint im Liber jedoch in deutlich anderer Weise, als im älteren Carmen. Im Carmen findet man ganz konkretes Eingreifen übernatürlicher Mächte in die Geschichte: Michael bläst die Tuba, die die Sarazenen erschreckt, Petrus und die Apostel stehen den Kämpfenden bei.5 Nach einem solchen konkreten Eingreifen sucht man in der Darstel-
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Aufgehoben durch Edikt des Großherzogs Franz I. vom 20. November 1749 (GINZEL: HANDBUCH, S. 161).
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Das sich hieraus für den Theologen ergebende Probelm der menschlichen Freiheit findet im Liber Maiorichinus keinen erkennbaren Niederschlag. Vgl. auch noch einmal die Ausführungen zum Zeit-Exkurs oben S. 165 ff. Liber Maiorichinus, Vv. 2065 ff. („Gesichert wären die Mauern durch die Truppen der Einheimischen und ihre hoch entwickelten Verteidigungskünste, wenn der Wille des Allmächtigen und die Gerechtigkeit auf der Seite des Königs wären. Doch wer seine hohen Burgen gegen den Herrn errichtet hat, sollte sich nicht auf die Zahl seiner Truppen verlassen.") In der zweiten Überarbeitungsstufe lauten die ersten drei Verse: „Indigenis populis et ob auctas fortiter artes Menia tuta forent, si contemnenda malorum Tarn sceleratorum Deus agmina vellet amare."
5
(„... wenn Gott die verachtungswürdigen Truppen der Bösen und der Verbrecher lieben würde.") Vgl. oben S. 129 ff.
Deutungen des Erinnerten
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lung des Liber Maiorichinus vergeblich. 1 Die Vermittlung von göttlichem Willen und menschlichem Handeln verläuft im Liber vor allem über die schon analysierten Zeichen des göttlichen Heilsplans. Durch sie stärkt Gott die Zuversicht der Christen und bewegt sie so zu noch größeren Anstrengungen. Hiermit eng verbunden ist eine wesentlich realistischere Darstellung der Ereignisse im Liber. Das Ausschalten des direkten übernatürlichen Eingreifens fuhrt zu einem schärferen Blick auf die psychologischen Implikationen menschlichen Handelns. So werden Unglücksfalle, die den Pisanern und ihren Verbündeten zustoßen, nicht etwa
1
Dies gilt jedenfalls für die Darstellung der Ereignisse durch den Dichter. Die Reden der geistlichen Teilnehmer der Expedition geben jedoch interessanterweise eine andere Konzeption wieder. Für den Kardinal Boso sind es eben die Heiligen, die für die Pisaner kämpfen (Vv. 2232 ff.): „Non dubitent hi quos fuerit Regina polorum Cum nato comitata suo pugnare: Deus nam, Quia pia causa fuit pro qua vos arma tulistis, Adiutor fiet vobis, terrebit et hostes Et conculabit divina potentia vestros. Hec ad certamen vos spes invitet euntes. Signifer et Michael vobis precedet, agetque Cum sociis hec bella suis Baptista Iohannes Et patriarcharum chorus arduus atque prophete. Ne trepidate: duces vobis in prelia fient Ecclesie Petrus cum Paulo tuta columna, Nec non Matheus, Lucas, Marcusque, Iohannes Et reliqui vestre facient solatia pugne. Auxiliumque dabit vobis certe protomartir Cum sociis Stephanus, Sylvester cum Nicholao. Virgineusque chorus vobis succurret, opemque Agmina sancta dabunt. hanc spem retinete fidelem." („Diejenigen sollten nicht zu kämpfen zögern, die den Beistand der Königin der Himmel und ihres Sohnes haben: Denn Gott wird euer Helfer sein, da die Sache, für die ihr die Waffen ergriffen habt, heilig ist, und die göttliche Allmacht eure Feinde erschrecken und bedrängen wird. Diese Zuversicht ermutige euch, in den Kampf zu ziehen. Michael wird als Bannerträger vor euch herziehen und Johannes der Täufer wird diesen Kampf mit seinen Genossen führen, ebenso die hohe Schar der Patriarchen und Propheten. Fürchtet euch nicht: Führer werden euch Petrus sein und Paulus, die sichere Säule der Kirche, Matthäus, Lucas, Markus, Johannes und die übrigen werden euch Trost im Kampf spenden. Unterstützung wird euch sicher der Protomärtyrer Stephanus mit seinen Genossen, Silvester und Nikolaus, geben. Die Schar der Jungfrauen wird euch zu Hilfe eilen und die heiligen Heerscharen werden euch helfen. Bewahrt euch diese Zuversicht!"). Die hier erwähnte himmlische Unterstützung steht in bemerkenswerter Parallele zu den im Carmen erwähnten überirdischen ,Hilfskontingenten', vgl. Carmen, Vv. 131 ff. und oben S. 129 ff. Die Passage des Liber Maiorichinus steht jedoch im Kontext einer Rede: Sie dient dazu, die Kämpfer in ihrem Mut zu stärken und ihnen Zuversicht zu geben. In der Schilderung der Ereignisse selbst findet sich eine solche Auffassung nicht. Eine genauere Untersuchung der in den Text eingeschalteten Reden, die in dieser Arbeit nicht zu leisten ist, könnte zeigen, daß der Dichter diese jeweils den entsprechenden Figuren angepaßt hat.
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durch Eingriffe des Teufels in das Geschehen erklärt, sondern schlicht durch menschliche Unzulänglichkeiten. Als die Pisaner Flotte nach der Abfahrt aus Sardinien den rechten Kurs in einem Sturm verliert, wird dies allein auf das falsche Verhalten der Schiffsbesatzungen zurückgeführt. Obwohl die Konsuln die Führung der Flotte den Pisanern Passarinus und Alpherius anvertraut hatten,1 denken die Führer der Schiffe gar nicht daran, sich an diese Anordnung zu halten, sondern liefern sich ein Wettrennen auf dem offenen Meer:2 „Iussa patrum contempta iacent, convertitur ordo; Quisquis enim potuit celeri transcurrere ligno Ostendit sociis velis et remige puppes."
Diese Mißachtung der Ordnung führt dazu, daß die Flotte von ihrem Kurs abkommt und versehentlich die Küste des christlichen Kataloniens angreift.3 Die Gründe für das falsche Verhalten der Schiffsbesatzungen werden jedoch nicht auf die Einwirkungen böser Mächte, sondern auf die mangelnde Erfahrung der Schiffsbesatzungen zurückgeführt,4 „Qui nondum rabidi bene norant equoris usum."
Ähnliche Erklärungen findet der Dichter auch an anderer Stelle für die Verfehlungen der Expeditionsteilnehmer. Als die jüngeren Kämpfer nach einem ausgiebigen Gelage ihren Rausch ausschliefen, und dabei in ihrem Zelt von einer sarazenischen Gruppe unter großen Verlusten angegriffen wurden, doziert er über die Schwächen der Jugend: Wein, Essen und die sich anschließend einstellende Müdigkeit seien es gewesen, die die jungen Pisaner zu einer leichten Beute der Sarazenen werden ließen.5 Wenn es denn überhaupt so etwas wie eine aktive Einflußnahme himmlischer Instanzen auf den Gang der Ereignisse gibt, dann durch eine Art Beseelung der Akteure. Während der Belagerung des Hauptortes Mallorcas konnte die Stadt zunächst nicht genommen werden, obwohl eine Öffnung in die Mauer geschlagen worden war. 6 In dieser Situation sind es sieben Pisaner Kämpfer, die sich mit großem Mut in die Schlacht werfen und die Sarazenen zurückdrängen.7 Deren Erfolg wird ebenfalls nicht auf ein konkretes Einwirken von Engeln oder Heiligen zurückgeführt, sondern der heilige Geist fallt auf sie herab und weckt in ihnen den Mut zum Kampf:8
1 2
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Liber Maiorichinus, Vv. 211 ff. Liber Maiorichinus, Vv. 214 ff. („Die Anordnungen der Konsuln wurden mißachtet, die Ordnung wurde verkehrt. Jeder der mit schnellem Schiff vorbeifahren konnte, ließ die Gefährten durch die Kraft von Ruderern und Segeln nur noch das Heck des Schiffes sehen.") Liber Maiorichinus, Vv. 317 ff. Liber Maiorichinus, V. 224. („.. .die die Bedingungen des wilden Meeres noch nicht gut kannten.") Liber Maiorichinus, Vv. 2432 ff. Liber Maiorichinus, Vv. 3178 f. Liber Maiorichinus, Vv. 3180 ff. Liber Maiorichinus, Vv. 3195 ff. („Vom Himmel fuhr der heilige Geist herab und entzündete die Genossen, deren dreifacher Ausruf Gott, den Schöpfer und Herrn der Welt, bekennend anrief.")
Deutungen des Erinnerten
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„Desuper adveniens divinus Spiritus illic Accendit socios, quorum vox trina Tonantem Factorem rerum dominum confessa rogavit."
Die Verbindung zwischen den beiden Sphären, der Welt der Menschen und dem Bereich des Göttlichen wird hier in die Psyche der handelnden Personen verlegt. Gott greift zugunsten seiner Auserwählten in die Geschichte ein, indem er die Seelen der Menschen entflammt und sie zu fast übermenschlichen Handlungen anstachelt, so daß sie mit himmlischer Kraft auf ihre Gegner einstürmen: 1 „Tum Deus Alpheis largitus prosperitatem, Successus pandit letos optataque vota. Barbarice gentis mutans cum casibus omen, Voceque terribili Mauros gladioque poposcit Parvula turba feros celesti tacta vigore."
Diese - im Vergleich zum älteren Text des Carmens - neuartige Konzeption verweist einerseits sicher auf ein neues Menschenbild. 2 Für die Frage nach der Deutung der Ereignisse ist jedoch wichtiger, daß sie den Blick auf weitere Aspekte der zeitgeschichtlichen Handlung freigibt. Die Figuren der Handlung werden im Liber wesentlich facettenreichen dargestellt, als im Carmen. Einerseits sind nicht alle Christen gleichermaßen gut, einige - vor allem die Pisaner - zeichnen sich noch weiter aus, andere, Luccheser und Genuesen, aber auch die spanischen und französischen Verbündeten tragen mehr oder weniger deutlich negative Züge. Neben den bisher vor allem untersuchten geschichtstheologischen Aspekten ist die Kennzeichnung der einzelnen Figuren im Liber mit Blick auf die Deutung des Textes von großem Interesse. c. Die Darstellung der Pisaner Schon oben konnte gezeigt werden, daß im Liber die Zeit-Thematik eingesetzt wird, um die ethische Überlegenheit der Pisaner im Vergleich zu ihren christlichen Mitkämpfern zu belegen. Eben diese Vorbildlichkeit der Pisaner herauszuarbeiten, ist Hauptziel der Dichtung. Erreicht wird dies durch die Konstruktion von Oppositionen im Text, zunächst einmal durch die Gegenüberstellung von Christen und Heiden (Sarazenen), dann aber auch von Pisanern und Verbündeten.
1
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Liber Maiorichinus, Vv. 3202 f. („Da schenkte Gott den Pisanern Glück, teilte reichen Erfolg aus und erfüllte die gehegten Wünsche. Mit dem Sterben des barbarischen Volkes wendete sich das Schicksal: Von himmlischem Feuer erfüllt, forderte mit schrecklicher Stimme und Schwert eine kleine Schar, die grausamen Mauren heraus.") Eine solche Beobachtung läßt sich in den auch in anderen Bereichen zu erkennenden Humanismus' des 12. Jahrhunderts einbinden, der sich nach V. Epp „im Bereich der Geschichtsschreibung in einem wachsenden Bewusstsein menschlicher Eigenverantwortlichkeit für den Ablauf des Geschehens äußerte" ( E P P : SPURENSUCHER, S . 5 6 f.).
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Sarazenen und Pisaner Die positive Absetzung der Pisaner von ihren sarazenischen Gegnern liegt natürlich nahe. S o werden schon am Anfang der Dichtung detailliert die Greueltaten geschildert, die die Sarazenen an den christlichen Küsten verübten: 1 „Rumor ab Hesperia Latias delatus in urbes Romanos Siculosque tenet, gentisque Latine Litora nulla vacant fremitu: terroribus huius Grecorum populi quatiuntur ab usque Chorintho, Et timor illalus, quos late corripit omnes, A pelagi studio longe facit esse remotos. Namque dum contra proprias Maiorica vires Exerit Italiam, navali fisa paratu, Sicaniamque petit et Achaica litora circum Navigat, inque Deis servos vesana potenter Sevit, cum templis divinas polluit aras, Diripit, incendit villas castellaque multa, Captivosque trahit, quos non interficit, omnes, Et monet, ut nichilum, Christum legemque negare, Et precepta sui complecti vana Rasulle. Hinc sibi credentes amat, amplexatur, honorat, Contra dicentes tormentis applicat atris. Venduntur quidam sub conditione nefanda, Hos ferrum maniceque domant sub carcere tetro, Hos cruciant inamata fames nimiique labores." Ähnliche Vorwürfe waren schon am Beginn des Carmen in victoriam Pisanorum begegnet. A u c h dort wurden die Bedrohung der christlichen Mittelmeerküsten und das harte Schicksal der Gefangenen herausgestellt. 2 Vor allem die Befreiung der Sklaven durchzieht dann auch den Liber als das vorgebliche Hauptmotiv der Pisaner. 3 D i e s wird
1
Liber Maiorichinus, Vv. 5 ff. („Die Kunde, die von Spanien in die lateinischen Städte gelangte, erreicht Römer und Sizilier, auch alle Küsten des lateinischen Volks erfüllt das Gerede: darüber: Die Schrecken, die es verbreitet, erschüttern von Korinth aus die Völker der Griechen, und von der Angst erfüllt, die alle weithin ergreift, bleiben sie alle schon seit langem der Seefahrt fern. Denn das mallorquinische Reich wirft die eigenen Kräfte, vertrauend auf seine Schiffe, gegen Italien, steuert Sizilien an, umsegelt die Küste Achaias, tobt gewalttätig und wild gegen die Diener Gottes, indem es in den Kirchen die Altäre Gottes besudelt. Es plündert, setzt viele Dörfer und Burgen in Brand, verschleppt als Gefangene, die es nicht ermordet, und drängt sie dazu, Christus und das Gesetz, als gäbe es sie nicht, zu leugnen und die hohlen Lehren ihres Mohammed anzunehmen. Wer sich ihm darauf anschließt, den liebt, schätzt und versieht es mit Ehren, wer sich widersetzt, den belegt es mit grauenvollen Foltern. Einige werden unter ruchlosen Umständen verkauft, Eisenketten und Handfesseln zwängen sie in abscheulichem Kerker, schrecklicher Hunger und übergroße Mühen quälen sie.")
2
Vgl. Carmen, Vv. 25 ff. Dazu oben S. 124 f. Auch hier wird man neben den sicherlich vorhandenen religiösen Motiven wirtschaftliche und politische Interessen der Pisaner annehmen können. Ein sarazenischer Stützpunkt auf den Balearen
3
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auch den Sarazenen selbst in den Mund gelegt. So weiß der Rat des Herrschers der Balearen: 1 „«Christicolis quoniam, qui pro pietate laborant, Kara magis essent captorum corpora fratrum, Quam videatur eis regnorum copia centum.»"
Mehr als im Carmen wird hier jedoch die Bedrohung betont, die die Sarazenen gerade für den christlichen Glauben darstellten. Die Sarazenen zwingen die gefangenen Christen, ihrem Glauben abzuschwören und entweihen christliche Kirchen und Altäre. Schon vor diesem Hintergrund ist klar, daß die Sarazenen Diener des Teufels sind, die Pisaner in der Konsequenz für Gott kämpfen, da sie seine Gegner bekämpfen. Konkret zeigt dies auch die Darstellung der Einzelkämpfe zwischen Christen und Sarazenen. Während die im Kampf gefallenen Christen direkt in den Himmel aufsteigen, werden die Seelen der Sarazenen in die Hölle befördert. So heißt es über den gefallenen Sarazenen Alantis: „Ille cadit properanter equo, fusoque cruore Tartareas flatum citius transmisit ad umbras."
Hingegen über den gefallenen Christen Rusticus: 3 „Ast ubi membra viri sunt evacuata cruore, Felicem moriens transmittit ad ethera flatum."
Schon durch ihre Religion sind die Sarazenen eindeutig dem Bereich des Bösen zugeordnet, doch auch die Handlungsmotive von Christen und Sarazenen unterscheiden sich wesentlich. Die Christen handeln aus religiösen Motiven, ihr Ziel ist es, die Bedrohung der Christenheit durch die Sarazenen abzuwehren und vor allem ihre christlichen Brüder aus der sarazenischen Gefangenschaft zu befreien. Ganz anders werden die Motive der Sarazenen bestimmt. Angesichts der Bedrohung seiner Herrschaft fordert der Balearen-König seine Truppen zum Weiterkämpfen auf. Er tut dies in einer Weise, die sich charakteristisch von der in der Dichtung vorausgehenden Rede des Pisaner Erzbischofs unterscheidet. Dieser hatte die Kämpfenden zum Aushalten bewegen wollen, indem er an ihren Glauben appellierte: 4
störte sicher empfindlich den Pisaner Handel mit Nordafrika und Spanien. Vgl. zu den historischen H i n t e r g r ü n d e n z u l e t z t TANGHERONI: SPEDIZIONE PISANA.
' 2
Uber Maiorichinus, Vv. 880 ff. („«[...] denn den Christen, die sich für den Glauben abmühen, bedeuten die Körper ihrer gefangenen Brüder mehr, als die Schätze von hundert Königreichen.»") Liber Maiorichinus, Vv. 1716 f. („Schnell fiel er vom Pferd und schneller noch schickte er, war einmal sein Blut vergossen, seine Seele in die Schatten der Hölle.")
3
Liber Maiorichinus, V v . 1796 f. („Doch als die Glieder des Mannes vom Blut entleert waren, schickte der Sterbende seine glückliche Seele in die himmlischen Sphären.") Ähnliche Formulierungen finden sich an vielen Stellen der Dichtung.
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Liber Maiorichinus, Vv. 1578 ff. („«Es heißt, daß euer gütiger Herr und Schöpfer dort in seinen Gliedern gefangen ist. Wer wird nicht kämpfen, um ihn zu befreien?»")
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Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
„«Captus ibi factor vester pius atque creator Dicitur in membris; quis non pugnabit ut ipsum Eruat?»"
Und weiter:1 „«Qui captum dominum pugnamve relinquit agentem Iuste dampnatur, digne privatur honore, Et manet infamis semotus ab urbe foroque 2 .»"
Anders argumentiert der Könige der Balearen. Er fordert die Seinen auf, den Kampf nicht verloren zu geben, da den Unterlegenen der Verlust von Ehre und Wohlstand drohen:3 „Proponens laudis quantum victoria prestet Et quantum tribuat victoribus utilitatis, Quantaque cum dampnis fedent obprobria victos, Quos fugit omne decus, quos deserit omnis honestas, Servicium, dolor hinc et tristitia queque sequuntur."
Einem hochgestellten Sarazenen, der sich und seine Kinder nach der Eroberung der letzten Festung Mallorcas mit Geld freikaufen will, antworten die Pisaner:4 „[...] «Vos perdat et aurum Cunctipotens vestrum, qui tarn perversa putatis. Carius est enim vos tali morte resolvi Nobis, quam Balee pretiosa vel optima queque.»"
Die Tötung der heidnischen Sarazenen ist den Pisanern mehr wert als alle irdischen Güter. Im Kontext der Dichtung wird man auch dieses Verhalten als Zeugnis der christlichen Tugenden der Pisaner sehen können. Nicht für alles Gold der Welt lassen sich diese von ihrer Mission abbringen. Der Unterschied wird deutlich: Kampf aus religiösen Motiven auf der einen Seite, streben nach Ruhm, Wohlstand und irdischen Gütern auf der anderen Seite. Hierdurch ist jedoch eine Frontstellung zwischen profanen und religiösen Motiven und Zielen aufgebaut, die über den Vergleich zwischen Sarazenen und Christen hinausgeht. Dies wird die Analyse des zweiten großen Konfliktes im Lager der christlichen Kämpfer zeigen. 1
2 3
4
Uber Maiorichinus, Vv. 1587. („«Wer den gefangenen Herrn oder die tobende Schlacht verläßt, wird zurecht verdammt, seiner Ehre beraubt und als Verrufener soll er Stadt und Mark tplatzfern bleiben.»") Gemeint ist die Teilhabe am öffentlichen Leben. Liber Maiorichinus, Vv. 1826 ff. („...indem er ihnen vorhielt, wieviel Ruhm ein Sieg einbringen werde und wieviel Nutzen er den Siegern verschaffe, wieviel Schande zusätzlich zum Schaden die Besiegten besudele, denen jeder Ruhm und alle Ehre verloren gehe, denen daraus Sklaverei, Schmerz und Verzweiflung jeder Art erwachsen werden.") Liber Maiorichinus, Vv. 3489 ff. („[...] «Der Allmächtige verdamme euch und euer Gold, die ihr so Schlechtes erwägt. Es ist uns nämlich lieber, euch mit einem solchen Tod bezahlen zu lassen, als mit allen kostbaren und wertvollen Gütern der Balearen»")
Deutungen des Erinnerten Die
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Höllenszene
In der Höllenszene des Liber Maiorichinus, die auch als bisher unbeachtetes Zeugnis hochmittelalterlicher Jenseitsvorstellungen Interesse verdiente, 1 wird in allegorischer Umsetzung noch einmal die geschichtliche Grundsituation gespiegelt, wie sie die gesamte Darstellung durchzieht. Nachdem eine große Zahl Sarazenen durch das christliche Heer den Tod gefunden hat, entwirft der Text einen Blick in das Reich der Hölle. Deren Wächter Cerberus erhebt angesichts der vielen in die Hölle kommenden Sarazenen ein Gebrüll, das den Herrscher der Unterwelt veranlaßt, ihn nach dem Grund fur sein Klagen zu fragen. In seiner Antwort schildert Cerberus dann die historische Situation: Die Pisaner und ihre christlichen Verbündeten seien in ihrem Kampf für die christlichen Gefangenen dem Aufruf des Papstes gefolgt, der den Teilnehmenden die Vergebung der Sünden versprochen habe. 3 Auf der anderen Seite stehen hier die Anhänger des Königs von Mallorca, die von Beginn an den Höllenstrafen verfallen sind und nun in Scharen, von den Christen getötet, die Hölle überschwemmen: 4 1
Vgl. zunächst die kurzen Ausführungen bei RONCA: CULTURA MEDIOEVALE, I, S . 3 8 3 f. und TANG15. Die bisherige Literatur zu hochmittelalterlichen Jenseitsvorstellungen hat die Darstellung des Liber Maiorichinus nicht berücksichtigt. Liber Maiorichinus, Vv. 2948 ff. Liber Maiorichinus, Vv. 2962 f. Die vom Papst zugesicherte Absolution für die Teilnehmer der Expedition erwähnt der Dichter schon zu Beginn. Dort heißt es über Paschalis: HERONI: SPEDIZIONE PISANA, S .
2 3
„Pro tanto facto peccamina cuncta relaxat." ("Für diese Tat befreite er sie von allen Sünden"). Dieselbe Auffassung der Expedition drückt sich auch in der Rede des Kardinallegaten Boso aus (Vv. 2210 ff.). Vgl. besonders Vv. 2221 ff.: „[...] Vos Egyptum spoliate. En Pharaoneis fratres servire cathenis Cernitis. ultrices frangant hec inpia dextre Tartara, de penis fratresque trahantur eorum, Sitque beatus homo qui pro conflictibus istis Occumbet. penas nequeat sentire gehenne. Non aliquis demon de crimine sive reatu Audeat Deum sibi conflictum generare. Gaudia dentur ei que fini subdita non sunt." („Plündert Ägypten! Ihr seht doch eure Brüder in den Ketten des Pharaos als Sklaven leben. Eure rächende Rechte zerschlage diese gottlose Hölle! Befreit seien die Brüder aus ihrem Leid, und selig soll sein, wer für sie in den Kämpfen umkommt. Die Strafen der Hölle soll er nicht spüren, nicht ein Dämon wage ihn als Schuldigen vor Gott anzuklagen. Ihm sollen Freuden zuteil werden, die kein Ende haben.") 4
Liber Maiorichinus, Vv. 2959 ff. („«O Vater der Dunkelheit, es heißt, daß die Streitkräfte der Pisaner Krieg gegen die Küsten deiner Balearen geführt haben - so denn Mallorca Teil unseres Reiches ist. Rom hat ja dazu aufgerufen: Der Papst hat dem Volk, das für die Gefangenen kämpfen wollte, die Sünden vergeben. Viel Schaden mußten wir von diesem schon erleiden. Die Sterbenden
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„«Ο tenebrose Pater, Pisanae robora gentis Bella tue Balee fecisse feruntur in hora, Si pars existit regni Maiorica nostri. Roma quidem monuit: dimisit papa reatus Pro captivatis populo certare volenti. Plurima dampna facit nos hec tolerare potestas. Tartara nulla timent monitis eius morientes. At nostras Pisana cohors et Balcius heros1 Tartareis regnis et opus transmisit eorum. Nunc veniunt multi, plures michi crede futures Cum Latie türme gladiis populantibus urbem Intrabunt nostram: tu mox fabricare cathenas, Me suadente iube. meruit tua turba ligari, Ne fugiat penas, quas iam meruisse putatur, Que Balee regem late veniendo sequetur: Secum quippe tuis feret agmina plurima regnis.»"
Nach dem Tod des Königs Nazaredolus wird dieser von Mohammed in die Hölle geführt,2 wo er zunächst von Aiacus und Rhadamantys3 Satan präsentiert wird:4 „«In tetro genitor cui non est agmine compar, Ante tuos Balee rex est aterrime vultus5, Qui fecit plures homines occumbere ferro, Compulit et multos Christi dimittere legem.
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furchten die Hölle aufgrund seines Aufrufs nicht. Doch schickte die Schar der Pisaner und der Held Raimundus Balcius und ihr Wirken die Unsrigen in die höllischen Reiche. Jetzt kommen viele, doch glaube mir, es werden noch mehr sein, wenn die Truppen der Lateiner mit verheerenden Schwertern unsere Stadt betreten werden. Mir scheint, du solltest schnell Ketten herstellen lassen. Deine Schar verdient angebunden zu werden, damit sie nicht den Strafen entkommt, die schon jetzt zu verdienen scheinen, die dem König der Balearen folgen, wenn er aus seinem balearischen Schlupfwinkel kommt: Mit sich wird er ja viele Truppen in deine Reiche bringen.»") Raimundus de Balsio, einer der spanischen Verbündeten der Pisaner, vgl. Liber Maiorichinus, S. 23, Anm. 3 sowie Gesta triumphalia, S. 91. Liber Maiorichinus, V. 2987. Ein deutlicher Schlag des Dichters gegen die Figur des Religionsstifters, der hier als Diener der Hölle abqualifiziert wird. Vgl. zu Mohammed im Liber etwa auch Vv. 19 f. und 1088 f. Aiacus und Rhadamantys (im Text Eachus und Rodomantus) sind seit Piaton als Hadesrichter bekannt (vgl. GEISAU: RHADAMANTYS). Deren Erwähnung ist ein weiterer Beleg für die guten Kenntnisse des Dichters im Bereich der antiken Literatur. Liber Maiorichinus, Vv. 2991 ff. („«0 Vater, dem in der ganzen abscheulichen Schar niemand gleichkommt. Vor deinen Angesichtern steht der König der düsteren Balearen, der durch sein Schwert viele Männer in den Tod schickte und viele zwang, das Gesetz Christi zurückzuweisen. Da er uns als seinen Verbündeten große Zuneigung entgegenbrachte, weise ihm einen Platz in der ewig brennenden Halle zu und übergib ihn schnell den Strafen, die seiner Verdienste würdig sind. Laß sein Volk auch in den ewigen Flammen sein und befiehl, daß seine Genossen ewige Ketten tragen.»") In Anlehnung an den antiken Cerberus hat der Teufel in einigen mittelalterlichen Darstellungen drei Gesichter, so etwa auch in Dantes Inferno, vgl. SCHADE: DREI GESICHTER.
Deutungen des Erinnerten
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Et quoniam nobis socios portavit amores, Da sibi flammifera consistere semper in aula, Condignasque suis mentis mox exhibe penas. Huius et eternis da flammis affore gentem, Perpetuasque iube socios portare catenas.»" N a c h der Begrüßung durch Satan und einer Teilnahme am Höllenmahl wird er dann seiner ewigen Strafe zugeführt: 1 „Convive tandem post talia iussa tirampni Exiliunt, raptumque trahunt per inania regem Tartara, dilaniant, undis glatialibus addunt Exustum torrem: sitis est algore soluta; Mittitur in flammas; dolor est algorque calorque Ignibus amoto; senserunt viscera postquam Pestiferam siccata sitim, properavit ad amnem; Sed nequit accensos ob aquam removere calores. Nam latices, postquam voluit contingere labris, Astantem fugiunt umbram. tunc margine ripe Ut lapis immotus prorsus stupefactus adheret. Deglutit miserum variarum forma ferarum, Sicque ferum regem tenebrosus dissipat Orcus." Der historische Konflikt zwischen Christen und Sarazenen bzw. M o s l e m s ist in dieser Höllenszene schon vor der entscheidenden Auseinandersetzung um Mallorca zugunsten der Christen entschieden. D e n Sarazenen ist als Angehörigen des Höllenreiches schon lange ihr Urteil gesprochen, das sie in e w i g e Verdammnis fuhren wird, während den für ihren Glauben kämpfenden Christen die himmlische Seligkeit zugesagt ist. Die Pisaner und ihre
Verbündeten
Der in der Gegenüberstellung mit den Sarazenen entworfene Gegensatz zwischen weltlichen und religiösen Motiven wird auch auf die christlichen Verbündeten übertragen. Als im Dezember des Jahres 1114 der Herrscher der Balearen versucht, mit den Alliier-
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Liber Maiorichinus, Vv. 3027 ff. („Auf Befehl des Tyrannen sprangen die Tischgenossen auf und schleppten den von dort fortgerissenen König durch das Reich der körperlosen Schatten, zerfleischten ihn, mischten brennende Feuer in die eisigen Fluten und sein Durst nach dem höllischen Mahl wurde durch den Frost gestillt. Er wurde in die Flammen geworfen und in die Feuersbrunst verbannt erlitt er Schmerz, Frost und Hitze. Als seine verdorrten Eingeweide todbringenden Durst verspürten, eilte er zu einem Fluß. Doch er konnte am Wasser die brennende Glut nicht löschen, denn die Fluten wichen vor seiner am Ufer stehenden Schattengestalt zurück, immer wenn er sie gerade mit den Lippen zu erreichen suchte. So blieb er völlig erstarrt am Rand des Ufers wie ein unbeweglicher Stein stehen. Den Elenden verschlang etwas, was in seiner Gestalt verschiedene Bestien vereinte und so vernichtete das finstere Schattenreich den grausamen König.") Diese Bestrafung des Sarazenen-Königs entspricht der des mythischen Griechenkönigs Tantalos. Ob es einen Grund dafür gab, daß der Autor Nazaredölus dieselbe Strafe zukommen ließ wie Tantalos, ist nicht zu erkennen.
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ten der Pisaner Friedensverhandlungen aufzunehmen, 1 sind die christlichen Alliierten unter der Bedingung z u m Frieden bereit, daß sie v o n den Sarazenen materiell entlohnt werden: 2 „Fama refert comites3 regi de pace locutos, Venales factos, privataque dona rogare, Et propter reditum Balee naves habituros, Cum quibus ad patrios portus remeare valerent, Si modo Pisani iungi sibi federe nollent." Schon dieser Vorwurf der Bestechlichkeit setzt die Alliierten natürlich in ein schlechtes Licht. Sie versuchen nun, die Pisaner duces davon zu überzeugen, mit dem König Frieden zu schließen. A l s diese sich weigern, treten die Alliierten, v o n denen gerade berichtet wurde, daß sie sich von den Sarazenen bestechen ließen, mit Vorwürfen an die Pisaner heran: 4 „«Quod petimus rex omne facit, vos laudis honorem Queritis, et bellum tantum pro laude movetis Seu pro divitiis.»" und weiter: 5 „«Sunt pro captivis qui se venisse fatentur, Sed pro mundano nimis altercantur honore. Captivis habitis aliud linquatur, et ultra Nec laus orbis, honor, nec inanis pompa petantur.»" Indem sie die Pisaner beschuldigen, nur noch nach weltlichem Ruhm zu streben, obwohl doch das eigentliche Ziel, die Befreiung der Gefangenen, in erreichbarer Nähe sei, drängen sie auf ein schnelles Abbrechen der Expedition. Im Anschluß fuhren sie dann aber noch einen weiteren Vorwurf an, indem sie behaupten, genau zu wissen, w i e s o die Pisaner die Kämpfe noch nicht beenden wollen: Diese seien ihrem Klerus hörig, sie kämpften gar nicht aus eigenem Willen, sondern folgten nur den Befehlen der Priester, die selbst gar keinen Anteil an den Kämpfen hätten: 6 ' 2
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Liher Maiorichinus, Vv. 2693 ff. Uber Maiorichinus, Vv. 2698 ff. („Gerüchte kursierten, daß die Grafen mit dem König über Frieden gesprochen hätten, daß sie sich bestechen ließen, persönliche Geschenke verlangten und für die Rückreise balearische Schiffe bekommen sollten, mit denen sie in ihre heimatlichen Häfen zurückfahren könnten, sollten die Pisaner sich dem Friedensschluß nicht anschließen wollen.") Gemeint sind die spanischen und französischen Verbündeten der Pisaner. Liber Maiorichinus, Vv. 2708 ff. („«Alles, worum wir bitten, wird der König erfüllen. Ihr sucht nur die Ehre, und den Krieg führt ihr nur um Ruhm oder Reichtümer!»") Liber Maiorichinus, Vv. 2725 ff. („«Einige versichern, sie seien der Gefangenen wegen gekommen, doch mehr noch streiten sie um irdischen Ruhm. Sind die Gefangenen befreit, sollte man alles andere außer acht lassen und nicht darüber hinaus nach dem Lob der Welt, nach Ehre und eitlem Triumph trachten.»") Liber Maiorichinus, Vv. 2712 ff. und 2721 ff. („«Ihr vertraut den Klerikern, die euch zu kämpfen befehlen, damit sie die auf dem ganzen Schlachtfeld wogenden Truppen beobachten können. Sie
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„«Creditis et cleris, qui vos pugnare iubentes Agmina conspiciunt toto fluitantia campo, Bella videre volunt, gaudent de sanguine nostra Quorum doctrinam monitus et iussa refutent, Hi qui victores cupiunt ex marte reverti. Nos igitur nullus iubeat pugnare sacerdos. Quam cedat mucro nescit, quam lancea pungat.[...] Nos qui sentimus crebrosque rependimus ictus Arbitrio pugnare decet, non iussibus horum. Contra iustitiam pugnam committere iuste Nemo potest, iusti iustam cognoscite causam.»" Gerade der Pisaner Klerus steht in der Schußlinie der Alliierten: Ihm wird vorgeworfen, aus Lust an den Kämpfen, aus Blutgier zum Krieg und zur Weiterführung der Kämpfe aufzufordern. Die ganze Diskussion wird letztlich auf die schon im Carmen auftauchende elementare Frage nach dem gerechten Krieg zugespitzt: Unter welchen Umständen ist Krieg und Blutvergießen zu rechtfertigen? 1 Eine Antwort geben die Verbündeten in ihrer Rede: Die Entscheidung darüber liege nicht bei den Klerikern, also den Theologen und Theoretikern, sondern bei den Kämpfenden, die die Leiden des Krieges an eigener Haut erfahren. Möglich ist, daß auch diese Diskussion einen zeitgeschichtlichen Hintergrund hatte. 2 Wichtiger ist aber für die hier verfolgte Fragestellung, daß der Streit dem Dichter Anlaß bietet, noch einmal die Pisaner Position herauszustellen. Die Vorwürfe der Alliierten sind im Zusammenhang der Dichtung ja schon dadurch entwertet, daß sie aus dem Munde derjenigen stammen, von denen zuvor berichtet wurde, daß sie von den Ungläubigen bestochen wurden. 3 Doch wird den Pisaner Konsuln Henricus und A z z o zusätz-
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wollen Kriege sehen und erfreuen sich an unserem Blut. Deren ermahnende Lehren und Befehle sollte zurückweisen, wer als Sieger aus dem Krieg hervorgehen will. Kein Priester sollte uns daher zum Kämpfen auffordern: Er weiß ja nicht, welche Wunden das Schwert schlägt und wie die Lanze sticht. [...] Wir, die wir viele Schläge erleiden und austeilen, sollten aus eigener Entscheidung kämpfen, nicht auf deren Befehl hin. Niemand kann gerechterweise gegen die Gerechtigkeit einen Kampf führen. Also, ihr Gerechten, erkennt die rechte Sache!»") Vgl. oben S. 123 ff. Vermutlich gab es über das Ziel der Expedition tatsächlich Dikussionen im christlichen Lager. Den französischen und spanischen Teilnehmern der Expedition reichte vielleicht die Schwächung des Balearen-Reiches und ein Friedensvertrag, an den sich friedliche Beziehungen zu den Sarazenen anknüpfen ließen. Vgl. auch den vorausgegangenen Angriff spanischer Muslime auf die Territorien des Grafen von Barcelona, der die spanischen Verbündeten schon einmal an Rückzug denken ließ {Uber Maiorichinus, Vv. 2390 ff.). Im Anschluß an die im folgenden zu untersuchende Rede kann sich der Dichter jedoch offenbar nicht zurückhalten und kommentiert noch einmal bitter das Verhalten der Grafen (Vv. 2769 ff.): „Auditis comites his verbis conticuerunt, A patribus sumptus qui largos sepe petentes In proprios usus communia queque trahebant."
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lieh noch eine Verteidigungsrede in den Mund gelegt, in der diese Vorwürfe widerlegt werden. Zunächst stellen beide noch einmal klar, daß sie nicht um weltlichen Ruhm kämpfen, sondern daß ihr Ziel eine gerechte Sache ist. Sie wenden sich so gegen den Vorwurf, der Krieg sei nach der Befreiung der Gefangenen kein bellum iustum mehr, da ihm der gerechte Grund fehle:1 „«Quisquis ad has partes aliud fortasse requirat, Nos pro captivis ad eas venisse fatemur. Non ob eos tantum quos detinet insula captos, Ast ob eos etiam quos detentura fuisset. Exstirpare malum Domino faciente putamus, Nec volumus post nos tantum remanere baratrum.»"
Schon durch den Verweis darauf, daß man zwar die jetzigen Gefangenen frei bekommen könne, damit aber nicht das Leiden der zukünftigen verhindere, ist das Ziel der Expedition in einer Weise definiert, die ihre Weiterführung notwendig macht. Zusätzlich äußern sich die Pisaner dann auch zum Vorwurf der Priesterhörigkeit. Diesen versuchen sie gar nicht erst zu entkräften, vielmehr begründen sie, wieso den Klerikern bei den mit der Expedition verbundenen Entscheidungen besonderes Gewicht zukommt:2 „«Paremus cleris, quia venit ab ordine sacro Iussio pugnandi. nam iussit prelia papa Sedis apostolice, cuius preeepta sequuti Tantum propositum nusquam mutare valemus.»"
Der Vorwurf der Alliierten wird so entkräftet, indem auf den religiösen Gesamtcharakter der Unternehmung verwiesen wird. Da die ganze Expedition auf Initiative des Klerus bzw. des Papsttums zurückgehe, 3 stehe diesem auch eine besondere Führungsposition innerhalb des christlichen Heeres zu. Aus dem religiösen Charakter der Expedition wird so ein absoluter Führungsanspruch des Klerus abgeleitet, dem man unter allen Umständen nachkommen müsse. Deutlicher kann die Perspektive des Dich-
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(„Nachdem sie diese Worte vernommen hatten, schwiegen die Grafen, die von den Konsuln oft große Aufwendungen einforderten und alle öffentlichen Gelder doch nur ihrem persönlichen Nutzen zuführten.") Liber Maiorichinus, Vv. 2746 ff. („«Mag sein, daß hier irgend jemand noch etwas anderes sucht. Wir versichern, daß wir der Gefangenen wegen hierhin gekommen sind. Doch nicht nur derentwegen, die jetzt auf der Insel festgehalten werden, sondern auch wegen derjenigen, die dort noch in Zukunft gefangen gehalten werden. Wir beabsichtigen, das Böse durch die Tatkraft Gottes auszulöschen, und wollen keine derartige Hölle hinter uns zurücklassen.»") Liber Maiorichinus, Vv. 2761 ff. („«Wir gehorchen dem Klerus, da der Befehl zum Kämpfen vom heiligen Stand ausgeht. Denn der Papst hat vom apostolischen Stuhl aus den Kampf befohlen, dessen Anordnungen wir folgen und dessen wichtigen Auftrag wir in keinem Falle verändern können.»") Der Text des Liber selbst schildert den Beginn der Expedition jedoch anders: Erst nachdem die Pisaner sich zum Kriegszug entschieden hatten, entsandten sie eine Delegation nach Rom. Vgl. Liber Maiorichinus, Vv. 71 ff.
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Deutungen des Erinnerten
ters wohl nicht mehr hervortreten: A l s Kleriker interpretiert er die zeitgeschichtlichen Ereignisse vor dem Hintergrund christlich-klerikaler Verhaltensnormen, als Kleriker besteht er - zunächst nur für den engeren Rahmen der Expedition - auf der Führrungsrolle des Klerus. d. Brüche - Elemente einer heroisch-weltlichen Geschichtsauffassung A n einigen Stellen zeigen sich im Liber jedoch auch Spuren einer ganz anderen Sicht der Ereignisse. Hier sind es dann nicht mehr die religiösen Aspekte, sondern genuin weltlich-heroische Tugenden, die eher an die zeitgenössische Heldendichtung erinnern. 1 So ruft der Dichter zu Beginn länger zurückliegende Großtaten seiner Heimatstadt in Erinnerung. Auch hier heißt es, daß die Pisaner durch die Untaten der Sarazenen zum Kampf b e w o g e n wurden. D o c h werden nicht christliche Ideale genannt, für die die Pisaner die Mühen des Krieges auf sich nahmen: Die gloria
war es, die diese Reichtum
und Luxus vorzogen: 2
Sowohl im Carmen in victoriam Pisanorum als auch im Liber Maiorichinus finden sich Spuren einer Rezeption der zeitgenössischen (volkssprachlichen) Heldenepik. So weist Giuseppe Scalia mit Recht auf derartige Spuren im Carmen hin ( S C A L I A : C A R M E PISANO, S . 53, Anm. zu Vv. 193 f.). Deutlicher wird dies aber im Liber. Neben eher impliziten Bezügen (vgl. zu diesen S C A L I A : O L I V E RUS) findet sich eine mögliche Anspielung auf die Chanson de Roland. Als die Flotte an der katalanischen Küste entlangsegelt, berichtet der Dichter (Vv. 585 ff.): „Regis in hac Karoli dicuntur castra fuisse, Cum duro quondam certamine stravit Hyberos; Hic hyemes Franci tolerasse feruntur et estus, Quando prestanti ceperunt robore terram." („Man sagt, daß hier das Lager des Königs Karl war, als er einst in harter Schlacht mit den Iberern kämpfte. Und weiter wird berichtet, daß die Franken hier Winter und Sommer ertragen mußten, als sie dieses Land mit einem vorzüglichen Heer eroberten"). Gegen R A J N A : C O N T R I B U T I , S . 4 7 ff. sieht S C A L I A : O L I V E R U S , S . 2 9 7 hier jedoch keinen Niederschlag einer Kenntnis des um Karl den Großen und Roland entstandenen Sagenkreises, sondern eine während der Balearen-Expedition vom Dichter aufgeschnappte lokale, also katalanische Tradition (so auch C A R R A R A : R O L A N D O , S. 30). 2
Liber Maiorichinus, Vv32-38 ff. („Der Zorn [über die Untaten der Sarazenen] erregte die Alten, die die Punischen Reiche besiegen und die Heiden ihrem Tribut unterwerfen konnten. Sie riefen die Taten in Bona, die Kämpfe in Palermo und die zahllosen durch wechselndes Glück gewonnenen Schlachten in Erinnerung und entflammten so die Gemüter der Jungen, die die schrecklichen Taten, die Mühen, den Schweiß und den Ruhm des harten Krieges den Reichtümern und Vergnügungen vorzogen.") Zur Stelle auch oben S.81 ff.
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„Concitat ira senes, qui Punica vincere regna, Subdere quique suo gentes potuere tributo. Hi memorant dum facta Bone, dum bella Panormi Victaque per varios quam plurima prelia casus, Accendunt animos iuvenum, quibus orrida facta Et labor et sudor et duri gloria Maitis Divitiis et delitiis potiora fuerunt." Ähnlichen Idealen ist auch der Bericht über die Kämpfe der Pisaner auf Sardinien verpflichtet. 1 Wiederum von der Grausamkeit der Sarazenen z u m Krieg bewegt, 2 senden die Pisaner eine Flotte gegen die muslimischen Eroberer der Insel. Die Charakterisierung der Pisaner Kämpfer ist interessant, da hier v o n christlichen Motiven nicht viel zu spüren ist: 3 „Qualiter accipitres pavidas peciere columbas, Et sicut Libici poscunt armenta leones, Tunc cum longa fames in viscera serpit eorum, Sic sic accelerant, sic poscunt bella frementes, Quos Pisana manus sevos duetabat in hostes." Der erste Erfolg auf Sardinien wird dann auch ganz in diesem Sinne als weltli cher Triumph aufgefaßt: 4 „Heroes igitur, suseepta laude triumphi, Victores redeunt, fines intrantque paternos." Ganz im Sinne dieser weltlich-heroischen Auffassung der Pisaner Geschichte wird dann auch an anderer Stelle an die Taten der Vorfahren erinnert. Im Getümmel des Entscheidungskampfes um die befestigte Hauptsstadt Mallorcas wird ein kurzer Woitwechsel zwischen zwei Pisanern, Vater und Sohn, geschildert. Der Vater, Ildebrandus, fordert hier seinen Sohn z u m weiterkämpfen auf: 5 „[...] «Ferias, precor, optime fili, Nec cuiquam parcas gladio si deficit asta. Pro patria pugnare docet veneranda vetustas, Et nostri quondam micuere per arma parentes.»"
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Vgl. die gesamte Passage oben S.83. Liber Maiorichinus, Vv. 924 ff. Liber Maiorichinus, Vv. 930 ff. („So wie die Habichte die furchtsamen Tauben angreifen und die libyschen Löwen den Herden nachstreben, wenn Hunger schon lange in ihren Eingeweiden wühlt, so eilten, so sehnten sich schreiend nach Krieg diejenigen, die Pisa gegen die wilden Feinde führte") Liber Maiorichinus, Vv. 942 f. („Die Helden aber, nachdem sie die Ehre des Siegs errungen hatten, kehrten als Sieger zurück in das Land ihrer Väter.") Liber Maiorichinus, Vv. 3227 ff. („«Schlag zu, ich bitte dich, bester Sohn, verschone niemanden mit deinem Schwert, wenn dir die Lanze fehlt. Für das Vaterland zu kämpfen lehrt uns das ehrwürdige Altertum, auch unsere Ahnen erstrahlten einst unter Waffen.»")
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Deutlicher kann diese andere Auffassung der Ereignisse nicht ausgedrückt werden. Die glänzenden Waffentaten der Alten sollen ein Ansporn für die Jüngeren sein, „für das Vaterland zu kämpfen".1 Auch hier keine Spur von christlichen Idealen. Dieser Aspekt, der in bemerkenswertem Kontrast zu dem vom Autor mühevoll aufgebauten Gegensatz zwischen den Pisanem einerseits und Sarazenen und christlichen Verbündeten Pisas andererseits steht, läßt sich auch in der Gesamtanlage des Textes wiederfinden. Nur vor dem Hintergrund einer solchen alternativen Deutung der Kämpfe sind die sich über mehrere hundert Verse erstreckenden Schilderungen von Einzelkämpfen zwischen Christen und Sarazenen zu verstehen. Ein kurzer Ausschnitt mag hier genügen:2 „Sternit et hic Lephanton Tegrimus Alante creatum. Gerardus Gaitanus adest, qui cuspidis ictu Cerbereas Rachium transfixum misit ad horas. Viscardus Nilion letali vulnere sternit. Hinc Albertinus, claro Bellomine natus, Per fauces medias ingentem fixit Aneten. Atrocem Laium venientem Vido Butensis Excipit, et victum Stigialibus agregat umbris. Saucius ipse dehinc graviter certamine cedit. Ildeprandinus, Iulitte filius, asta Fundit Ilerdensem generosum Stirpe Gairum. Ingentem Valandus agens, Valandica proles, Astam, quam validus vibrabat uterque lacertus, Inmanem Libicum duro resupinat in agro."
Eine derart detaillierte Schilderung der Kämpfe kann nur schwer auf die oben analysierte geschichtstheologische Durchdringung der zeitgeschichtlichen Ereignisse zurückgeführt werden. Insbesondere die Nennung der Namen der jeweiligen Pisaner Kämpfer läßt vermuten, daß es dem Dichter hier vor allem darauf ankam, seine heldenhaft auf den Balearen kämpfenden Mitbürger durch seinen Text im Gedächtnis der Nachwelt zu
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Vgl. zur Formel ,pro patria morire' im Mittelalter zunächst K A N T O R O W I C Z : Z W E I K Ö R P E R , S. 245 ff. Uber Maiorichinus, Vv. 1759 ff. („Hier streckt auch Tegrimus den Lephantos, Sohn des Alantis, nieder. Da steht Gerardus Gaetani, der mit einem Stich seiner Lanze den Rachius durchbohrt und an die Ufer des Cerberos schickt. Guiscardus streckt Nilios durch eine tödliche Wunde nieder. Albertus, Sohn des berühmten Bellomo, durchbohrte den Hals des riesenhaften Anete. Guido da Buti wehrt den wild anstürmenden Laius ab und reiht ihn besiegt unter die Schatten des Styx ein. Selbst schwer verwundet zieht er sich danach vom Kampf zurück. Ildebrandinus, Sohn der Julitta, schlägt den aus edlem Geschlecht stammenden Gairus aus Herda nieder. Der riesenhafte Gualandus, aus der Familie der Gualandi, der seine große Lanze mit beiden Armen schwingt, wirft einen libyschen Riesen auf den harten Boden.")
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verankern. 1 Nur so ist die Aneinanderreihung v o n Einzelkämpfen zu erklären, die für den weiteren Fortgang der Handlung vollkommen irrelevant sind. 2 Wenngleich das Streben nach Ruhm und Ehre, also nach weltlicher Anerkennung für kriegerische Leistungen, im Text eindeutig abgelehnt wird, kann man eine seiner Funktionen doch gerade hierin sehen. 3 So heißt es ja auch am Anfang der Dichtung: 4 „Pisani populi vires et bellica facta Scripsimus ac duros terre pelagique labores, Maurorum stragem, spoliata subactaque regna." A u c h innerhalb der Darstellung der einzelnen Kampfhandlungen kann man neben der christlichen Deutung eine konkurrierende Auffassung finden. Während im geschichtstheologischen Kontext eine äußerst negative Beurteilung der Sarazenen festgestellt werden konnte, sind die Kampfszenen im Liber v o n einem möglicherweise auch auf entstehende ritterliche Ideale zurückzuführenden Respekt vor dem Gegner geprägt. 5 Dieser zeigt sich etwa darin, daß auch die sarazenischen Gegner der Pisaner mit ihrem N a m e n genannt werden. Bei aller Grausamkeit, die die Darstellung des jeweiligen Ausgangs des Kampfes prägt, wird dennoch die edle Herkunft der gefallenen Muslime erwähnt. 6 Daß eine solche Beziehung zwischen Christen und Sarazenen jenseits der
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So auch SCALIA: OLIVERUS, S . 2 9 3 . Vergleichend heranzuziehen sind hier die Interpretationen ähnlicher Phänomene in der karolingischen Historiographie bei SCHARFF: KÄMPFE DER HERRSCHER, S. 203 ff. Calisse will die entsprechenden Szenen auf eine Anlehnung an Vergil und andere antike Autoren zurückführen (Liber Maiorichinus, S. 68, Anm. 3). Wenngleich eine gewisse Ähnlichkeit nicht zu leugnen ist, erklärt dies jedoch nicht die Bedeutung dieser Szenen im Gesamtkontext der Dichtung. Da es sich bei den hier erwähnten Namen nur in einigen Fällen um christliche Gefallene handelt, wird man diese Aufzählungen nicht in den Zusammenhang genuin christlicher Memoria einbinden können. Vgl. hingegen fur die karolingische Historiograph SCHARFF: KÄMPFE DER HERRSCHER, S. 2 0 5 .
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Vgl. allgemein zur Bewertung des Ruhm im christlich-mittelalterlichen Kontext M Ü L L E R : GLORIA. Liber Maiorichinus, Vv. 1 ff. („Die Streitkräfte und die kriegerischen Taten des Pisaner Volkes, ihre schweren Anstrengungen zu Land und auf dem Meer haben wir beschrieben, die Vernichtung der Mauren, die Plünderung und Unterwerfung ihrer Reiche.") Auf den ritterlichen Kampf als .sportliche' Auseinandersetzung verweist zuletzt K O R T Ü M : K R I E G , S. 39. Zum ritterlichen Ideal der Waffenbrüderschaft, die auch Feinde einschloß, etwa auch STRICKLAND: KILLING.
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Es ist nicht ganz klar, welche Bedeutung man den vom Text überlieferten Namen der sarazenischen Kämpfer zuschreiben soll. Während der Dichter allgemein für die getreue Nachbildung der arabischen Namen gelobt wird (vgl. etwa Liber Maiorichinus, S. 38, Anm. 1), ist nur schwer zu erklären, woher er Informationen über die Namen der getöteten Sarazenen haben konnte. Möglich ist, daß es sich hierbei um Phantasienamen handelt (so vermutet Liber Maiorichinus, S. 68 f., Anm. 3, vgl. aber auch die Hinweise Amaris ebd.). Denkbar ist, daß es einen Zusammenhang mit der eigens erwähnten Liste gefallener Sarazenen gibt, die die Pisaner erbeuteten (Liber Maiorichinus, Vv. 2668 f f ) . Möglicherweise entnahm der Dichter zumindest das Namensmaterial diesen Listen. Daß die Pisaner - auf welche Weise auch immer - in der Lage waren, arabische Texte zu entzif-
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religiös bedingten, scheinbar unüberbrückbaren Gegensätze durchaus möglich war, zeigt auch das im Liber berichtete Beispiel der Verbrüderung zwischen dem Pisaner Petrus und dem Sarazenen Mugähid, die zur Zeit der Expedition noch im Bewußtsein beider Seiten gewesen sein muß. 1 Man fragt sich nun, wie diese alternative Sicht auf die Ereignisse, die im Kontrast zur theologischen Durchdringung des Textes steht, zu erklären ist. Möglicherweise sind die abweichenden Elemente in Zusammenhang mit der Rezeptionssituation der Dichtung zu sehen. Vorstellbar ist, daß dieser und ähnliche Texte am Hof des Erzbischofs oder in den Häusern der Führungsschicht rezitiert wurden. Gerade die namentliche Erwähnung der einzelnen Angehörigen der Pisaner Führungsschicht während der Kämpfe könnte so auf die Erwartungen des Publikums zurückgeführt werden. Der Text hätte so sicher einerseits didaktische Funktionen erfüllt (dies betrifft vor allem die geschichtstheologische Ausdeutung der Ereignisse), hätte aber auch das Bedürfnis der laikalen Führungsschicht der Stadt befriedigt, die ein Interesse daran gehabt haben wird, in angemessener Weise die Erinnerung an diejenigen ihrer Angehörigen bewahrt zu wissen, die an der Expedition teilnahmen oder dabei gar zu Tode kamen. 4. Zusammenfassung Gegenstand des Liber Maiorichinus - wie schon des älteren Carmen in victoriam Pisanorum - ist die Verherrlichung der Taten der Pisaner und ihrer Rolle in der Geschichte. Beide Texte begründen durch den Rückgriff auf geschichtstheologische Prämissen die göttliche Auserwähltheit der Pisaner, denen im Geschichts- und Heilsplan eine besondere Funktion zugewiesen wird. An die Stelle der typologischen Interpretation der Zeitgeschichte tritt im Falle des Libers eine Suche nach Zeichen, die in der Welt auf den göttlichen Heilsplan verweisen. Diese dienen dem Nachweis, daß die geschichtlichen Ereignisse dem göttlichen Planen unterworfen sind. Aus dieser Argumentation ergibt sich eine zusätzliche Bedeutung der Pisaner Erfolge: Deren Kriegszüge sind nicht nur religiös motiviert, Gott selbst hat ihnen den Sieg geschenkt, hat Pisa ausgewählt, über seine Feinde zu triumphieren. Insgesamt prägt den Liber aber eine realistischere Darstellung der zeitgeschichtlichen Ereignisse, die sich vor allem an der veränderten Konzeptualisierung des Verhältnisses zwischen göttlicher und irdischer Sphäre zeigt. Die sich hieraus ergebende differenziertere Sicht auf die Ereignisse öffnet dann im Liber den Blick für die unterschiedlichen Handlungsweisen, vor allem die unterschiedlichen Motive der historischen Akteure.
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fem, läßt sich dem Zusammenhang der entsprechenden Szene entnehmen (vgl. Liber Maiorichinus, Vv. 2635 ff.). Vgl. Liber Maiorichinus, Vv. 921 ff. Zu den Hintergründen ausführlicher unten S. 414 f. sowie V O L P E : L I B E R M A I O L I C H I N U S , S. 2 0 7 ff. Kritisch zu dieser Episode F I S H E R : P I S A N C L E R G Y , S. 2 1 3 . Dessen Vermutung, es handle sich hierbei um den Versuch von Angehörigen der Pisaner Führungsschicht, sich in die ältere Geschichte der Stadt einzubinden, ist jedoch wenig überzeugend.
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Gerade durch den Blick auf die Motivationen der Handelnden gelingt es dem Dichter des Liber Maiorichinus einmal mehr, die besondere Vorbildlichkeit der Pisaner herauszuarbeiten, die im Bezugsrahmen einer christlichen Ethik nicht nur ihre sarazenischen Feinde, sondern auch ihre christlichen Verbündeten übertreffen. Neben der geschichtstheologischen Durchdringung der zeitgeschichtlichen Ereignisse finden sich aber auch Elemente einer abweichenden Auffassung der Ereignisse, die eher auf den Wertekanon einer städtischen Aristokratie verweisen. Hierbei muß die vorgeschlagene Rückführung dieser ,laikalen' Elemente auf die Rezeptionssituation des Textes hypothetisch bleiben, da eine solche Interpretation aufgrund der Quellensituation bisher nicht abschließend überprüft werden kann. Auch der Liber Maiorichinus zeichnet sich so durch die fur die frühe Pisaner Geschichtsdichtung typische Verknüpfung traditioneller und zukunftsweisender Elemente aus. Traditionell - wenn auch durchaus der zeitgenössischen theologischen Diskussion verbunden - ist die geschichtstheologische Interpretation der Zeitgeschichte. Neu ist hingegen auch hier der Protagonist der historischen Handlung: Nicht Könige, Fürsten oder geistliche Würdenträger, sondern die Stadtgemeinschaft der Pisaner steht im Zentrum des Textes. ,Helden' der Dichtung sind im Liber Maiorichinus - wie auch schon im Carmen - die Stadtbewohner, die als Gruppe gemeinsam ausziehen, um ihre Ziele zu verfolgen. Hiermit spiegelt der Liber direkt die sozio-politischen Veränderungen in den Städten Italiens seit der Mitte des 11. Jahrhunderts. Der Entstehung der autonomen Kommunen auf politischer und gesellschaftlicher Ebene entspricht die Geburt der Stadt als Akteur der Geschichtsschreibung. Doch nicht nur die so in den Blick tretende literarische Konstitution der Stadtgemeinschaft verbindet den Liber Maiorichinus mit seinem Entstehungskontext. Die Dichtung ist in vielfacher Weise auf ein zentrales Ziel ausgerichtet, auf die Glorifizierung der Stadtgemeinschaft. Diese ist so in doppeltem Sinne ,Held' der Dichtung, nicht nur im narratologischen Sinne als Träger und Mittelpunkt der Handlung. An Stärke, Mut und ethischer Vollkommenheit übertrifft niemand die Pisaner. Auch eine solche Sicht städtischer Geschichte wäre ohne die Einbindung des Dichters in die Stadt undenkbar.
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C. Ergebnisse Die untersuchten Dichtungen stellen bemerkenswerte Zeugnisse des hochmittelalterlichen Geschichtsdenkens in Pisa dar, die in der geschichtstheologischen Durchdringung der Zeitgeschichte dem Vergleich mit anderen Werken der hochmittelalterlichen Geschichtsschreibung durchaus standhalten. Gerade die angesprochenen Bezüge zur theologischen Diskussion der Zeit zeigen einmal mehr, daß Pisa im 11. und 12. Jahrhundert zu den bedeutendsten kulturellen Zentren Europas gezählt werden muß. Wichtiger ist jedoch, daß beide Texte von städtischem Patriotismus durchsättigt sind. Auf allen Ebenen sind die Dichter bemüht, die Taten ihrer Mitbürger zu feiern, sie in strahlendstem Licht erscheinen zu lassen. Dabei liegt beiden die Überzeugung zugrunde, daß Pisa von Gott auserwählt ist, daß die Stadt heilsgeschichtliche Bedeutung hat. Beeindruckend ist hier vor allem der Anspruch des Carmen in victoriam Pisanorum, das durch die doppelte typologische Genealogie Pisa als neues Israel und neues Rom zugleich erscheinen läßt. In Pisa läßt sich so seit dem Ende des 11. Jahrhunderts eine geistliche Geschichtsdichtung nachweisen, die eng mit der Stadt verbunden ist. Das Interesse der geistlichen Pisaner Dichter zeigt sich hierbei auf zwei Ebenen. Zunächst ist es der Darstellungsgegenstand: Beide schreiben nicht Kirchengeschichte, in deren Rahmen auch ein Blick auf die weltliche Geschichte der Stadt fällt. Gegenstand der Texte sind die militärischen Aktionen der weltlichen Stadtgemeinschaft. Vor allem ist es dann aber die Deutung der Ereignisse, die die Nähe der Pisaner Dichter zur weltlichen Stadtgemeinschaft erkennen läßt. Ziel der beiden großen Geschichtsdichtungen ist die Verherrlichung der Stadt, der gemeinsam handelnden Bürger. Insbesondere im Vergleich mit den Befunden aus anderen Städten, etwa dem in der Einleitung erwähnten Fall Mailands, stellt sich die Frage, wieso sich die Pisaner Kleriker im Gegensatz zu ihren Kollegen in anderen Städten so intensiv mit der weltlichen Geschichte ihrer Stadt auseinandersetzten. Eine erste Antwort wird man im Charakter der in den Pisaner Texten thematisierten Ereignisse sehen können. Die Geschichte Pisas erscheint hier vor allem als die Geschichte der Kämpfe mit den heidnischen Sarazenen. Daß sich ein Geistlicher für diese Kämpfe interessierte, wundert natürlich nicht, vor allem, wenn man auch noch die fur die Geschichtsdichtungen nachzuweisenden geschichtstheologischen Interpretationen hinzunimmt: In solcher Weise aufgefaßt ist die Geschichte der Pisaner Stadtgemeinschaft keine rein weltliche Angelegenheit, sondern Teil der Heilsgeschichte, Teil des seit Beginn der Geschichte wogenden Kampfes des Gottesvolkes mit seinen Widersachern. Unter dieser Prämisse wird die Beschäftigung mit der Geschichte Pisas für einen theologisch interessierten Geistlichen natürlich unmittelbar zu einem legitimen Gegenstand literarischer Betätigung.1 Da in der Geschichte Pisas das unmittelbare oder mittel1
So auch schon
FISHER: PISAN CLERGY,
S.
144.
200
Die frühe kommunale
Geschichtsschreibung
bare Handeln Gottes in der Welt erkennbar ist, wird die Beschäftigung mit der Geschichte, das Schreiben dieser Geschichte zur ,Theographie', zur historiographischen Beschäftigung mit Gott und seinem Wirken in der Welt.1 Doch darin geht das Interesse der Pisaner Kleriker an der Geschichte der Stadt nicht auf. Zwar kann man in keinem der beiden Texte spezifisch .städtische' oder gar bürgerliche' Konzeptionen von Geschichte oder dem Handeln in der Welt erkennen. Im Gegenteil: man wird im Unterschlagen der wirtschaftlichen und politischen Motive beider Expeditionen gar ein Verdrängen dieses politischen und sozialen Kontextes sehen können. Dennoch hat man dem Pisaner Autor mit Recht einen städtischen, d.h. Pisaner Patriotismus attestiert.2 Beide identifizieren sich in einer Weise mit den Pisanern als Protagonisten ihrer Dichtungen, die man nicht allein auf ihr geschichtstheologisches Interesse zurückführen kann. So nehmen beide Dichter auch Anteil an den Problemen der entstehenden Kommune, indem sie in ihren Texten ein Bild der Stadtgemeinschaft entwerfen, mit dem sich alle Gruppierungen der Stadt identifizieren können. Dies gilt einmal für die gerade im Liber Maiorichinus erkennbare Veimittlung zwischen den auf Ehre und kriegerische Erprobung ausgerichteten Idealen der weltlichen Führungsschicht und den christlichen Idealen des städtischen Klerus. Dies gilt aber - wie die Ausführungen zum Concordia-Gedanke gezeigt haben - auch für die Bereitstellung eines tragfähigen Identifikationsangebotes an die Gesamtstadt.3 Beides, den städtischen Patriotismus und das implizite Engagement für die junge Kommune wird man nur durch das besondere Verhältnis zwischen Kirche und Kommune bzw. Klerus und Laien erklären können, das die Kommunebildung und die weitere Geschichte der frühen Kommune in Pisa prägte. Anders als etwa in Mailand waren die Interessen der Laien und des Klerus, von den Pisaner Bischöfen bzw. später Erzbischöfen bis zu den Kanonikern des Domstifts (zu denen ja vermutlich die beiden Dichter gehörten), in Pisa zur Zeit der frühen Kommune weitgehend deckungsgleich: Die Pisaner Bischöfe haben sich am Ende des 11. Jahrhunderts intensiv um die Befriedung der Stadt bemüht und so die Grundlage für die gesamte weitere Entwicklung der Kommune gelegt,4 Pisaner Kleriker haben sowohl an der Expedition gegen al-Mahdiya als auch an der gegen die Balearen teilgenommen. Vor allem in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts ist die Kommune dann auf nahezu allen Gebieten des städtischen Lebens so eng mit der Pisaner Bischofskirche verbunden, daß beide Institutionen in der zweiten Jahrhunderthälfte nur unter großen Spannungen entflochten werden konnten.5 Doch die Beziehungen verliefen auch in die andere Richtung: So kann man in Pisa seit Beginn
1
Vgl. allgemein zur Geschichtsschreibung als „historischer Theologie" für das Hochriittelalter S. 105 f., der Begriff „Theographie" ebd., S. 106.
GOETZ: GESCHICHTSSCHREIBUNG, 2
V g l . SCALIA: C A R M E PISANO, S . 6 u n d 2 5 , FISHER: PISAN CLERGY, S . 1 9 8 f f . , TANGHERONI: SPEDIZIONE P I S A N A , S . 2 .
3
Vgl. oben S. 112 ff. Vgl. oben S. 26 ff. 5 Hierauf wird ausführlich unten S. 275 ff. zurückzukommen sein.
4
Deutungen des
Erinnerten
201
des 11. Jahrhunderts Laien nachweisen, die durch entsprechende Stiftungen auf die Reform des Domklerus einzuwirken versuchten. 1 Auch der Einfluß Pisaner Laien auf den Baubeginn, die Durchführung und Finanzierung des neuen 1064 begonnenen Doms zeigt deren Anteilnahme an den kirchlichen Angelegenheiten der Stadt. Man braucht so gar nicht die wahrscheinliche, aufgrund fehlender Vorarbeiten bisher jedoch nicht systematisch zu bestimmende familiäre Verflechtung zwischen der kommunalen Führungsschicht und den kirchlichen Institutionen der Stadt heranzuziehen, um die sich auch in den Werken der Geschichtsschreibung zeigende enge Verflechtung von Kommune und Klerus zu erklären. Gerade diese enge Verschmelzung von Klerus und Bürgerschaft ist letztlich die Grundlage für das Entstehen der bemerkenswerten Erinnerangskultur Pisas. 2 Die engen Verbindungen, die in Pisa zwischen Laien und Klerus, zwischen Kirche und Kommune entstanden, haben dazu gefuhrt, daß sich Pisaner Kleriker in der beobachteten Weise mit der Geschichte der Stadt beschäftigt haben. Der Pisaner Klerus - allen voran der Domklerus - hat so von Beginn an gleichsam an den geistigen Grundlagen der Kommune gearbeitet, indem er seine traditionelle Rolle als Bildungselite in den Dienst der neu entstehenden gesellschaftlichen und politischen Ordnung der Stadt gestellt hat. Daß hierbei in Pisa zukunftsweisende Wege der Darstellung und Instrumentalisierung von Vergangenheit bzw. Geschichte beschritten wurden, werden auch die folgenden Untersuchungen zeigen.
1 2
Vgl. unten S. 264 ff. In vergleichbarer Weise erklärt Busch die Bergamasker Geschichtsschreibung des frühen 12. Jahrhunderts und ihre kommune-nahe Sicht der Ereignisse mit der dort bestehenden Verbindung zwis c h e n B i s c h o f / K i r c h e u n d K o m m u n e . V g l . BUSCH: MAILÄNDER GESCHICHTSSCHREIBUNG, S. 4 7 f.
Zweiter Abschnitt: Geschichte im Stadtraum Die Stadt als Erinnerungsraum
I. Vorüberlegungen Die Pisaner Erinnerungskultur zur Zeit der frühen Kommune war keineswegs nur auf die bisher untersuchten handschriftlich überlieferten Formen der Geschichtsschreibung beschränkt. Seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts wird der Stadtraum in Pisa zu einem wichtigen Ort der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Inschriften werden an öffentlichen Gebäuden angebracht, um die Erinnerung an Personen oder Ereignisse der Stadtgeschichte für die Zukunft zu bewahren. Trophäen und Spolien, die ebenfalls auf die Vergangenheit verweisen, werden aufgestellt oder in die städtische Architektur integriert. Doch auch ganze Gebäude oder sonstige Bereiche der städtischen Topographie werden von der Stadtgemeinschaft mit der Vergangenheit in Verbindung gebracht. Diese Formen zu dokumentieren, zu deuten und in ihren historischen Kommunikations- und Funktionszusammenhang einzuordnen, ist Gegenstand der folgenden Kapitel.
A. Stadtraum und Stadtgemeinschaft Schon Isidor von Sevillas Definition von , Stadt' bedient sich einer begrifflichen Unterscheidung, die für die Analyse städtischer Kulturen von großer Bedeutung ist. Er unterscheidet im 15. Buch seiner Etymologien die Stadt (civitas) als eine Gemeinschaft zusammenlebender Menschen von der Stadt (urbs) als architektonischem Ensemble, den Häusern, Straßen und Mauern:1 „Civitas est hominum multitudo societatis vinculo adunata [...]. Nam urbs ipsa moenia sunt, civitas autem non saxa, sed habitatores vocantur."
Isidor von Sevilla: Etymologiarum sive originum libri XX, Buch XV, 2, 1. („Civitas ist eine durch gesellschaftliche Bande vereinigte Menge von Menschen. Während man mit urbs nämlich bloß die Mauern der Stadt bezeichnet, werden civitas nicht die Steine, sondern die Einwohner genannt.")
Vorüberlegungen
203
Für das Verständnis städtischer Erinnerungskulturen ist diese Unterscheidung fundamental. 1 Sie öffnet den Blick für die vielfältigen Beziehungen zwischen dem Stadtraum und den in ihm lebenden Menschen. Hierbei ist wesentlich, daß Stadtraum und Stadtgemeinschaft in ständigem Dialog miteinander stehen. Die Stadtgemeinschaft prägt den Stadtraum, der Stadtraum prägt andererseits aber auch die Stadtgemeinschaft, deren Lebensraum er ist.2 Stadtraum und Stadtgemeinschaft sind jedoch in unterschiedlicher Weise dem Wandel unterworfen, gehören unterschiedlichen Bereichen der geschichtlichen Dauer an. 3 So ist die geographische Lage der Stadt natürlich nur in geringem Maße historischem Wandel unterworfen. Zwar wachsen die meisten Städte im Hochmittelalter erheblich an, doch bedeutet dies nur in seltenen Fällen die Aufgabe der älteren Siedlungsbereiche. 4 Die geographische Situation stellt so in menschlichen Dimensionen geradezu eine Konstante im Leben der Stadt dar. Aber auch die ,Stadt der Steine' ist aufgrund ihrer Materialität in anderer Weise der Veränderung, der Zeit ausgesetzt, als die , lebendige Stadt', die Stadt der Menschen. Zwar kann ein Stadtbrand oder eine ähnliche Katastrophe in Kürze die gesamte städtische Architektur vernichten. Bleibt die Stadt oder Teile derselben jedoch von solchen Katastrophen verschont, so existieren hier zu unterschiedlichen Zeiten entstandene materielle Strukturen gleichzeitig nebeneinander. Im Gegensatz zu ihrer materiellen Hülle oder Bühne ist die Stadtbevölkerung als vitales gesellschaftliches Konglomerat schließlich kontinuierlicher Veränderung unterworfen. Folge dieser unterschiedlichen Rhythmen von Dauer und Veränderung ist, daß das Verhältnis von Stadtbewohnern und Stadtraum durch Interferenzen geprägt ist, die grundlegend für den hier interessierenden Aspekt städtischer Erinnerungskulturen sind. 1. Spuren und Monumente Die materielle Stadt, in der die Stadtbewohner leben, ihre Architektur, ihre Plätze und Straßen, all dies ist in vielfacher Weise mit der Geschichte der Stadtgemeinschaft verbunden. Hierbei lassen sich unter dem Blickpunkt einer Analyse der Erinnerungskultur drei Formen unterscheiden, in denen die Stadtbewohner in den Stadtraum eingreifen, ihn verändern und sich bzw. ihre Geschichte in ihn einschreiben.
2
In der italienischen Stadtgeschichtsforschung wurde diese Unterscheidung unter dem Begriffspaar Gitta dipietra / Citta vivente aufgegriffen. Vgl.zuletzt CAPITANI: INTRODUZIONE. Dieses Verhältnis von Stadtraum und Stadtgemeinschaft hat zuletzt K. D. Lilley auf den Punkt gebracht: „The medieval townscape was, at one and the same time, both constituted and constitutive; that is, it was shaped by the actions of townspeople [...], while it also shaped the activities of t o w n s p e o p l e " ( L I L L E Y : U R B A N LIFE, S . 2 4 1 ) .
3
Vgl. zur Unterscheidung unterschiedlicher Rhythmen historischer Veränderung BRAUDEL: GESCHICHTE, z u m B r a u d e l s c h e n K o n z e p t LEDUC: L'HISTORIEN ET LE TEMPS, S. 2 1 ff. D i e u n t e r s c h i e d -
lichen Rhythmen der Veränderung in der Stadt betont auch LICHTENBERGER: STADT, S. 150. 4
Anders ist dies in vielen Fällen im Übergang von der Antike zum Frühmittelalter, der für viele Städte einen Rückgang des Siedlungsgebietes bedeutet, vgl. für Pisa REDI: PISA COM'ERA, S. 25 ff.
204
Geschichte im Stadiraum - Die Stadt als Erinnerungsraum
D i e Stadtbewohner hinterlassen S p u r e n im Stadtraum. Dieser ist durch das Leben der Stadtgemeinschaft geprägt. Die wirtschaftliche Betätigung der Stadtbewohner prägt die städtische Topographie, religiöse Vorstellungen und Praktiken lassen entsprechende Gebäude und Plätze entstehen, gleiches gilt für die politische Verfaßtheit der Stadt, für ihre Verwaltung, ihre militärische Funktion usw. D a in der Stadt oft ältere Gebäude neben jüngeren stehen, ältere topographische Strukturen überdauern, nur teilweise v o n neueren überlagert werden, verweisen Stadtraum und städtische Architektur so immer schon auf die Vergangenheit der Stadt, deren Spuren hier erfahrbar sind. 1 Derartige Spuren entstanden jedoch nicht, um die Erinnerung an die eigenen Gegenwart oder die Vergangenheit für eine kommende Zeit zu bewahren oder gar eine bestimmte Vorstellung v o n der Vergangenheit zu vermitteln. 2 Unter der Perspektive der Erinnerungsfunktion entstanden diese Spuren zufällig. Sie sind nicht Ergebnis einer intentionalen Stiftung v o n Erinnerung. 3
1
Vgl. zur Erinnerungsfunktion der baulichen Gestalt der Stadt die Beiträge in MARTINI: ARCHITEKTUR, vor allem die allgemeinen Überlegungen der Einleitung, ebd., S. 9-12. Fälle einer Auseinandersetzung mit solchen Spuren lassen sich auch fur Pisa rekonstruieren. So ist für das Frühmittelalter die Umdeutung der noch heute im Stadtbild vorhandenen Reste der antiken Thermen belegt (zu diesen TOLAINI: PISA, S. 15 ff.). In der Passio des Heiligen Torpes aus dem 6. Jahrhundert wurden diese Mauern der römischen Badeanlagen mit den Überresten eines Palastes des Nero identifiziert (Passio S. Torpetis, S.7). Diesen hat es in Pisa zwar niemals gegeben, er wird aber in der Passio zu einem der Hauptschauplätze des Martyriums des Heiligen. Die Ruinen des vermeintlichen Nero-Palastes werden so zu einem Monument des frühen Christentums in Pisa. In späterer Zeit fanden diese Ruinen jedoch keine erkennbare Beachtung mehr. Während man sich im hier beschäftigenden Zeitraum gerade für die römische Antike in besonderer Weise interessierte, haben diese Reste der antiken Stadt offenbar keine Aufmerksamkeit mehr auf sich gezogen. Vgl. auch unten S. 386 ff.
2
Vgl. zur semiotischen Bestimmung des Begriffs Spur als Index: N Ö T H : HANDBUCH, S. 185 ff. Als Historiker denkt man hier natürlich nicht ohne Grund an die Unterscheidung Überrest/Tradition, wie sie Droysen eingeführt hat. Vgl. zum kulturtheoretischen Zusammenhang auch ASSMANN: KULTUR und mit anderer Perspektive POSNER: KULTUR. Gleichwohl kann das Erhalten dieser Spuren, also deren Bewahrung als Denkmäler einer Vergangenheit dann sehr wohl intentional sein. Spuren können so in der (Um-)Deutung zu Monumenten werden. Der Schwerpunkt der folgenden Untersuchungen wird auf den Monumenten liegen. Zwar kann man einige der den hochmittelalterlichen Stadtraum prägenden Spuren rekonstuieren. So lassen sich etwa noch in der hochmittelalterlichen Topographie Grundzüge der frühmittelalterlichen Stadtanlage erkennen, einige wenige Straßen folgen sogar noch dem Straßenverlauf der antiken Stadt (vgl. dazu REDI: PISA COM'ERA, S. 42 ff.). Auch sind Spuren älterer Gebäude stellenweise in deren Nachfolgerbauten integriert worden. So wurden im Chor des heutigen Domes frühmittelalterliche Architekturfragmente eingebaut, die man mit dessen Vorgängerbau in Verbindung bringt (vgl. PERONI: DUOMO, Atlante fotografico I, Nr. 464, S. 203, Nr. 539 und 540a-b, S. 228, sowie: Saggi e schede, Scheda Nr. 464, S. 402, Nr. 539 und 540a-b, S. 407). Allgemein zu antiken Überresten in der Topographie toskanischer Städte: BORKENSTEIN-NEUHAUS: CIVITAS, S. 34 ff., speziell zu Pisa TOLAINI: PISA, S. 15 ff.; zur Auseinandersetzung mit den Spuren der antiken Vergangenheit in den Städten nördlich der Alpen jetzt CLEMENS: TEMPORE ROMANORUM CONSTRUCTA, hier vor allem die Einleitung, S. 1-13, mit Überblick über die Forschungsliteratur zum Thema.
3
Vorüberlegungen
205
Das unterscheidet sie von anderen Formen, die hier als M o n u m e n t e bezeichnet werden sollen. Monumente sind im Gegensatz zu den Spuren Ergebnis einer bewußten Erinnerungsstiftung. 1 In der Absicht, die Erinnerung an ein Ereignis oder eine Person zu bewahren und zu vermitteln, gestaltet man den Stadtraum in entsprechender Weise aus. Man errichtet dort Denkmäler, bringt Inschriften an, errichtet Gebäude, stellt Bildnisse, Spolien oder Trophäen auf. Monumente sind so immer Medien der Kommunikation, 2 gleich ob man der Gegenwart die eigene Vorstellung von der Vergangenheit mitteilen will oder aber eine bestimmte Sicht auf die eigenen Gegenwart für die Zukunft bewahren will. 3 Diese erste grobe Unterscheidung zwischen Spuren und Monumenten reicht zunächst für den Fall des hochmittelalterlichen Pisa durchaus aus, um die verschiedenen überlieferten Elemente im Stadtraum zu klassifizieren. 4 Für die Analyse der städtischen Erinnerungskultur kann man jedoch zumindest auf theoretischer Ebene einen Schritt weiter gehen. Neben Spuren und Monumenten gibt es noch eine dritte Form, wie die Stadtgemeinschaft sich und ihre Geschichte mit dem Stadtraum verbindet. Die Stadtgemeinschaft als Kommunikations- und Erinnerungsgemeinschaft weist Orten oder Gebäuden auch Erinnerungen zu bzw. bewahrt die Erinnerung an mit diesen verbundene Ereignisse oder Personen, ohne daß an der physischen Beschaffenheit der entsprechenden Orte oder Gebäude etwas verändert würde. 5 So bewahrt sich etwa im Gedächtnis der Stadtgemeinschaft die Erinnerung an längst verschwundene Bauwerke oder sonstige Elemente der städtischen Topographie, die dann etwa in entsprechenden Ortsnamen präsent bleiben. 6 Man kann so zwei Ebenen unterscheiden. Einerseits laufen im Stadtraum Prozesse der Bedeutungszuweisung ab. Neugeschaffene (etwa Inschriften) oder neupositionierte Elemente (Spolien oder Trophäen) der städtischen Topographie werden als Zeichen 1
Vgl. allgemein zum mittelalterlichen Denkmal RE[NLE: DENKMAL. Mit zeitlich weiter Perspektive allerdings beschränkt auf Denkmäler im engeren Sinne und auf den deutschen Bereich - zuletzt D R U N K : DEUTSCHES DENKMAL, v o r a l l e m S . 11 f f .
2
V g l . a u c h SPEITKAMP: DENKMAL, S . 1 6 2 .
3
Vgl. zur Unterscheidung prospektive/retrospektive Erinnerung oben S. 15, Anm. 3. Neben der hier favorisierten Unterscheidung von Spuren und Monumenten wird in der kulturwissenschaftlichen Gedächtnis-Diskussion stellenweise eine andere Begrifflichkeit verwendet. So verwendet SPEITKAMP: DENKMAL einen weiteren Denkmal-Begriff, der Spuren und Monumente im hier verwendeten Sinne gleichermaßen umfaßt. Mit Alois Riegl (RIEGL: DENKMALKULTUS) unterscheidet er dann zwischen gewollten' und .gewordenen Denkmälern' (SPEITKAMP: DENKMAL, S. 162). Gewollte Denkmäler wären demnach die hier als Monumente bezeichneten Phänomene, gewordene Denkmäler' die im Nachhinein als Erinnerungszeichen aufgefaßten Spuren.
4
5
6
So verweist auch W. Martini auf „die diskursive Beziehung zwischen Gegenwart und Vergangenheit, die auch an physisch unveränderter Architektur immer wieder neue Vergangenheit entdeckt oder erfindet" (Vgl. die Einleitung von W. Martini zu MARTINI: ARCHITEKTUR, S. 10). Vgl. den unten S. 258 f. dokumentierten Fall der Pisaner Ortsbezeichnung ,Cortevecchia'. Den Zusammenhang zwischen Toponym und städtischer Geschichte beleuchtet auch unter theoretischer P e r s p e k t i v e a u s f ü h r l i c h GLASNER: STADT.
206
Geschichte im Stadtraum - Die Stadt als
Erinnerungsraitm
aufgefaßt, die auf die Vergangenheit der Stadt verweisen. Andererseits greifen die Stadtbewohner auch in vielfaltiger Weise in die Topographie des Stadtraums ein. Während das, was oben Spur genannt wurde, unter dem Blickwinkel von Erinnerung und Gedächtnis zunächst Veränderungen des Stadtraums ohne gleichzeitige bewußte Erinnerungsstiftung sind, handelt es sich bei dem, was Monument genannt werden soll, um eine Veränderung des Stadtraums mit dem Ziel der Erinnerungsstiftung. Die dritte erwähnte Möglichkeit liegt in der Zuweisung einer Erinnerungsfunktion ohne eine damit einhergehende Veränderung oder Ausgestaltung des Stadtraums.1 2. Die Stadt als Palimpsest Die Stadtgemeinschaft verändert kontinuierlich das Bild der Stadt, hinterläßt Spuren und stiftet Monumente oder weist bestehenden Elementen nachträglich eine auf die Vergangenheit gerichtete Bedeutung zu. Der Stadtraum ist so immer auch ein zentraler Ort der Auseinandersetzung der Stadtgemeinschaft mit ihrer Vergangenheit, er ist auch Erinnerungsraum.2 Beides, die Wahrnehmung bestehender Spuren und Monumente, der Umgang mit diesen sowie die Hervorbringung neuer Denkmäler gehören zur Erinnerungspraxis der Stadtgemeinschaft. Die Stadtbewohner stehen so in einem fortwährenden Dialog mit dem städtischen Erinnerungsraum. Dieser Dialog hat zur Folge, daß die verschiedenen auf die Vergangenheit verweisenden Spuren und Monumente immer wieder von neuen Formen überschrieben werden, daß die überlieferten Spuren und Denkmäler ausgelöscht, verändert oder in neue Zusammenhänge gebracht werden. Versteht man die städtische Topographie mit ihren Zeichen als einen lesbaren Text, 3 so ist es nur folgerichtig, diese Vorstellung zu modifizieren, indem man die Stadt eben als ein Palimpsest auffaßt. 4 Wie die Seite einer Handschrift, die man abwäscht, deren Schrift man ausradiert, um die
2
3 4
Ohne überzeugende begriffliche Differenzierung unterscheidet die hier getrennten Erinnerungsphänome auch DRUNK: DEUTSCHES DENKMAL, S. 3. Der Begriff des Erinnerungsraums ist hier nicht metaphorisch, sondern in ganz konkretem, topographischem Sinne zu verstehen. In gleicher Weise jetzt auch DIEFENBACH: BEOBACHTUNGEN, S. 40 f. Vgl. etwa GLASNER: STADT. Vgl. hierzu MARTIN: TOWN. Dieser bringt die Vorstellung auf den Punkt: „The historian of towns is concerned not only with people, but with communities, and with places. [...] In some sort a town is a document; it displays its history in its public face, as well as in its archives. [...JTowns are places where people live, [...] successive generations leave their mark upon them, and some of the marks have proved surprisingly durable; they stay there to be read if anyone cares to read tham. [...] If we think of what we see as a text, we recognise very soon that it is not a simple one: beneath the characters that we first trace, there are other words and phrases to be read: the town is a palimpsest" (ebd., S. 155). Die Verwendung der Palimpsest-Metapher geht vermutlich auf den englischen Romantiker Thomas De Quincey zurück, der in einem Essay das menschliche Gehirn mit einem Palimpsest verglich. Vgl. zu De Quincey ausführlich A S S M A N N : ERINNERUNGSRÄUME, S . 1 5 4 f. Zur Palimpsest-Metapher jetzt auch ausführlich U H L : GEDÄCHTNIS.
Vorüberlegungen
207
Seite neu zu beschreiben, so werden auch immer wieder im Stadtraum bestehende Spuren und Denkmäler ausgelöscht und durch neue ersetzt. Wie im Falle des handschriftlichen Palimpsests sind Reste des so Ausgelöschten jedoch oft noch erkennbar. Entsprechend findet man in einem gegebenen Stadtraum immer mehrere Ebenen, Verweise auf (und aus) unterschiedliche(n) Schichten der Vergangenheit, die nebeneinander bestehen. Einerseits ist dieser Palimpsest-Charakter eine wichtige Bestimmung des hier zu untersuchenden Bereichs städtischer Erinnerungskultur. Im Gegensatz zu handschriftlicher Geschichtsschreibung, die - sieht man einmal von unterschiedlichen Überarbeitungsstufen ab - doch in der Regel eine abgeschlossene Darstellung ist, wird das im Stadtraum präsente Bild der Vergangenheit immer wieder um- und neugeschrieben. 1 Die Erinnerungslandschaft 2 einer Stadt ist daher niemals abgeschlossen, vielmehr ist sie immer nur in einer Momentaufnahme aus einem prinzipiell endlosen und kontinuierlichen Prozeß zu erfassen. Hierdurch wird vielleicht noch mehr als im Fall der handschriftlichen Geschichtsschreibung der Blick auf die Erinnerungspraxis, auf die Handlungen der Menschen in der Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit gelenkt. Der Blick wird geöffnet für Praktiken, die weit über den systematisierenden und deutenden Entwurf eines geschlossenen Geschichtsbildes hinausgehen. Vor einem stetem Wandel unterworfenen historischen Horizont werden die Spuren und Denkmäler der Vergangenheit fortwährend neu- bzw. umbewertet, Störendes wird ausgeschieden und zerstört, Funktionales und in das aktuelle Selbstbild der Gemeinschaft Passendes erhalten und betont. Erinnerungspraxis in diesem Sinne ist eben immer beides, das Hinterlassen von Erinnerungszeichen, die Hervorbringung eines Bildes der eigenen Gegenwart als antizipierte Vergangenheit auf der einen Seite und die Aktualisierung und Auslegung der überlieferten Deutungen der Vergangenheit auf der anderen Seite. Der angesprochene Palimpsest-Charakter des städtischen Erinnerungsraumes hat aber vor allem unmittelbare Folgen fur die Untersuchung historischer Erinnerungskulturen.
Vgl. das Beispiel der Domfassade, vor allem die Zusammenfassung unten S. 362 f. 2
Z u m B e g r i f f jetzt KOSHAR: ERINNERUNGSLANDSCHAFT, S. 194 f.
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Geschichte im Stadtraum - Die Stadt als
Erinnemngsraum
B. Das Überlieferungsproblem Da der Stadtraum kontinuierlichem Wandel unterliegt, muß die Untersuchung historischer Erinnerungspraktiken im Stadtraum stets mit einer kritischen Rekonstruktion dieses Raums einhergehen. Zwar sind die meisten Einschreibungen in den Stadtraum von großer Dauerhaftigkeit. Bauwerke, Plätze, aber auch die dort zu findenden Bildwerke oder Inschriften sind in weitaus geringerem Maße dem Wandel unterworfen als die in steter Veränderung befindliche Konfiguration der Stadtgemeinschaft. Dennoch hat die fortwährende Umformung des Stadtraums zur Folge, daß es nicht zu einem kontinuierlichen Anwachsen der Zeichen im Stadtraum kommt, sondern daß oft neue Zeichen die älteren zerstören oder diese einfach ausgelöscht werden. 1 Man muß hier zunächst gar nicht an bewußte Eingriffe denken. Da die meisten Erinnerungszeichen mehr oder weniger eng mit städtischen Gebäuden verbunden sind, hängt ihre Überlieferungschance aufs engste mit der Geschichte dieser Gebäude zusammen. Gehen diese verloren, verschwinden auch die mit ihnen verbundenen Spuren oder Monumente. So sind es nur bestimmte Segmente der städtischen Topographie, die sich mitsamt der entsprechenden Erinnerungszeichen erhalten. Für die Untersuchung der historischen Erinnerungskultur einer Stadt bedeutet das, daß sich diese fast immer nur auf Fragmente stützen kann. Auch wenn man alle noch verfügbaren Quellen auswertet, wird man doch stets nur einen bestimmten Ausschnitt des ursprünglich Vorhandenen erfassen. Entsprechend ist es wichtig, die Selektionsfaktoren, denen das ursprünglich vorhandene Material unterworfen ist, genauer zu bestimmen.2 Konstitutiv für die Überlieferungschancen ist zunächst die weitere Entwicklung der entsprechenden Stadt. Die Stadt als multifunktionaler urbanistisch-architektonischer Komplex ist nicht nur Erinnerungsraum. So entscheiden wirtschaftliche, demographische, ästhetische oder politische Wandlungen - um nur einige zu nennen - über Veränderungen im Stadtraum. Neue Gebäude werden angelegt, alte eingerissen, Freiräume werden zu Plätzen vergrößert oder mit neuer Bebauung angefüllt. All diese Eingriffe in das Stadtbild betreffen immer auch dessen Gedächtnisfunktion, indem vorhandene Erinnerungszeichen überschrieben oder ausgelöscht werden.3
Gerade hier liegt eben ein entscheidender Unterschied zu Bibliotheken und Archiven und der in ihnen verwahrten handschriftlichen Überlieferung. Zwar gibt es auch im Bereich der Handschriften, Urkunden und sonstigen Archivalien Verluste. Doch im Gegensatz zum Stadtbild, in dem allzu oft Neues jede Spur des Alten auslöscht, besteht in Bibliotheken und Archiven oft eine ganz gute Chance, daß ältere Texte, wenn sie auch nicht mehr gelesen werden, dennoch überdauern. Hieran wird deutlich, daß der Stadtraum als Erinnerungsraum eine wesentlich vitalere Form des Gedächtnisses ist. 2
Z u m G r u n d p r o b l e m ESCH: ÜBERLIEFERUNGS-CHANCE.
3
Eine vergleichende Untersuchung der inschriftlichen Überlieferung in italienischen Städten, die im Vorfeld dieser Arbeit vorgenommen wurde, hat gezeigt, daß gerade die weitere Entwicklung der
Vorüberlegungen
209
Ein anderer die Überlieferung bestimmender Faktor ist mit Blick auf die Untersuchung historischer Erinnerungskulturen wesentlich problematischer. Mehr noch als im handschriftlich-archivalischen Bereich sind die Überlieferungschancen von Spuren, vor allem aber von Monumenten im Stadtraum vom Geschichtsbild der nachfolgenden Generationen abhängig. Diese haben gerade dann eine besonders geringe Chance überliefert zu werden, wenn sie zu irgendeinem Zeitpunkt in Widerspruch zur herrschenden Deutung der städtischen Geschichte stehen. So sieht man den Erinnerungsraum vergangener Zeiten immer durch den Filter der nachfolgenden Generationen, deren eigenes Geschichtsbild über das Überleben älterer Elemente entscheidet. Im konkreten Fall Pisas läßt sich dies am deutlichsten für die Zeit der Florentiner Herrschaft nachweisen: Die Baupolitik der Medici hatte nach der zweiten Besetzung der Stadt (1509) geradezu das Ziel, die noch im Stadtraum präsente kommunale Selbständigkeit vergessen zu lassen. Daran erinnernde Zeichen im öffentlichen Raum wurden bewußt zerstört oder an den Rand gedrängt. 1 Doch derartige Formen einer damnatio memoriae sind nur besonders extreme Beispiele. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist stets ein kontinuierlicher Prozeß, in dem die Geschichte der Stadt quasi täglich neu konstruiert wird. Zeichen, die diese Deutung der Vergangenheit stützen, werden entsprechend bewahrt, andere werden mißachtet, dem Zahn der Zeit ausgeliefert 2 oder einfach unwiederbringlich ausge-
1 2
Städte entscheidend für die Überlieferungssituation ist. So ist es kein Zufall, daß eine Stadt wie Viterbo, die nach einer kurzen Blüte im 13. Jahrhundert geradezu in einen Dornröschen-Schlaf gefallen ist, eine überdurchschnittliche dichte inschriftliche Überlieferung aufweist (vgl. Le epigrafi medievali di Viterbo). Gerade das Beispiel Viterbo zeigt dann aber auch, welche architektonischen Komplexe besonders reiche Inschriften-Ausstattungen überliefern. Im Falle Viterbos sind es vor allem die Sakralbauten, an denen sich Inschriften erhalten haben (zwischen 1080 und 1400 27 Inschriften, 59% aller Inschriften), gefolgt von den öffentlichen Gebäuden (Hospitäler, Kommunalpaläste, Papstpalast, Brunnen, Aquädukte: 12 Inschriften, 26%) und schließlich den städtischen Befestigungsanlagen der Stadt (Torbauten, Mauern, Türme: 7 Inschriften, 15%). Ein Vergleich mit anderen Städten würde wohl ähnliche Ergebnisse hervorbringen, wobei das Beispiel Viterbos - wie schon gesagt - durch besonders günstige Überlieferungsbedingungen geprägt ist, was sich vor allem auf die außerhalb von Kirchen befindlichen Inschriften ausgewirkt haben dürfte. Vgl. dazu R E D I : F I N E DEL SIMBOLO. In einigen Fällen erlauben dann jedoch archäologische Funde Einblicke in ältere Stufen dieser Praxis. So hat sich in Pisa eine unter dem heutigen Straßenniveau befindliche Inschrift an einem Privathaus erhalten. Diese erinnerte an die Eroberung des Kastells Motrone durch die Pisaner 1170 ( B A N T I : M O N U M E N T A Nr.27, S. 32 f.): „ANNO DOMINI .MC | LXXI. .VI. KALENDAS | DECEMBRIS INDICTIONE .IV. POST | .VII. DIES MOTRONEM CEPIMUS ET COMBUSIMUS" (Im Jahre des Herrn 1171, am 6. Tag vor den Kaienden des Dezember, im 4. Jahr der Indiktion haben wir nach sieben Tagen [Belagerung] Motrone eingenommen und in Brand gesetzt.) Diese Inschrift ist in zweifacher Weise von Interesse. Zum einen ist sie die einzige in Pisa erhaltene Inschrift an einem privaten Gebäude. Es gab also auch eine im privaten Bereich zu verortende inschriftliche Praxis, die sich allerdings aufgrund der oben formulierten Überlieferungschancen un-
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Geschichte im Stadtraum — Die Stadt als Erinnerungsraum
löscht. 1 D i e Analyse der erhaltenen Reste der hochmittelalterlichen Erinnerungskultur im Stadtraum muß daher stets die weitere Geschichte der Stadt und hier vor allem die Entwicklung des Geschichtsbildes im A u g e behalten.
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terschiedlicher Gebäudetypen ansonsten nicht erhalten hat. Sie ist jedoch nicht nur einziges Zeugnis einer privaten Erinnerungspraxis des 12. Jahrhunderts, sondern auch einziges erhaltenes Zeugnis im öffentlichen Raum, das an die Kämpfe Pisas mit der Nachbarstadt Lucca erinnert. Zwar ist nicht zu beweisen, daß es im 12. Jahrhundert noch andere, ähnliche Zeugnisse gab, doch ist dies angesichst der Bedeutung dieser Kämpfe wahrscheinlich, wie sie sich etwa in den Annales Pisani des Bemardo Maragone spiegelt. Vermutlich wurden die entsprechenden Zeugnisse zu einem Zeitpunkt, als man dieses weniger ruhmreiche Kapitel der Stadtgeschichte in den Hintergrund drängen wollte, entfernt oder doch zumindest nicht mehr gepflegt. Vgl. zur Inschrift und zum ereignisgeschichtlichen Zusammenhang BANTI: ISCRIZIONE COMMEMORATIVA. Zerstört wurden in Pisa etwa die Monumente für Kaiser Heinrich VII. Vgl. hierzu etwa M E Y E R : KÖNIGS- UND KAISERBEGRÄBNISSE, S. 53-66 (mit der älteren Literatur), zur Zerstörung vor allem S. 65, Anm. 97.
Vorüberlegungen
211
C. Methodisches 1. Korpus-Konstitution Die Korpus-Konstitution stellt einen im Falle der Erinnerungszeichen im Stadtraum vor weitaus größere Probleme, als dies bei den vorangehenden Analysen der handschriftlichen historiographischen Texte der Fall war. Weniger gilt dies noch für die inschriftlichen Zeugnisse. Diese stellen in vielerlei Hinsicht eine Art Übergangs- oder Mischform zwischen der (handschriftlichen) Historiographie und den nicht-sprachlichen Erinnerungszeichen im Stadtraum dar. Zwar werden die Analysen der Pisaner Inschriften noch zeigen, daß auch Inschriften eine Funktion innerhalb der Erinnerungskultur haben können, die über ihren Text-Charakter hinausgeht, da sie auch jenseits ihrer sprachlichen Botschaft eine Erinnerungsfunktion als visuelle Zeichen erfüllen. 1 Doch haben Inschriften für die Analyse zwei Vorteile, die sie zu den geeignetsten Quellen für die hier zu untersuchenden Phänomene machen. Zunächst einmal sind sie auch heute noch ohne größere Probleme im Stadtraum zu erkennen und zu identifizieren. Man kann so ohne weiteres eine Sammlung aller im Stadtraum vorhandenen Inschriften vornehmen. 2 Vor allem aber sind sie als sprachliche Texte in gleicher Weise wie die Geschichtsschreibung einer Interpretation zugänglich. Wenn sich auch ihr vollständiges Sinnpotential erst durch die rekonstruierende Einbindung in den ursprünglichen urbanistischen Zusammenhang erschließt, steht man doch bei ihrer Untersuchung auf verhältnismäßig sicherem Boden. Schwieriger ist es dagegen, sich den nicht-sprachlichen Erinnerungszeichen anzunähern. Hierbei ist zunächst vorwegzuschicken, daß für den gesamten Untersuchungszeitraum kein ikonisches Zeichen, also keine bildlichen Darstellungen vergangener Ereignisse oder verstorbener Personen überliefert ist.3 Die Bedeutung nicht-ikonischer visueller Zeichen zu bestimmen, ist jedoch mit großen Problemen verbunden. So ist 1 2
Hierzu unten S. 413 ff. Jüngst sind drei Inschriftensammlungen erschienen, die zusammengenommen nahezu alle mittelalterlichen Inschriften Pisas zugänglich machen: BANTI: MONUMENTA, BANTI: ISCRIZIONI und s c h l i e ß l i c h BANTI: EPIGRAFI.
3
Zwar gibt es einige Fälle bildlicher Darstellungen, die eine Erinnerungsfunktion erfüllten, etwa der Greif auf dem Dach des Doms (dazu unten S. 380 ff.) oder das Monument für Rodulfus (unten S. 238 ff.). Hierbei ist aber der Zusammenhang zwischen Darstellung und Erinnerung, also, um im Beispiel zu bleiben, zwischen der Darstellung des Greifen und dem damit möglicherweise verbundenen Ereignis, dem Sieg der Pisaner gegen die balearischen Sarazenen, kein ikonischer, da ja nicht das Ereignis oder ein Aspekt des Ereignisses bildlich dargestellt wurde. Vgl. zu ikonischen Zeichen aus semiotischer Sicht NÖTH: HANDBUCH, S. 193 ff. Es ist zu vermuten, daß das Fehlen ikonischer Formen der Erinnerung nicht auf eine Überlieferungslücke zurückzuführen ist, sondern daß es solche Formen im Untersuchungszeitraum noch nicht gegeben hat. Vgl. für die spätere Zeit HÜLSENESCH: ROMANISCHE SKULPTUR, S . 1 9 f f .
212
Geschichte im Stadtraum - Die Stadt als
Erinnerungsraum
nicht immer ohne weiteres zu entscheiden, ob ein Element im Stadtraum eine Erinnerungsfünktion erfüllte bzw. erfüllen sollte oder nicht. Bestes Beispiel hierfür sind die in der Pisaner Erinnerungskultur eine große Rolle spielenden Trophäen, also bei kriegerischen Unternehmungen erbeutete Artefakte, die dann im Stadtraum als Monumente ausgestellt wurden.1 Zwar lassen sich etwa Produkte des sarazenischen Kunsthandwerks in der Regel relativ sicher identifizieren. Ob diese aber eine Erinnerungsfunktion erfüllten, ob diese also tatsächlich Trophäen der Kämpfe gegen die Sarazenen waren oder aber einfach als Handelsware nach Pisa gelangten, ist oft nicht so einfach zu bestimmen. Gleiches gilt für die oben schon angesprochene Zuweisung von Bedeutung zu bestehenden Elementen des Stadtraums. Wie kann man erkennen, daß diese in den Zusammenhang der Erinnerungskultur gehören, Elemente des städtischen Eririnerungsraumes waren? Wenn diese nicht-sprachlichen Formen nicht durch erklärende Inschriften ergänzt sind, was leider im Untersuchungszeitraum nur sehr selten der Fall ist, kann man deren Bedeutung oft nur mit Mühe bestimmen. Ein hier verfolgter Weg aus diesem Dilemma besteht darin, schriftliche Quellen hinzuzuziehen.2 Historiographische Texte erwähnen häufig anläßlich der Schilderung eines Ereignisses Erinnerungszeichen, die im Stadtraum angebracht waren. Durch den historiographischen Bericht ist so der - ursprünglich möglicherweise mündlich vermittelte Zusammenhang zwischen Erinnerungszeichen und erinnertem Ereignis erschließbar.3 In ähnlicher Weise lassen sich in einigen Fällen dokumentarische Quellen heranziehen.4 Liegen keinerlei sprachliche Quellen vor, wird man vielfach nicht über Vermutungen oder Hypothesen hinausgelangen. Werden in den folgenden Analysen derartige Zuweisungen vorgeschlagen und durch Plausibilitätsargumente untermauert, so muß man sich dennoch stets bewußt sein, daß bei der Analyse solcher Objekte keine wirkliche Sicherheit zu erreichen ist. Daher werden im folgenden überwiegend die inschriftlichen Erinnerungszeichen im Stadtraum herangezogen, ohne daß hierdurch jedoch die auf theoretischer Ebene unterschiedenen übrigen Formen außer acht gelassen werden. Die Konzentration auf die Inschriften ist nicht zuletzt dadurch gerechtfertigt, daß diese, wie die Untersuchungen zeigen werden, stets an Orten zu finden sind, die in besonderer Weise mit der Vergan-
1 2
3
4
Hierzu ausführlich unten S. 372 ff. Vgl. allgemein zum Problem einer Semiotik der Objekte N Ö T H : H A N D B U C H , S . 5 2 6 ff. Den hier hauptsächlich beschrittenen Weg, also den Rückgriff auf eine (sprachliche) Ebene der Repräsentation hat schon der Klassiker der Semiologie, Roland Barthes, bei der semiologischen Untersuchung bzw. Entschlüsselung von Objekten herangezogen, vgl. B A R T H E S : SEMANTIK. Schon hier muß jedoch erwähnt werden, daß ein solchen Vorgehen mit einem großen Problem verbunden ist: Die meisten entsprechenden Berichte stammen aus späterer Zeit, sind also nicht im Untersuchungszeitraum entstanden. Man muß daher stets im Einzelfall zu erschließen versuchen, ob die in den späteren Texten erwähnten Bedeutungen auch schon für die hier interessierende Zeit anzunehmen sind. Vgl. dazu unten S. 382 ff. Vgl. das Beispiel San Sistos, unten S. 254 ff.
Vorüberlegungen
213
genheit der Stadt verbunden sind und an denen sich dann oft auch weitere nichtinschriftlichen Erinnerungszeichen finden lassen. 1 2. Zur Entstehung der Monumente - Das Beispiel der Inschriften Wer die im hochmittelalterlichen Stadtraum vorhandenen Monumente in Auftrag gab und wer sie anfertigte, ist fur deren Interpretation von großer Bedeutung. Für die hier untersuchten frühen Monumente findet sich jedoch nur in wenigen Fällen ein direkter Hinweis auf Urheber oder Auftraggeber. 2 Hinzu kommt, daß man in vielen Fällen damit rechnen muß, daß mehrere Personen oder Institutionen an der Entstehung eines Monuments beteiligt waren. Bevor man der Frage nach Urhebern und Auftraggebern nachgehen kann, wird man sich auf allgemeiner Ebene mit der Entstehung der jeweiligen Monumente beschäftigen müssen. Da es für die frühe Zeit keine direkten Quellen gibt, die Informationen über die Entstehung der hier zu untersuchenden Monumente enthalten, sollen hier zunächst idealtypisch einzelne Entstehungsstufen der Monumente unterschieden werden. Da der Schwerpunkt der weiteren Untersuchung auf den Inschriften liegt, kann man hier zunächst von den inschriftlichen Monumenten ausgehen. Die Unterscheidung einzelner Stufen oder Schritte im Entstehungsprozeß von Inschriften ist wichtig, da so der Blick für unterschiedliche, möglicherweise sogar abweichende Bedeutungsebenen der Monumente geöffnet wird, wie sie bei den folgenden Analysen immer wieder begegnen werden. 3 Vor jeder weiteren Formung steht am Anfang der Monumentsetzung der Wille einer Person oder einer Gruppe, etwas im Gedächtnis der Nachwelt zu bewahren bzw. eine bestimmte Deutung der Vergangenheit zu vermitteln. In diesem Willen zur Erinnerung wird man den Kern der Erinnerungsstiftung sehen können. Die weiteren Stufen zur Realisierung des Monumentes sind fur den hier interessierenden Zusammenhang von großem Interesse, da diese in den meisten Fällen die Beteiligung von Spezialisten erfordern. Diese bringen dabei ihre jeweiligen künstlerischen, literarischen oder rhetorischen Traditionen ins Spiel. Gleich ob es sich um die Verfasser des Inschriftentextes handelt oder aber um die Steinmetze bzw. Bildhauer, 4 die die mehr oder weniger anspruchsvol-
1
Vgl. die Ausführungen zum Komplex der Porta Aurea oder zur Fassade des Doms unten S. 219 ff. und S. 356 ff.
2
Eine Ausnahme stellt hier die Ehreninschrift für den Pisaner Konsul Rodulfus dar. Vgl. unten S. 234 ff. Den Prozeß der Inschriftenentstehung thematisiert unter allgemein epigraphischer Perspektive für die hochmittelalterlichen Pisaner Inschriften schon BANTI: EPIGRAFIA, vor allem S. 42 ff. Jenseits der historischen Perspektive, dennoch mit einigen interessanten Einsichten in die inschriftliche Pra-
3
x i s s i n d d i e A u s f ü h r u n g e n v o n WIENOLD: INSCHRIFTEN. 4
Nahezu alle Pisaner Inschriften des Untersuchungszeitraums befinden sich auf Steinplatten oder Mosaiken, wurden daher vermutlich von Steinmetzen angefertigt. Es ist jedoch davon auszugehen, daß es wie in späterer Zeit auch im Hochmittelalter aufgemalte Inschriften gab. Diese haben sich
214
Geschichte im Stadtraum - Die Stadt als Erinnerungsraum
le Form der Inschriftentafel, der Anordnung des Textes auf dieser und der epigraphische Schrift festlegen und realisieren: Zum ursprünglichen Wunsch des Auftraggebers, ein bestimmtes Ereignis oder eine Person in Erinnerung zu halten, k ö n n e n so weitere Einflüsse hinzutreten, die es bei der Analyse zu berücksichtigen und eventuell zu unterscheiden gilt.1 Man wird so den Prozeß der Inschriftenentstehung in mindestens vier Schri tte unterteilen können.2 Erster Schritt ist stets der Wille zur Errichtung des Monuments., der sich in einem Auftrag zur Inschriftensetzung ausdrückt. Denkbar ist, daß der oder die Auftraggeber schon bestimmen, welche Aspekte der Inschriftentext behandeln soll, daß also schon vor der Textentstehung Auswahl und Deutung festgelegt werden. Einen zweiten Schritt stellt die Abfassung des Inschriftentextes dar. Gerade, wenn es sich wie; im Falle der Pisaner Inschriften um metrische Inschriften handelt, also um Dichtung, wird man annehmen können, daß der Inschriftentext nicht von dem oder den Auftraggebern verfaßt wurde, sondern daß man eine speziell ausgebildete Person hiermit beauftragte. Der dritte Schritt ist die Realisierung der Inschriftentafel: Eine geeignete Tafel wurde ausgewählt, der Text auf dieser angeordnet, eine bestimmte Schrift ausgewählt oder entwickelt und diese schließlich mit dem Meißel in die vorbereitete Tafel eingegraben.3 Vierter und letzter Schritt ist die Anbringung der Inschriftentafel an einem unter bestimmten Gesichtspunkten ausgewählten Gebäude in der Stadt.4 Diese Unterscheidung dient keineswegs einem rein epigraphischen Interesse. Zwar werden die folgenden Untersuchungen der Pisaner Inschriften nur in wenigen Fällen auf alle hier benannten Schritte eingehen können. Diese idealtypisch zu unterscheiden er-
1
2
3
aufgrund der geringen Haltbarkeit des Materials allerdings fast nie erhalten. Vgl. jedoch den seltenen Fall einer solchen Inschrift des 12. Jahrhunderts aus dem Matroneum des Pisaner Doms (Abbildung bei PERONI: D U O M O , Atlante fotografico II, S. 810; zur Inschrift die entsprechenden Katalogeinträge 1642 und 1643 (ebd., Saggi e Schede, S. 568) sowie PERONI: N U O V E RICERCHE, S. 89 und die Antwort Augusto Campanas auf Peroni ebd., S. 100-101). Ein Beispiel, das die Bedeutung beider Elemente, aber auch die personelle Trennung zu illustrieren vermag, fuhrt A. Petrucci an. Dieser weist Erzbischof Alfanus von Salerno und Robert Guiscard je unterschiedliche Rollen bei der Entstehung einer Inschrift am Dom in Salerno zu. Auf den Normannen gehe die Initiative zur Inschriftensetzung, die Entscheidung über die auf einem Architrav des Portikus festgehaltenen Titulaturen und die sich hier ausdrückende spezifische Herrschaftslegitimation zurück, während der Erzbischof am Entwurf der diese Aussage stützenden antikisierenden Capitalis beteiligt gewesen sei (PETRUCCI: SCRITTURA, S . 6). Weder wird hier Anspruch auf Vollständigkeit erhoben, noch müssen alle Schritte in jedem Einzelfall zu unterscheiden sein oder gar in der hier angegebenen Reihefolge ablaufen: Hier geht es nur um eine heuristisch motivierte Differenzierung innerhalb des Entstehungsprozesses. O. Banti zufolge muß man neben dem Steinmetz, der die Schrift in den Stein eingräbt, in vielen Fällen die Beteiligung eines ,Ordinators' ansetzen, der die Gestaltung der Inschrift zuvor in einer Vorzeichnung festlegt (BANTI: EPIGRAFIA, S. 4 2 f.).
4
Nicht wesentlich anders ist die Situation im Falle von Inschriften, die direkt in die Mauern eines bestehenden Gebäudes eingegraben werden, etwa den Grabinschriften des Pisaner Doms. Auch hier ist die Wahl des Anbringungsortes ein Schritt auf dem Weg der Inschriftenentstehung.
Vorüberlegungen
215
möglicht jedoch, unterschiedliche Ausdrucksebenen der Inschriften zu erfassen. Inschriftentext, graphische Form und Wahl des Anbringungskontextes transportieren jeweils (im Idealfall konvergierende) Teile der Gesamtbedeutung der Inschrift. Hinzu kommt, daß man schon jetzt sicher annehmen kann, daß eine Inschrift - aber wohl auch die meisten anderen in den folgenden Analysen begegnenden Monumente unter Beteiligung einer ganzen Reihe von Personen entsteht. Selbst wenn man annimmt, daß der oder die Auftraggeber die einzelnen Schritte der Inschriftenentstehung überwachen und kontrollieren: Die Inschrift bleibt ein Gemeinschaftsprodukt und es kann nie ausgeschlossen werden, daß sich dadurch - wenn auch nur graduelle - Bedeutungsunterschiede in das Monument einschleichen. 1 3. Träger der Erinnerungspraxis Wer waren Auftraggeber und Ausführende der erhaltenen Monumente? Im Fall der Inschriften lassen sich den jeweiligen Texten Hinweise auf deren Verfasser entnehmen: Stilvergleich oder die Rekonstruktion des Bildungshintergrunds können hier Hinweise liefern. Ähnliches gilt grundsätzlich für die Realisierung der Inschriftenplatte, wenngleich hier oft das notwendige Vergleichsmaterial fehlt. 2 Für die aktuelle Fragestellung sind die Auftraggeber von besonderem Interesse, da von ihnen der Impuls zur Errichtung des Monuments ausgeht und diese sicherlich Einfluß auf die Art der Darstellung genommen haben. Welche gesellschaftlichen und politischen Instanzen der Stadt sind es also, die ihre Deutung der städtischen Vergangenheit im Stadtraum präsent gemacht haben? Für die Frage nach den Auftraggebern fehlen jedoch in dieser frühen Zeit fast immer direkte Quellen. Um hier dennoch weiterzukommen, ist ein Umweg zu beschreiten, der über eine allgemeine Bestimmung epigraphischer Praxis in der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Stadt führt. Einer der wenigen Mediävisten, die sich bisher auf theoretischer Ebene mit den semiotischen Aspekten öffentlicher Inschriften im Stadtraum beschäftigt haben, ist ArDies gilt für die Pisaner Inschriften vor allem für mögliche unterschiedliche Intentionen der laikalen Auftraggeber und der klerikalen Dichter, etwa im Falle der Epitaphe. Weiter unten wird ferner ein Fall zu diskutieren sein, der zeigt, daß gerade die Ortswahl bzw. die Veränderung der Anbringung einer Inschrift deren Bedeutung verändern kann. Vgl. unten S. 356 ff. 2
Die adäquate Untersuchung der handwerklich-künstlerischen Ebene epigraphischer Praxis kann sich allerdings nicht auf den engeren Rahmen einer Stadt beschränken, da mittelalterliche Steinmetze verhältnismäßig mobil waren. Zwar sind die Pisaner Inschriften nahezu komplett erschlossen (vgl. oben S. 211, Anm. 2). Eine befriedigende Erschließung auch nur der toskanischen Inschriften des 11. und 12. Jahrhunderts ist jedoch noch nicht abzusehen. Ein Versuch, ausschließlich anhand der Pisaner Überlieferung zu sicheren epigraphisch-paläographischen Ergebnissen zu kommen, scheitert jedoch allein schon an der geringen Anzahl auch nur einigermaßen sicher zu datierender Inschriften. Zwischen dem 11. und der Mitte des 12. Jahrhunderts haben sich aus Pisa ganze 7 Inschriften in Stein erhalten, die einen expliziten Datierungshinweis enthalten (vgl. BANTI: MONUMENTA). Diese weisen derart große Unterschiede auf, daß man das Kriterium der Schriftanalyse fast gänzlich außer Acht lassen kann.
216
Geschichte im Stadtraum - Die Stadt als
Erinnerungsraum
mando Petrucci. Ausgehend von einer Sozial- und Kulturgeschichte der Schrift hat er wichtige Einsichten in das Verhältnis zwischen Machtstrukturen und Schrift im öffentlichen Raum gewonnen.1 In diesem Zusammenhang prägte er eine Reihe von Konzepten und Begriffen, die auch fur die vorliegende Untersuchung sinnvoll einsetzbar sind.2 Zunächst weist er mit Nachdruck auf den Zusammenhang zwischen Inschrift (oder allgemeiner: symbolischer Form) und der diese tragenden Architektur hin und spricht hier vom „rapporto grafico-monumentale,"3 Dieses Verhältnis zwischen Monument und der jeweils tragenden Architektur wird bei den folgenden Analysen stets im Blick zu halten sein. Zentral ist jedoch für die Frage nach den Auftraggebern vor allem das Konzept des „dominio dello spazio grafico" der Herrschaft über den graphischen Raum. Als ,spazio grafico ", als graphischen Raum, bezeichnet Petrucci diejenigen Bereiche des Stadtraumes,5 die Oberflächen aufweisen, die mit Schrift oder anderen Symbolen belegt werden können, also etwa Kirchenbauten, Stadtmauern, Brunnen etc.6 Jeder graphische Raum habe einen dominus, einen Herren bzw. Inhaber, also eine Person oder Institution, die über die Verwendung dieses Raumes entscheidet. Dieser dominus dello spazio grafico bestimme auch direkt oder indirekt, mit welchen Zeichen die entsprechenden Flächen belegt werden.7 Was auf den ersten Blick einleuchtet und für die spätere Zeit auch quellenmäßig belegbar ist, hat für die Analyse des städtischen Erinnerungsraums ganz praktische Konsequenzen. Da stets diejenige Person oder Institution, die die Verfügungsgewalt über die verschiedenen Teilräume und Gebäude der Stadt hat, auch das dort ausgestellte graphische Programm bestimmt, wird man die sich in diesem ausdrückende Sicht der Vergangenheit an die Herren der jeweiligen Räume zurückbinden können. Konkret bedeutet das, daß etwa der- bzw. diejenigen, die rechtlich über ein Kirchengebäude
1
Vgl.
PETRUCCI: POTERE, PETRUCCI: SCRITTURA
und (allerdings für die frühe Zeit nicht so ergiebig)
PETRUCCI: SCRITTURE ULTIME. 2
3 4
5
6
7
Zwar geht es Petrucci in erster Linie um Schrift und Inschriften. Seine Konzepte sind jedoch auch auf den gesamten Bereich der städtischen Erinnerungslandschaft, also auch auf nichtschriftliche Zeugnisse anwendbar. Petrucci: Scrittura, S. XXI. PETRUCCI: SCRITTURA, S . XX. Die Begriffe werden auch in der jüngeren Arbeit PETRUCCI: POTERE, S. 88 ff. - jedoch unverändert - vorgestellt. Petruccis Modell gilt natürlich nicht nur für den Stadtraum, sondern für jeglichen vom Menschen belebten Raum. Da es hier und in Petruccis Arbeiten aber ausschließlich um Stadträume geht, wird das Konzept eben auch hierauf bezogen erläutert. „Spazio grafico e qualsiasi area, chiusa ο aperta, contenente superfici suscettibili di essere iscritte" (PETRUCCI: SCRITTURA, S . XX). Petrucci denkt wiederum in erster Linie an Schrift. Hier soll das Konzept jedoch auf jede symbolische Form ausgeweitet werden. „Poiche ogni possibile spazio grafico ha un dominus che ne determine l'uso, ne deriva che, direttamente ο indirettamente, tale dominus e anche in grado di determinare le caratteristiche dei prodotti grafici esposti" (PETRUCCI: SCRITTURA, S . X X I ) .
Vorüberlegungen
217
verfugen, auch über die Gestaltung der Fassade der Kirche entscheiden. 1 Es ist mehr als unwahrscheinlich, daß diese Personen etwa zulassen würden, daß an der Fassade , ihrer' Kirche eine Inschrift angebracht wird, deren Inhalt ihrer Sicht der Vergangenheit widerspricht. Man wird so zumindest sagen können, daß die in der Inschrift formulierte Sicht der Vergangenheit vom ,Herren' des entsprechenden Trägerbaus mitgetragen wird, wenn man nicht gar annimmt, daß von diesem gar die Initiative zur Inschriftensetzung ausging. Diese Einsicht läßt sich natürlich unmittelbar methodisch einsetzen. 2 Für die Analyse städtischer Erinnerungskulturen ist so die Bestimmung der rechtlichen oder auch informellen Beherrschung der jeweiligen Stadträume und Gebäude von großer Bedeutung. Entsprechend werden die folgenden Untersuchungen zu den erhaltenen Monumenten des hochmittelalterlichen Erinnerungsraums Pisas immer auch die jeweiligen Herrschafts- oder Rechtsverhältnisse in die Untersuchung einbeziehen müssen. Über den Umweg einer Bestimmung des oder der Herren der jeweiligen graphischen Räume, an denen sich die zu untersuchenden Monumente finden, kann man so versuchen, die hinter der entsprechenden Erinnerungsstiftung stehenden Personenkreise zu ermitteln. 4. Die Pisaner Erinnerungslandschaft Im heutigen Pisa finden sich eine Vielzahl von Gebäuden und Plätzen, die noch über weite Strecken die hochmittelalterliche Topographie und den hochmittelalterlichen Baubestand erkennen lassen. 3 Doch auch in Pisa ist die Stadtentwicklung natürlich nicht in der Mitte des 12. Jahrhunderts stehengeblieben. Viele Viertel der Stadt, viele Straßenzüge und Bauwerke sind in späterer Zeit um- oder überbaut worden. Wie oben ausgeführt, ist das Schicksal der städtischen Monumente eng mit dem der urbanistischen Strukturen verknüpft, in die sie eingebunden waren. Entsprechend haben die weiteren Veränderungen der Stadt - gleich aus welchen Gründen sie erfolgten - zur Konsequenz, daß sich nur ein Teil der ursprünglich vorhandenen Monumente erhalten hat. Ein Blick auf die Übersichtskarte zeigt, wo sich in Pisa Erinnerungszeichen erhalten haben oder wo man diese rekonstruieren kann (Karte 1). Von einigen wenigen Einzelfunden einmal abgesehen sind vor allem drei Komplexe zu nennen. Am Ufer des Arno läßt sich der Erinnerungskomplex der ehemaligen Porta Aurea rekonstruieren. Mehr im Zentrum des ummauerten Areals der Stadt befindet sich die für die Erinnerungskultur des hochmittelalterlichen Pisa wichtige Kirche San Sisto in Cortevecchia. Schließlich liegt im Nordwesten der Stadt, vor den frühmittelalterlichen Mauern, der bedeutendste Pisaner Erinnerungskomplex, der Domplatz.
2 3
Hier kann es natürlich auch etwas komplexere Verhältnisse geben, vgl. die Situation am Dom, dazu unten S. 264 ff. Die Operationalisierung des Modells geht allerdings über Petrucci hinaus. Hier ist auf die grundlegende Arbeit von REDI: PISA COM'ERA ZU verweisen.
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Geschichte im Stadtraum - Die Stadt als
Erinnerungsraum
In dieser Verteilung schlagen sich nicht zuletzt die durch unterschiedliche Faktoren bestimmten Überlieferungschancen nieder. Man wird sich so in jedem Falle hüten müssen, ohne weiteres aus dem Erhaltenen zu schließen, daß diese drei Komplexe auch fur das hochmittelalterliche Pisa die wichtigsten oder gar die einzigen Orte waren, an denen im Stadtraum Vergangenheit in Monumenten oder in gedeuteten Spuren präsent war. Mit Blick auf die Gesamtinterpretation der Pisaner Erinnerungskultur muß jedoch festgehalten werden, daß einige Bereiche der Stadt, an denen man monumentale Formen des Umgangs mit Vergangenheit erwarten würde, in der Überlieferung gar nicht auftauchen. Dies gilt in erster Linie für die Höfe der institutionell mit der Stadt verbundenen Kräfte. Weder im Bereich der Curia des Bischofs, noch der der Markgrafen oder der Visconti haben sich hochmittelalterliche Monumente erhalten.1 Entsprechend muß man sich bei den folgenden Untersuchungen stets des Fragmentcharakters der Überlieferang bewußt sein. Ob es neben dem heute noch vorhandenen oder noch zu erschließenden weitere Monumente gegeben hat, wird man dabei ebenso wenig sagen können, wie man mit Sicherheit bestimmen kann, welche Bedeutung die erhaltenen oder belegten Monumente im Gesamtzusammenhang der hochmittelalterlichen Erinnerungslandschaft der Stadt hatten. Gleichwohl - und dies macht den Fall Pisa so interessant - haben sich hier für die Zeit der frühen Kommune mehr Formen der Erinnerungsstiftung im Stadtraum erhalten, als in irgendeiner anderen italienischen oder außeritalienischen Stadt des Hochmittelalters. Der Komplex der Porta Aurea, die Kirche San Sisto und der unvergleichliche Komplex des Domplatzes bieten wertvolle Einsichten in einen Aspekt städtischer Erinnerungskultur, der eine wichtige Ergänzung zu den bisher analysierten Formen der traditionellen Geschichtsschreibung darstellt.
1
Hier gilt aber das schon oben ausgeführte: Da sich die jeweiligen Gebäude, also die Curia der Visconti, der Markgrafen und der hochmittelalterliche Vorgängerbau des heutigen Erzbischofspalastes im Stadtbild nicht erhalten haben, sind auch die hier möglicherweise einmal angebrachten oder aufgestellten Monumente verschwunden.
II. Der Komplex der Porta Aurea D e r erste der drei hier z u untersuchenden hochmittelalterlichen E r i n n e r u n g s k o m p l e x e gruppierte s i c h u m die heute aus d e m Stadtbild v e r s c h w u n d e n e Porta Aurea, e i n z u m A r n o - U f e r führendes Tor der v o r k o m m u n a l e n Stadtmauer. Überliefert sind v o r a l l e m z w e i Inschriften, die e s erlauben, die B e d e u t u n g d e s Tores und seiner ursprünglichen A u s g e s t a l t u n g zu rekonstruieren.
A. Die Stadttorinschrift der Porta Aurea „ CIVIBUS EGREGIIS HEC AUREA PORTA VOCAT[(ur)] IN QUA SIC [DIJCTAT NOBILITATIS HONOR HA(n)C URBE(m) DEC(us) I(m)PERII GENERALE PUTETIS QUE FERA PRAVORU(m) COLLA FERJRE SOLET. MAIORIS BALEE RABIES ERAT I(m)P(ro)BA MULTU(m) ILLA Q(ui)D HEC POSSET, VICTAQUE SENSIT EBUS ANNIS MILLE DECE(m) CENTU(m) CU(m) Q(ui)NQ(ue) P(er)ACTI(s) EX QUO CO(n)CEPIT VIRGO MARIA D(eu)M PISAN(us) POPUL(us) VICTOR P(ro)STRAVIT UTRA(m)Q(ue) HISQUE FACIT STRAGES INGEMINATA FIDE[(m)] DILIGITE IUSTITIA(m) Q(ui) IUDICATIS T(er)R[A(m)]" ' D i e originale Inschriftentafel ist heute an der F a s s a d e der Kirche Santa Maria dei Galletti a m Lungarno Pacinotti e i n g e l a s s e n (vgl. A b b . l , A b b . 2 u n d A b b . 3). 2 Der T e x t der Inschrift nennt zunächst d e n N a m e n d e s Stadttores ( V . 1) und lobt Pisa für s e i n e R o l l e
1
Text der Inschrift nach B A N T I : M O N U M E N T A , Nr.9, S. 22. ("Von ausgezeichneten Bürgern wird dieses Tor das Goldene genannt, auf dem die Zierde des Adels (so) schreiben läßt: Haltet diese Stadt für den Stolz des ganzen Reiches, die die wilden Nacken der Bösen zu schlagen pflegt. Die Raserei Mallorcas war äußerst boshaft, doch was diese Stadt vermochte, spürte das besiegte Ibiza. Als 1115 Jahre vergangen waren, seitdem die Jungfrau Maria Gott empfangen hatte, warf das siegreiche Volk der Pisaner beide nieder. Die doppelte Niederlage der Sarazenen bestätigt die Worte: Liebt die Gerechtigkeit, die ihr die Erde richtet!") Eine in den ersten beiden Versen vollkommen abweichende Übersetzung des Textes bietet B A N T I : GIUSTIZIA, S. 44, Anm. 3: „Questa porta e chiamata Aurea perche ne e riservato l'accesso ai cittadini che si sono distinti: cosi vuole l'onore dovuto alle nobili imprese." Näher an der hier vorgestellten Übersetzung, aber immer noch mit deutlichen Unterschieden übersetzt F I S H E R : PISAN C L E R G Y , S. 166 f.: „For outstanding citizens this is called the Golden Gate, on which the honor of nobility thus declares." Die komprimierte Sprache der Inschriften - das wird hier deutlich - läßt fast immer (zu) viel Spielraum für die Übersetzung bzw. Interpretation der Texte. Enstprechend ist auch die hier favorisierte Übersetzung nur als weiterer Vorschlag zu verstehen.
2
Die heutige Kirche, errichtet zwischen 1722 und 1757, entstand an der Stelle der mittelalterlichen Kirche San Salvatore in Porta Aurea. Vgl. R E D I : P O R T A A U R E A , S. 1 f. sowie die knappen Angaben zur Kirche bei R E D I : P I S A C O M ' E R A , S . 121 und S C A L I A : EPIGRAPHICA P I S A N A , S . 269.
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Geschichte im Stadtraum - Die Stadt als Erinnerungsraum
bei der Bekämpfung der Heiden (Vv. 3-4).' Danach folgt eine knappe Schilderung der Kämpfe der Pisaner auf Mallorca und Ibiza (1113-1115) (Vv. 5-11). Bevor der Text der Inschrift analysiert werden kann, muß jedoch zunächst die Lokalisierung der Porta Aurea und deren Einbindung in die urbanistische Gesamtsituation Pisas geklärt werden, da der architektonisch-topographische Rahmen für die Interpretation der weiteren Befunde grundlegend ist. 1. Die Porta Aurea im hochmittelalterlichen Stadtraum Dem Text der Inschrift ist zu entnehmen, daß diese sich ursprünglich an oder neben einem mit ,Porta Aurea' bezeichneten Torbau befunden hat (V. I). 2 Über Existenz und Lokalisierung dieses Baus herrschte lange Zeit Unklarheit.3 In Analogie zu anderen Fällen der Versetzung von Inschriften nach der Zerstörung der entsprechenden Trägerbauwerke wird man vermuten können, daß sich die originale Anbringung in der näheren Umgebung der heutigen Inschrift befand, also am nördlichen Ufer des Arno, etwa in Höhe der heutigen Via Curtatone e Montanara.4 Der Versuch, das Tor exakt zu lokalisieren, muß daher von der Untersuchung der Siedlungsstruktur am Arno-Ufer ausgehen. a. Lokalisierung des Tores Die frühmittelalterliche Siedlung Pisa war zum Arno hin lange Zeit durch den Lauf der spätantiken Mauer begrenzt (vgl. Karte 1). Diese ließ einen verhältnismäßig breiten Streifen nördlich des Flusses frei von Bebauung. Im Gegensatz zu den weiter vom Fluß 1
2
3
4
Auch dieser Text steht in Zusammenhang mit Traditionen des rhetorischen Städtelobs, wie man es dann vor allem an der annalistische Inschrift der Domfassade erkennen kann. Vgl. unten S. 336 ff. Das Demonstrativum ,h(a)ec' läßt vermuten, daß die Inschrift in unmittelbarer Nähe zum Stadttor angebracht war. Ähnliche Nennungen des Tornamens finden sich auch in anderen Stadttorinschriften, vgl. etwa Fälle aus Viterbo: Le Epigraß medievali di Viterbo, Nr.4, S. 30 ff. und Nr. 14, S. 48 ff. Nicht wirklich auszuschließen ist allerdings, daß sich der Name und damit auch das Demonstrativum nicht auf das Stadttor, sondern auf den gleichnamigen Stadtbezirk bezog, vgl. unten S. 220, Anm. 3. Anders als der ,Porta Aurea' genannte Stadtbezirk läßt sich ein tatsächliches Bauwerk diese Namens nicht in den Quellen nachweisen (vgl. die Belege zum Bezirk ,Porta Aurea' bei REDI: PORTA AUREA, S. 2, Anm. 3). Die auch für Pisa gut belegte Gliederung des Stadtraums und der Einwohnerschaft nach Porte ist in italienischen Städten des Hochmittelalters verbreitet (vgl. die Literatur bei REDI: PORTA AUREA, S. 3; ferner RACINE: PORTE). Da sich diese Bezeichnungen von einem entsprechenden Teil der Stadtbefestigung ableiten, den die Einwohner des Bezirks zu verteidigen hatten, läßt sich bei aller Vorsicht aus dem Nachweis eines solchen Bezirks auch auf die Existenz eines entsprechenden Bauwerks schließen. Vgl. die Zusammenfassung der bisherigen Forschungsdiskussion bei REDI: PORTA AUREA, S. 4 ff. Man vergleiche etwa die Inschrift eines abgetragenen Stadttores aus Viterbo (Porta Sonsa). Diese wurde an einem Gebäude in der Nähe des Stadttores angebracht. Unter der Originalinschrifi: wurde anläßlich der Umsetzung ein Zusatz angebracht. Hier heißt es, die Inschrift sei „ob vetustatis memoria«" erhalten worden. Vgl. Le Epigraß medievali di Viterbo, Nr. 4, S. 20 ff. Ein vergleichbares Motiv kann sicher auch für den Erhalt der Pisaner Tafel angenommen werden.
221
Der Komplex der Porta Aurea
entfernten Teilen der Stadt wurde die antike Mauer am Arno jedoch zunächst nicht überschritten. Grund hierfür war sicher in erster Linie die Gefahr, die der häufig über die Ufer tretenden Fluß für die Siedlung darstellte. 1 Im Rahmen der Ausweitung der Handelstätigkeit der Pisaner erlangte dieser Uferstreifen für das Gemeinwesen jedoch mehr und mehr an Bedeutung, da nur über dieses Ufer der Zugang zum Arno und damit zum Meer möglich war. 2 Eine Nutzung der Uferbereiche durch die Pisaner war zunächst durch die Rechtslage eingeschränkt, da es sich hierbei um Reichsgut handelte. 3 Erst das Diplom Heinrichs IV. für Pisa von 1081 änderte etwas an diesem Zustand, da dieser den Pisanern den Uferstreifen „ab antiquis muris usque ad Arnum ad communem utilitatem" überließ. 4 Den Bezug auf die ,alten Mauern' im Diplom Heinrichs wird man so interpretieren können, daß die antike Stadtummauerung zu dieser Zeit noch im Stadtbild vorhanden war. Doch wird man in der Porta Aurea der Inschrift nicht einen Teil dieser antiken Befestigungsanlage sehen können, 5 da der Verlauf der antiken Mauer ein ganzes Stück nördlich der heutigen Anbringung der Tafel liegt,6 eine Versetzung der Inschrift innerhalb des Stadtraumes über eine solche Distanz aber mehr als unwahrscheinlich ist. Vermutlich wurde nach der Besiedlung der von Heinrich IV. an die Stadt übertragenen Grundstücke in unmittelbarer Ufernähe ein weiteres Tor errichtet, daß von seinem antiken Vorgängerbau den Namen übernahm. 7 Diese These untermauert zuletzt F. Redi in einer detaillierten Untersuchung der topographischen, archäologischen und archivali-
1
V g l . z u r f r ü h m i t t e l a l t e r l i c h e n S i t u a t i o n REDI: PISA COM'ERA, S . 9 2
2
Vgl. zur Nutzung der Ufer und zur innerstädtischen Auseinandersetzungen um die Beherrschung
ff.
d e r U f e r s t r e i f e n ROSSETTI: P I S A Ε L'IMPERO, S . 1 7 1 f . u n d d i e w e i t e r e 3
bei
REDI: PORTA A U R E A ,
S. 14, Anm. 33 genannte Literatur. SCHNEIDER: REICHSVERWALTUNG, S. 238. Dennoch hatten sich die Pisaner offenbar schon vor dem Privileg von 1081 Grundstücke auf dem Reichsgut am Arno angeeignet, vgl. ROSSETTI: PISA Ε L'IMPERO, S .
171.
4
Diese Interpretation entspricht der Neuedition des Diploms durch Gabriella Rossetti (ROSSETTI: PISA Ε L'IMPERO, S. 167). Die von ihr vorgenommene neue Interpunktion ist vorzuziehen, da diejenige der älteren Edition durch von Gladiss (MGH DH.IV. 336, S. 443, Z.29 ff.) keinen Sinn ergibt. Vgl. jedoch hierzu die kritische Stellungnahme von STRUVE: HEINRICH, S. 514 ff.
5
Es gibt jedoch nach Redi Anzeichen dafür, daß zumindest der Name 'Porta Aurea' auch schon ein Tor dieser antiken Mauer bezeichnete (REDI: PORTA AUREA, S. 15). Redi bezieht sich hier vor allem auf analoge Bezeichnungen aus anderen Städten, und zwar aus Genua, Benevent, Jerusalem und schließlich Konstantinopel. Allen gemeinsam sei die Lage an einer wichtigen Konsularstraße (vgl. auch FATUCCHI: PORTA AUREA). Dies würde auch für die im Falle Pisas in der Linie der heutigen Via Curtatone e Montanara zu lokalisierende spätantike Porta Aurea gelten. Eben an dieser Stelle führte die Via Aurelia über eine allerdings schon im 12. Jahrhundert verschwundene Amo-Brücke in die Stadt. Die spätantike Porta Aurea wäre somit für den von Rom kommenden Reisenden der zentrale Zugang zur Stadt. Vgl. zur spätantiken Verkehrssituation am Arno-Ufer GARZELLA: PISA COM'ERA, K a p i t e l 2 u n d REDI: PISA COM'ERA, S . 2 5 ff. u n d 9 1 f f .
6
REDI: PORTA A U R E A , S . 1 9 u n d F i g u r a 3 , S . 7 .
7
REDI: PORTA A U R E A , S . 1 6
222
Geschichte im Stadtraum - Die Stadt als Erinnerungsraum
sehen Quellen.1 Er identifiziert die Porta Aurea mit einer bei Grabungen im Jahre 1969 aufgefundenen Struktur in unmittelbarer Nähe der Einmündung der heutigen Via Curtatone e Montanara in den Lungarno Pacinotti, wenige Meter östlich der heutigen Anbringung der Inschrift an der Kirche S. Maria dei Galletti.2 Für die Interpretation der Stadttorinschrift ist aber vor allem die Einbindung in den urbanistischen Zusammenhang der Stadt bedeutend. b. Einbindung in den urbanistischen Zusammenhang In den mittelalterlichen Städten waren Stadttore die zentralen bzw. einzig möglichen Orte des Übergangs von der Stadt ins Umland. An den Stadttoren konzentrierte sich der Verkehr zwischen dem Innern der Stadt und der Welt außerhalb ihrer Mauern. Daher wurden Stadttore ganz automatisch zu privilegierten Orten der Kommunikation. Hier lagen die Hauptumschlagplätze für Waren, aber auch für Nachrichten, die in die Stadt kamen oder die Stadt verließen.3 Diese allgemeine Einschätzung läßt sich konkret auch für die Pisaner Porta Aurea belegen. Stimmt die Interpretation der archäologischen Befunde durch Redi, so lag die Porta Aurea auf dem 1081 den Pisanern zur Nutzung überlassenen Uferstreifen am nördlichen Arno-Ufer. Untersuchungen der erhaltenen Bausubstanz ergaben, daß hier schon vor der Anlage des Tores und der entsprechenden Befestigung Wohntürme errichtet wurden, die Zeugnis der Besiedlung aber auch der innerstädtischen Auseinandersetzung um die Beherrschung des Arno-Ufers sind.4 An der Stelle der Porta Aurea führte die Via Aurelia, eine seit römischer Zeit von Süden in die Stadt fuhrende Straße, auf einer älteren Brücke über den Arno. Bis zur Aufgabe dieser Brücke am Anfang des 12. Jahrhunderts war die Porta Aurea so der zentrale Zugang für den von Süden (etwa aus Rom) in die Stadt kommenden Reisenden.5 Neben dieser Bedeutung für den Verkehr über Land
1
REDI: PORTA A U R E A , S . 1 6 f f .
2
REDI: PORTA A U R E A , S . 1 8 u n d S . 7 ( F i g u r a 3 ) .
3
Vgl. dazu die treffende Charakterisierung des Stadttors durch L. Mumford: „Far more than a mere opening, it was a ,meeting place of two worlds', the urban and the rural, the insider and the outsider. The main gate offered the first greeting to the trader, the pilgrim, or the common wayfarer; it was at once a customs house, a passport office and immigration control point, and a triumphal arch [...]. Wherever the river of traffic slows down, it tends to deposit its load: so it would be usually near the gates that the storehouse would be built, and the inns and taverns congregate, and in the adjoining streets the craftsmen and merchants would set up their shops." (MUMFORD: CITY, S. 350). Der neuere Aufsatzband ISENBERG / SCHOLKMANN: BEFESTIGUNG läßt diesen Aspekt weitgehend unberücksichtigt. Vgl. hingegen HEERS: FORTIFICATIONS und DUFOUR Bozzo: PORTA.
4
S. 19. Vgl. allgemein zur zivilen Bebauung der Stadt REDI: PISA COM'ERA, S. 177 ff. Zur Auseinandersetzung um den Uferbereich ROSSETTI: PISA Ε L'IMPERO, S. 171 f. Zur Position dieser ersten Brücke GARZELLA: PISA COM'ERA, S. 154. Deren südlicher Brückenkopf lag auf der Höhe von Santa Christina. Letzter Beleg für die Existenz dieser Brücke könnte eine Urkunde von 1103 sein, in der ein Grundstück „in Khintica, prope pontem de Arno et prope ecclesiam sanete Cristine" lokalisiert wird (Urkunde Pisa, 11. Juli 1103. ACP 4, Nr. 17, S. 36). Vgl. dazu aber
5
REDI: PORTA A U R E A ,
223
Der Komplex der Porta Aurea
tritt im Falle der Porta Aurea noch die Bedeutung für den Seehandel Pisas. Dessen Warenströme führten über den Arno in die Stadt. V o m Flußufer, das als eine Art Binnenhafen diente, 1 gelangten Waren und Menschen durch die Porta Aurea in die Stadt. 2 Wenn die Porta Aurea nach der Errichtung der neuen Arno-Brücke, die den Fluß weiter östlich an der Stelle der heutigen Ponte di Mezzo überquerte, 3 auch ihre zentrale Bedeutung für den Verkehr auf dem Landweg verlor, blieb sie doch einer der wichtigsten Zugänge zur Stadt, nicht zuletzt wegen ihrer Lage am Arno-Ufer. 4 c. Die Porta Aurea als Ort der Monumentsetzung - Symbolische Dimensionen Die Bedeutung des Tores innerhalb der städtischen Topographie spiegelt sich möglicherweise schon in der Bezeichnung ,Porta Aurea' wieder, die mit vergleichbaren Bezeichnungen anderer Städte, etwa der Porta Aurea in Byzanz, in Beziehung zu setzen ist. 5 Bei der Bewertung der Inschriftensetzung an der Porta Aurea ist jedoch schon vor jeder weiteren Bedeutung die allgemeine symbolische Funktion von Stadttoren zu berücksichtigen. Stadttore waren nicht nur Knotenpunkte im städtischen Verkehrs- und Kommunikationsnetz. Indem Stadttore - und die gesamte Stadtbefestigung - den Rechtsbereich, aber auch die Verteidigungsbereitschaft und die Stärke der Stadt versinnbildlichten, kam ihnen von Beginn an auch ein hoher Symbolcharakter zu. 6 Beides,
die von Garzella geäußerten Zweifel an der Identifizierung dieser Brücke mit der älteren AmoBrücke: GARZELLA: P I S A C O M ' E R A , S . 1 5 5 . 1
V g l . ROSSETTI: ASSETTO URBANO.
2
Ähnliche Funktion hatte sicherlich auch die mit Blick auf das innerstädtische Verkehrsnetz aber weniger bedeutende Porta San Martino, die wenige Meter östlich der Porta Aurea lag, vgl. GARZELLA: PISA COM'ERA, S. 39 und Tafel V. Der erste urkundliche Beleg dieser neuen Brücke stammt aus dem Jahr 1111 (Urkunde Chinzica, 6. März 1 1 1 1 , CACPi, Nr.40, zitiert bei GARZELLA: PISA COM'ERA, S . 1 5 5 Anm. 2 9 3 ) . Zur Brücke GARZELLA: PISA COM'ERA, S. 1 5 4 f. Die neue Brücke stieß an der südöstlichen Ecke auf die vorkommunale Stadtmauer. Ob der Verkehr nun durch die näher gelegene Porta San Martino in die Stadt führte oder aber dem Lauf des heutigen Borgo stretto folgend von Osten in die Stadt führte, ist hierbei unerheblich. Ausschließen wird man sicher, daß der Verkehr auf einer am Arno nach Westen führenden Straße vor der Stadtmauer an der Porta S. Martino vorbeifuhrte, um dann erst durch die Porta Aurea in die Stadt zu fuhren. So nahm eine der wichtigsten innerstädtischen Verkehrsachsen, eine Straße die ins spätere administrative Zentrum führte (vgl. Übersichtskarte), ihren Ausgang an der Porta Aurea. Für diese ist seit dem 17. Jahrhundert dann auch der Name ,via Portae Aureae' überliefert (vgl. GARZELLA: PISA COM'ERA, S. 40 f.). Eine vergleichbare Verkehrssituation läßt sich übrigens auch für die Mailänder Porta Romana rekonstruieren, die durch ihre inschriftliche und figürliche Ausgestaltung ebenfalls zu einem der zentralen Orte der städtischen Erinnerungslandschaft Mailands wurde (vgl. HOLSEN-
3
4
ESCH: ROMANISCHE SKULPTUR, S. 6 2 f.). 5
Vgl. hierzu
FISHER: PISAN CLERGY, S . 1 6 6 - 1 6 9 , SCALIA: ROMANITAS, S . 8 3 9
f.,
SCALIA: CONSOLE,
S. 5 4 f f . u n d REDI: PORTA AUREA, S . 3 . 6
Vgl. allgemein zum Symbolgehalt des Stadttors SCHICH: STADTTOR, GARDNER: INTRODUCTION. S. 96 f.spricht hier von der „emblematischen Funktion des Stadttors", die sich sowohl in dessen Abbildung auf Siegeln als auch in der „Anbringung von Wappen MECKSEPER: KUNSTGESCHICHTE,
224
Geschichte im Stadtraum - Die Stadt als Erinnerungsraum
der Symbolcharakter des Stadttores und die exponierte Verkehrslage führten in vielen Fällen dazu, daß Stadttore zu den wichtigsten Orten städtischer Selbstdarstellung wurden.1 So finden sich an den Feldseiten, also den nach außen gewandten Seiten der Tore,2 oft inschriftliche Formen oder auch bildliche Darstellungen.3 Einen solchen allgemeinen Symbolcharakter wird man auch für die Pisaner Stadttore annehmen können. Im Fall der Porta Aurea kann man jedoch konkreter werden. Die Porta Aurea war als Zugang vom Meer aus dasjenige unter den Pisaner Stadttoren, durch das die heimkehrenden Kämpfer der Pisaner Überseeexpeditionen in die Stadt einzogen. Das Tor war so schon vor der an die Siege auf den Balearen erinnernden Inschriftensetzung mit diesen Ereignisse verbunden, da es gewissermaßen die Schwelle bildete, über die die siegreichen Kämpfer mit ihrer Beute die Stadt betraten. Hier deutet sich so an, was auch die weiteren Analysen bestätigen werden: Die Entscheidung, an welchem Ort bzw. an welcher architektonischen Struktur man eine Inschrift oder ein sonstiges Monument anbrachte, scheint sowohl die Verkeltrs- und Kommunikationssituation als auch den Symbolwert oder gar das bestehende Erinnerungspotential des Anbringungsortes berücksichtigt zu haben. Nicht selten ist es eine schon bestehende Erinnerungsfunktion, die durch ein Monument noch verstärkt, ausgelegt oder ergänzt wird. Im Falle der Porta Aurea wird gerade das Tor, durch das die siegreichen Heimkehrer von den Balearen in die Stadt einzogen, zum Ort einer inschriftlichen Erinnerungsstiftung, die die Siege auf den Balearen im Gedächtnis der Nachwelt bewahren sollte.
und anderen Symbolen auf seiner Feldseite" zeige. Die Bedeutung der Stadtbefestigung für die kommunale Identität betont mit Blick auf Italien im 12. Jahrhundert auch COLEMAN: SENSE OF COMMUNITY, S . 5 1 f. 1
So auch HÜLSEN-ESCH: ROMANISCHE SKULPTUR, S. 63 (hier konkret bezogen auf das Beispiel der Mailänder Porta Romana). Vgl. allgemein zur Ikonographie mittelalterlicher Stadttore Italiens GARDNER: INTRODUCTION.
2
Daß gerade diese Seite der Stadttore seit der Antike besonders ausgeschmückt war, stellt auch GARDNER: INTRODUCTION, S. 2 0 0 f e s t .
3
Das Beispiel der Mailänder Porta Romana vermag einen Eindruck von der Kombination inschriftlicher und bildlicher Repräsentation zu vermitteln. Vgl. dazu A. HÜLSEN-ESCH: ROMANISCHE: SKULPTUR, S. 36 ff. Diese sieht jedoch die Ausschmückung der Stadttore durch Statuen oder Reliefe als ein Phänomen an, das erst seit dem 13. Jahrhundert Verbreitung findet (ebd., S. 66). Auch für Pisa kann man einen bildlichen Schmuck der Stadttore nachweisen. So hat sich eine romanische LöwenSkulptur der Porta Leone erhalten, die Teil der seit der Mitte des 12. Jahrhunderts angelegten zweiten Ummauerung der Stadt war (vgl. zu diesem Löwen SCALIA: ROMANITAS, S. 883 und BORGHI: MURA, S. 15 ff. und Abb.5, zur ursprünglichen Anbringung dieser Skulptur). Nach GREENHALG: IPSA RUINA DOCET, S. 151 handelt es sich auch bei diesem Löwen um eine im Orient erbeutete Trophäe der Pisaner (vgl. zu den Trophäen im Stadtraum unten S. 372 ff.). Weiterhin schreibt das Breve von 1287 vor, daß an Mariae Himmelfahrt die über den Stadttoren angebrachten Bilder Marias und der Heiligen Markus und Petrus erneuert bzw. instandgesetzt werden sollen (GHIGNOLI: BREVI, S. 247 f.). Leider lassen sich keine Angaben über eventuelle bildliche Ausschmückungen der vorkommunalen Mauer bzw. konkret der Porta Aurea machen.
Der Komplex der Porta Aurea
225
d. Die Porta Aurea - Triumphtor der Kommune? Die Pisaner Forschung versucht seit langem, dem verlorenen Gebäude der Porta Aurea eine Funktion innerhalb der Pisaner Erinnerungslandschaft des 12. Jahrhunderts zuzuweisen, die über das oben Festgestellte hinausgeht. Man glaubt annehmen zu können, daß sich die Torinschrift nicht nur auf den Sieg über die Sarazenen Mallorcas, sondern ganz konkret auf einen ritualisierten triumphalen Einzug der Pisaner Truppen nach der Rückkehr von den Balearen bezog. 1 Die Triumphzüge der siegreichen Truppen seien in der Regel durch die Porta Aurea in die Stadt geführt worden, die Porta Aurea sei also auch als eine Art Triumphbogen anzusehen oder gar eigens zu diesem Zweck errichtet worden. Nun wird man zunächst einschränkend betonen müssen, daß keine der Quellen des 11. oder 12. Jahrhunderts von einem derartigen Brauch in Pisa berichtet. 3 Keines der
2
3
Die Vorstellung, die Inschrift stehe in direktem Zusammenhang mit einem Triumphzug findet sich zuerst in der Edition des Textes durch Calisse: Liber Maiorichinus, S. 143. Den Charakter des Tores als ,arco di trionfo' betont S C A L I A : R O M A N I T A S , S . 839. Fabio Redi erwägt gar, daß das Tor eigens für den Triumphzug von 1115 errichtet wurde, R E D I : P O R T A A U R E A , S. 16 und 19 f. Vgl. grundsätzlich zur Verwischung der Grenzen zwischen Verteidigungsbau und Ehrenbogen in der mittelalterlichen Stadttorikonographie H Ü L S E N - E S C H : ROMANISCHE SKULPTUR, S. 65 ff. Den Doppelcharakter - also Verteidigungsbau und Triumphtor - betont für die Mailänder Porta Romana VISIOLI: STORIA, S . 50 f. und allgemein für Stadttore G A R D N E R : INTRODUCTION, S . 200. Die Vorstellung eines Triumphzuges findet sich verdichtet zum ersten Mal bei SCALIA: ROMANITAS, S. 839 f. Diese scheint sich bei ihm einerseit aus seinem Konzept der ,romanitas Pisana' zu speisen. Da sich die Pisaner derart an der römischen Antike orientierten, wäre ihnen natürlich auch das Abhalten von Triumphzügen zuzutrauen gewesen. Den Brauch als solchen scheint Scalia gar nicht in Frage zu stellen. Die Verbindung des Triumphzuges mit der Porta Aurea ergibt sich für Scalia dann aus der Analogie zur Praxis in Byzanz. Auch dort sei die Porta Aurea „ursprünglich ein freistehender Triumphbogen" gewesen (so schon STRZYGOWSKI: G O L D E N E S T O R , S . 5 ) . Andererseits versucht Scalia dies aus dem Text der Inschrift abzuleiten: „Per essa [la porta aurea, MH] si accedeva alla cittä provenendo dal mare e, c o m e si d e d u c e d a l l ' i s c r i z i o n e p o e t i c a apostavi nel 1115, al ritorno dalla vittoriosa spedizione contro le Baleari, equivaleva per i Pisani a un arco di trionfo " ( S C A L I A : R O M A N I T A S , S. 839, Hervorhebung von mir, MH). Aus welcher Formulierung der Inschrift er auf dessen Charakter als Triumphbogen schließt, äußert Scalia jedoch nicht. Malerisch ausgestaltet wird ein solcher Triumphzug dann von R E D I : PORTA A U R E A , S. 19: „In occasione della vittoriosa impresa delle Baleari, l'accesso alla cittä [...] attraverso il quale sfilarono trionfanti i vincitori con il copioso bottino di guerra, fu nobilitato dal testo epigrafico appostovi a perenne memoria." Vgl. allgemein zu Triumphzügen im abendländischen Mittelalter M A X W E L L : TRIONFI und M C C O R M I C K : ETERNAL VICTORY. Beide Untersuchungen erwähnen für das 11. und 12. Jahrhundert keinerlei Triumphzüge in städtischem Kontext. Wichtig ist die von B O R D O N E : SOCIETÄ CITTADINA, S. 94 betonte Unterscheidung zwischen zwei unterschiedlichen Typen strukturell ähnlicher ritueller Einzüge in die Stadt. Neben den feierlichen Einzug prominenter Persönlichkeiten (hier könnte man vielleicht eher den Terminus adventus verwenden, wenngleich, wie Bordone richtig bemerkt, die zeitgenössischen Quellen hier keinen Unterschied machen) stellt er die feierlichen Einzüge der städtischen Truppen aus Anlaß von Siegen oder sonstigen besonderen Ereignissen. Während sich feierliche Einzüge, etwa der Päpste, durchaus nachweisen lassen (vgl. etwa das unten
226
Geschichte im Stadtraum - Die Stadt als Erinnerungsraum
erhaltenen Pisaner Geschichtswerke läßt auf einen sich an die Expeditionen anschließenden ritualisierten Einzug der Truppen schließen. 1 So ist im Liber Maiorichinus v o n einem Triumphzug im Sinne eines institutionalisierten und ritualisierten Einzuges in die Stadt keine Rede. Hier heißt es schlicht von der Rückkehr der Pisaner: 2 „ Denique victores, felici classe parata, Ad sua quique meant, hos et de litore spectant Et miranda canunt Christi magnalia gentes. Pisanam tandem Burabe transductus in urbem Prebuit Italie sese spectabile monstrum." A u c h die übrigen Quellen zur Balearen-Expedition sind hier nicht eindeutiger. So heißt es in den Gesta triumphalia
v o n der Rückkehr der Pisaner: 3
„ Hiis itaque peractis omnibus, Pisani cives et totus exercitus captis spoliis naves onerant et in eas intrantes cum omni prosperitate ad sua loca remeant. Habitus est autem Maiorice triumphus, et Christiani exercitus gloriosus regressus anno Dominice Incarnationis millesimo M°.C°.XVI°" Man könnte zunächst in der Formulierung 'habitus est autem Maiorice
triumphus''
ei-
nen B e l e g fiir einen sich an die Rückkehr anschließenden Triumphzug sehen wollen. 4 D i e s läßt sich aber leicht durch die Verwendung des Wortes ,triumphus'
in den Pisaner
Quellen widerlegen, das immer in der Bedeutung ,Sieg' oder .Triumph' im allgemeinen Sinne, also nicht als feierlicher Einzug in die Stadt' verwendet wird. 5
1
2
3
4
5
S. 373 ff. erwähnte Beispiel), fehlen für Pisa jedoch entsprechende Belege für den zweiteil Typ des Triumphzuges. Weder das Ende des Carmen, noch die Darstellung der Palermo-Expedition in der Inschrift der Domfassade (vgl. unten S. 346 ff.), noch der im Liber Maiorichinus eingeschlossene kurze Bericht über die Kämpfe auf Sardinien (vgl. oben S. 81 ff.) erwähnen einen solchen feierlich-rituellen Einzug in die Stadt. Liber Maiorichinus, Vv. 3522 ff. („Schließlich reisten die Sieger, nachdem sie die erfolgreiche Flotte ausgerüstet hatten, in ihre jeweilige Heimat. Die Völker am Ufer bestaunten sie und priesen die wundervollen Großtaten Christi. Der nach Pisa gebrachte Burabe jedoch zeigte sich ganz Italien als bestaunenswürdiges Monstrum.") Gesta triumphalia, S. 94. („Nachdem all dies zu Ende gebracht war, beluden die Pisaner Cives und das ganze Heer die Schiffe mit der gemachten Beute, bestiegen sie und kehrten glücklich an ihre Heimatorte zurück. Der Sieg (triumphus) über Mallorca wurde erzielt und das glorreiche Heer der Christen kehrte zurück im Jahr der Fleischwerdung des Herrn 1116.") Die Zeichensetzung der Edition Gentile wurde hier leicht modifiziert. In nahezu identischer Formulierung endet der Bericht der anonymen Chronik ASL 54, der ansonsten eine ganze Reihe legendenhafter Ausschmückungen überliefert: „avuto fue il magniflco e grande triunfo dell'aquisto marionichano nelli annj della incarnatio dello buono Ihesu MCXVF' (Cronaca di Pisa, fol. 30v Sp.B). Ebenfalls kein Hinweis auf einen Triumphzug findet sich in Ranieri Sardos Cronaca di Pisa. So heißt es etwa im Liber Maiorichinus über den Tag des Heiligen Sixtus: ,Jn qua Pisani de Penis marte subactis \ Annales recolunt votiva laude triumphos" (Vv. 161 f.). Auch hier ist mit triumphus schlicht der Sieg, nicht der feierliche Einzug der Sieger gemeint (vgl. dagegen die andere Auffas-
227
Der Komplex der Porta Aurea
Z w a r f i n d e n sich B e l e g e aus späterer Zeit, die z e i g e n , daß die Porta Aurea b z w . ihre nähere U m g e b u n g mit den S i e g e n der Pisaner in Z u s a m m e n h a n g gebracht wurde. S o ist in privaten A u f z e i c h n u n g e n , die frühestens i m 18. Jahrhundert entstanden sind, 1 ein , Torre del T r i o n f o ' g e n a n n t e s G e b ä u d e in unmittelbarer N ä h e zur Porta Aurea erwähnt. E s heißt dort über e i n e s der Pisaner Stadtviertel: „II principio di questo quartiert e dove al presente e la Casa giä di Lupardo da vecchiano anticamente torre nominata del Trionfo; appresso di detta era la porta Aurea, che divideva il detto quartieri appresso alia Chiesa di S.Salvatore oggi detta la Madonna de' Galletti." D o c h w i r d m a n in der B e z e i c h n u n g d i e s e s H a u s e s w i e d e r u m k e i n e n B e l e g für einst dort abgehaltene T r i u m p h z ü g e s e h e n können. , T r i o n f o ' wird m a n w i e die entsprechenden V e r w e n d u n g e n in den Pisaner T e x t e n d e s Hochmittelalters a u f f a s s e n m ü s s e n . 3 D i e B e z e i c h n u n g d e s G e b ä u d e s - w o b e i z u d e m nicht sicher ist, w a n n d i e s e entstanden ist z e i g t ausschließlich, daß m a n die nähere U m g e b u n g der Porta A u r e a und vielleicht auch das Tor selbst mit den S i e g e n der Pisaner i m Mittelmeer in Z u s a m m e n h a n g brachte. E s gibt s o keine z w e i f e l s f r e i e n B e l e g e für in Pisa abgehaltene
ritualisierte
Triumph-
z ü g e , die durch die Porta A u r e a in die Stadt führten. Z w a r spricht die urbanistische Situation dafür, daß die s i e g r e i c h e n Pisaner Truppen, die a m A r n o - U f e r die S c h i f f e verließen, durch d i e s e s Tor in die Stadt e i n g e z o g e n sind. B e z w e i f e l t w e r d e n soll auch nicht, daß d i e s e E i n z ü g e die A u f m e r k s a m k e i t der Stadtbewohner a n g e z o g e n h a b e n . 4 sung dieser und anderer Stellen bei BORDONE: SOCIETÄ CITTADINA, S. 95). Das Carmen nennt erbeutete Banner der Sarazenen „triumphi premia" (V. 216). Anläßlich des Todes von Ugo Visconte ist von „confusio triumphi" die Rede (V. 176). Das Chronicon Pisanum berichtet, daß die Pisaner 1079 st. pis. „triumpho revertentibus" (S. 101) auf dem Meer auf Genueser Schiffe treffen. In der Palermo-Inschrift der Domfassade heißt es: „ Victores victis sie, facta cede, relictis, Incolumes multo Pisas rediere triumpho." Ahnliche Bedeutungen lassen sich in den Gesta triumphalia finden, etwa zum Jahr 1120 st. pis., wo vom „de Ianuensibus habito triumpho" (S.96) gesprochen wird. (vgl. auch Gesta triumphalia, S. 89, ad Ann. 1099: „quibus triumphatis et devictis omnibus", S. 91, ad Ann.1114: „exclamat se cum Pisanis velle fieri partieipem Majorice triumphy"). Eine möglicherweise andere Bedeutung des Begriffs findet man erst bei Bernardo Maragone, der aber immer noch beide B e d e u t u n g e n kennt (vgl. BORDONE: SOCIETÄ CITTADINA, S. 95). 1
2
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4
Dies ergibt sich aus der Erwähnung der Kirche Santa Maria dei Galletti. Vgl. zu dieser oben S.219, Anm. 2. Handschrift Archivio di Stato di Pisa, Comune D, 1519: ,Compendio di alcune Famiglie Nobili Pisane che hanno goduto degl'Onori, ed altro negl'Antichi Tempi\ fol. 8, hier zitiert nach REDI: PORTA AUREA, S. 16, Anm. 40. Ebd., S. 20 zur Lokalisierung dieses Gebäudes. Nur am Rande kann hier auf die 1163 von Barbarossa vor der Mailänder Porta Romana errichtete turris triumphalis verwiesen werden. Auch hier wird natürlich keiner an einen Zusammenhang mit einem abgehaltenen Triumphzug ausgehen, sodern darin eher ein Siegeszeichen sehen (vgl. Narratio de Longobardie obpressione, S. 280 „et ea estate hedificata est turris que dicta est Triumphalis in burgo NocetF). Vgl. hierzu Ζοτζ: PRÄSENZ, S. 183 f. Auf eine feierliche Begehung der Siege deutet auch eine Inschrift aus Marseille hin, die über dem Grab von auf den Balearen gefallenen Pisanern angebracht worden war: „O PIA VICTORUM BONITAS: DEFUNCTA SUORUM \ CORPORA CLASSE GERUNT PISAMQUE REDUCERE QUERUNT. | SED SIMUL ADDUCTUS NE TURBET GAUDIA LUCTUS, | CESI PRO XPISTO
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Geschichte im Stadtraum - Die Stadt als Erinnerungsraum
Dafür werden schon die mitgeführten Beutestücke und Kriegsgefangenen gesorgt haben.1 Wie gesagt weist aber nichts auf einen ritualisierten Einzug der Sieger in Form eines Triumphzuges hin. Entsprechend läßt sich natürlich ebensowenig eine Verbindung zwischen einem solchen Triumphzug und der Inschriftensetzung an der Porta Aurea herstellen. 2. Die Inschrift a. Formale Aspekte Die ursprüngliche Position der Porta Aurea läßt sich aufgrund der archäologischen Befunde relativ sicher bestimmen. Nicht zu rekonstruieren ist hingegen die Anbringung der heutigen Inschriftentafel am Stadttor. Man wird jedoch in Analogie zu ähnlichen Inschriften aus anderen Städten vermuten können, daß diese an der dem Fluß zugewandten Seite des Torbaus,2 möglicherweise aber auch an den Innenseiten des Tordurchgangs3 angebracht war. Die graphische Form weist die für alle hier untersuchten Pisaner Inschriften typische Regelmäßigkeit und Sorgfalt der Ausführung auf (vgl. Abb. I). 4 Geschrieben ist sie in einer von relativ wenigen Kürzungen durchsetzten romanischen Majuskel. Trotz eines vergleichbaren graphischen Repertoires zeigt die Schrift jedoch keine Signifikaten Ähnlichkeiten zu anderen Pisaner Inschriften des 12. Jahrhunderts.5
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5
TUMULO CLAUDUNTUR INISTO" (BANTI: MONUMENTA, Nr. 8, S. 21, Z.9 ff. [mit ergänzter Zeichensetzung, MH] „O fromme Gesinnung der Sieger: Die Körper ihrer Verstorbenen tragen sie auf die Schiffe und wollen sie nach Pisa zurückbringen. Doch damit die mitgeführte Trauer nicht die Freude trübt, wurden die fur Christus getöteten in diesem Grab hier bestattet."). Zur Interpretation der Inschrift SCALIA: EPIGRAPHICA PISANA, S. 2 6 9 , der jedoch auch hierin wieder einen Beleg für ritualisierte Triumphzüge sehen will, obwohl die Inschrift hiervon eigentlich nichts sagt. Vgl. zu Trophäen und Kriegsgefangenen die Ausführungen unten S. 372 ff. bzw. S. 414 ff. So belegt für die Inschrift der Mailänder Porta Romana, die an den Wiedereinzug der Mailänder nach der Zerstörung der Stadt durch Barbarossa erinnerte. Vgl. zu dieser Inschrift und dem Gesamtkontext der Toranlage HÜLSEN-ESCH: ROMANISCHE SKULPTUR, S . 3 6 ff. In dieser Weise sind zwei ebenfalls historische Ereignisse thematisierende Inschriften an der Porta Soprana in Genua angebracht. Vgl. CIMAL III, 2 1 5 bzw. DUFOUR Bozzo: PORTA. Singulär unter den hier untersuchten Pisaner Inschriften ist jedoch das nachträgliche Einschieben von Zeile 6, die man bei der Ausführung offensichtlich zunächst vergessen hatte. Hier wie im Fall der weiteren Inschriften wird man darauf verzichten müssen, paläographische Befunde zur genaueren Datierung heranzuziehen. Um zu einer genaueren Bestimmung gelangen zu können, steht zu wenig sicher datierbares Vergleichsmaterial zur Verfügung (entsprechend auch FISHER: PISAN CLERGY, S. 163 f. mit weiteren Argumenten gegen eine epigraphische bzw. paläographische Datierung der Inschriften). Der Charakter der Schrift bestätigt aber, daß die Inschrift in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts entstanden ist. Vgl. die Ergebnisse einer Schriftanalyse der Pisaner Inschriften bei BANTI: EPIGRAFICA ROMANICA.
Der Komplex der Porta Aurea
229
Wie in den meisten Fällen nennt auch diese Inschrift nicht das Datum der Inschriftensetzung. 1 Die im Text genannte Jahreszahl 1115 2 bezieht sich eindeutig auf das Ende der Expedition, nicht auf das Jahr der Inschriftensetzung. Sie bildet daher nur einen terminus post quem für die Entstehung der Inschrift. Man wird jedoch den Zeitpunkt der Inschriftensetzung nicht allzu lange nach dem in der Inschrift genannten Sieg über die Balearen ansetzen. b. Der Text Wie die Texte der meisten Pisaner Inschriften des Hochmittelalters ist auch der der Porta-Aurea-Inschrift in elegischen Distychen verfaßt. 3 Der Text der Inschrift beginnt mit der Nennung des Tornamens, 4 der mit der besonderen Würde der Pisaner Bürger in Verbindung gebracht wird. 5 Es folgt eine für die hochmittelalterlichen Stadttorinschriften typische Anrede an den Leser: Dieser solle die Stadt für eine Zierde des Reiches halten, 6 da Pisa die „wilden Hälse bzw. Nacken der Bösen zu schlagen pflege" (Z.4). 7 Der Kampf gegen ihre Feinde wird hier zunächst noch als eine zeitlose Tugend der Pisaner angesehen. 8 Schon der folgende Vers leitet dann aber zu einer historischen Be-
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Ein solches findet sich in der Regel erst bei Inschriften des 13. Jahrhunderts. Auf die hier erstmals begegnende Datierungsform wird weiter unten S. 339, Anm. 1 zurückzukommen sein. Zur metrischen Form SCALIA: EPIGRAPHICA PISANA, S. 271 A 25. Dies findet sich ähnlich in vielen Stadttorinschriften. Vgl. etwa zwei Stadttorinschriften aus Viterbo Le Epigrafi medievali di Viterbo, Nr. 4, S. 20 ff. und Nr. 14, S. 48 ff. Vgl. die oben S. 219, Anm. 1 zitierten alternativen Übersetzungen durch Banti und Fisher. Die Ähnlichkeit der Formulierung mit einer Inschrift der Mailänder Porta Romana ist auffällig. Hier heißt es (Iscrizioni delle chiese e degli altri edifici di Milano, Bd. 10, S. 33-34): „DIC HOMO QUI TRANSIS, QUI PORTE LIMINA TANGIS: | ROMA SECUNDA, VALE, REGNI DECUS IMPERIALE." Der Text ist auch in der Chronik des Benzo von Alessandria enthalten: Benzo von Alessandria: Chronicon, S . 1 5 4 . Vgl. zur Mailänder Inschrift COLOMBO: MILANO. Colombo datiert die Inschrift gegen Forcella zwischen das 10. und 11. Jahrhundert (ebd., S. 164). Anders äußert sich von Hülsen-Esch, die die Inschrift mit der älteren Literatur für eine wiederverwendete antike Inschrift hält (HÜLSEN-ESCH: ROMANISCHE SKULPTUR, S . 6 3 ) .
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Viele Stadttorinschriften enthalten vergleichbare Passage, die man in die Tradition des Städtelobs einordnen kann. Vgl. etwa wiederum die schon zitierte Inschrift von der Mailänder Porta Romana (Iscrizioni delle chiese e degli altri edifici di Milano, Bd. 10, S. 33): „URBS VENERANDA NIMIS, PLENISSIMA REBUS OPIMIS, TE METUUNT GENTES, TIBI FLECTUNT COLLA POTENTES, IN BELLO THEBAS, IN SENSU VINCIS ATHENAS"
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Hierin kann man sicherlich auch eine Warnung an auswärtige Besucher verstehen, wie sie sich oft in Stadttorinschriften findet. Vgl. etwa die Inschrift der Porta Soprana in Genua (CIMAL III, 215): „SI PACEM PORTAS, LICET HAS TIBI TANGERE PORTAS, | SI BELLUM QUERES, TRISTIS VICTUSQUE RECEDES."
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Geschichte im Stadtraum - Die Stadt als Erinnerungsraum
gründung für die geforderte Achtung oder Wertschätzung über.1 Umrissen werden zunächst in wenigen Worten die Verfehlungen der Sarazenen der Balearen, ohne daß diese jedoch als Heiden oder Muslime gekennzeichnet würden.2 Es folgt eine knappe Schilderung des Sieges der Pisaner auf den beiden Inseln Mallorca und Ibiza.3 Den Abschluß des Textes bildet ein Zitat aus dem biblischen Buch der Weisheit.4 Der Sieg über die Balearen - so wird man den Zusammenhang interpretieren dürfen - wird als ein Akt der (Wieder-) Herstellung irdischer Gerechtigkeit aufgefaßt. 5 In der Inschrift der Porta Aurea trifft man so zum ersten Mal eine Auffassung der Auseinandersetzung mit den Sarazenen, die alle inschriftlichen Umsetzungen dieser Kämpfe zu bestimmen scheint. Hier, wie auch in der Annalistischen Inschrift der Domfassade oder der Palermo-Inschrift, werden die Sarazenen keineswegs als Heiden und damit von Beginn an als zu bekämpfende Feinde der Christenheit charakterisiert. Entsprechend herrscht auch in den jeweiligen Darstellungen nicht die Vorstellung eines quasi gottgewollten heiligen Krieges vor, vielmehr werden die Kämpfe als Reaktionen auf erlittenes Unrecht verstanden. Zwar konnte diese Rechtfertigung der Kämpfe auch schon in der durch und durch geschichtstheologischen Darstellung des Carmen in victoriam Pisanorum oder des Liber Maiorichinus beobachtet werden. Auch diese hatten die
Es handelt sich hierbei um die erste von zwei Inschriftentafeln von einem Tor der Milte des 12. Jahrhunderts errichteten Ummauerung Genuas. Die beiden Tafeln sind rechts und links im Tordurchgang in Augenhöhe angebracht. Allgemein zur Inschrift: DUFOUR Bozzo: PORTA, S. 3 0 1 ff. Man vergleiche auch das Gegenstück der Inschrift CIMAL III, 216. Ähnlich heißt es in der bekannten Inschrift des Capuaner Brückentores: „INTRENT SECVRI, QVIQVERVNT VIVERE PVRI. INFIDVS EXCLVDI TIMEAT VEL CARCERE TRVDI."
1
Der Text der verlorenen Inschrift folgt der Edition der Beschreibung des Tores durch Fabio Vecchioni bei PAESELER / HOLTZMANN: FABIO VECCHIONI, S . 2 3 3 . Vgl. auch WILLEMSEN: TRJUMPHTOR (Abdruck der Inschrift auf S. 77, Anm. 3.). Auch hier lassen sich wiederum Parallelen zu anderen Stadttoren aufzeigen. So heißt es auch in der Inschrift der Porta Soprana in Genua (CIMAL III, 215): „AUSTER ET OCCASUS SEPTEMPTRIO NOVIT ET ORTUS QUANTOS BELLORUM SUPERAVIIANUA MOTUS.[...] MARTE MEI POPULI FUIT HACTENUS, AFFRICA MOTA POST ASIE PARTES ET AB HINC YSPANIA TOTA, ALMARIAM CEPI TORTOSAMQUE SUBEGI"
2 3
4 5
So schon FISHER: PISAN CLERGY, S. 166 f. Mit ,Balea maior' und ,Ebus' nennt die Inschrift die beiden Inseln bzw. die sich auf diesen befindenden Städte, die von der Balearen-Expedition angegriffen wurden. Die in der Inschrift verwendeten Bezeichnungen der Inseln entsprechen denen im Liber Maiorichinus. Siehe dazu das Register zum Liber Maiorichinus, s.v. ,Balea' und ,Ebusus/Ebus'. Andere Namen verwenden hingegen die Gesta triumphalia. Mallorca wird hier ,MajoricaIbiza ,Evisa' genannt. Weish 1.1. So auch BANTI: GIUSTIZIA, S. 45 f.
Der Komplex der Porta Aurea
231
Greueltaten der Sarazenen an den Anfang gestellt, die Angriffe bzw. besser Gegenschläge der Pisaner somit als gerechtfertigt erscheinen lassen. Während in der Dichtung jedoch die religiöse Motivation überwog, findet sich in den Inschriften nur noch das Element der Rache. Eine eindeutig religiöse Motivation, die Auffassung der Gegner als Anhänger teuflisch-dämonischer Mächte findet sich hier nicht. c. Adressaten Nicht nur die Anbringungssituation der Inschrift, auch die am Anfang stehende Aufforderung an den Leser (V. 3) machen deutlich, daß sich der Text in erster Linie an Stadtfremde richtet. Hier wird ein Ereignis der Pisaner Geschichte herausgegriffen und denjenigen entgegengehalten, die nicht der Pisaner Erinnerungsgemeinschaft angehören, um so den Ruhm der Stadt zu verbreiten. Wie auch in anderen Fällen zu beobachten, dient die Stadttorinschrift als eine Art Werbetafel, die im Rückgriff auf die jüngere Geschichte ein positives Bild der Stadt entwirft. Ein Besucher der Stadt sollte von Beginn an mit der Macht des Gemeinwesens konfrontiert werden, mit dem er nun in Kontakt treten würde. Daß dieses Ziel hier im Rückgriff auf die Vergangenheit und konkret auf einen der Pisaner Siege über die Sarazenen erreicht wird, ist vor dem Hintergrund der bisherigen Analysen der Pisaner Erinnerungskultur nicht verwunderlich. Der Fall der Stadttorinschrift der Porta Aurea zeigt jedoch mehr als alle bisher untersuchten Zeugnisse, daß der Bezug auf die Vergangenheit eine konkrete Funktion erfüllte. Im Falle der Inschriften diente sie dazu, dem Besucher der Stadt den nötigen Respekt abzufordern, möglicherweise auch vor den Folgen eines feindlichen Verhaltens zu warnen. 1 Geschichte war so mehr als bloßes antiquarisches Verzeichnen der vergangenen Großtaten, mehr als ein Feld theologischer Betrachtung unter anderen. Sie hatte im hochmittelalterliche Pisa - und sicher nicht nur hier - immer auch einen konkreten Bezug zur Gegenwart. d. Die Entstehung der Inschrift An der Entstehung einer Inschrift sind wie oben ausgeführt stets mehrere Personenoder Personenkreise beteiligt. Schon die metrische Form des Inschriftentextes zeigt, daß der Verfasser des Inschriftentextes der Porta Aurea literarisch hoch gebildete war. Angesichts des kulturellen Kontextes wird man schon daher davon ausgehen können, daß es sich bei diesem um einen Geistlichen handelte. Doch weisen weitere Indizien auf eine Identifizierung des Verfassers hin: So werden in der Inschrift zwei Formulierungen benutzt, die in gleicher Weise auch im Liber Maiorichinus verwendet werden. Dem ,nobilitatis honor' in Vers 2 der Inschrift entspricht die gleiche Wendung im Vers 2097 des Liber Maiorichinus. ,Balea Maior' bzw. ,Maior Balea (V. 5 der Inschrift) wird auch in der überarbeiteten Version des Liber
1
Dies wird in der Inschrift der Porta Soprana in Genua explizit gemacht. Vgl. oben S. 229, Anm. 8.
232
Geschichte im Stadtraum - Die Stadt als
Erinnerungsraum
Maiorichinus (V. 488) die Hauptinsel der Balearen, Mallorca, genannt.1 Sollte eine solche Identifizierung des Autors der Inschrift stimmen, wäre hiermit auch für die nicht in direktem Zusammenhang mit dem Dom stehenden Inschriften eine Beteiligung von Angehörigen des Domstifts belegt.2 Einmal mehr würde sich hier die große Bedeutung der Angehörigen des Domstifts für die frühkommunale Pisaner Erinnerungskultur zeigen. Beim derzeitigen Forschungsstand wird man aber noch keine abschließende Entscheidung treffen können, die Identifizierung des Dichters der Porta-Aurea-Inschrift mit dem des Liber Maiorichinus muß Hypothese bleiben.3 Wenig läßt sich in diesem Zusammenhang über die Realisierung der Inschriftenplatte sagen. Auf der Basis paläographischer Kriterien wird man die Platte keinem der ansonsten in Pisa tätigen Steinmetzen zuordnen können.4 Wichtiger ist jedoch die Frage, wer den Auftrag zur Inschriftensetzung gegeben hat, wer somit hinter diesem Fall inschriftlicher Erinnerungspraxis stand. Es konnte plausibel gemacht werden, daß die Porta Aurea auf eben dem Gelände am Arno-Ufer stand, das Heinrich IV. in seinem Diplom von 1081 den ,fidelibus nostris Pisane urbis civibus" „ad communem utilitatem" überließ.5 Das Tor und damit auch die Inschrift lagen somit im Rechtsbereich der Cives, was für den Zeitpunkt der Inschriftenanbringung sicher nach 11156 - bedeutet: im Rechtsbereich der sich verfestigenden Kommune. In Rückgriff auf das einleitend theoretisch formulierte7 wird man so vermuten können, daß es die Kommune, genauer gesagt die kommunale Führungsschicht war, von der die Inititative zur Anbringung der Inschrift ausging, und daß diese möglicherweise auch auf Abfassung und Formulierungen des Inschriftentextes Einfluß genommen hat. Für diese These lassen sich weitere Indizien im Text der Inschrift finden. Zunächst ist festzuhalten, daß die Inschrift den Populus pisanus als Akteur des erinnerten historischen Ereignisses nennt (V. 9), wobei man ,populus pisanus'' hier aber noch als übergreifenden Begriff für die gesamte Stadtgemeinschaft verstehen muß. Konkreter ist schon die Formulierung ,nobilitatis honor' (V. 2): Ähnlich wie in der schon erwähnten Parallelstelle des Liber Maiorichinus kann man die Formulierung auch hier einfach mit
1
2 3
4
5
6 7
Zu beiden Parallelen SCALIA: EPIGRAPHICA PISANA, S . 2 7 1 , Anm. 2 6 . Erstmals hingewiesen auf diese Parallelen hat PATETTA: APPUNTI, S. 1028. Anders jedoch in den Gesta triumphalia, in denen Mallorca ,Majorica' genannt wird. Vgl. zur Identifizierung des Autors des Liber oben S. 157 ff. G. Scalia wird in seiner angekündigten Neuedition des Liber Maiorichinus weiter auf die Parallelen zwischen dem Text des Liber und den Pisaner Inschriften eingehen (freundlicher Hinweis G. Scalias). Weitere Schlußfolgerungen verbieten sich aber beim derzeitigen Erschließungsstand der italienischen bzw. toskanischen Inschriften. ROSSETTI: PISA Ε L'IMPERO, S. 165 und 167. Vgl. oben S. 221, Anm. 2. Vgl. oben S. 229. Vgl. oben S. 215 f.
Der Komplex der Porta
233
Aurea
,nobilitas' bzw. ,nobiles' gleichsetzen. 1 Der Kontext des Liber Maiorichinus erlaubt eine genauere Bestimmung des Begriffs. Er bezeichnet dort eine Gruppe unter den Pisaner Teilnehmern der Balearen-Expedition, die ihre Zelte zwischen denen der Konsuln und denen der einfachen Truppen, in der Nähe des erzbischöflichen Zeltes aufgeschlagen hatte. 2 Auch hier wird man nicht schon an die entsprechende Bedeutung des Begriffs im 13. Jahrhundert denken dürfen. Mit ,nobilitas'/,nobiles' ist hier wohl die kommunale Führungsschicht gemeint, die zwischen den durch ihr Amt herausgehobenen Konsuln und dem einfachen Volk angesiedelt ist. 3 In der Inschrift ist es dann gerade der honor nobilitatis, sind es also die Angehörigen der städtischen Führungsschicht, die den Leser der Inschrift auffordern, die Stadt ihrer Verdienste entsprechend wertzuschätzen (V. 2). Die rechtliche Stellung der Porta Aurea auf dem den Cives zugesprochenen Uferstreifen und die Erwähnung der ,nobilitas' im Text der Inschrift machen mehr als wahrscheinlich, daß dieses Monument von der weltlichen Stadtgemeinschaft der Kommune in Auftrag gegeben wurde. Die Kommune hätte so an ihrem Stadttor die Erinnerung an die eigenen Leistungen während der Balearen-Expedition verewigen lassen. Zwar ist der Verfasser des Textes auch hier vermutlich wiederum ein Geistlicher. Auf die literarische Kompetenz der Kleriker konnte offensichtlich noch nicht verzichtet werden. Die Inschrift der Porta Aurea zeigt jedoch, daß es nicht nur Kleriker waren, die im frühkommunalen Pisa ein Interesse an der Vergangenheit der Stadt hatten. Auch die Pisaner Laien setzten ihre Geschichte im Stadtraum in Position.
1
PATETTA: APPUNTI, S . 1 0 2 8 , s o a u c h SCALIA: EPIGRAPHICA PISANA, S. 2 6 9 . Patetta v e r w e i s t a u f d i e
parallele Formulierung ,Pisanus meint. 2 3
honor' (Liber Maiorichinus,
V. 953), die auch schlicht
,Pisani'
Vgl. Liber Maiorichinus, Vv. 2090 ff. Vgl. auch die Ausführungen zu dieser Passage oben S. 115 f. Vgl. zum Begriff .nobilis' in den Pisaner Texten des Untersuchungszeitraums auch unten S. 303, Anm. 2.
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B. Das Rodulfus-Monument Die weiteren Untersuchungen werden zeigen, daß an keinem der nachweisbaren Erinnerungsorte im Pisaner Stadtraum nur ein einzelnes Monument vorhanden war. A n den jeweiligen Punkten im Stadtraum bildeten sich im Laufe der Zeit Komplexe einander ergänzender oder in Spannung zueinander stehender Monumente. A u c h an cler Porta Aurea befand sich nicht nur die besprochene Torinschrift. Wenngleich nicht im Original überliefert, so hat sich doch in der Literatur des 16. bis 18. Jahrhundert der Text einer weiteren Inschrift erhalten, die in unmittelbarer Nähe der Porta Aurea angebracht war. Bei dieser handelt es sich um eine Ehreninschrift für einen verdienten Konsul der Kommune: 1 „HOC OPUS EST FACTUM POST PARTUM VIRGINIS ACTUM ANNO MILLENO CENTENO BIS DUODENO TUNC IAM CURREBAT LUSTRUM QUO BELLA GEREBAT IANUA PISANIS NIMIS ARCHIPRESULE CLARIS CONSUL PISANUS QUIDAM PER SECULA CLARUS NOMINE RODULFUS, PROBITATIS NECTARE FULTUS SIC PLACUIT CUNCTO POPULO FAMULAMINE MULTO QUOD IUXTA SARNUM MERUIT ME SISTERE MAGNUM. 2 "
1. D i e Inschrift Wenngleich dies bei nur sekundär überlieferten Inschriften stets ein Problem darstellt, wird die Echtheit der Inschrift heute von niemandem mehr ernsthaft in Zweifel gezogen. 3 Gleichwohl soll hier kurz auf die Überlieferung eingegangen werden. Ältestes 1
Banti: Monumenta, Nr.14, S. 25. („Dieses Werk wurde im 1124. Jahr nach der Niederkunft der Jungfrau vollbracht, als die Genueser schon fünf Jahre lang Krieg gegen die wegen ihres Erzbischof überaus berühmten Pisaner führten. Ein Pisaner Konsul mit Namen Rodulfus, der mit dem Nektar der Redlichkeit gestärkt war und dessen Ruhm die Zeiten überdauern wird, hatte wegen seiner vielen Verdienste ein solches Wohlgefallen beim ganzen Volk gefunden, daß er es verdient, daß ich Großer hier am Arno stehe") Ergänzend sind die kritischen Editionen Giuseppe Scalias heranzuziehen, die dieser unter Berücksichtigung der erhaltenen Abschriften erstellte. Da Sealia im Laufe der Zeit immer mehr Textzeugen entdeckte, sind hierbei zwei Editionsstufen zu berücksichtigen. Berücksichtigung aller bis zu seinem Erscheinen bekannten Abschriften bietet der Abdruck bei SCALIA: CONSOLE, S. 2 9 (neben den schon in SCALIA: ROMANITAS, S . 8 2 5 berücksichtigten Texten noch eine Pisaner Handschrift des 18.Jahrhunderts). Ein Abdruck, der neben der von Scalia neuentdeckten ältesten Abschrift des 16. Jahrhunderts die jüngere Überlieferung nur noch teilweise verzeichnet, findet sich bei SCALIA: MINIMA RODULPHINA, S. 3 0 3 . Einen vollständigen Überblick über die einzelnen Zeugnisse bietet somit nur die Zusammenschau der beiden Editionen.
2
Zur Übersetzung des letzten Verses ausführlich unten S. 235 f. Vgl. aber noch kritisch TOLAINI: TOPOGRAPHIA, S. 14 ff. und zuletzt TOLAINI: GIGANTE, der sie in den Rahmen eines „particolare ambiente antiquario pisano [...], nel quale fiori una non trascurabile attivitä falsißcatoria, " einordnen wollte (TOLAINI: GIGANTE S. 14).
3
Der Komplex der Porta
Aurea
235
Zeugnis fur die Existenz der Inschrift ist eine Handschrift des Benediktiners Costantino Gaetani (1568-1650). 1 Dieser kopierte die Inschrift im Rahmen seiner Arbeiten zur Familiengeschichte der ursprünglich aus Pisa stammenden Gaetani. In dieser ältesten Handschrift hat man lange Zeit eine Fälschung aus dem ,Dunstkreis' Pisaner Lokalhistoriker sehen wollen. 2 Da Gaetani der Inschrift keine für seine Familie relevanten Informationen entnahm, ferner selber keine engeren Beziehungen zu Pisa hatte, wird man sich jedoch fragen müssen, welche Gründe es für eine Fälschung gegeben haben sollte. Für die Echtheit der später verlorengegangenen Inschrift spricht, daß in vielen der erhaltenen Abschriften Kürzungen kopiert wurden, die man offenbar nicht auflösen konnte. 3 Eine Fälschung des Inschriftentextes wäre so auszuschließen. Denkbar bliebe noch, daß jemand die Inschrift selbst, also nicht nur eine Abschrift, gefälscht hat, die dann von Gaetani und den übrigen Autoren abgeschrieben wurde. 4 Hierfür gibt es zwar Beispiele aus Pisa und anderen Städten Italiens, alle diese Fälschungen sind jedoch dadurch gekennzeichnet, daß sie entweder den Ruhm einer Familie erhöhen, indem sie deren Bedeutung in der Vergangenheit zu ,belegen' versuchen, oder aber die Stadtgeschichte aus welchen Gründen auch immer durch notwendige Ergänzungen' erweitern. 5 Die Inschrift für den verdienten Konsul Rodulfus läßt aber weder die eine noch die andere Möglichkeit zu. Kernpunkt der bisher mit der Inschrift verbundenen Forschungskontroverse ist die Frage, worauf sich die Formulierung ,hoc opus' (Z.l) bezieht. Zunächst ist aber kurz auf den Text der Inschrift einzugehen. a. Der Text Verhältnismäßig unproblematisch ist die in der Inschrift enthaltenen Datierung. Das opus wurde im Jahr 11246, nachdem Genua schon fünf Jahre lang Krieg gegen Pisa
1
V g l . z u r H a n d s c h r i f t u n d z u m W e r k G a e t a n i s S C A L I A : ΜΓΝΙΜΑ R O D U L P H I N A , S . 3 0 1 f f . u n d C E R E SA: C O S T A N T I N O G A E T A N I .
2 3
So vor allem E. Tolaini, vgl. das Zitat oben S.234, Anm. 3. Dies ist am deutlichsten bei Francesco Maria Frosini zu erkennen, der sogar die Form einiger Kürz u n g s z e i c h e n n a c h z e i c h n e t e ( v g l . SCALIA: ROMANITAS, S. 3 2 2 u n d T a v . V ) .
4
Vgl. zu den verschiedenen Abschriften die zitierten Editionen Scalias, oben S. 234, Anm. 1.
5
V g l . d i e v o n TOLAINI: TOPOGRAPHIA, S. 14 u n d ΤοίΑΓΝί: GIGANTE, S. 3 a n g e f ü h r t e F ä l s c h u n g d e r
Inschrift „ Anno domini MCLVU Chocchus condam Griphi primus consul Pisane civitatis". Erinnert sei auch an das äußerst kreative Treiben des Giovanni Annio in Viterbo (vgl. MIGLIO: GIOVANNI ANNIO; (Mach-)Werke Giovanni Annios bei Le Epigraß medievali di Viterbo, Nr. 61 und 62, S. 156 ff.). 6
V g l . z u r D a t i e r u n g a u s f ü h r l i c h SCALIA: ROMANITAS, S . 8 2 6 u n d SCALIA: CONSOLE, S . 3 0 . D i e -
für
Pisa - außergewöhnliche Datierung, nämlich im Nativitätsstil, wird von Scalia mit dem angesprochenen Rezipientenkreis erklärt. Die Inschrift habe sich eben auch an nicht-Pisaner gerichtet, die unter Umständen mit dem Pisaner Datierungsstil nicht vertraut waren (SCALIA: CONSOLE, S. 30).
236
Geschichte im Stadtraum - Die Stadt als
Erinnerungsraum
führte, vollendet.1 Unterschiedlich wird hingegen der zweite Teil der Inschrift interpretiert. Hauptfrage ist hier, in welchem Verhältnis der genannte Konsul Rodulfus zu dem erwähnten opus steht. Die wichtigsten Interpretationen der Inschrift stützen sich dabei auf zwei unterschiedliche Varianten des Textes. Während sich Scalia auf die auch oben abgedruckte Fassung des Textes stützt, bevorzugt Tolaini eine Transkription der Inschrift, wie sie bei Dal Borgo und Da Morona zu finden ist.2 Im Gegensatz zur Mehrzahl der Textzeugen transkribieren diese beiden den letzten Vers der Inschrift wie folgt:3 „QUOD IUXTA SARNUM FECIT ME SISTERE MAGNUM"
Die Übersetzung der Inschrift lautet entsprechend nach Tolaini:4 „II console di Pisa di chiara memoria per nome Rodolfo, specchio di probitä, col consenso di tutto il popolo e concorrendo gran moltitudine, volle ch'io fossi inalzato presso l'ampio Arno."
Entsprechend ist der Konsul Rodulfus nur der Auftraggeber des nicht näher bestimmten Opus. Anders interpretiert den Inschriftentext Scalia auf der Basis seiner Edition:5 „Un console pisano, illustre nei secoli, di nome Rodolfo, col sostegno della sua sublime rettitudine, si rese tanto gradito al popolo tutto per i molteplici servizi trubutati, da meritare che io. colla mia grande mole, mi trovi qui sulla sponda deU'Arno."
Der Unterschied tritt klar hervor. Nach Scalia nennen die letzten vier Verse der Inschrift nicht einfach nur den Auftraggeber eines nicht näher spezifizierten öffentlichen Bauwerks6, sondern das opus, das im letzten Vers als magnum qualifiziert wird,7 sei zu Ehren des verdienten Konsuls errichtet worden. Im Streit der beiden Autoren, der seinen Anlaß vor allem in der weiteren Interpretation des inschriftlichen Befundes durch Scalia hat, wird man sich an dieser Stelle für die Interpretation Scalias entscheiden können, da diese Lesart einerseits der Mehrheit der Textzeugen entspricht, vor allem aber, da Scalia gültige philologische Argumente für 1
2
3
4
Vgl. zur Interpretation der Angaben in Zeile 4 der Inschrift zum Krieg mit Genua SCALIA: ROMANITAS, S. 828 und detailliert zum Kontext der Auseinandersetzung um die Erhebung Pisas zum Erzbistum FISHER: PISAN CLERGY, S. 145-150. D A L BORGO: DISSERTAZIONI, I. 2 , S . 2 4 5 , A n m . 3 , D A MORRONA: PISA ILLUSTRATA, S . 4 8 7
(mit
Veränderungen in der zweiten Auflage, Pisa 1812, S. 494). Ich gebe hier nur die wichtigste Variante meruitjfecit an, in der Dal Borgo und Da Morona übereinstimmen. Vgl. die Edition bei SCALIA: CONSOLE, S . 29 Varianten Β (Dal Borgo) und Μ (Da Morona). TOLAINI: GIGANTE, S . 6 übernimmt hierbei die Übersetzung der Inschrift durch GRASSI: DESCRIZIONE, Parte Artistica, Bd. II, S. 94, Anm. 49.
5
V g l . SCALIA: ROMANITAS, S . 8 3 1 .
6
TOLAINI: GIGANTE, S. 7, Anm. 25 erwägt, die Inschrift stehe in Zusammenhang mit dem Bau einer neuen Arno-Brücke. Tolaini/Grassi beziehen magnum auf Sarnum. Dagegen argumentiert mit schlüssigen Argumenten
7
SCALIA: CONSOLE, S . 3 2 , A n m . 4 3 .
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237
seine Interpretation des Textes anfuhren kann. 1 Die Inschrift bezieht sich als auf ein zu Ehren eines verdienten Konsuls der Kommune aufgerichtetes Opus. Worum es sich bei diesem Opus handelte, wird noch beschäftigen. b. Die ursprünglichen Position der Inschrift Ein Teil der Autoren, die den Text der Inschrift überliefern, äußert sich auch zum ursprünglichen Anbringungszusammenhang der Inschrift. 2 Die älteste entsprechende Nachricht findet sich in einer handschriftlichen Sammlung Pisaner Inschriften des Fondo Alliata im Archivio di Stato in Pisa. Dort heißt es über die Inschrift: 3 „Ho inteso da piü persone di credito che questa sopraddetta inscrizione fosse situata nella base d'una statua, la quale fu guasta da' Fiorentini allorquando si resero padroni della cittä di Pisa." Die Inschrift habe sich dem anonymen Autor zufolge an der Basis einer Statue befunden, die von den Florentinern bei der Eroberung Pisas zerstört worden sei. 4 Vergleichbare Angaben finden sich 1768 auch bei Antonio Feiice Mattei: 5 „Olim videbatur in basi magnam statuam sustentante positam contra viam antiquitus Portae Aureae, tum Gigantis, deinde della Sapienza vocatam. Nunc exstat non procul ab eadem via in fronte domus nobilissimae Lanfranchiorum familiae." Mattei nennt neben der Anbringung an der Basis einer Statue auch den Ort, an dem diese aufgestellt war. Diese habe an einer Straße, die einst nach der Porta Aurea be'
2
Vgl. S C A L I A : R O M A N I T A S , S . 8 3 0 f. bzw. S C A L I A : C O N S O L E , S . 3 1 f. Scalia hat durchaus Recht, wenn er die Übersetzung Grassis, auf die sich Tolaini stützt (vgl. oben S. 236, Anm. 4) als „alquanto libera e approssimativa" bezeichnet ( S C A L I A : R O M A N I T A S , S . 8 3 1 ) . Wie immer der Originalbestand der Inschrift war, die jeweils andere Lesart muß eine Emendation der Autoren gewesen sein, da meruit und fecit im Schriftbild der Inschriften dieser Zeit sicherlich nicht zu verwechseln waren. Man bewegt sich hier also auf sehr unsicherem Terrain! Die im folgenden diskutierten Belegstellen aus den Pisaner Quellen sind alle der verdienstvollen Spurensuche Giuseppe Scalias zu verdanken, der sich seit seiner ersten Äußerung zum Thema 1972 ( S C A L I A : R O M A N I T A S ) immer wieder von neuem mit der Frage beschäftigte (vgl.vor allem S C A L I A : C O N S O L E u n d S C A L I A : M I N I M A RODULPHTNA).
3
4
ASP, Ms. Alliata Nr. 108, fol. 3r. Nach S C A L I A : R O M A N I T A S , S . 822 läßt sich als terminus ante quem für die Niederschrift das Jahr 1753 annehmen. Das folgende Zitat nach S C A L I A : R O M A N I T A S , S . 821 f. Es ist nicht klar zu erkennen, ob sich diese Aussage auf den Beginn der ersten oder aber der zweiten (und endgültigen) Florentiner Besetzung Pisas bezieht. Die nachweisliche oder auch vorgebliche Zerstörung von Dokumenten und Denkmälern der glorreichen Pisaner Vergangenheit durch die Florentiner ist ein Gemeinplatz der Pisaner Historiographie bis zum heutigen Tage. Vgl. dazu etwa R E D I : F I N E DEL SIMBOLO.
5
M A T T E I : ECCLESIAE P I S A N A E H I S T O R I A , T o m . I , S. 2 0 , Anm. 1. Zitiert nach S C A L I A : R O M A N I T A S , S. 820. ("Einst war sie an einem Sockel zu sehen, der eine große Statue trug, die an der Straße stand, die einst .Porta Aurea', dann ,del Gigante', dann ,della Sapienza' genannt wurde. Nun befindet sie sich nicht weit von dieser Straße , vor dem Haus der alleredelsten Familie der Lanfranchi.")
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nannt war, gestanden. Bei dieser Via della Sapienza handelt es sich um die schon im Zusammenhang mit der Porta Aurea erwähnte heutige Via Curtatone e Montanara.1 Die Statue hat somit in der Nähe der ehemaligen Porta Aurea gestanden.2 Ähnlich äußert sich im gleichen Jahr Flaminio Dal Borgo. Er schreibt über ein weiter unten noch beschäftigendes antikes Skulpturenfragment:3 „.. .un marmo, collocato nella facciata della Casa de' Sigg. Cavalieri Carlo, e Ranieri Lanfranchi Chiccoli, nel Lung'Arno di Pisa, presso alia Cantonata della Via che conduce alia Chiesa di S.Frediano, detto il Canto del Gigante ove anticamente era la Porta d'Oro. Quivi si legge la seguente Inscrizione postavi in congiuntura dell'inalzamento fatto in quelle vicinanze di un Colosso, il quale si finge che parli enunciando l'epoca del suo installamento nell'Anno 1124."
Dal Borgo präzisiert noch einmal den Aufstellungsort: Die Statue - und damit die Inschrift - befand sich am Ufer des Arno, an der Einmündung der heutigen Via Curtatone e Montanara in den Lungarno, dort, wo sich einst die Porta Aurea befand (vgl. Abb. 2). Bevor auf den sich daraus ergebenden Zusammenhang eingegangen werden kann, ist zunächst zu fragen, worum es sich bei dem in der Inschrift genannten Opus überhaupt handelte. 2. Das Opus Schon der erste der erwähnten ausführlicheren Hinweise auf die Inschrift bringt diese in Zusammenhang mit einer Statue.4 Flamino Dal Borgo stellt hingegen als erster einen Zusammenhang zwischen dieser Statue und dem Text der Inschrift her. Er identifiziert das Opus, das nach der oben angenommenen Interpretation des Textes in der ersten Person über die Umstände seiner Aufstellung spricht, mit der am Arno aufgestellten Statue. Ob es eine solche Statue am Arno-Ufer jemals gegeben hat, wird jedoch von vielen Seiten angezweifelt. Deren Existenz wird in den Bereich der Legende verwiesen, da diese vor der ersten Erwähnung in der Handschrift des Fondo Alliata in den Pisaner Quellen nicht nachweisbar sei.5 Diesem Argument wird man jedoch entgegnen können, daß sich auch andere, heute noch vorhandene Elemente der Pisaner Erinnerungskultur des Hochmittelalters in den schriftlichen Quellen erst sehr spät nachweisen lassen.6 1 2 3
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6
Oben S. 222. Vgl. zur Lokalisierung der Statue ausfuhrlicher SCALIA: ROMANITAS, S. 822 f. D A L BORGO: DISSERTAZIONI, I, 2 , S . 2 4 5 , Anm. 3 . Vgl. auch Angelo Fabroni (FABRONI: HISTORIAE, Vol.1, S . 6 8 ) und Alessandro Da Morrona ( D A M O R R O N A : PISA ILLUSTRATA, Tom.III, S . 4 8 7 , mit Veränderungen in der zweiten Auflage Pisa 1812, S. 494), die die Angaben wiederholen. Vgl. das Zitat oben S. 237. Alle Versuche Giuseppe Scalias, die Statue in älteren Quellen nachzuweisen, muß man als gescheitert betrachten. Man vergleiche den letzten Versuch bei SCALIA: CONSOLE und die in der Sache berechtigte Entgegnung Emilio Tolainis (TOLAINI: GIGANTE). Man denke etwa an den Greifen auf dem Dach des Doms, der erstmals Anfang des 17. Jahrhunderts bei Raffaele Roncioni erwähnt wird (RONCIONI: ISTORIE DI PISA, S . 1 1 4 ) .
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Auch spricht die auszuschließende direkte Abhängigkeit der oben zitierten Texte gegen die These einer gelehrten Erfindung. Man würde in diesem Falle erwarten, daß alle folgenden Autoren die kompletten Informationen der ältesten Erwähnung übernommen hätten, was jedoch eben nicht der Fall ist. 1 Auch hier müßte man sich die Frage stellen, wieso jemand die Existenz einer solchen Statue erfinden sollte. In Ermangelung anderer Hinweise auf eine mögliche Identifizierung des Opus kann man daher zunächst einmal der antiquarischen Tradition folgen. 2 a. Das Herkules-Fragment des Camposanto Es gibt jedoch einen weiteren Hinweis darauf, daß es tatsächlich eine Statue am ArnoUfer gab, auf die sich die Inschrift mit der Erwähnung des verdienten Konsuls Rodulfo bezog. Ranieri Grassi liefert anläßlich einer Übersetzung der Inschrift in seiner Descrizione storica e artistica di Pisa e de' suoi contorni von 1838 weitere Informationen zur Statue am Arnoufer: 3 „La testa colossale di questa statua trovasi oggi nel Camposanto urbano segnata di N.° 102, e precisamente sotto la pittura di Benozzo rappresentante Giuseppe riconosciuto dai fratelli." Ausführlicher ist ein Inventar des Camposanto aus dem Jahr 1833. Der erwähnte Kopf einer Herkules-Statue wird hier folgendermaßen charakterisiert: 4 „Testa d'Ercole, la di cui statua, nei tempi di repubblica, stava sul canto di San Frediano: ritrovata in una cantina da Santa Cristina, in casa del sig. Busoni. Dono Lasinio. Posa sopra antica ara, che giaceva sotto l'altare maggiore di Sant'Andrea, anche questa dono Lasinio." D e m von Carlo Lasinio zusammengestellten Inventar läßt sich entnehmen, daß der im Camposanto aufbewahrte Herkules-Kopf Teil einer Statue war, die in Zeiten der Republik - wie der Text sich ausdrückt - am Canto di San Frediano stand. Dieser wurde im Keller eines Hauses gefunden, das einem gewissen Signor Busoni gehörte. Von dort
1
2
Vgl. die oben zitierten Belege. T O L A I N I : G I G A N T E , S. 3 ff. sieht in der vermeintlichen Tatsache, daß jeder Autor die älteren Angaben komplett übernommen und durch weitere ergänzt hat, einen Beweis für seine Auffassung, es handle sich bei der Statue um eine Erfindung der Lokalhistoriker. Dessen Vergleich der Entstehung dieser angeblichen ,Legende' mit den ,matrioske russe' (ebd., S. 4) geht aber eben nicht auf. Der Versuch Scalias, aus dem Text der Inschrift abzuleiten, daß man das Opus mit einer Statue identifizieren m ü s s e , wird hier nicht geteilt (vgl. S C A L I A : R O M A N I T A S , S . 8 2 7 und S C A L I A : C O N S O LE, S. 44). Scalia beruft sich hier vor allem darauf, daß der Text der Inschrift in der ersten Person formuliert ist, wodurch die Fiktion erzielt wird, hier spräche das Opus selbst. Sicher stimmt es, daß diese Form des titulus loquens „a nessun opus si addice piü che a una statua" ( S C A L I A : R O M A N I T A S , S. 827). Doch lassen sich hierfür auch Gegenbeispiele anfuhren. So spricht in vielen Stadttorinschriften das Stadttor oder die Stadt selbst in der ersten Person von sich, vgl. etwa die Inschrift der Porta Sonsa in Viterbo (Le epigraß medievali di Viterbo, Nr. 4, S. 20 ff.).
3
G R A S S I : D E S C R I Z I O N E , S . 9 4 f. A n m . 4 9 .
4
Inventar des Camposanto von
1833,
zitiert nach
SCALIA: CONSOLE, S. 7 2 .
240
Geschichte im Stadtraum - Die Stadt als
Erinnerungsraum
kam es als Schenkung des Conservatore des Camposanto in die Sammlung.1 Dieser Busoni, in dessen Keller man den Kopf fand, wurde von Scalia identifiziert. Es handelt sich um den 1820 gestorbenen Arzt Iacopo Busoni,2 einem Nachkommen de s Pisaner Bildhauers Olivo Busoni (f 1725), dessen Sohn Bartolomeo als Maler und. Besitzer einer bemerkenswerten Kunstsammlung belegt ist.3 Die Vermutung Scalias, daß der Kopf über den Bildhauer oder den Kunstsammler Busoni in den Keller des H auses bei Santa Christina gelangte, ist plausibel. Der vermutliche Rest der Statue am Arno-Ufer könnte so in den Besitz der Familie Busoni gelangt sein, die aus Berufsgriinden ein Interesse an Bildwerken unterschiedlichster Art hatte. Nach dem Tod Iacopos und Bartolomeos gelangte dieser Kopf dann in den Keller des Wohnhauses der Familie, wo er vom Conservatore des Camposanto, Lasinio, entdeckt und für die entstehende Sammlung erworben wurde. Daß die Informationen über die ursprüngliche Herkunft des Kopfes, also die Verbindung mit der Statue am Arno-Ufer, in der Familie bewahrt wurde, und dann vom letzten Besitzer des Fragments, Iacopo Busoni, an Lasinio weitergegeben wurde, kann nur vermutet werden, ist jedoch nicht unwahrscheinlich.4 b. Eine Portraitstatue des Rodulfus? Dieser Kopf, den die Tradition als Fragment der mit der Inschrift verbundenen Statue ansieht, ist heute noch im Camposanto Pisas erhalten (Abb. 4-7). Er wird als Rest einer Herkules-Kolossalstatue angesehen, die man ins dritte Viertel des zweiten Jahrhunderts n.Chr. datiert hat. Die Statue wurde vermutlich vor ihrer Aufstellung überarbeitet.5 Die außergewöhnliche Form des Kopfes, die keine direkten Parallelen in der antiken Darstellung des Herkules findet,6 hat Giuseppe Scalia zu einer These geführt, die von vielen Seiten mit Recht zurückgewiesen wurde. Er glaubte, im Kopf des Camposanto den Rest einer Portraitstatue des verdienten Konsuls Rodulfo sehen zu können.7 Die antike Kolossalstatue sei „ampiamente rilavorato per accostarlo il piü possibile alle caratteristiche fisionomiche dt Rodolfo,"8 Gegen eine solche Vorstellung lassen sich jedoch mehrere Argumente anfuhren. Grundlegende Kritik bringt etwa Emilio Tolaini vor, der die Vorstellung, man habe einen verdienten Konsul mit einer Portraitstatue
'
V g l . z u d i e s e m SCALIA: CONSOLE, S. 7 2 .
2
Vgl. zu diesem und zum folgenden
3
V g l . SCALIA: CONSOLE, S . 7 3 .
4
Man könnte natürlich auch hier wieder von einer gelehrten Erfindung bzw. einem Überschuß an Phantasie und antiquarischer Energie ausgehen. Die Weite des Personenkreises, der in die vermeintliche Fälschung einbezogen gewesen sein müße, spricht jedoch gegen eine solche Vermutung. Vgl. die Untersuchungsergebnisse von L. Faedo in SETTIS: CAMPOSANTO, Scheda Nr. 84, S. 182185. Abbildungen des Kopfes finden sich bei SCALIA: ROMANITAS und SCALIA: CONSOLE. L. Faedo in SETTIS: CAMPOSANTO, Scheda Nr. 84, S. 183 Ausführliche Darstellung dieser These bei SCALIA: CONSOLE, S . 7 5 ff. und zusammenfassend ebd.,
5
6 7
S. 8 9 8
SCALIA: CONSOLE, S . 8 5 .
SCALIA: CONSOLE, S . 7 2
f.
Der Komplex der Porta
Aurea
241
nach antikem Vorbild geehrt, rundweg als anachronistisch zurückweist,1 da es hierfür seines Wissens keinerlei Parallelen in der mittelalterlichen Plastik gebe.2 Viel Gewicht wird man diesem Argument nicht beimessen können,3 doch lassen sich andere Argumente gegen eine solche Deutung der Statue anfuhren. Zunächst einmal muß man feststellen, daß es - läßt man einmal alle Argumente gegen die Auffassung Scalias beiseite - eigentlich nicht einen einzigen Grund gibt, eine Portrait-Ähnlichkeit der Statue anzunehmen. Scalia scheint in erster Linie von einer Formulierung der Inschrift auszugehen: ,Jioc opus est factum" heißt es in der Inschrift. Dies könne man nicht von einer antiken Spolie, also einem nicht wirklich zum Zeitpunkt der Anbringung g e m a c h t e n , sondern einem aufgefundenen oder erworbenen Opus sagen.4 Man wird dem Text der Inschrift jedoch keine Gewalt antun, wenn man dieses „factum" schlicht mit der Aufrichtung der Statue verbindet. Der Inschriftentext birgt jedoch ein Argument gegen Scalias Vorstellung von einer Portraitstatue, das bisher übersehen wurde. Daß in der Fiktion des Inschriftentextes das Opus selbst spricht, wird wohl niemand bezweifeln. Wenn sich hinter diesem Opus eine Darstellung des zu ehrenden Konsuls verbirgt, muß man sich jedoch fragen, wieso die Inschrift dann von diesem in der dritten Person spricht? In parallelen Fällen, etwa bei Grabinschriften, spricht aus der Inschrift stets die dargestellte Person.5 Auch die Tatsache, daß sich für die Form des Kopfes keine Parallele in erhaltenen antiken Kolossalstatuen findet, kann man hypothetisch mit Scalia auf eine Überarbeitung des Kopfes in nachantiker Zeit zurückfuhren, ohne gleich schließen zu müssen, daß durch diese Überarbeitung ein Portrait des Konsuls angefertigt werden sollte. Wahrscheinlicher ist doch, daß die möglicherweise beschädigte Skulptur einfach nur restauriert' wurde, wie dies auch in anderen Fällen der Verwendung antiker Spolien in Pisa nachzuweisen ist.6 1
T O L A INI: S T U D I DI T O P O G R A F I A , S . 1 9 u n d T O L A I N I : G I G A N T E , S . 5 .
2
TOLAINI: GIGANTE, S. 5 , s o a u c h L. F a e d o in SETTIS: CAMPOSANTO, S c h e d a N r . 8 4 , S. 1 8 4 .
3
Mit dieser Argumentation könnte man an der Echtheit aller in ihrer Zeit außergewöhnlichen kulturellen Phänomenen zweifeln, etwa auch an der der Inschriften der Domfassade, die ebenfalls keine direkten Parallelen in ihrer Zeit, geschweige denn direkte Vorläufer haben.
4
SCALIA: CONSOLE, S . 8 2 .
5
Vgl. etwa FAVREAU: EPIGRAPHIE, S. 45 f. und die von Scalia selbst angeführten Beispiele in SCALIA: CONSOLE, S. 44. Am Rande sei angemerkt, daß es möglicherweise noch ein weitere, bisher gar nicht in Erwägung gezogene Interpretationsmöglichkeit gibt. Für Pistoia ist die Anbringung einer Nachbildung des Kopfs des ,Musetto', der Legende nach König der Balearen während der Pisaner Expedition der Jahre 1113-1115, an einem der Stadttore belegt. Dieser Kopf wird als Trophäe mit dem Führer des Kontingentes aus Pistoia, Grandone de' Ghisilieri, in Verbindung gebracht (vgl. unten S. 249, Anm. 2). Ein vergleichbarer Zusammenhang wäre auch in Pisa denkbar: Der Kopf des Camposanto könnte durchaus in ähnlicher Weise als symbolische Trophäe, etwa als Kopf des Sarazenen-Herrschers, aufgefaßt worden sein. Statt einer Ehrenstatue hätte man so eine weitere Trophäe im Pisaner Stadtraum vor sich.
6
Man denke etwa an die sogenannte „Chinzica" an einem Haus der Via San Martino (Abb. 57). Diese Statue einer Toga-tragenden Frauengestalt, die aus dem überarbeiteten Fragment eines anti-
242
Geschichte im Stadtraum - Die Stadt als
Erinnerungsraum
c. Die Statue am Arnoufer Folgt man der Interpretation der Inschrift und der Verbindung, die die Tradition zwischen der Inschrift und einer am Arno aufgestellten Statue auf der einen Seite, sowie zwischen dieser Statue und dem im Camposanto aufbewahrten Fragment auf der anderen Seite herstellt, so ergibt sich folgendes Bild. Der Herkules-Kopf des Camposanto kann als Rest einer für einen verdienten Konsul der Kommune errichteten Ehrenstatue angesehen werden. Wo diese aufgestellt war und in welchem architektonischen Zusammenhang sie sich ursprünglich befunden hat, ist wegen fehlender archäologischer Befunde zwar nicht mehr zweifelsfrei zu klären, vieles deutet aber auf eine unmittelbare Nähe zur Porta Aurea hin.1 Es ist schließlich einigermaßen wahrscheinlich, daß die Statue an einer aufgemauerten Struktur, also etwa an der Mauer eines Wohnhauses oder gar des Tores selbst befestigt war und nicht frei auf einem Sockel am Ufer des Arno stand.2 Die Inschrift könnte entsprechend unter oder neben der Statue an der Wand angebracht worden sein.3 In Pisa wäre so im Jahr 1124 ein verstorbener Konsul von der Stadtgemeinde geehrt worden,4 indem man eine spätantike Herkules-Statue an einem der zentralen Zugänge zur Stadt, der Porta Aurea, anbrachte und in einer beigefügten Inschrift - wenn auch nur in allgemeinen Worten - auf die großen Verdienste des Konsuls hinwies und diesen mit der Statue in Verbindung brachte. Bevor abschließend ein möglicher Zusammenhang
ken Sarkophags besteht (Vgl. PARRA: REIMPIEGO, S. 468, die die Bearbeitung ins 11. Jahrhundert datiert). Da diese donna Chinzica oder Kinzica niemals existiert hat, ist bisher natürlich auch noch niemand auf die Idee gekommen, hier einen Portrait-Charakter suchen zu wollen. Vgl. zur Legende d e r Chinzica: 1
FRANCESCHINI: EROINE PISANE, S. 2 6 - 3 8 .
Vgl. die Diskussion der nicht ganz eindeutigen Aussagen zur ursprünglichen Position der Statue bei TOLAINI: STUDI DI TOPOGRAFIA, S . 1 6 f. M i t REDI: PORTA AUREA, S . 2 2 w i r d m a n v o n e i n e m A u f -
2
3
4
stellungsort in unmittelbarer Nähe zur Porta Aurea ausgehen können, was sich auch mit den unterschiedlichen Angaben der älteren Autoren in Deckung bringen läßt. Ob man die „estese tracce di malta sul retro della capigliatura" tatsächlich als Beleg dafür ansehen muß, daß die Statue ursprünglich an einer Mauer befestigt war, ist zu erwägen (Vgl. den Bericht über die Restaurierung des Kopfes von Fulvia Donati in: SETTIS: CAMPOSANTO, S. 302). Eine solche Interpretation lehnt Scalia ab, der in diesen Spuren eher Reste der mittelalterlichen Überarbeitung der Statue sieht. Eine Anbringung an der Wand entspräche aber durchaus eher dem Bild des mittelalterlichen Umgangs mit antiken Statuen und Statuenfragmenten (Vgl. TOLAINI: GIGANTE, S. 5). Eine solche Interpretation der Befunde auch bei L. Faedo in SETTIS: CAMPOSANTO, Scheda Nr. 84, S . 184. Die Vorstellung der Autoren des 18.Jahrhunderts, die Inschrift habe sich an der Basis der Statue befunden (vgl. oben), wird richtig von Tolaini zurückgewiesen. Dieser weist darauf hin, daß ein solcher Brauch der gängigen Praxis im Mittelalter widerspräche (TOLAINI: GIGANTE, S. 5 f.). Zumindest in diesem Fall wird man neben der auch hier geltenden Argumentation, wie sie für die Inschrift der Porta Aurea angestellt wurde, auf den Text der Inschrift zurückgreifen können, „sie placuit cunctopopolo..." (Z.7) heißt es hier, so daß man mit einiger Berechtigung annehmen kann, daß es tatsächlich die Stadtgemeinde bzw. deren Repräsentanten waren, die die Aufstellung von Statue und Inschrift veranlaßten.
Der Komplex
der Porta
243
Aurea
zwischen dem zu Ehrenden und der gewählten Form, eben der Herkules-Statue, thematisiert wird, ist auf Versuche einzugehen, den geehrten Konsul zu identifizieren. 3. Der Konsul Rodulfiis Leider ist der Inschriftentext in seiner Begründung für die Ehrung des verdienten Konsuls sehr vage. Dieser sei ,mit dem Nektar der Tüchtigkeit getränkt gewesen'' und habe sich durch seine vielen der Stadt geleisteten Verdienste ausgezeichnet (Vv. 6 f.). Worin diese Verdienste bestanden, wird nicht ausgeführt. Sicher ist nur, daß die so geehrte Person Konsul der Kommune war, Rodulfus hieß und mit großer Wahrscheinlichkeit zum Zeitpunkt der Inschriftensetzung schon verstorben war.1 Weitere Informationen zur Person könnten jedoch helfen, die Frage zu beantworten, wieso Inschrift und Statue gerade in der Nähe der Porta Aurea angebracht wurden, ob also ein Zusammenhang zwischen dem Tor als Ort der Erinnerung an die Siege auf den Balearen und den Verdiensten des Konsuls bestand. Einen erster Identifizierungsversuch unternahm Giuseppe Scalia. Er identifizierte den Rodulfus der Inschrift mit einer Person gleichen Namens, deren Epitaph heute im Camposanto der Stadt aufbewahrt wird:2 „ C O N S U L R O D U L F U S HIC IACET IN T U ( m ) B A , QUI COTIDIE A B O M N I B U S Q U A S I M A R E S O N A T , ET P(re)CLARISSIM U ( s ) N E P O S EIUS B O N I F A T I U S N O B I L I S S I M U ( s ) MIRABILIS A D O L E S C E N S , Q(ui) 3 MORT U U S E(st) IN N E A P O L I M T(er)TIA DIE A N T E PENTECOSTEN. A N N O D ( o m i ) N I C E I N C A R N A T ( i o n ) I S M.C. O C T A [vo] [...]"
Auch hier ist von einem Konsul Rodulfus die Rede, der sich unter seinen Mitbürgern großer Verehrung erfreute.4 Probleme bereitet jedoch die Datierung des Epitaphs, da unklar ist, ob die im Text erhaltene Jahreszahl ,millesimo centesimo octa[vo]'' aufzulöDies folgert SCALIA: ROMANITAS, S. 831 aus der Formulierung „Consul Pisanus
quidam " der Zeile
5 der Inschrift ( e b e n s o SCALIA: CONSOLE, S. 3 2 ) . 2
BANTI: MONUMENTA, Nr.5, S. 19 f. („Hier liegt der Konsul Rodulfus im Grab, dessen Andenken an j e d e m Tag so allgegenwärtig scheint w i e das Rauschen des Meeres, und auch sein ruhmreicher N e f f e Bonifatius, der alleredelste und wunderbarste Jüngling, der in Neapel am dritten Tag vor Pfingsten gestorben ist. Im eintausendeinhundert [achten/achtzehnten] Jahre der Fleischwerdung des Herrn.") Abbildung der Inschriftentafel bei PERONI: DUOMO, Atlante II, Abb. 1881. Zur Inschrift ausfuhrlicher unten S. 3 0 2 ff.
3
Die Auführungen in SCALIA: ROMANITAS gehen noch v o n einer anderen Lesart aus. Hier liest Scalia «mirabilis adolescensque. mortuus est [...] » (Vgl. SCALIA: ROMANITAS, S. 825. Die neue Lesart b e i SCALIA: CONSOLE, S . 3 3 .
4
Vgl. zur lyrisch anmutenden Formulierung „qui cotidie ROMANITAS, S . 8 3 2 .
ab omnibus
quasi
mare sonat"
SCALIA:
244
Geschichte im Stadtraum - Die Stadt als Erinnerungsraum
sen ist oder aber ,octa[vodecimo]\ ob also 1108 st. pis. oder 1118 st. pis. gemeint ist.1 Ebensowenig läßt sich deutlich erkennen, ob der genannte Bonifatius vor oder nach seinem Onkel verstarb, ob sich das Datum also auf den Tod des Neffen oder des Onkels bezieht. 2 Aufgrund der unsicheren Datierung kommt man einer Identifizierung des Konsuls so nicht näher. Wirklich erhellend wäre eine solche Identifizierung aber ohnehin nicht. Die einzige neue Information, die man so gewonnen hätte, bestünde darin, daß er einen Neffen namens Bonifatius hatte3 und entweder vor 1108 st. pis. oder 1118 st. pis. verstorben ist.4 Scalia verfolgt jedoch zusätzlich noch eine weitere Spur: Der Name Rodulfus/Rodolfus sei in der Pisaner Onomastik des ausgehenden 11. bzw. beginnenden 12. Jahrhunderts verhältnismäßig selten, so daß man nach einer Familie der älteren Pisaner Konsulararistokratie suchen könne, in der ein solcher Name vorkomme.5 Eine solche glaubt er in der Familie der Orlandi gefunden zu haben.6 Diese geht auf einen Spitzenahn Rodolfo (bzw. Rodolfmo) zurück, der seit 1056 in Pisaner Dokumenten auftaucht und Scalia zufolge vor 1102 gestorben ist.7 Eben in diesem Rodolfo/Rodolfino glaubt er den Konsul der beiden Inschriften gefunden zu haben.8 Die Daten Scalias sind jedoch in einem wichtigen Punkt zu korrigieren, da der von ihm mit dem Rodulfus der Inschrift identifizierte Rodolfus/Rodolfinus 1095 sicher schon verstorben war.9 Man
' 2
3
Vgl. den entsprechenden Kommentar bei BANTI: MONUMENTA, S. 19. Scalia glaubte zunächst davon ausgehen zu können, daß sich das Datum auf den Tod des Rodulfus bezieht, der vor seinem Neffen im Jahre 1 1 0 7 gestorben sei (vgl. SCALIA: ROMANITAS, S . 8 3 1 , Anm. 180). Hierdurch ergibt sich jedoch das Problem, daß sich zu dieser Zeit kein Konsul namens Rodulfo in den Pisaner Quellen nachweisen läßt, vgl. SCALIA: ROMANITAS, S . 8 4 1 . Diese Ansicht revidiert Scalia später, indem er das Datum auf den Tod des Neffen bezieht (SCALIA: CONSOLE, S. 3 4 , so auch BANTI: MONUMENTA, S . 1 9 ) . Rodulfus selber sei vor seinem Neffen gestorben (SCALIA: CONSOLE, S. 34), er sei gar zur Zeit der Inschriftensetzung schon seit langem verstorben gewesen (ebd., S. 34 f.). Belegen kann Scalia dies allerdings nicht. In der Pisaner Überlieferung der fraglichen Zeit findet sich jedoch keine Person dieses Namens, so daß auch diese Spur nicht weiterfuhrt. Vgl. SCALIA: ROMANITAS, S . 8 3 2 , Anm. 1 8 2 bzw. SCALIA: CONSOLE, S. 3 8 .
4
5
6 7
Scalia hat das Epitaph auf 1108 st. pis. datiert und dieses Datum zuletzt auf den Tod des Neffen Bonifatius bezogen. Vgl. unten S.244, Anm. 2. Als Konsul gehörte der gesuchte Rodulfus zu dieser Führungsschicht. Allzu selten ist der Name Rodulfus/Rodolfus jedoch nicht. Vgl. etwa das Namensregister bei CACPi, 3 und 4, wo 6 bzw. 5 Träger dieses Namens verzeichnet sind. Vgl. zur Rekonstruktion der Genealogie der Familie die Arbeit von ROSSELLINI: RICERCHE. Die Belege hat SCALIA: CONSOLE, S . 3 9 zusammengestellt. Es handelt sich um einen Rodolfus/Rodolfinus, Sohn eines Rodilando/Rolando.
8
SCALIA: CONSOLE, S . 3 9 .
9
Scalia hat hier offenbar eine Urkunde des Archivio Capitolare di Pisa übersehen. Er geht davon aus, daß einer der Söhne des Rodolfus/Rodolfinus ,Rolandus' hieß (vgl. CACPi 4, Nr.5 und 6, Pisa, 11. September 1102, S. 11 bzw. 13: ,Rollando ftlio quondam Rodulfl' und die entsprechende Zuweisung bei SCALIA: CONSOLE, S. 39). Aber schon in einer Urkunde vom Januar 1095 erscheint ein ,Rollandusßlius quondam Rodulfini' (vgl. CACPi 3, Nr. 60, Pisa, 29. Januar 1095, S. 141 und
Der Komplex der Porta Aurea
245
wird sich daher zunächst fragen müssen, wie wahrscheinlich es ist, daß einer vor 1095 verstorbenen Person 1108 st. pis. oder gar 1118 st. pis. ein Epitaph gesetzt wird - wie Scalia annimmt - oder gar, daß man ihn 1124 st. pis., also fast 30 Jahre nach seinem Tode, mit einer Inschrift und einer Statue ehrt. Die ganze Argumentation Scalias wird jedoch schließlich dadurch gänzlich in Frage gestellt, daß keine der von ihm als Belege angeführten Stellen diesen Rodolfus/Rodolfinus als Konsul bezeichnet. 1 Da dies die einzige sichere Qualifikation ist, die man der Inschrift (bzw. den beiden Inschriften) entnehmen kann, wird man diesen Identifizierungsversuch also fallen lassen müssen. 2 Es läßt sich aber noch eine weitere Spur verfolgen. Unter den vielen im Liber Maiorichinus erwähnten Angehörigen der Pisaner Konsulararistokratie taucht in der am Beginn des Textes stehenden Liste der die Expedition leitenden Konsuln auch ein ,Stephano genitus Rodulfus7 auf. 3 Dieser Rodolfus, Sohn des Stephanus, ist in wenigen Pisaner Dokumenten zu fassen, sicher ist jedoch, daß er Konsul der Kommune war. 4 Aufgrund des Patronyms ist er der Familie der Baldovinaschi zuzuordnen, die zur Konsulararistokratie Pisas gehörte. 5 Aus der dokumentarischen Überlieferung läßt sich schließen, daß dieser Rodulfo im Zusammenhang der Balearen-Expedition den Tod fand. 6 Zu vermuten ist, daß eben dieser Konsul Rodulfus, der zu den Führern der Pisaner Truppen auf den Balearen gehörte, mit der verlorenen Inschrift der Porta Aurea und der entsprechenden Statue ge-
1
2
142). Der fraglich Rodolfus/Rodolfinus ist also zu diesem Zeitpunkt schon tot. Als lebend taucht er innerhalb der von Scalia angeführten Belege zuletzt in einer Urkunde von 1076 auf (Placiti del Regnum Italie, III, Nr.436, Placitum Pisa, 15. März 1076, S. 332). Irgendwann zwischen diesen beiden Punkten scheint er verstorben zu sein. Dies bemerkt Scalia selbs, vgl. S C A L I A : ΜΓΝΙΜΑ R U D O L P H I N A , S. 3 0 0 , ohne jedoch seine These aufzugeben. Gegen eine solche Identifizierung spricht sich auch C . Violante in seiner Rezension zu S C A L I A : CONSOLE a u s (VIOLANTE: CONSOLE, S. 1 1 1 ) .
3
4
5
6
Liber Maiorichinus, V. 68. Dieser ist vermutlich identisch mit dem Konsul ,Radulfiis\ der im Allianz-Vertrag zwischen Pisa und dem Grafen von Barcelona vom 7. September 1114 st. pis. auftaucht (Vgl. Liber Maiorichinus Anhang I, S. 139). Für den Hinweis bin ich Herrn Prof. Mauro Ronzani (Pisa) zu Dank verpflichtet. Scalia konnte in diesem nicht die geehrte Person der Inschrift sehen, da er den Rodolfo der Inschrift an der Porta Aurea mit dem des Epitaphs im Camposanto in Verbindung brachte, der für ihn schon 1108 st. pis. verstorben war. Neben den oben S. 245, Anm. 3 genannten Belegen erscheint er zusammen mit seinen Brüdern noch in zwei Urkunden des Jahres 1104 st. pis.: Urkunden Pisa, 3. Februar 1104 (CACPi 4, Nr.21, S. 45 f.) und 13. Februar 1104 (CACPi 4, Nr.22, S. 47-49). Vgl. zur Familie mit weiteren Einzelheiten T I N E : D I S C E N D E N T I . Diese gehen auf einen Spitzenahn Stephanus zurück, der schon unter den sechs Socii war, die an der Befriedung Pisas durch Daibert mitwirkten. So T I N E : D I S C E N D E N T I , S. 38. Man muß sich jedoch fragen, wieso der Tod des Rodolfo, wenn er denn tatsächlich in Zusammenhang mit der Balearen-Expedition steht, nicht im Liber Maiorichinus erwähnt wurde. Dies steht in merkwürdigem Kontrast zur sonstigen Akribie des Dichters. Paßte ein solches Detail nicht in den triumphalen Ton der Dichtung?
246
Geschichte im Stadtraum — Die Stadt als
Erinnerungsraum
ehrt worden ist.1 Eine solche Identifizierung würde auch durch den Kontext der Porta Aurea gestützt werden, die ja vor allem durch die Torinschrift eng mit der erfolgreichen Balearen-Expedition verbunden war. Man hätte den so schon mit der Erinnerung an die Ereignisse verbundenen Ort von Seiten der Kommune genutzt, um das Gedächtnis des auf den Balearen gefallenen Konsuls zu bewahren und ihm postum eine besondere Ehre zu erweisen. 4. Rodulfus - Herkules Abschließend soll noch einmal auf die besondere Form der Ehrung des verdienten Konsuls eingegangen werden. Für seine Deutung des ,Opus' als Portrait-Statue des Rodulfus, führt Scalia an, daß die Aufstellung einer antiken Herkules/Herakles-Statue als Ehrung eines Konsuls der Kommune undenkbar sei.2 Gerade Scalia wird jedoch nicht müde, immer wieder die Romanitas Pisana herauszustreichen, das besondere Verhältnis der Pisaner zur Antike.3 Der Zusammenhang zwischen dem Konsul, der wegen seiner Tugenden besonders geehrt wird und der Aufstellung einer antiken Herkules-Statue ist jedoch gar nicht so abwegig, wie Scalia denkt. Schon Fabio Redi hat auf Interpretationsmöglichkeiten hingewiesen, die die Wahl einer Herkules-Kolossalstatue zu erklären vermögen. Geht seine Feststellung, eine Monumentalstatue sei als symbolischer „gigantesco difensore di uno degli accessi principali della cittä" geeignet, 4 noch nicht so sehr auf die spezifische Situation der Aufstellung ein, so führt seine Auffassung des Herkules als „imagine emblematica delle virtü di Rodolfo" in die richtige Richtung. Er denkt hierbei in erster Linie an konkrete 1
Eine Identifizierung der gleichen Person mit dem Konsul des Epitaphs aus dem Camposanto ließe sich hiermit zwar grundsätzlich vereinbaren, wenn man die hier enthaltene Datierung als 1118 st. pis. läse. Dagegen spricht jedoch, daß der Inschrift von S. Victor in Marseille zufolge die auf den Balearen gefallenen Pisaner eben dort und nicht in Pisa bestattet wurden (vgl. die entsprechende Inschrift bei BANTI: MONUMENTA, Nr. 8, S. 21). Hingegen heißt es im Epitaph, der Konsul liege in Pisa begraben (V. 1). Hat man ihn nachträglich hierhin überführt oder ist er am Ende gar erst in Pisa gestorben, vielleicht seinen Verletzungen erlegen? Hierauf könnte auch das Fehlen einer entsprechenden Todesnachricht im Liber hindeuten.
2
SCALIA: CONSOLE, S. 82: „E impensabile [...] che a Pisa nel 1124 si volesse rendere onore a un magistrato cittadino distintosi per i servizi resi alla patria, raffigurandolo in pubblico, sulla sponda del fiume, sotto le spoglie di un colosso eracleo, ossia nudo ο al piü coperto in parte da pelle leonina, e forse con clava in pugno." Scalia bedient sich hier letztlich der gleichen Argumentation, die schon Tolaini gegen die bloße Existenz einer Ehrenstatue anführte. Vgl. dazu ausführlich SCALIA: ROMANITAS und hier unten S. 399 ff. Scalia hat offenbar ein besonderes Problem mit der vermeintlichen Nacktheit des Herkules in der von der Pisaner verwendeten Darstellung (vgl. SCALIA: CONSOLE, S. 82). Es ist aber gar nicht mehr festzustellen, ob die Statue tatsächlich einen nackten Herkules darstellte, da ja eben nur der Kopf erhalten ist. Vgl. zu apotropäischen Elementen im ikonographisehen Programm von Stadttoren HÜLSEN-ESCH:
3
4
ROMANISCHE SKULPTUR, S . 1 0 8 . 5
REDI: PORTA AUREA, S. 23. Eine entsprechende Auffassung des Herkules als Verkörperung der Tapferkeit (Fortitudo) findet sich mehr als 100 Jahre später dann etwa an der Kanzel des Pisaner
Der Komplex der Porta
Aurea
247
Parallelen zwischen Elementen des Herkules-Mythos und den Leistungen des Konsuls, 1 hält aber auch eine Aufnahme der in der Antike mit der Figur des Herkules verbundenen allgemeinen Bedeutungen für möglich. 2 Unter anderem bringt er eine zu dieser Zeit vorgenommene Regulierung des nördlich der Stadt fließenden Auser-Flusses mit Rodulfus in Verbindung und zieht von hier Parallelen zur Umleitung des Alfeo durch Herkules im Rahmen der Reinigung des Augias-Stalles. So wie der mythische Held habe auch der verdiente Konsul Rodulfo den Lauf eines Flusses verändert. Hierbei entging Redi ein zusätzliches Detail, das seinen Interpretationsversuch zusätzlich stützen würde: Die Pisaner werden im Liber Maiorichinus an vielen Stellen als Alphei, der Arno hingegen als Alpheus bezeichnet. 4 Die Gleichsetzung des Pisaner Konsuls - wenn er denn tatsächlich an der Regulierung des Auser oder des Arno mitwirkte - mit Herkules könnte sich so auch auf die Gleichung Arno-Alpheus stützen. Eine solcher Vergleich ist keineswegs abwegig. So finden sich in den Pisaner Inschriften der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts ähnliche Vergleiche zwischen zeitgenössischen Pisanern und mythischen oder historischen Personen der Antike. Der erste Baumeister des Domes, Busketus, wird mit Odysseus und Daedalus verglichen, 5 ein Konsul Henricus in seinem Epitaph mit Cato, Hector, Cicero, Fabricius und Attilius Regulus. 6 Insbesondere der Vergleich zwischen Busketus und Daedalus, in dem das tertium comparationis in den herausragenden Fähigkeiten der beiden als Architekten besteht, entspräche exakt einer möglichen Gleichsetzung von Herkules und Rodulfus. Sicher untermauern läßt sich eine derart konkrete Bedeutung der Herkules-Statue jedoch nicht, da weder bekannt ist, ob der Konsul Rodulfus tatsächlich an Regulierungen von Arno oder Auser beteiligt war, noch ob die entsprechenden Details des HerkulesMythos zur Zeit der Aufrichtung der Statue in Pisa überhaupt bekannt waren. 7
Baptisteriums von Niccolo Pisano (vgl. die Abbildung in PERONI: DUOMO, Atlante fotografico II, Nr. 1182-1185, S. 562 f. bzw. Saggi e Schede, Schede Nr. 1184 ff., S. 503). Auf die entsprechende Darstellung geht von kunsthistorischer Seite etwa PANOFSKY: RENAISSANCEN, S. 77 ein. 1
REDI: PORTA A U R E A , S . 2 3
2
So etwa Herkules als Sieger oder Exemplum moralischer Stärke, vgl. REDI: PORTA AUREA, S. 24. Zu beachten ist jedoch, daß es keinerlei Belege fur eine Beteiligung des geehrten Konsuls an der Veränderung der Flußläufe in Pisa gibt. Vgl. den entsprechenden Eintrag im Index zum Liber Maiorichinus und die Ausführungen zu dieser Gleichsetzung oben S. 108 ff.
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5 6 7
Vgl. unten S. 321 ff. Vgl. unten S. 307 ff. Als Quellen für die Kenntis des Mythos kämen Hesiod und Ovid in Frage. Für keinen dieser Texte läßt sich jedoch mit Sicherheit eine Rezeption in Pisa um 1100 nachweisen. Die für das Mittelalter wichtigen Vermittler des Hercules-Mtyhos, Lactanz: Divinae Institutiones, 1,9, S. 156, Tertullian: Ad nationes, II, S, 605 und Fulgentius: Mythologiae II, 2, 673, S. 41 bzw. ders.: De aetatibus mundi et hominis, S. 129, enthalten hingegen alle keinen Hinweis auf die Augias-Episode. Auch die Versionen des Herkules-Mythos bei Boethius: De consolatione philosophiae IV, Metrum 7 und der Mythographus vaticanus III erwähnen die Episode nicht. Vgl. allgemein zur Rezeption der Hercules-Mythen im Mittelalter GERLACH: HERKULES, MALHERBE: HERAKLES, zu einem konkreten histo-
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Geschichte im Stadtraum - Die Stadt als
Erinnerangsraum
In jedem Fall wird man jedoch die Figur des Herkules als ein Beispiel besonderer Vorbildlichkeit auffassen können. 1 Eng verbunden ist diese Deutung des Herkules mit der auf Prodikos zurückgehenden Legende des ,Herkules am Scheideweg' zwischen weitabgewandter Tugendhaftigkeit und lasterhafter Weltverstrickung. 2 In dieser Bedeutung erscheint Herkules etwa in Ciceros De officiis? Herkules ist hier Exemplum für ein Leben für die Gemeinschaft unter Mißachtung des persönlichen Wohlergehens. So gedeutet wäre eine Herkules-Statue sicher eine angemessene Form der Ehrung fflr einen verdienten Magistrat der Kommune. 4 Die Aufstellung einer antiken Herkules-Statue als Ehrung für den verdienten Konsul ist also auch in mittelalterlichem Kontext durchaus denkbar, da sich hier ausreichend Anschlußmöglichkeiten an (auch christliche) Deutungen der Herkules-Figur anbieten. 5. Das Monument im mittelalterlichen Kontext Die Rekonstruktion des Monuments für Rodulfus ist mit vielen Fragezeichen versehen. Als Hypothese läßt sich formulieren, daß die Führung der Pisaner Kommune im Jahr 1124 für den während der Balearen-Expedition der Jahre 1113-1115 gefallenen Konsul Rodulfiis ein Denkmal am Ufer des Arno, in unmittelbarer Nähe zur Porta Aurea, errichtet hat. Dieses Denkmal bestand neben der sekundär überlieferten Inschrift vermutlich aus einer zu Ehren des Konsuls wiederaufgestellten antiken Herkules-Statue. Über den konkreten Anlaß für eine solche Ehrung läßt sich nur spekulieren - zumal diese, wenn die vorgenommene Identifizierung des Konsuls mit einem der Führer der Balearen-Expedition stimmt, 9 Jahre nach dessen Tod vorgenommen wurde. Eine solche Ehrung eines Laien, noch dazu eines Laien aus städtischem Kontext, findet in dieser
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rischen Kontext, doch auch von allgemeinem Interesse STAUBACH: HERKULES, besonders: S . 391 f. (mit weiterer Literatur). Vgl. aber auch die negative Bewertung des Herkules/Herakles bei den Kirchenväter, dazu MALHERBE: HERAKLES.
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Vgl. dazu ausführlich PANOFSKY: HERKULES, S. 42-52 und passim. Cicero: De officiis, III, 5, 2s: „Itemque magis est secundum naturam, pro omnibus gentibus, si fieri possit, conservandis aut iuvandis, maximos labores molestiasque suscipere imitantem Herculem ilium, quem hominum fama beneficiorum memor in concilio caelestium conlocavit quam vivere in solitudine non modo sine ullis molestiis sed etiam in maximis voluptatibus, abundantem omnibus copiis, ut excellas etiam pulchritudine et viribus." Auch hier scheitert eine genauere Interpretation aber wieder an der noch ungeklärten Frage nach der Rezeption der lateinischen Klassiker in Pisa. Vgl. dazu oben S.91 ff. Vgl. zur Interpretation der Herkules-Figur in der christlichen Kunst neben PANOFSKY: HERKULES auch ENGEMANN: HERAKLES. Die Tugendhaftigkeit allgemein kennzeichnet Herkules unter den Göttern auch nach Laktanz und Tertullian. Vgl. Lactanz: Divinae Institutiones I, 9, 1: „Hercules, qui ob virtutem clarissimus et quasi Africanus inter deos habetur, norme orbem terrae, quem peragrasse ac purgasse narratur, stupris adulteriis libidinibus inquinavit" und ähnlich Tertullian: Ad nationes II, 14. Beide weisen Herkules jedoch nur eine ,relative' Tugendhaftigkeit zu, die vor dem Hintergrund einer generellen Ablehnung und Diffamierung der antiken Göttergestalten durch die Patristik zu sehen ist.
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Zeit - da wird man den Kritikern einer solchen Deutung der Inschrift sicher folgen keine Parallele. Zumindest bisher ist aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts kein Fall bekannt, der sich mit dem Monument für Rodulfus vergleichen ließe. 1 Die Frage ist nun jedoch, wie man die Singularität des Phänomens deuten will, gibt es aus späterer Zeit doch durchaus Beispiele, die sich mit dem Rodulfus-Denkmal vergleichen lassen. 2 So wird man das Fehlen eines direkten Vergleiches natürlich keineswegs, wie dies geschehen ist, als Argument gegen die Echtheit der Inschrift oder des ganzen Monuments gelten lassen können. Wie schon gesagt, lassen sich für eine ganze Reihe von Phänomenen der Pisaner Erinnerungskultur keine Parallelen aus anderen Städten anfuhren. An deren Authentizität wird man darum aber natürlich nicht zweifeln wollen. Zudem würde sich eine solche Statuen-Setzung durchaus in das aus den anderen Zeugnissen bekannte kulturelle Klima in Pisa einfügen.
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Selbst Scalia, der sich viele Jahre mit diesem Monument beschäftigte, konnte keine überzeugenden Parallelen ausmachen. Für O Y - M A R R A : EHRENGRABMÄLER, S. 3 0 , entstehen Ehrenmonumente für Personen erst seit dem Ende des 12. Jahrhunderts. Den Fall des Rodulfus-Monuments kennt sie scheinbar nicht. Neben Formen monumentaler Grabmäler (vgl. den Überblick bei O Y - M A R R A : EHRENGRABMÄLER, S. 29 ff.) lassen sich seit dem Ende des 12. Jahrhunderts eine Reihe von Ehrungen durch Statuensetzungen nachweisen. Ende des 12. Jahrhunderts errichteten die Cremoneser an der Fassade des Doms eine Statue für ihren mythischen Stadthelden Giovanni Baldesio. Dieser hat der Sage nach durch einen Zweikampf mit einem Sohn Heinrichs III. die Stadt von einer jährlichen Tributzahlung an den Kaiser befreit (zur Statue und zum historischen Hintergrund DE FRANCOVICH: ANTELAMI, S . 3 5 ff. und Abb. 6 6 und zuletzt HÜLSEN-ESCH: ROMANISCHE SKULPTUR, S . 2 1 ff.). 1 2 3 3 wurde am Mailänder Kommunalpalast die Reiterstatue des Podestä Oldrado da Tresseno errichtet (hierzu neb e n DEFRANCOVICH: ANTELAMI, S. 4 3 9 f f . u n d A b b . 4 8 4 , HERKLOTZ: SEPULCRA, S . 2 1 3 u n d w i e -
derum HÜLSEN-ESCH: ROMANISCHE SKULPTUR, S . 2 4 ff.). Daß eine solche Ehrung am Beginn des 13. Jahrhunderts kein Einzelfall ist, zeigt auch ein Passus aus der Chronik Salimbenes von Parma. Dieser berichtet über ein Reiterstandbild, das sich der Podestä von Reggio, Nazaro Ghirardini aus Lucca, in den zwanziger Jahren des 13. Jahrhunderts über einem von ihm erneuerten Stadttor setzen ließ (Salimbene de Adam: Chronica, Bd.I, S. 9 8 , zur Stelle HERKLOTZ: SEPULCRA, S . 2 1 4 und HÜLSEN-ESCH: ROMANISCHE SKULPTUR, S . 2 6 ) . Ob die Reiterstatuen des 13. Jahrhunderts als Denkmäler für die jeweiligen Personen aufzufassen sind oder - wie HÜLSEN-ESCH: ROMANISCHE SKULPTUR, S. 26 vermutet - doch eher Rechtssymbole waren, bedürfte einer eingehenderen Studie. Vgl. zunächst zu den Reiterstatuen SEILER: REITERMONUMENTE. Seit der Mitte des 13. Jahrhunderts finden sich dann immer mehr bildliche Darstellungen städtischer Amtsträger oder Signori. Vgl. hierzu HERKLOTZ: SEPULCRA, S . 2 1 4 f. Einer eigenständigen Untersuchung bedürfte das monumentale Fresko des Pistoiaer Stadthelden Grandone de' Ghisilieri im Palazzo Comunale der Stadt, das inschriftlich ins Jahr 1202 datiert ist (allerdings in der heutigen Fassung Anfang des 14. Jahrhunderts entstanden ist). Dieser Grandone war der Legende nach Anfuhrer eines Truppenkontingents, das Pistoia zur Unterstützung der Pisaner gegen die Balearen ausgesandt hatte. Interessanterweise wird mit diesem Helden auch ein in zwei späteren Fassungen erhaltener Steinkopf (darunter eine Ausführung vom Anfang des 13. Jh.) in Verbindung gebracht, der den König der Balearen, Musetto, darstellen soll (eine ähnliche Verwechslung wie im Fall der Pisaner .Regina di Maiorica', vgl. unten S. 413 ff.). Einer dieser Köpfe war am Stadttor Pistoias angebracht. Zunächst hierzu GAI: MEMORIA STORICA, S. 3 9 5 f. und Fig. 3 0 - 3 2 sowie ausführlicher G A I : ASPETTI, S. 5 - 1 0 .
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Geschichte im Stadtraum - Die Stadt als
Erinnerungsraum
So könnte man in der besonderen Form der Ehrung des Rodulfiis einen Rückgriff auf das Formenrepertoire der Antike und ihrer Erinnerungskultur sehen, wie es für Pisa gerade in dieser Zeit häufig ist.1 Wissen über die besonderen Formen antiker Erinnerungskultur war im Hochmittelalter durchaus vorhanden. Dies zeigt aus der unmittelbaren Nachbarschaft Pisas der Prolog der Vita Anselms von Lucca aus dem letzten Jahrzehnt des 11. Jahrhunderts. Hier heißt es:2 „Romani veteres ingentia facta suorum Tempore celari non potuere pati. Ac primo vivas ex aere et marmore formas Ad stimulum laudis proposuere suis. Mox ubi iam titulos fora maxima non capiebant, Apcius et brevius littera cepit opus."
Auch Benzo von Alba (f 1089/90) bezog sich auf antik-römische Erinnerungspraxis3: 1 2
3
Ausführlich hierzu unten S. 399 ff. Rangerius: Vita Anselms von Lucca, S. 1155 („Die alten Römer konnten nicht hinnehmen, daß ihre außerordentlichen Taten mit der Zeit vergessen würden. Zuerst stellten sie für ihre Angehörigen naturgetreue Statuen aus Bronze und Marmor als Anreiz zur Verehrung auf. Bald, da schon die größten Plätze die Inschriften nicht mehr aufnehmen konnten, begann man dies mit passenderen und kürzeren Texten zu erreichen."). Zur Vita SEVERINO: VITA METRICA. Benzo von Alba: Ad Henricum I 17, S. 184 f. („In den Zeiten der Konsuln und Kaiser war es Brauch der römischen Soldaten, daß, wenn einer irgendwann eine tapfere oder glänzende Tat getan hatte, er vielfältig belohnt ein Standbild auf dem Forum verdient hatte, mochte er nun Krieger oder kunstvoller Redner vor dem Volk sein oder ein kluger Überbringer kaiserlicher Botschaften.") Die Übersetzung nach der Ed. SEYFFERT. An anderer Stelle überliefert er eine in diesem Zusammenhang ebenfalls interessante Anekdote (ebd. I 19, S. 186 f.): „Egles Samius, athleta mutus, multocies fortiter fecit et nichil retributionis accepit. Proinde tarnen non se abstinuit, sed iteratis vicibus inter hostes victor emicuit. Depositis armis, quibus poterat nutibus expetebat meritum trophei. Senatus quasi dissimulans responsum non dedit ei. Ille transfixus nimio dolore muciendo, gruniendo prorupit in verba: «Ο ingrati, in multis preliis mea dextera confortati, in multis periculis mea ope adiuti, cur invidetis laboribus militis muti ? Exagitatus denique inpacientia extremi doloris erupi in voces articulati sermonis. » Senatus itaque post plurimam beneficiorum largitionem iussit ex metallo fabricari aequm et ascensorem et collocari secus Africanum Scipionem." („Egles von Samos, ein Athlet und stumm, kämpfte oftmals tapfer, erhielt aber nie eine Belohnung. Daraufhielt er sich dennoch nicht zurück, sondern glänzte abermals als Sieger im Kampf gegen die Feinde. Dann aber, nachdem er die Waffen abgelegt, heischte er den Siegeslohn, so wie er konnte durch Gebärden. Der Senat tat, als verstünde er nicht und gab keine Antwort. Jener, durchbohrt von äußerstem Schmerz, brach gurgelnd und grunzend in die Worte aus: .Undankbare, in vielen Schlachten hat euch meine Rechte Kraft gegeben, in so viel Gefahren wurde euch geholfen durch meine Kraft, warum verweigert ihr die Anerkennung den Mühen eines Kämpfers, der stumm ist? Endlich bin ich, vom unerträglichen äußersten Schmerz getrieben, in Worte gegliederte Rede ausgebrochen.' Da verfügte dann der Senat vielfache Schenkungen und Wohltaten; danach ließ er Pferd und Reiter aus Erz machen und neben Scipio Africanus aufstellen" [=Übersetzung der Ed. SEYFFERT]).
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„Temporibus consulum sive imperatorum erat talis consuetudo militum Romanorum, ut, si quis aliquando fortiter seu festive aliquid fecisset, multiplici beneficio ditatus statuam in foro promeruisset, sive esset pugnator vel in populo rethoricus perorator aut etiam imperialium legationum non improvidus delator." Und selbst auf der anderen Seite der Alpen wußte schon der Biograph Konrads II., Wipo ( t nach 1046), von den entsprechenden Bräuchen im antiken Rom: 1 „Quam ob rem victoribus statuas et monumenta quam amplissima fecerunt antiqui eorumque acta inscribi debere censuerant, ut Ulis mortuis honor extaret ad perpetuam memoriam posteritatis [...]." Die wenigen Zeugnisse mögen genügen, um die vermutlich literarisch vermittelte Kenntnis entsprechender antiker Praktiken schon in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts zu belegen. 2 Wie die klassischen Anspielungen und Zitate in der Dichtung und den Texten der Inschriften, die noch zu betrachtende Verwendung antiker Spolien am D o m und in den anderen Pisaner Kirchenbauten des Hochmittelalters 3 oder die Verwendung antiker Sarkophage zur Bestattung sozial höherstehender Personen in den Grablegen am Dom, 4 kann man das Monument für Rodulfus als ein weiteres Beispiel für den großen Einfluß der Überreste antiker (römischer) Kultur in Pisa deuten. Das Denkmal an der Porta Aurea wäre so Ergebnis der Verbindung einer möglicherweise spezifisch kommunalen Wertschätzung des sich fur die Gemeinschaft einsetzenden
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Teilweise geht diese Anekdote auf die Memorabilia des Valerius Maximus zurück. Interessanterweise ist aber gerade die hier interessierende Ausschmückung mit der Setzung eines Reiterdenkmals am Ende des Berichts eine Zutat Benzos, die möglicherweise auf seine Kenntnis der mit der Reiterstatue des Marc Aurel verbundenen Legende (wie unten S. 251, Anm. 2) zurückgeht (vgl. den Kommentar Seyfferts: Benzo von Alba: AdHenricum, S. 187, Anm. 420). Wipo: Gesta Chuonradi imperatoris, S. 6. („Darum errichteten die Alten für ihre Sieger Statuen und möglichst prächtige Denkmäler und hielten es für erforderlich, darauf ihre Taten zu verzeichnen, um ihren Ruhm nach dem Tode zu ewigem Gedenken für die Nachwelt zu verzeichnen.") Übersetzung nach Trillmich (Bearb.): Wipo: Taten Kaiser Konrads II., S. 527. Weitere Belege für die Kenntnis antiker Erinnerungspraktiken aus dem 12. Jahrhundert, bei DIEFENBACH: BEOBACHTUNGEN, S. 7 1 f. Grundsätzlich zur Kenntnis des antiken monumentalen Personenkults im Mittelalter HERKLOTZ: SEPULCRA, S . 2 1 6 ff., HERKLOTZ: ANTIKE DENKMÄLER und O Y MARRA: EHRENGRABMÄLER, S. 2 9 ff. Herklotz verweist an anderer Stelle auf eine signifikante Fehlinterpretation des Reiterstandbildes des Marc Aurel in den Mirabilia urbis Romae. Das Monument wird hier mit einem mythischen jungen Krieger namens Marco identifiziert, der die Stadt von einem östlichen König befreit habe und als Belohnung von der Stadtgemeinschaft das entsprechende Reiterstandbild gesetzt bekommen habe (vgl. Codice topografico III, S. 9 2 ; hierzu auch HERKLOTZ: SEPULCRA, S . 2 1 7 ) . Offenbar hat man im Mittelalter in den erhaltenen Formen antiker Denkmalpraxis gerade den Zusammenhang zwischen dem Verdienst des Einzelnen und der Ehrung durch die Gemeinschaft gesehen (vgl. auch unten S.307). Für das Rom des 12. Jahrhunderts stellt auch Diefenbach fest, „dass man seit dem 12. Jahrhundert in Rom nicht nur die äußeren Formen antiker öffentlich-monumentaler Kommunikation rezipierte, sondern sich auch der kommunikativen Funktion antiker Reliefs und Inschriften bewußt war" (DIEFENBACH: BEOBACHTUNGEN, S. 71). Dazu ausführlich unten S. 386 ff. Zu diesen unten S. 292 ff.
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Geschichte im Stadtraum - Die Stadt als Erinnerungsraum
Einzelnen1 und der Nachahmung antik-römischer Formen der Erinnerungsstiftung in Pisa.
C. Ergebnisse Schon die Untersuchung des Erinnerungskomplexes der Porta Aurea konnte zeigen, daß die Vergangenheit der Stadt in Pisa auch im Stadtraum zur Darstellung gebracht wurde. Vor allem die Stadttorinschrift mit ihrem Bezug auf den Sieg der Pisaner über die Balearen macht deutlich, daß die städtische Vergangenheit eben nicht nur Gegenstand einer gelehrten Auseinandersetzung geistlicher Autoren war, sondern daß sie eine zentrale Stellung in der Selbstdarstellung der Stadtgemeinschaft einnahm. Hierbei ist vor allem festzuhalten, daß diese Form der Erinnerungsstiftung, wenn der Text der Inschrift auch ohne Zweifel von einem geistlichen Dichter verfaßt wurde, doch mit ziemlicher Sicherheit auf die junge Kommune bzw. deren Repräsentanten zurückging. Auch die Pisaner Laien beschäftigten sich offensichtlich mit ihrer Vergangenheit und instrumentalisierten sie in ihrem Sinne. Vor allem das rekonstruierte Monument für den Konsul Rodulfus zeigt dann, wie ausgeprägt in Pisa das Bewußtsein von der Wirkung öffentlicher Repräsentationen der Vergangenheit war. Die Analyse förderte zudem schon wichtige allgemeine Einsichten in die hochmittelalterliche Erinnerungspraxis im Stadtraum zutage. So konnte gezeigt werden, daß die Wahl der Porta Aurea als Ort inschriftlicher Repräsentation der städtischen Vergangenheit vor allem zwei Faktoren verpflichtet war. Als Knotenpunkt des Verkehrs zwischen Stadt und Umland boten sich Stadttore besonders für derartige Repräsentationen an, wobei hier die Porta Aurea als besonders herausgehobener Teil der Stadtbefestigung noch einen zusätzlichen ,Standortvorteü' bot. Daneben scheint aber auch die schon vor jeder inschriftlichen Ausgestaltung des Gebäudes vorhandene Beziehung zum erinnerten Ereignis eine Rolle gespielt zu haben. Vor jeder Errichtung eines Monuments war der Raum der Stadt schon mit Bedeutungen belegt, die vielfach auch auf Vergangenes verwiesen. Auf diese vorhandenen Bedeutungs- bzw. Erinnerungspotentiale scheint auch die bewußte Stiftung von Erinnerung Bezug genommen zu haben, so daß man in vielen Fällen davon sprechen könnte, daß hier durch die Monument-Setzung nicht eigentlich Erinnerung gestiftet wurde, sondern daß das (inschriftliche) Monument die ohnehin vorhandene Erinnerung, die sich mit dem Ort verband, nur in ein anderes Medium überführte bzw. in der Schrift fixierte. Der räumliche und möglicherweise auch semantische Zusammenhang zwischen Stadttor und Inschrift und dem Monument für Rodulfus kann als ein erster Beleg für das schon eingangs theoretisch formulierte gewertet werden: Erinnerungsorte sind oft als Erinnerungskomplexe anzusprechen, die aus mehreren, einander ergänzenden oder überlagernden Erinnerungszeichen bestehen. Sollte die Identifizierung des Konsuls mit 1
Vgl. unten S. 301 ff.
Der Komplex der Porta Aurea
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einem der Anführer der Balearen-Expedition zutreffen, so läge hier eine Kumulation verschiedener Erinnerungszeichen vor (Tor, Torinschrift, Rodulfus-Monument), die alle in den Zusammenhang des Siegs der Pisaner über Mallorca und Ibiza eingebunden wären. Vorweggreifend kann für Pisa festgestellt werden, daß eine solche Häufung thematisch zusammenhängender Erinnerungszeichen eher die Regel als die Ausnahme ist. Dies wird vor allem am Beispiel des Domplatzes zu vertiefen sein.
III. San Sisto Die Suche nach Resten der hochmittelalterlichen Erinnerungskultur im Stadtraum ist fast immer auch eine Begegnung mit der lebendigen Erinnerungskultur der Gegenwart. Bei der Rekonstruktion einer historischen Erinnerungskultur trifft man stets auf Spuren von Erinnerungspraktiken, die zeitlich zwischen dem historischen Gegenstand - hier der frühkommunalen Erinnerungskultur - und der eigenen Gegenwart liegen. So wäre das Wissen um die Porta Aurea und ihre Bedeutung für die Pisaner Erinnerungskultur des Hochmittelalters möglicherweise vollständig verloren, hätte man die Stadttorinschrift nicht im 18. Jahrhundert in die Fassade der Kirche S. Maria dei Galletti integriert. Doch nicht immer hat man es hierbei mit ungebrochenen Traditionen zu tun. Der im folgenden zu untersuchende Erinnerungsort zeigt, daß man, nachdem sich eine bestimmte Erinnerung schon lange verloren oder doch zumindest verflüchtigt hat, wieder an dessen einstige Bedeutung anknüpfen kann. So begeht man in Pisa seit einigen Jahren wieder in San Sisto den Tag des Heiligen als eines städtischen Gedenktages, hierbei an die im folgenden zu untersuchenden hochmittelalterlichen Traditionen anknüpfend.1
A. Der Heilige und die Pisaner Geschichte Der Festtag des heiligen Papstes und Märtyrers Sixtus II. (t 258),2 der 6. August,3 wird in der frühen Pisaner Geschichtsschreibung mit einer ganzen Reihe wichtiger Ereignisse der Stadtgeschichte in Verbindung gebracht. 1005 st. pis. siegten die Pisaner am SixtusTag über die Sarazenen bei Reggio/Messina,4 1087 fand an eben diesem Tag die Eroberung al-Mahdlyas statt,5 1119 folgte am selben Tag der Pisaner Sieg in einer Seeschlacht über Genua bei Portovenere.6 Wegen der schon im 11. Jahrhundert errungenen Siege scheint man in Pisa den Tag des heiligen Sixtus in besonders vorteilhafter Weise mit dem Schicksal der Stadt verbunden gesehen zu haben. So heißt es schon im Carmen in victoriam Pisanorum über den Festtag:7 1
2
V g l . BANTI / VIOLANTE: MOMENTI.
Zum Heiligen allgemein H E I D : S I X T U S II. (mit weiterer Literatur). 3 Vgl. für Pisa S A I N A T I : D I A R I O S A C R O , S . 261. 4 Chronicon Pisanum ad Ann. 1006, S. 100, Annales Antiquissimi ad Ann. 1006. 5 Chronicon Pisanum ad Ann. 1088, S. 101, Annales Antiquissimi ad Ann. 1088, Carmen in victoriam Pisanorum, V. 89 f. 6 G esta triumphalia, S. 96. 7 Carmen, Vv. 89 f. („Dies war das alte und vornehme Fest des heiligen Sixtus, an dem stets die vom Himmel geschenkten Siege der Pisaner errungen werden.") Aufgrund dieser Formulierung könnte man vermuten, daß noch mehr Siege an diesem Tag errungen wurden, die jedoch nicht durch die Pisaner Quellen überliefert wurden. Am Fest des Heiligen, so heißt es hier, erringen die Pisaner
San Sisto
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„Hoc fuit antiquum festum Sancti Sisti nobile, quo sunt semper Pisanorum de celo victorie." Das Auslaufen der Flotte gegen die Balearen 1113 wurde dann möglicherweise ganz bewußt auf diesen in der Vergangenheit so ruhmvollen Tag gelegt: 1 „Iamque dies aderat sancti celeberrima Sixti, In qua Pisani de Penis marte subactis Annales recolunt votiva laude triumpho." Hier zeigt sich auch, daß man den Tag des heiligen Sixtus offenbar vor allem mit den Siegen über die Poeni, die Sarazenen, verband, daß der Tag des Heiligen also ein Tag des Triumphs über die Ungläubigen war. Interessant ist, daß keiner der Pisaner Texte den Heiligen selbst mit den Siegen in Verbindung bringt. Es ist dessen Festtag, der einen für die Pisaner Unternehmungen besonders günstigen Zeitpunkt darstellt. 2 Nach dem Seesieg über Genua (1119) hört man dann erst im 13. Jahrhundert wieder vom Festtag des Heiligen. Diesmal markiert er jedoch eine der dunkelsten Stunden der Pisaner Geschichte. A m 6. August des Jahres 1284 wurde eine Pisaner Flotte bei der Insel Meloria, unmittelbar gegenüber Portopisano, von Genua vernichtend geschlagen. 3 Sollte der Heilige jemals eine dem Stadtpatron ähnliche Stellung in Pisa oder bei Teilen der Pisaner Stadtbevölkerung gehabt haben, 4 dann ist diese Stellung spätestens jetzt
stets (semper) Siege über ihre Feinde. Zum Zeitpunkt der Entstehung des Textes, im letzten Jahrzehnt des 11. Jahrhunderts, macht die Formulierung ,semper' natürlich zunächst wenig Sinn, da die Pisaner Geschichtsschreibung vor dem Sieg über al-Mahdlya, um den es im Carmen geht, nur einen einzigen weiteren Sieg am Tag des Heiligen erwähnt, den bei Reggio/Messina. Sinn macht diese Formulierung nur, wenn man annimmt, daß es noch weitere mit diesem Datum verbundene Ereignisse gegeben hat, die die Quellen nicht überliefert haben. So zuerst SCALIA: C A R M E PISANO, S . 7, Anm. 20. Vgl. hingegen FISHER: PISAN C L E R G Y , S. 187, der genau aus dieser Formulierung eine spätere Datierung des Carmen ableitet. Möglich ist, daß auch die Expedition gegen Palermo 1065 st. pis. am 6. August stattfand. Im Chronicon Pisanum, ad Ann. 1065, S. 101, heißt es „MLXV. Pisani profecti fiierunt Panormum, gratia Dei vicerunt illos in die S. Agapiti." Ein heiliger Agapitus erscheint jedoch zweimal im Kalender der Pisaner Kirche: Einmal alleine am 18. August, ein weiteres Mal eben zusammen mit Sixtus und Felicissimus am 6. August: ,^iugusti [...] VIII. Idus. Xisti, Felicissimi et Agapiti et Transflguratio Domini." (Antico Calendario della Chiesa Pisana. Herausgegeben auf der Basis zweier Kaiendarien des 12. Jahrhunderts aus dem Pisaner Dom von SAINATI: DIARIO S A C R O , hier S . 261). 1
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Uber Maiorichinus, Vv. 160-163. („Schon war der hoch gefeierte Tag des heiligen Sixtus gekommen, zu dem die Pisaner Annalen mit geschuldetem Lob die Triumphe über die im Kampf bezwungenen Sarazenen ins Gedächtnis rufen.") Zu den sich hier zeigenden Zeitvorstellungen schon oben S. 174 ff. Vgl. hierzu zunächst den Tagungsband G E N O V A , PISA Ε IL M E D I T E R R A N E O . Vgl. zum Stadtpatron in den italienischen Städten die klassische Studie P E Y E R : STADT UND STADTPATRON. Jetzt GOLINELLI: C I T T Ä (mit Bibliographie) sowie GOLINELLI: AGIOGRAFIA, zuletzt als Forschungsüberblick C O L E M A N : ITALIAN COMMUNES, S. 3 9 3 f.
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erschüttert worden.1 Dennoch findet sich kurze Zeit später noch einmal eine rühmende Erwähnung des Heiligen. Im Breve von 1287 werden Bestimmungen getroffen über das ,,[•••] [festum] eiusdem ecclesie, quo comune Pisanum adeptum estpluries victoriam et triumphum. "2 Drei Jahre nach der mit dem Tag des Heiligen verbundenen vernichtenden Niederlage gedachte man so doch immer noch der hier errungenen großen Siege. Ob der Heilige jemals Patron der Stadt oder vielleicht auch nur einzelner Gruppen der Stadtbevölkerung war, kann man den Quellen nicht entnehmen. Anders als die Gottesmutter Maria, die als ständige und damit überzeitliche Beschützerin der Stadt erscheint, ist der Name des heiligen Sixtus in Pisa durch die in den Quellen akzentuierte Verbindung von Heiligentag und Schlachtensieg jedoch von Beginn an mit der Geschichte der Stadt verbunden. Da am 6. August eine ganze Reihe für die Geschichte der Stadtgemeinschaft wichtiger Ereignissen stattfanden, wird der Kult des Heiligen bzw. die liturgische Begehung des Festtages auch zu einem Gedächtnis stiftenden und erhaltenden Fest.3 Als die privilegierte Beziehung der Pisaner zum Heiligen bzw. zu dessen Festtag durch die schwere Niederlage des Jahres 1284 gestört und letztlich entwertet war, scheint sich die Bedeutung des Heiligentages auf diese Gedächtnis-Funktion reduziert zu haben, wie sie dann noch in dem zitierten Passus des Breve von 1287 ausgedrückt ist.
B. Die ecclesia sancti Xisti Am Tag des heiligen Sixtus des Jahre 1087 stürmten Pisaner Truppen siegreich die nordafrikanische Stadt al-Mahdlya. Der entsprechende Bericht des Carmen in victoriam Pisanorum bietet für die Untersuchung der Pisaner Erinnerungskultur wiederum ein interessantes Detail:4
Er wird im Laufe des 13. Jahrhundert endgültig durch San Ranieri abgelöst, der neben Maria als traditioneller Schutzherrin Pisas zum Patron der Stadt wurde. Der Märtyrer-Papst Sixtus, der als Schlachtenhelfer die Frühzeit der Kommune begleitete, wäre so durch den karitativ wirkenden Zeitgenossen der Pisaner Kommune Rainerius (+1160) abgelöst worden. Vgl. zu diesem Benincasa: Vita Sancti Rainieri Confessoris und GREGOIRE: DUOMO. Es wäre zu überlegen, ob dieser Wechsel von Sixtus zu Ranieri mit Veränderungen der sozialen und politischen Verhältnisse der Stadt zusammenhing. Sixtus könnte man als Heiligen ansehen, der besonders von der Konsulararistokratie der frühen Kommune verehrt wurde. Die Durchsetzung des Ranieri-Kultes stünde dann möglicherweise mit der Zurückdrängung dieser älteren Führungsschicht in Verbindung. Vgl. allgemein zu den ,neuen' kommunalen Stadtpatronen FRUGONI: CITY. 2
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GHIGNOLI: BREVI, S. 289. („Fest dieser Kirche, an dem die Pisaner Kommune viele Siege und Triumphe errungen hat.") Der komplette Kontext des Zitats unten S. 260. Zur Begehung des Festes unten S. 260 ff. Carmen, Vv. 277 ff. („Ruhmvoll kehrten sie zurück, bewundernswert wegen ihrer Tapferkeit und zu loben wegen ihres Ruhms, solange diese Welt besteht. Dem heiligen Sixtus weihten sie eine äußerst schöne Kirche und sandten Gaben den Heiligen auf dem ganzen Erdenrund.")
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San Sisto „Sunt reversi gloriosi virtute mirabili et quo durat iste mundus honore laudabili. Sancto Sisto consecrarunt perpulchram ecclesiam et per orbem universum sanctis mandant premia."
Aus Anlaß des Sieges am Tag des Heiligen stiften die Pisaner diesem eine perpulchra ecclesia. Eine solche Votivstiftung als Anerkennung für die durch einen Heiligen gewährte Gunst ist zunächst nichts ungewöhnliches. Bemerkenswert ist jedoch, daß diese Stiftung vom Kollektiv der Pisaner Cives ausging. Die Pisaner Kirche San Sisto stellt so den ältesten Fall einer Kirchenstiftung durch eine städtische Gemeinschaft dar.1 Diese Stiftung ist einerseits für die hier allerdings nicht weiter zu verfolgende Verdichtung der Stadtgemeinschaft in der Kommune von Bedeutung. 2 Sie ist jedoch auch ein interessantes Phänomen der Pisaner Erinnerungskultur. Schon durch den Anlaß der Stiftung, den Sieg über al-Mahdlya, verbindet sich mit dem Kirchenbau die Erinnerung an den Sieg der Pisaner über die Sarazenen. Was man grundsätzlich für jede Votivstiftung formulieren kann, daß der materielle Gegenstand der Stiftung als Erinnerungszeichen auf den Anlaß der Stiftung verweist, gilt in besonderer Weise für San Sisto. In der Kirchenstiftung ergänzen sich die Bedeutung des Heiligen als Element der Erinnerungskultur und der konkrete Zusammenhang zwischen Ereignis und Votivstiftung. Selbst wenn die Kirche nicht aus Anlaß des Sieges über al-Mahdlya und von der Beute dieses Kriegszuges errichtet worden wäre: Daß sie dem heiligen Sixtus geweiht ist, macht sie an sich schon zu einem Anknüpfungspunkt des Erinnerns der Stadtgemeinschaft. Entsprechend erwähnt der zitierte Passus des Breve von 1287, der die Privilegien der Kirche aufführt, auch gar nicht den Anlaß der Stiftung, sondern nur diese allgemeine Bedeutung des Heiligen bzw. seines Festtages. 1. Der Kirchenbau Für die aktuelle Fragestellung sind auch die Umstände des Kirchenbaus und dessen Nutzung durch die Kommune von Interesse. Erster Beleg des Kirchenbaus ist eine Urkunde aus dem Jahr 1094, die ein Haus ,prope ecclesiam sancti SistV nennt. 3 1110 wurde in der Kirche ein Vertrag zwischen den Herren von Ripafratta, dem Bischof und den
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RONZANI: CHIESA DEL COMUNE, S. 507. Gleichzeitig stifteten auch die an der Aktion beteiligten Genuesen dem Heiligen Sixtus eine Kirche (ebd.). Die Pisaner Cives treten bei dieser Stiftung als Stadtgemeinde, also als juristische Person in Erscheinung. Die juristische Sanktion eines solchen gesamtstädtischen Patronats liefert möglicherweise nicht zufallig etwa hundert Jahre später der Pisaner Dekretist Huguccio (vgl. LANDAU: Ius PATRONATUS, S . 4 3 f . ) .
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Urkunde Pisa, 25. August 1094, CASPi 2, Nr. 72, S. 128-130, Zitat S. 129. Allgemein zur Bauges c h i c h t e RONZANI: CHIESA DEL COMUNE, S . 5 0 7 ff., GARZELLA: TEMPIO DI S A N SISTO, GARZELLA: P I S A C O M ' E R A , S . 1 0 6 ff, REDI: P I S A C O M ' E R A , S . 3 1 7
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Geschichte im Stadtraum — Die Stadt als Erinnerungsraum
Konsuln der Kommune abgeschlossen.1 Der Bedeutung des Anlasses angemessen muß der Bau der Kirche zu diesem Zeitpunkt schon abgeschlossen oder zumindest weit fortgeschritten gewesen sein.2 Geweiht wurde der Bau offenbar jedoch erst 1132.3 Der heute noch existierende Bau folgt einem dreischiffigen basilikalen Grundriß.4 Beachtenswert ist vor allem die durchgängige Verwendung antiker Spolien fur die Säulen und Kapitelle des Mittelschiffs (Abb. 8). Diese auch in anderen Pisaner Kirchen nachzuweisende Spolien-Verwendung bindet den Bau in die noch weiter beschäftigende Antiken-Rezeption in Pisa ein. 5 Das ansonsten eher schlichte Äußere der Kirche (Abb. 9) ist durch eine Reihe eingebauter Keramik-Becken aus nordafrikanischer Produktion dekoriert (Abb. 10),6 wobei durchaus denkbar ist, daß es sich bei diesen um Beutestücke der Expedition gegen al-MahdTya handelt. In jedem Falle ist eine solche Dekoration geeignet, die Erinnerung an die Kämpfe in Nordafrika, mit denen der Kirchenbau verbunden war, ins Gedächtnis zu rufen.7 Der Kirchenbau San Sistos vereint somit in sich die beiden Elemente, die die frühkommunale Erinnerungskultur Pisas bestimmen: Formaler Rückgriff auf die Antike auf der einen Seite, Erinnerung an die eigenen Verdienste um die Bekämpfung der Sarazenen auf der anderen Seite. 2. Der Standort des Baus Aufschlußreich ist auch die Wahl des Standortes der Kirche. Wie schon im Fall der Porta Aurea kann man auch hier erkennen, daß für die Errichtung des Monuments - als das man die Kirche unter der Perspektive der Erinnerungskultur bezeichnen muß - eine besonders exponierte Stelle in der Stadt gewählt wurde. San Sisto war mitten in der hochmittelalterlichen Stadt, zudem noch an einem Kreuzungspunkt wichtiger innerstädtischer Verkehrsachsen gelegen, der späteren Piazza delle sette vie, heute Piazza dei Cavalieri (vgl. Karte 1). Hinzu kommt aber - ebenfalls wie im Fall der Porta Aurea noch ein schon vorher bestehender Symbolgehalt des Ortes. Der Bau wurde an einem
1
Urkunden Pisa, 21.November 1110, RCPi Nr. 235-238, S. 143 ff. Vgl. zum Ereignis
ROSSETTI:
CETI DIRIGENTI, S . X X X I I I , CECCARELLI LEMUT / GARZELLA: PIETRO, S . 8 9 . 2
REDI: PISA COM'ERA, S . 3 1 8 .
3
SAINATI: DIARIO SACRO, S. 1 2 5 . So auch GARZELLA: TEMPIO, S. 8 . Die räumlichen Proportionen der Kirche hat Fabio Redi als 'klassisch inspiriert' („di un respiro spaziale piü classico") gekennzeichnet: REDI: PISA COM'ERA, S. 318. Vgl. zur Verwendung antiker Spolien in Pisaner Bauten der Zeit ausführlich unten S. 386 ff. Eine in Pisa durchaus verbreitete Technik. Zu den Becken an San Sisto REDI: PISA COM'ERA, S. 318. Vgl. allgemein zu den 'Bacini' KLUGE-PINSKER: IMPORT, ABULAFIA: Β ACINI, A R T E ISLAMI-
4
5 6
CA. 7
Vgl. zum grundsätzlichen Problem des Pisaner Umgangs mit Trophäen und Spolien unten S. 372 ff. Gegen eine solche Interpretation spricht allerdings, daß Bacini an vielen Kirchen angebracht wurden, die eigentlich in keinem erkennbaren Zusammenhang mit den Kämpfen gegen die Sarazenen standen.
259
San Sisto
,corte vecchia' benannten Ort in der Stadt errichtet. 1 Diese Bezeichnung, die erstmals 1027 nachweisbar ist,2 verweist auf ein zur Zeit der Entstehung des Toponyms nicht mehr genutztes politisch-administratives Zentrum der Stadt. Seit langobardischer Zeit befand sich an dieser Stelle vermutlich der Sitz des Gastalden. 3 Dieser wurde nach der Einsetzung eines Grafen in Pisa - nachweisbar seit der Mitte des 10. Jahrhunderts 4 von diesem weiterverwendet. 5 Nach der Absetzung der Pisaner Grafen im Laufe der Auseinandersetzungen zwischen Heinrich II. und Arduin von Ivrea verlor der Hof schließlich seine Funktion, die von der neuen curtis des Visconte übernommen wurde. 6 Zur Unterscheidung von diesem neuen Hof bezeichnete man den Ort der ehemaligen gräflichen curtis nun als ,cortevecchia '.7 An dieser Stelle, die schon durch die Ortsbezeichnung mit der ehemaligen lokalen Autonomie unter einem eigenen Grafen verbunden blieb, errichteten die Pisaner nun nach dem Sieg über al-Mahdlya eine Votivkirche zu Ehren des heiligen Sixtus. Es liegt nahe, zwischen der Wahl des Ortes und dessen ehemaliger Funktion als Sitz des Gastalten und später des Grafen einen Zusammenhang zu sehen. Die Errichtung einer Votivkirche durch die sich konstituierende Kommune könnte man so als symbolische Besetzung des mit der lokalen Autonomie verbundenen ehemaligen Grafensitzes auffassen. Die Bedeutung Cortevecchias, aber auch San Sistos selbst wird dann auch durch die spätere Ansiedlung des politischen Zentrums der Kommune an eben dieser Stelle bekräftigt. 8 3. Institutionelle Einbindung der Stiftung Die Kirche blieb auch institutionell eng mit der entstehenden Kommune verbunden. So war die Kommune von Beginn an im Besitz des Patronatsrechtes über San Sisto und setzte entsprechend auch den Prior des an der Kirche angesiedelten Kanonikerstifts ein. 9
Die Lokalisierung der Kirche erwähnt explizit auch das Chronicon Pisanum ad Ann. 1088, S. 101 f. Möglicherweise kann man hierin einen Beleg für die Bedeutung der Ortswahl sehen. 2
GARZELLA: PISA COM'ERA, S . 5 9 , GARZELLA: TEMPIO, S . 3 .
3
GARZELLA: TEMPIO, S. 4 . V g l . d a z u a u c h CONTI: DUCATO.
4
Erste E r w ä h n u n g 9 4 9 . V g l . RONZANI: ΝΟΖΙΟΝΕ DELLA TUSCIA, S. 5 5 . D i e E i n s e t z u n g e i g e n e r Gra-
fen in Pisa ist im Zusammenhang mit Versuchen zu sehen, die Macht der Markgrafen in der Toscana einzuschränken. Nach der Absetzung der Grafen amtierten in Pisa wieder die Visconti als direkte Vertreter der Markgrafen in der Stadt. Zu den Hintergründen der Einsetzung eines Grafen in P i s a R O S S E T T I : S O C I E T Ä Ε ISTITUZIONI, S . 2 3 2 - 2 4 1 . 5 6
GARZELLA: TEMPIO, S . 4 , GARZELLA: PISA COM'ERA, S . 5 9 f. GARZELLA: TEMPIO, S . 5 . Z u r A b s e t z u n g
der Grafen:
R O S S E T T I : SOCIETÄ Ε ISTITUZIONI, S . 3 1 1 f .
V g l . z u m S i t z d e s V i s c o n t e in der Stadt GARZELLA: PISA COM'ERA, S. 107. 7
8
Vgl. aber die abweichende Interpretation Schneiders, der in der curtis vetus die in Urkunden zwischen 1063 und 1076 erwähnte Kaiserpfalz sah (SCHNEIDER: REICHSVERWALTUNG, S. 237). Vgl. zur Entwicklung des politischen und administrativen Zentrums der Kommune REDI: PISA COM'ERA, S .
9
315-346
R O N Z A N I : C H I E S A DEL C O M U N E , S . 5 0 8 .
260
Geschichte im Stadtraum - Die Stadt als Erinnerungsraum
Aufgrund der Quellenlage können für die Frühzeit zwar nur wenige konkrete Aussagen über das Verhältnis zwischen Kommune und Stiftung gemacht werden. Patronat der Kommune und symbolische Bedeutung der Kirche für die Stadtgemeinschaft sind aber sicher als Gründe dafür anzusehen, daß das Gebäude schon sehr früh eine genuin zivile Funktion übernimmt. Es wird Ort der Versammlung kommunaler Gremien und feierlicher Vertragsschlüsse. Erwähnt wurde schon die Übertragung von Herrschaftsrechten durch die Herren von Ripafratta an Erzbischof und Konsuln, die 1110 in San Sisto stattfand. 1 Auch Versammlungen der Konsuln fanden in Ermanglung eines eigens für diesen Zweck bestimmten Gebäudes teilweise in San Sisto statt.2 Besser unterrichtet ist man für die spätere Zeit. Im Breve von 1287 finden sich ausdrückliche Vorschriften, wie oft die verschiedenen Ratsorgane ihre Sitzungen in San Sisto abhalten müssen. So heißt es dort etwa: 3 „Iuramus nos capitanei quod in quolibet antianatu una vice faciemus coadunari in ecclesia sancti Xisti consilium minus et maius."
Entsprechende Sitzungen der städtischen Magistrate in San Sisto sind bis ins 14. Jahrhundert belegt.4 Man wird vermuten können, daß die Vorschriften des Breve von 1287 eine lange geübte Praxis festschrieben, die aufgrund fehlender Quellen fur die frühe Zeit jedoch nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden kann. Die wenigen greifbaren Zeugnisse zeigen aber, daß die Kommune nicht nur rechtlich die Verfügungsgewalt über ihre Stiftung innehatte, sondern den Bau auch als Versammlungsort ihrer Gremien nutzte. 4. Das Fest des Heiligen Wahrscheinlich wurde der Festtag des Heiligen schon in frühkommunaler Zeit von der Stadt in besonderer Weise begangen. Leider machen auch hier die überlieferten Quellen für die Frühzeit keine Angaben. Informiert ist man wiederum über die Vorschriften zum Fest aus dem 13. Jahrhundert. So heißt es im schon zitierten Breve von 1287:5 1
2
3
Die enstprechenden Urkunden bei RCPi Nr. 235-238 (21.November 1110). Vgl. zur Bedeutung des Übertritts der Herren von Ripafratta in den Pisaner Einflußbereich ROSSETTI: CETI DIRIGENTI, S. XXXIII. C A S I N I : M A G I S T R A T U R E DELIBERANTI, S . 95. Ein eigenes Gebäude für die kommunalen Amtsträger wurde in Pisa erst 1160 errichtet. Weitere Versammlungsorte der Konsuln waren angemietete Privathäuser oder andere Kirchen. Vgl. R E D I : P I S A C O M ' E R A , S. 315. G H I G N O L I : B R E V I , S. 549. („Wir, die Capitane, schwören, daß wir in jedem Amtsjahr der Anziani in der Kirche des heiligen Sixtus jeweils einmal den kleinen und den großen Rat zusammentreten lassen.")
4
G A R Z E L L A : TEMPIO, S . 1 2 .
5
GHIGNOLI: B R E V I , S. 2 8 9 f. („Über die Privilegien von San Sisto: [...] Am Festtag seiner Kirche, an dem die Pisaner Kommune viele Siege und Triumphe errungen hat, [sind zu zahlen:] eine Kerze von 12 Pfund Wachs und zum Läuten der Glocken 20 Solidi. Und am Vorabend des genannten Festes werden wir ausrufen bzw. verkünden lassen durch den Herold bzw. die Herolde der Pisaner
San Sisto
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„De privilegiis sancti X I S T I : [...] In festo eiusdem ecclesie, quo comune Pisanum adeptum est pluries victoriam et triumphum, candelum unum cere librarum duodecim et pro pulsando campanam soldos viginti. [...] Et in vigilia predicte festivitatis faciemus preconigari seu banniri per preconem seu precones Pisani comunis [...] per civitatem Pisanam denuntiando veniam seu remissionem que in eadem ecclesia esse dicitur ut consuetum est ad petitionem prioris ipsius ecclesie. Et quod dictum festum ab omnibus celebretur et quod apothece non aperiantur." A m Tag des Heiligen stiftet die Kommune für die Ausrichtung des Festes eine Wachskerze von 12 Pfund und Geld für das Läuten der Glocke. A m Abend vor dem Fest wird dieses öffentlich ausgerufen und ein mit der Kirche verbundener Ablaß verkündet. Schließlich schreibt das Breve vor, daß der Festtag von allen Bewohnern der Stadt zu begehen sei, worin auch das Verbot der Öffnung von Verkaufsräume eingeschlossen war. Alle diese Bestimmungen, in denen sich die besondere Achtung oder gar Dankbarkeit zeigt, die die Pisaner dem Heiligen entgegenbrachten, werden mit den an dessen Festtag errungenen Siegen begründet. 1 Wohlgemerkt handelt es sich bei den Bestimmungen des Breve von 1287 um Vorschriften, die nach der großen Niederlage der Pisaner bei Meloria am San Sisto-Tag 1284 Gültigkeit hatten. Man wird daher davon ausgehen können, daß eine ähnlich festliche (möglicherweise noch aufwendigere) Begehung des Festes auch unmittelbar nach den errungenen Siegen, also in frühkommunaler Zeit üblich war. Ob sich zu Beginn der kommunalen Phase der Stadtentwicklung schon ein möglicherweise an San Sisto orientierter städtischer Kultus entwickelt hatte, wie er bei der Ausgestaltung des Marien-Festes im 13. Jahrhundert zu beobachten ist, kann jedoch nicht belegt werden. 2
C. Ergebnisse Schon in der Pisaner Geschichtsschreibung wird an vielen Stellen der enge Zusammenhang zwischen den Siegen der Pisaner über die Sarazenen und dem heiligen Sixtus und
1
2
Kommune in der ganzen Stadt Pisa, [...] daß eine Sündenvergebung und ein Ablaß erteilt wird, der in dieser Kirche, wie es Brauch ist, auf Bitten der Priors dieser Kirche gewährt wird. Und daß das genannte Fest von allen begangen werde und daß die Läden nicht geöffnet werden sollen.") Das Breve enthält weitere Bestimmungen zu Festtagen anderer Pisaner Heiliger. Allen voran steht natürlich das seit dem 13. Jahrhundert besonders feierlich begangene Fest der Himmelfahrt Marias ( G H I G N O L I : BREVI, S. 247 f.). In der weiteren Abstufung folgt San Ranieri, dessen Festtag feierlich begangen werden solle, „ut ipse protegere dignetur et difendere civitatem Pisanam et homines civitatis Pisane tarn in terra quam in mart (ebd., S. 285). Nach Ranieri und Maria steht an dritter Stelle das Fest des heiligen Sixtus. Von den Festen der Heiligen Georg, Torpes und Ephysius und Potitus heißt es nur noch, daß deren Festtage ausgerufen werden sollen (ebd., S. 285, Anm. B). An Mariae Himmelfahrt waren alle Einwohner Pisas, aber auch die von Pisa abhängigen Gebiete verpflichtet, Wachskerzen in einer Prozession zum Pisaner Dom zu tragen. Vgl zur Ausgestaltung dieses Festes wiederum des entsprechenden Passus des Breve von 1287 ( G H I G N O L I : BREVI, S. 247 f.), schließlich die älteren Arbeiten von V I G O : A S S U N T A und V I G O : FESTA.
262
Geschichte im Stadtraum - Die Stadt als
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seinem Festtag ausgedrückt. Erst recht wird man der Votivstiftung von San Sisto im Rahmen der Pisaner Erinnerungslandschaft einen zentralen Platz zuweisen, ist die Kirchenstiftung doch Ergebnis einer der größten und erfolgreichsten Expeditionen, die die Pisaner im 11. Jahrhundert gegen die Sarazenen unternahmen. Eng auf die Bedeutung der Kirche ist auch die Wahl des Standortes bezogen. Der mit der Erinnerung an die Pisaner Grafen verbundene Bereich der Cortevecchia wurde sicher nicht zufallig gewählt, um hier den symbolischen Konzentrationspunkt der sich verdichtenden Stadtgemeinschaft zu errichten. Die Nutzung der Kirche als Versammlungsraum und die spätere Ansiedlung der kommunalen Verwaltungsgebäude in unmittelbarer Nähe, zeigt schließlich, wie eng dieser Erinnerungsort in das Leben der Stadtgemeinschaft eingebunden war. Wie schon im Falle der Porta Aurea kann man auch hier beobachten, daß die Wahl des Standortes der Monumente im frühkommunalen Pisa vor allem durch zwei Faktoren bestimmt war. Da Monumente immer auch Medien der Kommunikation waren, wurden sie dort aufgestellt oder errichtet, wo ihnen eine möglichst breite Wirkung sicher sein würde, also an besonders exponierten Punkten des städtischen Verkehrsnetzes. Lag die Porta Aurea an einem privilegierten Punkt des Übergangs bzw. des Eingangs in die Stadt, so wurde San Sisto im geographischen Zentrum der Stadt, zudem noch an einem Kreuzungspunkt wichtiger innerstädtischer Straßen errichtet. Daneben scheint aber auch die schon vorhandene Bedeutung des Ortes bei der Wahl des Standortes eine Rolle gespielt zu haben. Die Erinnerung an die Siege der gemeinschaftlich handelnden Stadtgemeinschaft wurde gerade dem Ort anvertraut, der als Sitz des Grafen für einige Zeit Zentrum eines eigenständigen Pisaner Comitats war.1
1
Erst nach Abschluß des Manuskriptes der vorliegenden Arbeit konnte ein Beitrag zur Kenntnis genommen werden, der die besondere Rolle der Kirche San Sisto innerhalb der Pisaner Erinnerungslandschaft unterstreicht. Bei der Restaurierung der Kirche vor dem 2. Weltkrieg wurde eine arabische Inschrift gefunden, die offenbar einst in oder an der Kirche angebracht war. Diese hielt man lange Zeit für eine Inschrift des 14. Jahrhunderts. Ergebnis einer eingehenden Untersuchung durch Jose Barrai ist nun, daß diese das Epitaph des 'Abdallah ibn Aglab al-Murtadä ist, der zwischen 1076 und 1092 unabhängiger Emir der Balearen war (BARRAL: LAUDA DEL EMIR, S. 119 ff.). Mit Barral wird man vermuten dürfen, daß dieses als Trophäe von den Siegern über die Balearen nach Pisa mitgeführt und an San Sisto angebracht worden ist. Vgl. zur Trophäen-Praxis in Pisa ausführlich unten, S. 372 ff.
IV. Der Komplex des Domplatzes Wie kaum ein anderes Bauwerk spiegelt die städtische Kathedrale die Geschichte Pisas. Lange bevor die Torre pendente, der ,schiefe Turm', zum Emblem der Arnostadt wurde, bildete der Dom das Zentrum des städtischen Selbstbewußtseins, war Identifikationspunkt der Bewohner und Projektionsfläche ihrer Vorstellungen von der Rolle ihrer Heimatstadt in der Geschichte.1 Entsprechend kommt dem Dom auch eine zentrale Position in der städtischen Erinnerungslandschaft zu. Die architektonische Gestalt des Doms, seine Mauern, die am und im Gebäude überlieferten Artefakte sind Zeugnisse der fast tausendjährigen Geschichte des Baus. Alle Generationen der Stadt haben sich in der einen oder anderen Weise in seinen Bau, seine Gestaltung und Erhaltung eingeschaltet. Vor jeder Form bewußter Erinnerungsstiftung ist der Dom so schon mit Spuren der städtischen Geschichte überzogen, von Stadtgeschichte durchsättigt. Mehr als alle anderen Bereich der städtischen Topographie war der Dom und der ihn umgebende Platz aber von Beginn an auch ein privilegierter Ort planvoller Erinnerungsstiftungen. Der Dom ist so nicht nur mit Spuren der Stadtgeschichte überzogen, sondern hier finden sich auch unzählige Monumente, von den Bewohnern der Stadt errichtet oder angebracht, um die Erinnerung an Vergangenes, an Ereignisse oder Personen zu bewahren. In erster Linie sind hier die historiographischen Inschriften der Domfassade zu nennen. Als in Stein gemeißelte Geschichtsdichtungen bewahren diese die Erinnerung an die Kämpfe der Pisaner mit den Sarazenen im 11. Jahrhundert. Doch die Außenmauern des Doms waren im 11. und 12. Jahrhundert auch eine Art Ehrenfriedhof der Stadt2: Unzählige, mehr oder weniger ausführliche Inschriften erinnern an Persönlichkeiten der Stadtgeschichte, an Fürstinnen und Konsuln, aber auch an Baumeister, Künstler, prominente Kriegsgefangene der Kommune, sowie heute nicht mehr zu identifizierende Stadtbewohner, von denen im Laufe der Geschichte nur noch ihr in die Mauern des Domes eingemeißelter Name übrigblieb. Neben den Inschriften finden sich hier auch Spolien unterschiedlicher Art, die als Zitate auf die ferne oder jüngere Vergangenheit verweisen.3 Neben Spolien antiker Bauwerke, wie sie in großer Zahl in hochmittelalterliche Bauwerke integriert wurden und wie sie auch dem Pisaner Dom sein besonderes Gepräge geben, ist hier an Trophäen der Pisaner Kriegszüge zu denken, an Beutestücke, die durch ihre Form auf den arabischen
Vgl. etwa die mittlerweile schon klassische Einschätzung von W. Braunfels: „Der Dom war Stadthaus, Ort und Sinnbild der Politik, Spiegel ihres Wesens, eine juristische Person, mit der sich die Stadt identifizierte, und bald verschmolz in der Vorstellung Maria, Dom und Stadt zu einem einzigen, unlösbaren Begriff' (BRAUNFELS: STADTBAUKUNST, S. 142). 2 3
Vgl. allerdings zur Kritik an einer allzu konkreten Auffassung von 'Ehrenfriedhof unten S. 314 ff. Auf den Zitat-Charakter von Spolien (und umgekehrt) verweist SETTIS: CONTINUITA, S. 384: „Ogni citazione e uno spoglio, e ogni spoglio e una citazione."
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Geschichte im Stadtraum - Die Stadt als
Erinnerungsraum
Kulturbereich verweisen und so die Erinnerung an die Kämpfe der Pisaner mit den Sarazenen in Erinnerung hielten und halten.1
A. Der Dombau zwischen Bischof, Kanonikern und Cives Mehr noch als dies schon fur die Inschriften der Porta Aurea galt, müssen die in die Mauern des Doms eingeschriebenen Zeugnisse der städtischen Vergangenheit im Zusammenhang mit der Geschichte dieses Bauwerks und seiner Stellung im Stadtraum gesehen werden. Bevor anhand der Ergebnisse stadttopographischer Forschungen die Einbindung des Doms in die städtische Kommunikationssituation bestimmt wird, soll hier zunächst die Geschichte des Dombaus zwischen Bischof, Kanonikern und Cives2 umrissen werden. Die Bestimmung der rechtlichen Situation des Doms ist für die Frage nach den Auftraggebern der Ausgestaltung des Doms mit inschriftlichen und sonstigen Monumenten grundlegend.3 1. Frühgeschichte des Doms Für die Frühgeschichte des Pisaner Domes liegen nur wenige sichere Daten vor.4 Bis in die Mitte des 12. Jahrhunderts gibt es keine Quellen, die sich direkt auf die Bautätigkeit am Dom beziehen. Während man sich für die Baugeschichte auf Befunde der erhaltenen architektonischen Strukturen stützen muß,5 sind die den Bau betreffenden rechtlichen und politischen Verhältnisse über die Analyse der mit dem Dombau in Zusammenhang stehenden urkundlichen Überlieferung zu erschließen. Zuvor seien jedoch kurz einige Etappen erwähnt, die eine erste Orientierung ermöglichen.
2
3 4 5
Im ursprünglichen Sinne umfaßt der Spolienbegriff auch oder gerade solche Trophäen. Heute bezeichnet der Bergiff ,Spolie' aber vor allem „ihrer ursprünglichen Verwendung entnommene antike Stücke" ( E S C H : SPOLIEN, S . 3 ) . Vgl. auch die Definition bei JÄGGI: SPOLIEN, Sp.2129C: „Spolien (von lat. spolia, 'in der Schlacht erbeutete Waffen, Beutestücke'), moderne Bezeichnung für Werkstücke, die aus ihrem einstigen architektonischen Kontext herausgelöst und sekundär wiederverwendet sind." In beiden Bedeutungen, also einerseits als ,antike Stücke' aber auch als ,Beutestücke / Trophäen' verwendet noch Vasari den Begriff ,spolia/spolie' (vgl. ESCH: SPOLIEN, S. 54, Anm. 200). Der quellennahe Begriff,Cives' wird hier möglichen Übersetzungen vorgezogen. Andere Begriffe, wie etwa ,Bürger' würden für die Frühzeit Assoziationen wecken, die der historischen Situation in keiner Weise gerecht würden. Vgl. zur Sozialgeschichte Pisas die in der Einleitung, oben S. 32, Anm. 2 ff. angegebene Literatur. Vgl. oben S. 215 ff. Vgl. den Überblick bei PERONI: ARCHITETTURA, S. 14 ff. Vgl. auch hierzu PERONI: ARCHITETTURA, S. 38 ff.
265
Der Komplex des Domplatzes
In unmittelbarer Nähe des Vorgängerbaus 1 wurde seit 1064 mit dem Bau des neuen romanischen D o m s begonnen (vgl. Karte 2). Vermutlich von Beginn an unter der Leitung des Architekten und Baumeisters Busketus 3 scheint das Vorhaben trotz seiner für die Zeit grandiosen Ausmaße rasche Fortschritte gemacht zu haben. 4 So wurde der Hauptaltar der Kirche 1118 durch Gelasius II. geweiht. 5 Im Jahre 1135 findet ein Konzil unter Innozenz II. im D o m statt, der offenbar spätestens zu dieser Zeit schon weitgehend nutzbar war. 6 Der Abschluß des Baus wird schließlich gemeinhin mit der Fertigstellung der Hauptportaltüren durch Bonanno 1180/81 angenommen. 7 Im Laufe dieser mehr als hundertjährigen Bautätigkeit haben sich praktisch alle in die Geschichte der Stadt verwobenen Instanzen auf die eine oder andere Weise in den Bau eingeschaltet. Kaiser 8 und Markgrafen 9 haben den Bau des D o m e s durch Stiftungen unterstützt, Bischöfe und Kanoniker sich die Verfügung über das Gebäude streitig gemacht. 1 0 Die einzigen mit der Grundsteinlegung verbundenen Quellen, die Inschriften
2
3 4
Dieser Vorgängerbau des heutigen Doms, vor der nordwestlichen Ecke der frühmittelalterlichen Stadtbefestigung gelegen, ist seit 748 urkundlich belegt: Testament, Pisa, 17. Februar oder 13. März 748 (CDL 1 Nr. 93, S. 266-272). Vor allem auf der Basis der Interpretation einer Inschrift der Domfassade gelangte G. Scalia zu diesem heute durchgehend anerkannten Ergebnis: SCALIA: EPIGRAPHICA PISANA, S . 2 5 3 - 2 6 4 , SCALIA.: A N C O R A INTORNO, S . 4 8 3 - 4 9 1 , zuletzt etwa R O N Z A N I : O P E R A , S . 9 . Vgl. zu diesem zunächst BELLI BARSALI: B U S K E T O sowie SCALIA / A S C A N I : B U S K E T O . Vgl. zur Größe des Doms im Vergleich zur zeitgenössischen Kirchenarchitektur SANPAOLESI: DUOMO, S. 1 6 5 f.
5
Vgl. zur Weihe des Domes
SCALIA: CONSACRAZIONE ( 1 9 9 2 ) ,
SCALIA: CONSACRAZIONE
(1993),
zuletzt CECCARELLI L E M U T / G A R Z E L L A : PIETRO, S . 9 5 ff. Vgl. den Bericht über das Konzil ( G I R G E N S O H N : PISANER K O N Z I L , hier S . 1 0 9 7 ) : ,^4nno dominice incarnationis M°C°XXXVI celebrata est sinodus Pisis a domino papa Innocentio secundo in ecclesia beate Marie virginis." Zum Konzil und zur Quelle unten S. 355,Anm. 1 f. Daß das Konzil im Pisaner Dom stattfand, ergibt sich auch aus Bosos Vita Innozenz' II., S. 177: „Eo autem anno in maiori ecclesia Pisana, convocatis omnibus ecclesiarum praelatis [...] quartum concilium celebravit." Diesem Detail in Bosos Bericht wird man umso mehr Gewicht beimessen dürfen, da Boso als Vertrauter (und Nachfolger im Amt des Kanzlers der päpstlichen Kanzlei) des Kardinals Guido von Pisa (zu diesem M A L E C Z E K : G U I D O ) sicherlich am Konzil teilnahm, möglicherweise gar aus Pisa stammte (allgemein zu Boso: M A L E C Z E K : Boso, Z A F A N A R A : BOSONE). Allgemein zum Pisaner Konzil von 1 1 3 5 auch SOMERVILLE: COUNCIL OF PISA und G I R G E N S O H N : PISANER KONZIL. SCALIA: CONSACRAZIONE ( 1 9 9 5 ) ,
6
7
PERONI: ARCHITETTURA, S . 1 4 .
8
Vgl. die Urkunden Heinrichs IV. und Heinrichs V. fur den Dombau: MGH DH.IV. 404 (1. Februar 1089), die Urkunde Heinrichs V. in RCPi Nr. 275, S. 173 f. (25 Juni 1116), bzw. das Regest bei Stumpf-Brentano: Reichskanzler, Bd.2, Nr. 3144, S. 266. Urkunden Markgräfin Mathildes für den Dom: DD LF II, Nr. 23 (27. August 1077), 63 (1100, o.D.) und 74(1103, o.D.). Vgl. hierzu die materialreichen Beiträge RONZANI: A U L A CULTUALE und RONZANI: O P E R A sowie die folgenden knappen Ausführungen weiter unten.
9
10
266
Geschichte im Stadtraum — Die Stadt als Erinnerungsraum
der Domfassade,1 nennen jedoch vor allen anderen die Cives Pisani als Förderer und Initiatoren des Neubaus:2 „ANNO QUO CHRISTUS DE VIRGINE NATUS AB ILLO TRANSIERANT MILLE DECIES SEX TRESQUE SUBINDE, PISANI CIVES, CELEBRI VIRTUTE POTENTES, ISTIUS ECCLESIE PRIMORDIA DANTUR INISSE."
Der Text der hier zitierten Palermo-Inschrift, der den Pisaner Cives entscheidenden Anteil am Bau des neuen Domes zuschreibt, verlangt natürlich nach einer Klärung der historischen Hintergründe. Zuvor sei jedoch kurz auf die Schwierigkeiten eingegangen, die Beziehung der verschiedenen städtischen Instanzen zum Dombau sicher zu bestimmen. Schon oben wurde angedeutet, daß es keine Quellen zum Baubetrieb des Domes gibt. Man ist sowohl was die Planung und Konzeption des Gebäudes als auch was die konkrete Durchführung der Bauarbeiten angeht, auf Hypothesen angewiesen. Im gegebenen Zusammenhang interessiert vor allem, wer Einfluß auf die Gestaltung des Domes und damit auch auf die Anbringung von Spolien und Inschriften hatte. Zu fragen ist entsprechend auch hier, wer die Verfügungsgewalt über den Dom bzw. die Dombauhütte hatte. Im Gegensatz zur Porta Aurea, die als Teil der Stadtbefestigung sicher in der Rechtssphäre der jungen Kommune lag, aber auch zu San Sisto, deren Patronatsrechte nachweislich in der Hand der Kommune waren, ist die Situation am Dom wesentlich komplizierter. Erschwert wird der Blick auf die dortigen Verhältnisse vor allem dadurch, daß die für die Untersuchung verfügbaren Quellen sich hauptsächlich nicht auf den Bau des Doms als solchen beziehen, sondern auf die ökonomische Ausstattung des Bauvorhabens. Die meisten der im folgenden heranzuziehenden Urkunden setzen daher oft die rechtliche Stellung des Domes, eben dasjenige, was hier interessiert, stillschweigend voraus.3 Mit der spezifischen Überlieferungslage eng verbunden ist ein anderes Problem. Die gerade im 11. Jahrhundert noch nicht so dichte dokumentarische Überlieferung und nicht zuletzt die Sprache der erhaltenen Quellen selbst verleitet dazu, mit pauschalen Kategorien zu operieren. Oft gelangt man nicht über Aussagen über ,die Kanoniker', ,die Bischöfe' oder - hier liegen die größten Gefahren - ,die Cives' hinaus. Im Zusammenhang des Engagements für den Neubau des Domes wird man jedoch sicher davon
1
RONZANI: OPERA, S . 8 .
2
(„Es heißt, daß die Pisaner Bürger - reich an ruhmvoller Tugend - die Grundsteine dieser Kirche legten, als 1063 Jahre vergangen waren, seitdem Christus von der Jungfrau geboren war.") Ausführlich zu dieser Inschrift unten S. 346 ff. Sojedenfalls der Eindruck, den man bei der Untersuchung der unterschiedlichen mit den Stiftungen an den Dom verbundenen Klauseln gewinnen kann. Unter weiterem Blickwinkel könnte man dies als das Grundproblem früh- und hochmittelalterlicher Stadgeschichtsforschung ansehen, die allzu oft genötigt ist, aus der vergleichsweise großen Menge einzelner Besitzübertragungen, Pachtverträgen usw. auf dahinterstehende rechtliche, soziale und politische Verhältnisse zu schließen.
3
Der Komplex des
Domplatzes
267
ausgehen können, daß hier etwa nicht alle Cives in gleicher Weise eingebunden waren. Versuche, ein genaueres Bild zu entwerfen, scheitern an der oft nicht ausreichenden Quellenlage. 1 Folge des oben schon thematisierten Selbstbildes der frühen Kommune, das keinen Raum für innerstädtische Differenzen und damit auch nicht für begriffliche Differenzierungen läßt, ist zudem, daß die Cives, aber auch die Gesamtstadt unter Einschluß des Klerus und der Bischöfe auch in den dokumentarischen Quellen als eine einheitliche und einträchtig handelnde Gemeinschaft erscheinen. Im folgenden wird man sich daher darauf beschränken müssen, einige Grundlinien der Zusammenarbeit zwischen den genannten Gruppen und Institutionen aufzuzeigen, die dann in die weitere Interpretation der Befunde eingehen können. 2. Die Pisaner Cives und der Baubeginn Nicht nur die oben schon teilweise zitierte Palermo-Inschrift der Domfassade betont das Engagement der Pisaner Cives beim Neubau des Doms. Dies gilt auch für die vermutlich älteste mittelalterliche Inschrift des Domes: 3 „t Q U A M BENE Q U A M PULCHRE PROCUL H A U D EST EDES A B URBE, QUE CONSTRUCTA FUIT CIVIBUS ECCE SUIS, TEMPORE WIDONIS PAPIENSIS PRESULIS HUIUS QUI REGI F A M A EST N O T U S ET IPSI PAPE."
Zwar wird hier im Gegensatz zur oben zitierten Inschrift auch der Pisaner Bischof Guido von Pavia genannt, 4 nicht minder eindeutig weist die Inschrift jedoch den Pisaner Cives einen entscheidenden Anteil am Bau des Domes zu. 5 Um die große Anteilnahme der Pisaner am Bau ihres Doms zu verstehen, ist zunächst ein kurzer Blick auf die Vorgeschichte der Pisaner Bischofskirche zu werfen. Dies ist nicht nur für die folgenden Analysen der rechtlichen Verhältnisse am Dom grundle-
M. Ronzani hat versucht, für die zweite Hälfte des 11. Jh. neben kaisertreuen Gruppierungen reformorientierte bzw. papst- und Canossa-treue Gruppen in der Stadt zu identifizieren (RONZANI.: CHIESA Ε CIVITAS, S. 38-108, 190 ff., 207 ff. und 233 ff.). Deren Handeln in der Stadt nun genauer zu erkennen bzw. mit dem Bau des Domes und den Aussagen der dort angebrachten Denkmäler in Verbindung zu bringen, ist jedoch nicht möglich. Vgl. auch die grundlegende Kritik M. Matzkes an Ronzanis Arbeit in der Rezension im D A 54 (1998), S. 387 f. 2 3
Vgl. dazu oben S. 112 ff. („Seht, wie schön und gut diese Kirche nicht fern von der Stadt liegt, die von ihren ,Bürgern' [Cives] errichtet wurde, als Guido von Pavia hier Bischof war, der durch seinen Ruhm dem König und selbst dem Papst wohlbekannt war.") Vgl. detaillierter zur Inschrift unten S. 329 ff.
4
V g l . z u d i e s e m a u s f ü h r l i c h R O N Z A N I : C H I E S A Ε CIVITAS, S . 3 3 f f .
5
Dem Text der Inschrift an sich wird man auf den ersten Blick nicht entnehmen können, daß sich hier die „collaborazione fra il vescovo Guido e i cives Pisani" zeigt (so RONZANI: AULA CULTUALE, S. 85). Vgl. jedoch die detaillierte Interpretation des Textes unten S. 329 ff. Allgemein zur Beteiligung italienischer Stadtbewohner an den Neubauten der städtischen Kathedralen (vor allem mit B l i c k a u f M o d e n a ) : BORKENSTEIN-NEUHAUS: CIVITAS, S. 61 ff.
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Erinnerungsraum
gend, sondern läßt auch schon erkennen, welche Bedeutung der Dom für die Pisaner Cives gehabt hat. Spätestens seit dem 9. Jahrhundert ist in Pisa eine Kanonikergemeinschaft am Dom nachgewiesen. 1 Im Zusammenhang mit der Trennung der Mensen von Bischof und Kanonikern im Laufe des 10. Jahrhunderts scheinen diese seit der Mitte des Jahrhunderts getrennte Wege gegangen zu sein.2 Dies zeigt sich zunächst schon daran, daß die Bischöfe ihren zunächst am Dom gelegenen Verwaltungssitz3 in dieser Zeit in die Nähe
Die Einrichtung des Kanonikerstifts durch die Pisaner Bischöfe ist durch die Formulierung einer Urkunde des Pisaner Bischofs Zenobius vom Dezember 930 belegt (CACPi 1, Nr.l, hier zitiert nach der vollständigeren italienischen Abschrift des 19.Jahrhunderts, ebd., S. 3): ,^4nticamente da molti dei suoi predecessori era stata ordinata nella chiesa di santa Maria in Pisa una congregazione difrati canonici [...], che questo pud sicuramente credersi, poiche antichi sacerdoti dicono ricordarsi che le buone memorie di Giovanni e Piatone suo successore e parimenti Giovanni, venerabili vescovi, resero chiara e illustre questa santa congregazione." Vgl. zu den genannten Bischöfen Giovanni (nachgewiesen zwischen 8 2 6 und 8 5 8 ) , Piatone (nachgewiesen von 8 6 5 - 8 7 6 ) und Giovanni (nachgewiesen von 8 7 7 - 9 0 2 ) VIOLANTE: CRONOTASSI, S . 1 6 - 1 9 . 2
Vgl. zu diesem schon seit langem nicht nur in der Toskana beobachteten Prozeß SCHIEFFER: ENTSTEHUNG, S. 261 ff. Die Einbindung der Mensentrennung von Kapitel und Bischof in die von Schieffer beobachtete allgemeine Entwicklung relativiert allerdings die von M. Ronzani für Pisa gemachten Beobachtungen (RONZANI: A U L A CULTUALE, S. 81 f f ) . Dieser führte die Entstehung einer vom Bischof getrennten Mensa des Domstifts auf Versuche König Hugos und seiner jeweiligen Vertreter in der Markgrafschaft Toskana zurück, die Führungsschichten der toskanischen Civitates unter Ausschluß der Bischöfe direkt an sich zu binden (RONZANI: A U L A CULTUALE, S. 82 und RONZANI: CHIESA Ε CIVITAS, S. 42 f. und 180 ff.). Gerade die von Ronzani als Indiz für die Erfolge einer solchen Politik gewerteten Schenkungen an die Kanoniker unter Ausschaltung der Bischöfe (hierzu RONZANI: AULA CULTUALE, S. 82 ff.) sind aber eben auch aus anderen Bischofskirchen bekannt, ohne daß hier in jedem Falle Versuche zu sehen sind, einen Keil zwischen Bischof und Kapitel zu treiben. So enthalten mehrere Urkunden Heinrichs III. für Speyer einen in der Formulierung durchaus vergleichbaren Ausschluß des Bischofs von der Schenkung an die Kanoniker: DD Hill. 167172 (vgl. hierzu SCHIEFFER: ENTSTEHUNG, S . 268). Eine Ähnliche Trennung des Besitzes von Domstift und Bischof hat für Volterra nachgewiesen CRISTIANI: ORIGINI, S. 239 ff. Ganz allgemein ist zu fragen, ob die sich aus dem Urkundenmaterial ergebende Ausbildung einer Rechts- und Besitzsphäre des Kapitels tatsächlich als Ergebnis von Spannungen zwischen Bischöfen und Kapitel zu interpretieren sind, wie Ronzani vermutet. Für tatsächliche Spannungen gibt es keine Belege, im Gegenteil: Die Urkunde Heinrichs II. für das Pisaner Domstift (D H.II 291, Fasciano 1014) nennt ja gerade den Bischof Guido als Intervenienten zugunsten einer Bestätigung der Privilegien seiner Vorgänger für das Domstift. Auch die kurz nach den ersten Anzeichen für eine Mensentrennung erfolgten Bestätigungen der Privilegien des Kapitels durch die Bischöfe Zenobius (930, vgl. oben S. 268, Anm. 1) und Grimoald (Urkunde Pisa, 3. Dezember 958, RCPi Nr. 49, S. 28), die mit dem Verweis auf die Einrichtung des Kapitels durch Pisaner Bischöfe des 9. Jahrhunderts begründet wurden, lassen eben gerade nicht auf Spannungen zwischen Kapitel und Bischof schließen (anders hingegen RONZANI: A U L A CULTUALE, S. 81 ff.).
3
Der älter Verwaltungssitz des Bischofs am Dom ist seit dem 8. Jahrhundert urkundlich nachgewiesen. So wurde eine der Stiftungsurkunden des Kloster San Pietro di Monteverdi (Massa Marittima), in der der Pisaner Bischof als Schlichter eventueller Konflikte bei der Abtswahl vorgesehen war, unter anderem in der domus sancte Ecclesie Pisane aufbewahrt: „Una de iste cartule reseruamus in
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der Kirche S. Giorgio im Innern der frühmittelalterlichen Stadtmauern verlegten.1 Aussagekräftiger ist aber, daß sich seit der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die Kanoniker als juristische Repräsentanten des Domes ansahen, so daß sie in Urkunden als rectores atque custodes episcopatui Sande Marie Pisense erscheinen. So wie sich die Pisaner predicto monasterio nostro Sancti Petri, alia uero de iste cartule dedimus ad conseruandam in domo sancte Ecclesie Pisane, ubi domnus Andreas episcopus esse videtur" (Urkunde vom Juli 754, CDL I, Nr. 116, S. 351). Vgl. vor allem den Libellarvertrag zwischen einem gewissen Anselmo und Bischof Johannes von Pisa aus dem Jahr 902, in dem festgelegt wurde, daß die Libellarii ihre Zinsen „ad ipso domo episcopatui S. Marie aut super ipso altario S. Marie" zu zahlen hatten (RCPi Nr.29, S. 16 [hier falschlich datiert 857], Korrektur der Datierung ,Jiludovicus imperator, postquam in Italia ingressus est a. II, XV kal. iun., ind. V" [gemeint ist Ludwig der Blinde] durch PICOTTL: OSSERVAZIONI S . 25; ein älterer Abdruck der Urkunde bei Antiquitates Italicae Medii Aevi. III, Sp. 1035-36 [hier falschlich datiert 877]). Es ist nicht ganz klar, ob mit der Formulierung ,domus sancte ecclesie Pisane' bzw ,domus episcopatui sancte Marie' (so in einer Urkunde vom 25. Mai 985; RCPi Nr. 63, S. 36) der Dom, also der Kirchenbau, gemeint ist oder aber das Haus bzw. der Amtssitz des Bischofs. Ronzani glaubt hier eine Bedeutungsverschiebung sehen zu können. So bezieht er die Bezeichnung für das 10. Jahrhundert auf den Dom selbst: „l'edificio cultuale dedicato alia Vergine e chiamato allora [Mitte des 10. Jh., MH] correntemente domus Sancte Marie" (RONZANI: AULA CULTUALE, S. 75), während er die ,domus episcopatui S. Marie' der Urkunde von 754 (CDL I, Nr. 116) als eine „attigua domus, centro amministrativo del vesovato" (RONZANI: AULA CULTUALE, S. 80) auffaßt. Im Zusammenhang der Verlagerung des Verwaltungszentrums des Bistums (vgl. die folgende Fußnote) sei die Bezeichnung ,domus S. Marie' vom Amtssitz des Bischofs auf das Kultgebäude, also die Bischofskirche übergegangen (RONZANI: AULA CULTUALE, S. 84). Hingegen sieht GARZELLA: PISA COM'ERA, S. 18 ff. offenbar in allen Fällen in der ,domus' den Dom (vgl. vor allem S. 23: „nell'area della Cattedrale - ,foras civitatem Pisam, prope domum episcopatui sancte Marie'"). Vgl. auch SCALIA: ANCORA INTORNO, S . 495, Anm. 65. 1
2
Vgl. Karte 1 (Curia des Bischofs). Im Gegensatz zur oben S. 268, Anm. 3 zitierten Urkunde RCPi Nr.29, S. 16 heißt es in einem Libellarvertrag des Bischofs Zenobio vom 2. März 934, daß der Libellar seinen Zins „ad curte ad ecclesiam sancti Georgii" abliefern solle (RCPi Nr.38, S. 21 f.). Vgl. zur Lokalisierung dieser curtis GARZELLA: PISA COM'ERA, S. 19 ff. Die letzte Zinslieferung „ad domo sancte Marie" ist durch eine Urkunde aus dem Jahr 910 belegt (Urkunde Cascina, 9. März 910; RCPi Nr. 35, S. 19 f.). Man wird in dieser Verlegung des Verwaltungssitzes nicht zwingend einen entstehenden Gegensatz zwischen Bischöfen und Kanonikern sehen müssen (so RONZANI: CHIESA Ε CIVITAS, S. 42 f., RONZANI: AULA CULTUALE, S. 82 f.), da gerade die Verlegung ins Innere der Stadtbefestigung auch ganz praktische Gründe gehabt haben kann (vgl. auch die Ausführungen zu den Geländeverhältnisse unten S. 282 ff.). Ronzani sieht auch in dieser Verlegung des Verwaltungssitzes ein Indiz für das Zerbrechen der „intima unione fra il presule e il clero deputato ad assisterlo neH'officiatura della chiesa vescovile, che nell'etä carolingia era stata il presupposto stesso dell'istituzione delle canoniche" (RONZANI: CHIESA Ε CIVITAS). Erstmals in einer Urkunde vom 4. Mai 9 7 5 , CACPi 1, Nr. 9 , S. 2 7 - 2 9 , vgl. RONZANI: AULA CULTUALE, S. 84. Während das Domkapitel die juristische Vertretung des Doms übernahm und sich die Pisaner Bischöfe seit der Mitte des 10. Jahrhunderts aus den finanziellen Angelegenheiten der Kirche heraushielten, gilt dies natürlich nicht für die liturgischen Aspekte des Bischofsamtes. So haben die Pisaner Bischöfe sicher an der Liturgie der Domkirche mitgewirkt. Belegt ist dies indirekt durch das Memoriale des Abtes Bonus von San Michele in Borgo. Dieser schreibt über die von ihm erworbenen Paramente: „sunt tarn perfecti et optimi, ut Episcopus Opizus Domui Sancte Marie possit cum honore cantare Missas in die Pasche" (Narratio omnium, quae fecit Beatus Bonus Abbas
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Bischöfe bis in die zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts nicht um die inneren Angelegenheiten des Domstifts kümmerten, 1 scheinen sie auch kein besonderes Interesse an ihrer Kathedralkirche gezeigt zu haben, die sie ganz den Kanonikern überließen. 2 Im Gegensatz zu dieser Zurückhaltung der Bischöfe, sich in die Angelegenheiten des Domstifts einzuschalten, kamen in Pisa Ansätze zur Reform des Domklerus v o n städtischen Laien. 3 Diese gaben seit den vierziger Jahren des Jahrhunderts durch mit bestimmten Bedingungen verbundene Schenkungen an das Domstift Anreiz zu einer Reform v o n innen. 4 Vor diesem Hintergrund ist auch die sich in den inschriftlichen Zeugnissen ausdrückende Beteiligung der Pisaner Cives am Neubau des D o m e s zu verstehen. Bezeichnenderweise hat gerade die Beute einer maritimen Unternehmung der Pisaner Cives gegen das sarazenische Palermo den finanziellen Grundstock für den Neubau gelegt: 5
1
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4
5
pro fundando ac ditando Monasterio Pisano Sancti Michaelis, circiter Annum 1048, Sp.789). Vgl. zu Bischof Oppitio (belegt zwischen 1039 und 1059) VIOLANTE: CRONOTASSI, S. 25. Vgl. detailliert zur Pisaner Situation RONZANI: CHIESA Ε CIVITAS, S. 3 3 ff. Zu Bemühungen anderer toskanischer Bischöfe um die Reform ihres Domkapitels ebd., S. 41. Das Beispiel Arezzo stellt ausführlicher TABACCO: CANONICHE, S. 2 4 5 - 2 4 9 dar. Beides steht in signifikantem Kontrast zum Bischofsideal der Zeit. Zu diesem gehörte seit Gregor dem Großen die cura interiorum et exteriorum, die Sorge um die inneren und äußeren Angelegenheiten des Bistums. Vgl. die entsprechende Formel in dessen Regula pastoralis (II, 7, Sp. 38): „sit rector internorum curam in exteriorum occupatione non minuens, exteriorum providentiam in internorum sollicitudine non relinquens." Vgl. dazu WEILAND: GEISTLICHE UND KUNST, S. 16 f. Die beiden Aspekte werden dann auch in den Bischofsviten hervorgehoben. Vgl. das von WEILAND: GEISTLICHE UND KUNST, S. 17 angeführten Beispiel der Vita des Abtes Fulcoin von Hautmont (Anfang des 11. Jh. Vgl. Gesta episcoporum Cameracensium, II, 35, S. 463). Für den Bereich der Toskana ist hier auf eine Urkunde des Bischofs Elmpertus von Arezzo aus dem Jahr 1009 zu verweisen, in der dieser nicht nur die Reform des Domkapitels, sondern eben auch die Wiederherstellung der Bischofskirche und der Gebäude der Kanoniker zu seinen Verdiensten zählt (TABACCO: CANONICHE, S. 245). Vgl. allgemein zur Bautätigkeit als Element des Bischofsideals neben WEILAND: GEISTLICHE UND KUNST (mit der dort zitierten älteren Literatur) das Kapitel ,Der Bischof als Bauherr' bei HAARLÄNDER: VITA EPISCOPORUM, S. 2 0 0 ff. Vgl. detaillierter zur Pisaner Situation RONZANI: CHIESA Ε CIVITAS, S. 3 3 ff. Allgemein zur Kanonikerreform im 11. Jahrhundert LAUDAGE: GREGORIANISCHE REFORM, S. 1 2 2 - 1 3 0 (mit weiterer Literatur). RONZANI: CHIESA Ε CIVITAS, S. 3 8 ff. Vor allem die vita communis des Domklerus scheint den Stiftern ein besonderes Anliegen gewesen zu sein. So finden sich etwa in Schenkungsurkunden der Bonizia und des Albericus an das Domstift aus den Jahren 1040 und 1042 die Auflage, die Erträge der geschenkten Güter gemeinsam zu verzehren oder aber den Armen zu spenden (hierzu RONZANI: CHIESA Ε CIVITAS, S. 4 0 f.). Der Zusammenhang der ersten entsprechenden Schenkungen in Pisa mit Ansätzen zur Kanonikerreform, wie sie etwa von Petrus Damiani ausgingen, müßte genauer untersucht werden (vgl. etwa zu Damianis Wirken in Cesena LAQUA: TRADITIONEN, S. 9 0 - 1 0 3 ) . Inschrift Β der Domfassade (Palermo-Inschrift). („Sie kaperten sechs große, mit Schätzen gefüllte Schiffe, wovon sie eines verkauften, die anderen jedoch zuvor verbrannten. Mit den Mitteln jener Beute, so ist bekannt, wurden diese Mauern hier [sc. des Domes] errichtet.") Vgl. unten S. 346 ff.
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„SEX CAPIUNT M A G N A S N A V E S OPIBUSQUE REPLETAS, U N A M VENDENTES, RELIQUAS PRIUS IGNE CREMANTES QUO PRETIO MUROS CONSTAT HOS ESSE LEVATOS"
Es verwundert, daß die Domkanoniker in keiner der Inschriften mit dem Dombau in Verbindung gebracht werden, obwohl sie sich über lange Zeit als juristische Repräsentanten des Doms verstanden. Dies mag einerseits darauf zurückzufuhren sein, daß beide Inschriften gerade das außergewöhnliche Verdienst der Pisaner Cives um den Dombau herausstellen wollten. Möglich ist jedoch auch, daß die Kanoniker tatsächlich zunächst keinen Anteil am Neubau , ihrer' Kirche hatten. Der alte Dom wurde ja anfänglich weiterhin genutzt, da der Neubau südöstlich von diesem errichtet wurde. Auch die Kanoniker hatten dort noch ihren Sitz.1 Wenngleich man sich hier mit Vermutungen begnügen muß, ist doch wahrscheinlich, daß sich gerade in der Zeit der Neubaus auch die rechtliche Situation des Domes und hier vor allem die Stellung der Kanoniker zu diesem verändert hat. So findet sich die alte Formel der rectores atque custodes episcopatui sancte Marie zum letzten Mal im Jahre 1063, sie verschwindet somit als Rechtstitel der Kanoniker gleichzeitig mit dem Baubeginn des neuen Doms. 2 3. Vom Diplom Mathildes (1077) bis zur Entstehung der Opera Sancte Marie Die Unterstützung des Dombaus durch die Pisaner Laien, sei es durch eigene Stiftungen oder aber auch durch die Vermittlung von Stiftungen dritter, ist für das 11. Jahrhundert geradezu eine Konstante. 3 Schon aus dieser finanziellen Unterstützung wird man eine Einflußnahme der Pisaner Laien auf die Ausführung des Baus ableiten können. Daß der Einfluß der Pisaner Laien auf die Angelegenheiten der Bischofskirche auch von der Markgräfin hoch eingeschätzt wurde, zeigt eine Urkunde Mathildes von Canossa. Diese schenkte 1077 ihren Hof Scanello und weitere Güter für ihr und ihrer Eltern Seelenheil dem ,JEpiscopio sancte Marie Pisensis ecclesie, ubi nunc donnus Landulfus electus episcopus preesse videtur",4 Bedingung für die Schenkung der Markgräfin war eine Nutzung der Güter durch den zukünftigen Bischof und die Kanoniker, wobei sie letztere Die Gebäude der Kanoniker am alten Dom sind bis 1074 urkundlich nachgewiesen (vgl. RONZANI: FORMAZIONE, S. 26). Der später noch genauer zu betrachtende Neubau der Claustra der Kanoniker am heutigen D o m ist spätestens seit 1089 nachzuweisen (ebd.). Vgl. hingegen REDI: PISACOM'ERA, S. 114, der erst in einer Urkunde von 1100 die erste Erwähnung des neuen Gebäudes sieht. 2 3
Letzter Beleg in einer Urkunde vom 12. März 1063, CACPi 2, Nr. 33, S. 91-92. Hier sei als Beispiel nur auf das Diplom Heinrichs IV. für den Pisaner Dombau verwiesen, das die Vermittlung durch die Visconti belegt: „Curtem Papianam [...] tradidimus ad utilitatem et edificationem Pisane ecclesie Hildebrando eiusdem civitatis vicecomite cum fratribus suis monente et impetrante" (Regensburg, 1. Februar 1089, D HIV. 404). Vgl. zu dieser Übertragung der ehemals m a r k g r ä f l i c h e n B u r g P a p p i a n a M A T Z K E : D A I B E R T , S . 6 0 f. u n d R O N Z A N I : O P E R A , S . 1 4 f f . m i t w e i -
terer Literatur. 4
Urkunde Poggibonsi, 27. August 1077, MGH D D LF II, Nr.23, S. 87 ff. Ausführlich zur Urkunde u n d z u m Z u s a m m e n h a n g : M A T Z K E : D A I B E R T , S . 5 1 f . , R O N Z A N I : C H I E S A Ε CIVITAS, S . 1 7 5 f f . , R o s SETTI: V E S C O V I , S . 8 6 - 8 8 , T A N G H E R O N I : P I S A , S . 4 1 - 4 8 , TIRELLI C A R L I : D O N A Z I O N E .
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wiederum auf die vita communis verpflichtete.1 Als Garanten hierfür setzte sie die Pisaner Cives ein:2 „Quod si episcopus non observaverit, predicto usufructu careat, usque quo emendaverit, et concessio vel alienatio irrita abeatur et predictorum bonorum usufructus deveniat ad edificationem vel restaurationem seo thesaurorum acquisitionem supradicte ecclesie aut in redemptionem captivorum, concessa facultate alicui clero vel laico, qui hoc pro timore dei curare voluerit. Quod eodem modo de supradictorum canonicorum parte constitutum est; et si canonici canonice non vixerint, predicto usufructu careant, usque quo ad communem et castam redierent vitam, et similiter in potestate civium deveniat."
Sollten sich Bischof und Kanoniker nicht an die gestellten Bedingungen halten, so soll der Ertrag der geschenkten Güter zum Bau und zur Ausstattung der Bischofskirche oder aber zur Befreiung christlicher Gefangener verwendet werden. Die Überwachung und Ausführung dieser Bestimmungen überträgt die Markgräfin aliquis clericus vel laicus bzw. - wie es dann im Falle des Anteils der Kanoniker heißt - den Cives. 3 Auch die Markgräfin bindet so gerade diejenigen in ihre Reformpolitik ein, die sich schon vorher „Et faciat exinde episcopus, qui nunc est electus et pro tempore in eodem episcopatu ordinatus fuerit, et canonici, qui nunc et pro tempore in canonica supradicti episcopatus sancte Marie Pisensi ecclesie ordinati fuerint et communiter et caste vivent, eo tarn ordine, ut supter legitur, quicquid voluerint [...], ita tarnen, ut medietas predictorum bonorum sit in sunptu et usu predicti episcopii, altera vero medietas ad usum et sumptum predictorum canonicorum communiter et caste viventium, eo tarnen modo, ut non liceat episcopo vel canonicis supradicta bona commutare vel alienare seu locare aut in beneficium dare vel alico alio modo alicui concedere, nisi pro utilitate eiusdem ecclesie." (DD LF II Nr.23, S. 91: „Von nun an möge der Bischof, der jetzt gewählt worden ist und in Zukunft in dieser Bischofskirche ordiniert sein wird, und die Kanoniker, die jetzt und in Zukunft im Kapitel der oben genannten Bischofskirche der heiligen Maria in Pisa ordiniert sein werden und gemeinsam und züchtig leben, mit dem geschenkten Gut tun, was sie möchten, so, wie es unten zu lesen ist, [...] nämlich indem die Hälfte der genannten Güter zur Versorgung und zum Nutzen der genannten Bischofskirche (episcopium) bestimmt ist, die andere Hälfte jedoch zum Nutzen und zur Versorgung der genannten Kanoniker, wenn sie gemeinsam und züchtig leben, jedoch so, daß weder der Bischof noch die Kanoniker die genannten Güter tauschen oder veräußern, weder verpachten noch als Lehen ausgeben, noch in anderer Weise jemand anderem geben dürfen, es sei denn zum Nutzen dieser Kirche.") 2
3
DD LF II Nr.23, S. 91. („Sollte der Bischof dies nicht beachtet haben, wird ihm das Nutzungsrecht der genannten Güter entzogen, bis er dies abgestellt hat, und die Vergabe oder die Veräußerung werden ungültig sein. Der Gewinn aus den genannten Gütern wird dann dem Bau der genannten Kirche, der Erneuerung oder der Anreicherung ihres Schatzes zukommen oder aber für den Freikauf von Gefangenen ausgegeben werden und zwar nach Maßgabe eines Klerikers oder Laiens, der sich aus Gottesfurcht darum kümmern will. Dasselbe gilt für den Teil der genannten Kanoniker; und wenn die Kanoniker nicht kanonisch leben, wird ihnen das besagte Nutzungsrecht der Güter entzogen, bis sie zum gemeinsamen und keuschen Leben zurückgekehrt sind, und es wird ebenfalls in die Verfügungsgewalt der Cives übergehen.") Den Aspekt der Überwachung bringt Matzke im Anschluß an die Arbeiten Ronzanis auf den Punkt: „Die cives von Pisa wurden praktisch zur Überwachung der Einhaltung der Bedingungen herangezogen, indem die Einkünfte im Falle des Zuwiderhandelns von Bischof und Kapitel bis zur emendatio den Bürgern zukämen" (MATZKE: DAIBERT, S. 51).
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aus eigenem Antrieb um die Reform des Kanonikerstifts bemüht hatten. Den Pisaner Cives kommt zudem neben der Überwachung im Falle des nicht Erfullens der Bedingungen auch die Verwendung der Erträge für den Kirchenbau oder die Befreiung christlicher Gefangenen zu. Daß sich die Pisaner schon vor und auch nach der Urkunde der Markgräfin die Befreiung christlicher Gefangener aus der Hand der Sarazenen zur Aufgabe gesetzt hatten, hatte schon die Analyse der Geschichtsschreibung gezeigt.1 Den Cives diese Aufgabe zu übertragen scheint fur die Markgräfin wohl ebenso nahe gelegen zu haben, wie diese mit der Verwaltung des Kirchenbaus zu betrauen. Dies wohl nicht zuletzt, da sie ja schon von Beginn an regen, wenn nicht gar entscheidenden Anteil an diesem Neubau gezeigt hatten.2 Diese Möglichkeit der Verwendung der Einkünfte legt schließlich auch die Vermutung nahe, daß der neue Kirchenbau schon zu diesem Zeitpunkt einen von Bischofs- und Kapitelmensa getrennten Bereich bildete, wie dies später für die voll institutionalisierte Dom-Opera belegt ist. Wäre der Kirchenbau ein fester Ausgabeposten des Bischofs oder des Domkapitels gewesen, so hätten die Bestimmung der Urkunde nur wenig Sinn gemacht, da die Einnahmen ihnen so ja - wenn auch zweckgebunden - wiederum zugute gekommen wären. Die frühen mit dem Dombau verbundenen Stiftungen wurden noch recht vage ad edificationem ecclesie adressiert. Für die weitere Entwicklung ist jedoch die Ausbildung der mit dem Dombau betrauten Institution der Opera (,Dombauhütten') entscheidend. Der Begriff der Opera Sancte Marie taucht erstmals in einem Gütertausch Erzbischof Daiberts mit den Rektoren der Kirche SS. Regolo e Feiice aus dem Jahr 1092 auf. Es wird ein Grundstück erwähnt, das mit einer seiner Seiten „in terra et in casa de opera S. Marie" grenzt. 3 Zwei Jahre später nimmt Erzbischof Daibert dann Handwerker, die den Opera sancte Marie jährlich solidos viginti gestiftet hatten, in die Gebetsgemeinschaft der Kathedrale auf. 4 Offenbar hat zwischen den Schenkungen Mathildes fur den Dombau und den Urkunden von 1092 und 1094 die Institutionalisierung der Domopera derart große Fortschritte gemacht, daß diese nun als juristische Person Stiftungen 1
Vgl. oben S. 120 ff.
2
V g l . a u c h R O N Z A N I : O P E R A , S . 11 b z w . R O N Z A N I : A U L A C U L T U A L E , S . 8 5 .
3
Urkunde Pisa, 31. Dezember 1092, RCPi Nr. 210, S. 125 f. Nicht sicher zu datieren ist die Proclamatio der Bewohner von Casciaula, die sich um Hilfe gegen die Bedrängung der ,Longubardi' von San Casciano unter anderem auch an die Opera Sanctae Mariae wenden (zuletzt ediert in Brevi consulum, Anhang 1, S. 105-107).
4
Urkunde Pisa, 5. Oktober 1094, CACPi 3, Nr. 59, S. 138 ff. RONZANI: OPERA, S. 17 sieht in den fabri der Urkunde „maestranze qualificate attive nel cantiere della nuova S. Maria." Im Gegensatz dazu faßt Matzke die Urkunde entscheidend anders auf. Es handle sich hierbei nicht etwa um die Belohnung von freiwillig am Bau der Kirche mitwirkenden Handwerkern, sondern vielmehr seien diese in die Gebetsgemeinschaft der Pisaner Kirche eben nur gegen Zahlung der genannte Summe aufgenommen worden (MATZKE: DAIBERT, S. 70; anders das Regest von Tirelli Carli in CACPi 3, S. 138). Für Matzke handelt es sich bei den fabri nun auch nicht um Handwerker, die am Bau der Kirche beteiligt waren, sondern um „pisanische Metallhandwerker und Bergleute" (MATZKE: DAIBERT, S. 70 mit Verweis auf die Fassung Β der Urkunde, vgl. CACPi 3, S. 139 App.). Vgl. den weiteren Zusammenhang ausführlich bei MATZKE: DAIBERT, S. 70 ff.
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entgegennehmen konnten und entsprechenden Besitz verwalten konnten.1 Das Diplom Daiberts bietet zudem interessante Einsichten in die Beziehungen der einzelnen innerstädtischen Instanzen zum Dom. So heißt es in der Sanctio der Urkunde:2 „Item constituimus ut predicti fabri ad fabrilia negotia exercenda libere eant [...], ut nullus potens vel impotens nostri archiepiscopatus eos perturbet vel violenter aliquid ab eis extorqueat. Quod si forte fecerit, nisi infra triginta dies emendaverit, postquam inquisitus fuerit vel ab ecclesia ista aut ab operario sive ab huius civitatis consulibus [...] eum excommunicamus [...]"
Die fabri werden hier nicht nur in die Gebetsgemeinschaft - sozusagen in den geistlichen Schutz der Pisaner Kirche - aufgenommen, sondern durch die Androhung der Exkommunikation auch in ihren weltlichen Belangen geschützt. Wer in irgendeiner Weise gegen die so Geschützten vorgeht, muß sich - wenn er nicht exkommuniziert werden will - vor den Vertretern der ecclesia Pisana, beim Operarius, also dem Vorsteher der Opera, oder aber bei den Konsuln als Vertretern der Kommune rechtfertigen. Der Operarius des Domes wird so gemeinsam mit den Vertretern der Pisaner Kirche und den Konsuln der Kommune als Garant für die Gültigkeit der urkundlichen Bestimmungen eingesetzt.3 Hier zeigt sich so erstmals die für die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts typische Zusammenarbeit dieser drei städtischen Institutionen, die gerade auch beim Bau des Domes zusammenarbeiteten. Nach ihrem ersten Auftauchen in der urkundlichen Überlieferung folgt dann eine ganze Reihe von Schenkungen an die Opera.4 Die Opera di S. Maria - wie sie noch 1
Matzke führt die Einrichtung der Domopera als eigenständiger Institution auf das Wirken (Erz)Bischof Daiberts zurück. MATZKE: DAIBERT, S. 71. Dies kann jedoch den wenigen Quellen nicht entnommen werden, vielmehr ist hier mit einer allmählichen Verdichtung zu rechnen, die am Ende zur Ausbildung der Institution führte. Gegen die ältere Arbeit PECCHIAI: OPERA sieht Ronzani in der Opera selbst nach dem ersten Auftauchen namentlich genannter Operarii in einer Urkunde von 1104 keine „ente giä ben definitio". Die Argumentation ist hier jedoch nicht überzeugend (vgl. RONZANI: OPERA, S . 2 1 f . ) .
2
Hier zitiert nach der Fassung B, CACPi 3, Nr. 59, S. 139. („So setzen wir fest, daß die genannten Handwerker unbehelligt an ihre Arbeit gehen sollen [...] und daß keiner aus unserem Erzbistum, sei er nun mächtig oder nicht, diese behelligen oder mit Gewalt etwas von ihnen verlangen soll. Sollte dies jemand tun, und dies nicht innerhalb von dreißig Tagen wiedergutmachen, nachdem er von dieser Kirche oder vom Operarius [der Opera] oder von den Konsuln dieser Stadt befragt worden ist, [...] werden wir ihn exkommunizieren [...].") Hierbei handelt es sich um eine Kopie des 13. Jahrhunderts aus dem Archivio Arcivesovile di Pisa. Der zitierte Passus fehlt im erhaltenen Original des Archivio Capitolare di Pisa (Fassung A, CACPi 3, Nr. 59, S. 138 f.). Vgl. zu den beiden Fassungen auch MATZKE: DAIBERT, S. 70, der jedoch nicht erklärt, wie die Abweichungen entstanden sind.
3
Vgl. zu den Operarii neben der älteren Arbeit von PECCHIAI: OPERA den neueren Beitrag RONZANI:
4
Einen kompletten Überblick gibt die Arbeit von RONZANI: OPERA (mit Verweis auf die ältere Literatur). Gerade auch für die Entwicklung der Pisaner Kommune hatten die Domopera in vielerlei Hinsicht eine zentrale Bedeutung. Auch wenn man nicht der von M. Ronzani entwickelten These folgen will, daß gerade das Engagement der Pisaner Bürger für den Dombau den Kern der kommu-
OPERA u n d d i e L i s t e d e r O p e r a r i i b e i CALECA: LISTA.
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h e u t e h e i ß e n - waren v o n B e g i n n an nicht nur D o m b a u h ü t t e , organisierten a l s o nicht nur den Baubetrieb an der Kathedrale, sondern v e r w a l t e t e n auch die z u m D o m b a u g e stifteten Güter. 1 Während gerade der z w e i t e A s p e k t für die institutionelle E n t w i c k l u n g der j u n g e n K o m m u n e zentral ist, 2 stellen die Opera nicht zuletzt auch den S c h l ü s s e l zur Frage nach den hinter der Gestaltung d e s D o m e s s t e h e n d e n Personengruppen dar. 3
4. D i e Opera i m Z u s a m m e n w i r k e n v o n K o m m u n e und E r z b i s c h ö f e n D i e E n t w i c k l u n g der Opera und ihre B e z i e h u n g zu B i s c h ö f e n , Kanonikern und C i v e s kann hier nur in groben Z ü g e n v e r f o l g t w e r d e n . 4 Seit ihrer ersten E r w ä h n u n g in den n e u n z i g e r Jahren des 11. Jahrhunderts wird eine g a n z e R e i h e v o n Stiftungen und B e sitzübertragungen an die Opera v o r g e n o m m e n . V o r a l l e m in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts w e r d e n sie durch die d a m a l s n o c h z u s a m m e n mit ihrem j e w e i l i g e Erzbis c h o f h a n d e l n d e n C i v e s für d i e A u s w e i t u n g des Pisaner Herrschaftsbereichs instrumentalisiert. 5
nalen Entwicklung in Pisa darstellte (vgl. etwa R O N Z A N I : A U L A CULTUALE, S. 88 ff.), so wird man doch den Opera große Bedeutung für die Kommune nicht absprechen können. So sind viele der territorialen Erwerbungen der aufstrebenden Kommune eben gerade an die Institution der Domopera gebunden gewesen. Schenkungen der sardischen Iudices gingen etwa alle an die Opera, nicht etwa an die Kommune (vgl. neben den Arbeiten Ronzanis gerade zu diesem Punkt A R T I Z Z U : O P E R A ) . Diese enge Zusammenarbeit zwischen Kommune und Opera ist dann am Beginn des 13. Jahrhunderts einer der Gründe für deren Übernahme durch die ausgereifte Kommune (dazu weiter unten) 1 2 3
4 5
Vgl. zu den Funktionen der Opera P E R O N I : A R C H I T E T T U R A , S. 28 ff. Vgl. hierzu ausführlich R O N Z A N I : O P E R A . Dies wird auf den Punkt gebracht von P E R O N I : A R C H I T E T T U R A , S . 2 8 f. Die Opera ist fur ihn „una chiave per interpretare il rapporto complesso che nel Duomo pisano rivela il rapporto tra committenti e architetti, tra promotori della costruzione e programmatori da una parte e ideatori ed esecutori daH'altra". Auch hier muß wiederum auf die materialreiche Darstellung R O N Z A N I : O P E R A verwiesen werden. Zu diesem Aspekt R O N Z A N I : O P E R A , S. 17 ff. Als interessantes Beispiel sei hier eine Urkunde des Judex Turbinus von Cagliari erwähnt. Dieser schenkt 1103 vier curtes an die „opera sancte Marie", damit sie „ad perfectionem et conflrmationem eius opere perpetuo deservirenf' (Urkunde Mai 1103, CDS I, S. 178. Vgl. zum Kontext A R T I Z Z U : O P E R A , S. 50). Die Begründung fur die Schenkung zeigt dann, wer der eigentliche Empfänger der Schenkung war. Turbinus verspricht sich nämlich von seiner Schenkung „ut populus Pisanus sit amicus mihi, et in regno meo, et non offendant me neque regnum meum studiose" (CDS I, S. 178). Der populus Pisanus sollte also durch die Schenkung des Judex an die Domopera freundschaftlich gestimmt werden. Dies macht natürlich nur Sinn, wenn sich die Pisaner, die in der Tat große wirtschaftliche Interessen auf Sardinien hatten, mit den Domopera identifizieren konnten. Die Vermutung Ronzanis, dieser Umweg sei erfolgt, da die Pisaner Kommune zum Zeitpunkt der Schenkung noch keine rechtsfähige Institution war, ist durchaus erwägenswert und würde die enge Beziehung zwischen Cives bzw. Kommune und Opera nur zusätzlich bestätigen (RONZANI: OPERA, S. 21). Gleichzeitig mit der Stiftung an die Domopera befreite derselbe Turbinus von Cagliari die Pisaner vom Zoll in seinem Herrschaftsbereich (Mai 1103, CACPi 4, Nr. 15, S. 31 f.), wobei er die gleiche Begründung angibt. Spätestens durch diese
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Geschichte im Stadtraum - Die Stadt als
Erinnerungsraum
Symptomatisch für die Stellung de Domopera zwischen Bischofskirche und Kommune ist die Persönlichkeit des Judex Ildebrandus.1 Dieser war nicht nur eng in die Politik des Pisaner Erzbischofs Petras eingebunden,2 sondern gleichzeitig Operarius des Domes 3 und Konsul der Kommune.4 Gerade in seiner Funktion als Operarius des Doms übernimmt Ildebrandus in der Folgezeit etwa in Sardinien die Interessen der Pisaner Kirche, des Pisaner Bischofs und der jungen Kommune.5 Die Karriere des Ildebrandus ermöglicht so einen Blick in die innere Entwicklung der Opera am Beginn des 12. Jahrhunderts. So erscheint er in der ersten von ihm im Namen der Opera entgegengenommenen repromissio von 1110 noch zusammen mit zwei Kollegen, den Operarii Signorectus und Buschectus.6 Diese beiden erscheinen schon in einer älteren Urkunde für die Opera von 1104. 7 Während man in Buschectus/Busketus mit großer Wahrο
scheinlichkeit den schon oben erwähnten Baumeister des Domes vor sich hat, handelt es sich bei Signorectus, der in der älteren Urkunde als presbiter bezeichnet wird, um einen Angehörigen des Domkapitels.9 Gerade die Erwähnung des Busketus zeigt, daß das Kollegium der Operarii am Beginn der Entwicklung noch einen relativ weiten Aufgabenbereich abdeckte bzw. daß die Operarii noch eine sehr inhomogene Gruppe wa-
1
Urkunde wird klar, daß beide sich eigentlich an die Pisaner Cives richten, die durch die Privilegierungen günstig gestimmt werden sollten. Als iudex sacri palatii Lateranens is erstmals 1090 belegt (Urkunde Petrarossa, 23. Juli 1090, RCPi Nr. 204, S. 121 f.). Vgl zu Ildebrandus ausführlich RONZANI: OPERA, S. 29 ff.
2
V g l . z u d i e s e m VIOLANTE: CRONOTASSI u n d n e u e r d i n g s CECCARELLI LEMUT / GARZELLA: PIETRO.
3
Erster Beleg als ,rector, procurator sive operarius Sancte Marie' im Jahre 1111 (Urkunde, 2. April
4
Als Konsul erstmals 1118 urkundlich belegt (Urkunde 29. September 1118, Antiquitates Italicae III, Sp. 1127-1128, RCPi Nr. 280, S. 177). Möglicherweise bekleidete er dieses Amt aber schon früher, da er schon im Liber Maiorichinus als Konsul genannt wird. Liber Maiorichinus, Vv. 1686 f.: ,JJinc Ildebrandus sancte vexilla Marie | Consul habens dextra sevos incurrit in hostes" („Da greift Konsul Ildebrandus, das Banner der Heiligen Maria in seiner Rechten haltend, die wilden Feinde an.") Gerade die hier auftauchende Verbindung - Konsul der Kommune und Bannerträger der Pisaner Kirche - läßt vermuten, daß es sich hierbei um den gleichnamigen Operarius des Domes handelt. Ronzani scheint dies aber anders zu sehen, da er dessen Konsulwürde im Jahre 1118 für „recentissima" hält (RONZANI: OPERA, S. 35). Sollte der Operarius Ildebrandus mit dem gleichnamigen Konsul des Liber Maiorichinus identisch sein, so wäre der Allianzvertrag der Pisaner mit dem Grafen von Barcellona (7. September 1114, Liber Maiorichinus, S. 137-140) der früheste urkundliche Beleg für dessen Konsulwürde.
5
Vgl. ausführlich RONZANI: OPERA, S. 29. Dieser spricht mit Bezug auf Ildebranus gar von einer „sorta di ,ministro degli esteri' nel decennio fra il 1110 e 1120" (ebd.). „... quia tu Ildebrandus iudex, rector et procurator sive operarius Sancte Marie, dedisti nobis meritum spatam unam pro persona tua et Signorecti et Buschecti similiter operariorum Sancte Marie" (Urkunde, 2. April 1111 [wahrscheinlich st.pis.], bei PECCHIAI: OPERA, S. 62-63). Urkunde vom 2. Dezember 1104, abgedruckt bei PECCHIAI: OPERA, S. 61. Vgl. zunächst die oben S. 265, Anm. 3 angegebene Literatur.
1 1 1 1 , A b d r u c k b e i PECCHIAI: OPERA, S . 6 2 f.).
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7 8 9
RONZANI: OPERA, S . 2 2 .
Der Komplex des
Domplatzes
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ren. 1 Neben dem Baumeister, der wohl in erster Linie für den Baubetrieb zuständig war, 2 findet sich hier noch ein Vertreter des Domkapitels und der sicherlich als Vertreter des Bischofs anzusprechende Ildebrandus. 3 Gerade dies ändert sich während der Amtszeit des Ildebrandus. Seit der oben zitierten ersten Erwähnung des Ildebrandus als Operarius erscheint bis zu seinem Ausscheiden 4 nur noch er als Vertreter der Opera in der urkundlichen Überlieferung. Offensichtlich kam es zu einer Aufgabenteilung im Kollegium der Operarii. Ildebrandus, als Vertreter des Erzbischofs und späterer Konsul der Kommune, übernahm allein die rechtliche Repräsentation der Opera nach außen. 5 Dieser Zustand ändert sich bis zum Ende des Jahrhunderts nicht mehr. Nach Ildebrandus finden sich als juristische Vertreter der Opera nur noch Personen, die von den Erzbischöfen eingesetzt wurden. 6 Wie sich seit der institutionellen Festigung der Opera der Einfluß der Cives auf den Dombau bemerkbar gemacht hat, ist schwierig zu beurteilen. Durch die Person der Ildebrandus scheint es eine direkte Verbindung zwischen Kommune und Opera gegeben zu haben. Es ist jedoch wahrscheinlich, daß Ildebrandus weniger als ein Vertreter der Kommune in den Opera, sondern vielmehr als ein Vertreter der an Einfluß gewinnenden Pisaner Bischofskirche im Kollegium der Konsuln anzusehen ist. Dies legt schon die Reihenfolge der von ihm übernommenen Aufgaben und Ämter nahe. 7 Aufgrund der engen Zusammenarbeit zwischen Pisaner Ecclesia und junger Kommune wird man hier jedoch nicht von einem wirklichen Gegensatz ausgehen müssen. 8 Jenseits der institutionellen Verhältnisse kann man in jedem Fall von einem Einfluß der Cives auf ,ihren' Dom ausgehen, der sich nicht zuletzt aus der in der Vergangenheit erbrachten Unterstützung für den Neubau ergab.
Die Urkunde von 1104 (wie oben S. 276, Anm. 7) nennt noch vier Operarii: „... dono et trado vobis Uberto et Leo et Signorecto atque Buschecto, rectoribus et procuratoribus sive operariis Sancte Marie...". 2
Anders hingegen PERONI: ARCHITETTURA, S. 25, der Busketus auch in die Administration des Bauvorhabens eigebunden sieht.
3
RONZANI: OPERA, S . 2 9 .
4
V g l . CALECA: LISTA, S . 2 5 1 .
5
RONZANI: OPERA, S . 2 9 .
6
RONZANI: A U L A CULTUALE, S . 9 5 .
7
So auch RONZANI: OPERA, S. 35, der ihn „console per volontä dell'arcivescovo" nennt. Gerade die zuvor untersuchte Geschichtsdichtung hat ja auch das harmonische Verhältnis innerhalb der Stadt beschworen und tatsächlich ist von wirklichen Konflikten zwischen Bischof und Kommune in dieser Zeit keine Spur. Vgl. etwa schon VOLPE: STUDI, S. 9 ff. Dieser betonte „la solidarietä intima fra il comune e la chiesa cittadina di cui il vescovo e capo" (ebd., S. 10), und mehr noch: „finche il comune non aveva conquistato una posizione legale [ . . . ] il vescovo serviva a compiere legalmente degli atti che al comune, secondo la legge feudale, sarebbero riusciti difficile" (ebd.). Vgl. jedoch ergänzend die Korrekturen an Volpes Vorstellung von der Kommunebildung durch ROSSETTI: CETI DIRIGENTI, S. XVI und BANTI: CIVITAS, wobei beide das enge Verhältnis zwischen Kommune und Bischof nicht in Frage stellen.
8
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Geschichte im Stadtraum — Die Stadt als
Erinnerungsraum
5. Von den Brevi bis zur Übernahme der Opera durch die Kommune Die anhaltende Anteilnahme der Cives am Dombau zeigt sich auch im ersten erhaltenen Breve der Kommune.1 So heißt es im Breve von 1162, dessen Bestimmungen zu erfüllen die Konsuln des Jahres geloben mußten:2 „Tres homines eligam, qui rationem monetae et Operae ecclesiae Sanctae Mariae et pontis Ami, ante quattuor menses termini mei consulatus, sub Sacramento cognoscant et iudicent."
Wird hier noch ganz allgemein eine Kontrolle der Opera durch von den Konsuln zu bestimmende Personen beschrieben, ist das Breve des Jahres 1164 dann schon ausführlicher:3 „Infra quindecim dies sequentes a proximis kalendis ianuarii, tres homines sine fraude eligam, vel consiliatoribus eligere faciam, qui infra tres menses rationem a veteris Consulibus, eorumque camerariis [...], nec non custodibus monetae, et Operariis Sanctae Mariae et Sarni Pontis, de pecunia rebusque publicis quae in manibus eorum potestatemque pervenerint, infra eosdem menses, de ipsis sub Sacramento congnoscant et iudicent; et si quam fraudem in eis invenerint, publice dicant."
Aufgabe des jährlich zu wählenden Kontrollgremiums über die städtischen Finanzen war es dem Breve zufolge auch, die Operarii der Domopera zu überwachen. Am Beginn jedes Jahres sollte es von diesen Rechenschaft über die von ihnen verwalteten Gelder und sonstigen öffentlichen Mitteln einfordern. Sollten sie hierbei irgendwelche Manipulationen vorfinden, so solle dies öffentlich bekannt gemacht werden. Die Kommune betrachtete also - jedenfalls nach dem Text des Breve - die Domopera als einen Teil ihrer Verwaltung, die sie entsprechend kontrollieren mußte bzw. konnte. Leider ist nicht bekannt, ob eine solche Kontrolle der Domopera zu dieser Zeit tatsächlich stattgefunden hat und ob diese mit Zustimmung des Erzbischofs erfolgte oder ob es schon hier zu Konflikten kam.4 Man wird diese erste explizite Formulierung eines Anspruches der Kommune auf die Kontrolle der Opera als Niederschlag der schon seit dem Baubeginn des neuen Doms bestehenden engen Beziehungen der Pisaner Cives zu ihrem Dom
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3
4
Vgl. zum Charakter dieser Quelle ausführlich die Einleitung von Banti zu den Brevi consulum, S. 7 ff. Brevi consulum, S. 53. („Drei Männer werde ich auswählen, die die Geschäftsführung der Münze, der Opera S. Mariae und der Arno-Brücke vier Monate vor dem Ende meines Konsulates unter Eid überprüfen und beurteilen sollen.") Brevi consulum, S. 82 f. („Innerhalb von 15 Tagen nach den nächsten Kaienden des Januars werde ich drei Männer ohne Hinterlist auswählen oder von den Räten auswählen lassen, die innerhalb von drei Monaten die Rechenschaftsberichte der alten Konsuln, ihrer Kämmerer [...], auch der Münzmeister, der Operarii von S. Maria und der Arno-Brücke über die Gelder und öffentlichen Mittel, die in ihre Hände und ihre Verfügung gekommen sein werden, innerhalb der genannten Monate unter Eid überprüfen und beurteilen sollen; und sollten sie auf einen Betrug stoßen, sollen sie es öffentlich verkünden.") Ronzani hält die Vorschrift des Breve für „piuttosto un obiettivo da reggiungere che una realtä o r m a i a c q u i s i t a " (RONZANI: OPERA, S . 5 ) .
Der Komplex des Domplatzes
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ansehen müssen. Erst die voll ausgebildete Kommune konnte die offenbar schon seit langem bestehenden Interessen der Cives am Dombau in dieser Weise auch institutionell fassen. Angesichts der so in Grundzügen umrissenen Entwicklung überrascht es nicht, daß die Kommune zu Beginn des 13. Jahrhunderts dann vollends die Kontrolle über die Opera für sich beanspruchte. Im Jahre 1201 setzte der damalige Podestä Gherardo Visconte offenbar gegen den Willen des Erzbischofs den neuen Operarius der Domopera, Guido de Curte, ein.1 Ein sich daran entzündender Konflikt wurde erst sechs Jahre später in einem um die Opera geführten Prozeß zwischen Kommune und Erzbischof entschieden. Dieser Prozeß fuhrt dann noch einmal die Argumente in die Diskussion, die schon die bisher betrachtete Entwicklung der Beziehung von Bischof und Cives zum Dom kennzeichneten. 2 Gegenstand des Prozesses war das Vorgehen des Erzbischofs Hubaldus gegen die Kommune, die versuchte, den Erzbischof an der Einsetzung eines neuen Operarius zu hindern. 3 Hubaldus versuchte zu veranlassen, daß der derzeitige Operarius, der offensichtlich von der Kommune eingesetzt wurde, aus dem Amt entfernt wird. 4 Die erzbischöfliche Seite reklamierte im Prozeß, daß die „Opera und das Haus der Opera ein kirchliches Haus und dem Gottesdienst und der heiligen Maria bestimmt" seien und daß die „Auswahl, Einsetzung und Investitur des Operarius, sowie auch die Opera selbst und das Haus der Opera der genannten Pisaner Erzbischöflichen Kirche gehören," schließlich, daß der „Herr Erzbischof und seine Vorgänger den Operarius in die genannte Opera einzuführen und zu investieren pflegten." 5 Während man sich auf erzbischöflicher Seite somit auf den religiösen Charakter des Gebäudes berief und die bisher geübte Praxis der Einsetzung des Operarius durch den Erzbischof ins Feld führte, brachte die Seite der Kommune ganz andere Argumente vor. Man behauptete, „daß es nicht das Recht des Herrn Erzbischof ist, den Operarius in die genannte Opera oder das genannte Haus der Opera einzuführen, anzustellen oder einzusetzen, noch ihn dort zu investie-
'
RONZANI: OPERA, S. 3.
2
Das Urteil dieses Schiedsspruchs vom 13. April 1207 durch von beiden Seiten ausgewählte Schiedsmänner und die ausführliche Darstellung der Vorgeschichte und der vorgebrachten Argumente ist publiziert im Anhang zu R O N Z A N I : O P E R A , S. 6 5 ff. „ut non inquietent nec aliquo modo impediant ipsum dominum arkiepiscopum nec eius successores invenire et instituere atque ponere operarium in Opera et domo sancte Marie maioris pisane ecclesie, quandocumque Opera vel domus Opere operario vacaverit" (ebd., S. 66). „ut Ugo quondam Caronis a regimine et administratione suprascripte Opere et domus Opere et ab ipsa Opera et domo removatur" (ebd.). „Opera et domus Opere domus ecclesiastica et divino servitio et sancte Marie deputata [...] inventio et positio operarii atque investitura et etiam ipsa Opera et domus Opere pertinent ad dictum archiepiscopum pisanum [...] dominus archiepiscopus et eius antecessores consueverunt invenire et investire operarium in dicta Opera" (ebd.).
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Geschichte im Stadtraum - Die Stadt als Erinnerungsraum
ren."1 Auch die Vertreter der Kommune beriefen sich zunächst auf die bislang geübte Gewohnheit. Die Operarii der Domopera hätten schon seit längerem den Beauftragten der Kommune Rechenschaft abgelegt,2 vor allem aber hätten die Operarii die Konsuln der Kommune stets mit Ehrerbietung behandelt. Gerade diese Formulierung - „operarii suprascripte Opere habuerunt in reverentiam consules seu rectores civitatis pisane"3 macht deutlich, daß die Vertreter der Kommune offenbar keine klaren Rechtstitel vorweisen konnten, sondern sich auf die bisher übliche informelle Praxis berufen mußten. Wieso die Kommune die rechtlich offene Situation endgültig in ihrem Sinne klären wollte, kommt ebenfalls im Dokument zur Sprachen. So wird bezeugt, daß die Opera Rechtstitel in Konstantinopel, Sardinien und Pisa selbst „pro Comuni pisano" innehätten.4 Die oben angesprochene Praxis, daß die Opera stellvertretend für die noch nicht rechtsfähige Kommune Rechtstitel entgegennahm, rächte sich offenbar zu einem Zeitpunkt, als das Verhältnis zwischen Kommune und Erzbischof nicht mehr ganz so einträchtig war. Erst hier wurde die Frage nach der rechtlichen Stellung der Opera zu einem Problem für die Kommune, da sie dadurch keinen direkten Zugriff mehr auf ihre Güter hatte. In dieser juristische Auseinandersetzung siegte letztlich die Kommune, die seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts schriftlich den Eid des ins Amt tretenden Operarius der Domopera entgegennahm.5 Wenngleich sich die Auseinandersetzung am Beginn des 13. Jahrhunderts in erster Linie an der Frage des von der Opera verwalteten Patrimoniums entzündet hatte, so stand dahinter doch wohl auch das Bemühen der Kommune, den für ihr Selbstbild so wichtigen Monumentalkomplex des Domplatzes zu kontrollieren. Gerade die in der Folge durchgeführten Projekte auf dem Domplatz zeigen, daß die Vertreter der Kommune ein durchaus ausgeprägtes Bewußtsein für die symbolische Funktion dieses Bereichs des Stadtraumes hatte.6
2
3 4
5
,JVon esse ius domino arkiepiscopo in Opera vel domo Opere suprascripta operarium invenire, instituere velponere, nec investire" (ebd., S. 67). Vgl. die oben S. 258 f. zitierten Bestimmungen der Brevi. Im Protokoll des Prozesses heißt es: „et credit quod Bernardus Argentine reddidit rationem officialibus qui fuerunt electi pro consulibus pro recipiendis rationibus, et quod dictus Bernardus id fecit bis; et credit quod Guido de Curte et Ugo Caronis reddiderunt rationem officialibus electis pro civitate super recipiendis rationibus" (ebd., S. 69), Ebd. „interrogatus si credit quod id quod Opera habet in Constantinopoli et in Sardinea habuerit pro Comuni pisano, respondit ,ηοη totum, sed credit de tertia parte'; et credit quod id, quod Opera habet Pisis pro mensuris quarrarum habuit pro Comuni pisano" (ebd.). Zu diesen Dokumenten RONZANI: OPERA, S . 2 . Vgl. zum ganzen Problemkomplex auch RONZANI: FORMAZIONE, S . 7 3 f f .
6
Vgl. zur gesamten Bautätigkeit der Kommune auf dem Domplatz die Arbeiten von RONZANI: FORund TANGHERONI: PIAZZA. Insbesonder die seit 1 2 1 4 einsetzenden Bemühungen der Kommune, das sich an das südliche Seitenschiff des Doms anschließende Gebäude der Kanoniker (vgl. unten S. 286 f.) zu beseitigen, war Teil einer ausgeprägten Bau- und Repräsentationspolitik (vgl. dazu RONZANI: FORMAZIONE, S. 7 5 f f ) . MAZIONE, REDI: PIAZZA
Der Komplex des Domplatzes
281
6. Ergebnisse Blickt man auf die Ergebnisse der Analyse der formellen und informellen Beziehungen der verschiedenen städtischen Instanzen zum Dom, so läßt sich festhalten, daß die Situation bis zum Beginn des Neubaus relativ sicher zu bestimmen ist: Die Kanoniker sehen sich seit der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts als alleinige rechtliche Vertreter der Kirche. Ein solcher Anspruch richtet sich vor allem gegen die Pisaner Bischöfe, die sich dann auch nicht erkennbar in die Angelegenheiten des Kapitels und des Kirchenbaus eingeschaltet haben. Seit der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts sind es dann Pisaner Laien, die sich aktiv für die Reform des Kanonikerstifts am Pisaner Dom einsetzten. Auf diese geht dann auch die Initiative zum Neubau zurück, der nach Auskunft der Inschrift durch die von den Pisanern gemachte Beute des Expedition gegen Palermo 1064 finanziert wurde. Wenngleich man gerade in dieser Zeit - sicher auch in der Folge der Kirchenreform - mit einem Wiedererstarken des bischöflichen Einflusses auf Kapitel und Dom rechnen kann, ist die Zeit nach der Grundsteinlegung vor allem durch die informelle Einflußnahme der Cives auf den Bau bestimmt. Zeugnis dieses starken Einflusses ist die diskutierte Urkunde der Markgräfin Mathilde für den Dombau. Eine Veränderung der Situation bringt die Ausbildung der Opera S. Marie in den neunziger Jahren des 11. Jahrhunderts mit sich. Mit deren institutioneller Festigung entsteht eine zumindest formal von Bischof, Kanonikern und Cives unabhängige Institution, die mit Organisation und Administration des Dombaus betraut ist. Nicht zuletzt die personelle Verknüpfung zwischen Opera, Bischofskirche und Kommune in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts zeigt, daß dieser Abschnitt durch eine - jedenfalls nach Ausweis der Quellen - spannungsfreie Zusammenarbeit von Bischof, Domkapitel und Kommune (auch) im Bereich des Dombaus gekennzeichnet ist. Nachdem durch die Brevi der sechziger Jahre des 12. Jahrhunderts dann erstmals ein formaler Anspruch der Kommune auf die Kontrolle der Opera und damit des Dombaus zu verzeichnen ist, kommt es schließlich Anfang des 13. Jahrhunderts zwischen Bischof und Kommune zum offenen Rechtsstreit um die Besetzung der Opera, aus dem letztlich die Kommune als Sieger hervorging. Man wird so in der Geschichte des Dombaus zwischen 1064 und dem beginnenden 13. Jahrhundert drei Phasen unterscheiden können: Auf die relativ unbestimmte Situation der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts, die jedoch eindeutig durch den starken Einfluß der Pisaner Laien geprägt ist, folgt mit der Entstehung der Opera eine Phase enger Zusammenarbeit zwischen Bischof, Kanonikern und Kommune. Schließlich beginnt mit den sechziger Jahren des 12. Jahrhunderts die schrittweise Zurückdrängung des Einflusses der Pisaner Bischofskirche. Am Endpunkt der Entwicklung befinden sich die Opera seit Beginn des 13. Jahrhunderts im Rechtsbereich der Kommune.
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Geschichte im Stadtraum - Die Stadt als Erinnerungsraum
B. Die Umgebung des Doms im hohen Mittelalter - Rekonstruktion des Stadtraums Schon bei der Analyse der Erinnerungskomplexe der Porta Aurea und San Sistos wurde die Bedeutung der Raumsituation angesprochen. Für beide Komplexe wurden im mehrfacher Hinsicht zentrale Punkte der städtischen Topographie gewählt. Auf der Grundlage einer Rekonstruktion der hochmittelalterlichen Raumsituation, die sich in wichtigen Punkten von den heutigen Gegebenheiten unterscheidet, wird Vergleichbares auch am Dom zu zeigen sein. 1. Die Lage des Doms Schon die urkundlich und archäologisch nachweisbaren Vorgängerbauten der heutigen Kathedrale lagen außerhalb des ummauerten Gebiets der spätantiken bzw. frühmittelalterlichen Civitas (Karte l). 1 Die Wahl dieses Standortes scheint auf eine bis in die Frühzeit der Christianisierung zurückreichende Kulttradition zurückzugehen. 2 Nur so ist das Festhalten an einem Standort zu erklären, der nach dem Zerfall der römischen Entwässerungs- und Dammsysteme durch eine starke Versumpfung geprägt war.3 Doch nicht nur die Geländebeschaffenheit machte die Lage der Kathedrale problematisch. So lag sie bis zum Bau der kommunalen Stadtbefestigung (seit 1154) 4 außerhalb der frühmittelalterlichen Mauern (vgl. Karte 2). 5 Durch eine ganze Reihe von Pforten und Toren in 1
Vgl. neben den oben S. 265, Anm. 1 zitierten urkundlichen Belegen die Interpretation der archäol o g i s c h e n B e f u n d e b e i REDI: PIAZZA, S . 4 1 - 5 4 u n d REDI: P I S A C O M ' E R A , S . 5 9 f f .
2
Archäologische Grabungen förderten neben Resten einer spätantiken Besiedlung des späteren Domplatzes auch Grablegungen des 5. - 10. Jahrhunderts zutage, die eine Nutzung des Geländes als Friedhof seit der Spätantike belegen (vgl. die Interpretation der Befunde bei REDI: PIAZZA, S. 41-44, speziell zu den Grablegungen ebd., S. 43 f.). Sicherer Beleg für die These einer Kultkontinuität ist auch der Nachweis eines spätantiken Baptisteriums im Bereich des heutigen Camposanto, nördlich der frühmittelalterlichen Kathedrale (erhaltene Mauern des Baus sind ins 6. Jh. zu datieren). Zum Baptisterium und möglichen Resten der Vorgängerbauten der Kathedrale ebd., S. 44 ff. Die These einer Kultkontinuität vertritt neben Redi auch schon TOLAINI: PISA, S. 37.
3
Die hydrographische Situation des Dombereichs ist aufgearbeitet bei REDI: PISA COM'ERA, S. 3 ff. (mit Blick auf die Gesamtstadt) und REDI: PIAZZA, S. 23 ff. (speziell zum Domplatz). Nicht zuletzt die unterschiedlichen Wasserläufe, die den Bereich des Domplatzes im frühen Mittelalter durchschnitten, werden mittlerweile für die spätere Neigung des Campanile verantwortlich gemacht, der zum Teil auf einem im Laufe der Zeit angefüllten Nebenarm des - heute aus dem Stadtbild verschwundenen - Flusses Auser errichtet wurde (vgl. die Zusammenfassung der Ergebnisse bei REDI: PIAZZA, S . 2 3 f f . ) .
4
V g l . z u r M a u e r d e t a i l l i e r t REDI: PISA COM'ERA, S. 1 3 9 f f . , TOLAINI: PISA, S. 5 1 f f . u n d z u m h i s t o r i s c h e n Z u s a m m e n h a n g RONZANI: FORMAZIONE, S . 4 5 f f .
5
Den in der Tafel eingetragenen Verlauf der Stadtmauer hat G. Garzella auf der Basis der dokumentarischen Überlieferung und der Pisaner Toponymik rekonstruiert (GARZELLA: PISA COM'ERA, S. 26 ff.). Vgl. jedoch kritisch hierzu GELICHI: MURA, S. 75.
Der Komplex des
Domplatzes
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der frühmittelalterlichen Mauer mit der Stadt verbunden, 1 scheint der G e b ä u d e k o m p l e x nicht e i g e n s t ä n d i g befestigt g e w e s e n z u sein. 2 E i n e n g e w i s s e n S c h u t z g e g e n e v e n t u e l l e A n g r i f f e b o t e n d e m G e l ä n d e e i n z i g der e i n i g e M e t e r nördlich d e s heutigen D o m p l a t z e s v e r l a u f e n d e F l u ß l a u f d e s A u s e r s mit s e i n e n N e b e n a r m e n u n d die S ü m p f e , die i m W e sten und S ü d e n an den frühmittelalterlichen G e b ä u d e k o m p l e x grenzten. 3
2. D i e U m g e b u n g des D o m s D a s h e u t i g e Erscheinungsbild des D o m p l a t z e s ist Ergebnis erheblicher E i n g r i f f e in späterer Zeit. Hierin liegt eine der größten S c h w i e r i g k e i t e n für die Rekonstruktion der ursprünglichen E i n b i n d u n g der M o n u m e n t e des D o m p l a t z e s in d i e städtische T o p o g r a p h i e . 4 S o liegt d i e Kathedrale heute z u s a m m e n mit den später errichteten G e b ä u d e n (Baptisterium, C a m p a n i l e , C a m p o s a n t o , G e b ä u d e der Opera, Hospital etc.) a u f e i n e m m i t R a s e n b e w a c h s e n e n Platz, der erst i m 13. Jahrhundert durch die K o m m u n e g e s c h a f fen wurde. 5 I m 11. und 12. Jahrhundert wird m a n das Areal d e s h e u t i g e n D o m p l a t z e s j e d o c h n o c h nicht als Platz b e z e i c h n e n können. War das G e l ä n d e a n f a n g s aufgrund der s c h o n 1
Eine erste ,posterula" ist in der urkundlichen Überlieferung zwar erst seit 1112 nachzuweisen (Urkunde Pisa, 9. Dezember 1112, RCPi Nr. 245, S. 151 f.), an ihrer Existenz auch in früherer Zeit ist jedoch nicht zu zweifeln. Vgl. G A R Z E L L A : P I S A C O M ' E R A , S . 49 f. und S . 57. 1136 ist eine 'porta archiepiscopi' belegt (Urkunde Pisa, 26. August 1136, RCPi Nr. 350, S . 233 f., zu dieser G A R Z E L LA: PISA COM'ERA, S. 53). Vgl. zu später erwähnten Toren in der frühmittelalterlichen Mauer im Bereich der Kathedrale R E D I : P I S A C O M ' E R A , S. 101 ff".
2
Jedenfalls ließen sich weder archäologische noch dokumentarische Belege für die Existenz einer solchen Befestigung finden. T O L A I N I : F O R M A P I S A R U M , S . 8 8 ff. vermutet jedoch die Existenz älterer Befestigungsanalagen in der Nähe der Kathedrale. Vgl. auch hierzu die oben S . 2 8 2 , Anm. 3 genannte Literatur, besonders die Karte bei R E D I : PISA C O M ' E R A , S . 8 5 f. (Tavola 1 2 ) . Zwar ist die mittelalterliche Topographie Pisas äußerst gut erschlossen. Leider hat es aber gerade im Bereich des Domes nur wenige systematisch durchgeführte archäologische Grabungen gegeben, wenngleich dies hier aufgrund der Bebauungssituation problemlos möglich wäre. Zusätzlich sind die in der Vergangenheit durchgeführten Grabungen gerade im Bereich der frühmittelalterlichen Insula episcopalis nur sehr schlecht dokumentiert, so daß auch hier nur unbefriedigende Ergebnisse gewonnen werden konnten. Vgl. die Zusammenfassung der Grabungsergebnisse bei R E D I : P I A Z Z A , S. 37 ff.
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Den ersten Schritt in diese Richtung stellte der Abriß des sich an das südliche Seitenschiff des Domes anschließenden Claustrums der Kanoniker dar (zu diesem weiter unten). Dieser wird in einer Sententia von 1214, veranlaßt durch die ,rectores pisane Civitatis', damit begründet „ut arringum et platea ibi [d.h. vor dem Dom, MHJ sit et fiat" (Abdruck der Urkunde bei R O N Z A N I : FORMAZIONE, Anhang I, S. 130 ff., Zitat auf S. 132). Hierin kann man den Anfang der von der Kommune betriebenen stadtplanerischen Aktivitäten sehen. Die Eingriffe in die Platzstruktur durch die Kommune seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts sind ausführlich dokumentiert bei R O N Z A N I : FORMAZIONE, S. 67 ff. Diese stellen einen Beleg für die Repräsentationsfunktionen dar, die der Domplatz für die Kommune erfüllte. Aufgrund des engeren Rahmens der vorliegenden Arbeit kann nur an einigen wenigen Stellen auf die weitere Entwicklung verwiesen werden.
284
Geschichte im Stadtraum - Die Stadt als Erinnerungsraum
angesprochenen Geländebeschaffenheit Brachland, so finden sich nach der Erneuerung der Entwässerungsanlagen im frühen Mittelalter 1 landwirtschaftlich genutzte Flächen mit entsprechenden Gebäuden bzw. Hütten in unmittelbarer Nähe der Sakralbauten. 2 Auch nach dem Baubeginn des neuen Domes ist eine solche Nutzung zumindest fur ο
Teile des heutigen Domplatzes nachzuweisen, der bis zu den Umstrukturierungen des 13. Jahrhunderts noch seinen im wesentlichen ruralen Charakter bewahrt hat. 4 In diesem durch die landwirtschaftliche Nutzung geprägten Gelände befand sich eine Reihe heute zum Teil verschwundener Gebäude. Im Bereich zwischen dem Camposanto des 13. Jahrhunderts und der Nordwestecke des heutigen Domes haben archäologische Grabungen die frühmittelalterliche Insula episcopalis erschlossen (Abb. II). 5 Neben einem Kirchenbau des 6. Jahrhunderts ist hier vor allem dessen Erweiterung aus dem 9. Jahrhunderts von Interesse.6 In beiden Fällen handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um die seit 748 nachzuweisende Bischofskirche Pisas. 7 Wann der Bau des 9. Jahrhunderts endgültig abgerissen worden ist, kann nicht genau bestimmt werden. Es ist jedoch sicher davon auszugehen, daß der Vorgängerbau zumindest in der ersten Phase des romanischen Neubaus noch bestand und genutzt wurde. Ein Abriß war ja zunächst auch gar nicht notwendig, da der Neubau vor der Erweiterung räumlich nicht mit dem älteren Bau kollidierte.8 Nicht ganz von der Hand zu weisen ist die Vermutung, der alte Bau sei erst nach der Weihe des Neubaus durch Gelasius II. (1118) abgerissen worden. 9 Die zu diesem Zeitpunkt erfolgte Einlagerung von Reliquien in den Altar läßt vermuten,
1
V g l . h i e r z u REDI: PISA COM'ERA, S . 9 2 f f .
2
So wird in einem Libellarvertrag des 10. Jahrhunderts ein Grundstück „prope domum sancte Marie " vergeben. Der Libellar wird verpflichtet „ infra ipsa petia de terra cassina levare et claudere [...] et ibidem residere" (Libellarvertrag, Pisa, 25. Mai 985; RCPi Nr. 63, S. 36). Vgl. zu frühmittelalterlichen Belege fur die Nutzung des späteren Domplatzes GARZELLA: PISA COM'ERA, S. 22 ff. Erzbischof Daibert tauscht 1092 ein Stück Land gegen „unam petiam de terra habentem cassinas, orto et terra vacua," gelegen ,/oras civitatem Pisam, prope ecclesiam sancte Marie" (Urkunde, Pisa, 31. Dezember 1092, RCPi Nr. 210, S. 125 f.). Nach GARZELLA: PISA COM'ERA, S. 8 1 hatte das Gebiet „cartteristiche semirurali denunciate del prevalere dei suoli non edificati, in parte occupati da orti, e dalla qualitä dei pochi edifici [...] sovrastanti" zu. Vgl. zur Interpretation der archäologischen Befunde REDI: PISA COM'ERA, S . 59-77 und REDI: PIAZZA, S . 44 ff. sowie die Beiträge in PANI ERMINI / STIAFFINI: BATTISTERO. Dieser liegt teilweise unter der Fassade des heutigen Domes. Vgl. unten S. 317 ff. Sollten die in Abb. 11 dokumentieren Rekonstruktionsversuche Redis stimmen, so wäre der alte Bau des 6. Jahrhunderts im 10. Jahrhundert durch einen größeren Neubau ersetzt worden (vgl. zu dieser Erweiterung REDI: PISA COM'ERA, S. 74 f.). Ein solcher Neubau ist jedoch nicht in der dokumentarischen Überlieferung nachzuweisen. Gerade dieser Umstand mag Grund für den um einige hundert Meter in Richtung Stadt verschobenen Bauplatz der neuen Kathedrale gewesen sein (REDI: PIAZZA, S. 55).
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REDI: PISA COM'ERA, S . 3 5 4 .
Der Komplex des Domplatzes
285
daß diese sich zuvor noch im Altar des alten D o m e s befunden haben. 1 Erst danach konnte die alte Kathedrale aufgegeben werden. Nördlich der heutigen Domfassade im Bereich des Camposanto haben archäologische Grabungen Reste eines seit dem 6. Jahrhundert genutzten Baptisteriums zutage gefördert. 2 A u c h dieses hat sicherlich noch bis in die Mitte des 12. Jahrhunderts fortbestanden. 3 Im Bereich der frühmittelalterlichen Insula episcopalis befanden sich auch weitere Gebäude, so das Hospital der Kanoniker, 4 ursprünglich sicherlich auch die schon oben angesprochene domus des Bischofs 5 und die Gebäude der Domkanoniker. D i e s e sind an dieser Stelle urkundlich bis zum Ende des 11. Jahrhunderts nachzuwei6
sen. Südöstlich des frühmittelalterlichen Gebäudekomplexes der Insula episcopalis entstand seit 1064 der romanische Neubau des Domes. Mit diesem eng verbunden waren die erstmals in einer Urkunde Erzbischof Daiberts von 1092 erwähnten Gebäude der Opera. 7 Sie lagen bis zur grundlegenden Umstrukturierung des Dombereichs im 13. 1
Vgl. den Bericht der Historia consecrationis und zur Weihe allgemein
S C A L I A : CONSACRAZIONE
1 9 9 2 , SCALIA: CONSACRAZIONE 1 9 9 3 , SCALIA: CONSACRAZIONE 1 9 9 5 . 2
Vgl. zu den archäologischen Befunden PANI ERMINI: BATTISTERO und wiederum R E D I : PISA S. 5 9 ff. und R E D I : PIAZZA, S. 4 4 ff. (mit Abbildungen). Der Neubau des heutigen Baptisteriums wurde 1152 begonnen (Bernardo Maragone: Annales Pisani, S. 14: ,^4. D. MCLIII, XVIII kal. Septembris, iditione XV, fundatus est primus girus ecclesie Sancti Iohannis Baptiste"). Die erste urkundliche Erwähnung des alten Baptisteriums stammt aus dem Jahr 953 (Urkunde 18. November 953, CACPi 1, Nr. 3). Einen Fortbestand des Gebäudes bis in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts (wenn nicht gar bis 1244) nimmt F. R E D I : PISA C O M ' E R A , S. 99 an. Vgl. auch detaillierte R E D I : PIAZZA, S. 130. Vgl die erste urkundliche Erwähnung in einer Schenkung von 1086 an das „hospitali pauperum, qui est edificato prope ecclesiam sancte Marie et sancti Iohannis Batiste et pertinet regulari canonice suprascripte ecclesie" (Pisa, 31. Mai 1086, CACPi 3, Nr. 33, S. 80). Ob das Hospital schon vorher bestand, ist nicht sicher zu klären. Für eine Gründung in dieser Zeit spricht sich G A R Z E L L A : PISA C O M ' E R A , S. 8 3 aus. Ebensowenig ist klar, wann das Hospital der Kanoniker an die Südseite des heutigen Domplatzes, an die Ecke zur Via Santa Maria wechselte, wo es seit dem Ende des 13. Jahrhunderts belegt ist. Vgl. zum Hospital R O N Z A N I : FORMAZIONE, S. 2 8 ff. Vgl. oben S. 268 f. Wann der Neubau der Kanonikergebäude an der Südseite der neuen Kathedrale entstand, wird kontrovers diskutiert. So sieht M . Ronzani ( R O N Z A N I : FORMAZIONE, S. 2 6 f.) schon in den seit 1 0 8 9 in Urkunden auftauchenden „claustra canonice ecclesie S. Marie" (CACPi 3 , Nr. 4 0 , S. 9 3 - 9 5 , Zitat S. 95) das neue Gebäude, das 1214 durch die Kommune abgerissen wurde (dazu oben S. 280, Anm. 6). Das alte Gebäude wäre dann entsprechend bis 1074 nachzuweisen (Urkunde, 20. Febr. 1074, CACPi 2, Nr. 74). F. Redi sieht dieses neue Stiftsgebäude erstmals in einer Urkunde aus dem Jahr 1 1 0 0 erwähnt ( R E D I : PISA C O M ' E R A , S. 1 1 3 f.). Die von ihm als Beleg angeführte Urkunde nennt aber - ebenso wie die von Ronzani als ersten Belege angesehene - nur die „claustra predicte canonice" (Urkunde, 1 1 . Juni 1 1 0 0 , CACPi 3 , Nr. 7 9 , S. 1 8 4 f.). R E D I : PISA C O M ' E R A , S. 3 8 1 , Anm. 134 hält es jedoch für möglich, daß auch hier noch die Stiftsgebäude der alten Bischofskirche gemeint sind. Pisa, 31. Dezember 1092, RCPi Nr. 210, S. 125 f. Ein Grundstück grenzt „in terra et in casa de opera S. Marie." Vgl. zur Interpretation RONZANI: FORMAZIONE, S. 3 2 . Zu einer möglichen kurzfriCOM'ERA,
3
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7
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Geschichte im Stadtraum - Die Stadt als
Erinnerungsraum
Jahrhundert hinter der Apsis des heutigen Doms, zwischen dem Lauf des Auser und der in die Stadt bzw. zum erzbischöflichen Palast1 fuhrenden Pforte (posterula).2 Südlich des Domes Schloß sich seit dem Anfang des 12. Jahrhunderts das Kapitelgebäude der Kanoniker an.3 Dessen Lage und Gestalt ist durch eine Reihe von Zeugnissen belegt. Der Grundriß des Gebäudes ist auf dem heutigen Rasen vor dem Dom mittels der Luftbildfotografie nachgewiesen. Es schloß sich bei quadratischer Grundform unmittelbar an die südliche Seitenschiffwand und die westliche Querschiffwand des Neubaus an. Die überdachten Räume waren um einen Innenhof gruppiert, der sich unmittelbar an die südliche Seitenschiffwand anschloß.4 Neben der Luftbildarchäologie findet sich von diesem Gebäude eine - wenn auch deutlich spätere - bildliche Darstellung.5 Die Zeichnung zeigt ein Gebäude, dessen Wände bis an die Höhe der Monoforen des südlichen Seitenschiffes reichen, und das ein Dach trägt, das bis zum Anfang der zweiten Ordnung der Wand reicht. Man würde der Darstellung aufgrund ihrer späten Entstehungszeit kein Gewicht beimessen, wenn sie nicht exakt den Befunden am Mauerwerk des Domes entspräche.6 Wie auch in der bildlichen Darstellung zu erkennen, nimmt die Breite des Gebäudes nicht die gesamte Seitenschiffwand des Doms ein, sondern endet fünf Blendbögen vor der heutigen Fassade der Kathedrale. Genau an dieser Stelle setzt heute die mit dem Namen des Baumeisters Rainald verbundene Erweiterung der Kathedrale an, die weiter unten noch eigehender betrachtet wird.7 Neben der nach außen fuhrenden Türe im Osten der Kapitelgebäude führten zwei weitere - noch heute vorhandene - Türen in das Seiten- bzw. in das Querschiff des Domes.8 Gerade der Grundriß und der Anschluß des Gebäudes an das Seitenschiff mit direktem Zugang in das Kircheninnere lassen vermuten, daß es sich um eine Art Kreuzgang handelte, der
stigen Nutzung dieser Gebäude als Sitz des Erzbischofs Petrus RONZANI: FORMAZIONE, S. 3 7 ff. Seit 1104 ist hier auch eine ,jala Opere sancte Marie" belegt (Urkunde Pisa, 23. Juli 1104, CACPi 4 , N r . 2 3 , S . 5 0 - 5 1 ) . V g l . GARZELLA: P I S A C O M ' E R A , S . 1 4 5 . 1
2 3 4
Vgl. zu dessen Position in der Nordwestecke der frühmittelalterlichen Civitas oben S. 269, Anm. 1 und Karte 1 (Curia des Bischofs). Zu weiteren Gebäude in der Nähe der ,posterula' GARZELLA: PISA COM'ERA, S. 145 f. Vgl. zur Datierung des Gebäudes oben S. 285, Anm. 6. Vgl. die Fotos bei SCHMIEDT: APPLICAZIONI. Dieser hatte die aufgefundenen Strukturen jedoch noch mit einer antiken Bebauung des Domplatzes identifiziert. Vgl. hingegen die Neuinterpretation durch REDI: PISA COM'ERA, S. 114 und vor allem die Beschreibung des Grundrisses ebd., S. 381:
5
6
„esso ebbe pianta quasi quadrata, con ambienti distribuiti lungo tre lati eccetto quello aderente alla navata meridionale e collegati da una tettoia a portico quadrilatera." Abb. 12. Es handelt sich um die Darstellung der Weihe der Kathedrale durch Gelasius II. 1118 auf einem heute im Museo dell'Opera (Saal 16) aufbewahrten Pergament aus dem 15. Jahrhundert. So finden sich an den Pilastern der Seitenschiffwand auf zwei Ebenen Aussparungen im Stein, die der Befestigung des Daches des Kapitelgebäudes an der Wand dienten. Vgl. die Interpretation der B e f u n d e bei REDI: PIAZZA, S. 107 f. und die Abbildungen ebd., S. 108 und 109.
7
8
Vgl. unten S. 317 f. Gerade dieser Zusammenhang macht wahrscheinlich, daß das Kapitelgebäude der Kanoniker vor dieser Erweiterung des Domes erbaut wurde. Die in das Seitenschiff führende Türe ist heute vermauert, vgl. REDI: PIAZZA, S. 108.
Der Komplex des
287
Domplatzes
die Kirche mit den anderen Gebäuden der Kanoniker verband. 1 Diese hätten sich entsprechend an den Kreuzgang angeschlossen. Belegt ist seit 1101 ein Hospital der Kanoniker, 2 doch wird es dort sicher weitere Gebäude gegeben haben. 3 Der ganze Gebäudekomplex der Kanoniker wurde zu Beginn des 13. Jahrhunderts auf Initiative der Kommune beseitigt, wodurch die heutige Platzsituation entstand. 4 3. Die Verkehrssituation am Dom Über die Wahrnehmung der Inschriften und anderen Monumente entscheiden neben deren Position am Baukörper vor allem zwei Faktoren. Zum einen ist hier die Nutzung der entsprechenden Gebäudeteil bzw. der vor den Monumenten liegenden Freiflächen von Bedeutung. Sie bestimmt den Kontext, in dem es zur spontanen oder rituellen Aktualisierung und Wahrnehmung der dort verewigten Aussagen kommt. 5 Daneben beeinflußt aber gerade auch die Verkehrssituation die Rezeption der Monumente. Sicht- und Verkehrsachsen lenken den Blick aus bestimmten Winkeln auf die Monumente bzw. erschweren oder verhindern deren Wahrnehmung. Die bisher zusammengetragenen Informationen über die Bebauung des heutigen Domplatzes stellen schon einen ersten Schritt zur Rekonstruktion der hochmittelalterlichen Einbindung des Domes in den Stadtraum dar. Der Bauplatz des heutigen Doms lag wie der seiner Vorgängerbauten außerhalb der Stadtmauern der frühmittelalterlichen Stadt. Im Norden wurde der Bereich des Domes durch den Lauf des Ausers begrenzt, der etwa auf der Linie der heutigen Via Contessa Matilde - jenseits der noch heute existierenden kommunalen Mauer Pisas - flöß (vgl. Karte 2). Nordwestlich des Neubaus Schloß sich der Gebäudekomplex der frühmittelalterlichen Insula episcopalis an. Während zu Beginn des 12. Jahrhunderts die alte Bischofskirche und die Kapitelgebäude der Kanoniker abgetragen wurden, blieb das frühmittelalterliche Baptisterium im Bereich des heutigen Camposanto wohl noch bis ins 13. Jahrhundert in Funktion. Östlich des Chors des neuen Doms lagen die Gebäude der Domopera. Hinter diesen verlief die frühmittelalterliche Befestigung der Stadt, die das Gelände des Domplatzes nach Osten begrenzte. Eine Posterula und die später nachzuweisenden Porta Archiepiscopi verbanden den Dom mit der Stadt bzw. dem sich anschließenden (Erz-)Bischofspalast. Die stärksten Veränderungen im Vergleich zur heutigen Situation betreffen die Südseite des Domes. Diese bildet heute gewissermaßen die Schauseite des Domes, da die 1
V g l . d i e A u s f ü h r u n g e n z u m K r e u z g a n g b e i BINDING: KLOSTER.
2
Urkunde Pisa, 20. Februar 1101: ,J1actum Mariq"
infra claustra
( C A C P i 4 , N r . 2 , S. 4 f.). V g l . REDI: PISA COM'ERA, S.
hospitii
suprascripte
ecclesie
sancte
114.
3
Ob das 1145 gegründete Frauen-Hospital an die Gebäude der Kanoniker angrenzte oder aber im Bereich der alten Bischofskirche nordwestlich des Doms lag, ist nicht zu bestimmen. Vgl. REDI: PI-
4
Vgl. dazu die schon oben S. 280, Anm. 6 genannte Literatur und ausfuhrlich zur Platzgestaltung
SA C O M ' E R A , S . 1 1 4 u n d G A R Z E L L A : P I S A C O M ' E R A , S .
146.
n a c h d e m 12. Jahrhundert REDI: PIAZZA, S. 1 4 9 ff. 5
Vgl. die Ausführungen zur Nutzung des Domplatzes unten S. 290 ff.
288
Geschichte im Stadtraum - Die Stadt als
Erinnerungsraum
meisten Besucher den Domplatz durch die erst in florentinischer Zeit geöffnete Porta Nuova betreten. In der hier interessierenden Zeit ist die Südseite des Domes jedoch zum größten Teil durch die Gebäude des Domstifts verdeckt. Südlich von diesen schloß sich ein sumpfiges Gelände an, das durch die 1125 in den Quellen erwähnte fossa flumina entwässert wurde.1 Noch offen ist bisher, wie die Situation an der Westseite des Neubaus aussah, dort, wo seit 1152 durch Deotisalvi das neue Baptisterium errichtet wurde.2 Einerseits läßt sich für das Gebiet westlich des Domes eine landwirtschaftliche Nutzung belegen.3 Hier lag aber auch der Friedhof des Doms.4 Dieser wird erhebliche Ausmaße gehabt haben, da die Kanoniker seit dem 10. Jahrhundert das Begräbnisrecht fur die gesamte Stadt hatten, das nur in Ausnahmefallen übergangen werden konnte.5 Zunächst vermutlich südlich des neuen Baus liegend,6 ist der Friedhof schon in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts derart angewachsen, daß er den Raum zwischen der Fassade der Kathedrale und dem Neubau des Baptisteriums einnahm.7 Neben der so zumindest in Umrissen erkennbaren hochmittelalterlichen Umgebung des Domes müssen noch die dort nachzuweisenden wichtigsten Verkehrswege berücksichtigt werden. Gerade weil der Dom im 11. und 12. Jahrhundert nicht im Mittelpunkt eines Platzes lag, der einen Zugang zum Gebäude aus allen Richtungen ermöglichte, sondern von Gebäuden und landwirtschaftlich genutzten Flächen umgeben war, sind die Verkehrsachsen, also Straßen und Wege, die auf den Dom zuführten, von großer Bedeutung für die Einschätzung der intendierten und möglicherweise auch der tatsächlichen Wirkung der ausgestellten Monumente.
1125 war dieser Entwässerungsgraben möglicherweise aber schon nicht mehr in Funktion. Vgl. GARZELLA: PISA COM'ERA, S . 1 7 7 s o w i e REDI: PISA COM'ERA, S . 1 5 u n d 9 4 . 2
V g l . z u d i e s e m CALECA: DOTTA MANO.
3
So sind in unmittelbarer Nähe der Gebäude des Domstifts auch dessen Gärten gelegen. So erwerben die Kanoniker 1122 ein Stück Land „cum orto posita prope ipsam canonicam" (Urkunde, 16. Oktober 1122, zitiert nach GARZELLA: PISA COM'ERA, S. 146, Anm. 240). Vgl. zu weiteren Belegen für die Gärten der Kanoniker GARZELLA: PISA COM'ERA, S. 146. Für die weiter von der Stadt entfernten Flächen im Westen des Doms, die möglicherweise erst im Laufe des 11. Jahrhunderts entwässert worden sind, nimmt Garzella den Anbau von Getreide an (ebd., S. 147). Sicher belegt ist die Konzentration von Besitz vor allem der Kanoniker im Osten der Kathedrale (in Catallo, vgl. die B e l e g e b e i GARZELLA: PISA COM'ERA, S . 8 2 f. u n d S . 1 4 7 ) .
4
V g l . z u d e n F r i e d h ö f e n d e s D o m e s a l l g e m e i n RONZANI: CIMITERO 1 9 9 6 u n d RONZANI: CIMITERO
5
Erstmals belegt in der Urkunde Ottos III. für die Kanoniker von 996 (DO.III. Nr. 224). Vgl. zu den rechtlichen Aspekten ausführlich RONZANI: CIMITERO 1 9 9 6 , S. 4 9 ff., zur Ablösung durch Geldzahlungen ebd., S. 50 ff.
6
RONZANI : CIMITERO 1 9 9 6 , S . 5 1 .
1988.
7
Der erste Beleg des Friedhofs geht auf das Jahr 1110 zurück (Urkunde, 21. November 1110, Antiquitates Italicae III, Sp. 1113-16 und RCPi Nr. 236, S. 144-146, hier S. 146: „hactum in cimiterio predicte ecclesie S. Marie"). 1237 fand ein „publicum parlamentum" „in cimiterio pisane maioris ecclesie, prope ecclesiam S. Iohannis Baptiste" statt (Dokument abgedruckt bei CRISTIANI: NOBILTÄ, Anhang, Dok. II, S. 500-506).
Der Komplex des
289
Domplatzes
Schon oben wurde festgestellt, daß die heutige Situation, die den Blick von Süden auf den Dom privilegiert, nicht der hochmittelalterlichen entsprach. Die Hauptverkehrsachse des Domplatzes war eine Straße (via publica), die aus Nordwesten vom Ufer des Auser kommend die frühmittelalterliche Insula episcopalis durchschnitt - also zwischen altem Dom und altem Baptisterium verlief - und an der Nordseite des neuen Doms entlang führte (vgl. Karte 2).' Daß gerade an dieser Stelle mit der Porta Leone die neue Stadtbefestigung des 12. Jahrhunderts begonnen wurde, 2 ist sicher als Beleg für die Bedeutung dieser Straße zu werten, die in nordwestlicher Richtung nach Ligurien und von dort nach Frankreich bzw. über den Cisa-Paß nach Norditalien führte. 3 Die Verlängerung dieser Straße führte an der Apsis des Domes vorbei durch die Posterula in der Nordwestecke der frühmittelalterlichen Mauer in die Stadt. 4 Vor der Apsis des Doms traf sich dieser Via Archiepiscopi genannte Straßenabschnitt 5 mit der von Süden kommenden Via sancte Marie. Diese wichtige Verkehrsachse der mittelalterlichen Stadt führt von dem am Arno-Ufer liegenden palatium der Markgrafen 6 entlang des Grabens der frühmittelalterlichen Stadtbefestigung zum Dom. 7 Auf der Grundlage dieser Daten ergibt sich ein recht eindeutiges Bild der Einbindung des Doms in die urbanistische Gesamtsituation. Anders als heute lag dieser nicht im Mittelpunkt eines städtischen Platzes, sondern in einer nur schwach besiedelten landwirtschaftlich geprägten Umgebung. Das Areal des Domes war von Norden und Süden durch feuchtes Gelände bzw. Entwässerungsgräben und den Lauf des Auser abgeschlossen. Die an der Nordseite des Domes entlang führende Straße von und nach Ligurien und Norditalien, sowie die von der Stadt auf die Apsis zulaufenden Straßenzüge
1
2
3
4
Vgl. Urkunde Pisa, 11. Juni 1100 CACPi 3, Nr. 79, S. 184-185. Pisanus, ,/ilius quondam Ciacci", erhält in einem Libellarvertrag von den Domkanonikern „una petia de terra, que est orto, que videtur esse posita foras civitatem Pisam prope ipsam ecclesiam [sancte Marie, MH] et est pertinens suprascripte ecclesie: tenet unum caput in flumine Auseris, aliud in via publica, latus unus tenet in terra suprascripte ecclesiς, aliud in terra Odimundi quondam Guidonis et de nepotibus suis" [Hervorhebung von mir, MH]. Hierbei handelt es sich offensichtlich um ein Grundstück westlich oder östlich des Doms, das zwischen dem Auser und der parallel zu diesem verlaufenden Via publica lag. Vgl. Bernardo Maragone: Annales Pisani, S. 16: j m f TTMiA F P / i i
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A b b . 26
Pisa, Dom. Tympanon-Inschrift für Busketus. Foto: Verf.
A b b . 27
Pisa, Dom. Detail der Inschriftentafel A. B. Zu erkennen ist die Ergänzung der unteren linken Ecke
der Inschriftentafel. Buchstabenform und Linienschnitt lassen vermuten, daß die Ergänzung in zeitlicher Nähe und durch den gleichen Steinmetz v o r g e n o m m e n wurde. Foto: Verf.
514
Abb. 28
Tafelteil
Pisa, Dom. Die Guido-Inschrift (B) im Kontext der Inschriftenplatte A/B. Foto: Verf.
Tafelteil
A b b . 29
Pisa. Dom. Guido-Inschrift (B). Foto: Verf.
516
Tafelteil
Abb. 30 Pisa, Dom. Monument für Busketus, Detailansicht mit der Front des Sarkophags des Busketus. Die Sarkophagfront springt vor und ist mit Sicherheit vor dem Einbau beschnitten worden. Foto: Verf.
Tafelteil
517
518
Tafelteil
Abb. 32 Pisa, Dom. Gesamtansicht des Portalgeschosses der Fassade. In den beiden nördlichen Interkolumnien die hochmittelalterlichen Inschriften A—E. Foto: Verf.
Abb. 33 Pisa, Dom. Portalgeschoß der Fassade mit Hilfslinien. Zu erkennen ist der unterschiedliche Abstand zwischen den horizontalen Steinschichten und das Verhältnis der Inschriftenplatten zu dieser Gliederung der Fassade. Foto: Verf.
519
Tafelteil
Abb. 34
Pisa, Dom. Nördliches Portal der Fassade. Links und rechts des Portals die hochmittelalterlichen
Inschriften. Foto: Verf.
Abb. 35 Pisa. Dom. Blick auf die Fassade von Nordwesten. Zu erkennen ist die durchgehende horizontale Gliederung von Fassade und Seitenschiffwand des zweiten Bauabschnitts durch helle und dunkle Steinschichten. Foto: Verf.
520
Abb. 36
Tafelteil
Pisa, Dom. Nördliches Portal der Fassade mit Umsetzung der Interpretation der Befunde. Foto: Verf.
Abb. 37 Pisa, Dom. Blick auf die Dachzone des Chores von Südosten. Auf dem Giebel des Chordaches die islamische Greifenplastik (heute durch eine Kopie ersetzt). Foto: Verf.
Tafelteil
521
Abb. 38—40 Pisa, Museo dell'Opera. Islamischer BronzeGreif vom Dach des Domes. Fotos: Verf.
522
Abb. 42
Tafelteil
Pisa, Dom. Epitaph der sog. ,Regina di Mallorca' (E) an der Domfassade. Foto: Verf.
523
Tafelteil
A b b . 43
Pisa, Dom. Lisene des
nörd-
A b b . 44
Pisa, Dom. Lisene der nörd-
lichen Langhauses mit Inschriftenfragment
lichen Langhauswand mit Inschriftenfrag-
Nr. 70 (von Osten). Foto: Verf.
ment Nr. 71 (von Osten). Foto: Verf.
Abb. 451
Pisa, Dom. Lisene der süd-
lichen Langhauswand mit Inschriftenfragment Nr. 19 (von Südosten). Foto: Verf. A b b . 46 ->
Pisa, Dom. Lisene der süd-
lichen Langhauswand mit Inschriftenfragment Nr. 20 (von Südosten). Foto: Verf.
524
Abb. 48
Tafelteil
Pisa, Dom. Stufen vor der Apsis mit antikem Inschriftenfragment Nr. 51. Foto: Verf.
Tafelteil
Abb. 50
525
Pisa, Dom. Nördliche Außenwand des Chores mit Inschriftenfragmenten (von Norden). Foto: Verf.
Tafelteil
Abb. 51 Pisa, Dom. Nordöstliche Ecke des Chores mit Inschriftenfragment Nr. 66 und frühmittelalterlicher Spolie (von Osten). Foto: Verf.
Abb. 52 Pisa, Dom. Nordöstliche Ecke des Chores mit Inschriflenfrgament Nr. 67 und frühmittelalterlicher Spolie (von Norden). Foto: Verf.
Tafelteil
527
Abb. 53 Pisa, Dom. Nördliche Außenwand des Chores, Ausschnitt mit kopfstehendem Inschriftenfragment Nr. 68 (von Norden). Foto: Verf.
Abb. 54 Pisa, Dom. Südöstliche Chorecke mit Inschriftenfragmenten (von Süden).
528
Tafelteil
Abb. 55 Pisa, Dom. Antikes Relief an der Südwand des Chores. Foto: Verf.
Abb. 56 Pisa, Museodell'Opera. Arabisches Kapitell. Foto: Verf.
529
Tafelteil
Abb. 57
Pisa. Via San
Martine.
Antikes Sarkophagfragment, im Mittelalter überarbeitet. Der Legende nach eine Darstellung der sog.
.Donna
Kinzica'. die Pisa vor einem Uberfall der Sarazenen gerettet soll. Foto: Verf.
haben