199 39 31MB
German Pages 430 [432] Year 1987
Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung
w DE
G
Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Herausgegeben von
Ernst Behler * Mazzino Montinari (f ) Wolfgang Müller-Lauter • Heinz Wenzel
Band 17
1987
Walter de Gruyter • Berlin • New York
Philosophie und Politik bei Nietzsche von
Henning Ottmann
1987
Walter de Gruyter • Berlin • New York
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Der Autor dankt der Görres-Gesellschaft für die Gewährung eines Habilitationsstipendiums
Anschriften der Herausgeber: Prof. Dr. Ernst Behler Comparative Literature GN-32 University of Washington Seattle, Washington 98195, U.S.A. Prof. Dr. Wolfgang Müller-Lauter Klopstockstraße 27, D-1000 Berlin 37 Prof. Dr. Heinz Wenzel Harnackstraße 16, D-1000 Berlin 33
Redaktion: Johannes Neininger Ithweg 5, D-1000 Berlin 37
Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig — pH 7, neutral)
CIP- Kur^tìtelaufnähme
der Deutschen
Bibliothek
Ottmann, Henning: Philosophie und Politik bei Nietzsche / von Henning Ottmann. [Red.: Johannes Neininger]. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1987. (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung ; Bd. 17) ISBN 3-11-010061-4 NE: GT
© Copyright 1987 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 Printed in Germany Alle Rechte des Nachdrucks, einschließlich des Rechtes der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, vorbehalten. Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin 30 Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin 61
Vorwort Man darf wieder Nietzsche lesen, und doch ist ein Teil seiner Lehre, seine politische Philosophie, noch immer von Legenden umrankt. Für viele liegt auf Nietzsches Werk noch immer der Schatten der Vergangenheit, und man erinnert sich, wie Faschisten und Nationalsozialisten Nietzsche gefeiert haben. Sozialisten haben seit den Tagen von Mehring und Lukäcs Nietzsche bekämpft, und ein Ende der marxistisch-leninistischen Nietzsche-Verteufelung ist nicht in Sicht. Die Väter der kritischen Theorie, Horkheimer und Adorno, haben Nietzsche als Vordenker der „Dialektik der Aufklärung" gewürdigt. Aber für viele steht Nietzsche damit nur im Verdacht, Denker eines Finales der Modernität, des Endes von Aufklärung und moderner Freiheitsverheißung zu sein. Post-Strukturalisten, im Italien und Frankreich von heute, deuten Nietzsche als ultramodernen Befreier und Künder einer „wilden Autonomie". Aber damit scheint sich nur zu bestätigen, was man schon weiß: les extremes se touchent. Es sei denn, es hätten jene recht, die, wie W. Kaufmann und andere, versichern, Nietzsches Lehre habe manchem manches zu bieten, nur keine politische Philosophie. Nietzsche hat kein politisches Hauptwerk geschrieben. Für die Politeia, den Leviathan oder die Hegeische Rechtsphilosophie findet sich in seinem Werk kein Pendant. Er hat überhaupt kein Hauptwerk verfaßt, und daß der sogenannte „Wille zur Macht" keines war und ist, steht heute über allen Zweifel fest. Statt einer ausformulierten Staatslehre begegnen bei Nietzsche immer wieder Staatsfeindlichkeit, Individualismus und eine ästhetisierende Apolitie. Vielleicht darf man auch in Zukunft zweifeln, ob Nietzsche je zu den „Klassikern" der Politik gerechnet werden wird. Nicht zweifeln kann man an der politischen Wirkung seiner Gedanken, und nicht zweifeln sollte man am politischen Gehalt des Werkes selbst. Es gibt bei Nietzsche eine politische Philosophie. Man darf sie nur nicht suchen wollen auf der Heerstraße der politischen Strömungen der Zeit. Es ist nicht zu leugnen: Nietzsche war Antisozialist. Auch hatte er, wie sein Freund und Gegner Piaton, seine Schwierigkeiten mit der Demokratie. Er war gleichwohl weder ein Apologet des Kapitalismus, noch hat er je den Liberalismus gepriesen. Oft ist er der „Magie des Extrems" erlegen. Aber seine Politik ist mit den Extremformen eines Anarchismus oder Präfaschismus nicht zu verwechseln. Ihr Niveau war das einer Auseinandersetzung mit der
VI
Vorwort
Moderne selbst, und vielleicht paßt darauf am besten das aktuelle Verlegenheitswort von der „Post-Moderne". Nietzsches politische Philosophie teilt mit dieser höchst unterschiedliche Stellungen des Gedankens zur Modernität, und Nietzsche hat verschiedene Konstellationen noch-moderner, hyper-moderner und bereits nach-moderner Gedanken erprobt. Naheliegende Fragen, die diese Untersuchung nicht mehr ausführlich diskutiert, sind inzwischen anderswo erörtert worden. Was „post-moderne" Politik bei Nietzsche heißen könnte, ist dargestellt in dem Artikel „Nietzsches politische Philosophie. Versuche in post-moderner Politik" (Bayreuther Beiträge %ur Literaturwissenschaft Bd. 3, hg. von W. Gebhard, Bern 1987; vorabgedruckt in: Nürnberger Blätter 3. Jg., Nr. 5 [1987] 7 — 8). Die in diesem Buch manchmal gestreifte Frage nach dem Status der Philosophie Nietzsches (S. 172 ff., S. 346 ff.) behandelt jetzt ausführlicher der Artikel „Nietzsches Perspektivismus" (in: Gewißheit und Gewissen. Festschrift für Fran% Wiedmann %um 60. Geburtstag, hg. v. W. Baumgartner, Würzburg 1987). Nietzsches Stellung zur Aufklärung wie die hier beanspruchte Versöhnbarkeit von Aufklärung und Mythos im Gedanken der Wiederkehr untersucht der Aufsatz „Nietzsches Stellung zur antiken und modernen Aufklärung" (in: Nietzsche und die philosophische Tradition Bd. 2, hg. von J. Simon, Würzburg 1985). Die Untersuchung geht auf eine Anregung von Prof. Dr. R. K. Maurer zurück. Vieles verdanke ich den Kollegen M. Djuric, V. Gerhardt, F. Kaulbach, W. Müller-Lauter und nicht zuletzt M. Montinari, der sich so oft zum Gespräch bereit fand. Wichtige Hinweise habe ich von Dr. E. Voß von der Wagner-Gesamtausgabe, H. E. Lampl und Dr. R. Margreiter erhalten. Im Wintersemester 1983/84 lag diese Studie der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität München als Habilitationsschrift vor. Für deren freundliche Beurteilung danke ich meinem Lehrer, Prof. Dr. N. Lobkowicz, Prof. Dr. P. C. Mayer-Tasch und Prof. Dr. P. J. Opitz. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat den Druck bezuschußt. Der Verlag und Prof. Dr. H. Wenzel haben die sich verzögernde Drucklegung mit äußerster Geduld ertragen. Dr. E. Schreiber hat das Manuskript als erster kritisch gelesen. Möge es mehr solche Leser finden! Basel, im März 1987
H. Ottmann
Inhaltsverzeichnis Vorwort
V
Einleitung
1
Teil A: Deutscher und Grieche (1858-1876) I.
Konventionelle Anfänge (1858-1870)
11
1.1. 1.2. 1.3. 1.4.
Freiheit, Einheit, Republik (1858-1865) Preuße und Nationaler (1865-1868) Vom Borussophilen zum Gegner Preußens (1868 — 1870) . . . Von imperialer Größe zur Größe der Kultur oder Nietzsche und Burckhardt (1870/71)
11 14 16
II.-IV. II.
Unzeitgemäße Philosophie und Politik (1870-1876) Nietzsche als Kritiker und „Arzt der Cultur"
22 22
II. 1.
Die Verkehrung oder Staat und Gesellschaft als Herrscher über die Kultur Nietzsche als Kritiker von Sozialismus und Kapitalismus oder Ahnung eines unbekannten Nietzsche Exempla des Kulturverfalls (mit besonderer Berücksichtigung von D. Fr. Strauß, E. v. Hartmann, E. Dühring) Historie als Nachteil für das Leben Das antik-moderne Vexierbild: Der Sokratismus als Krankheit der Kultur
11.2. 11.3. 11.4. 11.5.
III.
Griechische Vorbilder
111.1.
Der Staat als Diener der Kultur. Oder: Nietzsches ästhetisierender Piatonismus Die Kultur: aristokratisch, heroisch, agonal. Oder: Noch einmal Nietzsche und Burckhardt Die Metaphysik: vor-sokratisch und herakliteisch, ästhetisch und tragisch-mythisch
111.2. 111.3.
18
23 25 31 35 38 43 44 48 51
VIII
111.3.1. 111.3.2. 111.3.3. 111.3.4. 111.3.5. 111.3.6.
IV. IV. 1. IV.2 IV.2.1. IV,2.2. IV.3. IV.3.1. IV.3.2.
IV.3.3.
Inhaltsverzeichnis
Nietzsches Rückkehr zu den Vorsokratikern oder Nietzsches Heraklitismus Die Artistenmetaphysik: Apollon und Dionysos oder die Rückkehr zum tragischen Mythos Apollinisch-dionysisch: Geniale Deutung des Griechentums oder „genialer Irrtum"? Apollinisch-dionysisch oder Nietzsches antiklassische Klassik Apollinisch-dionysisch oder die Vagabondage eines Begriffspaares Apollinisch-dionysisch politisch besehen oder die Wiedergewinnung der Nüchternheit Deutsche Hoffnungen oder Nietzsches politische Mythologie der Deutschen
51 56 63 65 68 71
76
„Ritter, Tod und Teufel" oder der Antichrist in der Maske des Protestanten 78 Schopenhauer als Erzieher oder der Widerstreit von Politik und Kultur 83 ^Schopenhauers Heroismus — politischer Anspruch und privatistische Tendenzen 83 Schopenhauers Politik und ihre Radikalisierung durch Nietzsche 89 Wagner und Nietzsche 94 Gemeinsamkeiten, unübersehbare 94 Bedenkenswerte Differenzen: Humanität statt Rassismus, überdeutsche Ideale statt Chauvinismus, Zukunft statt Gegenwart 99 Nietzsches Politik und sein Kulturideal im Umbruch 106
V.
Zwischenbetrachtungen
109
V.l. V.2.
Nietzsches frühe Politik — Größe und Grenzen Wahrheit und „Lüge"
109 113
Teil B. Europäer und Freigeist (1876-1882) I.
Neue Politik und Ökonomie
124
1.1.
Nietzsches Lehre vom Absterben des Staates. Die Notwendigkeit eines geeinten friedlichen Europa und die Unaufhaltsamkeit der Demokratie 124
Inhaltsverzeichnis
1.2.
IX
1.2.2. 1.2.3.
Annäherung an bürgerliche und sozialistische Welt bei bleibender Distanz Antibürgerliches, speziell Anti-Utilitaristisches und AntiSozialdarwinistisches. Nietzsche gegen Bentham, Spencer, J. St. Mill Antisozialistisches, verdeckt und offen Gegenprobe: Versteckte Apologie des Kapitalismus?
II.
Antike und moderne Hintergründe
II. 1.
11.3.
Nietzsches politischer Piatonismus. Von der „Politeia" zu den „Nomoi" 147 Stoisches-Epikureisches. Nietzsches antikisierende Aufklärung 150 Die moderne Antithese: Voltaire versus Rousseau 156
III.
Nietzsches „kritische Theorie"
164
111.1. III. 1.1. 111.1.2.
Versuch einer Emanzipationsphilosophie ohne „Ursprung" . Der scheinbare Positivismus der „kritischen Theorie" Befreiung ohne ursprungsphilosophischen Rest. Die Zerstörung von Objekt und Subjekt der Metaphysik Philosophieren nach dem Verlust des Ursprungs. Oder: Kann es ein ursprungsloses Denken geben? Abschlußloses Denken und aphoristische Form Historische Rechtfertigung und historischer Parasitismus . . Experimentalphilosophie, fast noch Kantische Unliebsame Alternativen: Regreß, Dogmatik, Selbstbezüglichkeit, „genetic fallacy", Indifferentismus Unmittelbarkeiten und verbaute Auswege: Logischer Empirismus, ästhetisch-anschauliches Philosophieren, evolutionäre Erkenntnistheorie, Pragmatismus, neuere „kritische Theorie" Wege der Befreiung. Nietzsches Lösung vom metaphysischen Ideal der Kunst (Wagner), von der Metaphysik (Schopenhauer), von der Religion und von der Moral Von der erlösenden Kunst zur Kunst, die das Dasein „erträglich" macht. Nietzsche gegen Wagner und das Bündnis der Kunst mit Religion und Metaphysik Die Befreiung von der Metaphysik (Schopenhauers). Nietzsche und A. Spir Erlösung von Furcht und Schuld. Mängel und Bedeutung von Nietzsches freigeisterischer Religionskritik
164 164
1.2.1.
11.2.
111.1.3. 111.1.3.1. 111.1.3.2. 111.1.3.3. 111.1.3.4. III.l .3.5.
111.2.
111.2.1.
111.2.2. 111.2.3.
129
130 138 141 147
167 172 172 174 176 177
179
181
181 187 192
X
Inhaltsverzeichnis
III.2.4.
Moral für freie Geister. Nietzsches mißverständlicher Immoralismus 111.2.4.1. Gründe der „Unverantwortlichkeit": Unschuld des Daseins, Notwendigkeit des Geschehens, Fragwürdigkeit der Verantwortung für andere 111.2.4.2. Von der Verantwortung des Immoralisten. Nietzsches antikisierende und spinozistische, pluralistisch-tolerante und individualistische Autonomiemoral 111.2.4.3. Der Immoralismus als fragwürdige Moral
203
204
210 213
IV.
Aufklärung an ihrem Ende. Macht und Ohnmacht des emanzipierten Subjekts 216
V.
Macht und Recht
220
V.l. V.2.
Nietzsche und Thukydides Machtlehre und Naturrecht
220 226
Teil C. Philosoph des „Menschen" und der „Erde" (1880/82-1889) I.
Große Politik
1.1.
Daß „große Politik" Politik ist. Vom Mißverständnis reiner Moralphilosophie Noch einmal: Größe der Kultur, nicht der Imperien. Antideutsche und europäische, auf die Größe des Menschen selbst zielende Utopie Zucht und Züchtung. Naheliegende Gründe und nachweisbare Irrtümer der rassistischen Legendenbildungen Rassismus, Gobineauismus, Darwinismus. Gründe des Verdachts Anti-Antisemitismus Die „blonde Bestie". Entmythologisierung einer Legende . . Der moralische Sinn der „Züchtung" Platonische Paideia und antiplatonisches Experiment mit der Wiederkunftslehre. Rassistische Nebenbedeutung, zentraler moralischer Sinn Die Lösung des Darwinismusproblems (wie des Gegensatzes von Progressismus und Wiederkehr) Historische Vorbilder der „großen Politik"
1.2.
1.3. 1.3.1. 1.3.2. 1.3.3. 1.4. 1.4.1.
1.4.2. 1.5.
239 239
240 245 246 249 253 262
262 265 270
Inhaltsverzeichnis
1.5.1.
XI
1.5.2. 1.5.3.
Unzulässige Aktualisierungen der „großen Politik": Aristokratismus, Monarchismus, Cäsarismus. Nietzsche gegen Spengler 271 Moderner Piatonismus 276 Renaissancismus. Nietzsche und Machiavelli 281
II.
Nietzsches Kritik der politischen Moderne
11.1.
Bleibende Gegnerschaft gegen bürgerliche Gesellschaft und bürgerliche Politik Antikapitalismus, zweideutiger Antiliberalismus, eindeutiger Anti-Sozialismus und Anti-Anarchismus Der Sozialismus als Extrem der bürgerlichen Gesellschaft. Nietzsches Gleichnis vom „letzten Menschen" Anti-Anarchismus — trotz naheliegender Gemeinsamkeiten Nietzsche und Stirner? „Große Politik" zwischen Antike und Moderne. Eine Zwischenbilanz
II. 1.1. II. 1.2. 11.2. 11.2.1. 11.2.2. 11.2.3. 11.3.
293 294 294 297 299 300 304 307 309
III.
Die Korruption der Ohnmacht. Phänomenologische Fruchtbarkeit und polemische Grenzen des Ressentimentbegriffs . . 314
111.1. 111.2. 111.3.
Phänomenologie des Ressentiments 314 Ressentiment als polemischer Begriff 319 Das fragwürdige Beispiel: Jüdisch-christliche Religion und Moral (mitsamt ihren Verbindungen zur modernen Moral und Politik) 322
IV.
Nihilismus, politisch und überpolitisch
IV. 1 IV.2.
Wurzeln des Begriffs. Eine kurze Erinnerung 329 Nietzsche und der russische Nihilismus (Turgenjew, Dostojewski) 331 Nihilismus und „décadence" 335 Theorie des Nihilismus 341
IV.3. IV.4.
329
V.
Versuch über Nietzsches „Versuche". „Wille zur Macht", „ewige Wiederkehr" und „Übermensch" 346
V.l.
Zum Status der späten Philosophie. Noch-Metaphysik oder Post-Metaphysik? „Kritische Theorie" und „Experimentalphilosophie"? „Wildes" oder „offenes" Denken? Systematik und Problematik 346
XII
V.2. V.2.1. V.2.2.
Inhaltsverzeichnis
352 352
V.4. V.4.1. V.4.2.
„Wille zur Macht" Nietzsches Weg zum späten Machtbegriff Subjekt und Welt als „Willen" zur Macht. Oder: Abschied von „Wesen" und „Entelechie" Immanente Schranken der Machtwillen. Oder: Warum die Machtwillen nicht ein „Wille zum Willen" sind Von den Machtwillen zum Gedanken der „ewigen Wiederkehr". Ein antiplatonischer Anodos Die „ewige Wiederkehr des Gleichen" Wiederkehr: kosmologisch-kosmisch Physikalistische Hypothesen Die Unbeweisbarkeit einer „Wiederkehr des Gleichen". Der Physikalismus als Nebenweg und Sackgasse Vorsokratische Philosophie und religiöse Wiederkunftsmythen in ihrer Beziehung zu Nietzsches Wiederkunftslehre Wiederkehr: ethisch-lebenspraktisch Die praktischen „Interessen" der Lehre von der Wiederkehr Ein Motiv des praktischen Interesses: Umkehrung von Platonismus und Christentum Wiederkehr als Mythos Die „ewige Wiederkehr" in ihrer Beziehung zum „Willen zur Macht". Nietzsches Versuch der Wiedergewinnung von Kosmos und Physis Der „Übermensch" Historisches Systematisches
VI.
Tragische Gerechtigkeit
389
VI.l.
Die politische Tragik des Machtwillens. Oder: Warum es weder Sieger noch Verlierer gibt 389 Erdherrschaft. Oder: Warum der „Herr der Erde" Diener der Erde werden soll 391
V.2.3. V.2.4. V.3. V.3.1. V.3.1.1. V.3.1.2. V.3.1.3. V.3.2. V.3.2.1. V.3.2.2. V.3.2.3. V.3.3.
VI.2.
355 357 358 361 363 363 365 368 369 369 372 373
375 382 382 386
Abkürzungsverzeichnis
395
Auswahlbibliographie
396
Sachregister
408
Personenverzeichnis
411
Einleitung Wenn Nietzsche eines war, dann war er wahrhaftig, redlich bis zur letzten Konsequenz. Er war zugleich jemand, dem man nicht trauen kann. Seine Redlichkeit — das ist eine seiner Seiten. Das Spiel mit der Maske ist eine andere. Nietzsches Wahrhaftigkeit bedurfte der schützenden Maske. Er hat sich ihrer virtuos bedient, und man hat sich vorzusehen, ob hinter der ersten nicht die zweite und hinter dieser nicht die dritte zum Vorschein kommt. Man darf Nietzsche nicht wörtlich nehmen, und man darf ihm nicht alles glauben. Sein Werk war Spiel, und als Spiel war es Kunst. Was er bot, war „nicht nur Kunst, — eine Kunst ist es auch, ihn zu lesen, und keinerlei Plumpheit und Geradheit ist zulässig, jederlei Verschlagenheit, Ironie, Reserve erforderlich bei seiner Lektüre. Wer Nietzsche .eigentlich' nimmt, wörtlich nimmt, wer ihm glaubt, ist verloren" 1 . Gleichwohl, Nietzsche hat es ehrlich gemeint, wenigstens mit denen, die bereit sind, Selbstdenker, und das heißt, weder Jünger noch fanatische Gegner zu sein. Er hatte sie nicht verdient, die Nachbeter und Verächter, die ihm folgten. Er hatte es nicht verdient, daß man ihn — immer schon — kannte und daß jeder zu wissen meinte, wohin er gehörte. Ob der „Übermensch" Mode wurde oder die Boheme den neuen Gott Dionysos feierte, ob konservative Revolutionäre, Faschisten oder Nationalsozialisten sich seiner bedienten, ob man ihn als Anarchisten denunzierte oder als Ideologen des Kapitalismus beschimpfte — stets wußte man, wer dieser Nietzsche war. Er hat nach dem Zweiten Weltkrieg die Rolle des Kriegsverbrechers gespielt. Lange Zeit schien er vergessen, und nun ist er auf der politischen Bühne wiedergekehrt, gefeiert von jenen, die ihn von der rechten auf die linke Seite zerren, als eine Art Über-Marx und Über-Freud, befreiend von Religion und Metaphysik, von Staat und Autorität, vom Zwang des Denkens und der Sprache überhaupt. Nietzsche rechts, Nietzsche links — haben wir nichts gelernt? Man darf Nietzsche nicht wörtlich nehmen, und man darf ihm nicht alles glauben. Und doch ist gerade er immer wieder beim Wort genommen worden. Er hat politisch gewirkt wie wenige Autoren des 19. Jahrhunderts, vergleichbar nur mit Hegel oder Marx. Schon um die Jahrhundertwende war Nietzsche 1
Th. Mann: Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung (1947), in: B. Hillebrand (Hrsg.): Nietzsche und die deutsche Literatur Bd. I, Tübingen 1978, 293.
2
Einleitung
allerorten, verglichen von den einen mit dem radikalsten aller Linkshegelianer, Stirner, verstanden von den anderen als Sprachrohr eines radikalen Aristokratismus, bekämpft von Sozialisten als ein politischer Philosoph, der nur schöner sagt, was ein Börsenjobber denkt. Nietzsche als ein Ereignis der deutschen Sprache, das war es vielleicht sowieso, was mehr als jede inhaltliche Botschaft dem Werk zum Siegeszug verhalf. Die Geschichte der deutschen Literatur ist zwischen 1890 und dem Zweiten Weltkrieg immer auch Geschichte einer Nietzschewirkung gewesen, und man könnte eine eigene politisch-literarische Chronik des Kulturereignisses Nietzsche schreiben, reichend von der Mode des Übermenschen und dem Renaissancismus über die jungen Brüder Mann und ihre Wandlungen bis zu Benn oder den Brüdern Jünger, um nur einige der Namen zu nennen, die für das Schicksal des deutschen Geistes, seine Chancen und Gefahrdungen stehen.2 Es sind die suggestiven Bilder, die sich tief ins kollektive Unbewußte eingegraben haben: Mussolini, den das Nietzsche-Archiv als den „herrlichsten Jünger" Zarathustras feierte; Hitler, der die Schwester des Philosophen besucht und Nietzsches Spazierstock zum Geschenk erhält, Ironie des Okkasionellen in nahezu welthistorischem Ausmaß. Zarathustra wollte keine Jünger, er wollte keine Schüler, die sich auf die Lehre wie auf eine Krücke stützen. „Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt."3 Nietzsche rief zu einer Selbstverantwortung radikalsten Ausmaßes auf, alle moderne Autonomie auf ihre individualistische Spitze treibend, die Solitärperson als Richter und Gesetzgeber ihrer selbst allein. Und dann nimmt der den Spazierstock mit, durch den das Ende aller Aufklärung und Autonomie, der Sieg der Herde und der Horde über den Einzelnen seine bisher größten Triumphe gefeiert hat! Hitler hat Nietzsche — aller Wahrscheinlichkeit nach — nie gelesen.4 Es hat all jene nicht gestört, die von Nietzsche bis Hitler immer nur die Kontinuität des deutschen Sonderweges oder jene schiefe Ebene erkannten, die vom Kapitalismus zum Faschismus führen soll.5 In Wahrheit hätte man — in 2 3 4
5
B. Hillebrand (Hrsg.): Nietzsche und die deutsche Literatur. 2 Bde, a. a. O., vermittelt einen trefflichen Überblick. Za, Von der schenkenden Tugend, KGW VI/1, 97. Er erwähnt Nietzsche beiläufig dreimal (eine äußerst fragwürdige Überlieferung von Rauschning eingeschlossen). N. H. Baynes: The Speeches of Adolf Hitler I, London 1942, 478, zit. nach E. Sandvoss: Hitler und Nietzsche, Göttingen 1969, 87; H. Rauschning: Gespräche mit Hitler, Wien o. J., 231/232; H. A. Turner: Hitler aus nächster Nähe — Aufzeichnungen eines Vertrauten 1929-1932, Frankfurt a. M. 1978, 419. In „Mein Kampf, den „Tischgesprächen" oder den Aufzeichnungen von 1905—1924 (E. Jaeckel/A. Kuhn [Hrsg.]) kommt der Name Nietzsche nicht vor. Eine kleine Literaturauswahl: M.-P. Nicolas: De Nietzsche ä Hitler, Paris 1936; O. Flake: Nietzsche. Ein Rückblick auf eine Philosophie (1946), Frankfurt a.M. 1980; G. Müller: Nietzsche und die deutsche Katastrophe, Gütersloh 1946; E. Barthel: Nietzsche als Verführer,
Einleitung
3
Abwandlung eines Wortes von Karl Kraus — sagen müssen, Hitler fiel zu Nietzsche nichts ein, Rosenberg im Grunde auch nicht6, und was beiden „einfiel", war allenfalls, daß sich Nietzsche nutzen ließ als Reputationsanleihe für ein System, das diese bitter nötig hatte. Nietzsche wurde kulturpolitisch vereinnahmt, für Schule und Erziehung, Rassenpolitik und Eugenik, für die Predigt der Härte und die Abkehr von der Religion des Mitleids, für neues Heidentum und neuen Staat, für den Krieg und — man staune — den Sport.7 Ein immer noch nicht ganz erschlossenes Phänomen der Wirkung — aber war es denn eines, das uns Nietzsche verstehen hilft? Nationalsozialisten, die Nietzsche lasen, haben vor ihm gewarnt. 8 Ein Freund des Zweiten Reiches oder der Machtpolitik der Epoche war Nietzsche eben nicht, und auch völkisch, antisemitisch oder nationalistisch hatte er nicht gedacht. Im Gegenteil! Nationalsozialistische Nietzsche-Traktate, das sind zumeist unerträglich popularisierende, simplifizierende, absichtsvolle opuscula. Anspruch auf philosophischen Tiefgang haben sie nicht erhoben. Und eigentlich nur eine Nietzschedeutung dieses Lagers ist von philosophischem Rang: A. Baeumlers „Nietzsche, der Philosoph und Politiker" 9 . Dieses Werk freilich hat Nietzsche unzulässig nationalisiert und germanisiert, zum antiwestlichen Denker verkürzt, der einen „Siegfriedangriff auf die Urbanität des Westens" geführt haben sollte. Wo es philosophisch wurde, bot es eine nicht ungeschickte, aber doch durchsichtige Nietzschehalbierung: Nietzsche nur als Lehrer des „Willens zur Macht", nicht als Denker auch der Wiederkehr, und nur durch diese Halbierung konnte der Anschein erweckt werden, daß Nietzsche „zeitgemäß" sei.
6
7
8
9
Baden-Baden 1947; K. Algermissen: Nietzsche und das Dritte Reich, Celle 1947; A. v. Martin: Geistige Wegbereiter des deutschen Zusammenbruchs. Hegel. Nietzsche. Spengler, Recklinghausen 1948; G. Lukäcs: Von Nietzsche bis Hitler, Frankfurt a. M. 1966 (Auszüge aus „Die Zerstörung der Vernunft"); E. Sandvoss: Hitler und Nietzsche, a.a.O.; K. R. Fischer: Nazism as a Nietzschean .Experiment', in: Nietzsche-Studien 6 (1977) 116—123. Weder für den „Mythos des 20. Jahrhunderts" noch für „Blut und Ehre" spielt Nietzsches Philosophie eine Rolle. Die spärlichen Erwähnungen: A. Rosenberg: Blut und Ehre. Ein Kampf für die deutsche Wiedergeburt. Reden und Aufsätze, Th. v. Trotha (Hrsg.), München 2^1939, 260, 297; ders.: Der Mythos des 20. Jahrhunderts, München «1934, 529/530. Eine Vielzahl dieser opuscula hat die Dissertation von H. Langreder erschlossen, Die Auseinandersetzung mit Nietzsche im Dritten Reich. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte Nietzsches, Diss. Kiel 1971. Z. B. H. Härtle: Nietzsche und der Nationalsozialismus, München 1937; ders.: Friedrich Nietzsche. Der unerbittliche Werter des 19. Jahrhunderts, in: Der Schulungsbrief 4. Jg., 8. Folge (1937) 290-292, 295-299; E. Krieck: Leben als Prinzip der Weltanschauung und Problem der Wissenschaft, Leipzig 1938, z. B. 59; Chr. Steding: Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur, Hamburg 1938, 160, 212, 214, 335, 376; G. Lutz: Nietzsche, in: Das Deutsche in der deutschen Philosophie, Th. Haering (Hrsg.), Stuttgart-Berlin 21942, 454. A. Baeumler: Nietzsche, der Philosoph und Politiker, Leipzig 1931, 31940.
4
Einleitung
Auch der italienische Faschismus taugt als Kronzeuge für einen „faschistischen" Nietzsche nicht. Es ist wahr, Mussolini hat Nietzsche gelesen, und er hat aus der Philosophie des „Willens zur Macht" eine „filosofia della forza" machen wollen. 10 Er hat es pikanterweise getan, als er noch Sozialist war und sich in seinem Denken Einflüsse von Marx, Sorel und Nietzsche kreuzten. Das Ergebnis war dementsprechend eklektisch, der Sozialismus als Kampf und Aktion, das Leben als Abenteuer und Tanz auf dem Vulkan, der Übermensch als ein antikapitalistisches Symbol, verkörpert in der proletarischen Elite — und das vorgeführt an einem Denker, dem der Sozialismus als „Tyrannei der Geringsten und Dümmsten" gegolten hatte!11 Wenn nicht Nationalsozialismus oder Faschismus, war denn die konservative Revolution die legitime Nachlaßverwaltung des Erbes Nietzsches? Gewirkt hat er bei den Dichtern und Denkern dieser Bewegung doch wohl, Nietzsche als Vorbild für die Abkehr von der christlichen Zeitvorstellung, die durch die Bilder von Kugel und Kreis abgelöst wird, Nietzsche als Diagnostiker und Arzt des Nihilismus, Nietzsche als Lehrer der Wiederkehr, die zum Sinnbild einer Fortschritt und Moderne verabschiedenden Geschichtsphilosophie wurde. 12 Wer wollte, konnte sich von Nietzsches „Pathos der Distanz" und von seiner Kritik an der Herde Mut machen lassen für den verächtlichen Blick auf die parlamentarische Demokratie und die „Herrschaft der Minderwertigen", und so hat Nietzsche in der Tat gewirkt. Aber die konservative Revolution ist nicht als ganze nietzscheanisch, wenig, ja fast gar nichts von Nietzsche findet sich etwa bei E. J. Jung, und es ist wohl kein Zufall, daß dieser oft von Gott und Christentum sprechende Politiker Nietzsches „neue Werte", wenn er sie einmal erwähnt, für die alten, d. h. die christlichen, hält. 13 A. Moeller van den Bruck hat Nietzsche als Individualisten, als Kulturanarchisten, ja als Tschandala kritisiert. 14 Nietzsche für die konservative Revolution einspannen zu wollen, das erforderte, daß man den „Willen zur Macht" mit Machtpolitik, die Gegnerschaft gegen Reich und Nationalismus mit der Befürwortung derselben gleichsetzte.15 Und was diese philosophierenden 10
11
12
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B. Mussolini: La Filosofia Deila Forza, in: Opere Omnia Di Benito Mussolini Bd. I., E./D. Susmel (Hrsg.), Firenze 1951, 1 7 9 - 1 8 3 . E. Nolte: Marx und Nietzsche im Sozialismus des jungen Mussolini, in: Historische Zeitschrift 191 (1960) 2 4 9 - 3 4 5 . A. Möhler: Die konservative Revolution in Deutschland 1918—1932, Darmstadt 2 1972, 86, 109. E. J. Jung: Die Herrschaft der Minderwertigen, Berlin 2 1930, 36. A. Moeller van den Bruck: Die moderne Literatur in Gruppen- und Einzeldarstellungen Bd. I. Tschandala Nietzsche, Berlin-Leipzig 1899, 19, 48, 50/51. Fr. Hielscher: Das Reich, Berlin 1931, 200.
Einleitung
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Herrschaften von der „ewigen Wiederkehr" verstanden, es war — man verzeihe! — weniger Nietzsche als Philosophie aus zweiter Hand.16 Nietzsche rechts — Nietzsche links. Auch bei seinen linken Schülern und Gegnern ist es Nietzsche kaum besser ergangen. Wer ihn als Anarchisten verdächtigen wollte, konnte darauf verweisen, daß dieser Nietzsche Individualist war, Lehrer einer radikal individualistischen Autonomie, Gegner nicht nur des zeitgenössischen Staates, sondern oft des Staates überhaupt. Aber dieser Nietzsche hat mit aller Deutlichkeit den Anarchismus seiner Zeit als Ausdruck der Ohnmacht, des Ressentiments, des Nihilismus verworfen. Und so sehr da oft die Feindschaft durchbrach gegen den „Götzen" Staat, Herrschaft hat dieser Nietzsche gefordert, oft Herrschaft in ihrer härtesten Form. Nietzsche und der Sozialismus, dieses Kapitel der Nietzschewirkung ist noch nicht geschrieben. Nietzsche hat den Sozialismus seiner Zeit verworfen, er galt ihm als Gefahr für Kultur, Politik und sein Ideal des Menschen. Es ist ihm bis heute nicht verziehen worden. Seit Mehring und Lukäcs ist ausgemacht: hier ist ein Apologet des Kapitalismus, des Imperialismus und des Faschismus.17 Zwar wird heute nicht mehr die ungebrochene Kontinuität zwischen Nietzsche und dem Faschismus behauptet, wie sie Lukäcs verstand; zwar findet der Dichter Nietzsche eine gewisse Anerkennung, und Antibourgeoises bei Nietzsche stößt nicht mehr per se auf ungläubiges Kopfschütteln. Aber der Politökonomismus hat sich im Grunde nur präzisiert, Nietzsche nun angesiedelt am Punkte des Umschlags vom Konkurrenz- zum Monopolkapitalismus.18 Im Giftschrank stehen seine Werke auch noch heute, und die Folgen sind zu bedauern. Die linke Nietzschewirkung, auch sie ein Wirkungsphänomen ersten Ranges, wird übersehen19; das Thema „Nietzsche und Marx" bleibt ein Desiderat, und man kann nur vermuten, daß es da doch einiges zu entdecken gäbe bei diesen Protagonisten eines unterschiedlichen Endes der Philosophie, bei diesen Kritikern der Ideologie und Jüngern des Prometheus, bei diesen manchmal durchaus vereinten Gegnern der bürgerlichen Gesellschaft, bei diesen Philosophen, die beide versuchen, den Menschen
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So macht A. Moeller van den Bruck aus der „ewigen Wiederkehr" eine Art von platonischer Idee, jedenfalls ein sich durchhaltendes Substrat, das „bald vortritt, bald zurücktritt", Das Dritte Reich, Hamburg 3 1931, 169. F. Mehring: Nietzsche gegen den Sozialismus (1897), in: Gesammelte Schriften Bd. 13, Th. Höhle u. a. (Hrsg.), Berlin 1961, 167 ff.; G. Lukäcs: Der deutsche Faschismus und Nietzsche, in: F. Mehring/G. Lukäcs: Friedrich Nietzsche, Berlin 1957, 85 ff. E. Behler: Nietzsche in der marxistischen Kritik Osteuropas, in: Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82) 80—97; kennzeichnend für eine kleine Lockerung bei bleibender Enge S. F. Oduev: Auf den Spuren Zarathustras, Köln 1977. R. Hinton Thomas: Nietzsche in German politics and society 1890—1918, Manchester 1983; die Artikel von A. Venturelli, E. Behler und V. Vivarelli, in: Nietzsche-Studien 13 (1984) 448ff., 503ff., 521 ff.
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Einleitung
in die Natur zurückzuübersetzen. Und könnten nicht auch die Differenzen aufschlußreich sein? Szientismus, Fortschrittsglaube und letztlich ungebrochene Modernität beim einen, ein Denken schon jenseits solcher Züge des 19. Jahrhunderts beim anderen? Heute lassen die „kritische Theorie" oder die italienische und französische Niet^schere^eption die Nietzschefeindschaft des Marxismus-Leninismus vergessen. Die „kritische Theorie" kann die Aktualität einer Philosophie sehen lehren, die bereits von den „Interessen" der Erkenntnis ausgegangen war, und die „Dialektik der Aufklärung" bietet das Niveau, auf dem man über Nietzsche sprechen kann und muß. 20 Nietzsches Politik und Philosophie waren eine fundamentale Auseinandersetzung mit der Moderne, ihren Möglichkeiten und ihrer Dialektik, und es ist nicht einmal ausgemacht, daß sie, wie es in Frankfurt heißt, in Gegenaufklärung versandet sind. Die avantgardistische, sich auf Nietzsche berufende Philosophie im Italien und Frankreich von heute, nachheideggerisch und poststrukturalistisch, auch sie läßt, modischen Zügen und lauten Worten zum Trotz, ahnen, was bei Nietzsche verhandelt wird, ein metaphysikkritisches und unerhört modernes, ein „subversives" und ein „nomadisches", ein gegen die Grenzen des modernen Machtwillens und der ratio bereits anlaufendes Denken, unterwegs schon zu Zeiten, die man heute postmoderne nennt.21 Vielleicht war Nietzsche in der Tat „das größte Ausstrahlungsphänomen der Geistesgeschichte" (G. Benn), und vielleicht mag mancher da noch auf Entdeckungsreise gehen wollen. 22 Wir meinen: Nietzsches Politik und Philosophie zu deuten, muß heute Aufgabe eher der Legendenzerstörung als der Legendennachspürung sein. Weder Nationalist noch Freund des Zweiten Reiches, weder Apologet des Kapitalismus noch Imperialist, weder Rassist noch Faschist, weder Sozialist noch Anarchist ist Nietzsche gewesen. Was war er dann? Es ist eine Frage, die man mehr mit Nietzsche als im Blick auf seine Wirkung zu entscheiden hat. Studien des Typs „Nietzsche und . . . " gibt es nicht wenige, aber wie schreibt man sie — ohne ein Bild von Nietzsche selbst? Viele Irrwege der Nietzschewirkung verdanken sich der Tatsache, daß man Nietzsche, sei es in die Tagespolitik, sei es in die Schablonen üblicher
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Die Beziehungen der Frankfurter Schule zu Nietzsche sind dargestellt bei P. Pütz: Nietzsche im Lichte der Kritischen Theorie, in: Nietzsche-Studien 3 (1974) 175ff.; R. K . Maurer: Nietzsche und die Kritische Theorie, in: Nietzsche-Studien 10/11 (1982/82) 34ff. Über diese Strömungen informiert F. Volpi: Nietzsche in Italien, in: Philosophischer Literaturanzeiger 31 (1978) 1 7 0 - 1 8 4 , 34 (1981) 1 6 5 - 1 8 2 ; G. Vattimo: Nietzsche heute?, in: Philosophische Rundschau 24 (1977) 6 7 - 9 1 . Eine unerschöpfliche Quelle dazu die beiden Bände von F. Krümmel: Nietzsche und der deutsche Geist, Berlin 1974, 1983.
Einleitung
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politischer Richtungen, sei es in das Prokrustesbett reiner Politik gepreßt hat.23 Er kannte nur Politik mit Philosophie, keine ohne. Und er hat in Politik wie Philosophie die Grenzen des Üblichen gesprengt. Wer nach Nietzsches politischer Philosophie sucht, beginnt gewöhnlich mit der Frage, wie Nietzsche zur Geschichte der Deutschen steht. In der Tat, Nietzsche hat so angefangen, er war auf der Suche nach einer politischen Mythologie der Deutschen. Aber schon am Anfang war mehr. Nietzsche ist seinen eigenen Weg gegangen, und dieser hat ihn von der Sehnsucht nach der Wiedergeburt des „griechischen" Geistes im deutschen zu Aufklärung und Europäertum sowie schließlich zu einer Philosophie geführt, welche die Probleme der ganzen europäischen Kultur, ihre Stellung zu Griechentum und Christentum, moderner ratio und moderner Freiheit, mit den großen Begriffen „Nihilismus" und „Wiederkehr", „Wille zur Macht" und „Übermensch" neu zu bedenken versuchte. Das waren Verwandlungen, die aus dem DeutschGriechen (Teil A) den Europäer und Freigeist (Teil B) sowie schließlich den Philosophen des „Menschen" und der „Erde" werden ließen, dem es um alles ging, was in der Moderne auf dem Spiele steht (Teil C). Nietzsches frühe Politik war Kulturpolitik, und zu ihr gehörte die Artistenmetaphysik, die das Dasein durch die Kunst rechtfertigen sollte. Sie verwandelte sich in eine Eman^ipationsphilosophie, Freigeisterei genannt, die Nietzsche bis zu ihrer Dialektik führte. Und am Ende stand die ,große Politik, deren Verständnis die größten Rätsel aufwirft. Immer freilich hat Nietzsche nicht nur eine Auseinandersetzung mit den alten Fundamenten unserer Kultur, sondern eigentümlich auch mit ihren modernen gesucht, und es verbindet seine verschiedenen Entwürfe, daß sie allesamt Erprobungen von Konstellationen sind, in denen das Denken überhaupt zur Moderne stehen kann. Der junge Nietzsche hoffte auf die Wiedergeburt des tragischen Mythos der Griechen, und er war bereit, diesem Ideal der Kultur und Politik die politische Moderne in Bausch und Bogen zu opfern. Das klang antikisierend und nur antimodern, und doch war schon hier die Spitze höchster Modernität, der Mensch ein Prometheus und feuerbachianischer „Siegfried", ein Selbstgesetzgeber und Schöpfer der Kultur. Am Ende einer rationalistisch leerlaufenden Moderne wollte Nietzsche zurück zum Mythos, im Prozeß einer bereits fortgeschrittenen Säkularisierung suchte er die Aura der Kunst, die, nach der Religion, Mittel der „Erlösung" wird. Anders stand für einige Jahre Nietzsche, der Freigeist, zu Aufklärung und Modernität. Nietzsche wird Vater einer ursprungslosen „kritischen Theorie", 23
Nur politisch deutet Nietzsche immer noch T. Kunnas: Politik als Prostitution des Geistes. Eine Studie über das Politische in Nietzsches Werken, München 1982. Kunnas trifft bereits manche der Legenden, will aber „die politischen Ideen Nietzsches von seiner unpolitischen Philosophie unterscheiden" (153), so daß die Ergebnisse freischwebend verbleiben.
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Einleitung
und er wird Lehrer einer immoralistischen „Moral", die nur souveräne Selbstgesetzgeber noch anerkennen will. Da ist für einige Jahre Hypermodernität und sonst gar nichts, aber diese schlägt dialektisch um, Nietzsche geht den Weg der Aufklärung in den Nihilismus nach, den Weg vom Zweifel zur Verzweiflung für eine Emanzipation, die am Ende nichts mehr zu verlieren hat. Die späte Philosophie von Macht und Wiederkehr hat die Eindimensionalität von Nietzsches Aufklärungsphilosophie nicht mehr. Man kann sie kritisieren als den unmöglichen Versuch, von der Spitze der Modernität zur Antike zurückkehren zu wollen (Löwith), und antikisierend ist diese Lehre in der Tat, Weg zurück bis zur vorsokratischen Welt. Auch sind unverkennbar Züge der Hypermodernität. Wer erkennt sie nicht im Symbol des „Übermenschen" oder der zupackenden Aggressivität des „Willens zur Macht"? Heidegger hat bei Nietzsche die Metaphysik der Subjektivität und der Verfügung sich vollenden sehen — Nietzsche als Endgestalt. Es ist die Schlußthese dieser Untersuchung, daß Nietzsche so nicht zu verstehen ist. Schon er ist über die rationalitas wie den Machtwillen der Moderne hinausgegangen, weiter als es Heidegger oder seine Schüler sich vorgestellt haben. Belehrt durch die Dialektik der Moderne, hat sich Nietzsche auf die Suche gemacht nach dem, was dieser Moderne nottut: eine Heilung der Wunden, die ratio und Verfügungswille der mediatisierten Geschichte, der vernutzten Natur und dem vom „Willen zur Macht" selbst überwältigten Menschen geschlagen haben. Nietzsche hat dafür — gewiß von der Spitze der Moderne — ^urückgedacht, man kann genausogut sagen, rö/vwwgedacht in das, was diese Moderne aus sich nicht zu bieten vermag. Und warum sollte die Suche nach vermittelter Unmittelbarkeit und wiedergewonnener Unschuld den deutschen Idealisten, den Dichtern der Romantik und so manch anderen erlaubt, aber nur Nietzsche verboten sein? Nietzsche hat es seinen Lesern leicht, seinen Interpreten schwer gemacht. Ihn heute zu deuten heißt, ihm die Ehre widerfahren zu lassen, ihn, wie es Th. Mann vorschlug, mit aller Reserve, Ironie und Verschlagenheit zu lesen, — vielleicht darf man hinzufügen — mit aller Nüchternheit auch, die dieser verführerische Autor so leicht zuschanden macht. Nietzsche-Philologie, sie steht nach der Begeisterung der Jünger und der Verteufelung durch die Gegner noch an ihrem Anfang. Sie hat heute ihr Werkzeug in der ersten „Kritischen Gesamtausgabe", die diesen Namen verdient. Möge sie uns dazu verhelfen, Nietzsches Bild aus jenen Ahnengalerien zu lösen, in die es Gegner und Jünger hatten stellen wollen! Nietzsche gehört in andere, antike wie moderne, gefüllt mit Bildern von Sokrates und Piaton, Epikur und Epiktet, Thukydides und Machiavelli, Voltaire und Rousseau. Ja, vielleicht hat er sogar einen jener Plätze verdient, die denen reserviert sind, die den Fuß in bisher unbekannte Länder des Geistes setzten.
Teil A. Deutscher und Grieche (1858-1876)
I. Konventionelle Anfänge (1858-1870) Nietzsche, der Schüler, Nietzsche, der Student, und Nietzsche, der junge Professor, sie alle dachten politisch konventionell. Zwar gären bereits früh die Ideen, die später Nietzsches Distanz zur eigenen Epoche bestimmen sollten: ein Kult der großen Einzelnen, ein Hang zum Aristokratismus, ein Glaube an Tragik und Schicksal. Aber zunächst begegnet uns ein Nietzsche, der zeitgemäß ist, sich in den politischen Phraseologien der Zeit so bewegend wie andere Zeitgenossen auch. Man müßte nicht viel Aufhebens machen von den politischen Äußerungen dieses jungen Mannes, wären sie nicht einerseits in mancher Hinsicht unbekannt, andererseits zum Instrument von Deutungen geworden, die im ganz jungen Nietzsche bereits den älteren Nietzsche erkennen wollten. Demgegenüber ist zu betonen, daß der junge Nietzsche, vornehmlich der Schüler und Student, eine andere Politik vertritt als der ältere. Nietzsches Bildungsweg muß als Geschichte einer allmählichen Befreiung von Konvention und Zeitgemäßheit verstanden werden. Gewiß, die frühen politischen Äußerungen sind ein Echo der bürgerlichen politischen Hoffnungen des Vormärz (I.I.); da ist ein Nietzsche, der erst jüngst bekannt geworden ist. Gewiß, ab 1866 gerät Nietzsche — synchron zur Wandlung so vieler Demokraten und Liberaler zu Nationalliberalen — unter den Eindruck der preußischen Erfolge und der Politik Bismarcks (I.2.). Aber spätestens mit dem Jahre 1870 haben wir einen Nietzsche vor uns, der politisch erwachsen geworden ist, befreit von den Zwängen der Konvention und Zeitgemäßheit. Aus dem Borussophilen wird damals der Gegner Preußens, aus dem Bürger der Anwalt der Kultur, der sich dem jungen Reich, ja der Politik seiner Zeit mehr und mehr entfremdet (I.3.). Kulturpolitik, nicht Machtpolitik, kulturelle Größe und nicht imperiale — so lautet die Losung, mit der Nietzsche — wie sein Lehrer Burckhardt — gegen den Geist seiner Epoche denkt (I.4.).
I. 1. Freiheit, Einheit, Republik
(1858-1865)
In den Aufzeichnungen des jungen Nietzsche, in Gedichten, Briefen, Dramenentwürfen, Aufsätzen und Notizen, kehren die Schlagworte wieder,
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welche die Zeit des Vormärz bestimmten: Freiheit, Einheit, Republik. 1 Es erinnert an das politische Pathos eines Byron oder Hölderlin — die Lieblingsdichter des jungen Nietzsche —, es erinnert an Körner oder politische Literaten des Vormärz2, wenn Nietzsche die Dichter aufruft, sich wieder von der poetischen Feier der Natur zur vaterländischen Politik zu wenden: „Dann ergreift das Schwert mit Macht Daß man euch auch kämpfen sehe Wie ihr alles dargebracht Euer Vaterland zu retten aus der Knechtschaft Schmach und Ketten." 3 Die Quellen für Nietzsches frühe Politik sind spärlich. Der Leser weiß mit Sicherheit nie, wo Nietzsche andere Meinungen wiedergibt, wo er in eigenem Namen spricht. Er denkt damals, so viel läßt sich sagen, bürgerlich, als ein Liberaler, der das „Deutsch-Liberale" gegen den „Absolutismus" ausspielt4, ja er ist vielleicht sogar ein Republikaner, der die Zeit der Könige ihrem Ende nahen sieht. Nietzsche wiederholt, was Hölderlin den Empedokles ausrufen ließ: „Die Zeit der Kön'ge ist nicht mehr." 5 Ihre Jahrtausende währende Geschichte geht zu Ende, und Nietzsche konstatiert: „Und selbst bei schneller Unterdrückung, blieb doch noch lange der Wunsch des deutschen Volkes ,eine deutsche Republic'." 6 Freilich, ob Nietzsche damals eine Art „demokratischer" Republikaner gewesen ist, läßt sich nicht entscheiden. Eindeutig ist eigentlich nur, daß da einer spricht, der weder auf die dynastischen Interessen der deutschen Fürsten noch auf ein absolutistisches Königtum seine Hoffnungen setzt, und noch der Verfasser des „Zarathustra" sollte wiederholen: „Es ist die Zeit der Könige nicht mehr ,.." 7 Aber ob Republikanismus mehr meint als Antithese zur Monarchie, etwa bürgerliche Freiheit, Parlament oder gar Demokratie,
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Auf diesen Nietzsche hat jüngst R. Schmidt aufmerksam gemacht, Ein Text ohne Ende für den Denkenden, Königstein/Ts. 1982, 4 ff. Nietzsches Beschäftigung mit den politischen Dichtern verrät „An Theodor Körner" (1858), BAW I, 407; der Gliederungsentwurf für den Vortrag über „politische) Dichter" (1865), BAW III, 117. ( M a i - J u n i 1859), BAW I, 79/80. Der Vortrag über „politische) Dichter" (1865) ist nicht erhalten. Der allein überlieferte Gliederungsentwurf nennt als dritten Punkt „Das deutsch-liberale gegen den Absolutismus", BAW III, 117. Die Verschwörung des Philotas (1859), BAW I, 164. Dort auch „Jetzt bilde sich ein Freistaat ...", ebda. Aus meinem Leben (1858), BAW I, 4. Za, K G W VI/1, 259.
Freiheit, Einheit, Republik ( 1 8 5 8 - 1 8 6 5 )
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das ist mit letzter Sicherheit nicht zu beweisen. Zwar heißt es 1866, „alle" „Hoffnung" stünde bei „einem deutschen Parlament". 8 Aber das Freiheitspathos des jungen Nietzsche ist politisch vage, und man kann die Gegenströmungen nicht übersehen, die zum Bild eines liberalen, demokratischen, republikanischen Nietzsche nicht so recht passen wollen. Schon der Schüler Nietzsche feiert die großen Einzelnen, die tragischen Helden, Ödipus und Prometheus, den Empedokles Hölderlins und den Manfred Byrons, und es ist letzterer, dem die Ehre widerfahrt, als erster Held Nietzsches mit dem Wort „Übermensch" geschmückt zu werden. 9 Ja, der von „Republik" redende junge Nietzsche lobt Napoleon III. als eine Art welthistorische Persönlichkeit, deren geschichtliches Recht mit den Maßstäben der gewöhnlichen Moral nicht zu messen sein soll. 10 Da ist Nietzsche doch wohl Welten von einem Marx geschieden, der im „Bürgerkrieg in Frankreich" nach den soziologischen Ursachen, dem Machtgleichgewicht der Klassen, der Rolle der Parzellenbauern und ähnlichem sucht, um diesen eigenartigen bonapartistischen Staat verstehen zu können. Es war wohl kein Zufall, daß der die Schule verlassende Nietzsche seine Valedictionsarbeit einem griechischen Dichter widmete, der als Repräsentant des griechischen Aristokratismus gelten kann: Theognis. Dessen Gleichsetzung von „vornehm" und „gut", „niedrig" und „schlecht", seine Verachtung der Niederen und sein Appell an die Adresse der Vornehmen, sich ihrer rücksichtslos zu bedienen, das liest sich wie eine Vorwegnahme der späteren Herren- und Sklavenmoral; noch war Nietzsche von ihr entfernt.11 Aber auch seine Reflexionen über Geschichte verraten sehr früh eine Art tragischen Aristokratismus, immer kreisend um die Frage, wie sich die Massen, die die Geschichte machen, zu den großen Einzelnen verhalten, die an sich ohnmächtig sind. 12 Fortschrittsgeschichte, sei es bürgerlicher oder sozialistischer Provenienz, wollte schon der junge Nietzsche nicht schreiben. „Der .Fortschritt' ist überhaupt kein historisches Gesetz, weder der intellektuelle noch der moralische noch der ökonomische." 13 In der
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K G B 1/2, 29.5.1866, 133. Primum Oedipodis regis Carmen choricum (1864), BAW II, 364 ff.; Der Prometheus. Drama in einem Akt (1859), BAW I, 62 ff.; Brief an meinen Freund . . . (1861), BAW II, 2 f.; Ueber die dramatischen Dichtungen Byrons (1861), BAW II, 13, 14. „Daß das Genie von andern und höhern Gesetzen abhängig ist, als der gewöhnliche Mensch", sei „ein scheinbarer Widerspruch". Napoleon III. als Praesident (1862), BAW II, 23. De Theognide Megarensi (1864), BAW III, 21 ff. Die aristokratische Moral wird noch als „superba persuasio" verurteilt, a. a. O. 60. Zu einer Geschichte der litterarischen Studien im Alterthum und in der Neuzeit (1867/68), BAW III, 319 ff. A. a. O. 322.
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Konventionelle Anfänge ( 1 8 5 8 - 1 8 7 0 )
Geschichte herrscht das Fatum, nicht das unmittelbar planende Machen; und nicht das schicksalsferne Wollen, sondern erst die Anerkennung des Schicksals setzt den Willen frei.14 I. 2. Preuße und Nationaler
(1865-1868)
Beim ganz jungen Nietzsche steht unverbunden nebeneinander, was nicht zusammenpaßt: Erinnerung an den Vormärz auf der einen, ein Kult der großen Einzelnen und ein Hang zu Tragik, Aristokratismus und Schicksalsglaube auf der anderen Seite. Dieses Gemisch klärt sich — durch den Katalysator der Ereignisse — ab 1866 zu einer politischen Stellungnahme, die eindeutig ist. Sie ist Nietzsches frühem „Liberalismus" insofern noch verbunden, als Nietzsche nicht zu den Konservativen zu rechnen ist, die damals die Kreuzzeitung lasen15. Aber es ist dies nun auch eindeutig keine Position mehr, die sich mit einem „demokratischen" Republikanismus oder den schwarz-rot-goldenen Hoffnungen des Bürgertums noch verbinden ließe. Nietzsches „Liberalismus" widerfahrt, was mit dem Liberalismus und Demokratismus so vieler damals geschah: sie gerieten in den Sog der Geschichte, welche die Deutschen Einheit vor Freiheit setzen ließ. Falls Nietzsche vor 1865 republikanisch-demokratisch gedacht haben sollte, ab 1865 denkt er so gewiß nicht mehr. Er war 1864 der Burschenschaft „Franconia" beigetreten, und man könnte meinen, daß sich über die Zugehörigkeit zu den — damals wieder politisierenden — Verbindungen Nietzsches politischer Standort umreißen ließe. Aber Nietzsche war nicht aus politischen Motiven, sondern um der Geselligkeit und Bildung willen beigetreten.16 Die politischen Hoffnungen seiner Burschenschaft teilte er nicht. Als diese 1865 14
Die Vorträge „Fatum und Geschichte" und „Willensfreiheit und Fatum" (beide 1862) lassen einen schon erstaunlich philosophischen Nietzsche erkennen. Der platte Gegensatz von Willensfreiheit und Fatum wird bereits aufgelöst. „Fatum ist die unendliche Kraft des Widerstandes gegen den freien Willen; freier Wille ohne Fatum ist ebenso wenig denkbar, wie Geist ohne Reelles Gutes ohne Bößes", „Fatum und Geschichte", BAW II, 59. „ . . . die fatumlose, absolute Willensfreiheit würde den Menschen zum Gott machen, das fatalistische Princip zu einem Automaten", „Willensfreiheit und Fatum", BAW II, 62. „ . . . das Fatum . . . setzt den Menschen wieder in organische Verbindung mit der Gesammtentwicklung und nöthigt ihn, indem es ihn zu beherrschen sucht, zur freien Gegenkraftentwicklung" (ebda.).
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Nietzsche erwähnt die „Kreuzzeitung", die in seinem Elternhaus gelesen wurde, nur abfällig, K G B 1/2, Juli 1866, 137; er zeigt sich „ergötzt über den glänzenden Durchfall . . . der Naumburg-Zeitzer Conservativen bei den letzten Wahlen", a. a. O. 136. Als Nietzsche borussophil wird, nennt er die konservativen Abgeordneten Preußens „Liberale", K G B 1/2, 1 2 . 7 . 1 8 6 6 , 143. Das Bildungsmotiv nennt er gegenüber Schwester und Mutter, K G B 1/2, 24./25.10.1864, 14; das Kennenlernen von „Zeit" und „Volk" gegenüber v. Gersdorff, K G B 1/2, 25. 5.1865, 54.
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Preuße und Nationaler (1865-1868)
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ihre unverdächtigen Farben „Weiß-Rot-Gold" in „Schwarz-Rot-Gold" veränderte, geschah dies „wider" seinen Willen. 17 Nicht nur der „Biermaterialismus"18, auch das lärmende Politisieren hat Nietzsche bald abgeschreckt. „Hei! Was hat nicht alles die Burschenschaft gethan! Hei! Sind wir nicht die Zukunft Deutschlands, die Pflanzstätte deutscher Parlamente! — / Es ist mitunter schwer, sagt Juvenal, keine Satyre zu schreiben. — " 1 9 Das Jahr 1866 steht im Zeichen der Annäherung Nietzsches an Bismarck und die preußische Politik. Freilich, zu Beginn des preußisch-österreichischen Krieges geht Nietzsches Anteilnahme noch nicht so weit, daß er zu den Fahnen eilen würde. Er hofft damals „verschont" zu bleiben. 20 Als die Preußen in Hannover, Kurhessen und Sachsen einmarschiert sind, äußert er sich noch zwiespältig, als Patriot, der in der Gefahr zu seiner Heimat steht, als Bewunderer des „Mutes und der rücksichtslosen Konsequenz" Bismarcks, aber auch als Moralist, der den Bismarckschen Machiavellismus verwirft und an den Erfolg der riskanten Politik nicht zu glauben vermag. 21 Als das Vabanque-Spiel Bismarcks geglückt ist, ist Nietzsche freilich überzeugt. Wir begegnen — zum ersten und zugleich auch schon zum letzten Male — einem Denker, der sich „im Einklang mit der zeitweiligen Regierung" und der Politik des Tages weiß. Nach Königsgrätz und dem Indemnitätsantrag der preußischen Regierung feiert Nietzsche den Erfolg: „Zwar muß man verschiedne Todte ruhen lassen ... Aber der Erfolg ist diesmal da: was erreicht ist, ist groß." 22
KGB1/2, 29.5.1865, 59. Man könnte dies als eine „taktische" Äußerung gegenüber Schwester und Mutter abtun, wäre da nicht eine Parallelstelle, Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre (1867/68), BAW III, 294, Zeilen 5,6. 1867 ist bei Nietzsches Freund v. Gersdorff die Absage an die „Fortschrittspartei" nicht zu überhören. „Was ist die Fortschrittspartei in unserem Staate anders als eine volkswirthschafidiche. Sie will die Einführung der demokratischen Republik; in ihrer Minorität bedarf sie eines Heeres; dieß entsteht ihnen aus der Arbeiterschaar, dem / Proletariat, welches sie nicht mit politischen Ideen zu begeistern vermögen, sondern mit der Vorspiegelung materieller Vortheile, die sich nicht verwirklichen können", KGB 1/3, 30. 12. 1867, 224/225. Vgl. W. Ross: Der ängstliche Adler, Stuttgart 1980, 103. 18 KGB 1/2, 25. 5. 1865, 55. Im Oktober 1865 trat Nietzsche aus der „Franconia" aus, KGB 1/2, 20. 10. 1865, 88. " KGB 1/2, Juni 1865, 66/67. 20 KGB 1/2, 29. 5. 1866, 131; ähnlich KGB 1/2, 11. 7. 1866, 141. 21 „Die Gefahr, in der Preußen steckt, ist ungeheuer groß: daß es gar durch einen vollkommnen Sieg im Stande wäre, sein Programm durchzusetzen, ist ganz unmöglich. Auf diese revolutionaire Weise den deutschen Einheitsstaat zu gründen, ist ein starkes Stück Bismarks: Muth und rücksichts/lose Consequenz besitzt er, aber er unterschätzt die moralischen Kräfte im Volke . . . Unsre Lage ist sehr einfach. Wenn ein Haus brennt, fragt man nicht zuerst, wer den Brand verschuldet hat, sondern löscht. Preußen steht in Brand. Jetzt gilt es zu retten", KGB 1/2, Juli 1866, 134/135. 22 KGB 1/2, August 1866, 159. 17
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Konventionelle Anfänge ( 1 8 5 8 - 1 8 7 0 )
Nietzsches Übereinstimmung mit der Politik des Tages ist für eine kurze Zeit total. Er nennt sich einen „enragirten Preußen"23, er ist „stolz" auf die Armee, „stolz" auf die Regierung, die „das nationale Programm nicht bloß auf dem Papiere hat, sondern mit der größten Energie, mit ungeheurem Aufwand an Geld und B l u t . . . aufrecht erhält"24. Nietzsche ist ein Nationaler, und er ist ein Kleindeutscher, gar nicht unglücklich darüber, wie geschickt Bismarck Österreich ausmanövrierte.25 Er reiht sich ein bei den Befürwortern der preußischen Annexionspolitik, und wie Treitschke und Mommsen für die Annexion der norddeutschen Kleinstaaten votierten, so plädiert Nietzsche für die Überwindung der kleinstaatlichen dynastischen Interessen und die preußische Annexion.26 Die „preußische Art, die Fürsten loszuwerden", sei immer noch „die bequemste von der Welt" 21. „Ein Krieg gegen Frankreich" werde „eine Gesinnungseinheit in Deutschland hervorrufen", und für die „deutschen Hoffnungen" habe es keinen anderen Weg gegeben als den eines „Vernichtungskrieges".28 Nietzsche gehört der Zeit von Blut und Eisen, und er gehört ihr für ein, zwei Jahre, so scheint es zunächst, ganz.
I. 3. Vom Borussophtlen %um Gegner Preußens (1868—1870) Nietzsches Preußentum und sein nationales Engagement sind allerdings nicht mehr als ein Strohfeuer gewesen, aufflammend und gleich wieder verlöschend. Man täusche sich nicht! Der Nietzsche der Jahre 1866—68 läßt sich weder lobend noch verdammend als Vorgänger des älteren Nietzsche betrachten. Preuße, Nationalist, Ideologe nationaler Machtstaatspolitik, all dies ist Nietzsche nach 1868 nie mehr gewesen. Seine Stellung in und zur Geschichte der Deutschen war komplex, schwankend zwischen Liebe und Haß, geprägt von der Bewunderung für die Person Bismarcks, bei gleichzeitiger Verdammung seiner Politik29, protestierend gegen die deutsche Geschichte und doch auch zu ihr gehörend. Aber wenn Nietzsche gegen Ende
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K G B 1/2, Juli 1866, 135. K G B 1/2, 1 2 . 7 . 1 8 6 6 , 142/143. „Immerhin sind aber die letzten Schachzüge vorzüglich: vor allem hat er [Bismarck, H. O.] es verstanden, auf Ostreich einen gewaltigen, wenn nicht den größten Theil der Schuld zu wälzen", K G B 1/2, Juli 1866, 135. Für die Annexion Sachsens z. B. K G B 1/2, August 1866, 159. Nietzsche las damals H. v. Treitschke: Die Zukunft der norddeutschen Mittelstaaten, Berlin 1866 (NB). K G B 1/2, Juli 1866, 135. K G B 1/2, 1 2 . 7 . 1 8 6 6 , 143. Nietzsches Ambivalenz zeigt sehr schön Th. Schieder: Nietzsche und Bismarck, Krefeld 1963.
Vom Borussophilen zum Gegner Preußens (1868—1870)
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der sechziger Jahre auf Distanz ging zu Preußen und bald darauf zum jungen deutschen Reich, dann vollzog er damit eine bedeutsame Wende, die noch seine späte „große Politik" prägte. Noch sie barg die ironische Spitze gegen die nur vermeintlich „große" Politik Bismarcks, ihre nationale Borniertheit, ihre Kurzatmigkeit, ihre Verwechslung von Größe und Stärke sowie ihre kulturellen Kosten.30 Nietzsche paßt nicht in eine Geschichte der deutschen Katastrophe, welche von Preußen zum Machtstaat des Zweiten Reiches und von beiden zum Dritten Reich eine gerade Linie des Verfalls ziehen möchte. Nicht Nietzsche, der Preuße, und nicht Nietzsche, der Deutsch-Nationale, sondern, wenn schon, dann Nietzsche, der Bildungsbürger und heimliche Verächter des politischen Geschäfts: das ist eine Verbindung, in der sich noch der gegen die deutsche Geschichte protestierende Nietzsche als ihr Kind erweisen könnte. Schon 1866 bemerkt Nietzsche mit Blick auf den Krieg, „wie gering die Macht des Gedankens ist" 31 . In Notizen der Jahre 1867/68 überwiegt das Lamento über die Ohnmacht der großen Einzelnen in der Geschichte; so überlegen sie der Mittelmäßigkeit der Massen auch sind, in der Geschichte zu herrschen, vermögen sie nur vermittels dieser.32 Welch „schrecklicher Gedanke, eine Unzahl mittelmäßiger Köpfe mit wirklich einflußreichen Dingen beschäftigt zu wissen" 33 . Der Nietzsche, der sich 1866—68 so enragiert gibt, ist im Grunde schon mehr ästhetisierender Zuschauer als homo politicus. Er wohnt einem „Schauspiel" bei34, und dieses hat für ihn im Herbst 1868 seinen besonderen Reiz bereits verloren. Er sei „froh", kann er da schreiben, daß „von Politik fast nicht gesprochen" werde, er sei eben „kein £cpov 7COA,ITIKÓV" und habe „gegen derartige Dinge eine Stachelschweinnatur" 35 . 1870 tritt der Nietzsche hervor, der sich aus den Bindungen konventioneller Politik befreit hat. Bereits bei Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges erstaunt, daß Nietzsche statt eines Kampfes um Macht einen Kampf um Kultur ausbrechen sieht. „Es gilt unsrer Kultur! Und da giebt es kein Opfer, das groß genug wäre!" 36 Die deutsche Einheit, die Nietzsche ersehnt, ist eine des Geistes, der Gesinnung, der Kultur geworden. Alle politischen Fragen beginnen sich denen der Kultur unterzuordnen. Zwar leistet Nietzsche seine 30
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JGB, Nr. 242 ff., Nr. 256, K G W VI/2, 188 ff., 209 ff.; GD, Was den Deutschen abgeht, K G W VI/3, 97 ff. K G B 1/2, 5.7.1866, 138. Zu einer Geschichte der litterarischen Studien im Altertum und in der Neuzeit (1867/68), BAW III, 321. A.a.O. 320. Er selbst verwendet diesen Begriff K G B 1/2, August 1866, 159. So über seine Lage, als er im Haus des ehemaligen Parlamentariers Biedermann logiert, K G B 1/2, 27.10.1868, 331. K G B II/l, 19.7.1870, 131.
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Konventionelle Anfange (1858-1870)
deutsche Pflicht"37 während des Krieges von 1870/71 als Krankenpfleger. Auch findet man im Verlauf des Jahres 1870 — besonders an Wagner gerichtet — noch manches markige Wort: so zum Beispiel ein Lob der „Feuerzeichen" der deutschen Siege38. „Wann . . . wäre man je", heißt es nach Sedan, „auf stolzeren Füßen gegangen als jetzt?"39 Aber man kann etwa den November des Jahres 1870 als den Zeitpunkt ansetzen, von dem an Nietzsches politische Ideale den Zielen der Kultur endgültig subordiniert werden. Aus dem Preußen wird der Anwalt der Kultur, und dieser sieht im Zeichen nationaler Machtstaatspolitik ein Klima heraufziehen, das der Kultur nicht förderlich sein wird. „Wenn wir nur nicht die ungeheuren nationalen Erfolge zu theuer in einer Region bezahlen müssen, wo ich wenigstens mich zu keinerlei Einbuße verstehen mag. Im Vertrauen: ich halte das jetzige Preußen für eine der Cultur höchst gefährliche Macht."40 I. 4. Von imperialer Größe %ur Größe der Kultur oder Nietzsche und Burckhardt (1870/71) Nietzsches Sympathien für den Krieg, den er ersehnt hatte, haben sich gegen Ende des Jahres 1870 in Antipathie gegen den „Eroberungskrieg" verwandelt.41 „Der Sieger wird meistens dumm, der Besiegte boshaft"42 — sollte er sich einige Jahre später notieren. Aber Nietzsches Distanzierung vom Krieg wie seine Sorge um den Zustand der Kultur sind mehr als die übliche Klage, daß im Krieg die Musen schweigen. Es ist die grundlegende Spannung von Geist und Macht, die Nietzsches frühe Philosophie ähnlich wie Burckhardts Kulturphilosophie auszutragen versucht. Und es ist im Falle Nietzsches auch die spezifisch deutsche Antithese von Politik und Kultur, die in den nächsten Jahren sein Denken bestimmt. Nietzsche hatte eine Wandlung vollzogen, die folgenschwer sein sollte. Sie führte ihn fort von der Politik des Tages, von der Politik Deutschlands, ja allmählich sogar von der seiner Epoche. Aus dem kurzfristig enragierten politicus wurde der Anwalt der Kultur, dazu schon getrieben durch die eigene bildungsbürgerliche Aversion gegen das politische Geschäft, bestärkt in enormem Maße durch die Bekanntschaft mit Person und Werk J.Burckhardts.
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KGB II/l, 8.8.1870, 134. KGB II/l, 11.9.1870, 144. KGB II/l, 21.9.1870, 145. KGB II/l, 7.11.1870, 155. KGB II/l, 12.12.1870, 164. K G W III/4, Anfang 1874-Friihjahr 1874, 389.
Von imperialer Größe zur Größe der Kultur (1870/71)
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Es gehört zu den Topoi der Darstellungen „Nietzsche und Burckhardt", letzteren als den traditionsverhafteteren Denker zu schildern, der die Klassik, die Humanität der Alten und den homo vere humanus der Renaissance ungebrochener bewahrte als der zwielichtige Nietzsche.43 Dies ist für den grundsätzlichen Vergleich beider eine legitime Perspektive. Aber zu Beginn der siebziger Jahre muß man zunächst einmal die entscheidenden Gemeinsamkeiten bemerken, die den jungen Professor der Altphilologie mit dem großen Gelehrten verbanden. Nietzsches Schülerschaft bei Burckhardt stand hinter der bei Schopenhauer und Wagner nicht zurück. 44 „Größe", so hatte Burckhardt gesagt, sei, „was wir nicht sind"45. „Macht", so hatte er Schlosser nachsprechend formuliert, sei „an sich böse"*6. Er hatte dem modernen Streben nach immer mehr Macht, nach Reichtum und Genuß das Maß der Antike gegenübergestellt. Im Zeitalter der Massen und der sich ankündigenden Demokratie hatte er erinnert an die Frühzeit der Griechen und ihre heroischen und aristokratischen Werte. Und er fand in Nietzsche einen gelehrigen Schüler, bereit, mit den Griechen gegen die eigene Zeit zu denken, bereit, kulturelle Größe von politischer zu unterscheiden, bereit, den Aristokratismus und Heroismus hoher Kultur dem Geist des Massenzeitalters entgegenzuhalten. Von den drei Potenzen, die bei Burckhardt in ihrem komplizierten Wechselspiel die Geschichte bestimmen, Staat, Religion und Kultur, verlagerte sich bei Nietzsche alles auf die Kultur. Die Religion wurde zunächst unterschwellig, später offen als der Kultur feindliche Macht behandelt. Dem Staat wurde in seltener Radikalität jedes Eigenrecht bestritten. Diener der Kultur sollte er sein, nicht mehr und nicht weniger. Das war freilich Geist vom Geiste Burckhardts, genauso wie Nietzsches Feier der großen Einzelnen die Nähe zu Burckhardt verriet. Die Großen, das waren für Nietzsche die Schöpfer der Kultur, die Philosophen, die Künstler, die Genies, und man findet beim jungen Nietzsche, ja selbst noch beim älteren immer wieder als Ideal formuliert: den Orden, das 43
Diese Sicht leitet die schönen Studien von K. Löwith: Jacob Burckhardt, Stuttgart 1936, und A. v. Martin: Nietzsche und Burckhardt, München 2 1942. Burckhardt an Nietzsche zu messen, versuchte E. Salin: Jacob Burckhardt und Nietzsche, Basel 1938. Nietzsche hörte im November 1870 in Basel Burckhardts Vortrag über „Historische Größe". Er war Hörer von Burckhardts Kolleg über das „Studium der Geschichte" (WS 1870/71). Somit kannte er, was später unter dem Titel „Weltgeschichtliche Betrachtungen" veröffentlicht wurde. Sein großes Kolleg über „Griechische Kulturgeschichte" las Burckhardt im Sommer 1872 zum ersten Mal. Nietzsche erhielt durch A. Baumgartner und L. Kelterborn eine Nachschrift, K. Schlechta: Friedrich Nietzsche. Werke Bd. III. Anhang, München 1966, 1367. J. Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Leipzig o. J. (Kröner), 209. J. Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, a. a. O. 36. „Macht, die immer böse ist", Der griechische Staat (1872), K G W III/2, 262. 2 1%6
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Konventionelle Anfänge ( 1 8 5 8 - 1 8 7 0 )
geistige Kloster, die Bildungssekte, die Gelehrtenrepublik.47 Das waren Ideale so überpolitisch und apolitisch wie das „Glasperlenspiel", und doch sollten sie sich bei Nietzsche mit politischen Forderungen verschmelzen, deren Radikalität atemberaubend war. Als Schüler Burckhardts vertrat Nietzsche eine Politik, die von allem Imperialismus und aller Machtpolitik der Epoche zu trennen ist. Die Stadt, sei es das Athen der Antike oder das Florenz der Renaissance, sie war Burckhardt als politische Heimat hoher Kultur und geschichtlicher Ort der Humanität erschienen. Das deutsche Reich, so ahnte er, würde auch nach dem Krieg „weiterexerzieren", bis niemand mehr sagen könne, „wozu das Leben eigentlich vorhanden sei"48. Dies wurde Nietzsches Sorge auch: die „Exstirpation des deutschen Geistes Gunsten des ,deutschen Reiches' " 49 , und wie Burckhardt, so sollte auch er sich dem Ideal der Stadt zuwenden, deutlich geschieden von allen imperialen Gebilden, hießen sie nun imperium romanum oder deutsches Reich. Es verwundert nicht, daß Nietzsche, der ehemalige Preuße und Nationale, die Geburt des Reiches und die Proklamation des Kaisers zu Versailles mit keinem Wort erwähnt. Sein „Kampf war ein anderer geworden als der Krieg der Nationen. Er stand noch bevor, und er sollte geführt werden um „einen neuen Geist in der wissenschaftlichen und ethischen Erziehung unsrer Nation" 50 . Es war ein Kampf, der für Nietzsche wie für Burckhardt doppelt gefährdet war: durch die bürgerliche Gesellschaft auf der einen, durch den sich ankündigenden Sozialismus auf der anderen Seite. Nietzsche verstand sich als Erneuerer, hoffend, wie so viele vor ihm, daß sich der Geist des Griechentums noch einmal würde beleben lassen. Burckhardt blieb zeit seines Lebens klassischer Humanist. Bei Nietzsche sollte der Versuch der Erneuerung doppeldeutig werden. Er blieb der Klassik verbunden, aber er stellte auch eine Revision und Radikalisierung der alten Ideale dar. Das junge deutsche Reich hatte das Niveau der Kultur nicht bewahren können, das Deutschlands klassische Epoche geprägt hatte. Nietzsche wollte sie zurück, aber auf eine neue Weise. Der Weg der Erneuerung ist für ihn zu einem Gang in die Einsamkeit geworden. Der Bayreuther Wagner wurde am Ende in das Reich integriert, Nietzsche wurde es nie mehr. 47
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Schon 1870 schreibt Nietzsche mit Blick auf den Krieg: „Welche/Wüstenei! Wir werden wieder Klöster brauchen. Und wir werden die ersten fratres sein", K G B II/l, 1 9 . 7 . 1 8 7 0 , 130/131. Man vergleiche noch K G W VIII/2, Herbst 1887, 218. „Ideal einer Bildungssekte", K G W III/4, Anfang 1 8 7 4 - F r ü h j a h r 1874, 390. „Mönchsorden", ebda. „Genialen-Republik" ä la Schopenhauer, HL, K G W III/l, 313. J. Burckhardt an Fr. v. Preen, 27.9.1870, zit. nach A. v. Martin: Nietzsche und Burckhardt, a. a. O. 76. DS, K G W III/l, 156. K G B II/l, 1 2 . 1 2 . 1 8 7 0 , 162.
Von imperialer Größe zur Größe der Kultur (1870/71)
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„Kunst und Philosophie kehrten sich vom jungen Nationalstaat ab und bauten ihr eigenes Reich, nur die Wissenschaft fand im nationalen Staat eine Heimstatt. Nietzsche steht an der Wegscheide dieser Entwicklung, aber er ist nicht Wortführer einer breiten Bewegung, sondern tut seine Schritte in immer größerer Vereinsamung."51
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Th. Schieder: Nietzsche und Bismarck, a. a. O. 8.
I I . - I V . Un2eitgemäße Philosophie und Politik ( 1 8 7 0 - 1 8 7 6 ) II. Nietzsche als Kritiker und „Arzt der Cultur"1 Nietzsche tritt uns nach 1870 in drei Rollen gegenüber, als „Arzt der Cultur" (II.), als radikaler Erneuerer des Griechentums (III.) sowie als Schöpfer einer deutsch-griechischen Mythologie, deren Hoffnungen sich auf die Metaphysik Schopenhauers und die Musik Wagners gründeten (IV.). Kritiker, Grieche und Deutsch-Grieche, das waren Rollen in einem Drama, dessen Akte zusammengehören, zurück zu den Griechen, fort von der eigenen Epoche und voraus zu einer neuen-alten deutsch-griechischen Kultur. Die Kritik ist dabei nicht immer der erste Akt gewesen. Aber wir wollen — der Logik der Darstellung zuliebe — mit ihr beginnen. So rücken die Reflexionen über die „Zukunft unserer Bildungsanstalten" (1872), Vorreden wie die über den „griechischen Staat" (1872), ja zum Teil sogar die „Unzeitgemäßen Betrachtungen I —III" (1872 — 1874) zunächst vor die „Geburt der Tragödie" (1872), zu der wir dann allerdings überleiten wollen, wenn wir dieses Kapitel mit Nietzsches Sokrateskritik beschließen, die der Tragödienschrift vorausging und in ihr wiederkehrte. Durch den Beginn mit dem Kritiker sieht man bereits, wie Nietzsche die Verkehrung geißelt, die Staat und Gesellschaft zu Herrschern über die Kultur werden ließ (II.l.). So erahnt man bereits, daß sich Nietzsche von Kapitalismus und Sozialismus zugleich abwendet und auf neues Terrain vortastet (II.2.). So stößt man auf den Kritiker der Kultur, der — wie kein anderer — den Verfall der Bildung aufdeckte (II.3.). So begegnet man dem „Arzt der Cultur", der ihre Krankheit als eine an der Geschichte diagnostizierte (III.4.). Und so wird man schließlich auf Nietzsches ersten großen Gegenspieler treffen, den Sokrates, dessen Philosophie für Nietzsche zum Zerrbild wurde, in dem die Dekadenz der Epoche zu betrachten sein sollte (H.5.).
„Arzt der Cultur" — diese Rolle verstand Nietzsche als Wiederholung vorsokratischen Philosophierens. Philosophie kann „keine Kultur schaffen/aber sie vorbereiten/oder sie erhalten/oder sie mäßigen", K G W III/4, Winter 1872/73, 141.
Die Verkehrung oder Staat und Gesellschaft als Herrscher über die Kultur
II.1. Die Verkehrung oder Staat und Gesellschaft als über die Kultur
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Herrscher
Nietzsche denkt in den siebziger Jahren politisch im Namen der Kultur, die er ersehnt. Es ist die Kultur, und es ist diese allein, deren Gelingen und Scheitern ihm zum Maßstab des Politischen wird. Die Politik der Zeit ist verkehrt, und man begegnet, von den Überlegungen über „Die Zukunft unserer Bildungsanstalten" (Anfang 1872) bis zur dritten der „Unzeitgemäßen Betrachtungen", „Schopenhauer als Erzieher" (1874), immer wieder demselben Klagelied, daß das Verhältnis von Politik und Kultur in der Gegenwart auf den Kopf gestellt worden sei. Statt Diener der Kultur zu sein, sind Staat und Gesellschaft zu ihren Herren geworden, und dies hat weder ihnen noch jener zum Vorteil gereicht. Nietzsches Vorbild war der „griechische Staat" (siehe hier III.l.). Er war Diener der Kultur, „Kamerad und Weggenosse"; der Staat des 19. Jahrhunderts ist nur noch „Grenzwächter, Regulator, Aufseher" 2 . Er, und im Verein mit ihm die bürgerliche Gesellschaft, bedrängen die Kultur, und der sich ankündigende Sozialismus verspricht für Nietzsche vieles, nur eines nicht, Rettung dieser bedrohten Kultur zu sein. Nietzsches Philosophie der frühen siebziger Jahre opponierte gegen jeden Staat und jede Form der Gesellschaft, die sich den Zielen der Kultur nicht radikal unterordnete. Dies entfernte Nietzsche nicht nur vom nationalen Machtstaat, sondern im Grunde von allen bürgerlichen und sozialistischen Modellen der Politik seiner Zeit. Er hatte anderes im Sinn als die Rechtshegelianer, die wie A. Lasson oder C. Rößler damals den Machtstaat priesen, er war staatskritischer als der Etatist Lassalle, er hatte kein Verständnis für die Machtfeier der Historiker wie Droysen oder Treitschke, und er war Anti-Hegelianer, ausgehend von dem Hegelbild, das sich seit der glänzenden Kritik des Liberalen R. Haym („Hegel und seine Zeit" [1857]) durchgesetzt hatte: Hegels Philosophie galt als Anfang der Verherrlichung des Bestehenden und der Vergötzung des Staates. Sie waren nach preußischen Anfangen nun auf das Reich übertragen worden. Aber beides lag Nietzsche fern, die „hegelianische" Forderung, daß „die Menschen mit ihm [dem Staat, H. O.] denselben Götzendienst treiben möchten, den sie mit der Kirche getrieben haben" 3 , ja überhaupt die optimistische These, daß die Wirklichkeit vernünftig geworden sei. „ ,Ist diese Unvernunft wirklich?' " — stellte er dem entgegen, was er für Hegels Lehre hielt. 4 Nietzsche hat Hegels Philosophie verwechselt mit den liberalen Vorurteilen über sie und dem, was der Rechtshegelianismus seiner Zeit aus ihr machte. 2 3 4
Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten (1872), K G W III/2, 201. SE, K G W III/l, 364. Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten (1872), K G W III/2, 234.
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Nietzsche als Kritiker und „Arzt der Cultur"
Für Hegel war noch eindeutig gewesen, daß der „absolute Geist", Kunst, Religion und Philosophie, dem „objektiven Geist", Staat und Gesellschaft, übergeordnet waren; und auch mit platter Verherrlichung des Bestehenden ist seine kritische und an Vernunft orientierte Philosophie nicht zu verwechseln. Gleichwohl, das Sicheinrichten im Bestehenden war der Geist des jungen Reiches, in dem sich nun endlich die Hoffnungen der Nation erfüllten. Die Vergötterung des Staates auf Kosten des „absoluten Geistes" war Realität geworden. Die Zweckfreiheit der ehemals klassischen Bildung, ihre Einsamkeit und Freiheit begann sich mehr und mehr zu zersetzen unter dem Ansturm staatlicher Ansprüche auf der einen, gesellschaftlicher auf der anderen Seite. Erzogen wurde nicht mehr für die zweckfreie Bildung der Persönlichkeit, sondern für die Ausbildung zum Gelehrten und Beamten, zum Erwerbenden und Bildungsphilister. Statt von „Anstalten der Bildung" müßte demnach von „Anstalten der Lebensnoth" die Rede sein.5 Das Bündnis von Staat und Bildung ging vor allem auf Kosten der letzteren. Als staatliche akademische Bildung verlor sie die Verbindung zu Kunst und Philosophie ihrer Zeit, für Nietzsche exemplarisch deutlich an der Einsamkeit eines Schopenhauer oder Wagner. Dem Staat, so war er sich gewiß, ist „nie an der Wahrheit . . . sondern immer nur an der ihm nützlichen Wahrheit . . . [gelegen]" 6 . Er wird in der Bildung seine Zwecke und damit auch die der Gesellschaft verfolgen. Für Nietzsche entsprach der „Selbstsucht"7 des Staates die Selbstsucht des Bourgeois. Was mit der Bildung in der bürgerlichen Gesellschaft geschieht, ist ihre Indienstnahme für die Produktion, für die Jagd nach Glück und Gewinn, „möglichst viel Erkenntniß und Bildung — daher möglichst viel Produktion und Bedürfniß — daher möglichst viel Glück" 8 — das ist die geheime Logik der Kultur im Kapitalismus. Es ist die geheime Logik sozialistischer Kulturpolitik nicht weniger. „Die allgemeine Bildung ist nur ein Vorstadium des Communismus."9 Auf dem Umweg der gleichen Bildung für alle wird eine Besserung des Loses der Unterprivilegierten erstrebt. In Wahrheit erfahrt die Bildung damit dieselbe Degradierung zum Mittel materieller Zwecke wie in der bürgerlichen Gesellschaft auch. Auch der Sozialismus verspricht Glück und Gewinn, er nivelliert die Bildung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner der Ansprüche der Massen, und er richtet sie aus am Nutzen.10 Wenn Lassalle „die verdammte Bedürfnislosigkeit des Proletariats" beklagt, dann ist dies für 5
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A. a. O. 209.
SE, KGW III/l, 418.
Gegen die „Selbstsucht" der Erwerbenden, des Staates, der Gelehrten, a. a. O. 383ff. Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten (1872), K G W III/2, 159. K G W III/3, Winter 1870/71-Herbst 1872, 253. Ebda. „Die .zeitgemäße' Bildung geht hier in das Extrem der .augenblickgemäßen' Bildung über: d. h. das rohe Erfassen des momentanen Nutzens . . . Die allgemeine Bildung geht in Haß gegen die wahre Bildung über".
Nietzsche als Kritiker von Sozialismus und Kapitalismus
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Nietzsche aufschlußreich. Es verrät, wohin man gelangen möchte, zur Bildung als einem Mittel der Erzeugung von Bedürfnissen.11 Der Kreis schließt sich um Kapitalismus und Sozialismus zugleich. In beiden Fällen triumphieren Staat und Gesellschaft, Politik und Arbeitswelt über das Reich der Kultur. II.2. Nietzsche als Kritiker von Sozialismus und Kapitalismus oder Ahnung eines unbekannten Nietzsche Nietzsches Kritik an der Verkehrung von Politik und Kultur schloß Kapitalismus und Sozialismus ein. Sie war formuliert im Namen der Kultur. Aber sie war weder politisch noch ökonomisch ahnungslos, wie es Nietzsche gerne unterstellt wird. Es war gewiß eine unzeitgemäße Kritik, die sich auflehnte gegen das, was war und kam. Sie stellte der Tendenz zur Erweiterung und zur Verminderung der Bildung die Hoffnung entgegen „nach Verengerung und Koncentration . . . nach Stärkung und Selbstgenügsamkeit"12, anrennend gegen die Logik der zeitgemäßen Bildung, für die das Gesetz zu wirken begann: je allgemeiner, desto flacher. Aber was da zunächst nur als eine unzeitgemäße Erneuerung des klassischen Bildungsanspruchs erscheint, verbarg zugleich eine hochbrisante Kritik, die weder mit der Schablone des Antisozialismus allein noch mit der einer indirekten Apologie des Kapitalismus überhaupt verständlich zu machen ist. Sozialisten von Mehring über Lukäcs bis zu Marxisten-Leninisten von heute haben sich von Nietzsche abgewendet, weil sie in ihm den Antisozialisten erkannten.13 Nietzsche ist Antisozialist gewesen, es hat wenig Sinn, dies zu leugnen, und es hat wenig Sinn, diesen Antisozialismus ä la Thomas Mann in Nietzsches heimliche Freundschaft für den Sozialismus umzuwandeln. 14 Aber Nietzsches Antisozialismus war nicht das Zentrum seiner Philosophie, weder zu Beginn der siebziger Jahre noch später.15 Und aus diesem Antisozialismus folgt nun gerade nicht das Naheliegende, daß Nietzsche ein Apologet des Kapitalismus gewesen ist. Nietzsche war von Kapitalismus und Sozialis11
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„Keine Bedürfnisse haben ist für das Volk das größte Unglück, erklärte einmal Lassalle. Daher die Arbeiterbildungsvereine: als deren Tendenz mir mehrfach bezeichnet worden ist, Bedürfnisse zu erzeugen", ebda. Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten (1872), K G W III/2, 139. F. Mehring: Nietzsche gegen den Sozialismus, in: Gesammelte Werke Bd. 13, Berlin 1961, 167 ff.; ders.: Über Nietzsche, a. a. O. 173 ff. G. Lukäcs: Die Zerstörung der Vernunft, Werke Bd. 9, Neuwied-Berlin 1962. Über die marxistisch-leninistische Nietzsche-Kritik von heute informiert E. Behler: Nietzsche in der marxistischen Kritik Osteuropas, in: Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82) 80 ff. Th. Mann: Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, in: B. Hillebrand (Hrsg.): Nietzsche und die deutsche Literatur Bd. I, a. a. O. 292. Die Zerstörung der Vernunft, a. a. O. 273.
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Nietzsche als Kritiker und „Arzt der Cultur"
mus gleich weit entfernt. Das macht ihn suspekt in Ost und West, und man muß nach den Kategorien suchen, in denen sich seine radikal unzeitgemäße Position überhaupt beschreiben läßt. Nietzsche hat Marx und Engels nie gelesen. Aber seine Kenntnisse des Sozialismus, der deutschen Sozialdemokratie insbesondere, und auch des Anarchismus waren vermutlich solider, als man es bisher bemerkte. Er kannte Lassalle, er kannte Dühring, er kannte später Bebel, er ist vermutlich über Dritte (wie M. v. Meysenbug, Richard und Cosima Wagner oder J. St. Mill) mit anderen bekannt geworden, mit A. Herzen, M. Bakunin und den heimlichen Gemeinsamkeiten zwischen liberaler und sozialistischer Ideologie. 16 Zu Beginn der siebziger Jahre hatte Nietzsche vornehmlich die deutsche Arbeiterbewegung im Blick, besonders Lassalle; und, wie wir wissen, ist ihm auch das Feuerzeichen des Kommenden, die Commune, nicht entgangen. Schon der Schüler Nietzsche äußert sich beiläufig ant¡sozialistisch. Angesichts des geschichtlichen Wandels der Staatsformen erschien es ihm als „Beschränktheit, der ganzen Menschheit irgend eine spezielle Form des Staates oder der Gesellschaft gleichsam mit Stereotypen aufdrucken zu wollen; alle socialen und communistischen Ideen leiden an diesem Irrtum" 17 . Im Briefwechsel zwischen Nietzsche und von Gersdorff klingt das aktuelle Thema der „sozialen Frage" gelegentlich an, und wenn von Gersdorff lapidar mitteilt: „die ganzen Kämpfe der Gegenwart sind volkswirthschaftlicher Natur. Capital und Arbeit kämpfen gegeneinander in Frankreich, in England, in Amerika, bei uns" 18 , so findet Nietzsche das Interesse an nationalökonomischen Fragen „sehr begreiflich", und er bedauert nur, „bis jetzt [1868, H. O.] eines tüchtigen Pfadzeigers ermangelt zu haben"19. Nietzsches Stellung zum Sozialismus tritt spätestens zu Zeiten der Commune unmißverständlich hervor. Die (falsche) Nachricht vom Brand des Louvre wird zu einer Art historischem Signal, zum Feuerzeichen des Kommenden: der sozialistischen Kulturgefahr. Welchen Sinn hatte die Sorge um die Kultur und um ihre Wiederbelebung, wenn ein einziger Tag „ganze Perioden der Kunst" vernichten konnte?20 Schon die Vorträge über die 16
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Zu Nietzsches Quellen für die Kritik des Sozialismus M. Montinari: Nietzsche zwischen Alfred Baeumler und Georg Lukäcs, in: Nietzsche lesen, a. a. O. 201 f.; K. Brose: Nietzsches Verhältnis zu John Stuart Mill, in: Nietzsche-Studien 3 (1974) 1 5 2 - 1 7 5 . Fatum und Geschichte (1862), BAW II, 58. Ebenfalls 1862 exzerpierte Nietzsche Th. Mündts „Geschichte der Gesellschaft": „Der Kommunismus, ausgehend von der Gütergemeinschaft, zerstört dadurch das innerste Wesen der menschlichen Persönlichkeit, die mit Eigenthum zusammenhängt", Nachbericht BAW II, 434. K G B 1/3, 3 0 . 1 2 . 1 8 6 7 , 224. K G B 1/2, 16. 2. 1868, 257 f. „Als ich von dem Pariser Brande vernahm, so war ich für einige Tage völlig vernichtet . . . die ganze wissenschaftliche und philosophisch-künstlerische Existenz erschien mir als eine
Nietzsche als Kritiker von Sozialismus und Kapitalismus
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„Zukunft unserer Bildungsanstalten" müssen als Nietzsches Antwort auf diese Herausforderung gelesen werden, als seine „Vorschläge (gegen den Socialismus)"21. Und die Wiedergeburt des tragischen Mythos, welche die „Geburt der Tragödie" ersehnte, auch sie hat (unter anderem) die Bedeutung, eine Therapie des Sozialismus zu sein: „Die ernste Weltbetrachtung als einzige Rettung vor dem Sozialismus."22 Wenn Nietzsche eine „Rettung" vor dem Sozialismus suchte, dann vor allem, weil er in ihm den optimistischen, eudaimonistischen Geist der Zeit auf der einen, ihren Weg zur Egalität auf der anderen Seite symbolisiert sah. Statt des Optimismus wollte Nietzsche den tragischen Mythos, statt des Eudaimonismus heroische Werte, statt der Gleichheit eine Rangordnung, ohne die er sich eine Gesellschaft mit hochstehender Kultur nicht vorstellen konnte. Gegen die Gleichheitsparolen, die in der deutschen Arbeiterbewegung der sechziger Jahre eine so große Rolle spielten, aber auch gegen die Hoffnung, „die verdammte Bedürfnislosigkeit des Proletariats" werde sich schon einmal zum Wunsch nach Konsum und Glück verändern, setzte Nietzsche die provokante These von der Kulturnotwendigkeit der Sklaverei 23 . Ohne sie keine Muße der Privilegierten, ohne diese wiederum keine Erzeugung der höheren Bedürfnisse, die als Wunsch nach dem Überflüssigen auf Kunst und Kultur zielen. Ob Sklaverei oder ein milderer Begriff — auf den Namen kam es für Nietzsche nicht an.24 Wenn Kultur sein soll, dann muß da eine Trennung sein von Arbeitswelt und Kultur. Wenn Kultur sein soll, muß eine Klasse der Gesellschaft „mehr arbeiten", damit einer „geringen Anzahl olympischer Menschen" die Schöpfung der Kulturwelt ermöglicht werde. 25 An dieser pessimistischen Wahrheit hat er für einige Jahre nicht zweifeln wollen. Es liegt nichts näher, als in Nietzsches Kulturtheorie eine — kulturpolitisch nur verschleierte — Rechtfertigung des Kapitalismus zu erblicken, die alle kapitalistische Liberalität noch rechts überholt. Man darf Nietzsche nicht verharmlosen, und schon seine frühe Zeitkritik verrät, daß da neben der Lust an der Provokation und am lauten Wort eine radikale Unbekümmertheit stand, die der Kritik am Optimismus, Eudaimonismus und Egalitarismus jede Form moderner Solidarität, Gleichheit und Humanität zu opfern bereit
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Absurdität, wenn ein einzelner Tag die herrlichsten Kunstwerke, ja ganze Perioden der Kunst austilgen konnte ...", KGB II/l, 21.6.1871, 204. K G W III/3, 1871, 310. K G W III/3, Winter 1870/71-Herbst 1872, 269. „daß %um Wesen einer Kultur das Sklaventbum gehöre", Der griechische Staat (1872), K G W III/2, 261. Das Schwanken im Ausdruck z. B. K G W III/3, Anfang 1871, 355. Der griechische Staat (1872), K G W III/2, 261.
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Nietzsche als Kritiker und „Arzt der Cultur"
war. Wenn der junge Marx die Not noch „drückender machen" wollte, damit aus ihr Revolution und Emanzipation entsprängen, so war der junge Nietzsche bereit, eine Steigerung des „Elends" im Namen der Kultur zu fordern. 26 Aber Nietzsches provokanter Rede zum Trotz — dies war kein Plädoyer für den Kapitalismus, sondern eine Philippika (auch) gegen ihn. Nietzsche teilte mit den Sozialisten die Kritik der Entfremdung, er verteidigt sie nie. Der Verlust der Muße, die barbarischen Folgen der Spezialisierung, die Isolierung des Einzelnen, seine erhöhte Anfälligkeit für Ideologien, die Verdinglichung der Existenz, das wirft Nietzsche nicht weniger als die Sozialisten der bürgerlichen Gesellschaft vor. 27 Die „Mehrarbeit" der vielen für die wenigen Kulturschöpferischen, sie soll sein. Aber sie war für Nietzsche nie mit der Ausbeutung für die Zwecke „des" Kapitalisten oder „der" Kapitalisten, der Wirtschaft oder der Wohlfahrt aller identisch. Allein die durch sie ermöglichte Kultur vermöchte die Rechtfertigung solcher „Mehrarbeit" zu sein. Und das ist für Nietzsche das Unerträgliche, daß sich das ganze Räderwerk von Ausbeutung und Entfremdung in der bürgerlichen Gesellschaft dreht und doch nicht erzeugt, was seine Rechtfertigung erst wäre: hohe Kultur. Es verträgt sich nicht mit der bei Sozialisten so beliebten These von Nietzsche, dem Apologeten des Kapitalismus, daß schon der junge Nietzsche die bürgerliche Gesellschaft und den Liberalismus nicht weniger verwirft als das, was ihm vom Sozialismus seiner Zeit bekannt gewesen ist. Er war in Sachen Ökonomie nicht ganz ahnungslos, und vielleicht war eine seiner Quellen die glänzende Kritik, die F. A. Lange in seiner „Geschichte des Materialismus" an der modernen Nationalökonomie geübt hatte, an der „Dogmatik des Egoismus" und der Seligsprechung der „Pleonexie".28 Der Egoismus bewegte die bürgerliche Ökonomie, und er bewegte auch den Staat. Der Prasser statt des Lazarus verdiente hier „Abrahams Schooß"29, 26
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K. Marx: Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung (1843/44), in: MarxEngels-Werke Bd. 1, Berlin 1969, 381. F. Nietzsche: Der griechische Staat (1872), KGW III/ 2, 261. „Das Elend der mühsam lebenden Menschen muß noch gesteigert werden, um einer geringen Anzahl olympischer Menschen die Produktion der Kunstwelt zu ermöglichen." „Das Sklaventhum der Barbaren (d. h. von »w.r)./Arbeitstheilung ist Princip des Barbarenthums, Herrschaft des Mechanismus . . ./Individualismus der Neuzeit und der Gegensatz im Alterthum. Der ganz vereinzelte Mensch zu schwach und fällt in Sklavenbande: z. B. einer Wissenschaft, eines Begriffs, eines Lasters", KGW III/3, Winter 1869/70-Frühjahr 1870, 73. Oder: „Sklaven der drei M, des Moments, der Meinungen und der Moden", SE, KGW III/l, 388. F. A. Lange: Geschichte des Materialismus, Iserlohn 1866, 1887 (NB), Abschnitt IV. 1. Nietzsche kennt dieses Buch bereits seit 1866, BAW III, 333 ff., 346, 353, 365, 372, 375, 442. Die Bedeutung Langes für Nietzsches frühen Kritizismus hebt J. Salaquarda hervor, Nietzsche und Lange, in: Nietzsche-Studien 7 (1978) 236 ff. KGW III/3, Winter 1870/71-Herbst 1872, 253.
Nietzsche als Kritiker von Sozialismus und Kapitalismus
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und daß dies so war, wurde von der Politik der Moderne nur verschleiert. „Würde des Menschen ... Würde der Arbeit" 30 , „Gleichberechtigung Aller" oder die „sogenannten .Grundrechte des Menschen'" 31 — für den jungen Nietzsche sind sie „Phantome"32, ähnlich wie für den jungen Marx der „Schein" am bürgerlichen Himmel, während auf der Erde der Krieg der egoistischen Interessen tobt. Der Staat war eine „Schutzanstalt egoistischer Einzelner"33 — nicht mehr. Die Politik war zum „Mittel der Börse" geworden.34 Staat und Gesellschaft dienten als „Bereicherungsapparate" Einzelner.35 Das mochte eine ökonomistisch kurzgreifende Kritik der bürgerlichen Gesellschaft und des Liberalismus sein; probürgerlich oder proliberal waren solche Lehren nicht. Was Nietzsche suchte, war die Überwindung der Entfremdung, die Wiedergewinnung der allseitigen Persönlichkeit und der Dominanz der Kultur über Ökonomie und Politik. An die Stelle des Materialismus und Egoismus der bürgerlichen Welt sollte eine Ächtung des Reichtums treten. Der einzelne Kapitalist habe sowieso keine Zukunft, „ungeheure Conglomerate" würden „an Stelle der vereinzelten Capitalisten treten" 36 ; die „Börse" werde dem „Fluche verfallen, dem jetzt die Spielbanken gefallen sind"; „der reiche oder begabte Egoist" werde als ein „Kranker" behandelt und dem „Mitleiden preisgegeben" werden; und wenn „Bildung und Erziehung" einmal nicht mehr dem egoistischen Erwerbsmenschen, sondern dem Ernst der Kultur verschrieben sein würden, dann läge darin „die Lösung der socialen Frage" 37 . Der „Fluch" des Geldes ist das bürgerliche Verhängnis der Zeit, und der sozialistische Materialismus mit seiner Hoffnung auf Wohlstand für alle hängt noch indirekt davon ab. Es ist eine Art tragischer Verstrickung, vergleichbar der magischen Kettung, die der „Ring" des Nibelungen symbolisiert.38 Davon zu befreien, würde radikale Kuren fordern, und wie Nietzsche gegen den Sozialismus die Kulturnotwendigkeit der Sklaverei pries, so hat er gegen die bürgerliche Gesellschaft und die liberale Schutzanstalt die Kulturnotwendigkeit des Krieges ausgespielt. Der Krieg als Reiniger des Staates von allen egoistischen und materialistischen Motiven, so hieß seine Losung gegen die bürgerliche Sekurität. 39 Das war im Grunde platonisch gedacht, so wie Piaton 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39
Der griechische Staat (1872), K G W III/2, 259. A. a. O. 260. A. a. O. 259. A. a. O. 268. Ebda. Ebda. K G W III/3, September 1 8 7 0 - J a n u a r 1871, 125. Ebda. R. Schmidt: Auf der Suche nach dem Humanum, in: Nietzsche-Studien 13 (1984) 129 ff. Der griechische Staat (1872), K G W III/2, 268.
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Nietzsche als Kritiker und „Arzt der Cultur"
die „aufgeschwemmte" Stadt durch Ständebildung und Paideia zu reinigen hoffte. Aber diese Lehre wirft auch Fragen auf nach Nietzsches Position. „Sklaverei" und „Krieg" — das klingt weniger nach unzeitgemäßen Idealen als nach durchaus zeitgemäßer Barbarei. Nietzsche, der Antisozialist und Antikapitalist, doch ein Kind seiner Zeit? Die Trennung von Arbeitswelt und Kultur, die Nietzsche propagierte, entsprach der Unfähigkeit des 19. Jahrhunderts, Arbeit und Bildung zu versöhnen. Mit der These von der Kulturnotwendigkeit der Sklaverei stand Nietzsche damals nicht alleine.40 Und die antibourgeoisen, sittlichen und kulturellen Effekte des Krieges, schon Hegel hatte sie gerühmt, und so mancher Hegelianer der Bismarckzeit hat in diesen Lobgesang eingestimmt. 41 Und doch, man darf Nietzsche nicht mit seinen Zeitgenossen verwechseln. Er wollte über Kapitalismus und Sozialismus hinaus. Sie galten ihm als feindliche Brüder, oberflächlich betrachtet verschieden, in Wahrheit hinter ihrem Rücken geeint in der Unfähigkeit zu Tragik und heroischen Werten (zur „Vornehmheit", wie es später heißen sollte), geeint in Optimismus und Eudaimonismus, in Fortschrittsglauben und Glücksverheißung, in der Vermengung von Arbeitswelt und Reich der Kultur, ja auch im Streben nach Gleichheit, das nur unterschiedlich stark ausgeprägt war. Sklaverei und Krieg — dieser Preis (welcher Kultur auch immer) wird heute jedermann als zu hoch erscheinen. Wie Nietzsche der Sozialismuskritik Solidarität und Gerechtigkeit opferte, so hat er mit der Kritik des bürgerlichen Egoismus und der Entfremdung zugleich den Rechtsstaat preisgegeben, hinter den noch Kant oder Hegel nur um den Preis des Verlustes an schon erreichter Vernunft einen Rückschritt für möglich gehalten hatten. Nietzsche fiel damit aus allen politischen und ökonomischen Kategorien des 19. Jahrhunderts heraus. Gegner des Machtstaates und nationaler Machtstaatspolitik war er sowieso schon, als Gegner des Rechtsstaates und des Liberalismus überhaupt, als Gegner auch allen Sozialismus wies ihn die Radikalität seiner Zeitkritik aus. Man kann an Nietzsches Politik und Philosophie deshalb im Namen des Kapitalismus und des Sozialismus vorbeigehen, und man hat sogar noch recht damit. Gleichwohl, es dürfte fruchtbarer sein, zwischen Nietzsches lauten Worten und den seriösen Aspekten seiner Kritik zu unterscheiden. Der „Sklave" und der „Krieger", obwohl sie eine wörtliche Bedeutung nicht ausschließen, sind im Grunde übersteigerte Gegenbilder zu Sozialismus und Kapitalismus, Bilder 40
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So erwähnt Nietzsche selbst als „großen Vorgänger" F. A. Wolf, der ebenfalls schon „die Nothwendigkeit der Sklaven im Interesse einer Kultur behauptet hat", K G W III/3, Ende 1870 —April 1871, 164. Z. B. A. Lasson: Das Kulturideal und der Krieg, Berlin 1868. C. Rößler: System der Staatslehre, Halle 1857, 547 ff.
Exempla des Kulturverfalls
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für jene Werte und Ideale, die zu bürgerlichen und sozialistischen in Spannung stehen. Und es ist ein Problem von bürgerlicher Gesellschaft und Sozialismus zugleich, inwieweit in ihnen noch Weltanschauungen des Lebensernstes sowie ethische Ideale möglich sind, die nicht auf Wohlfahrt, Sicherheit und Glück, sondern auf Entsagung, Dienst und Opferbereitschaft, asketische oder gar heroische Werte zielen. Es ist ein Problem von Kapitalismus und Sozialismus zugleich, daß sie Kinder des modernen Fortschrittsdenkens und seines Optimismus sind. Es ist ein Problem von Kapitalismus und Sozialismus zugleich, daß sie Politik und Kultur ökonomistisch zu gefährden vermögen. Und mit dem Optimismus und Eudaimonismus hatte Nietzsche getroffen, was noch heute Ost und West verbindet: die Konkurrenz um das Wohlleben, die alle Systeme durchdringt. Man kann Nietzsches Kritik, wie Lukics, als „romantischen Antikapitalismus" oder als ein Kurieren an Oberflächenphänomenen abtun, welches die politökonomische Ebene des Sozialismus gar nicht erreicht. 42 Nach dem Scheitern der Hoffnungen, durch ökonomische Veränderung zugleich das Problem der Entfremdung überhaupt zu lösen, wird man heute anders darüber denken dürfen. Sicher, Nietzsche hat der Frage, wer die Produktionsmittel besitzen soll, zeit seines Lebens wenig Interesse entgegengebracht. Aber wenn die Besitzer wechseln, muß sich die Gesinnung noch lange nicht ändern. Die Probleme eines nicht-egoistischen Ethos, einer nicht-entfremdeten Politik, einer Weltanschauung jenseits illusionärer Fortschrittsvorstellungen und Glücksverheißungen, einer vom Ökonomismus befreiten Kultur, alle sie bestehen dann immer noch fort.
II. 3. Exempla des Kulturverfalls (mit besonderer Berücksichtigung von D. Fr. Strauß, E. v. Hart mann, E. Dühring) Nietzsche hat gegen die Saturiertheit des Bürgertums im jungen deutschen Reich opponiert wie wenige sonst. Die klassische deutsche Kultur war zerfallen. Lessing und Winckelmann, Schiller und Goethe, sie waren ein Anfang gewesen; sie hatten die „ungeheure Arbeit" unternommen, „zu einem deutschen Stile zu kommen" 43 . Aber schon die Klassik trug die Keime des späteren Verderbens in sich. Schon sie war Kultur der Innerlichkeit gewesen, und schon sie hatte dem Ideal eines beschaulichen Lebens gehuldigt. Selbst Goethe — für den jungen Nietzsche immerhin der Deutsche, der es am 42
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Dies die immer wiederkehrende Argumentation von G. Lukäcs, z. B. Nietzsche als Vorläufer der faschistischen Ästhetik (1934), in: Werke Bd. 10, Neuwied-Berlin 1969, 307. K G W III/4, Sommer 1 8 7 2 - A n f a n g 1873, 93.
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Nietzsche als Kritiker und „Arzt der Cultur"
weitesten gebracht hatte in der Stilisierung seiner Existenz44 —, er hatte mit dem „Faust" das Ideal eines „Weltreisenden", nicht eines „Weltbefreiers" gegeben45. Schon Goethes Ideal: „der beschauliche Mensch im hohen Stile" 46 . Kein Wunder, daß man sich später auf dieser Klassik wie „auf einem Ruhebette" niederlassen konnte!47 Nietzsche hat angesichts der Einflüsse des Hegelianismus, des später so genannten Historismus, der alles Kulturstreben überschattenden nationalen, bürgerlichen und sozialistischen Politik die einst klassische Bildung schal werden sehen. Kultur ist entweder Sache der Innerlichkeit allein, oder, wo sie die Praxis überhaupt noch tangiert, da ist sie veräußerlicht, politisiert und aktualisiert, gesunken auf das Niveau des Journalismus. Die Spaltung von Innen und Außen geht auf Kosten der Qualität der Kultur so gut wie der Praxis, und Nietzsches Kampf gegen sie muß als ein indirekt-politischer gelten, der gegen den Verfall im Namen eines neuen Lebens gerichtet ist, das Innerlichkeit und Handeln, Kontemplation und Praxis wieder versöhnen soll. Nietzsches Exempla für den Verfall der Kultur sind zahlreich und verschiedenen Kulturgebieten entlehnt. Sie reichen von der Altphilologie, welche die Texte in „Stücke" reißt und die Antike nicht mehr lebendig zu bewahren vermag 48 , über die sentimentalisierte Literatur und Malerei 49 bis zur Politisierung und Historisierung, die das vergangene Große nur noch kennt, aber nicht mehr schafft.50 Angesichts des Verfalls kokettiert Nietzsche — zurückgreifend auf Hölderlin und Goethe — mit dem Begriff des „Barbarentums". Lieber Barbar als Bildungsphilister, ist der erstere doch noch bildbar, der letztere aber nicht.51 Der Bildungsphilister ist das Symbol deutscher Kultur geworden, alles wissend und nichts könnend. Er hat den Faust abgelöst und an die Stelle des faustischen Strebens die Sattheit und Behaglichkeit gesetzt.52 Sie hat sich in ihren optimistischen, selbstzufriedenen Zügen für Nietzsche
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K G W III/4, S o m m e r - H e r b s t 1873, 294. SE, K G W III/l, 366. Ebda. K G W III/4, Sommer 1 8 7 2 - A n f a n g 1873, 94. Besonders der II. Vortrag „Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten" (1872), K G W III/2, 1 6 4 f f . ; vgl. v o r allem 179. „Die ,,alten Jungfern', die sentimentalischen:/Riehl, Gervinus, Schwind, Jahn, Freitag/reden viel von der Unschuld und der Schönheit.", K G W III/4, Sommer 1 8 7 2 - A n f a n g 1873, 92. Dazu waren für Nietzsche die Jungen ,Greise' (Blasirten) . . ./Ranke, die Zeitungsschreiber, Mommsen, Bemays" als auch die „ewigen Gymnasiasten -./GottschM, Lindau, Gutzkow, Laube" zu rechnen, ebda. Nietzsche war sich — wie immer — der Provokation der Wortwahl bewußt. DS, K G W III/l, 168 oder K G W III/4, Sommer 1 8 7 2 - A n f a n g 1873, 1 0 2 f f . „Wenn der Deutsche aufhört, Faust zu sein, ist keine Gefahr grösser als die, dass er ein Philister werde und dem Teufel verfalle", SE, K G W III/l, 366.
Exempla des Kulturverfalls
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in der Popularphilosophie seiner Zeit besonders augenfällig dokumentiert, bei D. Fr. Strauß, E. v. Hartmann und E. Dühring. Nietzsches erste seiner „Unzeitgemäßen Betrachtungen" war gegen D. Fr. Strauß gerichtet, dessen erfolgreiches Buch „Der alte und der neue Glaube" eine Art tour d'horizon durch das bürgerliche Bildungsgut der Epoche darstellte. 53 Es war ein eigenartiges Buch, viel gelesen und viel kritisiert. Es begann mit der rhetorischen Frage, „ob wir denn noch Christen seien?", „noch Religion hätten?"; es klärte darüber auf, wie wir die Welt begreifen; es gab eine populäre Ethik, die vom Dekalog über den Stoizismus bis zu Kant und aktuellen politischen Fragen reichte; und es enthielt „Zugaben" mit Darstellungen „unserer großen Dichter" (Schiller, Goethe) und Musiker (Bach, Händel, Haydn, Mozart, Beethoven). Das machte den Eindruck eines Spazierganges durch ein wohlmöbliertes bürgerliches Haus: Kultur als Dekoration. Hier fand Nietzsche alles, was er verabscheute: die Klassik erstarrt zu einem „Wachsfigurenkabinet" 54 , Optimismus statt Lebensernst 55 , und das in einem Stil, den Nietzsche als „,Lumpen-Jargon der noblen Jetztzeit'" 5 6 zu entlarven trachtete. Wir wissen nicht zuverlässig, was Nietzsche bewogen hat, gerade D. Fr. Strauß als Symbol des Kulturverfalls anzugreifen. Persönliche Vorlieben wie die für Schopenhauer und Wagner könnten eine Rolle gespielt haben; der Pessimismus des einen wird von Strauß verworfen, die Musik des anderen von ihm nicht erwähnt. Ganz gewiß hat Nietzsche die Kulturbehaglichkeit empört, die Strauß' Buch ausstrahlte. Und vermutlich war da auch die Erinnerung mit im Spiel, die den Unterschied zwischen dem ehemaligen Revolutionär der protestantischen Theologie, dem Verfasser des „Lebens Jesu", und dem zufriedenen Bildungsbürger als bezeichnend für das Klima der Kultur empfand. Ein Himmelsstürmer war dieser ältere Strauß nicht mehr. Er hatte sich mit allem eingelassen, was damals gang und gäbe war, von Darwin bis zu den Naturwissenschaften. Selbst seine freimütigen Bekenntnisse in Sachen Christentum versöhnten ihn mit Nietzsche nicht. Strauß rief auf zu einem „neuen Glauben" an das göttliche All. Er war für Nietzsche „christlicher Theologe" geblieben. 57 Es ist weniger bekannt, daß Nietzsche damals nicht nur gegen Strauß, sondern auch gegen den hochgeschätzten Repräsentanten akademischer Philosophie, E. v. Hartmann, auftrat. Und wie die erste der „Unzeitgemäßen Betrachtungen" als ganze gegen Strauß gerichtet war, so ist die dritte teilweise 53 54 55 56 57
In Nietzsches Bibliothek befand sich die Erstausgabe (Leipzig 1872). DS, K G W III/l, 177. A . a . O . 184f. A. a. O. 217. A . a . O . 206. Vgl. K G W III/4, Frühjahr-Herbst 1873, 199f.
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Nietzsche als Kritiker und „Arzt der Cultur"
gegen Hartmann geschrieben.58 Hier fand Nietzsche einen Kenner Schopenhauers vor, der manches von diesem entlehnt hatte, den dunklen Willen zum Leben, die Unlust am Dasein, der sich aber doch nicht zum Pessimismus, sondern zu einem eigenartigen Optimismus wandte. Schopenhauer hatte die Askese empfohlen. Hartmann pries die Erlösung durch den „Weltprozeß", dem sich jeder kraft- und tatvoll hingeben sollte. Das war für Nietzsche noch einmal versteckter Hegelianismus, der im Historizismus endete.59 Und an die Stelle der großen Einzelnen, die Nietzsche wie Burckhardt als Schöpfer der Kultur feiern wollte, setzte Hartmann die Kulturfähigkeit der Massen; jeder Arbeiter habe heute Muße „ ,für seine intellectuelle Ausbildung' " 60 . Nietzsches Antwort ist eine zynische Apotheose der „Großen". Die Massen haben in der Geschichte nur Platz „als verschwimmende Copien der grossen Männer . . . als Widerstand gegen die Grossen und endlich als Werkzeuge der Grossen; im Uebrigen hole sie der Teufel und die Statistik!" 61 Es ist schließlich nicht ohne Pikanterie, daß der junge Nietzsche — ähnlich wie Engels — seinen Anti-Dühring schreibt. Dührings „Wert des Lebens" hätte Nietzsche eigentlich in manchem nahestehen können, als Metaphysikkritik und Erkenntnistheorie, die mit Nietzsches Lehre zu Mitte der siebziger Jahre manche Parallelen aufwies. 62 Aber auch Dühring galt Nietzsche primär als ein Symbol für das Sicheinrichten im Bestehenden. Dühring verteidigte den Optimismus als allein konsequentes System. Schopenhauer wurde auch hier verworfen, ja sein Ideal der Askese wurde sogar als heimlicher Egoismus kritisiert. 63 Daraus ergab sich für Nietzsche ein Nietzsche exzerpierte E. v. Hartmanns: Das Unbewußte vom Standpunkt der Physiologie und Descendenztheorie, Berlin 1872 (NB). KGW III/4, Sommer-Herbst 1873, 254 ff. Über „Hartmann — Nietzsche" ausführlicher H. M. Wolff: Fr. Nietzsche. Der Weg zum Nichts, Bern 1956, 43 ff. G. Campioni: Von der Auflösung der Gemeinschaft zur Bejahung des .Freigeistes', in: Nietzsche-Studien 5 (1976) 86. W. v. Rahden: Eduard von Hartmann ,und' Nietzsche. Zur Strategie der verzögerten Konterkritik Hartmanns an Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 13 (1984) 4 8 1 - 5 0 3 . 59 Ja, es galt ihm als Hegelianismus und verkappte Theologie. „Der Hegeische ,Weltprozess' verlief sich in einen fetten preussischen Staat mit guter Polizei. Das ist alles verkappte Theologie, auch bei Hartmann noch.", KGW III/4, Sommer—Herbst 1873, 258. 60 HL, KGW III/l, 311. 61 A.a.O. 316. 62 Nietzsche hat 1875 30 Folioseiten aus E. Dührings „Wert des Lebens" (Breslau 1875, NB) exzerpiert. Dühring vertrat — wie Nietzsche — eine Philosophie des Diesseits. Seine Erkenntnistheorie führte den „Wert" der Dinge auf das „Streben", das Erkennen auf Bedürfnis, Gefühl und Empfindung zurück, KGW IV/1, Sommer 1875, 209, 246 ff. Der bisher unterschätzten Bedeutung Dührings für Nietzsches Philosophie wird des öfteren zu begegnen sein (B. I. 2.3., B. V.l., C.III.). Nietzsches Theorie des Ressentiments, seine Ablehnung der „reaktiven" Gefühle, seine Theorie des Rechts als eines Gleichgewichts der Macht sowieso schließlich sein Bild des Anarchismus und Sozialismus — das alles entwickelte sich in Auseinandersetzung mit Dühringschen Lehren. « KGW IV/1, Sommer 1875, 215. 58
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Optimismus, der „bestialisch" war. 64 Gegen Malthus und seine Empfehlung der geschlechtlichen Askese angesichts drohender Uberbevölkerung stellt Dühring ein Lob des Krieges und der „ ,theilweisen Vernichtung des volleren zur Entwicklung gelangten Lebens' " 65 . Der Optimismus erweist sich als Feind des Lebens, aufgedeckt in einer Theorie, die lieber den „Massenmord" empfiehlt als zur Askese aufzurufen. 66 IIA. Historie als Nachteil für das Leben67 Nietzsches Angriff auf die Kultur seiner Zeit galt einer Bildung, die zur Dekoration des Lebens verkommen war. Sie lebte in der Spaltung von Innen und Außen, in der Trennung von Kontemplation und Tat, sie kümmerte dahin in Rezeption und Historie, unfähig zu eigener Schöpfung, und sie war — bei alledem — noch zufrieden und satt, meilenweit entfernt von Pessimismus oder Lebensernst. Nietzsche hat dies in der gelungensten seiner „Unzeitgemäßen Betrachtungen", „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben", auf die Formel einer Krankheit der Kultur an der Geschichte gebracht. Die Kultur gleicht einem Menschen, der nicht vergessen kann. Sie ist wie ein Leben ohne Schlaf. Sie ist wie ein Leben, das nur noch Wissen, nicht mehr Handeln ist. Die Historie versucht das Leben als Ganzes zu begreifen und ins Wissen aufzuheben. Sie tötet es damit und wird „eine Art von Lebens-Abschluss und Abrechnung für die Menschheit" 68 . Nietzsche hat drei Weisen der Geschichtsbetrachtung unterschieden und an jeder die Gefahren wie den möglichen Nutzen für das Leben aufgewiesen. Es ist dies eine Geschichtsphilosophie, die Nietzsches spätere Lehre von der „ewigen Wiederkehr" bereits in antikem Gewand vorführt, aber noch verwirft. 69 Sie preist als Heilmittel gegen das Wuchern des Historischen das 64 65 66 67
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A . a . O . 245, Zeile 17. Ebda. Ebda. Über die Entstehung der „Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung" J. Salaquarda: Studien zur Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, in: Nietzsche-Studien 13 (1984) 1 ff. Ihr Begriff von „Geschichtlichkeit" sehr schön entwickelt bei V. Gerhardt: Leben und Geschichte. Menschliches Handeln und historischer Sinn in Nietzsches 2. „Unzeitgemäßer Betrachtung", in: ders./N. Herold (Hrsg.), Wahrheit und Begründung, Würzburg 1985, 1 4 7 - 1 6 7 . Von den älteren Studien seien erwähnt G. Haeuptner: Die Geschichtsansicht des jungen Nietzsche, Stuttgart 1936. W. Kaufmann: Nietzsche, Darmstadt 1 9 8 2 , 1 6 4 ff. C. Zuckert: Nature, History and the Seif: Fr. Nietzsche's Untimely Considérations, in: Nietzsche-Studien 5 (1976) 55 ff. HL, K G W III/l, 253. A. a. O. 256 f. „Im Grunde ja könnte das, was einmal möglich war, sich nur dann zum zweiten Male als möglich einstellen, wenn die Pythagoreer Recht hätten zu glauben, dass bei gleicher Constellation der himmlischen Körper auch auf Erden das Gleiche, und zwar bis a u f s Einzelne und Kleine sich wiederholen müsse ...", a. a. O. 257.
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Vergessen und die Horizontbeschränkung, und sie versucht das Maß zu bestimmen, wie weit Wissen und Horizont reichen dürfen, sollen sie für und nicht gegen das Leben stehen. Die Notwendigkeit der Horizontverengung ist nicht zu verwechseln mit einer Nationalisierung der Geschichte.70 Wohl verweist sie auf Nietzsches Versuch einer Rückkehr zum Mythos und zur instinktartigen Sicherheit einer Kultur. Aber dieser Mythos sollte sich als ein europäischer erweisen, so wie die Krankheit an der Geschichte keine deutsche Besonderheit gewesen ist. Nietzsches Ideal der Geschichtsbetrachtung steht offenbar die monumentalische Geschichtsschreibung nahe. Sie folgt dem „Höhenzug der Menschheit durch Jahrtausende" 71 , sie fordert, daß „das Grosse ewig sein solle" 72 , und sie entwirft die Bilder von Stolz, Stärke, Tiefsinn, Erbarmen, Hilfe 73 , mit denen sich gegen die Resignation der Zeit ankämpfen läßt. Plutarchs Parallelbiographien großer Griechen und Römer, Thukydides, Schiller und Schopenhauer weisen in diese Richtung. 74 Und doch ist Nietzsches Darstellung monumentalischer Historie nicht unkritisch. Monumentalische Geschichte kann dem Leben mehr schädlich als nützlich sein; sie verführt dazu, sich mit der Kenntnis vergangener Größe zu bescheiden. Das Große war da, warum soll es noch einmal da sein?75 Die Ohnmächtigen wollen es sowieso nicht; und die „Mächtigen", die es wollen, haben nicht eo ipso die Kraft, es auch zu schaffen.76 Die Kultur der Epoche ist antiquarisch, nicht monumentalisch in dem Sinn, daß sie das Große wieder schaffen möchte. Man weiß um das ehemals mögliche Leben, und man versucht, rein konservativ, es den Nachgeborenen zu erhalten. „Hier liess es sich leben . . . denn es lässt sich leben, hier wird es sich leben lassen, denn wir sind zäh ..." 77 Statt des Großen und Monumentalen bewahrt man das Kleine und Lokale, statt des ins Auge 70
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Dies ist zu betonen, wenn Nietzsche sich gegen das „rastlose kosmopolitische Wählen und Suchen nach Neuem und immer Neuem" ausspricht (a. a. O. 262, Hervorhebung, H. O.) und das „Wohlgefühl des Baumes an seinen Wurzeln" preist (ebda.). Die Frontstellung gegen die deutschen Historiker der Zeit ist immer deutlich. Gegen Mommsen: „Anknüpfung des Gelehrtenthums an die politische Tagesschablone", K G W III/3, Winter 1870/71 —Herbst 1872, 276. Gegen Geschichtsschreibung, die „Größe" mit „Macht" verwechselt, K G W III/ 4, Sommer-Herbst 1873, 251. HL, K G W III/l, 255. Ebda. A. a. O. 256. Plutarch, HL, K G W III/l, 291. Thukydides, Geschichte der griechischen Literatur (1874/75), Musarionausgabe Bd. V, München 1922, 177 ff. „Schiller gebrauchte die Historie im monumentalen Sinne", K G W III/4, Sommer—Herbst 1873, 292. HL, K G W III/l, 260. A. a. O. 259 f. Hinzu kam der Mangel monumentalischer Historie, das Ungleiche gleichzusetzen oder die Effekte auf Kosten der causae zu bevorzugen, a. a. O. 257. A.a.O. 261.
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Springenden die fast verloschenen Spuren. Das Große, das einmal war, entschwindet so leicht dem Blick. Das Große, das einmal kommen könnte, wird gar nicht gewünscht. Der antiquarische Geist der Epoche zeugt Bibliothekare und Korrektoren, nicht Schöpfer der Kultur. 78 Neben die monumentalische und antiquarische Geschichte muß die kritische treten. Sie ist gegenüber dem Antiquarischen die progressive Kraft, gegenüber allem Wuchern des historischen Wissens die Macht, die das Vergangene im Namen des zu lebenden Lebens zerbricht. Ihre Gefahr ist die Kritik ohne „Noth", ihr Mangel, daß ihre Erkenntnis vergangener Mängel noch nicht die Spuren der Herkunft beseitigen kann. 79 Aber die Not ist da, und es ist die Aufgabe der von Nietzsche gesuchten Historie, Vergessen und Bewahren, Großes und Kleines in eine Proportion zu setzen, die Geschichte dem Leben wieder dienstbar macht. „Der Kritiker/ohne Noth, der Antiquar ohne Pietät, der Kenner des Grossen ohne das Können des Grossen"80 — das sind Formen der malaise historique der Zeit. Sie läßt sich heilen, wenn Kritik von der Last der Vergangenheit befreit, Pietät das Kleine bewahrt und der Wille zur Größe das Große nicht nur kennt, sondern wieder schafft. Nietzsches dreifache Geschichtsbetrachtung entwarf das Bild einer natürlichen Ausgewogenheit der drei Betrachtungsweisen.81 Die Schriften jener Jahre fielen hinter solche Ausgewogenheit und Differenziertheit zurück. Zwar hatte Nietzsche im Mythos eine Welt wiederentdeckt, deren instinktartige Sicherheit sich gegen das Wuchern des historischen Wissens und die zeitgenössische Intellektualkultur ausspielen ließ. Der Mythos war kritisch, und er war sogar monumentalisch, insofern ihm die Kraft zugeschrieben wurde, vergangene Größe wieder erneuern zu können. Antiquarisch war er — wie Nietzsches radikale Zeitkritik — wohl kaum. Nietzsches Interessen an Kritik und Erneuerung verschoben die Gewichte zugunsten der kritischen und monumentalischen Geschichte. Ein Ideal der Objektivität wurde ja gar nicht erstrebt. Was da zunächst so ausgewogen klingt, hatte seine eigentümliche Radikalität, die Wendung gegen alle „ikonische Wahrhaftigkeit", gegen die „Ewig-Objectiven", Greisenhaften und Blasierten, die deutschen Historiker 82 , ja gegen jede Teleologie der Geschichte. Hinter dieser verbarg sich für Nietzsche letztlich immer die Theologie, das
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Aus Konservierung wird dann „Mumisierung", a. a. O. 264. „Wenn wir jene Verirrungen verurtheilen . . . so ist die Thatsache nicht beseitigt, dass wir aus ihnen herstammen", a. a. O. 266. A . a . O . 260/261. G. Haeuptner: Die Geschichtsansicht des jungen Nietzsche, a. a. O. 67 ff. HL, K G W III/l, 257, 280, 293. Objektivität als Vereinigung der Gefahren des Antiquarischen und Monumentalischen, K G W III/4, Sommer-Herbst 1873, 286.
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Nietzsche als Kritiker und „Arzt der Cultur"
Christentum mit seiner Vorstellung von Anfang und Ende der Geschichte.83 Gegen solche Gewißheit, ja gegen jede Strukturierung des (heraklitischen) Werdens (siehe hier III.3.1.), wandte Nietzsche eine ästhetische Sicht der Geschichte, die Material des Willens zur Größe werden sollte. Nicht der schwache objektive, sondern allein der starke Wille vermag das Große wieder zu erzeugen.84 Allein er besitzt die Potenz, die sich der künstlerischen vergleichen läßt.85 Wie die Kunst, so hat die Geschichte zu tun mit Schein, Illusion und „Wahn". Nietzsches Geschichtsphilosophie wirft, was Wahrheit und Schein angeht, Probleme auf, die seine ganze frühe Position betreffen und als Vorahnung der Schwierigkeiten des Perspektivismus gelten können. II.5. Das antik-moderne Vexierbild: Der Sokratismus als Krankheit der Kultur Nietzsches Kritik seiner Zeit, an der Verkehrung von Politik und Kultur, an den sozialistischen und bürgerlichen Formen der Politik, am Kulturverfall und am Wuchern des Historischen weisen auf das antike Bild zurück, das Nietzsche damals als Spiegel der Epoche diente: auf Sokrates und den Sokratismus. Sokrates sollte, so Nietzsche, verantwortlich gewesen sein für den Zerfall der antiken Kultur und den Tod der Tragödie. Er war der decadent der Antike, in dessen Krankheit sich die der Epoche spiegeln ließ. In Wahrheit war Sokrates Nietzsches erster großer Gegenspieler, mit ihm auf komplizierte Weise verbunden. Er bekämpfte ihn im Rahmen eines Agon, der an den Wettkampf des Sokrates mit den Sophisten erinnerte.86 Und es ist ein Kampf, in dem Nietzsche nicht immer Sieger bleibt. Der historische Sokrates wird von Nietzsche entstellt, bis er den zeitgenössischen Bildungsphilistern zum Verwechseln ähnlich sieht. Nietzsches Antisokratismus war doppeldeutig, eine mißlungene Kritik des historischen Sokrates auf der einen, eine beachtliche Kritik der Epoche auf der anderen Seite. Der historische Sokrates wird von Nietzsche bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Da soll der Euripides ein Helfershelfer des Sokrates gewesen sein; er ruiniert — als Schüler des Sokrates — die attische Tragödie. Statt der großen Helden treten bei ihm nur noch die mittelmäßigen Bürger auf die 03 84 85 86
„Historie immer noch eine verkappte Theologie", HL, KGW III/l, 301. Gegen Teleologie KGW III/4, Sommer-Herbst 1873, 279. „Nur aus der höchsten Kraft der Gegemvartjdiirft ihr das Vergangem deuten", HL, KGW III/l, 289/290. „nur wenn die Historie es erträgt, zum Kunstwerk umgebildet, also reines Kunstgebilde zu werden, kann sie vielleicht Instincte erhalten oder sogar wecken", a. a. O. 292. Der Titel ist treffend. K. Hildebrandt: Nietzsches Wettkampf mit Sokrates und Plato, Dresden 1922.
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Bühne, die Tragik wird ersetzt durch die Patentlösung des „deus ex machina" 87 . Da soll Sokrates der Vater der theoretischen Weltbetrachtung gewesen sein, die alles von Intellekt und Bewußtsein erwartet, ja sogar Leben und Sterben auf das Wissen gründen möchte; da soll Sokrates Optimist und Eudaimonist gewesen sein, auf die Erkennbarkeit der Welt, ein Tugendwissen und die Gleichsetzung von Tugend und Glück hoffend. 88 Da soll mit Sokrates beginnen, was in der Antike in Alexandrien endet, die Freisetzung theoretischer „Wissensgier" 89 , die Unfähigkeit zur Kulturschöpfung, das Historisieren der Bibliothekare. Das Sokratische Fragen zersetzt den Instinkt als Grundlage des in sich ruhenden Lebens; sein Appell an Bewußtsein und Vernunft setzt auf Kräfte, die zerstören, nicht bauen. Der Intellekt ist Fälscher des Lebens, der Instinkt sein Schöpfer. 90 Bei Sokrates wurde „der Instinct zum Kritiker, das Bewusstsein zum Schöpfer — eine wahre Monstrosität per defectum" 91 . Man wird Schwierigkeiten haben, den historischen Sokrates in Nietzsches Zerrbild wiederzufinden.92 Euripides als Sokratiker ist eine mehrfach fragwürdige Legende. 93 Wer will, kann — wie schon Aristoteles — die Tragödien des Euripides für die „tragischsten" halten 94 , und noch Goethe hatte sich gegen die Manie gewandt, Euripides zum Totengräber der klassischen Tragödie zu erklären 95 . Und was da alles dem Sokrates angelastet wurde — ob Nietzsche das so meinte? Sokrates als Vater der theoretischen Weltbetrachtung — welch ein Mißverständnis eines Philosophen, der nichts mehr suchte als die Einheit von Theorie und Praxis, von Wissen des Guten und gutem Handeln! Sokrates als Optimist und Eudaimonist — welch ein Mißverständnis 87
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GT, K G W I I I / l , 82. Euripides als „Demokrat" und Dichter des Demos, Geschichte der griechischen Literatur (1874/75), Musarionausgabe Bd. V, a . a . O . 117ff., 129. GT, K G W I I I / l , 90 ff., 94 ff. A. a. O. 95. Diese folgenreiche Lehre wird noch zu diskutieren sein (hier A.V.2.). Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1874), K G W III/2, 370 ff. GT, K G W I I I / l , 86. Selbst die Ästhetik des Sokrates soll intellektualistisch gewesen sein, „alles muß bewußt sein, um schön zu sein", Sokrates und die griechische Tragödie (1871), K G W III/2, 118. Dies bemerkt zurecht K. Hildebrandt: Nietzsches Wettkampf mit Sokrates und Plato, a. a. O. 28. U. v. Wilamowitz-Moellendorff hatte mehrere berechtigte Einwände vorgebracht. Sokrates war erst 14 Jahre alt, als das erste Stück des Euripides aufgeführt wurde. Sokratische Einflüsse lassen sich bei Euripides, im Gegensatz zu sophistischen, nicht nachweisen. Euripides hat an Sokrates' Tugendwissen nicht geglaubt. Und schließlich war er gewiß kein Optimist. Zukunftsphilologie, in: Der Streit um die .Geburt der Tragödie', zusammengestellt und eingel. v. K. Gründer, Hildesheim 1969, 4 9 - 5 2 . Poetik, 13, 53a. Gespräche mit Eckermann 1 . 5 . 1 8 2 5 . W. Kaufmann hält den Äschylos sogar für „optimistischer" als den Euripides. Nietzsche and the Death of Tragedy: A Critique, in: Studies in Nietzsche and the Classical Tradition, J.C.O' Flaherty (ed.), Chapel Hill 1976, 247 ff.
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der sokratischen Tugend, die weder eudaimonistisch war noch das Leiden des Gerechten verschwieg! Polymathia bei Sokrates — welche Absurdität! Und ist nicht wenigstens das Sterben des Sokrates seit alters her „das" Exemplum von Tragik gewesen? Nietzsche ist so weit gegangen, auch noch dem Tod des Sokrates die Tragik abzusprechen. Es soll sich um einen verschleierten „Selbstmord" gehandelt haben.96 Spätestens an solchen Emotionen wird deutlich, daß Nietzsches Bild des Sokrates einer Art Haßliebe entsprang. Mit dem Antisokratismus beginnt Nietzsches Maskenspiel, das sich des Sokrates mal als eines Objektes des Hasses (beim jüngeren und älteren Nietzsche), mal als Objekt der Freundschaft (beim mittleren Nietzsche) bedient. Der jüngere Nietzsche unternahm den geschichtsklitterischen Versuch, Sokrates rückwirkend verantwortlich zu machen für die Gebrechen der eigenen Zeit.97 Der mittlere Nietzsche versuchte, ihn in die eigene Ahnengalerie einzuordnen, als freien Geist und Vater der fröhlichen Wissenschaft, als heiteren Weisen, als einen im Sterben tapferen Mann, ja als Pessimist.98 Nietzsche konnte so und er konnte auch anders. Er ist im Alter wieder zum Haß zurückgekehrt, wenn er vom „häßlichen" Sokrates, seiner niederen Herkunft und seinen Pöbelressentiments sprach; für den Künder der Herren- und Sklavenmoral war Sokrates auf die Seite der letzteren getreten. 99 Nietzsches Gegnerschaft gegen Sokrates ist das erste Beispiel von Nietzsches Maskenspiel. Nietzsche und Sokrates, sie waren sich zu ähnlich, als daß distanzierte Betrachtung oder Gerechtigkeit möglich gewesen wäre. Sie beide waren Philosophen in Zeiten der Dekadenz, sie beide suchten nach Auswegen, sie beide behalfen sich mit der Ironie, und sie beide waren auf ihre Weise gefährdet durch das, wogegen sie kämpften. Aber ihre Wege waren verschieden. Sokrates wollte zur Helle des Bewußtseins, zur Moral, ja zur Frömmigkeit. Nietzsche wollte anders aus dem Verfall heraus, durch die Rückkehr zum Mythos, durch die Rückkehr zur Tragik, durch die Rückkehr zum Instinkt. Als eine Deutung des historischen Sokrates war Nietzsches Angriff ridikül. Als Kritik der Epoche war er beachtlich. Nietzsches Antisokratismus war eine Chiffre seiner Zeitkritik, ihre politischen Gegnerschaften eingeschlossen. Der Verlust des tragischen Lebensgefühls, das Herrschen von Optimismus und Eudaimonismus, das Dominieren 96
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GD, K G W VI/3, 67. „Sokrates wollte sterben". „Er wollte den Tod". Die vorplatonischen Philosophen (1872, 1873, 1876), Musarionausgabe Bd. IV, München 1921, 364. Allerdings schildert noch die Vorlesung über „vorplatonische Philosophen" Sokrates als einen der „reinen Typen" der Weisheit, während erst mit Plato der Mischtypus auftreten soll, a.a.O. 354ff. FW, Nr. 340, K G W V/2, 249 f. GD, Das Problem des Sokrates, K G W VI/3, 61 ff.
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des Intellekts über den Instinkt, die Hypertrophie des historischen Bewußtseins und die Vergreisung der Kultur — das waren Zeichen der Zeit. Und wenn Nietzsche an Sokrates vorbeiging, so traf er doch, was er als (rousseauistische) Verharmlosung der menschlichen Natur, als Tendenz der Aufklärung, der bürgerlichen und sozialistischen Welt zu Fortschrittsgläubigkeit, Optimismus, Eudaimonismus bemerkte: das verheißene „Erdenglück aller" war die Ankündigung eines neuen „deus ex machina", des Aufstands der Sklaven, die ihre Rechte, ja ihr Glück fordern würden. 100 Das war der aktuelle Sinn jener Linie der Dekadenz, die von Sokrates über Rousseau und die Französische Revolution bis zu Nietzsches Tagen reichen sollte. Wenn das Sokratische Fragen beginnt, dann ist die Sicherheit einer Kultur dahin. Dann stellt sich die Frage, was aus der Dekadenz herausführt: Instinkt oder Bewußtsein, Mythos oder Logos, tragisches Lebensgefühl oder Eudaimonismus? Nietzsche hat seinen Antisokratismus so provokant vorgetragen, wie er damals von Sklaverei und Krieg gesprochen hatte. Seine Gegnerschaft zu Sokrates brach mit einem Symbol der Moralität, der Humanität und der Freiheit des Einzelnen, das seit Piaton aus der Kultur Alteuropas nicht wegzudenken war. Nietzsche zeichnete noch einmal die Karikatur, die Aristophanes entworfen hatte: Sokrates als Sophist.101 Mit der abendländischen Tradition seit Piaton verband Nietzsches Antisokratismus eigentlich nur noch eines: das Wissen um die weltgeschichtliche Bedeutung seiner Person, um den „Wendepunkt . . . der sogenannten Weltgeschichte"102. Es war wohl kein Zufall, daß einem anderen großen Denker des 19. Jahrhunderts, ähnlich wie Nietzsche, das klassische Sokratesbild fragwürdig geworden war. Auch Kierkegaard hatte einen Sokrates geschildert, der der alte nicht mehr war, einen „absoluten" Ironiker, der seiner eigenen Ironie zum Opfer fiel. 103 Aber bei Kierkegaard war noch nicht das Band zerschnitten, das Sokrates mit der christlichen Nachgeschichte verband. 100
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Antirousseauistisch und antisozialistisch klingt der Abschnitt über die „Cultur der Oper". „Der ,gute Urmensch' will seine Rechte: welche paradiesischen Aussichten!", GT, K G W III/l, 119. Der Rousseauist als Revolutionär, SE, K G W III/l, 365. Den engen Zusammenhang von „Griechischer Staat" und „Geburt der Tragödie" dokumentiert: „Nun soll man nicht erschrecken, wenn die Früchte dieses Optimismus reifen, wenn die von einer derartigen Cultur bis in die niedrigsten Schichten hinein durchsäuerte Gesellschaft allmählich unter üppigen Wallungen und Begehrungen erzittert, wenn der Glaube an das Erdenglück Aller . . . in die Beschwörung eines Euripideischen deus ex machina umschlägt ...", GT, K G W III/l, 113. Sokrates „der erste und oberste Sophist", Sokrates und die griechische Tragödie (1870), K G W III/2, 119. Differenzierender die Vorlesung über die „vorplatonischen Philosophen", Musarionausgabe Bd. IV, a. a. O. 361 f. GT, K G W III/l, 96. S. Kierkegaard: Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates, Gesammelte Werke Bd. 31, Düsseldorf 1961, Thesen VI u. IX, 3 f.
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Es war die große Bedeutung, die dem Vorbild des Sokrates noch im 18. und 19. Jahrhundert zugekommen war, daß seine Lehre, seine Moral, sein Daimonion, ja selbst sein tragischer Tod als Präfiguration des Christentums verstehbar waren. Hamann hatte in seinen „Sokratischen Denkwürdigkeiten" die Aufklärung verurteilt und Sokrates, den gläubigen Mann, gegen sie ausgespielt.104 Hegel hatte den Tod des Sokrates als Tragödie weltgeschichtlichen Ausmaßes gefeiert. Die substantielle Polis und die in Sokrates aufbrechende Subjektivität standen einander gegenüber, beide ausgestattet mit einem weltgeschichtlichen Recht, beide — unter Bedingungen der antiken Sittlichkeit — zum Untergang verurteilt. 105 Sie wiesen voraus auf die christliche Rechtfertigung von Freiheit und Individualität. Für den jungen Nietzsche war dieser Boden schwankend geworden, und schon sein Antisokratismus verrät, daß dieser Nietzsche als Antichrist ernstzunehmen und nicht leichtfertig wieder zu taufen ist. Nietzsches Ideal war nicht mehr der fromme Sokrates, seine Sophrosyne und Bescheidung angesichts der Götter. Sein Ideal sollte der Prometheus werden. Ob Nietzsche das Maß der Antike und des Christentums dabei noch zu bewahren vermochte, wird zu fragen sein.
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Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Sokratesbilder Hamanns und Nietzsche bei J.C.O' Flaherty: Socrates in Hamann's Socratic Memorabilia and Nietzsche's Birth of Tragedy in: Studies in Nietzsche and the Classical Tradition, a.a.O. 134ff. Nietzsche las Hamann 1873, KGB II/3, 31. Ol. 1873, 121. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Jubiläumsausgabe Bd. XVIII, H. Glockner (Hrsg.), Stuttgart-Bad Cannstatt 1965, 100 ff., 119 f.
III. Griechische Vorbilder Nietzsches Kritik der Politik und Kultur seiner Zeit wies allüberall voraus auf Nietzsches Ideale, die in den frühen siebziger Jahren zunächst einmal griechische Ideale gewesen sind. An die Stelle der Verkehrung von Politik und Kultur sollte wieder ein Staat treten, der wie in der Antike der Kultur untergeordnet war (III.l.). Optimismus und Eudaimonismus der Zeit sollten kuriert werden durch eine Gesellschaft, die der früh-griechischen nacheiferte: der agonalen, heroischen, aristokratischen (III.2.). Und die große Therapie des Fortschrittsglaubens, des Optimismus, des Eudaimonismus, der Krankheit an der Geschichte und der Intellektualkultur, sie würde in der Wiedergeburt des tragischen Mythos bestehen, den Nietzsche in der Welt der Vorsokratiker auf der einen, in der attischen Tragödie auf der anderen Seite vorgebildet fand (III.3.). Nietzsches Feier der Kultur, so verstehen wir jetzt, hatte ihre metaphysischen Gründe. Nietzsches damalige Metaphysik war Artistenmetaphysik, und sie rechtfertigte nicht nur die Politik, sondern das Dasein überhaupt durch die Kunst und durch sie allein. Sie bediente sich dazu des Begriffspaares „apollinisch-dionysisch", und in ihm kam Nietzsches ganze Verbundenheit mit der klassischen Tradition deutscher Griechenlandsehnsucht, aber auch sein radikaler Wille zur Erneuerung zum Ausdruck. Diese Begriffe hatten eine Wirkungsgeschichte, die nur als skandalös bezeichnet werden kann. Sie dienten Reaktionären und Emanzipatoren, ihr Boden wurde das Feuilleton und die Welt der geistigen Hochstapelei, und sie blühten im Dunkel des fin de siècle wie im grellen Licht der Sub- und Popkultur unserer Tage. Gegen solche Nietzschewirkung ist der Boden der Nüchternheit erst einmal wiederzugewinnen. Trotz seiner provokanten Worte entzieht sich Nietzsche den politischen Vereinnahmungen mehr, als es die Jünger und Benutzer ahnten. Eine Entfesselung des Dionysos, sei sie als psychologische Entsublimierung und Reprimitivisierung, sei sie als bürgerliche oder sozialistische Emanzipation gedacht, hatte Nietzsche mit seiner Artistenmetaphysik so wenig im Sinn wie Rassismus oder deutsch-nationale Ideologie. Die Kultur war sein Ziel, und sie sollte die klassische Humanität nicht verabschieden, sondern erneuern. Ob Nietzsche die Bewahrung der klassischen Humanität glückte, ist eine andere Frage. Aber gegen alle in der Wirkungsgeschichte durchgespielten
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Barbarisierungen muß erst einmal der Nietzsche ins Blickfeld treten, der nur als Noch-Klassiker wie als Nicht-mehr-Klassiker, als antiklassischer Klassiker zu deuten ist. Der Wille zur Bewahrung der Klassik und ihrer Humanität war da. Nietzsche war noch auf der Suche nach der Einfachheit des Stils, der „edlen Einfalt und stillen Größe", die seit Winckelmann Ideal der Kultur geworden war. Sein Griechenlandbild reichte zurück zu Winckelmanns Klassizismus, zu Schillers Ideal einer allseitigen Persönlichkeit und ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts, zu Goethes Vereinigung von Helena und Faust, zur „Hölderlinheimat der deutschen Seele"1. Dieser Anspruch sollte bewahrt werden, wenn auch in neuer — dem Mißverständnis ausgesetzter — Form. Denn die Griechen nur als „schöne Seelen" und Schöpfer harmonischer Kunstwerke zu sehen, das erschien Nietzsche als zu glatt, zu harmonisch und zu gefällig. Die Klassiker hatten sich ein Bild der Griechen zurechtgemacht, ihre Natur idyllisiert und zur olympischen Ruhe verklärt. Gegen solche Glättung der Antike wollte Nietzsche an die Humanität der Alten nicht ohne ihre Wildheit, an ihre Kultur nicht ohne ihre kraftvolle Natur und an die Schönheit ihrer Welt nicht ohne ihre Furchtbarkeit und Häßlichkeit glauben. Nietzsches griechische Ideale sollten zweideutig werden, zurückweisend auf die Klassik und ihre Griechenlandsehnsucht, vorausweisend auf die Brüchigkeit der klassischen Bildung am Ende des 19. Jahrhunderts. Wohl blieben die Griechen für Nietzsche, was sie für die Klassiker gewesen waren: die Vorbilder der Humanität, der Kultur, des politischen Menschen. Aber ihr Bild begann bei ihm zu schwanken zwischen der Simplizität klassischer Kultur und der Kraft, ja der Furchtbarkeit einer heidnischen Kultur, deren Werte schon vom jungen Nietzsche nicht nur als Antithese zu Bürgertum und Sozialismus, sondern auch zur ganzen christlichen Geschichte gefeiert wurden. Mehr rückwärtsgewandte Utopie als Brückenschlag zur eigenen Zeit, mehr Metaphysik und Ästhetik als Politik oder Moral im traditionellen Sinn, ergab sich ein explosives Gemisch, das bei Nietzsche noch kunstvoll durch den „Bruderbund" von Apollinischem und Dionysischem zusammengehalten wurde. Der Wirkungsgeschichte gelang die Synthese nicht mehr. III. 1. Der Staat als Diener der Kultur. Oder: Nietzsches ästbetisierender Piatonismus Nietzsches Kritik der zeitgenössischen Verkehrung von Politik und Kultur wies auf sein Ideal: den Staat als Diener der Kultur. Nietzsche hatte es dem 1
E. Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Bonn 8 1968, 93.
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Vorbild des „griechischen Staates" abgelesen, weniger der Polis, wie sie war, als der Stadt, wie sie nach Piaton sein sollte. Der Anti-Sokratiker Nietzsche ist ein eigenartiger Platoniker, der Piatons Metaphysik sehr früh schon verwirft und auf den Kopf zu stellen versucht und sich doch in politicis gar nicht so weit von Piaton entfernt. Der Staat ist Erziehungsstaat wie bei Piaton, seine Spitze bilden die „Genies", mit dem Unterschied nur, daß Nietzsche — anders als Piaton — die Künstler aus dem Idealstaat nicht vertreibt, sondern, neben den Philosophen, gerade für die Exempla des Genialen hält. 2 „Der Staat hat die Erzeugung und das Verständniß des Genius vorzubereiten." 3 Dafür ist er notwendig, darin ist er gerechtfertigt. Die sonst genannten Zwecke wie Sicherheit, Frieden, Rechtssicherung, Verteidigung, allgemeines Wohl, sie fallen, wenn überhaupt, dann nur als Nebenprodukte eines solchen Kulturstaates ins Gewicht. Nietzsches Staatsideal der frühen siebziger Jahre ist ein eigenartiges Gebilde, schwankend zwischen Orden, geistigem Kloster, Genialen-Republik auf der einen, einem platonisierenden Sklaven- und Kriegerstaat auf der anderen Seite. Hat man die Spitze dieses Staatsgebildes im Blick, die wenigen kulturschöpferischen Einzelnen — eine Hundertschaft vielleicht, wie Nietzsche wohl im Blick auf Athen und Florenz bemerkt4 —, ist man versucht, Nietzsche einen Individualisten zu nennen, einen kulturaristokratischen, der ein letztlich überpolitisches und apolitisches Ziel, die Kulturschöpfung der wenigen Genies herbeiwünscht. Beim jungen Nietzsche wie beim älteren findet sich immer wieder eine Feindschaft und Aversion gegen den Staat, gegen den nationalen Machtstaat, gegen den Götzen des Hegelianismus, gegen den sozialistischen Staat (Lassalles), gegen den bürgerlichen Rechtsstaat, und sie wirkt sich noch aus, wenn er später dem Sozialismus sein „ ,so wenig Staat wie möglich' " 5 entgegenhält oder vom Hobbesschen-Hegelschen „kältesten aller kalten Ungeheuer" 6 spricht. Freilich, das Wort Individualist will nicht so recht passen, und dies nicht nur, weil es sich zu Nietzsches (noch zu schildernder) Artistenmetaphysik und ihrer Vernichtung der Individuation nicht fügt. Es scheint vielmehr ungeeignet, weil mit dem Ideal des in den genialen Individuen kulminierenden Staates ein Universalismus Hand in Hand geht, der den vielen nicht kulturschöpferischen
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An Piatons Austreibung der Künstler war Sokrates schuld. „ . . . daß er [Plato, H. O.] die genialen Künstler aber überhaupt aus seinem Staate ausschloß, das war eine starre Consequenz des sokratischen Urtheils über die Kunst ...", Der griechische Staat (1872), K G W III/2, 270. K G W III/3, Ende 1 8 7 0 - A p r i l 1871, 150. HL, K G W III/l, 291, Zeile 20 ff. MA, I, Nr. 473, K G W IV/2, 318. Za, Vom neuen Götzen, K G W VI/1, 57.
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Einzelnen weder Freiheiten noch Rechte oder gar Glück verspricht, sondern sie dem Dienst an den Genies radikal unterwirft. Es entsteht das idealisierte Bild eines Stadtstaates, der — jenseits der bürgerlichen und sozialistischen Ziele der Gegenwart, jenseits auch der antiken oder modernen Suche nach Macht — in allem auf Kultur ausgerichtet ist, in seiner Entstehung, in seiner Größe wie in seiner Ordnung selbst. Nietzsche sieht den Staat den Weg vom „Nothzustand" und „Raubstaat" zum „Kulturstaat" nehmen.7 Die Entstehung des Staates muß aus der „Unterwerfung" erklärt werden. 8 Jedoch hat diese weder in den Interessen der Unterworfenen noch in denen der Unterwerfer ihren Sinn. Die Geburt des Staates verdankt sich vielmehr einer List der Natur, die vom Kriegszustand zum Kulturzustand führt. Sie bewirkt, was den egoistischen Interessen der Herrscher und Beherrschten nicht entspringen würde: die Umwandlung egoistischer Natur in Kultur. „Darum giebt es den politischen Trieb, bei dem zunächst der Egoismus beruhigt ist. In Sorge für seine eigne Sicherheit wird er zum Frohndiener höherer Zwecke gemacht, von denen er nichts merkt." 9 Nietzsches Staatslehre rekurriert auf eine Teleologie der Natur, in welcher dem Staat die Rolle des Führers vom Egoismus zur Gemeinschaft, von der Natur zur Kultur zukommt. Und wie der Kulturzweck die Entstehung des Staates heimlich leitet, so sollte er die Größe des Gemeinwesens nach Nietzsche bestimmen. Immer wieder heißt es in jenen Jahren „Freiheit der Städte — die conditio", die conditio sine qua non der Kultur, ja auch der Lösung der politischen Probleme der Zeit.10 Die Stadt ist der Boden der Kultur. Ihre historischen Exempla sind Polis und oberitalienische Renaissance-Republik. Ihre Gegenbilder sind die Imperien, imperium romanum oder junges deutsches Reich. „Das Nationalitätenprincip ist eine barbarische Rohheit gegenüber dem Stadt-Staat . . . Rom als der typische Barbarenstaat, bei dem der Wille nicht zu einem höheren Ziele gelangt .. . " n Ja, imperiale Politik ist für Nietzsche geradezu die Definition von Staaten, die ihren Kulturzweck verfehlen. Ein solcher Staat „[schwillt] unnatürlich-groß [an]" 12 , er kompensiert sein Kulturversagen, indem er die Politik hypertroph werden läßt. Nietzsches frühes „Staatsideal" ist denkbar wenig geeignet, dem beliebten Vorwurf von Nietzsche dem Herold des Imperialismus Nahrung zu geben. Das antik-renaissancehafte Ideal der Stadt stand zum Imperialismus und KGW III/3, Ende 1 8 7 0 - A p r i l 1871, 151. A . a . O . 150. 9 Ebda. 10 KGW III/4, Sommer—Herbst 1873, 300. Dort heißt es sogar „Die sociale Crisis nur städtisch zu lösen . . . " (ebda.). " KGW III/3, Ende 1 8 7 0 - A p r i l 1871, 155. 12 A.a.O. 157. 7
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Machtstaat der Zeit in Gegensatz. Und wenn Nietzsches frühes Ideal Bedenklichkeiten wachruft, dann nicht, weil es zeitgemäß, sondern weil es radikal unzeitgemäß war. Statt eines modernen rousseauistischen Republikaners haben wir in Nietzsche einen nur antikisierenden Freund der Polis vor uns, der auch den Aufbau des Staates platonisch dachte. Piatons Idealstaat ist „das Vorbild eines wahren Denkerstaats, mit völlig richtiger Stellung des Weibes und der Arbeit" 13 . Die ideale Stadt — ein platonischer Ständestaat mit Sklaven, Kriegern und Philosophen(-Künstlern)? Nietzsches Kulturstaat als Ideal der Polis war im 19. Jahrhundert eine rückwärtsgewandte Utopie. Ob Nietzsche im Ernst an ihre Realisierbarkeit glaubte, muß fraglich bleiben. Er war zum Bruch mit vielem bereit. Mit den Rechten des modernen Individuums und dem Glück des Einzelnen, mit dem absoluten Wert der Person, den das Christentum in die Welt gebracht hatte. Jeder sollte nur so viel „Würde" besitzen, „als er, bewußt oder unbewußt, Werkzeug des Genius" sein könnte14. Die Sklaverei (des Nährstandes), das Kriegerische (des Wächterstandes) gegen Kapitalismus und Liberalismus ausgespielt, das erweist sich im Rückblick als eine Erneuerung der platonischen Ständelehre. Sie war das Opfer, das der Kultur zu bringen war, der Geier, „der dem prometheischen Förderer der Kultur an der Leber" nagte15. So schien „geboten die Gründung eines Kulturstaates im Gegensatz zu den lügnerischen, die sich jetzt so nennen, als eine Art von Refugium der Kultur" 16 . Und doch war dieser Kulturstaat konstruiert an der Grenze zur Apolitie und Überpolitik, und manches deutet darauf hin, daß Nietzsche das überpolitische Kulturideal des Einzelnen über den politischen Sinn und Zweck seiner antikisierenden Utopie stellte, schwankend zwischen lauten politischen Forderungen und einem Hang zu Einsamkeit und Apolitie. Nietzsche hat aus den Philosophen-Königen Künstler werden lassen. Sie traten an die Stelle der Philosophen, die allenfalls erhalten, nicht aber bauen konnten. Das Bauen war Sache von Instinkt und Mythos, nicht von Bewußtsein und Intellekt. Aber diese Künstler und Genies an der Spitze der platonisierenden Pyramide — ob sie denn überhaupt noch so etwas wie „Könige" und „Herrscher" waren? Sie erinnern bei Nietzsche noch manchmal an die moralischen Bildner Piatos, und sie sollen durchaus noch die „Besten", nicht
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A. a. O. 148. Nietzsche begrüßte nicht Piatons Gleichstellung von Mann und Frau. Sie stand als „Abirrung" für ihn auf einer Stufe mit der Vertreibung der Künstler, a.a.O. 178. Was auch er empfahl, war die Abschaffung der „Familie" als „Vorbereitungsmaßregel" zur Erzeugung des Genies, a. a. O. 179. Anders als Plato stellte Nietzsche die Frau als außerstaatliches Wesen dar, a.a.O. 1 7 8 - 1 8 2 . Der griechische Staat (1872), K G W HI/2, 270. A . a . O . 261. K G W III/4, Herbst 1 8 7 3 - W i n t e r 1873/74, 343.
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die „Stärksten" sein 17 . Aber ihre Aufgabe ist doch von Politik und Moral sehr viel mehr gelöst, Kulturschöpfung eben, und an dieser sind alle NichtSchöpferischen allenfalls noch indirekt beteiligt, nicht mehr im Sinne einer Gerechtigkeit, die jeden das Seine tun läßt. „Weder der Staat, noch das Volk, noch die Menschheit sind ihrer selbst wegen da ,.." 1 8 Alles hatte dem Schöpfer der Kultur zu dienen. Sein Ziel war nicht „Staatsziel", sondern „Weltziel" 19 , und was er vollbrachte, war letztlich sogar überweltlich, die Erlösung des Lebenswillens von der Erscheinungswelt, die ästhetische Rechtfertigung des Daseins überhaupt; Politik war Sache einer überpolitischen Metaphysik, der von Schopenhauer und Wagner inspirierten Metaphysik jener Kunst, die in den Rang eines „Sakramentes", eines Mittels der Erlösung rückte. Nietzsches Weg hat vom Ideal der Kultur mehr und mehr zur Apolitie geführt. Schon bald sprach er nicht mehr nur von überpolitischen, sondern von unpolitischen Zielen. „Ich weiss dass so wie ich in nicht langer Zeit viele Deutsche empfinden werden: das Bedürfniss frei von Politik, Nationalem, Zeitungen ihrer Ausbildung zu leben. Ideal einer Bildungs-Sekte." 20 Oder noch deutlicher: „Ich halte es für unmöglich, aus dem Studium der Politik noch herauszukommen als Handelnder ... Heilung von der Politik ersehne ich ... Es muß doch Kreise geben, wie die Mönchsorden waren, nur mit einem weiteren Inhalt" 21 . Antikisierende platonische Utopie, Überpolitik und schließlich Apolitie — alles war in Nietzsches ersten Entwürfen enthalten. Zu beurteilen sind sie so einfach nicht. Einerseits stach ihre politische Antimodernität ins Auge, und vielleicht waren sie nur ein Glasperlenspiel, ersonnen am Schreibtisch und ohne Ort in der Zeit. Aber Begriffe wie „Bildungs-Sekte" oder „Mönchsorden" klangen auch verräterisch, verräterisch modern. Sie waren Ausdruck einer spätromantischen, bildungsbürgerlichen Feier der Kunst, die von der Aura religiöser Sakralität noch zehrte. Und so muß man von Nietzsches erster „Politik" wohl beides sagen: Als Politik war sie antimodern, als Ästhetizismus durchaus modern, Blick zurück von vorn und seltsam moderne Antimodernität.
III.2. Die Kultur: aristokratisch, heroisch, agonal. Oder: Noch einmal Nietzsche und Burckhardt Nietzsches Staat sollte Diener der Kultur sein. Dazu bedurfte er der Sklaven und Krieger, der Trennung von Arbeitswelt und Kultur; dazu war 17 18 19 20 21
Ebda. K G W III/3, Februar 1871, 370. K G W III/3, Ende 1 8 7 0 - A p r i l 1871, 156. K G W III/4, Anfang 1 8 7 4 - F r ü h j a h r 1874, 390. Ebda.
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er gerichtet gegen bürgerliche und sozialistische Ideale; deshalb krönten ihn Künstler und Genies. Das war ästhetisierender Piatonismus, aber auch ein Rückgriff, weiter noch zurück, ein Rückgriff auf die Frühzeit griechischer Kultur. Der Aristokratismus der Kultur, die Verachtung der banausischen Arbeit und das Lob des Kriegerischen erinnern bei Nietzsche an die griechische Frühzeit, deren Kultur Burckhardt als eine „heroische" und „agonale" gedeutet hatte. Es war noch einmal Burckhardt, bei dem Nietzsche in die Schule ging, wenn auch er die Griechen als die heroischen und agonalen Menschen bestimmte. Die heroische Welt, dieses ganze Universum von Göttern, von ständigem Kampf und den Tragödien der Königshäuser, sie lebte bei den Griechen fort in der „Ilias" und der „Odyssee", und sie war — beginnend bei der dorischen Wanderung, sich fortsetzend bis zum Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. und einen gewissen Abschluß findend mit den Perserkriegen (500—448 v.Chr.) — die Welt, an welcher der vornehme Grieche sich bildete. Nietzsches Lob des Krieges ist eine Erinnerung an jene Zeit, als der Adel (weniger den Krieg selbst als vielmehr) den Wettkampf als Ideal seines Lebens betrachtete. Für Nietzsche wie für Burckhardt sind Kampf (öycbv) und Streit (gpiq) die Geburtshelfer griechischer Kultur. Nur durch sie wurde sie zu jener Blüte emporgetrieben, die sie bis in das 19. Jahrhundert als die hohe Kultur überhaupt erscheinen ließ. Burckhardt hatte in seiner „Griechischen Kulturgeschichte" den agonalen Grundzug griechischer Kultur plastisch geschildert, sich dabei stützend auf Curtius. 22 Er hatte den Agon aufgewiesen in der Gymnastik und ihren Disziplinen, im Wettstreit der Dramatiker und Komödiendichter, der Kitharaspieler und Auleten, der Redner und Philosophen, ja er hatte sogar die Abarten dieses vornehmen Agon geschildert: die Konkurrenz des ländlichen und bürgerlichen Lebens, den Rechtsstreit, den Wettkampf der Esser oder was dergleichen Blüten einer durch und durch agonalen Kultur gewesen sind. In der Hochschätzung des Agonalen standen die Griechen „einzig da" 23 . Der Agon hatte bei ihnen die Individualität hervorgetrieben, jegliches Wollen und Können bestimmt. Nietzsche hat das Ideal einer heroischen und agonalen Kultur übernommen; er hat anerkannt, was zu ihm gehörte, die Verachtung banausischer Arbeit und die Hochschätzung von Kampf und Streit. Die anti-bürgerlichen und anti-sozialistischen Ideen des jungen Nietzsche haben hier eine ihrer griechischen Wurzeln. Aber Nietzsche, der Burckhardt-Schüler, erwies sich auch in der Feier des Agon als Denker von eigentümlicher Radikalität. Burckhardt blieb bei aller Neigung zu Aristokratismus und Größe der Kultur 22 23
C. P. Janz: Friedrich Nietzsche. Biographie Bd. I, München 1981, 499. J. Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte Bd. IV, München 1977, 84.
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Griechische Vorbilder
ein Bürger, bei aller Antikisiererei doch klassischer Humanist, der die Augen vor den Gefahren agonaler Kultur nicht verschloß. In der agonalen Kultur ist alles ausgerichtet auf den Moment höchster Anspannung, ihm folgt — wie Burckhardt am traurigen Schicksal der ehemaligen Olympioniken demonstrierte — die Abspannung oder die Suche nach neuen Stimulantien, nur selten das neue Glück des Sieges. 24 Nietzsche will die agonale Kultur, und er will sie ohne Abstriche. Sekurität, ja Glück überhaupt sind seine Ideale nicht mehr. Und dem Agon entnimmt er eine neue Sicht „klassischer" Humanität. Der Agon spielt für Nietzsche die doppelte Rolle, eine Anerkennung der Natur des Menschen, aber auch ihre Regulierung zu sein. Er wird zum Bindeglied einer neu anerkannten Natur, die über den Wettkampf zur Humanität geläutert wird. Die Griechen waren anders, anders als sie das klassische Bild von den schönen Seelen und Künstlern gezeichnet hat. Grausamkeit, Neid, „tigerartige Vernichtungslust" und Streit waren Teil ihrer Kultur. 25 Und doch waren die Griechen nicht inhuman, sondern die „humansten Menschen der alten Zeit" 26 . Aber ihre Humanität stand anders zur Natur als die moderne. Sie anerkannte die Natur auch in ihren „unmenschlichen" Seiten, in Haß und Neid, Ehrgeiz und Grausamkeit; sie hat diese Triebe nicht verleugnet, sondern anerkannt. Aber sie hat sie gebändigt durch den Agon, welcher der Natur Ventil und Ort ihrer Verwandlung zur Kultur wurde. Nietzsches eigentümliche Sicht der Humanität im Rahmen agonaler Kultur könnte als eine Rechtfertigung kapitalistischer Konkurrenz, der „invisible hand" oder der Dialektik von „private vices" und „public benefits" mißverstanden werden. Nietzsche stützte seine Schilderung der agonalen Kultur der Griechen auf Hesiods „epya Kai f||iepai"27, ein Buch, das den Agon auch im Banausischen, in der Konkurrenz ländlichen und bürgerlichen Lebens am Werk sah. Aber Hesiod läßt für Nietzsche gerade vermissen, was für die aristokratische Verachtung des Banausischen typisch war. Der Agon war bei den Griechen kein Selbstzweck, sein Movens war nicht der egoistische Ehrgeiz der Moderne. 28 Sein Ziel war der Ruhm der Stadt, die Bildung, die 24 25
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J. Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte Bd. IV, a.a.O. 103f. Nietzsche erwähnt zahlreiche Beispiele, den Achill, der den Leichnam des Hektor herumschleift; den Alexander, der die Füße des Verteidigers von Gaza durchbohren ließ; das „Recht", nach der Eroberung einer Stadt zu töten und zu versklaven; den Fremdenhaß und Parteienhader, Homer's Wettkampf (1872), K G W III/2, 277 f. Zu Nietzsches rein philologischer Beschäftigung mit dem Agon siehe auch: Der Florentinische Tractat über Homer und Hesiod, ihr Geschlecht und ihren Wettkampf ( 1 8 7 0 - 1 8 7 3 ) , K G W Uj\, 273 ff. Homer's Wettkampf (1872), K G W III/2, 277. A . a . O . 280f. „Es war kein Ehrgeiz in's Ungemessene und Unzumessende, wie meistens der moderne Ehrgeiz: an das Wohl seiner Mutterstadt dachte der Jüngling . . . ihren Ruhm wollte er in dem seinigen mehren", a. a. O. 283.
Die Metaphysik: vor-sokratisch, ästhetisch, tragisch-mythisch
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Kultur. Und Nietzsches Ideal heroisch-agonaler Kultur war von den Interessen der wirtschaftlichen Konkurrenz des Bourgeois so geschieden, wie es als Verachtung des Banausischen von allem Sozialismus getrennt war. Das Ethos, das Nietzsche suchte, war das von Helden, nicht Arbeitern oder Bürgern. Es war das aristokratische Ethos, das als Leitspruch des Achill auch als Motto über der frühen Kultur der Griechen stand: „Immer der Erste zu sein, und vorzustreben vor Andern." 29 Solches Ethos suchte das Äußerste, Kampf und Gefahr, nicht Sekurität oder Glück. Es strebte über die materielle Welt hinaus zu Ruhm, Bildung und Kultur, ja letztlich zu Göttergleichheit. Der griechische Held verlangt wie Ajax oder Achill nach dem Höchsten, nach Ebenbürtigkeit mit den Göttern; und er ist bereit, dafür jeden Preis zu bezahlen, Wahnsinn und frühen Tod. „Übermensch" und Agon gehören zusammen, schon bevor Nietzsche den Begriff des Übermenschen systematisch verwendet.30 Heroische und agonale Werte, wenn auch erkennbar als Lob griechischer Frühkultur, sind bei Nietzsche von Bildern der Wirkungsgeschichte bedrängt. Die „Ideen von 1914" („Helden gegen Händler") stellen sich als Assoziation ebenso ein wie der faschistische Heroismus des Männlichen, Kriegerischen und Siegerhaften; er ist eines der wichtigsten Motive nationalsozialistischer Nietzschefeier gewesen, so wie das „vivere pericolosamente" zum Wahlspruch Mussolinis werden sollte. Aber es war Nietzsche weniger am Helden des Schlachtfeldes als am Helden der Kultur, ja an dem der Existenz gelegen. Sein Heros war einer in ästhetischer und metaphysischer Dimension: ein Philosophen-Künstler. Und wie sich das Bild des Krieges bei Nietzsche bereits zum Bild agonaler Kultur geweitet hat, so verändert sich der Sinn auch des Agon noch einmal, wenn Nietzsche ihn als das aufnimmt, was er im Grunde war: Spiel. Zur agonalen Kultur gehörte eine Metaphysik, welche den Kosmos selbst als Spiel verstand.
III.3. Die Metaphysik: vor-sokratiscb und herakliteisch, und tragisch-mythisch
ästhetisch
III.3.1. Nietzsches Rückkehr zu den Vorsokratikern oder Nietzsches Heraklitismus Wie Nietzsche zur Frühzeit griechischer Kultur zurückkehren wollte, so wollte er zu den Vorsokratikern zurück. Dies hatte seinen Grund in Nietzsches 29 30
Ilias VI, 208, in der Übersetzung von Voß. Interessanterweise spricht Burckhardt bereits vom „Ringen nach Übermenschlichem", Griechische Kulturgeschichte Bd. IV, a. a. O. 32.
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Bruch mit dem Sokratismus, dies hatte seinen Grund in der Abwendung von Piatons Metaphysik, die er radikal umzukehren gedachte (auch wenn er Piatons Politeia eine Zeitlang feierte), und dies hatte seinen wichtigen Grund in Nietzsches damals noch verdecktem Antichristentum. Zurück zu den Vorsokratikern — das hieß: zurück zu Weltanschauungen, die in gar keiner Weise ins Prächristliche umzubiegen waren. Nietzsche hat die Vorsokratiker als „Philosophen im tragischen Zeitalter der Griechen" glorifiziert, als einsame und stolze Wahrheitsfinder, als Philosophen in einer blühenden, nicht kranken Kultur 31 , als reine Typen, während mit Piatons herakliteisch-pythagoreisch-sokratischer Philosophie der „Mischcharakter" beginnen sollte.32 Ihren Philosophien zu folgen, versprach für Nietzsche, ein Gang auf der „unsichtbaren Brücke von Genius zu Genius" zu werden, eine Art Königsweg durch die Weltgeschichte, die in den originellen Philosophen gewissermaßen ihre Abbreviatur besitzt.33 Nietzsche fand bei den Vorsokratikern vieles, manches vorausweisend auf die ewige Wiederkehr (Heraklit und Pythagoreer), manches auf den Willen zur Macht, dessen Kraftbegriff sich in den Elementen und letzten Weltgründen vorgebildet fand. Ja selbst der Perspektivismus hatte hier eine seiner Wurzeln, betrachtete Nietzsche die vorsokratischen Philosophien doch als „Anthropomorphismen" ethischer oder logischer Art. In seltsamer Mischung von Kantischem und Schopenhauerischem Phänomenalismus, durchsetzt mit Langes Materialismus, erblickte er in den Naturphilosophien die Produkte des Willens zur Moral oder die Zwänge der Logik, die Konstruktion von Schein- und Erscheinungswelten, sich verratend als „Gericht" und „Strafe" (Anaximander), „Liebe" und „Haß" (Empedokles), „Gesetz" (Heraklit), als „Nous" (Anaxagoras) und „Zahl" (Pythagoras), „Stoff" (Demokrit) oder ewiges „Sein" (Parmenides).34 Für Nietzsches eigenen Standort war die Welt der Vorsokratiker in vielem typisch. Hier war eine Mischung von Mythologie und Streben zur „Naturwissenschaft", die seiner eigenen Ambivalenz, seiner frühen Suche nach dem Mythos und seiner späteren Wende zur Wissenschaft entsprach; hier war, so meinte er jedenfalls, eine kantische, schopenhauerische Welt der 31 32 33 34
Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (1873), K G W III/2, 299. Die vorplatonischen Philosophen (1872, 1873, 1876), Musarion-Ausgabe Bd. IV, a.a.O. 250. A. a. O. 248, Fn. 1 und 2. Dies bringen die nachgelassenen Fragmente deutlicher zum Ausdruck als die Vorlesung über die „vorplatonischen Philosophen" oder „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen", z. B. K G W III/4, Sommer 1 8 7 2 - A n f a n g 1873,45, 47, 50, 63. Über die Bedeutung von Schopenhauer und Lange wie die zahlreichen Einsprengsel aus naturwissenschaftlicher Lektüre (von Boscovich bis Zoellner) oder A. Spirs erkenntnistheoretischen Schriften informieren K. Schlechta/A. Anders: Friedrich Nietzsche. Von den verborgenen Anfängen seines Philosophierens, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962, 50ff., 60ff., 1 0 5 f f .
Die Metaphysik: vor-sokratisch, ästhetisch, tragisch-mythisch
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„Phänomene"; hier war bei Empedokles und Demokrit der Versuch zu einer antiteleologischen Naturphilosophie; hier war Tragik wie bei Empedokles und Anaximander, Materialismus und Wissenschaftlichkeit wie bei Demokrit; und hier gab es neben ethischen und logischen Anthropomorphismen auch ästhetische: der Nous des Anaxagoras ein „Künstler", die Welt für Anaxagoras und Heraklit ein „Spiel".35 Den größten Einfluß auf Nietzsche hat dabei Heraklit 36 ausgeübt, und die frühe Metaphysik ist ein dreifacher Heraklitismus gewesen: als Philosophie eines kosmischen Streits der Kräfte, als Ästhetik des kosmischen Spiels sowie als radikale Natur- und Moralphilosophie, die mit der später so genannten „Unschuld des Werdens" gegen spätgriechische und christliche Metaphysik, ja gegen jede imperativische Moral auftrat. Heraklit muß als der Vorsokratiker gelten, der für Nietzsche in besonderem Maße bedeutsam wurde, bedeutsamer als der manchmal hervorgehobene Demokrit, bedeutsamer als Empedokles, dessen Leben und Lehre Nietzsche zu einer Tragödie zu gestalten dachte.37 Da ist einmal schon die Faszination durch die Person, die in ihrer stolzen, einsamen Wahrheitssuche Nietzsches Gang in die Einsamkeit entsprach.38 Da ist der Aristokratismus Heraklits, der auf ein Verständnis bei der Masse nicht hoffte. 39 „Einer gilt mir zehntausend", so hatte er gelehrt, „so er am meisten taugt"40. Und da ist die Verbindung zwischen agonaler Kultur und Polemos des Heraklit. Heraklit hat den Agon auf „das Räderwerk des Kosmos" übertragen. 41
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Das Lob der Antiteleologie des Empedokles und Demokrit, Die vorplatonischen Philosophen (1872, 1873, 1876), Musarionausgabe Bd. IV, a. a. O. 324, 336; Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (1873), KGW III/2, 360. Das Tragische, Die vorplatonischen Philosophen (1872,1873,1876), Musarionausgabe Bd. IV, a.a. O. 275, 320. Der Nous als „Künstler", Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (1873), KGW III/2, 363. Die Sonderstellung des Demokrit auf der einen, die noch tastende Theorie der Anthropomorphie der Wissenschaft auf der anderen Seite, finden sich 1872/73: „Von allen älteren Systemen ist das demokritische das consequenteste" — offenbar, weil es die sonst üblichen Anthropomorphismen der vorsokratischen Philosophie als „wissenschaftliche" Philosophie überwindet, Die vorplatonischen Philosophen (1872, 1873,1876), Musarionausgabe Bd. IV, a. a. O. 335. Dagegen steht allerdings die Berufung auf die Philosophie Kants, die auch die Wissenschaft als Anthropomorphismus nachgewiesen habe, KGW III/4, Sommer 1872—Anfang 1873, 47. Nach Nestle waren es Heraklit und Demokrit, die auf „Nietzsche am stärksten eingewirkt haben", W. Nestle: Friedrich Nietzsche und die griechische Philosophie, in: Griechische Weltanschauung in ihrer Bedeutung für die Gegenwart, Stuttgart 1946, 273. Ausführlich über Nietzsches „Vorsokratiker", wenn auch oft nur Zitate sammelnd: R. Oehler: Friedrich Nietzsche und die Vorsokratiker, Leipzig 1904. KGW III/3, September 1 8 7 0 - J a n u a r 1871, 129 f. „der Weise als stolz-einsamer Wahrheitsfinder", Die vorplatonischen Philosophen (1872, 1873, 1876), Musarionausgabe Bd. IV, a.a.O. 296. Fragment B 1. Die Fragmente Heraklits werden im folgenden zitiert mit „B 1 — 129" nach Heraklit. Fragmente. Griechisch und Deutsch, B. Snell (Hrsg.), München 7 1979. B 49. Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (1873), KGW III/2, 319.
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Nietzsche teilt mit Heraklit die Weltdeutung, nach welcher der Krieg der „Vater aller Dinge" und der Kosmos ein Werden und kein Sein ist. Die logischen Anthropomorphismen wie Parmenides' Sein, Anaxagoras' Nous oder Pythagoras' Zahl, sie sind eine Illusion, von der Logik erzwungen. Das Bleibende und Bestimmte ist eine Fiktion der Begriffe, die das Werden nicht fassen können und vom Individuellen absehen müssen. 42 Die Welt ist Werden und kein Sein. Was entsteht, geht auch wieder unter. Das Werden ist ein Resultat des Kampfes der Gegensätze, die als polare einander bedürfen. Das jeweils als bleibend und bestimmt Erscheinende ist nur das momentane Überwiegen eines der beiden Kämpfenden. 43 Und daß es so ist, ist für Nietzsche kosmische „Gerechtigkeit" (5iKT)) in ihrer höchsten Form. Heraklit wurde für Nietzsche so bedeutsam, weil Nietzsche in seiner Naturphilosophie eine ohne Teleologie, eine ohne logische Sistierung des Werdens zum Sein, eine letztlich auch ohne moralische Verurteilung des Kosmos auskommende ästhetische Metaphysik erkennen wollte. Bei Anaximander und den Pythagoreern galt das Werden als „eine strafwürdige Emancipation vom ewigen Sein" 4 4 . Da gehorchte der Kosmos einer Art moralischer Teleologie, die den Abfall vom Sein verurteilte und zur Rückkehr zum Ursprung drängte, Werden und Vielheit als Hybris, geahndet mit der Strafe des Untergangs. Nach Nietzsche ist es die große Bedeutung des Heraklit, anders gedacht zu haben. Die periodisch verbrennende und wiederkehrende Welt gehorcht nicht dem Rhythmus von Sündenfall und Erlösung. Die Welt ist gerecht in ihrem Entstehen und Vergehen. „... der Streit des Vielen selbst ist die eine Gerechtigkeit!" 45 Hesiod hatte das Gegenteil verkündet, daß der Streit die Abwesenheit der Gerechtigkeit sei. 46 Nietzsche sieht es anders. Der Streit ist gerecht, und er vollzieht sich mit der Gewalt des Schicksals. „Alles ist ja si^tapiiEVT], auch der einzelne Mensch." 4 7 Das Werden ist unschuldig. Man hat es zu betrachten als ein Spiel, vergleichbar in seiner Unschuld dem Kind, das Sandhaufen errichtet und zerstört, in seiner Gesetzmäßigkeit zu betrachten als Spiel eines Künstlers. „Die Zeit" (aicbv), hieß es bei Heraklit, „ist ein Kind, ein Kind beim Brettspiel; ein Kind sitzt auf dem Throne." 4 8 Bei Nietzsche heißt es entsprechend, die Welt ist „Spiel" eines Kindes, „ein Werden und Vergehen, ein Bauen und
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Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1874), K G W III/2, 374. Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (1873), K G W III/2, 319. A.a.O. 313. Die vorplatonischen Philosophen (1872, 1873, 1876), Musarionausgabe Bd. IV, a. a. O. 284. Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (1873), K G W III/2, 321. "Epya Kai f ^ p c n , 276ff. Die vorplatonischen Philosophen (1872, 1873, 1876), Musarionausgabe Bd. IV, a.a.O. 313. „Ai