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German Pages 209 [212] Year 2013
Oliviero Angeli, Thomas Rentsch, Nele Schneidereit, Hans Vorländer (Hg.)
Transzendenz, Praxis und Politik bei Kant
Oliviero Angeli, Thomas Rentsch, Nele Schneidereit, Hans Vorländer (Hg.)
Transzendenz, Praxis und Politik bei Kant
Akademie Verlag
Gefördert mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des SFB 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ der Technischen Universität Dresden.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2013 Ein Wissenschaftsverlag der Oldenbourg Gruppe www.akademie-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Einbandgestaltung: Hauser Lacour Satz: Veit Friemert, Berlin Druck: Concept Medienhaus, Berlin Bindung: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN eISBN
978-3-05-006284-6 978-3-05-006377-5
Printed in the Federal Republic of Germany
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Oliviero Angeli / Nele Schneidereit Einleitung Transzendente Geltungsgründe von Politik und praktische Gültigkeit von Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil I Transzendente Geltungsgründe der Republik Christoph Binkelmann (Con)sensus communis: Kants Theorie der ästhetischen Vergemeinschaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Oliviero Angeli Das Volk als Transzendenz? Die ‚Erfindung‘ des Volkes in Kants rechts- und geschichtsphilosophischen Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Enno Rudolph Die politische Vernunft der Teufel Kant zwischen Hobbes und Rousseau . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Georg Kohler Docta Spes. Zu Kants politischer Theorie begründeter Hoffnung und kollektiven Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
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Inhalt
Teil II Praktische Gültigkeit von Transzendenz Burkhard Nonnenmacher Wie soll nach Kant das, was für die spekulative Vernunft transzendent ist, in der praktischen Vernunft immanent sein? . . . . . 87 Rudolf Langthaler Eine „noo-theologisch“ erweiterte Ethikotheologie? Perspektiven der „absoluten Transzendenz“ beim späten Kant . . . . 107 Friedo Ricken Religion als Pflicht des Menschen gegen sich selbst . . . . . . . . . . 135 Thomas Rentsch Kants Analyse der Sünde – das radikale Böse und sein Transzendenzbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Reiner Wimmer Kants Religionsphilosophie im Opus postumum . . . . . . . . . . . . 165 Nele Schneidereit Praktiken der Sinngebung Immanenz der Transzendenz bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Hinweise zu den Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
Vorwort
Der vorliegende Band ist aus zwei Tagungen des Dresdner Sonderforschungsbereichs 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ hervorgegangen. Die erste Tagung fand vom 22. bis zum 24. April 2010 in Dresden zum Thema „Transzendenz bei Kant“ statt. Die zweite Tagung wurde ein Jahr später (am 6. und 7. Juni 2011) am gleichen Ort abgehalten. Sie trug den Titel „Zwischen Liberalismus und Republikanismus. Über die transzendenten Ressourcen der kantischen Republik“. Veranstalter dieser zwei Tagungen waren das Teilprojekt P (unter der Leitung von Prof. Dr. Thomas Rentsch) bzw. das Teilprojekt H (unter der Leitung von Prof. Dr. Hans Vorländer). Ziel der beiden Tagungen, deren Ergebnis der vorliegende Band darstellt, war es, die Bedeutung der Transzendenz für die kantische Philosophie zu ermitteln. Zur Interdisziplinarität dieses Bandes trägt der Umstand bei, dass die zwei Tagungen dieses noch weitgehend unerschlossene Themengebiet der Kantforschung aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Während es in der ersten Tagung (Teilprojekt P) vor allem darum ging, die Spuren des Transzendenten in der kantischen Moralund Religionsphilosophie aufzudecken und zu analysieren, widmete sich die zweite Tagung (Teilprojekt H) der Untersuchung der transzendenten Geltungsressourcen der politischen Philosophie Kants unter Einbeziehung geschichtsphilosophischer Gesichtspunkte. Beiden Tagungen ist gemein, dass sie entsprechend der thematischen Grundausrichtung des Sonderforschungsbereichs 804 nach der sinnkonstitutiven Begründungsleistung von Transzendenz fragen. Dabei geht es stets um die Analyse von Diskursen oder Praktiken, die Sein und Geltung durch die Einbeziehung von Transzendenzdimensionen wie Gott, Natur oder Vorsehung bestimmen.
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Vorwort
Ein Sammelband wie der vorliegende ist freilich kein Selbstläufer. Es bedarf der Mitwirkung zahlreicher Unterstützer, Ratgeber und Kritiker. Unser besonderer Dank gilt der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die den Sonderforschungsbereich 804 fördert und in diesem Rahmen die beiden Tagungen sowie diesen Sammelband finanziell ermöglicht hat. Neben den Vortragenden haben zahlreiche Diskutanten zum Gelingen der Tagungen beigetragen. Ihnen allen sei herzlich gedankt: den Autoren für Ihre Beiträge und die gute Zusammenarbeit, allen Teilnehmenden für die stimulierende Diskussion. Sabine Adrian, Sebastian Böhm und Hannah Eitel gilt unser Dank für die Mithilfe bei der redaktionellen Durchsicht und Bearbeitung der Beiträge. Thomas Rentsch und Hans Vorländer
Anmerkung zur Zitation von Kants Schriften Kants Schriften werden nach der Ausgabe der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (Berlin 1900 ff.) zitiert. Die römische Zahl bezeichnet den jeweiligen Band, die auf das Komma folgende arabische Ziffer die Seitenzahl. Die Anordnung der Texte, Orthographie und Zeichensetzung der Akademieausgabe werden übernommen. Weitere verwendete Literatur findet sich in den Verzeichnissen am Ende der Beiträge.
Einleitung Transzendente Geltungsgründe von Politik und praktische Gültigkeit von Transzendenz Oliviero Angeli / Nele Schneidereit
Den Begriff der Transzendenz in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit Kant zu stellen, mag zunächst kontraintuitiv scheinen. So war es doch gerade Kant, der der Metaphysik mit seiner kritischen Philosophie ein Ende setzte bzw. sie in eine Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft umwandelte. Entsprechend kommt der Begriff Transzendenz bei Kant gar nicht vor, sondern neben dem im Kantischen Opus ubiqui tären Attribut ‚transzendental‘ lediglich die Adjektive ‚transzendent‘ und ‚übersinnlich‘.1 Gleichwohl erhält die Transzendentalphilosophie ihren Schwung vom Transzendenten her, verstanden als das Unsinnliche, das Unbedingte und in Bezug auf unser Erkenntnisvermögen auch das Unver fügbare. Denn ohne die Suche nach dem Unbedingten wäre eine Kritik des dabei entstehenden erkenntnistheoretischen Überschwanges gar nicht notwendig. Der Überschwang, mit dem die menschliche Vernunft über die Grenzen der Erfahrung hinaus urteilen will, ist jedoch nicht bloß eine Verirrung philosophischer Schulen, sondern der Vernunft selbst immanent, wie Kant gleich zu Beginn der A-Auflage der Kritik der reinen Vernunft deutlich macht: Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber 1
Aloysius Winter weist auf eine Ausnahme hin, die sich im Opus postumum findet (vgl. Winter 2000: 477). Winter legt dar, wie Transzendenz der Sache nach in verschiedener Hinsicht als „verborgenes Grundmotiv“ wirkt, als „erkenntnistheoretische“ und „metaphysische Transzendenz“, als „Transzendenz des Vorgriffs auf das Sein im Ganzen“, als „theologische“ und „‚strikt theologische‘ Transzendenz“ (ebd.: 485).
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Oliviero Angeli / Nele Schneidereit auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der mensch lichen Vernunft. (IV A, vii)
Die Vernunft ist also ihrem Wesen nach transzendenzbezogen, ohne das Transzendente erkennen zu können. Entgegen dem gängigen Urteil hat Kant aber nicht nur Grenzen gesetzt und Schulweisheiten zerschlagen, sondern hat der Hoffnung Moses Mendelssohns entsprochen, dass er „mit demselben Geiste wieder aufbauen wird, mit dem er niedergerissen hat“ (Mendelssohn 1974: 5). Nun ist Kant aber kein Restaurator gewesen, dem es nach einem Blick in das Innenleben genügt, die Sache ebenso wieder aufzubauen, wie sie zuvor ausgesehen hat, sondern er hat sie so rekonstru iert, dass sie von inneren Widersprüchen befreit war: als kritische Philoso phie, deren Kern aber der Bezug auf Transzendenz bzw. die Immanenz der Transzendenz im Denken, Handeln und Urteilen geblieben ist. Aus ihrem Wesen heraus entstehen der Vernunft unwillkürlich tran szendente Ideen und aus diesen Schlüsse (Paralogismen, Antinomien), aus denen sich zu befreien überaus schwierig ist. Durch ihre Selbstwider sprüchlichkeit wird die Vernunft zur Kritik getrieben, der aus dem Laby rinth führende Schlüssel ist aber so, dass er, wenn er gefunden worden, noch das entdeckt, was man nicht suchte und doch bedarf, nämlich eine Aussicht in eine höhere, unveränderliche Ordnung der Dinge, in der wir schon jetzt sind, und in der unser Dasein der höchsten Ver nunftbestimmung gemäß fortzusetzen wir durch bestimmte Vorschriften nun mehr angewiesen werden können. (V, 107 f.)
In diesem Sinne ist es also nicht nur möglich, sondern geradezu erforder lich, Kant solcher Lektüren zu unterziehen, die die Bedeutung des Trans zendenten für seine kritische Philosophie betonen.2 Diese Perspektive lässt sich auch umdrehen: Erst Kant ist es, der Trans zendenz nicht anthropomorphisiert oder auf andere Weise zugänglich zu machen versucht hat. Transzendenz tritt so erst durch die Bestimmung der Grenzen der Vernunft als Transzendenz hervor. Der vorliegende Band setzt aber weniger bei diesen wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Fragen als vielmehr an dem Aspekt der Immanenz der Transzendenz 2
Diesem Eindruck entspricht auch der Sammelband von Fischer 2004: Kants Metaphysik und Religionskritik. Wieder diskutiert wird Kants Religionsphilosophie mit besonderem Blick auf die Ansprüche monotheistischer Religion und der Vernunft bei Hiltscher/Klingner 2012: Kant und die Religion – die Religionen und Kant.
Einleitung
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an – an der Frage also, wie der Transzendenzbezug der Vernunft sich uns zeigt. Die Suche nach dem Unbedingten bleibt in der Kritik der reinen Vernunft im Ergebnis transzendental, also die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt betreffend. Für das transzendentale Objekt des ‚Ding an sich‘ sowie das transzendentale Subjekt des ‚Ich denke, das alle meine Vorstellungen begleiten können muss‘ kann die spekulative Vernunft keine Objektivität beanspruchen, sie bleiben in theoretischer Hinsicht bloß problematisch. In praktischer Hinsicht hingegen darf die reine praktische Vernunft durch das moralische Gesetz (als einem ‚Faktum der Vernunft‘) objektive Realität für den Begriff der Freiheit und anhängend auch die spekulativen Ideen von Gott und Seele beanspruchen:3 Der Begriff der Freiheit, so fern dessen Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist, macht nun den Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der speculativen Vernunft aus, und alle andere Begriffe (die von Gott und Unsterblichkeit), welche als bloße Ideen in dieser ohne Haltung bleiben, schließen sich nun an ihn an und bekommen mit ihm und durch ihn Bestand und objective Realität, d. i. die Möglichkeit derselben wird dadurch bewiesen, daß Freiheit wirklich ist; denn diese Idee offenbart sich durchs moralische Gesetz. (V, 3 f.)
Wo der spekulativen Vernunft in ihrem Gebrauch Grenzen bei der Erkennt nis gesetzt sind, darf die praktische Vernunft, sofern sie sich als reine praktische Vernunft selbst das Gesetz gibt, hinsichtlich ihres praktischen Interesses der moralischen Willensbestimmung, objektive Realität trans zendenter Begriffe annehmen und hat so in der Verbindung von praktischer und theoretischer Vernunft das Primat. Von diesem Primat der praktischen Vernunft bei transzendenten Ideen leitet sich die Anlage des vorliegenden Bandes her, der nach der Imma nenz der Transzendenz in unserer gesamten Praxis fragt. Mit Kant wird nach den transzendenten Geltungsgründen weltlicher Ordnung einerseits und der innerweltlichen Gültigkeit bzw. dem Sinn von Transzendenz ande rerseits gesucht. Inwiefern ist unsere Praxis durch Transzendenz fundiert und welchen Sinn verleihen wir Transzendenz in unseren lebensweltlichen Vollzügen? Diese Fragen werden paradigmatisch entlang der politischen Philosophie sowie der moral- und religionsphilosophischen Philosophie 3
Kant bezeichnet das moralische Gesetz als „Creditiv“ (V, 48) der objektiven Rea lität der Freiheit, die damit als hinreichend beglaubigt gelten könne.
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Kants untersucht. Sie weisen jedoch über den Rahmen der Kantischen Philosophie hinaus, indem sie Formen politischer Ordnung auf ihre trans zendenten Bezüge hin untersucht sowie den kritischen Begriff der Trans zendenz mit seinen moralischen Praxisformen und religiösen Sinnfiguren in Beziehung setzen. Transzendenz wird hier mit Politik, Moralität, Reli gion und Geschichte in Beziehung zu vier Paradigmen weltlicher Orientie rung gesetzt, die so immer auch als Vergegenwärtigungen des Unverfüg baren zu verstehen sind. Im Fall der Religion ist diese Beziehung selbstverständlich, war durch Kants Metaphysikkritik jedoch auf eine Weise herausgefordert worden, die vermuten lassen könnte, Kant habe alle Religion verwerfen wollen und wenn nicht das, dann sei mit ihm jedenfalls kein gehaltvoller Begriff der Transzendenz mehr möglich. Dieser Vermutung hat jedoch die Moralphi losophie Kants mit ihrem zentralen Lehrstück vom höchsten Gut immer schon entgegengewirkt. Inwiefern Recht und Politik hingegen überhaupt transzendenzbezogen sind, sein können oder sein sollen, ist nach wie vor umstritten. Kann eine politische Ordnung ihre Geltung selbst erzeugen oder bedarf es der Fundierung in Normen, die der politischen Verfügbar keit entzogen sind? Oder geht die Geltung einer politischen Ordnung aus den moralischen Überzeugungen der Bürger hervor? Und wäre damit nicht Kants Trennung von Recht und Moral aufgehoben? Bezogen auf Religion und Moral geht es im vorliegenden Band um einen Themenbereich, der durch Kants kritische Philosophie seines Fundaments absoluter Transzendenz beraubt war. Bezogen auf Politik und Recht geht es hingegen um ein thematisches Feld, das in modernen Theorieentwürfen überhaupt eher selten mit Transzendenz in Verbindung gebracht wird. Für beide Themengebiete gilt bei Kant, dass die objektive Realität transzen denter Ideen in praktischer Hinsicht angenommen werden darf oder sogar muss. Insgesamt zeigt sich dabei die menschliche Welt als eine gemein same, transzendenzbezogene Praxis, die stets durch unhintergehbare Kritik durchsetzt und durchbrochen ist.
Einleitung
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1. Transzendente Geltungsgründe von Politik Wer nach dem Transzendenten in Kants politischen Schriften sucht, sucht vergebens. Kants politische Philosophie kommt ganz ohne Hinweis auf eine göttliche oder kosmische Ordnung aus. Einzig die praktische Vernunft soll der Maßstab für die Geltung des Rechts sein. Und doch hält sich die Vorstellung hartnäckig, dass Kants Republik von Voraussetzungen lebt, die sie selbst nicht erzeugen kann und die deshalb außerhalb des Rechts und der Politik liegen müssen (vgl. Flikschuh 2000). Gemeint ist nicht nur die Unterscheidung zwischen angeborenen und erworbenen Rechten, die mancher Konzeption der Menschenwürde noch heute zugrunde liegt (vgl. Badura 1964). Es geht auch um die grundsätzlichere Frage, inwieweit Kants Konzeption der Republik auf der Vorstellung eines idealen Bürgers fußt. Ist die Republik ohne Zumutungen an die moralische Gesinnung der Bürger überhaupt zu realisieren? Kann Kants Republik ihre sozio-poli tischen Grundlagen selbst erzeugen oder muss sie deren Vorhandensein stets als gegeben voraussetzen? Ganz ohne das Vermögen des moralischen Gemeinsinns kommt Kants Republik jedenfalls nicht aus. Diese Auffassung bildet den Hintergrund und den Ausgangspunkt des Beitrages von Christoph Binkelmann, der zwischen zwei Formen des moralischen Gemeinsinns unterscheidet, einem harten und einem weichen Gemeinsinn. Letzterer bezieht sich zwar nur auf „schöne“ Handlungen, die den Anschein – aber eben nur den Anschein – des Moralischen hervorrufen. Seiner moralischen Funktion tut dies jedoch keinen Abbruch. Denn der weiche Gemeinsinn erweist sich als Wegberei ter und sozio-politische Stütze moralischen Handelns, indem er die Fähig keit zur Transzendierung des Eigeninteresses fördert und dabei keinen Missbrauch des Anderen im partikularen Eigeninteresse betreibt. Damit steht der weiche (ästhetische) Gemeinsinn der Moral näher als dem Recht. Denn das Recht zwingt den Einzelnen zwar, sich allgemeinen Gesetzen zu unterwerfen, sieht aber von den (oftmals sehr eigensinnigen) Motiven der Rechtsbefolgung ab. Zugleich macht sich der weiche moralische Gemeinsinn jenes Verständnis der menschlichen Wechselbeziehungen zu eigen, das auch dem kantischen Rechtsbegriff zugrunde liegt. Es geht um die Anerkennung der Anderen als mit Rechten ausgestatteten Individuen. Binkelmann nennt diese Form der Anerkennung „Distanz“, um sie von
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der Vereinnahmung der Anderen als bloße Mittel zum eigenen Zweck zu unterscheiden. Um Distanz (und Nähe) geht es auch im Beitrag von Oliviero Angeli. Ausgehend von der intelligiblen Vorstellung menschlicher Nähe zeigt Angeli, dass der Rechtslehre ein Verständnis politischer Gemeinschaft zugrunde liegt, das mit dem modernen Verständnis der Nation als ‚imagi nierte Gemeinschaft‘ durchaus verwandt ist. Während für den Nationalis musforscher Benedict Anderson eine Nation deshalb „imaginiert“ ist, weil ihre Mitglieder „die meisten anderen niemals kennen […] werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert“ (Anderson 1998: 14), ist Kants Volk „intelligibel“, weil es eine durch die mensch liche Einbildungskraft erzeugte Situation des räumlichen Zusammenseins repräsentiert. Diese Vorstellung des Volkes als intelligible Gemeinschaft unterscheidet sich von den zwei anderen Formen politischer Vergemein schaftung, die aus Kants Werk hervorgehen. Beide beziehen ihre politische Geltung aus transzendenten Quellen. Hinter dem Volk der kantischen Geschichtsphilosophie verbirgt sich beispielsweise die schöpferische Absicht der Natur. Aber auch das Volk der respublica noumenon zeugt von einem politisch unverfügbaren, „platonische[n] Ideal“ politischer Selbst bestimmung. Mit dieser rousseauistisch anmutenden Interpretation des kantischen Volkes setzt sich auch Enno Rudolph kritisch auseinander. In seinem Beitrag unternimmt Rudolph den Versuch, Kants Figur des Teufels in dem Spannungsverhältnis zwischen Moral und Politik zu verorten. Die Rolle des Teufels in der kantischen Rechtsphilosophie zeigt, wie sehr Kant zwischen Rousseaus „totalitärem“ Republikanismus und Hobbes’ „pessi mistischem“ Liberalismus schwankt, wobei er letzterem – bei näherer Betrachtung – deutlich näher steht. Dies zeigt schon der Umstand, dass der Teufel als Verkörperung jenes Menschen, der ausschließlich sein eigenes Glück zur Richtschnur seines Handelns macht, in Rousseaus Staat keinen Platz hätte. Denn der Teufel lebt von der Kluft zwischen Moral und Recht, zwischen moralischem und politischem Handeln – von jener Kluft also, die Kants politische Philosophie von Rousseaus Totalitätsanspruch trennt. Aber auch Kants vermeintlicher Hobbesianismus weist Grenzen auf. Denn Kant glaubt an die moralisierende Funktion des Rechts und setzt sich damit von Hobbes’ anthropologischem Pessimismus ab (vgl. auch Pinzani 2009).
Einleitung
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Dass Fortschritt möglich ist, davon war Kant zutiefst überzeugt. Worauf aber beruhte diese Überzeugung? Verbirgt sich hinter der Vorstellung des Antagonismus als Triebfeder des geschichtlichen Fortschritts nicht etwa Adam Smiths „unsichtbaren Hand“, die von außen die Politik und Geschichte zum moralisch erstrebten Ziel lenkt? Schleicht sich hier nicht eine jener Transzendenzfiguren ein, die die Geltungsgründe der politischen Ordnung jenseits des Politischen verlagern? Georg Kohler meldet in seinem Beitrag Zweifel an dieser Auslegung an. Anders als Hegel begründet Kant nach Kohler nicht die Notwendigkeit, sondern lediglich die Möglichkeit des Rechtsfortschritts. In diesem Punkt bleibt Kant der kritischen Methode seiner Philosophie treu. Viel angemessener erscheint deshalb die Rede von der Wahrscheinlichkeit des Rechtsfortschritts. Damit setzt sich Kant deutlich von jener säkularisierten Heilsgeschichte ab, die traditionell mit Hegels und Marx’ Geschichtsphilosophie in Verbindung gebracht wird. Sie erwächst vielmehr aus dem Bewusstsein der empirischen Anwendungsbedingungen eines moralischen Ideals, das die Vernunft als Ziel praktischen und damit auch politischen Handelns vorgegeben hat.
2. Religion und Moral – immanente Geltung von Transzendenz Auch die auf die Moral- und Religionsphilosophie Kants bezogenen Beiträge des zweiten Teils des vorliegenden Bandes zeigen, dass Kants Kritik des Umgangs mit Transzendenz in der Tradition der spekulativen Philosophie nicht dazu führte, das Transzendente nur noch im Modus reiner Negation zu behandeln. Ganz im Gegenteil geht es ihm – wie der Untertitel der Prolegomena anzeigt – um eine künftige Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. Aus transzendenten Ideen lassen sich keine Lehrgebäude errichten. Diese Ideen dienen aber in mindestens zweierlei Hinsicht unverzichtbarer Orientierung; sie sind ordnungsstiftend in der Wissenschaft und sie begleiten unsere moralische Urteilspraxis. Die Beiträge befassen sich insbesondere mit der Immanenz der Transzendenz in der Praxis moralischen Urteilens, ausgeprägt in der Lehre vom höchsten Gut und seiner anhängenden Postulate der Unsterblichkeit der Seele und des Daseins eines Gottes, der die Zusammenstimmung von Sittlichkeit und
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Moralität gewährleistet (Ethikotheologie). Doch auch mit der Rückkehr von Figuren absoluter Transzendenz und von Religion durch die Moral philosophie muss sich die Auseinandersetzung mit Transzendenz bei Kant befassen. In welcher Weise der Umgang mit Transzendenz schließlich nicht nur ordnungs- und sinnstiftend für unsere theoretische und moralische Praxis ist, sondern zugleich immer nur von den Formen ihrer Geltung in unserer Praxis her verständlich werden kann und so von ihr imprägniert ist, machen die letzten drei Beiträge deutlich. Die Rede von der Immanenz der Transzendenz in praktischer Hinsicht sowie vom damit verbundenen Primat des Praktischen ist keinesfalls selbst erklärend. Burkhard Nonnenmacher unterzieht daher Kants Frage danach, wie das, was für die spekulative Vernunft transzendent ist, in der prak tischen Vernunft immanent sein können soll, einer akribischen Analyse. Ergebnis dieser Anstrengung ist, dass die objektive Realität transzendenter Ideen in praktischer Hinsicht in der Lehre vom höchsten Gut zunächst analog dem theoretischen Gebrauch bloßes Mittel (Regulativ) ist, so dass die theoretische Erkenntniserweiterung in praktischer Absicht selbst bloß Postulat i. S. v. Fiktion wäre. Lösen lässt sich diese Schwierigkeit, wenn die Rede vom ‚Primat der praktischen Vernunft‘ nicht als Unterwerfung der theoretischen Vernunft verstanden wird, sondern im Sinne höchstmög licher Ordnung als Einheit von Theorie und Praxis. Dies sieht Nonnen macher dann gewährleistet, wenn der theoretische Satz ‚Es ist ein Gott‘ als Teil der praktischen Selbstbestimmung der Vernunft begriffen wird, so dass die praktische Selbstbestimmung zu ihrer Rechtfertigung auf die theoretische Vernunft angewiesen ist, die wiederum nur im Rahmen einer Theorie und Praxis überspannenden Einheit Objektbezug und damit episte mische Dignität beanspruchen darf. Diese Einheit von Theorie und Praxis wird durch das Primat des Praktischen gewährleistet, das damit also in die Gesamtsystematik und nicht in den engeren Kontext der praktischen Vernunft allein gehört. Auch Rudolf Langthaler setzt bei der Lehre vom höchsten Gut (Ethi kotheologie) an. Ausgehend von Kants später Preisschrift über die Fortschritte in der Metaphysik sieht Langthaler das höchste Gut als gegrün det in einer Zusammenstimmung der transzendenten Ideen von Freiheit, Gott und Unsterblichkeit, die Endzweck der reinen praktischen Vernunft sei und zugleich die Selbsterhaltung der Vernunft gewährleiste. Auch hier wird das Primat des Praktischen mithin eher gesamtsystematisch behan
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delt, es erfolgt darüber hinaus jedoch eine teleologische Neubestimmung der Vernunft. Diese versteht Langthaler als Verweis auf eine dritte Stufe von Metaphysik beim späten Kant, die auf der Idee einer absoluten Trans zendenz fußt. Das moralische Gesetz sei ebenso wie die Zusammenstim mung der transzendenten Ideen zu einem organisierten Ganzen als Reflex des Übersinnlichen aufzufassen. Insofern sich im Endzweck der Zusam menstimmung Weisheit realisiere, verweise die Frage nach dem Grund der Zweckverbindung auf die Weisheit eines moralischen Welturhebers. So wäre die Ethikotheologie beim späten Kant durch den Grenzbegriff Gottes als Grund aller Realität wiederum theologisch gegründet (theologia rationis humanae). Doch nicht nur für die Rückkehr der Theologie lässt sich von Kants Moralphilosophie her argumentieren, sondern auch für die der Religion. Die Moralität des Menschen führt ihn unwillkürlich zur Transzendenz. Sofern der Mensch zur Willensbestimmung ein auf Zwecke angewiesenes Wesen ist, denkt er sich bei der moralischen Bestimmung seines Willens unwillkürlich ein Wesen, das diesen Endzweck realisieren kann. Friedo Ricken zeigt, dass das moralische Gesetz nicht nur Pflicht, sondern über die Idee des höchsten Gutes auch Religion gebietet. Religion ist dabei – wie Kant in der Religionsschrift deutlich macht – nicht als Gottesdienst misszuverstehen, sondern als Glaube an einen moralischen Welturheber. Diesen Glauben kennzeichnet Ricken als „propositionale Einstellung“ der Verbindung des Bewusstseins des moralischen Gesetzes mit der Hoffnung auf die Verwirklichung des höchsten Guts in der Welt (143), durch die allein das Zusammenstimmen von Moralität und Glückseligkeit sowohl im Diesseits als auch im Jenseits gedacht werden kann. Kant ist in diesem Sinne zwar Religionskritiker, aber kein -verächter gewesen. Im Zentrum seiner Auffassung von Religion steht aber kein Gott der Philosophen, der auf spekulativer Einsicht in ein höchstes Wesen beruht, sondern das mora lische Gesetz, das als ‚Faktum der Vernunft‘ auf die objektive Realität der Freiheit und damit auf die Zugehörigkeit des Menschen zur intelligiblen Welt verweist und das als göttliches Gebot gesehen werden kann. In der Religionsschrift soll das Verhältnis der Offenbarungsreligion zur Vernunftreligion zur Aufklärung kommen, wobei man letztere vielleicht als eine um die Frage nach der Herkunft des Bösen angereicherte Vari ante seiner Moralphilosophie verstehen kann. Kant zeigt in dieser Schrift, inwiefern die Immanenz des Guten (als Anlage) bei endlichen Wesen
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zugleich die des radikal Bösen (als willentliche Abweichung vom mora lischen Gesetz) ist. Thomas Rentsch schließt diese Analysen in einer Weise auf, die ihre beschreibende Kraft für unser Selbstverständnis deutlich macht. Der Sinn der Idee Gottes, insbesondere im Rahmen christologischer Vorstellungen, zeigt sich in der Erfüllungs- und Hoffnungsperspektive, die gerade angesichts menschlicher Fehlbarkeit unabdingbar sind. Zu einem „authentischen Gottesverständnis“ nach Kant gehört es, „bei den trans pragmatischen und transmoralischen Sinnbedingungen eines gesamten, praktischen, selbstbewussten menschlichen Lebensverständnisses“ anzu setzen, so Rentsch (151). Der Sinn der Rede von Gott erschließt sich also mit Blick auf die „existenztragenden Sinnbedingungen humaner Praxis“ (152). Rentsch zeigt diesen Sinn der Gottesrede durch die Verbindung von Anthropologie und Christologie in der Religionsschrift auf, die den wech selseitigen Verweisungszusammenhang von theoretisch problematischen Begriffen mit ihrer sinnstiftenden Geltung für unsere Praxis aufzeigt, von der her die transzendenten Ideen jedoch auch erst ihre spezifische Bedeu tung erhalten. Für Reiner Wimmer bildet die Transzendentalanthropolo gie entsprechend den Rahmen der Frage nach dem Sinn des Begriffs von Gott im Opus postumum. Die Verwirklichung der Einheit von Natur und Vernunft im Menschen wird als Vollendung der Transzendentalphilosophie vorgestellt. Zum Problem werde in dieser transzendentalanthropologischen Tendenz die Frage, ob diese „‚Anthropologisierung‘ der Idee von Gott“ (170) noch der Begründung durch eine transzendentale Theologie bedürfe oder ob der Gottesbegriff durch sie eliminiert werde. Während diese Frage im Opus postumum nicht geklärt wird, bleibt doch auch hier klar, dass Gott zugeschriebene Eigenschaften immer zum menschlichen Selbstverständnis gehören, während die Existenzfrage eine Grenzfrage bleibt. Diese Frage erhält ihren Sinn in einer „neowittgensteinianischen Trans formation von Kants transzendentalphilosophischem Verfahren“, so Wimmer. Wer oder was Gott sei – also der Sinn der Gottesfrage –, das finde „sich in der Grammatik einer bestimmten religiösen Lebensform gleichsam ‚ausgesprochen‘ […] und diese Grammatik [kann] in der Reli gionsphilosophie oder in einer entsprechenden Theologie reflektiert und analysiert werden“ (180). In ähnlicher Weise geht Nele Schneidereit in ihrem Artikel der Notwendigkeit von transzendenten Ideen für unsere Orientierung in wissenschaftlich-theoretischer, vor allem aber praktisch-
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moralischer Hinsicht bei Kant nach. Insbesondere hebt sie dabei – wie von Wimmer angeregt – auf die Art und Weise ab, wie die transzendenten Ideen von Gott, Seele und Freiheit unsere Alltagspraxis durchziehen. Die aus der Natur der Vernunft unwillkürlich entstehenden spekulativen Fragen, sind in der sinngebenden Praxis im Modus kulturell überkommener Bilder und Geschichten immer schon eingelöst. Die historisch kultivierte (reli giöse) Bildwelt ist dabei einerseits zur Sinnstiftung unverzichtbar, muss aber andererseits immer wieder neuer Kritik unterzogen werden, um Sinn verlust zu vermeiden. So erneuern und verändern sich die Vergegenwärti gungsweisen des Transzendenten in unserer wissenschaftlichen und mora lischen Praxis unablässig.
Literatur Anderson, Benedict (1998), Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts, Berlin. Badura, Peter (1964), „Generalprävention und die Würde des Menschen“, in: Juristenzeitung 19, 337–344. Fischer, Norbert (Hg.), Kants Metaphysik und Religionskritik, Hamburg 2004. Flikschuh, Katrin (2000), Kant and Modern Political Philosophy, Cambridge. Hiltscher, Reinhardt / Klingner, Stefan (Hg.), Kant und die Religion – die Religionen und Kant, Hildesheim 2012 (Studien und Materialien zur Geschichte der Philo sophie 83). Mendelssohn, Moses (1974), „Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes“ (1785), in: Moses Mendelssohn Gesammelte Schriften („Jubiläumsausgabe“). Bd. III,2. (Hg.) L. Strauss, Stuttgart/Bad-Cannstatt, 1–175. Pinzani, Alessandro (2009), An den Wurzeln moderner Demokratie: Bürger und Staat in der Neuzeit, Berlin. Winter, Aloysius (2000), Der andere Kant. Zur philosophischen Theologie Immanuel Kants, Hildesheim/Zürich/New York.
Teil I Transzendente Geltungsgründe der Republik
(Con)sensus communis: Kants Theorie der ästhetischen Vergemeinschaftung Christoph Binkelmann
Spricht man vom soziopolitischen Stellenwert des Gemeinsinns in der Philosophie Immanuel Kants, tauchen in erster Linie negative Bewertungen auf: Kants Konzeption des Gemeinsinns betreibe eine Entleerung eines ursprünglich volleren Begriffs, dessen Reduzierung auf ästhetische Belange sowie die Limitierung der Ästhetik auf subjektive Erfahrbarkeit ohne objektiven Wahrheitsanspruch. So lautet bekanntlich Hans-Georg Gadamers wirkmächtige Kritik in Wahrheit und Methode (Gadamer 1990: 32, 36 ff.). Eine ambivalentere Position findet sich bei Hannah Arendt. Noch in ihrem Hauptwerk Vita activa oder Vom tätigen Leben (engl. 1958) heißt es ohne expliziten Bezug auf Kant – vielmehr steht Descartes am Pranger –, dass mit der Zunahme an Selbstreflexion ein Verlust an Gemeinsinn bzw. dessen Verinnerlichung einhergehe: Denn dieser Gemeinsinn, der ursprünglich der Sinn ist, durch den alle anderen Sinne, die von sich aus rein subjektiv und privat sind, in eine gemeinsame Welt gefügt und auf eine Mitwelt zugeschnitten werden, […] dieser Gemeinsinn gerade wurde jetzt als gesunder Menschenverstand zu einem inneren Vermögen ohne allen Weltbezug […]; was die Menschen des gesunden Menschenverstandes miteinander gemein haben ist keine Welt, sondern lediglich eine Verstandesstruktur. (Arendt 1999: 359 f.)
Die Wortwahl Arendts in diesem Text legt die Vermutung nahe, dass der Übergang von einer gemeinsamen Mitwelt zum „Spiel des Verstandes mit sich selbst“ auch in Kants Denken wiederzufinden ist. Einige Jahre später, kurz vor ihrem Tode, wird Hannah Arendt diese Kritik an Kant mildern oder gar zurücknehmen, indem sie in Vorlesungstexten zu Kants politischer Philosophie (1970) dessen Gemeinsinnskonzeption als herausragende Leistung hervorhebt und in ihre eigene Philosophie
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„vom Leben des Geistes“, also der vita contemplativa, integriert. Auch wenn die überlieferten Texte (Arendt 2012) es erlauben, die Theorie, die im nicht mehr geschriebenen Teil „Das Urteilen“ ausgeführt werden sollte, zu rekonstruieren, und zeigen, wie Arendt Kants ästhetische Theorie des Gemeinsinns in eine politische Theorie umzudeuten versucht, bleibt es schwer, den Eigenanteil Kants hinsichtlich der soziopolitischen Bedeutung des Gemeinsinns aus Arendts Entwürfen „herauszuschälen“. Es stellt sich folglich angesichts der schwerwiegenden Kritik sowie der undurchsichtigen Forschungslage die Frage, ob es überhaupt sinnvoll und ertragreich ist, Kants Gemeinsinnskonzeption im Kontext seiner soziopolitischen Theorie zu erörtern und zu verorten. Ich möchte im Folgenden einige Aspekte zu einer positiven Beantwortung dieser Frage beitragen, ohne dabei behaupten zu wollen, dass Gadamers Kritik und Arendts kritische Transformation der Position Kants hinfällig werden. Aus ihrer jeweiligen Perspektive beurteilt, bestehen ihre Anliegen weiter und werden durch Kants Entwurf nicht befriedigt. Dennoch glaube ich zeigen zu können, dass gerade der ästhetische Gemeinsinn bei Kant, der auch „Geschmack“ genannt wird, eine akut soziale Bedeutung besitzt, die nur zu verstehen ist, wenn man das Verhältnis dieses Gemeinsinns zu Recht und Moral erörtert. Mehr noch: Meiner These nach ist bei Kant der ästhetische Gemeinsinn eine Art oder Variante des Gemeinsinns neben einem logischen (epistemischen), einem harten moralischen und einem rechtlichen Gemeinsinn.1 Ihn kann man nicht allein für sich isoliert verstehen, ohne die Interaktion mit den anderen Gemeinsinnsformen im Blick zu behalten. Den mich interessierenden Teilaspekt des ästhetischen Gemeinsinns könnte man auch den weichen moralischen Gemeinsinn nennen – „weich“ deshalb, da er nicht dem harten oder strengen Moralverständnis Kants entspricht, sondern vielmehr in die Nähe dessen rückt, was Hegel später unter der „Sittlichkeit“ der bürgerlichen Gesellschaft2 oder – eher noch: was Plessner unter „unbestimmter Öffentlichkeit“ verstehen wird. Kant spricht selbst vom „Geschmacke als einer Art von sensus communis“ (Kritik der Urteilskraft § 40). Er legt damit die Einteilung in Gattung und Arten zumindest nahe. 2 Aber eben doch nur in die Nähe! Terminologisch streng genommen umfasst die Sittlichkeit (die Sitten) bei Kant Recht und Moral (vgl. Metaphysik der Sitten), während für Hegel die Sittlichkeit aus Familie, bürgerlicher Gesellschaft und 1
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Dass man von einem Oberbegriff oder einer Gattung „Gemeinsinn“ bei Kant sprechen kann, erklärt sich aus einer allen Arten gemeinsamen Bedeutung: Gemeinsinn ist bei Kant Universalisierungssinn.3 Er kann daher durch die Funktionsweise der (reflektierenden) Urteilskraft näher charakterisiert werden, die für Kant eine Suchbewegung vom Besonderen zum Allgemeinen darstellt. An einer Stelle in der Kritik der Urteilskraft, an welcher Kant, um den ästhetischen Gemeinsinn zu erklären, auf den logischen rekurriert (dies spricht schon für die Gemeinsamkeit), gibt er drei Bestandteile des Gemeinsinns an: 1) Selbst denken, 2) an die Stelle jedes Anderen denken, 3) jederzeit mit sich selbst einstimmig denken.4 Das ist der Dreischritt des Gemeinsinns in allen seinen Arten; er impliziert die Verallgemeinerung des eigenen Standpunktes hin zu einem gemeinsamen Standpunkt. Neben dem Universalisierungssinn ist auch der zweite wichtige strukturelle Bestandteil des Gemeinsinns in eben genanntem Dreischritt ausgesprochen, nämlich das Instrumentalisierungsverbot oder positiv gewendet: die Zweck-an-sich-Formel, die alle Arten des Gemeinsinns mitkonstituiert: Beabsichtigt wird eine Vermittlung von Selbstzweck (1. Ich als Zweck) und Fremdzweck (2. der Andere als Zweck), die nur in der Vorstellung des gemeinsamen Zwecks konsequent zusammengedacht werden können (3.). Thema des Folgenden ist der ästhetische Gemeinsinn zwischen dem moralischen und dem rechtlichen Gemeinsinn, oder: Kants Theorie der ästhetischen Vergemeinschaftung zwischen Recht und Moral.5 Auch ich gehe in drei Schritten vor: 1) Was ist der ästhetische bzw. der weiche moralische Gemeinsinn? 2) Wie ist sein Bezug auf Moral und Recht zu verstehen? 3) Welche Aspekte an dieser Konzeption können gegen die Kritik Staat besteht. Der weiche moralische Gemeinsinn wäre bei Hegel in der bürgerlichen Gesellschaft anzusiedeln, aber hier scheitert eine strenge Gegenüberstellung. 3 Darauf verweist auch Jean-Pierre Wils (Wils 2002: 116), vor ihm Josef Früchtl (Früchtl 1996). 4 Immanuel Kant: Kant’s gesammelte Schriften [im Folgenden: Bd., S.]. Herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff. V, 294. 5 Ich könnte unmissverständlicher und im Hinblick auf Kants Nähe zu Helmuth Plessner (s. u.) von Vergesellschaftung reden (vgl. dazu Plessner 2002). Allerdings würde man so die Bedeutung des Gemeinsinns unterschlagen.
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verteidigt werden und möglicherweise sogar aus heutiger Sicht von Interesse sein?
1. Was ist der ästhetische Gemeinsinn? Ein erstes Hindernis, den Gemeinsinn bei Kant als einen Gattungsbegriff aufzufassen, dem diverse Arten unterstehen, ergibt sich aus der unterschiedlichen Verwendungsweise des Begriffs im § 40 der Kritik der Urteilskraft. Dort unterscheidet Kant zwischen dem (ästhetischen) Geschmack „als einer Art von sensus communis“ und dem gemeinen Menschenverstand, der „auch die kränkende Ehre [hat], mit dem Namen des Gemeinsinns (sensus communis) belegt zu werden“.6 Es handelt sich deshalb um eine „kränkende“ Ehre, da sich das Gemeinsein dieses Sinnes seiner Gemeinheit verdankt, mithin im Deutschen reichlich negativ konnotiert ist. Diese Variante des Gemeinsinns, die Kant auch den logischen Gemeinsinn nennt, beschreibt nicht mehr als den natürlichen Normalzustand des Menschen, dass er intellektuell betrachtet gesund und eben nicht „verrückt“ ist; nicht gemeint ist hingegen, dass der Mensch über einen kultivierten Verstand verfügt. Im Gegensatz dazu scheint der ästhetische Gemeinsinn gänzlich anderer Natur zu sein als der logische. Denn Geschmack zu haben, ist eine positive, normative Charakterisierung, die einem Menschen mit Kultur zugesprochen bzw. von diesem gefordert wird. Doch schon im Folgenden des Paragraphen und auch an anderen Stellen macht Kant deutlich, dass er gelegentlich unter gemeinem Menschenverstand auch den Idealzustand funktionierenden Denkens, mithin den Verstand, „sofern er richtig urteilt“ (IV, 369), versteht. Hebt man diese ideelle, normative Komponente des logischen Gemeinsinns hervor, dann besteht darin auch die Gemeinsamkeit mit dem ästhetischen Gemeinsinn, dem Geschmack, so dass Kant zu der allgemeinen Definition der Gattung „Gemeinsinn“ gelangen kann: Unter dem sensus communis aber muß man die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d. i. eines Beurteilungsvermögens verstehen, welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes anderen in Gedanken (a priori) Rücksicht Zum Gemeinsinn in der Kritik der Urteilskraft vgl. die §§ 20–22, 40.
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nimmt […]. Dies geschieht dadurch, daß man sein Urteil an anderer nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche Urteile hält. (V, 293 f.)
Zentral in dieser Definition ist die Betonung der Idealität und Möglichkeit: Ein sich an der Faktizität der Gemeinschaft orientierender Gemeinsinn ist – ob logisch oder ästhetisch – gemein, wie die zuerst thematisierte Variante, er folgt Moden, Trends, eben den wirklichen Urteilen. Hingegen ist der eigentliche Gemeinsinn ein Postulat, das die Befreiung von Vorurteilen und vom Aberglauben fordert.7 Ausschließlich in diesem Sinne sind die erwähnten „Maximen des gemeinen Menschenverstandes“ aufzufassen, in denen sich nach Kant die Grundidee der Aufklärung ausdrückt, nämlich sich seines eigenen Verstandes zu bedienen (sapere aude), „an der Stelle jedes [!] anderen denken“ und „jederzeit mit sich selbst einstimmig [zu] denken“ (V, 295). Der gemeine Menschenverstand erweist sich in diesem, nämlich aufgeklärten Sinne als ein kultivierter Verstand, der wie auch beim Geschmack daraus entsteht, dass man sein Urteil an dasjenige der ganzen Menschheit hält und nicht bloß mit dem wirklichen Urteil seiner Zeit- und Ortsgenossen vergleicht. Im Folgenden wird genau diesem Verständnis des Gemeinsinns, dem ideellen, postulatorischen, weiter nachgegangen. Neben den beiden genannten Arten, dem logischen und ästhetischen Gemeinsinn, ist man offenkundig ebenso berechtigt, von einem moralischen Gemeinsinn bei Kant zu sprechen. Dieser selbst legt es nahe, wenn er in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten von der „moralischen Erkenntnis der gemeinen Menschenvernunft“ schreibt (IV, 403). Möglicherweise verfolgt Kant dieses Phänomen in der Metaphysik der Sitten unter der Besprechung des moralischen Gefühls oder des Gewissens weiter.8 Kant attestiert offenkundig dem gewöhnlichen Menschen ein Auch Christoph Menke hebt bei Kant die Unterscheidung von idealem und realem Gemeinsinn sowie Kants Bevorzugung des ersteren hervor (Menke 2002: 81 f.). 8 An besagter Stelle (VI, 400) spricht sich Kant gegen die Bezeichnung „moralischer Sinn“ aus, aber nur, weil für ihn kein Gegenstandsbezug vorliegt. Streng genommen wäre dann aber auch der ästhetische Gemeinsinn kein Sinn. Wahrscheinlich handelt es sich hier um eine terminologische Frage, die auf philosophische Vorgänger verweist: moral sense (Shaftesbury, Hutcheson) vs. moral sentiment (Hume). Interessant ist auch die Ankündigung einer Schrift Kants mit dem Titel „Kritik des moralischen Geschmacks“ im Jahre 1765, die auf eine Engführung von ästhetischem Geschmack und Sinn für Moralität – zumindest für den vorkritischen Kant – schließen lässt. 7
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moralisches Gefühl, das zwei Aspekte des kategorischen Imperativs, die scheinbar eine sehr hohe Anforderung an die menschliche Reflexion stellen, auf unmittelbare, d. h. nicht explizit reflektierte Weise zum Ausdruck bringt: Die Universalisierbarkeit von Maximen sowie das Instrumentalisierungsverbot – die Forderung, die anderen Menschen niemals bloß als Mittel, sondern immer auch als Zweck zu behandeln – befolgt der moralische Menschenverstand, ohne vor jeder moralisch relevanten Entscheidung großartige intellektuelle Anstrengungen vollziehen zu müssen. Dabei ist es überflüssig zu betonen, dass es sich wie bei der ideellen Variante des logischen (und des ästhetischen) Gemeinsinns um kein natürliches, ‚angeborenes‘ Gefühl handelt. Vielmehr ist das Gefühl Ergebnis von kulturellzivilisatorischen Prozessen, es entstammt der zweiten Natur des Menschen. Dennoch will ich mich mit dieser moralischen Art des Gemeinsinns nicht länger befassen, mich interessiert viel eher eine weiche Form des Moralischen, die im ästhetischen Gemeinsinn impliziert ist und einen Brückenschlag zwischen Moral und Recht in der Philosophie Kants ermöglicht.9 Dazu muss man kurz auf den ästhetischen Gemeinsinn der Kritik der Urteilskraft eingehen. Bekanntlich ist dieser gleichbedeutend mit dem Geschmack als Beurteilungsvermögen des Schönen in Natur und Kunst. Beurteilungsinstanz ist ein Gefühl, nämlich ein interesseloses Wohlgefallen am Schönen, das „Anspruch auf subjektive Allgemeinheit“ (vgl. V, 237) erhebt. Aus letzterem Aspekt geht die soziale Dimension des Gemeinsinns hervor, die darin besteht, dass das Wohlgefallen am Schönen nicht ein privates Gefühl ist und bleibt, sondern allgemein mit-teilbar ist, d. h. kommuniziert und von anderen geteilt werden kann, mithin ein „gemeinschaftliches Gefühl“ ist. Kant präzisiert seine Ausführungen, indem er das Wohlgefallen am Schönen dem Gefallen an angenehmen Dingen gegenüberstellt.10 In letzterem Falle besteht erstens keine subjektive Allgemeinheit und wird ebenso wenig gefordert: Was mir angenehm und erstrebenswert erscheint, erscheint anderen als nicht angenehm und erstrebenswert. Als Objekte Auch Josef Früchtl (Früchtl 1996) verweist auf den Zusammenhang von ästhetischer und moralisch-praktischer Funktion im Kantischen sensus communis, jedoch bleibt bei ihm der Gegenstand des ästhetischen Urteils gleich (das Schöne in Natur und Kunst), während im Folgenden ein anderer Gegenstandsbereich stark gemacht wird, nämlich das soziale Verhalten. 10 Kritik der Urteilskraft §§ 2 f. 9
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dieses Strebens mögen ebenso konkrete Gegenstände, wie z. B. welches Essen, welche Weine ich bevorzuge, als auch allgemeine Lebensziele wie Reichtum, Ruhm oder Gesundheit dienen. Diese Ziele variieren von Mensch zu Mensch und taugen nicht zu einer Verallgemeinerung. Der entscheidende Unterschied zwischen dem Angenehmen und dem Schönen besteht indes, zweitens, in der Interesselosigkeit, die das Schöne begleitet. Die Lust am Angenehmen treibt den Menschen dazu, den Gegenstand der Lust in den Besitz (zum Genuss) zu bringen – man will ihn haben. Damit ist die Lust gerade exklusiv, sie schließt andere Menschen aus, da sie auf einem Eigeninteresse basiert. Das Wohlgefallen am Schönen ist hingegen teilbar und wird durch die Teilbarkeit sogar noch verstärkt.11 Nach Kant gefällt das Schöne nur in der Gesellschaft […]. Für sich allein würde ein verlassener Mensch auf einer wüsten Insel weder seine Hütte, noch sich selbst ausputzen […], sondern nur in Gesellschaft kommt es ihm ein, nicht bloß Mensch, sondern auch nach seiner Art ein feiner Mensch zu sein (der Anfang der Zivilisierung). (V, 297)
Dies ist ein zentraler Grund, weshalb Kant dem ästhetischen Gemeinsinn im berühmten § 59 der Kritik der Urteilskraft die Nähe zur Moral nachweist, indem er das Schöne als „Symbol der Sittlichkeit“ (V, 351) bezeichnet: In der Verfeinerung des Geschmacks liegt eine Tendenz zur Überwindung der Position der Eigeninteressen, die niedere Begierden verfolgen und damit Freiheit und Selbstbestimmung verhindern. Dennoch ist diese Überwindung – man könnte sagen – kontemplativer Art, denn der Wille ist in der Betrachtung des Schönen gerade suspendiert: Die Freiheit besteht mehr im freien Spiel der Einbildungskraft und nicht in der Freiheit des Willens – wie im Moralischen. Grund für diese theoretische Natur des ästhetischen Gemeinsinns ist, dass in der Kritik der Urteilskraft der ästhetische Gemeinsinn als Umgang mit schönen Gegenständen (d. h. natürlichen oder künstlichen Dingen) im Mittelpunkt steht und nicht der genuine ‚Gegenstand‘ der praktischen Philosophie, nämlich die (willentlichen) Handlungen. Es lässt sich jedoch zeigen, dass auch diese praktische Bedeutung des ästhetischen Gemein Ein schönes Beispiel liefert der Unterschied von Kunstliebhaber und Kunstsammler: Der erstere genießt das Betrachten der Kunstwerke, der zweite ihren exklusiven Besitz.
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sinns bei Kant Beachtung findet. Schematisch formuliert, gibt es bei Kant eher theoretische Formen des Gemeinsinns, wie den logischen und Teile des ästhetischen; aber daneben auch praktische Formen, wie den moralischen, den rechtlichen und einen Teil des ästhetischen.12 Im Zentrum dieser Formen steht wie in Kants gesamter praktischer Philosophie der Willensbegriff: (Praktischer) Gemeinsinn bei Kant ist eigentlich Gemeinwille, volonté générale. Bei Kant findet dadurch eine Bedeutungsverschiebung im Begriff des Gemeinsinns statt im Vergleich etwa zur Auffassung von Shaftesbury: Wurde er häufig im historischen Vorfeld von Kant als eine im weitesten Sinne statische (quasi-)natürliche Gabe angesehen, wird er bei Kant – wie wir zum Teil bereits gesehen haben – zu einer prozessualen, zur konstituierenden Idee, die den gemeinsamen Willen aller Menschen zum Ausdruck bringen soll, zu einem consensus communis.13 Die Gefühlsnatur dieses Gemeinsinns ist mithin hochgradig durch kulturell-zivilisatorische, politische und soziale, kurz: historische Prozesse vermittelt. Ein weiterer positiver Aspekt, den Kants Konzeption gegenüber Rousseau aufweist – was im 2. Kapitel noch zu zeigen sein wird –, liegt in der Differenzierung des Gemeinwillens in unterschiedliche Arten, nämlich in die Bereiche des Rechts, der Moral und des Sozialen (der weichen Moral). Diese weiche Moral kommt – wie bereits erwähnt – als eine Sonderform des ästhetischen Gemeinsinns vor, insofern er sich nicht auf schöne Gegenstände, sondern auf ‚schöne‘ Handlungen bezieht. Im § 14 der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht behandelt Kant diesen Aspekt unter dem Titel „Von dem erlaubten moralischen Schein“, den er wie folgt beschreibt: Die Menschen sind insgesamt, je zivilisierter, desto mehr Schauspieler: sie nehmen den Schein der Zuneigung, der Achtung vor anderen, der Sittsamkeit, der Uneigennützigkeit an, ohne irgend jemand dadurch zu betrügen; weil ein jeder andere, daß es hiermit eben nicht herzlich gemeint sei, dabei einverständigt ist, und es ist auch sehr gut, daß es so in der Welt zugeht. Denn dadurch, daß Menschen diese Rolle spielen, werden zuletzt die Tugenden, deren Schein Dennoch sind alle diese Formen, theoretische wie praktische, normativer Art und weisen den Weg der Aufklärung, Kultivierung und Zivilisierung des Menschen. 13 Eine interessante Weiterentwicklung stellt in dieser Perspektive John Rawls’ Idee eines overlapping consensus dar (Rawls 1987). Jean-Pierre Wils deutet Rawls’ Theorie des Gerechtigkeitssinn sogar als eine „moraltheoretische Spezifikation des Gemeinsinns“, mithin als eine Spielart der übergreifenden Gattung (Wils 2002: 123). 12
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sie eine geraume Zeit hindurch nur gekünstelt haben, nach und nach wohl wirklich erweckt, und gehen in die Gesinnung über. (VII, 151)
Damit beschreibt Kant eine Eigenart gesellschaftlicher Umgangsformen oder Verhaltensweisen, an denen sich ein ästhetischer Gemeinsinn ausbildet, der – so die im Folgenden zu erläuternde These – ein wesentlicher Bestandteil des demokratischen Lebens neben oder besser: ‚zwischen‘ den rechtlichen und moralischen Umgangsformen ist. Doch welche Umgangsformen, welcher Geschmack ist damit gemeint? Kant gibt die Beispiele Höflichkeit, Anstand (Wohlanständigkeit), Verbeugungen (Komplimente), höfische Galanterie. Wichtig ist erst einmal festzuhalten, dass es sich um kein moralisches Verhalten im strengen Sinne handelt; auch Kants These, dass dieses Verhalten einen Übergang zu moralischem Verhalten ermögliche, ist zunächst auszublenden. Das besagte Verhalten erzeugt einen moralischen Schein, der nach Kant nicht betrügt, sondern nur täuscht. Der Unterschied zwischen Täuschung und Betrug besteht darin, dass selbst unter der Voraussetzung des allseitigen Wissens, dass es sich bei dem Verhalten nicht um ein moralisches handelt, der Bezug auf moralische Tugenden weiterhin existiert: „Täuschung“ oder „Illusion ist dasjenige Blendwerk, welches bleibt, ob man gleich weiß, daß der vermeinte Gegenstand [d. h. hier: die moralischen Tugenden] nicht wirklich ist“ (VII, 149). Beim Betrug hingegen führt eine Entlarvung zur Aufhebung des Scheins; man wird fortan nicht mehr darauf hereinfallen. Grund für dieses unterschiedliche Verhalten ist auch, dass im Falle des schönen Scheins der knallharte Ernst suspendiert ist und man sich folglich einem Spiel der Illusionen hingeben kann und will. Der Schein bezeichnet ein äußeres Verhalten, bei welchem die Frage nach der Gesinnung (der Moral) nicht im Mittelpunkt steht. Und dies betrifft – das ist wichtig – sowohl die Beurteilerperspektive von außen (dem Adressaten des Verhaltens und den anderen) als auch von innen (dem Handelnden): Bei diesen Handlungsweisen fragt man sich nicht kritisch – wie bei der Moral –, ob es nicht letztlich doch dem Eigeninteresse dient, vielmehr besitzen sie für sich eine Zweckmäßigkeit (ohne Zweck): Keiner, der höflich behandelt wird, kann und wird sich beschweren, dass nicht wirklich auch moralisch gute Absichten hinter der Behandlung stecken.14 Wünscht mir die Kassiererin bei Aldi einen schönen Tag, werde ich nicht zu überprüfen versuchen, ob dieser Wunsch ernsthaft gemeint ist. Andererseits ist die
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In dem Verhalten geht es nicht um moralische Werte oder Tugenden (Zwecke), sondern um das Spiel an sich, die Äußerlichkeit der Handlungen, ihre Stilisierung und Formung nach gesellschaftlichen Konventionen. Dadurch wird eine Sphäre etabliert, worin gerade ein ästhetischer Gemeinsinn entsteht, insofern weder Eigen- noch moralisches Interesse die Alternative sind: Der Geschmack basiert auf interesselosem Wohlgefallen. Die Nähe zur theoretischen Form des ästhetischen Gemeinsinns, dem Wohlgefallen an schönen Dingen, wird am deutlichsten, wenn Kant die lateinische Wortbedeutung von Wohlanständigkeit als eine ästhetische Kategorie darstellt, nämlich decorum: „Überhaupt ist alles, was man Wohlanständigkeit (decorum) nennt, von derselben Art, nämlich nichts als schöner Schein.“ (VII, 152)15 Wohlanständigkeit (decorum) ist eine Zierde, ein Schmuck (decor) des Menschen. Dennoch liegt in diesem Verhalten eine moralische Relevanz insofern vor, als nach Kant eine Überlistung der Sinnlichkeit und der von Eigeninteresse dominierten Neigungen stattfindet. Das Verhalten und der damit sich entwickelnde Geschmack an diesem Verhalten bedeuten eine Verallgemeinerung des Menschen, weg von seiner partikulären Eigenliebe zu einem Gemeinschaftsgefühl. Wichtig ist nun, dass dies nach Kant gerade nicht durch Nähe, sondern durch Abstand zwischen den Menschen geschieht: Die betreffenden Umgangsformen führen eine Distanz zwischen den Menschen ein, die dafür Sorge trägt, dass keine gegenseitige Instrumentalisierung im Sinne des Besitzenwollens des Anderen stattfindet – wie Kant an der zwischengeschlechtlichen Sittsamkeit deutlich macht: Aber Sittsamkeit (pudicitia), ein Selbstzwang, der die Leidenschaft versteckt, ist doch als Illusion sehr heilsam, um zwischen einem und dem anderen Geschlecht den Abstand zu bewirken, der nötig ist, um nicht das eine zum bloßen Werkzeuge des Genusses des anderen abzuwürdigen. (Ebd.)
falsche Vorspiegelung moralischer Absichten, d. h. vorzugeben, man handle wirklich in moralischer Gesinnung, Betrug; die Entlarvung diskreditiert das gesamte Verhalten. 15 Gewissermaßen ist in diesem Verhalten zugunsten einer Virtualisierung die knallharte Realität suspendiert. Drastischer hat dies – wie immer – Schopenhauer ausgesprochen: „Höflichkeit ist wie ein Luftkissen, es mag wohl nichts darin sein, aber sie mildert die Stöße des Lebens.“
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Wir begegnen hier also sowohl der Universalisierungstendenz als auch dem Instrumentalisierungsverbot, die ja zu Beginn als Grundstrukturen des Gemeinsinns bei Kant vermutet wurden.
2. Ästhetischer Gemeinsinn zwischen Recht und Moral Das beschriebene Verhalten ist Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft – um es in Hegels Kategoriensystem zu verorten. Seine Eigenart ist jedoch gerade nicht in Formen des ökonomischen Eigeninteresses zu charakterisieren, das lediglich durch eine „invisible hand“ oder „List der Vernunft“ eine (nicht bewusst intendierte, d. h. nicht gewollte) Allgemeinheit und Vernünftigkeit mit sich führt. Vielmehr bewirkt dieses Verhalten einen Übergang des Willens selbst von bloß partikular-sinnlichen zu allgemeinvernünftigen Beweggründen. Deshalb ermöglicht das Ästhetische auch noch im sozialen Verhalten einen Übergang zum (streng) Moralischen. In gewissem Maße ähnelt der erweiterte Bereich des ästhetischen Gemeinsinns dem Plessnerschen „Reich der Alltäglichkeit“: es ist die Gesellschaft im Sinne der Einheit des Verkehrs unbestimmt vieler einander unbekannter und durch Mangel an Gelegenheit, Zeit und gegenseitigem Interesse höchstens zur Bekanntschaft gelangender Menschen. Und wir kennen auch diesen tänzerischen Geist, dieses Ethos der Grazie: das gesellschaftliche Benehmen, die Beherrschung nicht nur der geschriebenen und gesatzten Konventionen, die virtuose Handhabung der Spielformen, mit denen sich die Menschen nahe kommen, ohne sich zu treffen, mit denen sie sich voneinander entfernen, ohne sich durch Gleichgültigkeit zu verletzen. Die Liebenswürdigkeit ist ihre Atmosphäre, nicht die Eindringlichkeit; das Spiel und die Beobachtung seiner Regeln, nicht der Ernst ist ihr Sittengesetz. Die erzwungene Ferne von Mensch zu Mensch wird zur Distanz geadelt, die beleidigende Indifferenz, Kälte und Roheit des Aneinandervorbeilebens durch die Formen der Höflichkeit, Ehrerbietung und Aufmerksamkeit unwirksam gemacht und einer zu großen Nähe durch Reserviertheit entgegengewirkt. (Plessner 2002: 80)16
Diese zeremoniell geprägte, „unbestimmte“ (weder politische noch ökonomische) Öffentlichkeit dient bei Plessner als Schutzschild der Individualität, d. h. als Bereich allgemeiner Formalitäten, hinter denen der Mensch Zur Kritik an Plessners ‚Sozialethik der Distanz‘ vgl. Schneidereit 2010: 159 ff.
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seine Individualität zu verbergen, zu bewahren, aber auch auszuleben vermag. Es ist der Bereich, in dem Diplomatie und Takt zählen. „Die Weisheit des Takts: Schonung des anderen um meiner selbst willen, Schonung meiner selbst um des anderen willen“ (Plessner 2002: 109), erinnert nicht nur an den geforderten Perspektivenwechsel des Gemeinsinns bei Kant; auch Kant selbst nennt den logischen Gemeinsinn an einer Stelle der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht „logischen Takt“ (VII, 140),17 so dass man womöglich auch von sittlichem Takt bei Kant sprechen kann. Der Takt wahrt mithin die Distanz unter den Menschen; nichtsdestotrotz ermöglicht diese Öffentlichkeitssphäre auch, dass „sich die Menschen nahe kommen“ (Plessner 2002: 80). Bei allen Unterschieden zwischen Plessner und Kant, auf die hier nicht eingegangen werden kann, zeichnet sich bei beiden dieser Bereich durch seine dialektische Vermittlung von Nähe und Distanz aus, worin sich die Moralaffinität des schönen Scheins vielleicht am besten ausdrücken lässt: Einerseits wird auf moralische Werte angespielt und damit eine moralische Gemeinschaft der Menschen suggeriert; andererseits ist diese Anspielung nur eine solche und kein Ernst: Es kommt keine kategorische Forderung an den Anderen auf, ausschließlich in moralischer Gesinnung zu agieren; somit wird dem Anderen eine Privatsphäre als Freiraum zur Selbstbestimmung gelassen. Zudem herrscht in diesem Bereich kein Zwang und keine Zucht vor und nur so ist der freie Übergang von einer Position der Eigeninteressen zum moralischen Allgemeininteresse letztlich denkbar und realisierbar, ohne dass durch deren Realisierung die Sphäre des ästhetischen Scheins überflüssig würde; vielmehr bleibt sie immer notwendig bestehen. Es wird nicht nach Gesinnungen oder die Alternative von Eigeninteresse und Allgemeininteresse gefragt und gerade dadurch eine Gemeinschaft, ein Gemeinsinn gestiftet. Die soziale Praxis der (nahen) Distanz gegenüber der Privatsphäre des Anderen wirkt stützend für die Rechtsverhältnisse, die strukturell analog gestaltet sind, nur dass sie unterschiedliche Umgangsformen unter den Menschen betreffen. Beide Bereiche atmen den gleichen, „republikanischen“ Geist. Auch der Rechtsraum entspringt einer Abstraktion von den Gesinnungen, wie es die häufig zitierte Formel des Volks von Teufeln nahe-
Zum Takt bei Kant vgl. Wils 2001: 139.
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legt.18 Politische Philosophie ist bei Kant deshalb ausschließlich Rechtsphilosophie, weil sie sich der liberalen Auffassung anschließt, dass der Staat (und die anderen Bürger) nicht in die moralische Selbstbestimmung der Bürger eingreifen darf. Mithin muss auch das Recht für sich selbst stehen und darf nicht für moralische Zwecke instrumentalisiert werden: Die rechtliche Sphäre stellt einen eigenständigen Bereich für sich (einen Zweck an sich) dar. Wenn man also auch von einem rechtlichen Gemeinsinn bei Kant reden darf, dann deshalb, weil einerseits eine Verallgemeinerung des durch Eigeninteressen und reiner Willkür bestimmten Verhaltens hin zu einem allgemeinen rechtlichen Verhalten stattfindet; andererseits ein Instrumentalisierungsverbot für das rechtliche Verhältnis der Menschen gegeneinander oder durch den Souverän besteht. Die Formulierung des obersten Rechtsgesetzes lautet nicht zufällig wie eine Abart des kategorischen Imperativs.19 Die Verpflichtung der Bürger zu diesem Rechtsgesetz ist ihrem Geiste nach ein consensus communis: die willentliche Einigung derselben, auf rechtlichem Wege den Standpunkt ihrer Eigeninteressen (und Willkür) zu überwinden und nicht den Anderen oder sich selbst, oder auch das rechtliche Verhältnis als solches zu instrumentalisieren. Obwohl es auch im Recht eine Hinordnung auf die Moral gibt,20 ist diese bei den ästhetischen Verhaltensformen noch offensichtlicher. Das Nicht zuletzt deutet die zitierte Schauspielermetapher Kants, die mehr noch bei Plessner eine zentrale Funktion innerhalb seiner Sozialphilosophie einnimmt, auf die Rolle, die im antiken Theater die Maske, lat. persona, repräsentiert. 19 „Denn wenn es sich nur nicht widerspricht, daß ein ganzes Volk zu einem solchen Gesetze zusammen stimme […]: so ist es dem Rechte gemäß.“ (VIII, 299) Besser und lakonischer lautet der rechtliche Imperativ bei Hegel: „sei eine Person und respektiere die anderen als Personen.“ (§ 36 Grundlinien der Philosophie des Rechts) Darin drückt sich der für den Gemeinsinn notwendige Perspektivenwechsel aus. 20 Diese Hinordnung beschreibt Gustav Radbruch treffend: „Das Recht dient der Moral nicht durch die Rechtspflichten, die es auferlegt, sondern durch die Rechte, die es gewährt. Es ist nicht mit seiner Pflichtseite, sondern mit seiner Rechtseite der Moral zugekehrt. Es gewährt den Einzelnen Rechte, damit sie ihren moralischen Pflichten um so besser genügen können. […] (Der) Trieb und das Interesse, durch die Norm sonst immer gefesselt, wird hier umgekehrt durch die Norm entbunden. Mein Recht ist im Grunde das Recht, meine moralische Pflicht zu tun – und deshalb ist es umgekehrt meine Pflicht, mein Recht zu wahren. In seinem Rechte kämpft man für seine Pflicht, für seine moralische Persönlichkeit.“ (Radbruch 2003: 48) 18
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Rechtssystem zwängt den Einzelnen zwar auf, sich an allgemeine Regeln zu halten und ihr Verhalten danach auszurichten. Die Beschränkung der eigenen Willkür durch ein allgemeines Rechtsgesetz21 bedeutet jedoch nicht notwendig, dass die Position des Eigeninteresses verlassen wird oder verlassen werden muss: Im rechtsgemäßen Verhalten sind keine moralischen, nicht einmal moralaffine Tugenden gefordert; das Recht dient schlichtweg der Kanalisierung und Koordinierung der Eigeninteressen in ihrer äußerlichen Erscheinungsweise, nämlich den Handlungen: Bei einem Volk von Teufeln funktionierte das Recht, der moralische Schein wäre aber Betrug.22 Die ästhetischen Verhaltensweisen spielen auf moralische Werte oder Tugenden an und führen dazu, dass durch häufige Pflege derselben die moralischen Tugenden selbst in den Gesinnungen der Menschen Einzug finden. Wollte man diesen Bereich nach Kant weiter bestimmen – wozu freilich die expliziten Textgrundlagen fehlen –, dann könnte man ihn als Reich der Maximenkultur charakterisieren. Die Maximen, subjektive Regeln der Willkür, dienen bekanntlich als Grundlage der Verallgemeinerungsprüfung im Kontext des kategorischen Imperativs. Rüdiger Bubner hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Maximenkultur eine unthematisierte Voraussetzung in Kants Ethik darstellt. Nach Maximen zu handeln, bedeutet, dass der Menschen von einer nach schwankenden und wechselnden Neigungen ausgerichteten Willkür zu allgemeinen Vorstellungen übergeht, die zwar noch nicht streng moralisch zu nennen sind, aber doch in (möglicher) Beziehung dazu stehen (vgl. Bubner 1998). An einer der seltenen Stellen beschreibt Kant deutlich die Übergangsfunktion der Maximen zur Moral, die letztlich im Universalisierungstest des kategorischen Imperativs nur explizit gemacht wird: Die moralische Kultur muß sich gründen auf Maximen, nicht auf Disziplin. Diese verhindert die Unarten, jene bildet die Denkungskraft. Man muß dahin So das „allgemeine Rechtsgesetz“ nach der Metaphysik der Sitten: „handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne“ (VI, 231). 22 Auch wenn die moralischen Tugenden beim schönen Schein nicht vorliegen (müssen), darf derselbe ebenso wenig im Dienste der Eigeninteressen stehen, mithin instrumentalisiert werden. In diesem Falle ist der Schein Betrug und der galante Mensch ein Hochstapler, wie er literarisch in Thomas Manns Felix Krull oder auch in Guy de Maupassants Bel Ami verewigt wurde. 21
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sehen, daß das Kind sich gewöhne, nach Maximen, und nicht nach gewissen Triebfedern zu handeln. […] Nach Maximen soll das Kind handeln lernen, deren Billigkeit es selbst einsieht. (IX, 480)
Dass die Maximen nicht selbst im strengen Sinne moralisch sind, sondern höchstens moralaffin (nicht alle), belegt Bubner mit dem Verweis auf den Gebrauch des Maximenbegriffs in der Französischen Moralistik des 17. und 18. Jahrhunderts (La Rochefoucauld, Vauvenargues, Chamfort u. a.). Dort treten Maximen als allgemeine Lebensweisheiten auf, in denen sich Verhaltensregeln für einen „wohlanständigen“ Umgang, vor allem in höflich-höfischer Hinsicht, ausdrücken. Trotz dieser aristokratischen Herkunft weiß Kant die Maximen im Sinne der Aufklärung zu übernehmen, gründen sie doch das Verhalten auf Selbsteinsicht – Bildung der Denkungskraft – und richten sich gegen eine autoritäre Erziehung – Disziplin als ‚Verhinderung der Unarten‘. Es sind vielleicht gerade die moralaffinen Maximen, die im ästhetischen Gemeinsinn adaptiert und weitergegeben werden, die es dann auch ermöglichen, durch Verallgemeinerung und ihrer Befolgung um des moralischen Gesetzes willen zu moralischen Gesinnungen überzuleiten. Dennoch bleibt zu betonen, dass sie selbst keineswegs moralisch sind: Die Maximen beschreiben den Bereich der „menschlichen Tugend im Verkehr“, wozu Kant bemerkt: Alle menschliche Tugend im Verkehr ist Scheidemünze; ein Kind ist der, welcher sie für echtes Gold nimmt. – Es ist doch aber besser, Scheidemünze, als gar kein solches Mittel im Umlauf zu haben, und endlich kann es doch, wenn gleich mit ansehnlichem Verlust, in bares Gold umgesetzt werden. (VII, 152 f.)
3. Schluss Folgende Ergebnisse lassen sich am Ende festhalten: – Der ästhetische Gemeinsinn bei Kant hat eine praktische Bedeutung, er ist Vermittler zwischen Recht und Moral. – Man kann auch von anderen Formen des Gemeinsinns qua Gemeinwillens bei Kant ausgehen, etwa vom moralischen und rechtlichen: Diese alle sind
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Christoph Binkelmann Teil der differenzierten Struktur einer demokratischen Gesellschaft.23 Sie befinden sich in einem interdependenten Verhältnis und können nur in der wissenschaftlichen Analyse voneinander isoliert werden.
– Wesentliche Struktur des Gemeinsinns ist die Verallgemeinerungstendenz, die Transzendierung des Eigeninteresses, und das Instrumentalisierungsverbot, die beide ein prozessuales, dynamisches Verständnis des Gemeinsinns nahelegen. – Der Gemeinsinn ist reflektiert, oder deutlicher: er ist Selbstreflexion.
In diesem letzten Punkt kann man die vorherigen Punkte abstrakt betrachtet zusammenfassen und gegen Arendts Kritik – Selbstreflexion bedeute einen Verlust des Gemeinsinns (Arendt 1999: 272 ff.) – wenden. Gemeinsinn ist reflektiert, d. h. differenziert auf zweifache Weise; erstens in unterschiedliche Arten (ästhetisch, moralisch, rechtlich etc.), dann aber auch in jeder Art in sich: Reflexion ist integraler Bestandteil jeder Art von Gemeinsinn, wie schon Christoph Menke betonte.24 Zwar spricht Kant von einem Gefühl beim ästhetischen Gemeinsinn wie bei seiner moralischen Spielart, aber dieses Gefühl ist offensichtlich kulturell und durch (Selbst-)Reflexion vermittelt. Deutlich wird dies am Verallgemeinerungs-Dreischritt des Gemeinsinns, aber auch an seiner Charakterisierung im Ästhetischen (als Spiel der Einbildungskraft mit dem Verstand). Der Reflexion gebührt in der Bestimmung Kants dabei wohl nicht nur die Funktion einer Revisionsinstanz angesichts bestehender Werte, Tugenden oder Verhaltensweisen, vielmehr besitzt sie eine konstitutive Rolle in deren Generierung: Es ist sicherlich nicht übertrieben zu behaupten, dass der höchste Wert, die höchste Gemeinsamkeit des Gemeinsinns gerade die Reflexionskultur, das gemeinsame Ziel der Aufklärung, ist.25 Neben dieser Betonung des Selbstdenkens als zentralen Bestandteils des Gemeinsinns scheint mir aus heutiger Perspektive die erwähnte Reflektiertheit des Gemeinsinns in unterschiedlichen Bereichen (Recht, Moral, Von hohem Interesse ist in dieser Hinsicht die Kant-Deutung Reinhard Brandts, dass letztlich die gesamte Philosophie Kants (also auch theoretische Schriften wie die Kritik der reinen Vernunft) in republikanischer Hinsicht gedeutet werden muss (Brandt 2007). 24 Menke spricht hinsichtlich der Funktion der Reflexion für den Gemeinsinn von einem „reflexiven Revisionismus“ (Menke 2002: 82). 25 Dies könnte gegen Menke stark gemacht werden, der der Reflexion diesen konstitutiven Status abspricht (ebd.). 23
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Ästhetik) von zentraler Bedeutung zu sein. Nach Kants Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse und Verhaltensweisen dürfen die Grenzen dieser Bereiche einerseits nicht verwischt werden – wie es in Rousseaus volonté générale geschieht, die dadurch freiheitsgefährdende Ausmaße annimmt: Gemeinsinn darf nicht nur in einer einseitigen Hinsicht verstanden und kultiviert werden. Andererseits dürfen die unterschiedlichen Bereiche des Gemeinsinns auch nicht als voneinander getrennte Systeme – etwa im Sinne Luhmanns – angesehen werden, da diese Sichtweise gerade ihre Interdependenz und gegenseitige Unterstützung und Förderung – oder kurz: ihr gemeinsames Ziel – untergraben würde: nämlich den Menschen zum Selbstdenken und zur Selbstbestimmung zu führen. Die Kultivierung des Gemeinsinns ist eine komplexe Aufgabe. Zuletzt drängt sich noch eine Kritik auf, die Kants Aufklärungsoptimismus betrifft. Zwar hat sich Kant nicht eindeutig über einen moralischen Fortschritt geäußert,26 aber einen rechtlichen und zivilisatorisch-kulturellen, d. i. einen Fortschritt des rechtlichen und ästhetischen Gemeinsinns nimmt er an. Dagegen wäre aus heutiger Perspektive noch mehr die Prozessualität und Fragilität der Gemeinsinnskonstituierung und -sicherung zu betonen. Dies entspricht eher dem antiteleologischen Geist der heutigen Zeit und nimmt Demokratie als unabgeschlossen, unabschließbaren Prozess ernst. Vielleicht hat Kant die Scheidemünze dann doch zu sehr für echtes Gold angesehen.
Literatur Arendt, Hannah (111999), Vita activa oder Vom tätigen Leben, München. Arendt, Hannah (2012), Das Urteilen. (Hg.) Beiner, Ronald, München/Zürich. Binkelmann, Christoph (2009), „Die Hand in der Geschichte zwischen Kant und Fichte“, in: Kant und Fichte. Fichte und Kant (= Fichte-Studien 33). (Hg.) Asmuth, Christoph. Amsterdam, 31–47. Brandt, Reinhard (2007), Die Bestimmung des Menschen bei Kant, Hamburg. Bubner, Rüdiger (1998), „Noch einmal Maximen“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 46.4, 551–561. Früchtl, Josef (1996), Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil, Frankfurt/M. Gadamer, Hans-Georg (61990), Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen. Vgl. dazu Binkelmann 2009.
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Christoph Binkelmann
Menke, Christoph (2002), „Gleichheit, Reflexion, Gemeinsinn“, in: Gemeinwohl und Gemeinsinn. Bd. 4: Zwischen Normativität und Faktizität. (Hg.) Bluhm, Harald / Münkler, Herfried, Berlin, 71–84. Plessner, Helmuth (2002), Grenzen der Gemeinschaft, Frankfurt/M. Radbruch, Gustav (2003), Rechtsphilosophie. Heidelberg. Rawls, John (1987), „The Idea of an Overlapping Consensus“, in: Oxford Journal of Legal Studies, Bd. 7/1, 1–25. Schneidereit, Nele (2010), Die Dialektik von Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe einer kritischen Sozialphilosophie, Berlin. Wils, Jean-Pierre (2001), Handlungen und Bedeutungen. Reflexionen über eine hermeneutische Ethik, Freiburg i. B. Wils, Jean-Pierre (2002), „Zur Produktion von Gemeinsinn. Ihre diffizilen Bedingungen und ihre problematischen Wirkungen“, in: Gemeinwohl und Gemeinsinn. Bd. 4: Zwischen Normativität und Faktizität. (Hg.) Bluhm, Harald / Münkler, Herfried, Berlin, 113–129.
Das Volk als Transzendenz? Die ‚Erfindung‘ des Volkes in Kants rechts- und geschichtsphilosophischen Schriften Oliviero Angeli
1. Einleitung Die Idee der Nation als ‚imaginierte‘ oder ‚erfundene‘ Gemeinschaft gilt als Kennzeichen der Nationalismusforschung spätestens seit den 80er Jahren. Sie steht in Verbindung mit Namen wie Benedict Anderson (Anderson 1998), Ernest Gellner (Gellner 1991) und Eric Hobsbawm (Hobsbawm 1991). Kant gehört weder zu den Urhebern noch zu den Vordenkern dieser Idee. Trotz seiner Fokussierung auf die Analyse der Geltungs- und Erkenntnisbedingungen des politischen und rechtlichen Denkens hat sich Kant allenfalls beiläufig mit den Mechanismen der Entstehung von Völkern und Nationen auseinandergesetzt. Zwar sind Völker und Nationen immer wieder Gegenstand seiner rechts- und geschichtsphilosophischen Schriften (vgl. Angeli 2004), aber diese Schriften lassen jenes Bewusstsein für die Künstlichkeit politischer und sozialer Gemeinschaften vermissen, das dem konstruktivistischen Ansatz der modernen Nationalismusforschung zugrunde liegt. Dabei geht es, vereinfacht gesagt, um die Wahrnehmung der sozialen und politischen Ordnungen als Ergebnis eines intersubjektiven Konstruktionsprozesses, der durch neue Kommunikationsmittel begünstigt wurde (vgl. Anderson 1998). Im Gegensatz zur modernen Nationalismusforschung erteilt Kant keine Absage an eine Naturwüchsigkeit der Nation bzw. des Volkes, sondern beruft sich vielerorts (vor allem in den geschichtsphilosophischen Schriften) auf die ‚unsichtbare Hand‘ der Vorsehung, die Völker „von der Vermischung“ abhält (VIII, 367). Doch auch in Kants rechtsphilosophischer Bestimmung des Volkes haben sich metaphysische Restbestände eingenistet, die vor allem die Gestalt ‚platonischer Ideale‘ annehmen. Gemeint ist allen voran die normativ gehalt-
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volle Konzeption des Volkes als respublica noumenon, die stellenweise an Rousseaus Idee der volonté générale erinnert. Kants Bestimmung des Volkes fußt also auf mindestens zwei transzendenten Ressourcen politischer Legitimation – die Idee der Vorsehung und die Idee der respublica noumenon. Ob Kant mit dieser Bestimmung des Volksbegriffes hinter den Anspruch seiner kritischen Philosophie zurückfällt, möchte ich im Folgenden offen lassen. Stattdessen werde ich den Versuch unternehmen, Kant etwas näher an die moderne Nationalismusforschung heranzurücken und ihn zugleich etwas vom Metaphysikverdacht zu entlasten. In seinen Publikationen und nachgelassenen Schriften finden sich vielfältige Hinweise auf eine dritte Bestimmung des Volkes als Ergebnis räumlicher und zeitlicher Einbildungskraft. Das Volk wird so zu einer intelligiblen Gemeinschaft. Der vorliegende Beitrag ist wie folgt gegliedert. Abschnitt 2 untersucht die Rolle von Kants Volksbegriff als Platzhalter für transzendente Modi politischer Sozialisation. Da ist einerseits die geschichtsphilosophische Rolle der Vorsehung, die Völker „von der Vermischung abhält“ (VIII, 367), und andererseits die respublica noumenon, die jedem Volk als Vorbild und „platonisches Ideal“ vorgespielt wird. Ausgehend von der Untersuchung dieser beiden Volksbegriffe und von der Erörterung des Begriffes des ‚intelligiblen Besitzes‘ (Abschnitt 3), möchte ich im Abschnitt 4 eine dritte Interpretation skizzieren, die sich der kantischen Rechtslehre entlehnt und dem modernen Verständnis der Nation als ‚imaginierte Gemeinschaft‘ sehr nahe kommt.
2. Zwei transzendente Modi politischer Sozialisation Vereinfacht gesagt, besteht die rechtsphilosophische Definition des „Volkes“ aus der Spezifizierung der anthropologischen Elemente, die dem Rechtsbegriff vorgelagert sind.1 Die Definition ist deshalb recht schlicht: Ein „Volk“ ist „eine Menge von Menschen“, die „im wechselseitigen 1
Zu den anthropologischen Voraussetzungen des Rechtsbegriffs gehört z. B. der Umstand, dass Menschen verletzlich sind, dass sie einen gewissen (widersprüchlichen) Hang zur Vergesellschaftung (Stichwort: ‚ungesellige Geselligkeit‘) verspüren, dass es Gegenstände gibt, die man zum eigenen Besitz erwerben will usw.
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Einflusse gegen einander“ stehen und sich aufgrund dieses freiheiteinschränkenden Einflusses genötigt sehen, in einen rechtlichen Zustand einzutreten, der jedem den größtmöglichen Anteil an Freiheit sichert (vgl. VI, 311). Der kantische Begriff des Volkes kann von dem des Staates folgendermaßen abgesetzt werden: Ersterer bezeichnet eine Menge von Menschen, die unter Rechtsgesetzen stehen wollen, während letzterer eine Menge von Menschen bezeichnet, die faktisch unter Rechtsgesetzen stehen. Wenn ein Volk sich in faktischer Untertänigkeit vor Rechtsgesetzen befindet, die seinem vereinigenden Willen entsprechen, so spricht Kant nicht selten von einer „Republik“.2 Damit ist noch nicht alles gesagt. Kants Definition sagt zwar etwas über die Entstehungsbedingungen eines Volkes aus, gibt aber keine Auskunft darüber, wie sich Völker voneinander unterscheiden lassen. Schließlich gibt es nicht nur ein Volk, sondern mehrere Völker. Worauf also gründet die Partikularität bzw. Pluralität der Völker? Kehren wir zur oben erwähnten Definition zurück: Wenn das Volk für Kant „eine Menge von Menschen“ ist, die „im wechselseitigen Einflusse gegen einander“ stehen und sich deshalb genötigt sehen, in einen rechtlichen Zustand einzutreten, der jedem den größtmöglichen Anteil an Freiheit sichert (vgl. VI, 311), dann ist es durchaus naheliegend von einem Weltvolk zu reden. Das gebietet schon der Umstand, dass Menschen, wie Kant schreibt, sich „nicht ins Unendliche zerstreuen […], sondern endlich sich doch nebeneinander dulden müssen“ (VIII, 358). Mit anderen Worten, die Endlichkeit der Erdoberfläche und die strukturelle Konfliktanfälligkeit ihrer Beziehungen zwingen die Menschen dazu, in einen Rechtszustand zu treten, der jedem sein Recht sichert. Dieser globale Rechtszustand ist mit dem eines Volkes identisch, es sei denn, Kant intendiert mit dem Begriff „Volk“ mehr als die obige Definition vermuten lässt. Aber was ist dieses ‚Mehr‘? Zur Beantwortung dieser Frage gibt es prinzipiell zwei Strategien. Die erste Strategie bewegt sich innerhalb der Grenzen der kantischen Rechtsund Moralphilosophie, die zweite verbindet Rechts- und Geschichtsphilosophie auf eine – aus meiner Sicht – überaus zweifelhafte Art und Weise. Während die erste Strategie in eine Moralisierung des Volksbegriffs 2
Tatsächlich definiert Kant die Republik als einen „Staat“, „welcher, seiner Form wegen, als verbunden durch das gemeinsame Interesse aller, im rechtlichen Zustand“ gilt (VI, 311).
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mündet, zielt die zweite auf dessen empirische Unterfütterung ab. Beide Strategien weisen eine dezidiert transzendente Komponente politischer Sozialisation auf. Zunächst zur ersten Strategie: Bislang habe ich angenommen, dass Kants Volksbegriff nicht notwendigerweise aus dem Sittengesetz abgeleitet werden muss. Er kann auch als ‚liberaler‘ Volksbegriff betrachtet werden, weil er nichts darüber aussagt, aus welchen Motivationen sich Menschen einer Rechtsordnung unterwerfen.3 Das semantisch gesehen kennzeichnende Merkmal eines ‚republikanischen‘ Volkes ist der vereinigende Wille aller Mitglieder eines Volkes, sich gegenseitig als rechtsstiftende Instanz anzuerkennen. Aus dieser Perspektive sind die Mitglieder eines Volkes nicht bloße Untertanen, die sich den Gesetzen äußerlich unterwerfen. Als Staatsbürger entsprechen sie dem homo noumenon der kantischen Moralphilosophie, „der von allen subjektiven empirischen Zwecken als Beweggrund und Kriterium seines Handelns absieht, weil diese nicht unmittelbar für alle vernünftigen Wesen verallgemeinerungsfähig sind“ (Maus 1994: 213). Das Volk ist demnach eine vom rechtsstiftenden Willen beseelte Gemeinschaft von Staatsbürgern, die die moralische Verbindlichkeit des Rechtsprinzips anerkennt. Gibt uns der republikanische Volksbegriff ein Kriterium zur Hand, um die Pluralität und Partikularität der Völker zu begründen? Wohl kaum. Der republikanische Volksbegriff liefert zwar ein staatsbürgerliches Ausschlusskriterium, aber keine Begründung für die Pluralität der Völker. Das will heißen, terminologisch aus dem ‚Volk‘ ausgeschlossen werden ausschließlich jene Bürger, die keine Bereitschaft oder Befähigung mit sich bringen, staatsbürgerliche Autonomie ausüben zu können. Die Ausschlussgrenze verläuft somit nicht zwischen Völkern, sondern quer durch das Volk – oder genauer: zwischen Volk und „Pöbel“.4 An ein republikanisches Verständnis des Volkes, das die Gehorsamspflichten seiner Mitglieder begründet, wird allerdings die Anforderung gestellt, die Partikularität der Beziehung zwischen Staat und Volk zu erklären.5 Das heißt, So gesehen kann Kant problemlos von einem „Volk von Teufeln“ (VIII, 366) reden, die sich aus bloßem Eigeninteresse einer Rechtsordnung unterwerfen. Vgl. den Beitrag von Rudolph in diesem Band. 4 In der Tat degradiert Kant moralisch heteronome Bürger stellenweise zum „Pöbel“ oder zu einer „Völkerschaft“ (vgl. VII, 311 bzw. VI, 343). 5 Vgl. John Simmons’ „particularity requirement“ (Simmons 1979: 31 f.). 3
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die Pflicht zum Gesetzesgehorsam sollte insofern partikulär sein, als sie eine Beziehung beschreibt, die nur zwischen einem besonderen Staat und seinen Bürgern besteht. Diese Bedingung der Partikularität steht aber im Kontrast zur allgemeinen moralischen Geltung von Gesetzespflichten. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Universalität und Partikularität ist nicht die einzige Besonderheit des republikanischen Volksbegriffs. Dieser Begriff zehrt zugleich von transzendenten Voraussetzungen. Denn für Kant bleibt das „Volk“, das gleichzeitig der Souverän und die Summe der Untertanen ist, ein Ideal – genauer ein „platonisches Ideal“ (VII, 90). Dieses sei kein „leeres Hirngespinst“, „sondern die ewige Norm für alle bürgerliche Verfassung“ (VII, 90). Mit anderen Worten: Das erwünschte und künftig zu erringende „Volk“ ist für Kant nicht das schon immer Gewesene und Vorhandene, sondern eine, aus der praktischen Vernunft ableitbare, den Menschen konstant vorgegebene Zielbestimmung, die geschichtlich allenfalls annähernd realisiert werden kann. Sie bleibt also der aktiven Bürgerschaft stets transzendent und dient ihr dennoch als Richtschnur politischen Handelns.6 So viel zur ersten Auslegungsstrategie. Vor allem in Zum ewigen Frieden geht Kant einen anderen Weg, um die Frage nach der Partikularität und Pluralität der Völker zu beantworten. Dieser Weg geht über den Rückgriff auf transzendente Elemente seiner Naturteleologie, allen voran jener Naturanlagen, die als Bedingung der Möglichkeit der geschichtlicher Entwicklung ein kennzeichnendes Merkmal der menschlichen Gattung sind. Es fällt auf, dass diese „Naturanlagen“ selbst in Kollektivindividuen, sprich „Völkern“, anzutreffen sind. Sie können als Ursache dafür angesehen werden, dass einzelne „Völker“ stets zum gegenseitigen Antagonismus neigen und sich einer Vereinigung mit anderen Völkern widersetzen. Zwar mag der Antagonismus der „Völker“ im Fortschritt der Geschichte rechtmäßige Formen annehmen (sie zuletzt sogar erzwingen), doch in einem „arkadischen Schäferleben“ (VIII, 21) soll die graduelle Zivilisierung des Widerstreits der „Völker“ nicht münden; stattdessen redet Kant von einem „Gleichgewicht im lebhaftesten Wetteifer“ (VIII, 367) als einem Zustand 6
Entsprechend seiner Zwei-Welten-Lehre spricht Kant davon, dass nur in einer respublica noumenon das Volk gleichzeitig Souverän und Untertanen sein kann. Eine respublica noumenon ist „Selbstherrschaft des Volkes sensu strictu, und in ihr werden alle Gesetze – so der § 46 der Rechtslehre – einstimmig beschlossen“ (Ludwig 1999: 185). In der respublica phaenomenon werden Souverän und Untertanen personell durch die Repräsentation unterschieden (vgl. VII, 90).
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des friedfertigen Antagonismus. Wie schon Herder7 hält auch Kant sittliche, sprachliche und religiöse Trennungsfaktoren für eine Absicht der Natur bzw. der Vorsehung (vgl. VIII, 367 u. XV, 390) und Versuche, diese natürliche Ordnung umzustürzen, für „nicht zuträglich“ (VII, 320). Aufgrund dieser Bestimmung des Volksbegriffs macht es in der Tat Sinn von einer Vielzahl von Völkern zu reden. Ob sie mit der kantischen Rechtslehre in Einklang zu bringen ist, ist fraglich. Denn plötzlich scheint es, als würden sich Menschen nicht mehr zusammenschließen, weil sie einem Zustand der Rechtslosigkeit entfliehen wollen (wie es in der Rechtslehre steht), sondern vielmehr um mit Menschen zu leben, die ihre Sprache sprechen oder der gleichen Kultur angehören. Hier stoßen also zwei gegensätzliche Modelle bzw. Prinzipien politischer Sozialisation aufeinander. In Jeremy Waldrons Worten: (i) the principle of affinity, which is that a political community should be thought of as something constructed among those who share certain fundamental affections, a common way of life, and a heritage of custom, understanding and belief; (ii) and the Kantian or Hobbesian position that the point of the state is to resolve conflicts and establish justice, and that forming an organized political community is a duty we owe to anyone with whom we are likely to come into endemic conflict. (Waldron 2011: 7)
Nach Waldron erfolgt politische Sozialisation in der kantischen Rechtslehre nicht über vorpolitische Merkmale wie Sprache oder Kultur, sondern ausschließlich über den Rechtsbegriff. Das heißt, in der Rechtslehre setzt sich das Volk aus Individuen zusammen, die sich in einer Situation des potentiellen Konflikts wähnen und nur deshalb zusammenschließen. Es mag paradox klingen, aber es ist ausgerechnet die Konfliktträchtigkeit menschlicher Beziehungen, welche die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Zusammenschlusses begründet. In den geschichtsphilosophischen Schriften geht Kant genau umgekehrt vor: Hier setzt er bei den vorpolitischen Gemeinsamkeiten (wie Sprache, Kultur oder Religion) an; diese erklären die Herausbildung und das fortdauernde Bestehen eines Volkes. Um diese Gemeinsamkeiten herum baut er einen Staat auf, der die Rechte seiner Bürger sichert. 7
„Die Natur hat Völker durch Sprache, Sitten, Gebräuche, oft durch Berge, Meere, Ströme und Wüsten getrennt; sie tat gleichsam alles, damit sie lange von einander gesondert blieben, und in sich selbst bekleibten.“ (Herder 1985: 686 f.)
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Bei allem, was diese zwei entgegengesetzte Sozialisationsmodelle unterscheiden mag, eines haben sie doch gemeinsam: Beide weisen eine transzendente Legitimationsquelle auf. Beim rechtsphilosophischen Modell sind diese in ihrer normativen Ausrichtung des Volkes zu verorten. Volk artikuliert ein moralisch gebotenes Jenseits, dessen Erreichung angestrebt werden soll, aber niemals vollkommen realisiert werden kann. Doch auch in das geschichtsphilosophische Bild des Volkes schleichen sich Transzendenzfiguren ein, die dessen Geltung jenseits des Rechts verlagern und damit unverfügbar stellen. In Kants Geschichtsphilosophie werden kennzeichnende Merkmale eines „Volkes“ nicht ausschließlich aus dem abgeleitet, was das „Volk“ werden soll. In die Definition eines „Volkes“ sind auch Elemente der Naturteleologie eingegangen, die auf feststehende menschliche Dispositionen hinweisen. Kant nennt sie einschlägig „Naturanlagen“ und gibt dabei zu verstehen, dass sie nicht das Produkt einer Entwicklung, sondern vielmehr die Bedingung der Möglichkeit von Entwicklung sind.
3. Die Idee des intelligiblen Besitzes Die moderne Nationalismusforschung wendet sich dezidiert gegen den „Mythos“, dass Völker letztlich „als eine natürliche, gottgegebene Art der Klassifizierung von Menschen“ (Gellner 1991: 77) betrachtet werden können. Hinter diesen Vorstellungen vermutet man den Wunsch nach Ordnungsstabilisierung. Die Strategie, das Volk als unverrückbar erscheinen zu lassen, besteht im Wesentlichen darin, es als „Natur“, als objektiv, unverfügbar und unzugänglich darzustellen, um es damit der politischen Veränderbarkeit zu entziehen (vgl. Assmann/Friese 1998: 12). Oftmals benötigen Nationalisten „den transzendenten, allmächtigen Gott, um ihre kulturelle Definition der vorgestellten Ordnung ‚Nation‘ mit der Aura einer tatsächlich immer schon gegebenen Substanz auszustatten. Mit Gottes Hilfe verwandeln die ‚Erfinder‘ ihre ‚Erfindung‘ in eine Schöpfungsordnung“ (Graf 2004: 129). Auch Kant ist von diesem Vorwurf nicht ganz frei. Mit seinem rechtsphilosophischen Volksbegriff gibt er den Menschen ein Idealbild vor, das sich als unerreichbar erweist, aber auf die politische Wirklichkeit einwirken soll.8 Das Problem seines geschichtsphiloso8
Diese Vorstellung von „Volk“ erinnert an jene Auffassung der volonté générale, die Christopher Bertram als „transcendent“ bezeichnet (Bertram 2012).
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phischen Volksbegriffs liegt dagegen im Glauben, dass die Entstehung von Völkern „gleichsam hinter unserem Rücken, durch unser Zutun und doch ohne unsere Planung“ stattfinden kann (Höffe 2007: 252). Wo bleibt das moderne Bewusstsein um die soziale Konstruktion politischer Realität? Wie in der Einleitung angedeutet, gibt es auch eine andere Perspektive auf die Rechtslehre, die Kant etwas näher an die moderne Nationalismusforschung heranrücken lässt. Diese Perspektive eröffnet sich erst, wenn man die Entstehung und Begründung des Staatsrechts – und damit auch die Herausbildung eines Volkes – genealogisch vom Privatrecht her denkt. Das setzt die Bereitschaft voraus, sich in eine etwas merkwürdige Vorstellung des Naturzustandes hineinzudenken. Denn Kant zeichnet ein zunächst etwas befremdliches Bild menschlicher Konflikte, das sehr stark vom Hobbesschen Naturzustand abweicht. Das Szenario der beständigen Gewaltbedrohung tritt zunächst in den Hintergrund.9 Es geht vielmehr um Besitzansprüche und um die Frage wie diese begründet werden können. So ist es beispielsweise von Menschen die Rede, die ihren Apfel bzw. ein Stück Holz nicht aus der Hand geben oder die ihr Grundstück nicht verlassen wollen, um nicht ihren Besitz darüber zu verlieren (VI, 248; vgl. auch XXIII, 231). Und es ist von der moralischen Notwendigkeit die Rede, den rechtlichen Besitz von Gegenständen wie Äpfel oder Grundstücke nicht auf die physische ‚Inhabung‘ zu reduzieren. Diesen Beispielen ist gemein, dass sie von den „Bedingungen des empirischen Besitzes im Raum und Zeit“ ausgehen, um anschließend von eben denselben „Bedingungen“ (VI, 250) zu abstrahieren. Mit anderen Worten, das kantische Privatrecht zeichnet sich durch den Übergang von einer empirischen zu einer nicht-empirischen, „intelligiblen“ Vorstellung von Raum und Zeit. Was damit gemeint ist, lässt sich anhand des Beispiels mit dem Apfel oder dem Grundstück veranschaulichen. Kant führt ein Gedankenexperiment durch: Man stelle sich einen Staat vor, der nur eine Form von Besitz zulässt, den empirischen Besitz. In diesem Staat wären die Bürger gezwungen, (a) dauerhaft und (b) physisch mit einem bestimmten Ort oder einem bestimmten Gegenstand verbunden zu bleiben, damit sie ihren Besitz darüber nicht verlieren. Sie wären zur Unbeweglichkeit bzw. Sesshaftigkeit gezwungen und müssten beständig um die Realisierung ihrer Ziele fürchten. Gleichwohl taucht es in anderen Zusammenhängen immer wieder auf (vgl. VI, 312 und VIII, 348).
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In order to freely pursue any minimally sophisticated project, we need more than simply the right to use objects while we are physically holding them. Imagine, for example, that I want to paint a landscape. It is clearly insufficient for me to achieve this goal that I possess the use-right to dispose of paint, brushes, and canvas without fear of assault by others while I am holding them. For it is consistent with such a right that as soon as I put down the materials, someone else could come in and undo what I have done. To pursue any sophisticated goal, then, we have to be capable of making objects ours, by annexing them to our own rightful private sphere in the external world. Property rights are in this way essential conditions of agents’ autonomy. (Stilz 2009: 42)
Um der Gefahr des Autonomieverlustes zu entgehen, schlägt Kant vor, die Idee des Besitzes unter veränderten räumlichen und zeitlichen Bedingungen zu denken.10 Bildlich auf das obige Beispiel des Apfel übertragen heißt das: Obwohl sich die Besitzerin eines Apfels in Wirklichkeit nicht mehr in einer Situation der permanenten physischen ‚Inhabung‘ befindet (z. B. weil sie ihn liegen lassen hat), wird sie weiterhin als ,Inhaberin‘ des Apfels betrachtet. Dieser „virtuelle Besitz“ (XXIII, 212) wird durch einen räumlich-zeitlichen Kunstgriff möglich: Der physische Besitz wird in einen intelligiblen Besitz überführt. Etwas vereinfacht ausgedrückt: Der Apfel, den ich in meinen Händen hielt, befindet sich – rechtlich gesehen – noch in meinen Händen, obwohl ich ihn – rein physisch – bereits abgelegt habe. Räumlich und zeitlich betrachtet, mag dieser Vorgang widersprüchlich erscheinen und Kant ist sich dessen bewusst: Schließlich impliziert die Idee des intelligiblen Besitzes, dass „meine Freyheit als in mir dem Subject und doch zugleich als ein Object außer mir anzutreffender Zustand“ (XXIII, 224) gedacht wird, was bedeute, dass „ich in zwei Orten zugleich sei; wodurch [sie] sich selbst widerspricht“ (VI, 254; vgl. Müller 2006: 193). Interessanterweise wendet Kant diese Vorstellung des intelligiblen Besitzes auch auf zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb der Familien und der privaten Haushalten an. So schreibt Kant zum Beispiel, dass eine „häusliche Gemeinschaft und der wechselseitige Besitz des Zustandes aller Glieder derselben, durch die Befugnis, sich örtlich von einander zu Kant schreibt: „Die Art also, etwas außer mir als das Meine zu haben, ist die bloß rechtliche Verbindung des Willens des Subjects mit jenem Gegenstande unabhängig von dem Verhältnisse zu demselben im Raum und in der Zeit, nach dem Begriff eines intelligiblen Besitzes“ (VI, 254–255; Hervorhebung hinzugefügt).
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trennen, nicht aufgehoben wird; weil es ein rechtliches Verhältnis ist, was sie verknüpft“ (VI, 254). Erneut unterscheidet Kant zwischen einem empirischen und einem intelligiblen oder rechtlichen Verhältnis in Zeit und Raum. Eheleute mögen sich zeitweilig an getrennten Orten aufhalten, doch rechtlich gesehen werden sie stets so betrachtet, als ob sie die Situation des räumlichen Zusammenseins nie verlassen hätten.
4. Volk als intelligible Gemeinschaft Mittlerweile dürfte klar geworden sein, worauf ich hinaus möchte. Meine These ist, dass Kant in der Rechtslehre Völker als intelligible Gemeinschaften darstellt – in Anlehnung an seine Idee des intelligiblen Besitzes. Ein Volk beschreibt zwar eine bestimmte Form der räumlichen Beziehung zwischen Menschen, hebt sich aber zugleich von den räumlichen und zeitlichen Bedingungen des unmittelbaren Nebeneinanderseins ab. Die Analogie zur „häuslichen Gemeinschaft“ ist daher naheliegend: Die Angehörigen eines Volkes mögen sich zeitweilig räumlich weit voneinander entfernt befinden, doch rechtlich gesehen werden sie stets so betrachtet, als ob sie die Situation des räumlichen Zusammenseins nie verlassen hätten. Das Volk ist daher ein Produkt der Einbildungskraft. Um diese These zu verdeutlichen, muss ich einen Schritt zurückgehen und an Kants Definition des Volkes in der Rechtslehre erinnern. Diese besagt, dass ein Volk „eine Menge von Menschen“ ist, die „im wechselseitigen Einflusse gegen einander“ stehen und sich deshalb genötigt sehen, in einen rechtlichen Zustand einzutreten, der jedem ein hohes Maß an Freiheit sichert (vgl. VI, 311). Wenn man die Rechtslehre vom Privatrecht her liest, wird auch schnell klar, wer damit gemeint sein kann: Menschen, die räumlich nahe beieinander leben, müssen Verteilungskonflikte friedlich beilegen, die sich aus unvereinbaren Besitzansprüchen ergeben. Im Vergleich zu den Beziehungen zwischen räumlich entfernten Menschen, sind die Wechselwirkungen zwischen räumlich nah beieinander lebenden Menschen so verflochten, dass sie die Vorstellung eines rechtlichen Raums hervorrufen. Georg Simmel hat – auf Kant vielfach bezugnehmend – diese Vorstellung aufgegriffen und in eigenen Worten wiedergegeben:
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Die Wechselwirkung unter Menschen wird […] auch als Raumerfüllung empfunden. Wenn eine Anzahl von Personen innerhalb bestimmter Raumgrenzen isoliert nebeneinander hausen, so erfüllt eben jede mit ihrer Substanz und ihrer Tätigkeit den ihr unmittelbar eignen Platz, und zwischen diesem und dem Platz der nächsten ist unerfüllter Raum, praktisch gesprochen: Nichts. In dem Augenblick, in dem diese beiden in Wechselwirkung treten, erscheint der Raum zwischen ihnen erfüllt und belebt. (Simmel 1992: 68)
Der Raum zwischen Menschen, die räumlich nahe beieinander leben, erscheint nach Simmel ‚erfüllt und belebt‘. Diese Situation der räumlichen Dichte hat Kant moralisch gedeutet und daraus eine moralische Forderung abgeleitet: „Du sollst im Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanderseins mit allen anderen in einen rechtlichen Zustand […] übergehen“ (VI, 307). Damit werden der Übergang von der räumlichen zur rechtlichen Nähe und die Entstehung eines Volkes genealogisch erklärt.11 Genealogisch mag diese Argumentation einleuchten, im Hinblick auf deren praktischen Konsequenzen drängen sich allerdings Fragen auf. Die Idee des Volkes als intelligible Gemeinschaft erklärt zwar, wie die rechtsphilosophische Vorstellung eines Volkes generiert wird, gibt uns jedoch kein genaues Kriterium staatsrechtlicher Zugehörigkeit an die Hand. Aus zwei Gründen: Zum einen, weil räumliche Nähe stets relativ ist und zum anderen, weil sich ein Volk als intelligible Gemeinschaft von den räumlichen und zeitlichen Bedingungen des unmittelbaren Nebeneinanderseins so abhebt, dass eine Bestimmung der Zugehörigkeit zu einem Volk (im Sinne eines Näheverhältnisses) ohnehin schwierig erscheint. Diese zwei Punkte treffen den Kern des Problems: In der Tat liefert die Wahrnehmung der räumlichen Nähe kein konsistentes Bild der zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern eher Momentaufnahmen. Diese Konsistenz muss daher einer Idee entspringen, welche die Vernunft auf die Mannigfaltigkeit der Wahrnehmungen menschlicher Beziehungen überträgt. Ohne diese Idee können Menschen Ereignissen aus unterschiedlichen räumlichen Konstellationen wenig abgewinnen. Von demjenigen, der viele Reisen gemacht hat, sagt man, er habe die Welt gesehen. Aber zur Kenntniß der Welt gehört mehr, als bloß die Welt sehen. Wer Diese Erklärung ist ‚genealogisch‘ im Sinne von Bernard Williams. Eine Genealogie ist demnach eine „Erzählung“, die ein bestimmtes „Phänomen zu erklären versucht, indem sie beschreibt, wie es entstanden sein könnte“ (Williams 2003: 38).
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Oliviero Angeli aus seiner Reise Nutzen ziehen will, der muß sich schon im Voraus einen Plan zu seiner Reise entwerfen, nicht aber die Welt bloß als einen Gegenstand des äußern Sinnes betrachten. (IX, 157)
Mit „Plan“ meint Kant hier nicht bloß „Planung“ (im Sinne der Planung eines Reiseverlaufs). Es geht vielmehr um ein gewisses Vorverständnis (Kant schreibt „Vorbegriff“; vgl. IX, 157) räumlicher Verhältnisse12 oder, anders gewendet, um die Fähigkeit Ereignisse geographisch einzuordnen (vgl. IX, 165). Kant schreibt: „Vielen sind die Zeitungsnachrichten etwas sehr Gleichgültiges. Das kommt daher, weil sie jene Nachrichten nicht an ihre Stelle bringen können“ (IX, 163; meine Hervorhebung). Dieses „an ihre Stelle bringen können“ kann verschiedene Bedeutungen annehmen: Wenn es sich auf rechtliche Wechselbeziehungen zwischen Menschen bezieht, dann nimmt es jene territoriale Konnotation an, die der „politischen Geographie“ definitorisch zugrunde liegt (vgl. IX, 164). Letztlich ist es das Territorium, welches einen zuverlässigen Bezugsrahmen für die Bestimmung rechtlicher Nähe bietet. Durch die Idee des Territoriums wird rechtliche Nähe bestimmbar. Mit anderen Worten, rechtliche Nähe ist innerhalb eines Territoriums gegeben (wobei verschiedene Abstufungen eines Territoriums möglich sind). Gewiss, im Unterschied zu Achenwall und Pütter verweist Kant nie ausdrücklich auf das Territorialitätsprinzip (quidquid est in territorio, est etiam de territorio; vgl. Achenwall/Pütter 1995: 221). Das mag daran liegen, dass dieses Prinzip nach Kant zu einem patrimonialen Verständnisses territorialer Souveränität verleiten könnte (vgl. VI, 323). Daraus folgt aber nicht, dass Kant dem Territorium keine klassifikatorische Funktion zugewiesen hätte.13 Gerade der Behandlung der Themen Kolonialismus und Migration liegt die Auffassung zugrunde, dass die Erde in unterschiedlichen Territorien unterteilt ist, so dass beispielsweise die „Niederlassung“ immer als Niederlassung innerhalb eines Territoriums verstanden werden kann (vgl. VI, 338). Zur Bestimmung räumlicher Nähe lässt sich also die Idee des Territoriums anwenden. Aber wie steht es um die Bestimmung der zeitlichen Dimension von Nähe? Würde man Zugehörigkeit ausschließlich anhand der Idee des Territoriums bestimmen, müssten auch Touristen und Geschäftsreisende dem Volk zugerechnet werden, in dessen Territorium sie sich gerade befin Siehe auch Richards, der von einer „mental map“ spricht (Richards 1974). Zur klassifikatorischen Funktion der „Territorialität“ siehe Sack (Sack 1986).
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den. An dieser Stelle kommt uns erneut die Idee des Intelligiblen zur Hilfe. Auch in Bezug auf die Zugehörigkeit zu einem Volk ist es möglich – in Anlehnung an das Beispiel der „häuslichen Gemeinschaft“ – von der zeitlichen Beschränkung der räumlichen Nähe bzw. Territorialität zu abstrahieren; mit der Folge, dass man eine Person, die ihr Land vorläufig verlassen hat, rechtlich noch dem Volk des Herkunftslandes zurechnen kann.14
5. Schlussbemerkungen Kants Volksbegriff dient als Platzhalter für mindestens zwei transzendente Modi politischer Sozialisation. Da ist einerseits die geschichtsphilosophische Rolle der Vorsehung, die Völker „von der Vermischung abhält“, und andererseits die respublica noumenon, die jedem Volk als Vorbild und „platonisches Ideal“ vorgespielt wird. Beiden Vorstellungen ist gemein, dass sie über den Verweis auf die Naturwüchsigkeit und Schicksalhaftigkeit der Völker einerseits oder auf die Unerreichbarkeit des noumenalen Volkes andererseits ein Stück Realisierung jenes Heilsversprechens vermitteln, das eigentlich dem Jenseits zugeschrieben wird. Ziel dieser semantischen Anbindung des Volksbegriffs an das Transzendente ist die Herstellung von Verhaltenssicherheit und Erwartungsstabilisierung. Ausgehend von der Untersuchung dieser beiden Volksbegriffe, habe ich eine dritte Deutung skizziert, die sich der kantischen Rechtslehre entlehnt und dem modernen Verständnis der Nation als ‚imaginierte Gemeinschaft‘ sehr nahe kommt. Sie baut auf den Gedanken auf, dass sich Individuen wegen – und nicht trotz – der strukturellen Konfliktanfälligkeit ihres Zusammenlebens zu einem Volk zusammenschließen. Während für Benedict Anderson Nationen „imaginiert“ sind, weil ihre Mitglieder „die meisten anderen niemals kennen […] werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert“ (Anderson 1998: 14), sind Was zunächst abstrakt klingt, ist zum Teil bereits praktische Realität geworden: Denn obwohl räumliche Kriterien in der europäischen Einbürgerungspraxis zunehmend an Bedeutung gewinnen (zulasten des ius sanguinis), wird Einbürgerung nicht nach strikt räumlichen Kriterien vergeben. Selbst bei „illegalen“ bzw. irregulären Einwanderern gilt die Idee der „Ersitzung“ der Staatsbürgerschaft erst nach einem langen Aufenthalt.
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für Kant Völker „intelligibel“, weil ihre Mitglieder die meisten anderen niemals permanent in ihrer Nähe haben werden, aber im Kopf eines jeden eine bestimmte Vorstellung menschlicher Nähe existiert. Diese Vorstellung konstruiert eine imaginierte Situation des räumlichen Zusammenseins, die durch zeitweilige Entfernung eines oder mehrerer Angehöriger eines Volkes nicht außer Kraft gesetzt wird. Zur Bestimmung rechtlicher Nähe wird die Idee des Territoriums angewandt. Wenn wir die Vorstellung des Volkes als intelligible Gemeinschaft mit den anderen zwei Auffassungen vergleichen, so sticht einem vor allem ein Unterschied ins Auge. Mit der Idee des „Intelligiblen“ vollzieht Kant einen Perspektivenwechsel vom handlungstranszendenten ‚Volk‘ zum Vermögen der menschlichen Einbildungskraft, welches das Volk konstruiert und damit prinzipiell verfügbar macht. Doch dieser Perspektivenwechsel ist keine ‚kopernikanische‘ Wende. Kant sperrt sich gegen die totale Verfügbarmachung des Volkes und seiner (territorialen) Grenzen. Zu diesem Zweck gibt Kant seiner Argumentation – vor allem durch die Anwendung des Erlaubnisgesetzes – eine gewisse De-facto-Wendung15: Nicht so sehr die Intelligibilität des Volkes (bzw. des Besitzes) als abstrakte Entität steht im Vordergrund seiner Untersuchung, sondern vielmehr die Intelligibilität bestehender Völker (bzw. des bestehenden Besitzes). Damit räumt Kant den bestehenden Völkern, aufgrund ihrer bloßen Faktizität, einen normativen Sonderstatus ein. Die schiere Existenz dieser Völker steht außer Frage. Sie werden von Kant aus dem Bereich des bloß Möglichen gewissermaßen herausgenommen und ungeachtet ihrer Kontingenz zum Ausgangspunkt seiner normativen Erörterung gemacht. Nicht ihr Bestehen soll kritisch hinterfragt werden, sondern ihr Fortbestehen.
Literatur Achenwall, Gottfried / Pütter, Johann Stephan (1995), Anfangsgründe des Naturrechts/Elementa iusis naturae (1750). (Hg.) Schröder, Jan, Frankfurt/M./Leipzig. Anderson, Benedict (1998), Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts, Berlin. Angeli, Oliviero (2004), Volk und Nation als ‚Zukunftsbegriffe‘. Politische Leitbilder im begriffsgeschichtlichen Kontext der Aufklärung. Münster. Ich verwende diesen Begriff in Anlehnung an Kinch Hoekstra (2004).
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Die politische Vernunft der Teufel Kant zwischen Hobbes und Rousseau Enno Rudolph
Die Passage aus Kants Schrift zum ewigen Frieden, auf die der Titel des Exkurses anspielt, ist prominent geworden, weil sie – im Text überraschend – auf die von jeher dämonisch gebliebene Personifizierung des schlechthin Bösen, den Teufel, zu sprechen kommt. Kant diskutiert den Extremfall, den er absurd zu metaphorisieren scheint: der Staat brauche selbst „ein Volk von Teufeln“ (VIII, 366). Die Bemerkung wirft drei Fragen auf: welchen Staat meint Kant? Was sind Teufel? Was macht ein Volk aus? Ich gehe den beiden ersten Fragen nach; die letzte wird in diesem Band von Oliviero Angeli kompetent beantwortet1. Vor einigen Jahren hat, im Anschluss an Otfried Höffes vorübergehend maßstäblich gewordene Interpretation, Alessandro Pinzani eine Exegese dieser Bemerkung publiziert und ist dabei zu anderen Ergebnissen gelangt, als Höffe: nach Höffe sind Teufel Wesen, deren Verstand sie zu der Einsicht nötigt, sich auf der Grundlage einer staatlichen Verfassung zu organisieren – und zwar weder in einer Monarchie noch in einer Demokratie, sondern in einer Republik. Sie handeln zwar nach Gesichtspunkten der Klugheit und nicht der Moral, nach vorteilsbezogenem Kalkül und nicht aus sittlichem Gehorsam, gleichwohl scheint der republikanisch verfasste Staat die Organisation zu sein, die Strategien dieser Art zu optimieren erlaubt. Pinzani geht über diese Deutung hinaus; er sieht, dass die Teufel gerade in diesem Staat ohne jede Anpassung bleiben können, wie sie sind – er schätzt ihren Opportunismus wesentlich höher ein als Höffe (cf. Höffe 1988: 56ff; Pinzani 2009: 222ff). Die zusätzliche Konditionierung, die Kant hinzufügt – „wenn sie denn Verstand haben“ (VIII, 366) –, setzt voraus, dass es sich bei jenen Teufeln 1
Vgl. den Beitrag von Angeli in diesem Band.
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um verstandesbegabte Wesen handelt – nicht aber notwendig um vernünftige – genauer: um Wesen, die nach Gesichtspunkten der Vernunft zu handeln gewillt sind. Ich spreche dennoch im Titel in betonter Abweichung vom Text von Vernunft, weil davon auszugehen ist, dass Kant von seiner elementaren Doktrin der Interdependenz zwischen Verstand und Vernunft nirgends in seinem Werk abgewichen ist: so meint er also mit den Teufeln jene Vertreter der „Intelligenz des Bösen“ (Baudrillard 2004: 138), die um den Unterschied zwischen Gut und Böse wissen, die, obwohl sie das Gute kennen, das Böse wollen – und die, um das Gute zu kennen, über Vernunft verfügen müssen, um sie in ihr Gegenteil verkehren zu können (‚ratio perversa‘). Der Verstand ist das Vermögen der Unterscheidung des Wahren und des Falschen, die Vernunft aber derjenigen des Guten und des Bösen. Den Teufel als die Kraft, die in diesem Sinne stets konsequent verneint, kennt Kant also nicht nur, sondern er nimmt ihn ernst: so spricht er von ihm nicht nur im Zusammenhang der Friedensschrift, sondern prägnanter noch andernorts – etwa in der Religionsschrift: Dort ist teuflisch, wer bei Anerkennung der Plausibilität einer moralgeleiteten Organisation unserer Trieb – und Neigungsstruktur, – im Wissen also darum, dass, sollte es nicht zu einer ‚reasonable ordered society‘ kommen, der ‚Krieg aller gegen alle‘ in uns und untereinander das Gesetz des Lebens bleiben würde –, dennoch für das natürliche Recht auf unbeschränkte Trieb- und Bedürfnisbefriedigung und gegen die Logik der Vernunftmoral Partei ergreift. Der Teufel ist der intelligente Apologet des Rechts auf das Laster, wie auch der Lust am Laster. Kants konstruktive Religionskritik hat den Teufel keineswegs abgeschafft, sondern seine Funktion konsequent seiner Säkularisierungsstrategie angepasst. „Teuflisch“ nennt er eine Gesinnung, die darin besteht, „das Böse als Böses zur Triebfeder in seine Maxime aufzunehmen (denn die ist teuflisch)“ (VI, 37 ff.). Das menschliche Subjekt werde dann zum „teuflischen Wesen“, wenn es den Widerstreit gegen das Sittengesetz selbst zur „Triebfeder“ macht (VI, 35). Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass Kant im Zusammenhang seiner Schriften ohne Äquivokationen verfährt, dass also mit dem Prädikat „teuflisch“ im Kontext des Kant’schen Werkes allenthalben dieselbe Bedeutung verbunden ist. Daraus aber folgt, dass die Teufel, gerade wenn sie Verstand haben – die Konditionierung erweist sich eigentlich als Pleonasmus: natürlich haben die Teufel Verstand, wenn sie ihren Namen verdie-
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nen –, wissen warum sie einen Staat brauchen: weil ihre Vernunft ihnen sagt, dass es sich in der organisierten Form staatlicher Verfassung besser – d. h. erfolgreicher – vernunftwidrig handeln lässt. Da der Staat und sein primäres Integrationsmittel, nämlich das Recht, keine Moralität, sondern nur Legalität erfordert – schärfer formuliert, keine Selbstverpflichtung auf den ‚sensus communis‘ erwarten kann (dazu bedarf es der Moral), sondern mit Konformismus rechnen muss, ist Jon Elster zuzustimmen, wenn er von der „zivilisierenden Kraft der Heuchelei“ (Elster 1995: 250) die die Teufel einzusetzen wissen, spricht. Mit dem Vokabular der – scheinbar moralisch neutralen – theoretischen Vernunft ausgedrückt besteht das Werk des Teufels demnach in Folgendem: Die hierarchische Ordnung zwischen Vernunft und Verstand wird wissentlich aufgehoben; der berechnende Intellekt suspendiert den reflektierenden, der kalkulierende den problematisierenden, und v. a. der utilitaristische den moralischen. Politisch ausgedrückt: der Staat ist die Organisation, die ein gesellschaftliches Leben ohne Moral stabilisiert und legalisiert. Der Teufel ist das Wesen, das dies zu nutzen weiß – er ist also nicht zu unterschätzen und in harmloserer Gestalt nicht zu haben. Vor diesem Hintergrund stellt sich mir die Dreiecksbeziehung, die Kant zu den zwei ‚Extremisten‘ der vorgängigen politischen Philosophie einnimmt – Thomas Hobbes und Jean Jacques Rousseau – in einem neuen Licht dar: (Ich lese Hobbes als den eigentlichen Erzvater des modernen Liberalismus, der den Staat einsetzte, um die menschliche Gattung, deren Freiheitsgebrauch über keine moralische Normierung zu disziplinieren ist, vor sich selbst zu schützen; und ich lese Rousseau als den Erzvater eines extrem republikanischen Egalitarismus und eo ipso Vordenker der modernen ‚totalitären Demokratie‘).
1. Kant und Rousseau Der Staat, dessen Organisation den Konflikt der Interessen und der Bedürfnisse derart optimal zu bewältigen in der Lage ist, dass selbst Teufel sich auf ihn angewiesen sehen, soll eine Republik sein. Die Geschichte des republikanischen Paradigmas in Europa und ihrer Wirkungen zeichnet sich durch einen hohen Grad an Divergenz zwischen ihren repräsentativen Positionen aus: einerseits besteht weitgehende Einigkeit über die Kandidaten, die zu
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ihm gezählt werden – Aristoteles, Cicero, Machiavelli, Rousseau, Kant, und last, but not least, maßgebliche Vertreter des zeitgenössischen Kommunitarismus. Andererseits ist nicht zu übersehen, wie erheblich die Divergenz der einzelnen Repräsentanten ausfällt – offensichtlich so erheblich, dass der Begriff ‚Republikanismus‘ unscharf zu werden beginnt, wenn man es bei dieser lexikalischen Katalogisierung beließe. Insbesondere wäre zu fragen: Wie rechtfertigt sich die immer wieder begegnende Kandidatur der politischen Philosophie des Aristoteles als Quelle und Leitparadigma der Idee des Republikanismus? Besteht hier nicht der Verdacht einer retrospektiven Gewaltsamkeit, die sich in einer eigentümlichen Gleichsetzung von Polis und res publica niederschlägt? Und: Kann Kant – trotz seines ausdrücklichen Selbstbekenntnisses – als Republikaner gelten, wenn auch Rousseau als einer gilt? Sind die von den beiden Autoren postulierten normativen Vorgaben für das politische Handeln – der volonté générale als Modell der Subordination der Freiheit unter das Prinzip der Gleichheit im Nationalstaat einerseits, und der vernunftgeleitete Universalismus als Modell des Primats der Freiheit des individuellen Bürgers im globalen Maßstab des ‚Weltbürgerrechts‘ andererseits – tatsächlich als hinreichend analog zu bewerten, um beide als Fälle desselben politischen Paradigmas gelten zu lassen? Und wenn ja, wie verhält sich dieser Befund zu der Tatsache, dass die bekennenden Republikaner der Gegenwart, die Kommunitaristen – vornehmlich Alasdair MacIntyre – Kant ebenso kompromisslos wie polemisch zur Riege der Vordenker des modernen Liberalismus zählen, um auf diese Weise ihr Feindbild zu profilieren? Als wie konformistisch ist schließlich der politische Republikanismus einzuschätzen, wenn sich seine maßgeblichen Konzepteure – in diesem Fall nicht allein Kant, sondern gerade auch Aristoteles – nahtlos den Idealen eines der prominentesten unter den zeitgenössischen Liberalismusvertretern zu fügen scheinen, nämlich John Rawls, der sich ausdrücklich auf beide beruft – auf Aristoteles ebenso wie auf Kant: mit Blick auf die Glückstheorie des Aristoteles formuliert Rawls eine axiomatische Annahme, die er den im Urzustand generierten zwei Grundsätzen der Gerechtigkeit noch voraussetzt, und die er den „aristotelischen Grundsatz“ nennt, demzufolge die Menschen unter sonst gleichen Umständen „gern ihre (angeborenen oder erlernten) Fähigkeiten einsetzen, und ihre Befriedigung ist desto größer, je besser entwickelt oder je komplizierter die beanspruchte Fähigkeit ist“ (Rawls 1979: 464).
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Diese und ähnliche Fragen verlangen nach einer Antwort, wenn man sowohl den analytischen wie auch den politischen Gebrauchswert der Vokabel „Republikanismus“ nicht gegen Null laufen lassen möchte. Ich will diese Fragen anhand eines streiflichtartigen Vergleichs zwischen den beiden republikanischen Konkurrenten Kant und Rousseau diskutieren und gehe dabei arbeitshypothetisch davon aus, dass die definitive Repräsentativität eines klassischen Autors für das republikanistische Paradigma gesetzt ist: diejenige Ciceros. Sein Konzept der res publica gilt weithin als historischer Maßstab und normatives Schema für die Profilierung und die Bewertung des republikanischen Paradigmas, und dabei sind es v. a. allem folgende Merkmale, deren Kombination das traditionsmächtige Profil des ciceronianischen Modells bestimmen: – die res publica ist ein Konzept der Gleichheit der Menschen als vernünftige Wesen, nicht (nur) als Bürger; – die res publica ist ein universelles Modell; – die Rechtsordnung der res publica ist ‚überpositivistisch‘, d. h. sie beruht auf einem für die Vernunft einsichtigen Prinzip (Cicero spricht sogar von ‚lex‘), dem göttliche Würde zukommt. Offensichtlich ist es Kant, der diesen Typ von Republikanismus beerbt, nicht Rousseau, wie zu zeigen sein wird.
Die Differenz zwischen den Republikanismuskonzepten Kants und Rousseaus ist nicht nur wesentlich größer, als Kant sie selbst je wahrgenommen zu haben scheint – sie ist ausschließlich. In Kurzform lässt sich Kants Konzept als liberaler Republikanismus, dasjenige Rousseaus als totalitärer Republikanismus bezeichnen. Beide teilen zwar die Ablehnung der repräsentativen Demokratie – Kant bezeichnet sie als „Despotism“ der Mehrheit über die Minderheit mit der erschlichenen Legitimation, das Ganze des Volkes zu repräsentieren (VIII, 352); und Rousseaus Kollektivwille duldet ohnehin keinen Nonkonformismus. Aber Kant setzt auf die Republik der Vernunft, die sich wie ein ‚logos spermatikos‘ auf die Bürger der zu erstrebenden Weltrepublik verteilt, während Rousseaus Vorbild mit ausdrücklicher Eindeutigkeit am überschaubaren Modell der griechischen Polis orientiert ist, wenn er die von ihm angestrebte „Gesamtkörperschaft“ („corps moral et collectif“) als „öffentliche Person“ („personne publique“) bezeichnet, die aus dem Zusammenschluss aller zustande komme und die – so ausdrücklich – früher den Namen „Polis“ („Cité“) getragen habe, heute den der „Republique“ (Rousseau 1966: 52).
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Rousseau überzieht den Gemeinschaftsgedanken der antiken Polis – sowohl platonischer als auch aristotelischer Provenienz – offenkundig, wenn er den Grad an Selbstaufgabe und ‚vollständiger Entäußerung‘ („aliénation totale“; Rousseau 1966: 51), wie er sie rigide für die Republik im Sinne des ‚contrat social‘ einklagt, als polisadäquat bewertet. Zwar sind die Eigenschaften der Gerechtigkeit bei Platon, bzw. des Glücks bei Aristoteles, Prädikate, die sich auf die gesamte Polis als Einheit beziehen, aber mehr noch bei Platon als bei Aristoteles ist die Polis der Makrokosmos, der sich aus der internen Tugendpraxis des individuellen Bürgers und einem streng organisierten curriculum autonomer Selbsterziehungsprozesse ergibt. Diese werden zwar staatspädagogisch flankiert, sie können und sollen aber keinesfalls zur ‚Selbstentäußerung‘ des Bürgers an das Kollektiv führen. Im Gegenteil: anders als die polemische Auslegung Karl Poppers es unterstellt, basiert der Prozess der Polisgenese bereits bei Platon auf der Deduktion der gesellschaftlichen Interaktion aus einer spezifisch eingeübten inneren Praxis („praxis entos“) des individuellen Bürgers (Platon 2010: 443d). Platons politisches Konzept basiert auf einer Theorie des Individualismus. Wichtiger aber ist die Differenz zu Kant. Vernunft realisiert sich bei Kant durch die ebenso autonome wie unvertretbare Willensentscheidung in Orientierung am sittlichen Imperativ, den der Einzelne nicht als heteronomen Anspruch der Menschheit an ihn, sondern als Anspruch der Vernunft an sich selbst erfährt. An der Stelle des Rousseauschen ‚Zwangs‘ des Volkes steht der selbst auferlegte Imperativ; an der Stelle des Primats der Egalité derjenige der Liberté. Kants Vernunft taugt nicht zum Analogon der totalisierenden Funktion des volonté générale; Republikanismus ist bei ihm die Transformation des moralischen Prinzips der Autonomie in die politische Gestalt uneingeschränkter Regierungspartizipation eines jeden, zu der – darin liegt der entscheidende Unterschied zu Rousseau – ihn niemand nötigen kann, als seine Vernunft selbst, die er wiederum selbst repräsentiert. Kant modernisiert Cicero; Rousseau hingegen bereitet Robespiérre den Weg. Wen überrascht es, dass sich die Robespiérrsche Rechtfertigung der Terreur wie eine gehorsame Anwendung des Rousseauschen Postulats, den Bürger zur Freiheit zu „zwingen“ („forcera d’être libre“; Rousseau 1966: 54), liest: „Was ist nun das Grundprinzip der demokratischen Volksregierung? Wie heißt die Kraft, welche die Regierung trägt und handlungsfähig
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macht? Es ist die Tugend (‚la vertú‘); ich meine jene öffentliche Tüchtigkeit, die im alten Griechenland und im alten Rom so viele Wunder vollbracht hat und im republikanischen Frankreich noch viel erstaunlichere Wunder vollbringen wird; jene Tugend, die nichts anderes ist als die Liebe zum Vaterland und dessen Gesetzen. – „Da aber das Wesen der Republik oder der Demokratie in der Gleichheit besteht, so folgt daraus, dass die Vaterlandsliebe notwendig die Liebe der Gleichheit einschließt. […] Die Tugend ist nicht nur die Seele der Demokratie, sondern sie kann auch nur in dieser Regierungsform bestehen. Wenn die treibende Kraft der Volksregierung während des Friedens in der Tugend besteht, so besteht sie während der Revolution in der Tugend und in der Terreur zugleich; denn ohne Tugend ist die Terreur verderblich, und ohne Terreur ist die Tugend machtlos. Die Terreur ist nichts anderes als unmittelbare, strenge, unbeugsame Gerechtigkeit; sie ist also ein Ausfluss der Tugend; sie ist weniger ein besonderes Prinzip als vielmehr die Konsequenz des allgemeinen Prinzips der Demokratie in seiner Anwendung auf die dringendsten Bedürfnisse des Vaterlandes. […] Die Regierung der Revolution ist der Despotismus der Freiheit gegen die Tyrannei“ (Robespierre zitiert nach Reichardt 1988: 68 f.; Herv. d. Verf.). Die Verknüpfung von Patriotismus und Rechtfertigung von Zwang und Gewalt verbinden diesen Propagandatext in dem Maße mit Rousseau, in dem sie ihn sowohl von Kant als auch von Cicero trennen. Kant liberalisiert Cicero, Rousseau entliberalisiert die Polis. Es war Cicero, der de facto die Idee der Autonomie – ohne freilich diesen bereits in Platons Politikos im prägnant Kantischen Sinne begegnenden Ausdruck zu verwenden – unverbrüchlich mit der Idee der res publica verknüpfte: „Das wahre Gesetz [vera lex] ist die richtige Vernunft, die, mit der Natur im Einklang, sich in alle ergießt, beständig und ewig ist, die durch Gebot zur Pflichterfüllung ruft, durch Verbot von Unredlichkeit abschreckt. Diesem Gesetz etwas von seiner Gültigkeit zu nehmen ist Frevel, und es darf ihm nichts abgedungen werden, noch kann es ganz außer Kraft gesetzt werden, noch auch können wir durch den Senat oder durch das Volk von diesem Gesetz gelöst werden… noch wird das Gesetz nicht anders sein in Rom, anders in Athen, anders jetzt, anders später, sondern alle Völker wird durch alle Zeit das eine Gesetz, ewig und unveränderlich binden…Wer ihm nicht gehorcht, wird vor sich selber fliehen“ (Cicero 2001: 22 f.).
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Nicht nur die Prämissen des universalen Anspruchs, kurz: des „Faktums der Vernunft“ und seiner identitätsstiftenden Bedeutung, teilt Kants Sittengesetz in auffälliger Weise mit dem Vernunftgesetz Ciceros, sondern auch dessen Begründung für die Autonomie unseres Handelns: das Gesetz steht über dem Volk. Die Ciceronianische Tradition trennt Kant also markant von Rousseau in demselben Maße, wie sein Autonomieprinzip. Vernunftbzw. Weltbürgerrepublik vs. ‚Volksrepublik‘ – der Gegensatz ist gewichtiger, als die gemeinsame Berufung auf die Idee der Republik es ahnen lässt. Nimmt man hinzu, dass Cicero nicht fordert, alle Bürger müssten den gleichen Anteil haben an der res publica, sondern nur, dass alle den gleichen ‚Sinn‘ haben müssen für die res publica, dann ergeben sich am Ende zwei gegensätzliche Republikanismusmodelle, die seit der Antike miteinander konkurrieren: – die eine reicht von Platon – er hat die Idee einer in sich diversifizierten, gleichwohl durch Gemeinschaftssinn kohärent gehaltenen Polis, zuerst konzipiert, und dies in einer mit Rousseaus Berufung auf die Polis inkompatiblen Weise – über Cicero (n.b. auch Petrarca, der Ciceros Ideen sogar aus den Niederungen der Politik befreien wollte), und sogar Machiavelli bis zu Kant; – die andere reicht von einem ideologisch angeeigneten Aristoteles über Rousseau bis zum zeitgenössischen Kommunitarismus.
Im Blick auf die Differenz zwischen Kant und Rousseau lässt sich die Opposition zwischen diesen beiden Konkurrenten entschieden schärfer fassen, als etwa zwischen Platon und Aristoteles: Kants Republikanismus – wenn er überhaupt so heißen muss – basiert auf einer Autonomie ethik, deren universale Gültigkeit und Unteilbarkeit das in der Friedensschrift postulierte Weltbürgerrecht legitimiert. Diese Ethik vermittelt, kraft ihrer Synthese aus individueller Souveränität und Pflicht für das Ganze, die notwendige integrierende Funktion im politischen Handlungsraum. Rousseaus Gesellschaft hingegen wird durch einen Kollektivdezionismus integriert. Sie kennt keine autonome Selbstkontrolle der Bürger, sie kennt nur die wechselseitige Kontrolle der Volksgenossen. Kants Transformation des Autonomieprinzips in ein Weltbürgerrecht trägt der urliberalen Einsicht Rechnung, der zufolge eine Gesellschaft nicht dadurch gerecht organisiert werden kann, dass alle Bürger auf dasselbe Freiheitsverständnis verpflichtet werden, sondern indem jedem Menschen ein Recht auf divergierende Realisierung seiner Freiheit garantiert wird.
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Dem entspricht auf der Ebene des moralischen Handelns, dass der kategorische Imperativ bekanntlich nicht vorschreibt, was ich in concreto zu tun habe, sondern nur, über welche reflexive Prozedur ich mich selbst in die Lage versetze, mich für die eine oder die andere Handlung zu entscheiden. Kurz: Kants ethischer Formalismus legitimiert einen politischen Pluralismus. Rousseaus politischer Dezisionismus legitimiert einen sozialen Monismus. Kants Vernunftrepublik dient einer rationalen Ermöglichung individueller Vielfalt des Freiheitsgebrauchs; Rousseaus Volksrepublik dient der Umgestaltung individueller Freiheit in Fremdbestimmung oder ‚Alienation‘. Kants Republik setzt auf eine extern nicht kontrollierbare Vernunft; darin liegt aber auch die Anfälligkeit eines jeden politischen Systems begründet, das sich ausschließlich durch sie legitimiert. Von dieser Anfälligkeit profitiert der Teufel.
2. Kant und Hobbes Kants liberaler Freiheitspluralismus entspricht einer politischen Nähe zu Hobbes, die seine emotionale Nähe zu Rousseau kompensiert. Der Staat Kants ist ebenso wie derjenige von Hobbes das Ergebnis eines Vorteilskalküls, das zu der Einsicht führt, ein zumutbares Maß an Freiheitsverzicht zu leisten (vgl. Höffe 1988), um ein Maximum an Restfreiheit dauerhaft zu sichern: die Bürger verfahren in dieser Weise nicht, weil sie moralisch sind, sondern pragmatisch. Sie machen ihre Natur, welche per se dafür sorgt, dass die zerstörende Kraft der Neigungen ‚aufgehalten‘ wird, zur normativen Grundlage einer Staatsgründung, welche dem Zweck der Konfliktminimalisierung auf Dauer und in vertraglich gesichertem Einvernehmen dient. Diese Konvergenz von vorstaatlicher und verstaatlichter Natürlichkeit entspricht dem Konzept von Hobbes unmittelbar, keinesfalls aber demjenigen Rousseaus, der keine Kontinuität zwischen Naturzustand und Gesellschaftszustand kennt, sondern der im Staat vielmehr das Instrument zur Wiederherstellung unserer ursprünglichen, aber gesellschaftsgeschichtlich deformierten Natur sieht: wir sollen wieder werden wie wir einmal hätten gewesen sein können; bei Hobbes hingegen bleiben wir wie wir sind. Rousseau habe ihn ‚zurecht gebracht‘, bekennt Kant einmal emphatisch, und es besteht kaum Zweifel daran, dass sich dieses Bekenntnis auf die von ihm wie von Rousseau gegen Hobbes postulierte Interdependenz von Moral
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und Politik bezieht. Dem entspricht zudem Kants bemerkenswerte Andeutung im Kontext unserer Stelle, der zufolge von einer „gute[n] Staatsverfassung […] die gute moralische Bildung eines Volks“ (VIII, 366) zu erwarten ist. Der Staat als moralischer Erzieher des Menschengeschlechts: die Bemerkung klingt wie scholastischer Rousseauismus – wäre da nicht die entscheidende Differenz sowohl (a) im Freiheitsverständnis, als auch (b) Rechtsverständnis zwischen Kant und Rousseau – eine Differenz, die sich aus der resistenten Nähe Kants zum anthropologischen Realismus von Thomas Hobbes erklären lässt: (a) Rousseau löst den latenten Konflikt zwischen Freiheit und Gleichheit durch Hierarchisierung: Freiheit durch Gleichschaltung, deren Geltung garantiert wird durch jedermanns Kontrollpflicht über jedermann: ‚Aufhebung‘ der Freiheit im nahezu Hegelschen Sinne. Ganz anders Kant: zwar sind alle gleich vor dem Gesetz der Vernunft, doch hat jeder die Freiheit zur Abgleichung einer jeweils autonom vollzogenen Auslegung des Gesetzes auf seinen Willen. In diesem Punkt ist keine Einigung zwischen Kant und Rousseau möglich. Rousseau kennt nur eine Freiheit – die Freiheit des Volkes zum Zwang, dem Zwang zur Gleichheit. Kant hingegen postuliert, wie gesagt, so viele Freiheiten wie Auslegungen des Sittengesetzes. Der Pluralismus möglichen Freiheitsgebrauchs ist die gemeinsame Ausgangslage von Hobbes und Kant, er behält für beide normative Geltung, er transportiert freilich eine permanente soziale Konfliktträchtigkeit, die moralisch nicht aufzulösen ist, sondern nur durch das Recht. (b) Im Vergleich zu Hobbes, in dessen Rechtsbegriff sich die Aufhebung der Gewaltenteilung manifestiert, vertritt Kant einen weichen Rechtsbegriff. Nicht allein, dass er eine Definition vorlegt, die sich in auffälliger Weise von derjenigen der Moral kaum unterscheiden lässt (das Recht besteht „in der Einschränkung der Freiheit jedes anderen auf die Bedingung…, daß sie mit der meinigen nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne“; VIII, 289 f.), sondern sie erst macht seine zuvor bereits erwähnte Erklärung verständlich, der zufolge nicht damit zu rechnen sei, dass die innere Moralität der Menschen den Staat präge, sondern umgekehrt, dass der Staat das Volk moralisiere (vgl. VIII, 366). Das Recht fungiert also als Medium der Moral, ohne zur Moral nötigen zu können – eine Aporie, die mit Hobbes’ Ansatz nicht kompatibel ist: nach Hobbes kompensiert das Recht den natürlichen Immoralismus der Menschen, weshalb es autoritär gesprochen werden muss (‚auctoritas, non veritas facit
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legem‘). Dennoch, das Verbindende überwiegt die Differenz: Frieden und Sicherheit nur durch das Recht (statt Moral) – so die Formel nach Hobbes; Frieden und Sicherheit ebenfalls nur durch das Recht, dessen Wirkung allerdings mit der Hoffnung verbunden ist, die Menschen zu moralisieren – so die Formel nach Kant. Das Verhältnis Kants zu Hobbes bleibt ambivalent: er teilt seinen anthropologischen Realismus, nicht aber seinen anthropologischen Pessimismus. Und die Teufel? Die Teufel sind die Profiteure der Kluft zwischen Moral und Recht – und gerade deshalb fällt Kants berühmte Definition des Rechts so moralisch aus. Konsequent setzen die Teufel nicht nur auf die Klugheit statt auf die Moral; sie richten die Klugheit sogar gegen die Moral.
Literatur Baudrillard, Jean (2006), Die Intelligenz des Bösen. (Hg.) Engelmann, Peter. Wien. Cicero (2001), De re publica/Vom Gemeinwesen (lat./dt.). (Hg.) Büchner, Karl, Stuttgart. Elster, Jon (1995), „Strategic Uses of Argument“, in: Barriers to Conflict Resolution. (Hg.) Arrow, Kenneth u. a., New York, 236–257. Höffe, Otfried (1988), „Den Staat braucht selbst ein Volk von Teufeln: ein Dilemma der natürlichen Gerechtigkeit“, in: Den Staat braucht selbst ein Volk von Teufeln. Philosophische Versuche zur Rechts- und Staatsethik. (Hg.) Ders., Stuttgart, 56–78. Pinzani, Alessandro (2009), An den Wurzeln moderner Demokratie: Bürger und Staat in der Neuzeit, Berlin. Platon (2010), Werke in acht Bänden (gr/dt.). Bd. VIII. (Hg.) Eigler, Gunther. Darmstadt. Rawls, John (1979), Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. Reichardt, Rolf (1988), „Die Französische Revolution“, in: ders., Ploetz, Die Französische Revolution, Freiburg/Würzburg. Rousseau, Jean-Jacques (1966), Du Contrat Social. (Hg.) Pierre, Burgelin. Paris.
Docta Spes Zu Kants politischer Theorie begründeter Hoffnung und kollektiven Lernens Georg Kohler
Die dritte der großen Fragen Kants, die allesamt in der vierten – „Was ist der Mensch?“ – zusammenkommen, gilt nicht dem Problem der Erlösung, sondern dem der Erwartung des Besseren und Guten: „Was darf ich hoffen?“ Seiner Lösung sind viele Texte Kants geschuldet; am radikalsten und mit dem umfassendsten Anspruch die „Kritik der Urteilskraft“ – und zwar nicht allein in ihrem ausdrücklich teleologischen Teil. Auch die „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“ lässt sich ganz erst dann verstehen, wenn man sie als Auseinandersetzung mit dem Gedanken begreift, inwiefern der Mensch denn überhaupt „in [die] Welt passe“ (XVI, 127) und in ihr im Stande sei, dem Auftrag des kategorischen Vernunftimperativs gerecht zu werden (vgl. Kohler 2008). Kant bejaht – nicht nur in den transzendentalphilosophischen Kritiken – die Frage, ob wir zu erreichen hoffen dürfen, was zu bewirken wir – vernünftigerweise – aufgefordert sind. Diese Zuversicht will er allein mit Argumenten, mit reflektierter Rationalität begründen, nicht mit dogmatischen Überzeugungen aus der religiösen Tradition. Die Hoffnung, die er verteidigt, ist wohl durchdacht: docta spes. In deren Licht befasst er sich nicht zuletzt mit zeitgenössischen Vorgängen. So wird er zum optimistisch-aufklärerischen Theoretiker des Fortschritts, für dessen Tatsächlichkeit ihm (trotz aller terreur) die Französische Revolution als wichtigstes Geschichtszeichen einsteht. Als prophetische Rede verkennt sich Kants Interpretation der Geschichte und ihres Verlaufes nie. Über die eigene Hypothetizität bleibt sie stets informiert. Doch das Bewusstsein ihrer Frag-würdigkeit und steten Fallibilität vermag sie nicht daran zu hindern, im Zivilisationsprozess seit langem eine Richtung auf Kultivierung und hin zur kollektiven Selbstbestimmung wahrzunehmen;
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entzifferbar als die allmähliche Realisierung eines „verborgenen Plans der Natur“, diese „vollkommene Staatsverfassung zustande zu bringen“ (VIII, 27), welcher – gemäß der Schrift von 1794, „Das Ende aller Dinge“ – sogar der christlichen Apokalyptik einen guten Sinn zu verschaffen vermag.
1. Geschichtsphilosophie, nüchtern Will man die kantische Theorie des Fortschritts richtig einschätzen, ist sie weder mit prophetisch-religiöser Weltdeutung, noch mit der Geschichtsphilosophie hegelianischen Musters zu verwechseln. Bei aller prophetischen Rede (trete sie offen als solche auf oder – wie gelegentlich heute – kaschiert als soziologische Prognose) geht es nie nur um die Stärkung des Vertrauens in die Kraft menschlich-praktischer Vernunft, sondern stets um die Aktivierung und Reaktivierung transrational-religiöser Potentiale der Seele. Das bedeutet: Es geht in ihr um den Gegensatz bzw. um die Rangdifferenz zwischen pragmatischer Selbstbehauptung und unbedingtem Heilsverlangen, zwischen rationaler Selbstgewissheit und religiöser Einsicht in die Brüchigkeit alles Menschlichen. Es geht ihr weniger um machbare Weltverbesserung, sondern vor allem um die Illuminierung und Erweckung subjektiver Erlösungssehnsüchte und dazu komplementärer Verdammungsängste. Religiöses Heilsbedürfnis und Endlichkeitsbewusstsein einerseits, Wollen, Erwarten und Selbstgefühl der praktischen Rationalität andererseits, dieser Gegensatz, der sofort klar wird, wenn man sich überlegt, worin die Differenz zwischen eigentlich prophetischer und authentisch-prognostischer Rede besteht, die Unterscheidung also zwischen zwei genau auseinanderzuhaltenden Zukunftsperspektiven, ist wichtig für die Gegenüberstellung der zwei Kategorien von Geschichtsphilosophie, die ich nun machen möchte. Die eine dieser zwei Arten von Geschichtsphilosophie könnte man die hybride, die andere die nüchterne nennen. Die erste operiert mit dem Gedanken einer ex post erkennbaren Teleologie des ganzen Geschichtsprozesses, die zweite mit dessen evolutionärer, zukunftsöffnender Gerichtetheit. Die erste meint im Stande zu sein, Notwendigkeiten zu erfassen, die zweite begnügt sich damit, plausible Möglichkeiten zu bezeichnen; die eine ist dialektisch-spekulativ, die andere (in Grenzen) idealistisch; die eine ist die hegelsche, die andere die kantische Variante der Geschichtsphilosophie.
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Und weshalb soll die hegelsche Geschichtsphilosophie ein Hybrid, d. h. ein im Grunde widersinniges Mischprodukt sein? – „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ (Hegel 1986: 24). So lautet Hegels Axiom. Es behauptet nichts anderes als die letzthinnige Identität von Sein und Denken, der Geschichte und der Vernunft. Ihm folgend will Hegel zeigen, dass notwendigerweise Realität und Idee, die Realität der historisch-sozialen Welt und die Idee der wahrhaft vernünftigen, funktional und moralisch unüberholbar guten Gesellschaftsordnung zusammenkommen, ja, bereits zusammengekommen sind. Denn die Geschichte ist der Raum des Fortschritts, und der Sinn des Fortschritts ist das Wirklich-Werden der gleichen Freiheit aller – im modernen System von rechtsstaatlicher Egalität, marktökonomischer Liberalität und kultureller Gemeinsamkeit. Die großen Kräfte seiner Zeit – Napoleon, die Französische Revolution, aber auch den reformierten preußischen Staat – fasst Hegel dementsprechend auf als Manifestationen des „Weltgeistes“, als gültigen Ausdruck und sicheren Beweis der vom Gesetz der einen Vernunft beherrschten Geschichte. Der Philosoph wird so zum Erben und rationalistischen Überbieter des Propheten. Wie dieser kennt er das große Ziel und den durchgängigen Sinn des Geschehens, doch anders als der Prophet bezieht der hegelsche Geschichtsphilosoph seine Einsichten nicht aus einer göttlichen Offenbarung, sondern aus dem Gebrauch der allgemeinen Menschenvernunft. Davon jedenfalls möchte er uns überzeugen. Natürlich ohne Erfolg. Zu offensichtlich ist, dass diese Form von Geschichtsphilosophie ihren Faden nur spinnen kann, wenn sie sich an die transrational-religiösen Potentiale der menschlichen Seele anzuschließen vermag. Denn es braucht schon das Bedürfnis nach Heilsgewissheit und das nur darauf zu gründende Vertrauen in die unbedingte Wirklichkeit der Vernunft, um all das ausblenden zu können, was – zu Hegels Zeiten nicht weniger als heute – gegen die These des geschichtlich notwendigen Sieges der Idee der Freiheit, Gleichheit und moralischen Gemeinschaftlichkeit der Menschen spricht.
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2. Kants Theorie des Rechtsfortschrittes Im hegelschen Typus von Geschichtsphilosophie verbinden sich Ansprüche und Annahmen, die in ganz verschiedenen Möglichkeiten der menschlichen Existenz wurzeln. Die rationale Erfahrung und Erschließung der Welt und die religiöse Gesamt- und Sinndeutung des Seins in der Welt sind zwei Leistungen des bewussten Lebens, die genau zu trennen sind. Wer sie amalgamiert, verdirbt zumindest die Rationalität. Von dieser Einsicht ist die neuzeitliche Philosophie zu ihrem Beginn bei Descartes und Hobbes durchdrungen; was diese Unterscheidung für den speziellen Fall der Geschichtsphilosophie bedeutet, lässt sich – immer noch – beim Meister der Vernunftkritik, bei Immanuel Kant, lernen. Kants zentraler Gedanke für die Konzeption der menschlichen Geschichte überhaupt ist ein einfacher anthropologischer Befund, nämlich: Der Mensch ist grundlegend ambivalent; Gemeinschaftstier und Einzelwesen, sozial und individualistisch, gesellig und ungesellig zugleich. Aus dieser Zweideutigkeit entwickelt sich die humane Evolution, die Geschichte des Menschlichen, als Geschichte beinahe schon widerwilliger Zivilisierung und Kultivierung.1 Die eigentümliche Ambivalenz der menschlichen Fähigkeit und Bedürfnisse, sowohl zu Kooperation wie zu Konkurrenz, zu 1
Dazu ein längeres Zitat aus dem einschlägigen kantischen Text, der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ (1784): „Der Mensch hat eine Neigung, sich zu vergesellschaften […]. Er hat aber auch einen großen Hang sich zu vereinzeln (isolieren): weil er in sich zugleich die ungesellige Eigenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne richten zu wollen, und daher allerwärts Widerstand erwartet, so wie er von sich selbst weiß, dass er seinerseits stets zum Widerstande gegen andere geneigt ist. Dieser Widerstand ist es nun, welcher alle Kräfte des Menschen erweckt, ihn dahin bringt seinen Hang zur Faulheit zu überwinden und, getrieben durch Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht, sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen, die er nicht wohl leiden, von denen er aber auch nicht lassen kann. Da geschehen nun die ersten wahren Schritte aus der Rohigkeit zur Cultur […]; da werden alle Talente nach und nach entwickelt, der Geschmack gebildet und selbst durch fortgesetzte Aufklärung der Anfang zur Gründung einer Denkungsart gemacht, welche die grobe Naturanlage zur sittlichen Unterscheidung mit der Zeit in bestimmte praktische Prinzipien und so eine pathologisch-abgedrungene Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft endlich in ein moralisches Ganzes verwandeln kann.“ (VIII, 20 f.)
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„Eintracht“ wie zu „Zwietracht“, anzuspornen, ist nach Kant die anthropologische Grundspannung, die zur Dynamik unablässiger Selbstüberbietungen und damit zum Fortschritt technischer und sozialer Innovationen führt. Doch obschon die die kulturelle Evolution antreibenden Motive, die „zwar eben nicht liebenswürdige[n] Eigenschaften der Ungeselligkeit“ (VIII, 21) sind, entwickelt sich mit der Ausarbeitung technischer und sozialer Errungenschaften zugleich die Zivilisierung, Verrechtlichung und Moralisierung der Menschheit.2 Das ist der Punkt, um den es Kant vor allem zu tun ist; und wie er das ausführt, ist es auch der Punkt, der seine Theorie noch heute bemerkenswert macht. Was Kant zeigen möchte, ist die plausible, d. h. durch Erfahrungsgründe und strukturelle Tendenzen gestützte Möglichkeit (wohlverstanden: Möglichkeit, nicht Notwendigkeit), die Geschichte der Menschheit als globale Geschichte des Rechtsfortschrittes zu denken; d. h. als die Installationsgeschichte von vernünftigen und sanktionsgeschützten Rechtsverhältnissen, die die Freiheit eines jeden mit der Freiheit aller anderen verträglich machen. Kant geht also von einem praktischen Ziel – dem weltbürgerlichrechtsgemeinschaftlichen Friedenszustand – aus, und fragt sich dann, ob es rational vorstellbar ist, dass dieses Ziel – irgendwann einmal, mehr oder weniger – erreicht werde. Dass die Gegenwart bei ihm noch nicht angelangt ist, steht nicht zur Debatte. Kant leugnet nicht, dass sie, wie die Vergangenheit, in vielem einen trostlosen Anblick bietet; besonders dort, wo es um die machtpolitischen Staatsgeschäfte geht, wo „endlich alles im Großen aus Thorheit, kindischer Eitelkeit, oft auch aus kindischer Bosheit und Zerstörungssucht zusammengewebt“ (VIII, 18) scheint. Wichtig sind ihm aber, im Gegenzug zu diesen Tatsachen, die schon heute auszumachenden, „schwachen Spuren der Annäherung“ (VIII, 27) an das Ziel des umfassenden und gesicherten Rechts- und Friedenszustandes. Worin bestehen diese „Spuren“? Um es knapp zu sagen: im Aufeinanderwirken dreier soziokultureller Realitäten; nämlich derjenigen des Staates, des Krieges, und der zunehmenden zivilisatorischen Vernetzung aller gesellschaftlichen Einheiten. Die Figur der Staatlichkeit, d. h. die partikulare Form verwirklichter Rechtsfreiheit und -sicherheit, ist für Kant die erste, freilich noch nicht hinreichende Antwort auf das systematische 2
Zu den Differenzen zwischen verschiedenen Stufen der soziokulturellen Entwicklung vgl. Höffe 2001: 190 ff.
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Problem, wie mit der ‚geselligen Ungeselligkeit‘ der Menschen sozial sinnvoll umzugehen ist. Denn das, was der einzelne Staat im Rahmen seines Herrschaftsbereiches löst: die Bewältigung der zerstörerischen Folgen der „Ungeselligkeit“, das reproduziert er selber auf neuem Niveau: im Verhältnis zu den anderen Staaten. Die Konsequenz daraus ist die ständige Aktualität des latenten oder manifesten Krieges. Doch genau dies Faktum und die aus ihm resultierende zwischenstaatliche Konkurrenz, die nichts anderes ist als die sich steigernde Erfahrung zwar widerwilliger, aber unauflöslicher Zusammengehörigkeit im Horizont gemeinsamer, wechselseitig zugefügter Frustrationen, diese Tatsachen sind es, die dafür sorgen, dass schließlich der nächste soziale Lernschritt, die nächste Stufe der Evolution erreicht werden kann: nämlich die Einsicht in die Notwendigkeit und der Wille zur Wirklichkeit einer „weltbürgerlichen Gesellschaft“, d. i. nicht eines Weltstaates, aber einer wahrhaft nach Rechtsprinzipien interagierenden Völker- und Staatengemeinschaft. Was die „Idee zu einer allgemeinen Geschichte“ von 1784 bloß andeutet, wird in der Abhandlung von 1795, dem „Entwurf zum ewigen Frieden“, konzeptionell ausgearbeitet und auch unter realpolitischen Geschichtspunkten diskutiert. Entscheidend für das Gelingen des von Kant keineswegs als bloße Utopie präsentierten Projekts ist bekanntlich die im zweiten „Definitivartikel“ formulierte Bestimmung, wonach „in jedem Staate“ die „bürgerliche Verfassung […] republikanisch“ (VIII, 349) sein solle. Auf die damit initiierte Theorie der – gewissermaßen konstitutiven – Friedfertigkeit der authentischen, d. h. „polyarchen“3 Demokratie will ich hier so wenig eingehen, wie auf die Frage, ob das Konzept der Föderation, des Völkerbundes, die für den „Ewigen Frieden“ geeignete Zielform darstellt.4 Stattdessen möchte ich Kants Gestalt einer docta spes ein Stück weit erläutern.
Zum Begriff der „Polyarchie“ als des Merkmals einer authentischen Demokratie vgl. Dahl 1972. 4 Vgl. dazu u.a. Höffe 1999 sowie meine Kritik am Konzept der Weltpolitik insb. Höffes (Kohler 2002). 3
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3. Warum wir hoffen dürfen zu können, was wir tun sollen Unter drei Hinsichten ist zusammenzufassen, was die kantische Geschichtsphilosophie auch heute noch relevant erscheinen lässt – und zwar nicht obwohl, sondern weil sie uns hoffen lässt: 1) Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte“ will weder ein praktisches Projekt noch die theoretisch zwingende Konstruktion der dialektischen Logik der Menschheitsgeschichte entwerfen, sondern zunächst nur (und im Rahmen der Annahmen sozialanthropologischer Selbstorganisation) die Frage „Was dürfen wir hoffen?“ beantworten. Diese Antwort sagt nicht, was wir tun sollen, und auch nicht, was geschichtslogisch notwendigerweise geschehen muss bzw. geschehen ist, sondern was – trotz oder besser: gerade wegen der unaufhebbaren Ambiguität der Menschennatur – mit einiger Wahrscheinlichkeit geschehen dürfte. 2) Damit wird die Geschichtsphilosophie in einen genauen Bezug zur praktischen Rationalität und Vernunft, nämlich zur Suche nach der Antwort auf die Frage „Was sollen wir tun?“, gebracht. Die Frage nach der Zukunft, die Frage „Was dürfen wir hoffen?“, setzt die nach dem normativ richtigen und vernünftigerweise Gesollten fort. Die Antwort, die sie findet, lässt erkennen, dass das vernünftigerweise Gesollte jedenfalls keine schlechte Utopie sein muss, sondern eine Unterstützung in der Wirklichkeit – im Evolutionsprozess des intelligenten, also prinzipiell lernfähigen, aber gesellig-ungeselligen Tieres, das der Mensch ist – finden kann. 3) Die kantische Geschichtsphilosophie behandelt die Hoffnung auf die Möglichkeit eines umfassenden Rechts- und Friedenszustandes, d. h. auf äußere Freiheit und minimale Gerechtigkeit unter den Menschen. Damit ist sie dezidiert keine säkularisierte Heilserzählung. In keiner Weise rekurriert sie auf die alles irdisch-endliche Wollen überschießenden Heilsbedürfnisse der Seele. Weil sie von ihrer leitenden Idee her dagegen gefeit ist, zwei menschliche Grundstrebungen, die getrennt gehören, zu verschmelzen; weil sie, mit anderen Worten, das religiös-humane Erlösungsbedürfnis, den Wunsch nach dem ganz Anderen, nach der totalen Heilung, nicht mit dem praktisch-vernünftigen Wunsch nach Verbesserung der Welt unter den anhaltenden Bedingungen irdischer Hinfälligkeit vermischt, steht sie in keinem Moment in der Gefahr, zur latent prophetischen Rede, d. h. zur
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hybriden Geschichtsphilosophie zu werden. Sie bleibt, was sie von Anfang an sein will: keine Apokalyptik, kein Utopismus, sondern die nüchternkritische Reflexion auf die Realitätsbedingungen eines rationalen, gesellschaftlich-normativen Ideals, das zu verfolgen uns ja ohnehin aufgegeben ist, wenn wir nur richtig zu denken beginnen. Kant spricht nicht vom Ende der Geschichte. Was er anvisiert, ist vielleicht ein – von seiner und auch noch von unserer Gegenwart her gesehen – allzu fernes Ziel, das jedoch nicht prinzipiell irreal ist. Absolute Züge besitzt es bloß insofern, als es auf das größtmögliche irdische Maß, nämlich auf die Welt im Ganzen hin konzipiert ist. Kants geschichtsphilosophische docta spes setzt auf eine Rationalität, die von den Menschen nicht mehr verlangt als die Fähigkeit, durch das einigermaßen langfristig reflektierte, wohlverstandene Eigeninteresse zu lernen, sowie auf die „kultivierenden“ und „zivilisierenden“ (vgl. Anm. 3) Effekte durch technischen Fortschritt und die Lasten des Krieges zu setzen.5 „(Die) bessere Zukunft wird […] nicht von einer moralischen oder religiösen Eigenleistung erwartet, sondern von einem die personale Moral entlastenden Weg: dass, die Menschen in ihren Bestrebungen nicht bloß ‚instinctmäßig wie Thiere [handeln] und doch auch nicht wie vernünftige Weltbürger nach einem verabredeten Plane im ganzen verfahren‘ (VIII 17). Dieser Weg wird daher auch vom vielbeschworenen ‚Ende der Heilsgeschichte‘ nicht mitbetroffen.“ (Höffe 2001: 192). In Kants Darstellung bedeutet docta spes niemals Wissen, sondern rational plausible Ausrichtung auf die Möglichkeit des Besseren und Guten.
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In der „Allgemeinen Geschichte“ heißt es: „Die Natur hat also die Unvertragsamkeit der Menschen, selbst der großen Gesellschaften und Staatskörper dieser Art Geschöpfe wieder zu einem Mittel gebraucht, um in dem unvermeidlichen Antagonism derselben einen Zustand der Ruhe und Sicherheit auszufinden; d. i. sie treibt durch die Kriege, durch die überspannte und niemals nachlassende Zurüs tung zu denselben, durch die Noth, die dadurch endlich ein jeder Staat selbst mitten im Frieden innerlich fühlen muss, zu anfänglich unvollkommenen Versuchen, endlich aber nach vielen Verwüstungen, Umkippungen und selbst durchgängiger innerer Erschöpfung ihrer Kräfte zu dem, was ihnen die Vernunft auch ohne so viel traurige Erfahrung hätte sagen können, nämlich: aus dem gesetzlosen Zustande der Wilden hinaus zu gehen und in einen Völkerbund zutreten“ (VIII, 24).
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4. Exkurs: Freud und „die leise Stimme des Intellekts“ Was Kant erwägt, ist nicht einfach die Frucht einer optimistisch gestimmten geschichtlichen Periode am Schluss des 18. Jahrhunderts. Es ist ein Gedankengang, der eine eigene und wiederholbare Logik besitzt. Dazu ein kleiner Exkurs zum Kulturphilosophen Sigmund Freud, der selbst nach den Schrecken des Ersten Weltkrieges auf seine docta spes nicht zu verzichten gewillt ist. „Die Stimme des Intellekts ist leise.“ Der Satz ist berühmt. Aber ohne die Lektüre seines Kontextes nicht wirklich zu verstehen. Darum sei daraus ein Stück zitiert; es findet sich im letzten Kapitel über „Die Zukunft einer Illusion“ von 1927: Wir mögen noch so oft betonen, der menschliche Intellekt sei kraftlos im Vergleich zum menschlichen Triebleben, und recht damit haben. Aber es ist doch etwas Besonderes um diese Schwäche; die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör geschafft hat. Am Ende, nach unzählig oft wiederholten Abweisungen, findet sie es doch. Das ist einer der wenigen Punkte, in denen man für die Zukunft der Menschheit optimistisch sein darf, aber es bedeutet an sich nicht wenig. (Freud 1974: 186)
Die Vernunft, ‚die leise Stimme des Intellekts‘, spricht nicht im Ton eines Befehlshabers, aber sie ist nicht zum Schweigen zu bringen. Und sie spricht solange, als wir überhaupt Menschen („keine Tiere“, sagt Kant; vgl. VIII, 17) und weil wir Menschen – nicht allein Triebwesen – sind. Deshalb wird die Menschheit schließlich auf sie hören – müssen, wollen? So oder so: Dass es geschehen wird, ist Freuds entschiedene Prognose. An ihrer Formulierung sind drei Aspekte bemerkenswert; der sokratische, der anthropologische und der evolutionistische Aspekt. „Sokratisch“ ist die Charakterisierung der „Stimme des Intellekts“ insofern, als sie – wie jenes daimonion, das Sokrates in der „Apologie“ als seinen unbestechlichen Begleiter schildert – eine mahnende, begrenzende, das Triebleben irritierende, kritische Instanz ist; ein Vermögen des Fragens und Innehaltens eher als ein eindeutiger Wegweiser. Das führt zum spezifisch „anthropologischen“ Moment von Freuds These, das sie impliziert, nämlich zur eigentümlichen Vernunftoffenheit der menschlichen Natur. Menschliches Existieren besitzt, trotz aller Triebe, Triebschicksale, unbewusster Strebungen und internalisierter Gewissensmächte, einen Spiel-
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raum für den Zuspruch intelligenter Argumente. Ja, mehr als das: Im Lauf ihrer Entwicklung erhält die menschliche Natur, die von Freud als reell eingeschätzte Chance, friedfertiger zu werden. Damit sind wir beim dritten, dem „evolutionistischen“ Aspekt: Menschliches Leben ist stets Teil und Spiegel einer Gattungsentwicklung. Wie sich im einzelnen Individuum die Errungenschaften der Phylogenese wiederholen, so lässt sich der allgemeine Gattungsprozess als Ausgang und Aufbruch aus kindlich-naiven, unreifen Stadien rekonstruieren, als Fortschritt, und, dafür plädiert Freuds These ohne grundsätzliche Einschränkung, als Entwicklung zu größerer Selbstbestimmung und begründet gewählter Existenzform; alles in den Grenzen der intelligent gestaltbaren Menschennatur. Freud ist offensichtlich kein Vertreter der resignativen und modernitätsskeptischen Annahme, wenn sich stets auch alles ändern könne, so bleibe das Ganze doch im Grunde das Alte – semper aliter, semper idem. Selbst nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges vertritt er keine schwarze Weltsicht und kein kulturpessimistisches Unglücksszenario. Er bleibt, trotz seiner Theorie des Es und des Unbewussten und trotz der Erfahrungen einer chaotischen Zeit, Aufklärer im Sinne Kants, d. h. nicht ein Anhänger des quasi-religiösen Fortschrittsglaubens, jedoch überzeugt von den kollektiven Lernmöglichkeiten der menschlichen Gattung und von den Idealen, für die er die Stimme des Intellekts plädieren hört. Das bestätigt er am Ende seiner Dekonstruktion religiöser Vorstellungen noch einmal: Der Primat des Intellekts liegt gewiss in weiter, weiter, aber wahrscheinlich doch nicht unendlicher Ferne. Und da er sich voraussichtlich dieselben Ziele setzen wird, deren Verwirklichung auch [die christlich-jüdische Religion verspricht] – in menschlicher Ermäßigung natürlich, soweit die äußere Realität, die Ananke, es gestattet –,nämlich die Menschenliebe und die Einschränkung des Leidens, dürfen sie alle, die religiös Gläubigen, wie die Vertreter der intellektuellen Aufklärung gemeinsam erhoffen. (Freud 1974: 186)
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5. Die „Garantie der Natur“ – Kants Vertrauen in den „Handelsgeist“ Die 1784 in der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ von Kant entworfene Theorie sozialer Evolution bildet, wie gesagt, die Grundlage für den 1795 veröffentlichten Entwurf „Zum ewigen Frieden“. In diesem beschäftigt sich Kant u. a. mit der „Bösartigkeit der menschlichen Natur, die sich im freien Verhältniß der Völker unverhohlen blicken läßt“ (VIII, 355), von der er aber gleichwohl annimmt, man werde ihr “einmal Meister […] werden“ (ebd.) können; mindestens insofern, als es um die Beherrschbarkeit der aus dieser Bösartigkeit resultierenden Neigung zum Krieg und zu gegenseitiger Gewalttätigkeit handelt. Denn dafür leiste die „große Künstlerin Natur“ (VIII, 360) (die durch die ambivalente „menschliche Natur“ gleichsam hindurchwirke) „Gewähr“ (ebd.), indem sie die „Völker“ durch den „wechselseitigen Eigennutz“ (VIII, 368) „vereinigt“; Kant erläutert diese „Garantie der Natur“ folgendermaßen: Es ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann, der früher oder später sich jedes Volkes bemächtigt. […] [So] sehen sich Staaten (freilich wohl nicht eben durch Triebfedern der Moralität) gedrungen, den edlen Frieden zu befördern und, wo auch immer in der Welt Krieg auszubrechen droht, ihn durch Vermittelungen abzuwehren, gleich als ob sie deshalb in beständigem Bündnisse ständen. (VIII, 368)
Neben der republikanischen und normativen Forderung nach einer demokratischen Verfassung, die der zweite „Definitivartikel“ stipuliert, verweist Kant auf den liberalen Gedanken der „Händlervernunft“, wenn er die Zukunftschancen einer rationalen Friedensordnung erweisen will. Die dem rationalen Eigeninteresse verpflichtete Händlervernunft dämpft sowohl den kriegslüsternen Heldenmut wie sie die Neigung zu schadenfrohem Destruktionseifer zügelt. Das gilt auf der Ebene des Privatverkehrs und mehr noch im „Verhältniß der Völker“ (VIII, 355): Der wachsende Druck kollektiver Kriegserfahrungen erzeugt die Beobachtung der eignen Handlungschancen der staatlichen Akteure und sorgt – gedrängt von den Imperativen ökonomischer Zivilisierung und befördert vom jeweiligen demokratischen Souverän – für ein System der Friedensvorsorge und der gemeinsamen Kriegsvermeidung, das den realistischerweise vorauszusetzenden Hang zur bösartigen Recht-des-Stärkeren-Logik austariert und dadurch eben das Verhalten
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produziert, welches in den Wirkungen (nicht aber nach seinen Motiven) demjenigen entspricht, das die praktische Vernunft immer schon gefordert hat. Die von Kant mit leicht ironischem Unterton so genannte „Garantie“ der ungesellig-geselligen, aber dem „Handelsgeist“ zuneigenden Natur des Menschen unterstützt also aus sehr naheliegenden Gründen die moralischpraktischen Anstrengungen rechtsvernunftgemäß orientierter Reformpolitik. Die kantische Fortschrittsvermutung rechnet mit beidem: mit der kalkulierenden Rationalität der Einzelnen wie mit der Überlebensorientierung republikanisch-selbstbestimmter Völker; so zwar, dass in der ambivalenten Natur des Menschen (die zugegebenermaßen mit einem „Hang“ zur Bösartigkeit ausgestattet ist) schließlich jene Zivilisierung und Kultivierung der Kräfte zustande kommen kann, die der Macht des Rechts und nicht dem Recht der Macht zur dauerhaften Geltung verhilft. Kants geschichtsphilosophischer Vorschlag besteht in einem Weg zwischen der Natur des Menschen und seiner Freiheit. Sie erinnert an Hegels ‚List der Vernunft‘, zeigt, dass diese nicht so grundlegend neu ist, und bietet sich zugleich als bescheidenere Alternative an. Kant nimmt eine Finalität hinter dem Rücken der handelnden Subjekte, eine finale Naturkausalität, an. In der Mikroperspektive gäbe es durchaus einen gelegentlichen Sinn. Entgegen einem die Wirklichkeit verklärenden Optimismus findet Kant aber ‚auf der großen Weltbühne […] bei hin und wieder anscheinender Weisheit im Einzelnen, doch endlich alles im Großen aus Torheit, kindischer Eitelkeit, oft auch aus kindischer Bosheit und Zerstörungswut zusammengewebt‘. Trotzdem sucht er ‚in diesem widersinnigem Gange menschlicher Dinge‘ eine Naturabsicht zu entdecken und spricht diesem Entdecken ein eigenes Fürwahrhalten zu. Der durch eine ‚Naturabsicht‘ bewirkte Fortschritt ist darum weder Gegenstand einer objektiven Erkenntnis noch einer moralischen Eigenleistung, vielmehr Gegenstand eines ‚mit Grunde hoffen‘ (Höffe 2001: 193)
Kant ist ein dem Vernunftversprechen der Aufklärung folgender Optimist, aber nicht Utopist, sondern eigensinniger Realist. Das zeigt sich nicht zuletzt an der im „Entwurf“ ausgeführten Unterscheidung zwischen dem „moralischen Politiker“ und dem „politischen Moralisten“ (VIII, 372). Im Kontext einer Beschreibung des kantischen Realismus ist bedeutsam, dass die plausible Annahme kollektiver Lernprozesse das Fundament der sich selber auch „realistisch“ nennenden, radikal bellizistischen Argumentation untergräbt. Denn diese behauptet eine angeblich naturbedingte Unverrückbarkeit derjenigen Situation, in welcher das Recht des Stärkeren als zwin-
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gend gegeben erscheint; was letzten Endes eine metaphysische Annahme ist: Nur wenn auf dem Grund aller menschlichen Beziehungen notwendig und unentrinnbar ein mit allen Mitteln geführter Kampf um Macht und Übermacht herrscht, und nur wenn alle Moral, jede Verrechtlichung und Zivilisierung der gesellschaftlichen Wirklichkeit den Schein und Schleier darstellen, die die wahre Realität des ewigen „Naturzustandes“ verdecken, nur dann ist derjenige von Anfang an zum Verlieren verurteilt, der dem Recht des Stärkeren und dessen Gesetz nicht gehorchen will. Wenn das aber falscher Schein ist, dann entpuppt sich dieser „Realist“ nicht bloß als realitätswidriger Pessimist; er wird darüber hinaus als eigentlicher und aktiver Gegner einer möglichen anderen Entwicklung kenntlich. Er verliert die Würde einer moralisch neutralen Position und gerät ins Zwielicht selbstbezogener Interessenpolitik. Was immer er dem kantischen Realisten vorwirft – pro domo zu reden –, richtet sich gegen ihn selber. Statt des üblichen Gegensatzes zwischen „Idealisten“ und „Realisten“ führt Kant darum in den Passagen der „Friedensschrift“, die sich mit der Relation zwischen Weltklugheit und Moral auseinandersetzen, den Unterschied zwischen einerseits dem moralischen, aber weltklugen Politiker und andererseits dem „politischen Moralisten“ ein, der eigentlich aber ein ganz und gar eigennützig handelnder Opportunist ist, ein Mensch, der alle moralischen Ziele und Ansprüche seinem jeweiligen Bedürfnis und Interesse anpasst. Der „moralische Politiker“ jedoch ist kein wirklichkeitsflüchtiger Utopiker, darum weder revolutionär noch nachlässiger Anpasser, sondern geduldiger Reformer: Der moralische Politiker wird es sich zum Grundsatz machen: wenn einmal Gebrechen in der Staatsverfassung oder im Staatenverhältniß angetroffen werden, die man nicht hat verhüten können, so sei es Pflicht […], dahin bedacht zu sein, wie sie […] gebessert, und dem Naturrecht, so wie es in der Idee der Vernunft uns zum Muster vor Augen steht, angemessen gemacht werden könne: sollte es auch [der] Selbstsucht Aufopferung kosten. […] aber daß wenigstens die Maxime der Nothwendigkeit einer solchen Abänderung dem Machthabenden innigst beiwohne, um in beständiger Annäherung zu dem Zwecke (der nach Rechtsgesetzen besten Verfassung) zu bleiben, das kann … [und muss] von ihm gefordert werden. (VIII, 372)
Im Unterschied zum „moralischen Politiker“, der Realität und Normativität verbindet, indem er die „Garantie der Natur“ zum Fortschritt zu nutzen
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weiß, ist der „politische Moralist“ ein im Kern unmoralischer Schuft, der immer wieder die reale Möglichkeit des moralisch Notwendigen seinen eigenen Ansprüchen opfert, weil er behauptet, es gehe – homo homini lupus – gerade dann nicht anders, wenn man ein großes und für alle nützliches Projekt verfolgen wolle. So blockiert er, was tatsächlich real werden könnte: „[Die] moralisirende[n] Politiker […] [verunmöglichen] unter dem Vorwand einer des Guten […] nicht fähigen menschlichen Natur, […] das Besserwerden […] und [verewigen] die Rechtsverletzung“ (VIII, 373). Wer den möglichen Zivilisierungsprozess der Gesellschaft und der Gemeinschaft der Staaten hintertreibt, wer die mögliche Verwirklichung des normativ Gebotenen und Richtigen von vornherein mit Hilfe der bellizistischen Voraussetzung eines ewig-unaufhörlichen andauernden „hobbistischen“ Naturzustandes durchkreuzt, der ist eher Verführer als realistischer Pragmatiker.
6. Vernunft. Hoffnung. Mut Hoffnung, genauer: plausibel begründbare Hoffnung, docta spes mithin, bleibt unabdingbar für die Wirklichkeit der praktischen Vernunft. Denn die praktische Vernunft bezieht sich – im Gegensatz zur theoretischen – nicht auf das, was der Fall ist, sondern auf das, was wir tun sollen; auf das, was sinnvollerweise zu erstreben, faktisch aber kontingent ist. Das Thema der praktischen Vernunft ist das Offene (die Kontingenz) menschlicher Handlungs- und Geschichtsräume. In ihnen vermag man sich nicht zu bewegen, ohne – trotz aller gebotenen Skepsis und lebenskluger Vertrautheit mit dem menschlichen „Hang“ zur Bosheit – einen tragfähigen Boden begründeter Zuversicht zu finden. Praktische Vernunft verlangt darum Hoffnung, spes, die sie als solche nutzen kann, indem sie das Maß der rationalen Plausibilität jener Gründe erkennt, auf die sie vertrauen darf: spes als docta begreift. Kants kritische Philosophie erfüllt diesen Anspruch in verschiedenen Formen. In der zweiten Kritik mit den „praktischen Postulaten“ anders als in der „Kritik der Urteilskraft“, die von der „subjektiven Notwendigkeit, aber objektiven Zufälligkeit“ des transzendentalen Prinzips einer „für uns zweckmäßigen“ Natur ausgeht. Noch einmal anders fasst die kantische Geschichtsphilosophie die Gestalt der für sie nötigen Möglichkeit, mit „Grund zu hoffen“: Die „Idee“ von 1785 und der „Entwurf“ von 1795 operieren in erster Linie mit dem Hinweis auf rationale, dem Selbster-
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haltungsinteresse gehorchende, sowohl individuelle wie kollektive Lernfähigkeiten, die irgendwann, wenngleich erst nach langem Leiden, aus schlechten Erfahrung die richtigen Schlüsse zu ziehen bereit sind. Das sind Überlegungen, die zur Einsicht in die fällige Konstruktion von rechtsstaatlichen Institutionen und international pazifizierenden Bindungen führen. Im Grundkonzept liberal, weil auf die individuelle Vernünftigkeit und die Selbstbestimmung der Einzelnen setzend, verbindet Kants politischer Realismus dezidiert republikanisch-demokratische Elemente mit marktgesellschaftlichen Hypothesen in der Tradition Humes und Adam Smith’; auf diese Weise zu einer Konzeption auf umfassendem Niveau gelangend, die immer noch – und gerade heute – aktuell erscheint.6 Die Gegenwartsbedeutung von Kants Entwurf ist seit dem Epochenbruch von 1989 ein viel diskutiertes Thema geworden (vgl. Kohler 2003), das hier freilich nicht weiter zu behandeln ist. Einen Aspekt des den „Entwurf“ auszeichnenden Vernunftvertrauens möchte ich zum Schluss gleichwohl erwähnen, nämlich die psychopolitisch denkbare Transformation des hobbistischen Naturzustandes zwischen den „Völkern“ zum „Völkerbund“, die der „Entwurf“ als realistische Chance beurteilt. Was Kant am Ende des 18. Jahrhunderts für zwar schwierig und in ferner Zukunft liegend, aber eben für grundsätzlich machbar erachtet, erscheint hundert Jahre später, in der Hochphase des europäischen Nationalismus und Imperialismus, als schlechte Utopie. Am Vorabend des Attentates von Sarajewo bildet letztlich nur der Krieg – die gewaltsame Durchsetzung der angeblich gebotenen Interessen völkischer Kollektivsubjekte – und nicht die auf Handel, Austausch und vertragliche Einigungen setzende Rationalität des „Handelsgeistes“ das Zentrum politischer Tatkraft und Führungskompetenz; es war die Stunde der radikal-metaphysischen Bellizisten. Erst nach „45“ und mit dem Ende des Kalten Krieges konnte mit Aussicht auf Gehör wieder kantisch argumentiert werden. 6
Weder in der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte“ noch im „Entwurf zum ewigen Frieden“ argumentiert Kant im eigentlichen Sinn teleologisch. Den Begriff einer kritischen Teleologie entwickelt erst die „Kritik der Urteilskraft“. Vgl. dazu Höffe 2008, insb. die Beiträge des Herausgebers. Wenn Kant sonst etwa von einer „verborgenen Naturabsicht“ u. ä. spricht, ist das allenfalls als Hinweis auf die Gedanken der Kritik der Urteilskraft zu lesen. Im Übrigen ist immer der Doppelsinn von „Natur“ als Disposition (z. B. des Menschen) und als hypothetische Akteurin zu beachten.
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Dass wir nach den Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa seit bald siebzig Jahren in fast zur Selbstverständlichkeit gewordenen Nach- und Nichtkriegszeiten leben, sollte uns aber nie vergessen lassen, dass die Alternative zum „Völkerbund“, kulturtheoretisch betrachtet, immer – und immer noch – der „Völkerkrieg“ ist. Die „leise Stimme des Intellekts“ mag sich am Schluss laut genug vernehmlich machen, doch solange dieser Schluss etwas anderes ist als das Ende aller Zeiten, kann er durch jene psychischen Mächte, die zum Äußersten, zur Gewalt im Rausch megalomaner Selbstbestätigung, treiben, stets wieder aufgeschoben werden. Die Versuchung zum furchtbaren Extrem, der „Hang zum Bösen“, ist nicht auszurotten. Zur Wirklichkeit vernünftiger Hoffnung gehören darum mehr als nur die Kalküle merkantiler Rationalität: nämlich die Ideale menschenfreundlicher Verständigung und der Mut, für sie einzustehen.
Literatur Dahl, Robert A. (1972), Polyarchy. Participation and Opposition, New Haven/London. Freud, Sigmund (1974), „Die Zukunft einer Illusion“ (1927), in: Studienausgabe Bd. 9. (Hg.) Mitscherlich, Alexander u. a., Frankfurt/M., 139–189. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986), Grundlinien der Philosophie des Rechts (= Bd. 7 der Werke in zwanzig Bänden). (Hg.) Moldenhauer, Eva / Michel, Karl Markus, Frankfurt/M. Höffe, Otfried (1999), Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München. Höffe, Otfried (2001), „Königliche Völker“. Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt/M. Höffe, Otfried (Hg.) (2008), Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft, Berlin (Reihe Klassiker Auslegen 33). Kohler, Georg (2002), „Weltrepublik. Vernunftnotwendigkeit und die Garantie des ewigen Friedens“, in: Weltrepublik. Globalisierung und Demokratie. (Hg.) Gosepath, Stefan / Merle, Jean-Christophe, München, 165–180. Kohler, Georg (2003), „Kagan vs. Kant. Konturen der neuen Welt(un)ordnung“, in: Konturen der neuen Welt(un)ordnung. Beiträge zu einer Theorie der normativen Prinzipien internationaler Politik. (Hg.) Kohler, Georg / Marti, Urs, Berlin, 11–61. Kohler, Georg (2008), „Gemeinsinn oder: Über das Gute am Schönen. Von der Geschmackslehre zur Teleologie“, in: Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft. (Hg.) Höffe, Otfried, Berlin, 137–150.
Teil II Praktische Gültigkeit von Transzendenz
Wie soll nach Kant das, was für die spekulative Vernunft transzendent ist, in der praktischen Vernunft immanent sein?1 Burkhard Nonnenmacher
1. Das Resultat der „Transzendentalen Dialektik“ der „Kritik der reinen Vernunft“ Die Transzendentale Analytik der Kritik der reinen Vernunft beweist nach Kant, „daß alle unsere Schlüsse, die uns über das Feld möglicher Erfahrung hinausführen wollen, trüglich und grundlos sind.“ (III, B 670) Dennoch hat die menschliche Vernunft aber „einen natürlichen Hang“ eben „diese Grenze zu überschreiten“, indem ihr „transscendentale Ideen“ eben so „natürlich“ sind wie dem Verstande die „Kategorien“, nur dies mit dem Unterschied, „daß, so wie die letztern zur Wahrheit, d. i. der Übereinstimmung unserer Begriffe mit dem Objecte, führen, die erstern einen bloßen, aber unwiderstehlichen Schein bewirken, dessen Täuschung man kaum durch die schärfste Kritik abhalten kann“ (ebd.). Das Ziel der Transzen dentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft besteht nun darin, diesen Schein aufzuheben, indem gezeigt wird, dass der genannte natürliche Hang der Vernunft über das Feld möglicher Erfahrung hinauszugehen, sehr wohl „zweckmäßig“ und „mit dem richtigen Gebrauche“ unseres Erkenntnis1
Der Titel des Beitrags ist folgender Aussage Kants im Abschnitt „Über die Postulate der reinen praktischen Vernunft überhaupt“ (V, 132–134) in der Kritik der praktischen Vernunft entlehnt: „Wird nun aber unser Erkenntniß auf solche Art durch reine praktische Vernunft wirklich erweitert, und ist das, was für die speculative transscendent war, in der praktischen immanent? Allerdings, aber nur in praktischer Absicht.“ Ziel des Beitrags ist es, in Grundzügen nachzuzeichnen, wie nach Kant das, was für die spekulative Vernunft transzendent ist, in der praktischen Vernunft immanent sein können soll.
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vermögens „einstimmig“ ist (III, B 671). Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass man die Bedeutung der transzendentalen Ideen nicht darin verkennt, dass man sie „für Begriffe von wirklichen Dingen“ nimmt, sondern begreift, dass die Vernunft sich „niemals geradezu auf einen Gegenstand, sondern lediglich auf den Verstand [bezieht], und vermittelst desselben auf ihren eigenen empirischen Gebrauch“, da sie selbst „keine Begriffe (von Objekten)“ schafft, sondern diese vielmehr nur „ordnet“, um damit „die Einheit des Verstandes wo möglich bis zum Unbedingten fortzusetzen“ (III, B 380), indem sie so wie der Verstand seinerseits „das Mannigfaltige im Objekt durch Begriffe vereinigt“ ihrerseits wiederum „das Mannigfaltige der Begriffe durch Ideen“ vereinigt (III, B 671). Als zentrales Ergebnis der Transzendentalen Dialektik fasst Kant vor diesem Hintergrund im ersten Kapitel ihres Anhangs2 zusammen, dass die transzendentalen Ideen zwar „niemals von constitutivem Gebrauche“ sind, sodass durch sie „Begriffe gewisser Gegenstände gegeben würden“, dennoch aber haben sie „einen vortrefflichen und unentbehrlich nothwendigen“, jedoch nur „regulativen Gebrauch, nämlich den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten, in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einem Punkt zusammenlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee (focus imaginarius) […] ist, […] dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen.“ (III, B 672) Genau deshalb sind nach Kant die transzendentalen Ideen nur genau dann „transzendent in der Anwendung“, wenn ihre Bedeutung dahingehend verkannt wird, dass sie „für Begriffe von Gegenständen genommen werden“ (III, B 671). Einen „guten und folglich immanenten Gebrauch“ (ebd.) kann man ihnen jedoch dann zusprechen, wenn man sie dergestalt als Analoga „von einem Schema der Sinnlichkeit“ begreift, „dass die Anwendung der Verstandesbegriffe auf das Schema der Vernunft“ zwar „nicht eben so eine Erkenntniß des Gegenstandes selbst ist (wie bei der Anwendung der Kategorien auf ihre sinnliche Schemate)“ wohl aber „eine Regel oder Princip der systematischen Einheit alles Verstandesgebrauchs“ (III, B 693). Gemäß dem ersten Kapitel des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik gilt deshalb, dass von einer objektiven Realität der transzendentalen Ideen zwar niemals in der direkten Weise die Rede sein kann, dass mittels ihnen Vgl. „Von dem regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft.“ III, B 670 ff.
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unsere Erkenntnis über Gegenstände möglicher Erfahrung hinaus erweitert wird. Gleichwohl kann ihnen nach Kant im entwickelten Sinne aber eine indirekte objektive Realität zugeschrieben werden und zwar das mit folgender Begründung: Da jeder Grundsatz, der dem Verstande durchgängige Einheit seines Gebrauchs a priori festsetzt, auch, obzwar nur indirect, von dem Gegenstande der Erfahrung gilt: so werden die Grundsätze der reinen Vernunft auch in Ansehung dieses letzteren objective Realität [kurs. v. B. N.] haben; allein nicht um etwas an ihnen zu bestimmen, sondern nur um das Verfahren anzuzeigen, nach welchem der empirische und bestimmte Erfahrungsgebrauch des Verstandes mit sich selbst durchgängig zusammenstimmend werden kann, dadurch daß er mit dem Princip der durchgängigen Einheit so viel als möglich in Zusammenhang gebracht und davon abgeleitet wird. (III, B 693 f.)
Was heißt das nun aber genau, den transzendentalen Ideen darüber eine objektive Realität zuzusprechen, dass sie dazu beitragen die „Vernunfteinheit“ (vgl. III, B 692 f.) als systematische Einheit unter bestimmten Prinzipien zu realisieren? Im zweiten Kapitel des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik3 erläutert Kant diese Frage weiter, – und zwar das unter dem Begriff einer sogenannten transzendentalen Deduktion der Ideen (vgl. III, B 692 f.). Es heißt dort: Wenn man nun zeigen kann, daß, obgleich die dreierlei transscendentalen Ideen (psychologische, kosmologische und theologische) direct auf keinen ihnen correspondirenden Gegenstand und dessen Bestimmung bezogen werden, dennoch alle Regeln des empirischen Gebrauchs der Vernunft unter Voraussetzung eines solchen Gegenstandes in der Idee auf systematische Einheit führen und die Erfahrungserkenntniß jederzeit erweitern, niemals aber derselben zuwider sein können: so ist es eine nothwendige Maxime der Vernunft, nach dergleichen Ideen zu verfahren. Und dieses ist die transscendentale Deduction aller Ideen der speculativen Vernunft, nicht als constitutiver Principien der Erweiterung unserer Erkenntniß über mehr Gegenstände, als Erfahrung geben kann, sondern als regulativer Principien der systematischen Einheit des Mannigfaltigen der empirischen Erkenntniß überhaupt, welche dadurch in ihren eigenen Grenzen mehr angebauet und berichtigt wird, als es ohne solche Ideen, durch den bloßen Gebrauch der Verstandesgrundsätze, geschehen könnte. (III, B 699) 3
Vgl. „Von der Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft“, III, B 697 ff.
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Eine indirekte objektive Realität der Ideen besteht nach Kant damit also in der Tatsache, dass es eine notwendige Maxime der Vernunft ist, diejenigen Ideen, die dazu dienen, die Erfahrungserkenntnis systematisch zu ordnen und hierin zu erweitern, als regulative Prinzipien der systematischen Einheit des Mannigfaltigen der empirischen Erkenntnis anzusetzen und damit nach diesen Ideen zu verfahren, i. e. darin Erkenntnisse und Begriffe zu ordnen, dass unter der Leitung dieser Ideen bestimmte Urteilsprinzipien in einheitsstiftender Funktion in Kraft treten können. Exemplifiziert findet sich diese Verfahrensweise kurz zuvor bereits am „Begriff einer höchsten Intelligenz“, dessen objektive Realität eben gerade nicht darin bestehen soll, „daß er sich geradezu auf einen Gegenstand bezieht“, indem dieser Begriff lediglich ein nach Bedingungen der größten Vernunfteinheit geordnetes Schema von dem Begriffe eines Dinges überhaupt [sein soll], welches nur dazu dient, um die größte systematische Einheit im empirischen Gebrauche unserer Vernunft zu erhalten, indem man den Gegenstand der Erfahrung gleichsam von dem eingebildeten Gegenstande dieser Idee als seinem Grunde oder Ursache ableitet. (III, B 698, vgl. III, B 599 ff.)
In der Tat ist damit aber auch bereits das eingangs genannte Ziel der Trans zendentalen Dialektik erreicht, nämlich zu zeigen, dass der natürliche Hang der Vernunft über das Feld möglicher Erfahrung hinauszugehen, sehr wohl „zweckmäßig“ und „mit dem richtigen Gebrauche“ unserer Erkenntnisvermögens „einstimmig“ ist (III, B 671). Denn mit dem skizzierten Verständnis der transzendentalen Ideen als regulativer Prinzipien der systematischen Einheit des Mannigfaltigen der empirischen Erkenntnis ist nun eben gezeigt, wie es möglich ist, ihre Bedeutung nicht darin zu verkennen, dass man sie „für Begriffe von wirklichen Dingen“ nimmt, sondern diese Bedeutung vielmehr allererst darin zu realisieren, dass man begreift, wozu diese in der Idee gegebenen Gegenstände (vgl. III, B 698) dienlich sind und dienlich sein sollen, nämlich dazu, die Einheit der Vernunft – hier vorerst nur in ihrem theoretischen Gebrauche – in ihrer Realisierung voranzutreiben und zu befördern. Konzediert man das, ist damit – nochmals im Blick auf die Idee Gottes gesprochen – erstens festzuhalten, dass die objektive Realität der Idee „Gott“ z. B. mit Blick auf eine physikotheologische Ordnung empirischer Einzelurteile lediglich darin besteht, dass im Sinne der Vernunfteinheit
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eben gilt: „die Dinge der Welt müssen so betrachtet werden, als ob sie von einer höchsten Intelligenz ihr Dasein hätten“ (III, B 697 f.). Und auf solche Weise ist die Idee nach Kant deshalb eigentlich auch „nur ein heuristischer und nicht ostensiver Begriff und zeigt an, nicht wie ein Gegenstand beschaffen ist, sondern wie wir unter der Leitung desselben die Beschaffenheit und Verknüpfung der Gegenstände der Erfahrung überhaupt suchen sollen“ (III, B 698 f.). Erst wenn das begriffen ist, ist es zweitens dann auch möglich, „das Resultat der ganzen transzendentalen Dialektik deutlich vor Augen“ zu stellen und „die Endabsicht der Ideen der reinen Vernunft, die nur durch Mißverstand und Unbedeutsamkeit dialektisch werden, genau [zu] bestimmen“ (III, B 708 f.). Denn dieses Resultat wird nach Kant bekanntlich wie folgt zusammengefasst: Die reine Vernunft ist in der That mit nichts als sich selbst beschäftigt und kann auch kein anderes Geschäfte haben, weil ihr nicht die Gegenstände zur Einheit des Erfahrungsbegriffs, sondern die Verstandeserkenntnisse zur Einheit des Vernunftbegriffs, d. i. des Zusammenhanges in einem Princip, gegeben werden. Die Vernunfteinheit ist die Einheit des Systems [kurs. v. B. N.], und diese systematische Einheit dient der Vernunft nicht objectiv zu einem Grundsatze, um sie über die Gegenstände, sondern subjectiv als Maxime, um sie über alles mögliche empirische Erkenntniß der Gegenstände zu verbreiten (III, B 708)
Hiermit beende ich den ersten, auf die Transzendentale Dialektik der Kritik der reinen Vernunft zurückblickenden Teil meiner Ausführungen und wende mich nun Kants Postulatenlehre und seinem Begriff der Erwei terung der reinen Vernunft in praktischer Absicht (vgl. V, 134 ff.) in der Kritik der praktischen Vernunft zu.
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2. Ein praktisches Interesse an der objektiven Realität der Ideen Das von Kant zunächst im Kanon der reinen Vernunft4in der ersten Kritik entfaltete und dann in der zweiten und dritten Kritik weiter entwickelte praktische Interesse an der objektiven Realität der Ideen, respektive an einer moralisch gesicherten Gewißheit5 über das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele scheint freilich ein ganz anderes als das zuletzt entwickelte Interesse der Vernunft zu sein. Denn wie Kant im dritten Abschnitt des Kanon-Kapitels unmissverständlich deutlich macht, geht es dem moralischen Glauben eben genau nicht nur um die im Sinne eines „Leitfaden[s] der Naturforschung“ gemachte heuristische Voraussetzung einer „höchste[n] Intelligenz“ (III, B 854), die als bloß doktrinaler Glaube stets „etwas Wankendes in sich“ (III, B 855) behält. Nein, vielmehr soll in der Moraltheologie „Gewißheit“ über die Existenz Gottes bestehen und „Sicherheit“ darüber, dass den moralischen Glauben an das Dasein Gottes genau „nichts wankend machen“ kann (III, B 856). Doch wie kommt Kant überhaupt dazu, nach der „Vereitelung aller ehrsüchtigen Absichten einer über die Grenzen aller Erfahrung hinaus herumschweifenden Vernunft“ (III, B 856) im Kanon-Kapitel dennoch die Frage zu stellen, ob Vernunft „aus dem Gesichtspunkte ihres praktischen Interesse[s]“ nicht doch genau „dasjenige gewähren könne, was sie uns in Ansehung des speculativen ganz und gar abschlägt“ (III, B 832)? Freilich kann hier nicht ausführlich auf die Frage nach der moralisch-praktischen Motivation der Postulatenlehre eingegangen werden. Gleichwohl sei dieser Punkt im Folgenden aber doch soweit skizziert, wie dies im Sinne des Beitragstitels notwendig ist, also soweit, wie die Frage nach dem „Wie?“ eine Skizzierung des „Warums?“ impliziert. Vorbereitet durch die Kapitel Von dem Interesse der Vernunft bei diesem ihrem Widerstreite (III, B 490 ff.) und Kritik aller Theologie aus specu lativen Principien der Vernunft (III, B 695 ff.) nimmt Kants Beantwortung dieser Frage ab dem zweiten Abschnitt des Kanon-Kapitels ihren Hier freilich bereits aufbauend auf das wichtige Kapitel „Von dem Interesse der Vernunft bei diesem ihrem Widerstreite“ (III, B 490 ff.) in der Antinomie der rei nen Vernunft. 5 Vgl. III, B 857. 4
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Ausgang vom Begriff des höchsten Guts, das sich in der Sprache der Kritik der praktischen Vernunft darin bestimmt findet, „[d]aß Tugend (als die Würdigkeit glücklich zu sein)“ zwar „die oberste Bedingung“ von allem uns Wünschenswerten und somit „das oberste Gut“ sein muss. Nicht soll Tugend aber bereits „das ganze und vollendete Gut“ (V, 110 f.) sein, sondern das soll allererst „Glückseligkeit“ sein, insofern diese „ganz genau in Proportion der Sittlichkeit (als Wert der Person und deren Würdigkeit glücklich zu sein) ausgeteilt“ ist, was dann als das „höchste Gut“ einer Welt bezeichnet wird (ebd.), in der es zwischen Tugend und Glückseligkeit so sorgfältig zu unterscheiden gilt, dass gerade das ausgeschlossen ist, was Kant Stoikern und Epikuräern gleichermaßen vorwirft, nämlich diese Differenz vergewaltigend aufzuheben (vgl. V, 111 f.). Im Ausgang von dieser Bestimmung des Begriffs des höchsten Guts, auf dessen Entwicklungsgeschichte in Kants Werk ich hier nicht näher eingehen kann (vgl. hierzu u. a. Düsing 1971 u. Albrecht 1978, 43–49), besteht Kants Postulatenlehre nun im Versuch, darzulegen, dass es erstens Voraussetzungen gibt, unter denen wir uns allein das höchste Gut als „Zusammenstimmung des Reichs der Natur mit dem Reiche der Sitten“ denken können, und dass zweitens das Erfülltsein dieser Voraussetzungen in der Form theoretischer Sätze zu setzen „unabtrennlich zum praktischen Inte resse der reinen Vernunft“ gehört (V, 121). Ein „Postulat der reinen praktischen Vernunft“ nennt Kant vor diesem Hintergrund „einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz […], sofern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt“ (V, 122). Weshalb aber soll ein theoretischer Satz einem a priori gültigen praktischen Gesetze unzertrennlich anhängen? Freilich darf Kants Bestimmung des höchsten Guts keinesfalls so verstanden werden, als wolle sie im Sinne einer sich für das Bedürfnis nach endlicher Glückseligkeit lohnenden Sittlichkeit zusätzliche Stütztriebfedern für eine Befolgung des Sittengesetzes ins Feld führen. Will sie dies nicht, was Kant spätestens ab der zweiten Kritik mit Nachdruck betont (vgl. u. a. V, 125 f.; V 450 f.; VI, 4), dann stellt sich jedoch die Frage, wie Kants Postulatenlehre denn dann zu verstehen ist, sodass deutlich wird, nicht nur dass, sondern warum es nach Kant nicht zur, sondern durch Sittlichkeit notwendig ist, die Glückseligkeit aller vernünftigen Weltwesen gemäß ihrer Moralität anzunehmen (vgl. V, 451 Anm.).
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Im Weiteren möchte ich hinsichtlich dieser Frage mit Kant von der Annahme ausgehen, dass es in praktischer Rücksicht genau deshalb sinnvoll erscheint, bestimmte theoretische Sätze für wahr zu halten, weil wir uns in einer im Dienste des praktischen Vernunftgebrauchs erfolgenden Taxierung unserer Endlichkeit davon überzeugen können, daß die theoretische Unentschiedenheit über den Wahrheitsgehalt bestimmter theoretischer Sätze in der Tat unvermeidlich einen der moralischen Gesinnung widerfahrenden Abbruch nach sich ziehen muss (vgl. auch Nonnenmacher 2010). Auf die Methodenprobleme solcher in den Dienst der Praxis gestellten technisch-praktischen Reflexionen kann in diesem Rahmen jedoch freilich nicht näher eingegangen werden. Wir setzen hier ihre Gültigkeit einfach voraus und ein Verweis auf die auf Spinoza zielende Schlussbemerkung des § 87 der Kritik der Urteilskraft möge hier genügen, in der Kant argumentiert, dass bei einem rechtschaffenen Manne, der sich dennoch moralisch verpflichtet fühlt, auch wenn er von der Realisierbarkeit des höchsten Guts theoretisch nicht überzeugt ist, eben diese theoretische Unsicherheit in praktischer Rücksicht gerade nicht ohne eine Schwächung gegenüber dem Gefühl der Achtung fürs Gesetz und hiermit nicht „ohne einen der moralischen Gesinnung widerfahrenden Abbruch“ geschehen kann. Daher wird eben daraus für jenen, der dies reflektiert und „dem Rufe seiner sittlichen inneren Bestimmung anhänglich bleiben“ will, gefolgert: „so muß er, welches er auch gar wohl thun kann, indem es an sich wenigstens nicht widersprechend ist, in praktischer Absicht, d. i. um sich wenigstens von der Möglichkeit des ihm moralisch vorgeschriebenen Endzwecks einen Begriff zu machen, das Dasein eines moralischen Welturhebers, d. i. Gottes, annehmen.“ (V, 452 f.). Hiermit ist aber auch bereits zur Frage übergleitet, wie dieses Fürwahrhalten selbst zu beschreiben ist? Einer Antwort auf diese Frage möchte ich mich im Folgenden unter der These annähern, dass in Kants Vernunftglauben die theoretischen Sätze „Die Seele ist unsterblich“ und „Es ist ein Gott“ genau dann als praktisch wahre Sätze gesetzt und begriffen sind, wenn a) die praktische Relevanz der Assertion (vgl. V, 5) dieser Sätze reflektiert ist und zusätzlich b) eben diese Reflexion bereits als selbst am Ort der Praxis stattfindende Reflexion begriffen wird. – Sollte dies richtig sein, bestünde ein Kernpunkt der Argumentation der Postulatenlehre darin, dass der praktische Glaube nicht nur die Bedeutung einer bestimmten theoretischen Weltsicht für die Praxis reflektiert – sozusagen selbst technisch-praktisch
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beobachtend und ganz teilnahmslos –, sondern diese Bedeutung darüber hinaus auch bereits am Ort dessen, wofür sie Zweck ist, denkt, nämlich moralisch-praktisch am Ort der unbedingt gebietenden Praxis selbst.6 Die unzertrennliche Anhänglichkeit bestimmter theoretischer Sätze an ein a priori unbedingt geltendes praktisches Gesetz, die Kants allgemeine Definition eines Postulats der reinen praktischen Vernunft nennt (vgl. V, 122), bestünde demnach – so meine These – darin, dass die Reflexion der Zweckmäßigkeit einer bestimmten Weltsicht für die Praxis vom Standpunkt des Zwecks aus, respektive im Interesse der Praxis gesehen, gerade als die Einnahme dieser Weltsicht selbst verstanden werden muss. – Doch was heißt das nun wiederum genau? – Zur Beantwortung dieser Frage soll nun zunächst einmal geklärt werden, was für eine Referenz-Struktur Kants Vernunftglaube nach dem bislang Entwickelten eigentlich thematisiert.
3. Vom Fürwahrhalten aus einem Bedürfnis der reinen Vernunft7 Ebenfalls im bereits oben erwähnten Kapitel Kritik aller Theologie aus speculativen Principien der Vernunft (III, B 659 ff.) sagt Kant, dass „der theoretische Gebrauch der Vernunft derjenige [ist], durch den ich a priori (als nothwendig) erkenne, daß etwas sei; der praktische aber, durch den a priori erkannt wird, was geschehen solle“ (III, B 661). Nach dem bislang Entwickelten scheint Kants Postulatenlehre nun jedoch wesentlich von dem Gedanken geprägt zu sein, dass die Beantwortung der Frage nach dem, was ist, qua praktischem Glauben selbst als ein Moment der Beantwortung von dem, was sein soll, verstanden wird.8 Denn wenn es der dem Sittengesetz Zur Unterscheidung von „moralisch-praktisch“ und „technisch-praktisch“ vgl. V, 172. 7 Vgl. hierzu das gleichnamige Kapitel in der Kritik der praktischen Vernunft, V, 152 ff. 8 Vgl. in diesem Zusammenhang auch im Kanon-Kapitel der ersten Kritik Kants Aussage im Blick auf die Fragen, „Was kann ich wissen?“, „Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“: „Die erste Frage ist bloß speculativ. […] Die zweite Frage ist bloß praktisch. […] Die dritte Frage ist praktisch und theoretisch zugleich“, III, B 833. 6
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unterstellte Wille selbst ist, der sich um die Realisierbarkeit des Gesollten in vernünftigen, von ihren theoretischen Weltvorstellungen aber affizierbaren Wesen sorgt und die jeweiligen Weltvorstellungen deshalb daraufhin taxiert, ob sie der moralischen Gesinnung zu- oder abträglich sind, dann ergibt sich folgende Konstellation: Die Assertion des theoretischen Satzes scheint unmittelbar a) einen bestimmten theoretischen Sachverhalt zu referieren. Diese Assertion selbst findet jedoch b) nur statt, indem sie als eine bestimmte Wirklichkeit von Praxis begriffen wird. Das aber bedeutet dann c), dass diese Assertion als theoretisch fremdbezügliche Aussage gerade selbst als ein praktischer Selbstbezug, bzw. als ein Moment praktischer Selbstbestimmung zu verstehen ist. Ganz in diesem Sinne betont Kant deshalb dann auch in der Vorrede der Kritik der praktischen Vernunft, dass es qua praktischem Postulat genau nicht um eine „in Ansehung des Objects erkannte Nothwendigkeit“ geht, sondern vielmehr nur um eine „in Ansehung des Subjects zu Befolgung ihrer objectiven, aber praktischen Gesetze nothwendige Annehmung“ eines Objekts (V, 11 Anm.; vgl. zudem XXI, 81 sowie Förster 1998). Als ein wesentliches Ergebnis der Analyse der Referenz-Struktur des moralischen Glaubens zeigt sich damit also die Tatsache, dass in ihm eine Bezugnahme auf etwas Anderes in erster Ordnung in zweiter Ordnung als Selbstbezugnahme begriffen wird und dabei dieser zweiten Ordnung eine Begründungsfunktion gegenüber der ersten Ordnung zugesprochen wird. Kants berühmte Aussage der ersten Kritik „nicht es ist moralisch gewiß, sondern ich bin moralisch gewiß, daß ein Gott ist etc.“ sowie deren Erläuterung, nämlich dass „der Glaube an einen Gott und eine andere Welt […] mit meiner moralischen Gesinnung so verwebt [ist], daß, so wenig ich Gefahr laufe, die letztere einzubüßen, eben so wenig besorge ich, dass mir der erste jemals entrissen werden könne“ (III, B 857), scheinen damit nun aber auch begreifbar zu werden. Denn nach dem oben Entwickelten besteht diese Verwobenheit eben genau darin, dass die assertorische Artikulation des theoretischen Satzes über die Existenz Gottes als eine praktische Tat verstanden wird, die a) das Setzen des theoretischen Satzes als ein Moment praktischer Selbstbestimmung setzt, b) in diesem Verständnis den einfachen theoretischen Satz setzt und c) damit in Einem dessen Inhalt und einem Moment praktischer Selbstbestimmung Wirklichkeit zu verleihen glaubt.
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4. Die objektive Realität der Ideen in der Dialektik des theoretischen und des praktischen Gebrauchs der Vernunft Kehren wir jetzt noch einmal zu den im ersten Teil angestellten Überlegungen zurück und vergleichen das dort Gesagte mit dem inzwischen Entwickelten. In der Tat scheint das skizzierte praktische Interesse an der objektiven Realität der Ideen eine große Ähnlichkeit zum im ersten Teil skizzierten Begriff einer sogenannten indirekten objektiven Realität der Ideen aufzuweisen. Denn eben so, wie es im theoretischen Gebrauch der Vernunft darum geht, mittels der Voraussetzung bestimmter Gegenstände in der Idee die Einheit der Vernunft in ihrem theoretischen Gebrauche voranzutreiben, bzw. „vermittelst“ transzendentaler Ideen „alle ihre Erkenntnisse in ein System [zu] bringe[n]“ (III, B 394), so geht es im praktischen Vernunftglauben darum, die Einheit der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch und d. h. ihr Gesolltes darin voranzubringen, dass im Sinne der Postulatenlehre der moralischen Gesinnung abträgliche Weltvorstellungen mittels der Voraussetzung der objektiven Realität bestimmter Ideen aufgehoben werden. Beide Male also – sowohl im theoretischen als auch im praktischen Vernunftgebrauch – fungiert die Vorstellung von bestimmten Ideen und deren Realität lediglich als ein Mittel der Ausübung, des Gebrauchs und der Tätigkeit der „mit nichts als sich selbst beschäftigt[en]“ und das Vermögen der Einheit unter Prinzipien (vgl. III, B 359; B 708; V, 120) darstellenden einen Vernunft. Besteht damit aber überhaupt noch ein Anlass zur meinem Beitrag seinen Titel gebenden Aussage der Kritik der praktischen Vernunft, nämlich dass qua moralischem Glauben das, „was für die speculative [Vernunft] transscendent war, in der praktischen immanent“ wird (V, 133)? Oder ist der von Kant in diesem Zusammenhang behauptete praktisch begründete „Zuwachs“ unserer „theoretischen Erkenntnis“ (!) und die Behauptung einer praktisch motivierten „Erweiterung der theoretischen Vernunft“ (V, 134) vor dem Hintergrund dieses Strukturvergleichs nicht schlichtweg unnötig?
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Denn, könnte man nicht sagen, auch wenn es der Praxis nicht nur um die Vorstellung bestimmter Gegenstände in der Idee geht, sondern vielmehr um die Vorstellung der objektiven Realität von Ideen, so sind diese Vorstellungen in Wahrheit doch selbst nur praktisch-pragmatisch nützliche Fiktionen, die selbst als Erkenntnisse zu bezeichnen die Bedeutung der transzendentalen Ideen abermals grundlegend verkennen würde, indem so weiter die Ideen, respektive das Postulat ihrer objektiven Realität, für Begriffe von wirklichen Dingen, bzw. von wirklichen Sachverhalten genommen werden würden? Wäre dies richtig, käme Kants Postulaten der praktischen Vernunft somit ein ganz ähnlicher Charakter wie jener heuristische Charakter zu, den Kant den Ideen im theoretischen Gebrauch der Vernunft zuspricht. In der Tat soll sich nach Kant der nicht nur doktrinale, sondern moralische Glaube9 nun jedoch genau nicht mit einem solchen Szenario zufriedengeben, und zwar das aus dem ganz einfachen Grund, daß es bei ihm folgende zusätzliche Schwierigkeit zu berücksichtigen gilt: Im Falle einer zum bloßen „Leitfaden der Naturforschung“ gemachten Physikotheologie (III, B 854) wird die Vereinheitlichung und Erweiterung empirischer Erkenntnisse unter dieser Idee nicht dadurch unterminiert, dass über die objektive Realität dieser Idee letztlich Ungewissheit besteht. Im Falle des moralischen Glaubens besteht der springende Punkt jedoch genau darin, ein theoretisches Wanken hinsichtlich der Frage nach der objektiven Realität der Idee Gottes aufgrund seiner Abträglichkeit für die moralische Gesinnung aufzuheben. Praktisch gerechtfertigt glauben zu dürfen, ist deshalb – wie Kant seit dem Orientierungsaufsatz und dann in der zweiten Kritik weiter entwickelt (vgl. VIII, 136 ff.; V, 125 f.) – genau auch nie nur im Sinne einer bloßen Befugnis, sondern im Sinne eines praktischen Bedürfnisses zu verstehen, das den praktischen Glauben zu einer moralischen Notwendigkeit (vgl. V, 125; V, 451 f. Anm.) macht, – vorausgesetzt freilich, dass qua praktischem Glauben überhaupt und tatsächlich ein unserer moralischen Gesinnung abträgliches Wanken über die Frage nach dem Dasein Gottes und der Unsterblichkeit der Seele aufgehoben werden kann. Wie aber sollte dieses Wanken aufgehoben werden können, wenn die Postulate der praktischen Vernunft in letzter Konsequenz doch nur als 9
Zur Unterscheidung von doktrinalem und moralischem Glauben vgl. III, B 833 ff.
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praktisch nützlich sein sollende Fiktionen zu verstehen wären? Denn letztlich wäre qua praktischem Glauben so gerade gar nichts gewonnen und Kant hätte es schlicht bei der Dialektik der ersten Kritik und der Analytik der zweiten Kritik bewenden lassen können.
5. Kants Lehre vom Primat der praktischen Vernunft Kants Behauptung einer Erkenntniserweiterung der theoretischen Vernunft in praktischer Absicht (V, 134) und seine eben hierin konkretisierte Lehre von einem sogenannten Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der speculativen (vgl. V, 119 ff.) scheint vor dem Hintergrund dieser Überlegung also nur konsequent zu sein. Denn allein mit dieser Lehre kann das geleistet werden, was im Interesse der praktischen Vernunft an der objektiven Realität der Ideen qua praktischem Glauben geleistet werden soll, weil andernfalls ein Widerstreit zwischen theoretischer Unentschiedenheit und praktischer Präferenz bestünde, womit a) das praktische Interesse der Vernunft an der objektiven Realität bestimmter Ideen weiter nur benannt, jedoch keinesfalls selbst entfaltet wäre und zudem b) nach Kant ein handfester „Widerstreit der Vernunft mit ihr selbst“ (V, 121) entstünde, der jedoch c) genau demjenigen, „was zur Möglichkeit eines Vernunftgebrauchs überhaupt erforderlich ist“ widersprechen würde, nämlich der Bedingung, dass „die Prinzipien und Behauptungen derselben [der Vernunft] einander nicht widersprechen“ (V, 120). Hiermit ist aber auch bereits direkt zur Frage übergeleitet, wie es nach Kant denn nun möglich sein können soll, dass beiden Seiten, i. e. der Kritik der spekulativen Vernunft und dem Interesse der praktischen Vernunft ihr Recht zukommt. Denn nach dem eben Gesagten wird eine Lehre vom Primat des Praktischen gerade nicht allein darin bestehen können, dass schlicht zentrale Ergebnisse der theoretischen Vernunftkritik im Dienste der Praxis wiederaufgehoben werden, weil so nicht zuletzt ein Widerstreit der Vernunftkritik mit sich selbst entstünde, den Kant freilich eben so wenig will, wie er dem Begriff der Vernunft als dem Vermögen der Einheit unter Prinzipien widerspricht. Kants Lehre vom Primat des Praktischen leistet deshalb also allererst dann dasjenige, was sie leisten soll, nämlich einen Widerstreit der Vernunft mit sich selbst zu verhindern, wenn mit ihr gerade nicht nur eine allge
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meine Vorfahrtsregel für den praktischen Gebrauch der Vernunft aufgestellt wird, sondern vielmehr der Primats-Gedanke so ausbuchstabiert wird, dass mit ihm gerade keine Unterwerfung (vgl. III, B 766 f. sowie Hutter 2003, 153 f.) der theoretischen Vernunft unter die praktische Vernunft stattfindet, sondern vielmehr eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von theoretischer und praktischer Vernunftkritik selbst. Das jedoch wiederum bedeutet, dass in Kants Auseinandersetzung mit der Immanentwerdung von vormals Transzendentem unter der Überschrift eines sogenannten praktischen Vernunftglaubens spätestens jetzt keinesfalls mehr nur ein besonderes Lehrstücks seiner praktischen Philosophie gesehen werden kann, sondern darüber hinaus vielmehr auch ein die Architektonik des gesamten Kantischen Systems reflektierendes Lehrstück gesehen werden muss. Wir werden hierauf im letzten Teil gleich noch ausführlicher eingehen. Fragen wir jetzt aber zunächst einmal im Sinne des Beitragstitels nach den Eckdaten einer solchen Erkenntniserweiterung der reinen Vernunft in praktischer Absicht.
6. Spekulative Einschränkung der reinen Vernunft und praktische Erweiterung derselben Zentral in Kants Beantwortung der Frage „Wie eine Erweiterung der reinen Vernunft in praktischer Absicht, ohne damit ihr Erkenntniß als speculativ zugleich zu erweitern, zu denken möglich sei?“ (vgl. das gleichnamige Kapitel V, 134 ff.) ist die Entfaltung von folgenden Aussagen: 1. Die Erweiterung unserer Erkenntnis in praktischer Absicht (V, 130) ist in der Tat eine „Erweiterung der theoretischen Vernunft“ (V, 134) und bedeutet hiermit, dass „die theoretische Erkenntnis der reinen Vernunft allerdings einen Zuwachs bekommt“ (ebd.), denn eben das ist notwendig, soll es nicht nur bei bloß pragmatisch-nützlichen Fiktionen in Analogie zum bloß heuristisch verfahrenden doctrinalen Glauben sein Bewenden haben (vgl. Höffe 1996, 249). 2. Die genannte Erweiterung ist aber „keine Erweiterung der Speculation“ (V, 134). Das heißt „in theoretischer Absicht“ soll aus ihr gerade kein positiver Gebrauch gemacht werden können (ebd.). Nämlich das, indem dieser Zuwachs nach Kant lediglich darin bestehen soll, dass die für die
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theoretische Erkenntnis der reinen Vernunft nur problematischen, i. e. bloß denkbaren Begriffe, „jetzt assertorisch für solche erklärt werden, denen wirklich Objecte zukommen“ (V, 134). Konkret heißt das, dass sich die „Erweiterung der theoretischen Vernunft“ damit auf ein bloßes „Dass“ beschränken soll, also nur darauf „daß jene Begriffe real sind und wirklich ihre (möglichen) Objekte haben“, ohne dass damit „Anschauungen derselben“ gegeben würden, woraus sich allererst synthetische Sätze ziehen ließen, die dann in der Tat auch einer „Erweiterung der Speculation“ gleichkämen (ebd.). Auf diese Weise, dass es hier „nicht um die theoretische Erkenntnis der Objekte“ der genannten Ideen geht, sondern vielmehr „nur darum, dass sie überhaupt Objekte haben“ (vgl. V, 136), versucht Kant also den Primat des Praktischen gerade nicht im Sinne einer Unterwerfung, sondern vielmehr im Sinne der Gerichtshofmethaper zu konkretisieren und damit beiden Seiten ihr Recht zu geben, i. e. der Kritik des theoretischen Vernunftgebrauchs als Einschränkung der spekulativen Vernunft auf der einen Seite sowie der Kritik des praktischen Vernunftgebrauchs in ihrer Auseinandersetzung mit einem praktischen Interesse an der objektiven Realität der Ideen auf der anderen Seite. Gesteht man Kant dieses Szenario als einen prima facie möglichen Mittelweg zwischen einer nicht aufzuhebenden Einschränkung der spekulativen Vernunft auf der einen Seite und einem nicht abzuweisenden praktischen Interesse der Vernunft auf der anderen Seite zu, bleibt damit nun aber noch eine wichtige Frage übrig, nämlich die, wer oder was es denn ist, der oder das die Vernunft mittels spekulativer Einschränkung bei gleichzeitiger praktischer Erweiterung „allererst in dasjenige Verhältnis der Gleichheit [bringt], worin Vernunft überhaupt zweckmäßig gebraucht werden kann“ (V, 141). Denn in der Tat ist ja nicht zu vergessen, dass der nun skizzierte Zuwachs selbst von irgendeiner Warte aus konstatiert und entschieden werden muss, womit abermals der systemarchitektonische Zug des von Kant in der ersten Kritik nicht von ungefähr unmittelbar vor dem Architektonik-Kapitel entwickelten Vernunftglaubens zum Ausdruck kommt, weshalb es dann auch in der Vorrede zur zweiten Kritik heißt: Der Begriff der Freiheit, so fern dessen Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist, macht nun den Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der speculativen Vernunft
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aus, und alle andere Begriffe (die von Gott und Unsterblichkeit), welche als bloße Ideen in dieser ohne Haltung bleiben, schließen sich nun an ihn an und bekommen mit ihm und durch ihn Bestand und objective Realität, d. i. die Möglichkeit derselben wird dadurch bewiesen, dass Freiheit wirklich ist; denn diese Idee offenbart sich durchs moralische Gesetz. (V, 3 f.)
Kants Bestimmung der genannten, jetzt noch näher zu konkretisierenden Warte ist nun jedoch alles andere als ausführlich. Zumindest formuliert die Dialektik der Kritik der praktischen Vernunft jedoch zur SchlusssteinStelle der Vorrede konform, dass die Realität der Objekte der Ideen selbst qua reiner praktischer Vernunft „verschafft“ werden soll.10 Konzediert man das, schließen sich hieran aber noch einmal weitere Fragen an, die nun der letzte Teil meines Beitrags thematisieren wird.
7. Was ist gewiss, wenn ich moralisch gewiss bin? Die Hauptfrage, die hier stellen möchte, ist, wie genau zu verstehen sein soll, dass reine praktische Vernunft den verhandelten „Zuwachs der theoretischen Erkenntnis der Vernunft“ selbst gibt? Soll das heißen, dass sie, da sie das praktische Interesse an der objektiven Realität der Ideen begründet, damit auch deren Realität ‚gibt‘, indem sie eben in praktischer Absicht verlangt, Gewißheit herzustellen in theoretisch für sich genommen wankenden Meinungen, die gerade in ihrem Wankelmut im oben skizzierten Sinne der moralischen Gesinnung abträglich sein können? Wie sähe es vor diesem Hintergrund dann aber mit der Bestimmung der Warte aus, von der aus das oben zitierte Verhältnis der Gleichheit selbst hergestellt wird? Oder noch radikaler gefragt: Wenn die Entscheidung über den Primat des Praktischen allererst den Zuwachs-Gedanken gestattet und entwickelt, die Lehre vom Primat des Praktischen jedoch selbst zur Verschaffung der Realität der Objekte der Ideen gehört, ist dann der gesamte Gedanke der Erkenntniserweiterung in praktischer Absicht und Vgl. hierzu V, 136: „Allein es ist hier auch nicht um das theoretische Erkenntniß der Objecte dieser Ideen, sondern nur darum, dass sie überhaupt Objecte haben, zu thun. Diese Realität verschafft reine praktische Vernunft, und hiebei hat die theoretische Vernunft nichts weiter zu thun, als jene Objecte durch Kategorien blos zu denken […].“
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die gesamte Lehre eines Primats des Praktischen selbst auch als ein praktischer Standpunkt zu denken? – Was wäre hieraus aber die Konsequenz? Würde die Erkenntniserweiterung in praktischer Absicht damit selbst zu einem praktischen Postulat werden? – Wäre damit dann aber nicht genau wieder dasjenige unterminiert, was hiermit bezweckt wird, nämlich eine im Interesse der Praxis propagierte, aber eben gerade nicht nur imaginiert sein dürfende, sondern vielmehr als gerechtfertigt erscheinen sollende Gewissheit über die objektive Realität bestimmter Ideen? Für die Annahme, auch die systemarchitektonische Entscheidung über einen sogenannten Primat des Praktischen selbst allein in die Hände des praktischen Gebrauchs der Vernunft zu legen, scheint nun freilich zu sprechen, dass diese Entscheidung so in ihren Gründen offengelegt werden kann, indem sie so selbst als Moment praktischer Vernunft begriffen werden kann. Gegen diese Annahme könnte jedoch sprechen, dass der Vernunftglaube so doch noch eine Unterwerfung des theoretischen Gebrauchs der Vernunft unter deren praktischen Gebrauch propagiert, weil so freilich jegliche sogenannte „Gewissheit“ über die Wirklichkeit der benannten Erkenntniserweiterung selbst als eine bloß praktisch-pragmatische Fiktion reflektiert werden könnte, womit dann aber in der Tat die Frage im Raum steht, ob nicht doch mit Richard Kroner konstatiert werden muss, dass sich in Kants Vernunftglauben „theoretische und praktische Vernunft […] nicht zu einer klaren Einheit verbinden, sondern in trüber Weise vermischen und gegenseitig vertilgen“ (vgl. Kroner 1961: 206). Auch wenn ich diesen Vorwurf Kroners nicht teile, ist er doch ernst zu nehmen, weil sich gemäß dem Entwickelten doch zumindest prima facie ein Dilemma abzuzeichnen scheint, das es freilich zu heben gilt, soll an der Lehre einer praktischen Immanenz von theoretisch Transzendentem in konsistenter Weise festgehalten werden können. Das Dilemma, das ich meine, lässt sich wie folgt formulieren: Wird die Erkenntniserweiterung selbst nur als Postulat begriffen, dann wird sie dadurch wirkungslos, indem ihr Zweck genau darin besteht, mittels einem über einen bloß doktrinalen Glauben hinausgehenden Glaubensbegriff ein Moment praktischer Selbstbestimmung bereit zu stellen. Wird die Erkenntniserweiterung hingegen dogmatisch gesetzt, dann scheint sie zwar praktisch wirksam werden zu können, jedoch – zumindest bislang – in ihrer Genese nicht näher erläutert werden zu können.
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Praktisch begründet werden dürfte sie somit im Interesse der Praxis nicht und anders begründet werden könnte sie nicht, jedenfalls das solange nicht, wie es nicht doch noch gelingt, einen Begriff von Kants Vernunftglauben zu entwickeln, der dessen Verweben11 von theoretischen und praktischen Momenten gerade nicht nur im Sinne einer Unterwerfung des theoretischen Gebrauchs unter den praktischen Gebrauch der Vernunft zu entfalten versteht. Wie also könnte das skizzierte Dilemma zu lösen sein? Zum Schluss meiner Überlegungen möchte ich noch einen Lösungsvorschlag machen. Er besteht darin, die System-Ebene zwar durch die qua praktischem Vernunftglauben artikulierte Bedürfnis-Ebene ausgedrückt zu sehen, aber dennoch nicht beides unmittelbar identisch zu setzen. Genau das gelingt jedoch nur, wenn man der qua Vernunftglauben verfolgten Einheit von Theorie und Praxis nicht nur einen praktischen Wert, sondern auch noch einen für sich bestehenden epistemischen Wert zuzuschreiben bereit ist, der schlicht darin bestehen kann, dass es eben gerade unter der Lehre vom Primat des Praktischen möglich ist, Einheit zu erzielen, wo ansonsten nur Widerstreit anzutreffen ist. Denn dieser Vernunftstandpunkt wäre dann sozusagen nicht praktisch vorimprägniert, sondern nur vom Gedanken größtmöglicher Einheit überhaupt geleitet und würde so den Gedanken der Erkenntniserweiterung selbst gerade nicht in die oben unter Bezug auf Kroner skizzierte Dialektik überführen. Meine Argumentation ist also kurzum: 1. Die praktische Vernunft braucht eine Rechtfertigung ihres Erkenntniserweiterungs-Anspruchs in ihrem eigenen Interesse. Denn dieser Anspruch wird praktisch nur wirksam, wenn er als nicht nur bloße Fiktion geglaubt werden darf. 2. Genau das kann aber nur dann gelingen, wenn die Einforderung einer Erkenntniserweiterung und eines Erkenntniszuwachses mittels eines Maßstabs gerechtfertigt werden kann, der nicht unmittelbar mit der Artikulation des praktischen Bedürfnisses selbst zusammenfällt. 3. Erfüllt ist diese Forderung aber genau dann, wenn die Lehre vom Primat des Praktischen gerade nicht nur als ein praktisches Postulat, sondern vielmehr als ein die Vernunfteinheit überhaupt steigerndes Lehrstück begriffen werden kann.12 Zur Metapher des Verwebens vgl. III, B 857. Vgl. in diesem Zusammenhang auch, wie wichtig es Kant ist, gerade auch im Primats-Kapitel zu betonen, daß „es doch immer nur eine und dieselbe Vernunft [ist], die, es sei in theoretischer oder praktischer Absicht, nach Principien a priori
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Für das Verhältnis von Kanon und Architektonik ergibt sich damit folgende Konsequenz: Gerade die Trennung der System-Ebene von der Bedürfnis-Ebene gewährleistet sowohl die Rationalität des Systems der Vernunft überhaupt als auch die Rationalität der praktischen Vernunft im Besonderen in ihrer Lehre eines sogenannten praktischen Vernunftglaubens. Aufgehoben ist damit jedoch keineswegs, dass die System-Ebene durch die qua Vernunftglauben ausgestaltete Bedürfnis-Ebene konkretisiert wird, indem eben gerade hier demonstriert wird, wie unter der Überschrift einer Erkenntniserweiterung in praktischer Absicht mittels neuer Differenzierungen eine Rationalitätssteigerung erreicht werden kann. Nämlich das exakt im Sinne der in der B-Vorrede zur ersten Kritik im Blick auf den transzendentalen Idealismus benannten, „dem Naturforscher nachgeahmte[n] Methode“, die darin besteht, „die Elemente der reinen Vernunft in dem zu suchen, was sich qua Experiment bestätigen oder widerlegen läßt“, – nämlich qua Experiment, indem die Frage gestellt wird, ob sich mittels bestimmter Unterscheidungen der Vernunft ein unvermeidlicher Widerstreit der Vernunft ergibt, oder vielmehr gerade allererst eine Einstimmigkeit erzielen lässt, was dann für die Richtigkeit jener Unterscheidungen spricht (vgl. hierzu III, B XIX Anm.). Ist dies richtig, ergibt sich damit nun eine ganz klare Antwort auf die Frage, was gewiss ist, wenn ich moralisch gewiss bin. Denn diese Antwort besteht nach dem zuletzt Entwickelten schlicht darin, dass der Vernunftglaube letztlich die theoretischen, als solche aber nicht erweislichen Sätze gerade nur dann nicht als lediglich praktisch aufgenötigte Sätze bejahen kann, wenn er deren Bejahung in einem architektonisch rückgebundenen urtheilt“ (V, 121). Vgl. abermals zudem III, B 766 f.: „Die Vernunft muß sich in allen ihren Unternehmungen der Kritik unterwerfen und kann der Freiheit derselben durch kein Verbot Abbruch thun, ohne sich selbst zu schaden und einen ihr nachtheiligen Verdacht auf sich zu ziehen. Da ist nun nichts so wichtig in Ansehung des Nutzens, nichts so heilig, das sich dieser prüfenden und musternden Durchsuchung, die kein Ansehen der Person kennt, entziehen dürfte. Auf dieser Freiheit beruht sogar die Existenz der Vernunft, die kein dictatorisches Ansehen hat, sondern deren Ausspruch jederzeit nichts als die Einstimmung freier Bürger ist, deren jeglicher seine Bedenklichkeiten, ja sogar sein veto ohne Zurückhalten muß äußern können.“
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Gewissheitsbegriff konkretisieren kann, indem er sich selbst als besonderer Ausdruck dieser Architektonik begreift.
Literatur Albrecht, Michael (1978), Kants Antinomie der praktischen Vernunft, Hildesheim. Düsing, Kaus (1971), „Das Problem des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie“, in: Kant-Studien 62, 5–42. Förster, Eckart (1998), „Die Wandlungen in Kants Gotteslehre“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 52, 341–362. Höffe, Otfried (41996), Immanuel Kant, München. Hutter, Axel (2003), Das Interesse der Vernunft, Hamburg. Nonnenmacher, Burkhard (2010), „Der Begriff sogenannter Gnadenmittel unter der Idee eines reinen Religionsglaubens“, in: Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. (Hg.) Höffe, Otfried, Berlin (Klassiker Auslegen 41), 211–229. Kroner, Richard (21961), Von Kant bis Hegel, Tübingen.
Eine „noo-theologisch“ erweiterte Ethikotheologie? Perspektiven der „absoluten Transzendenz“ beim späten Kant Rudolf Langthaler
1. Zur Erinnerung: „Physikotheologie“ und „Ethikotheologie“ als Kernbestand der „natürlichen Theologie“ bei Kant 1.1. „Physikotheologie“1 und „Ethikotheologie“ machen nach Kant – in Abgrenzung von der sogenannten „rationalen Theologie“ – bekanntlich den eigentlichen Kernbestand der „natürlichen Theologie“ aus. Abgesehen von seiner allgemeinen „Kritik aller Theologie aus spekulativen Prinzipien der Vernunft“, der auch die Ansprüche der „Physikotheologie“ ausgesetzt bleiben, zielt ein spezieller Kritikpunkt darüber noch hinaus: Die zwar schon in der ersten Kritik konstatierte „Unmöglichkeit eines physikotheologischen Gottesbeweises“ hat die „Methodenlehre der Kritik der Urteilskraft“ sodann zu einer Kritik an einer noch grundsätzlicheren Unzulänglichkeit dieser „Physikotheologie“ verschärft. Mag – im Sinne der Frage: Wie muss eine Welt für ‚vernünftige Wesen‘ nach ihrem theoretischen Vermögen beschaffen sein? – zwar der heuris tischen Orientierung der Vernunft in ihrem theoretischen Gebrauch (genauer: der „reflektierenden Urteilskraft“) ein deistischer Gottesbegriff (die Idee des „höchsten Wesens als oberster Intelligenz“) durchaus genü1
Vgl. Kants knappe Kennzeichnung: „Die Physikotheologie ist der Versuch der Vernunft, aus den Zwecken der Natur (die nur empirisch erkannt werden können) auf die oberste Ursache der Natur und ihre Eigenschaften zu schließen. Eine Moraltheologie (Ethikotheologie) wäre der Versuch, aus dem moralischen Zwecke vernünftiger Wesen in der Natur (der a priori erkannt werden kann) auf jene Ursache und ihre Eigenschaften zu schließen.“ (V, 436)
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gen, so sind es jedoch, gegenüber solchem theoretischen Vernunftanspruch eines bloß „vernünftigen Wesens“,2 die mit der Weltstellung und Lebensführung des Menschen als des existierenden „Endzwecks der Schöpfung“ verbundenen praktisch-moralischen Vernunftansprüche, die über eine physikotheologische Konzeption in prinzipieller Hinsicht hinausweisen und noch eine andere Beurteilungsperspektive (im buchstäblichen Sinne) not-wendig machen. Demzufolge könne, so Kants zentraler Einwand, das den Menschen als vernünftiges Weltwesen auszeichnende unbedingte Vernunftinteresse bzw. das unstillbare „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ (V, 477) in einer solchen physikotheologischen Begründungsperspektive prinzipiell kein Genüge finden. 1.2. Demgegenüber würdigte Kant die „Ethikotheologie“ als den der Weltstellung des Menschen allein angemessenen „Versuch der Vernunft, aus den Zwecken der Vernunft, die nur apriorisch erkannt werden können, auf die oberste Ursache der Vernunft und ihre Eigenschaften zu schließen“ (V, 436); diese kann nur als „höchste Weisheit“ gedacht werden und vermag auch nur als solche einen zureichenden Grund eines „Endzwecks der Schöpfung“ zu fundieren und entsprechend, allein „der Vernunft genugtuend“, den „Begriff von Gott […] hervor[zu]bringen“ (V, 447). Erst so wäre jener Mahnung Kants zureichend Rechnung getragen, „den Begriff von einer Gottheit“ nicht leichtfertig „an jedes von uns gedachte verständige Wesen“ zu verschwenden (V, 438), d. h. diesen auf einen solchen „Kunstverstand“ bzw. „oberste Weltursache“ – und sei es auch eine „in allem Betracht unendliche Intelligenz“ (V, 566) – anzuwenden. Ebendies weist bezüglich der Gottesthematik aus prinzipiellen Gründen über den Horizont einer Physikotheologie hinaus. Erst diese „Ethikotheologie“ sah Kant in der Lage, auf gesichertem Fundament den „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ zu vollziehen und damit zuletzt den „Endzweck der Metaphysik“ – den denkerischen „Überschritt vom Sinnlichen zum Übersinnlichen“ – zu erreichen. Und allein auf solche Weise sei ein Gottesbegriff auszubilden, der der Weltstellung des Menschen als eines „vernünftigen, aber endlichen 2
Zur systematisch bedeutsamen (obgleich terminologisch nicht konsequent durchgehaltenen) Unterscheidung zwischen „bloß vernünftigem Wesen“ und „Vernunftwesen“ vgl. VI, 418.
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Wesens“ und den daran geknüpften unabweislichen Vernunftansprüchen zu entsprechen vermag und überhaupt erst die einschlägige Orientierung an der Idee eines „Endzwecks der Schöpfung“ erlaubt. Eine solche Frage nach einem „Endzweck der Schöpfung“ müsse schon deshalb außerhalb des Horizontes einer „Physikotheologie“ bleiben, weil letztere auch für das Verständnis der Weltstellung des Menschen als „Endzweck der Schöpfung“ und seine moralischen Zwecke keinen Platz lässt. Noch in seinen späten kritischen Überlegungen zur „Physikotheologie“ hatte Kant doch ausdrücklich geltend gemacht, dass allein die „Weisheit“ eines „moralischen Welturhebers“ eine zureichende Legitimation eines der Weltstellung des Menschen gemäßen „Endzwecks der Schöpfung“ anbieten könne und ebendeshalb alle „physikotheologisch“ orientierten Begründungsansprüche prinzipiell unangemessen blieben. Allein ein der „moralischen Teleologie“ angemessener Gottesbegriff (als eines „weisen Welturhebers“ im Sinne des von Kant ausdrücklich betonten „theismus moralis“3) vermag also diesem praktisch-„unbedingten Vernunftbedürfnis“ zu genügen, während andernfalls eine stillschweigende Entdifferenzierung und Verkürzung des „Bedürfnisses der Vernunft“ („im spekulativen“ oder „praktischen Gebrauche“), d. i. der in dem unbedingten Vernunftinteresse grundgelegten Endzweck-(unbedingten Sinn-)Bezüge, die unvermeidliche Folge wäre. Auch wenn Kant zunächst einräumen wollte, dass die „Physikotheologie“ (als bloße „Propädeutik“) „natürlicherweise“ der Moraltheologie vorher gehe, so beanspruchte er eben doch, dass die Ethikotheologie genauer besehen zuletzt „den physisch-teleologischen Beweisgrund“ überhaupt ablöse; letzterer erweise sich nicht nur als ergänzungsbedürftig, sondern in prinzipieller Hinsicht als unzulänglich: „Der moralische Beweisgrund vom Dasein Gottes ergänzt aber eigentlich auch nicht etwa bloß den physischteleologischen zu einem vollständigen Beweise, sondern er ist ein besonderer Beweis, der den Mangel der Überzeugung aus dem letzteren ersetzt.“ (V, 478)
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Dieser „theismus moralis“ soll es erlauben, „einen ganz präzis bestimmten Begriff von Gott [zu] machen, indem er ihn nach der Moralität einrichtet“ (XXVIII, 34). Vgl. dazu auch die Kennzeichnung derselben in XXVIII, 1002 (Religionslehre Pölitz); s. auch die gestufte Argumentation in Refl. 6038: XVIII, 430; Refl. 6173: XVIII, 478; Refl. 6236: XVIII, 520.
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1.3. Die kantische „Ethikotheologie“ ist bekanntlich begründet in jenem – auf der Basis der neuen Freiheitslehre der Kritik der praktischen Vernunft vollzogenen – Gründungsakt der kantischen Freiheitslehre, wonach sich an die zugrunde liegende „Realität“ der Idee der Freiheit, d. i. das im „moralischen Gesetz“ offenbare „Übersinnliche in uns“, die beiden anderen Ideen „Gott“ und „Unsterblichkeit“ anschließen und dadurch erst „objektive Realität“ erhalten (V, 3 f.), jedoch „als bloße Ideen“ der spekulativen Vernunft „ohne Haltung“ blieben. Diese Grundlegung hat Kant in der „Methodenlehre der Kritik der Urteilskraft“ sodann zu dem ethikotheologischen Leitgedanken weitergeführt, dass die unter die „scibilia“ zu rechnende Idee der Freiheit die beiden anderen „transzendenten Ideen“ „bei sich führe“, erst durch die „Verknüpfung […] aller drei […] Religion möglich“ werde (V, 474) und letztere auch nur dergestalt als „reine Vernunftsache“ (VII, 67) ausgewiesen werden könne. Indes, in diesem Ausgang von dem ethikotheologisch begründeten „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“, der somit den menschlichen Vernunftgebrauch (im Sinne des „Endzwecks der Metaphysik“ im „dritten Stadium“ derselben, s. u. 2.1.) gewissermaßen „abschließt und krönt“, resultieren nun neue Perspektiven, die – insbesonders im Blick auf Kants späte Preisschrift – über die in der „Methodenlehre der Kritik der Urteilskraft“ entwickelte Konzeption der Ethikotheologie noch hinausweisen. Sie erlauben es und nötigen gleichermaßen dazu, ausgehend von den von Kant selbst angezeigten Problemperspektiven die Gottesthematik und näherhin das Thema der „absoluten Transzendenz“ noch weiter zu verfolgen.
2. Über die Ethikotheologie noch hinaus: Eine „Zweckverbindung“ der „Ideen des Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ 2.1. Zunächst ist es jedenfalls sehr bemerkenswert, dass Kant jene ethiko theologisch maßgebende Verknüpfung „aller drei [Ideen] unter einander zu einer Religion“ (V, 474) sodann in seiner späten Preisschrift zu einer „Zweckverbindung“ der „Ideen des Übersinnlichen in uns, über uns
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und nach uns“ (XX, 306) noch verdichtet.4 Darin ist es die im „moralischen Gesetz“ offenbar werdende Wirklichkeit der „Idee der Freiheit“, die „die zwei übrigen in ihrem Gefolge bei sich führt“ (wie es in einem noch späteren Text heißt: VIII, 418) und dergestalt (vermutlich Motiven Wolffs folgend), über jenes zunächst bestimmende Anschlussverhältnis hinaus, „gleichsam in der Verkettung […] eines […] Vernunftschlusses“ eine innere „Zusammenstimmung“ („consensus“) derselben begründet; sie erlaubt es, jene Verknüpfung nunmehr als eine systematisch-teleologische – „beschließende“ – „Zweckverbindung“ zu begreifen. In solcher „Zusammenstimmung“ dieser Ideen sind diese „Ideen“ eben nicht lediglich als Momente verbunden, sondern auch auf eine Weise als „zueinander gehörig“ ausgewiesen, sodass sie aus solchem „Zueinander“ auch erst ihre Bestimmtheit in ihrem jeweiligen Unbedingtheitsanspruch gewinnen; in solchem „Zusammenschluss“ dieser „Vernunftideen“ wird nunmehr die „teleologia rationis humanae“ in ihrer Vollendungsgestalt sichtbar. Dabei ist besonders darauf zu achten, dass in solchem als „Zweckverbindung“ erkennbaren Gefüge nunmehr die Idee des „Übersinnlichen außer uns“ selbst schon als ein mit den anderen „Ideen“ verbundenes Element integriert ist; ausgehend von jenem „Endzweck der praktischen Vernunft“ offenbart sich in der Frage nach dessen Ermöglichungsgrund diese „Zweckverbindung“ selbst als das „System der Voraussetzungen in notwendig praktischer Rücksicht“. Solche „Zusammenstimmung“ zu diesem teleologisch gefügten Gefüge der „Vernunftideen“ tritt so als ein „System dieser Vernunftideen“ erst innerhalb des von Kant (in der späten Preisschrift) so bezeichneten „dritten Stadiums der Metaphysik“ (XX, 293 ff.) in der „Geschichte der reinen Vernunft“ in Erscheinung,5 worin nunmehr erst, in der Verbindung von „Vernunftkritik“ und „praktisch-dogmatischem Überschritt zum Übersinnlichen“, die Selbsterhaltung der Vernunft gewährleistet ist. Erst in der Die späte Preisschrift nimmt offenbar eine Anmerkung aus der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft auf und verfestigt den dort erwähnten „notwendigen Schlußsatz“ nunmehr zu einer „Zweckverbindung“: „Die Metaphysik hat zum eigentlichen Zwecke ihrer Nachforschung nur drei Ideen: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, so daß der zweite Begriff, mit dem ersten verbunden, auf den dritten, als einen notwendigen Schlußsatz, führen soll.“ (III, 260) 5 So spricht Kant denkwürdigerweise davon, dass die „Zeitordnung […] in der Natur des menschlichen Erkenntnisvermögens gegründet“ ist (XX, 264). 4
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derart konzentrierten Verknüpfung jener „selbstgemachten“ (und doch „nötigenden“) Vernunftideen gewinnt offenbar der bedeutsame kantische Hinweis auf den entscheidenden Begründungsstatus jenes „Creditiv[s] des moralischen Gesetzes“ (V, 48) seine systematische Einlösung – also gleichsam am Ende des „letzten (dritten) Stadiums der Metaphysik“ und des darin ausgewiesenen „praktisch-dogmatischen Überschritts zum Übersinnlichen“. Darin ist der Aufweis geleistet, dass die in dieser „Geschichte der reinen Vernunft“ sich entwickelnden einzelnen Momente des „Übersinnlichen“ nicht lediglich als vereinigte zu begreifen sind; vielmehr erweist sich die darin gedachte „Zusammenstimmung derselben“, d. i. ihre innere Zugehörigkeit, geradezu als Voraussetzung für die Erreichung des „Endzwecks der Metaphysik“, der sich in diesem „dritten Stadium“ der Metaphysik dergestalt erst als solcher begreift und insofern auch für die kantische Selbstverortung in der „Geschichte der Metaphysik in der neueren Zeit“ bestimmend ist, zumal dafür eine eigentümliche Verbindung jenes Kritizismus mit dem „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ kennzeichnend ist. In der Tat hat Kant die für dieses „dritte Stadium“ beanspruchte „Vollendung der Metaphysik“ offenkundig, gemäß der Leitidee eines „Systems der reinen Vernunft“ (III, 543), an den Nachweis geknüpft, dass darin diese Metaphysik als „System der Ideen“ des „Übersinnlichen“ „einen Kreis“6 ausmacht, „dessen Grenzlinie in sich selbst zurück kehrt, und so 6
Vornehmlich auf diese in der „wirklichen Welt“ mögliche „Zweckverbindung“, „die […] das höchste in einer Welt mögliche Gut […] enthalte“ (XX, 306), und auf den darin realisierten „praktisch-dogmatischen Überschritt“ ist es zu beziehen, wenn dieses „dritte Stadium der Metaphysik“, das darin den Zusammenhang der Ideen des „Übersinnlichen“ gleichsam als ein „System der Postulate“ nachzeichnet, nach Kant, bemerkenswerterweise „einen Kreis“ (XX, 300) ausmachen soll, in dem diese „Ideen des Übersinnlichen“ (XX, 306) vereinigt sind. Hätte der junge Hegel diese Motive der kantischen Preisschrift kennen können, so müsste man geradezu davon ausgehen, dass er das kantische Bild des „Kreises“ aufnehmen und gleichsam vollenden wollte: „[…] so wird diese Ethik nichts anderes als ein vollständiges System aller Ideen, oder, was dasselbe ist, aller praktischen Postulate sein. Die erste Idee ist natürlich die Vorstellung von mir selbst als einem absolut freien Wesen“ (Hegel 1971: 234). Die Nähe dieser Motive des jungen Hegel zu dem angeführten „Bild des Kreises“ in der späten kantischen Preisschrift ist jedenfalls frappierend.
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ein Ganzes von Erkenntniß des Übersinnlichen beschließt, außer dem nichts von dieser Art weiter ist, und der doch auch alles befasset, was dem Bedürfnisse dieser Vernunft genügen kann“ (XX, 300). Darin bringt sich freilich der systematische Anspruch zur Geltung, dass solche Vollendung gleichermaßen dies impliziert, dass sie einer Vermehrung nicht bedürftig, eine solche freilich auch gar nicht möglich ist. 2.2. Im Rückblick zeigt sich hier eine bemerkenswerte Stufung: War es zunächst, als eine Frucht des „kritischen Geschäfts“, lediglich um die widerspruchsfrei zu denkende „Möglichkeit“ der Freiheits- und auch der Gottesidee zu tun, so trat sodann das Bemühen um den Aufweis der „Kompossibilität“ bzw. der Kohärenz und der „Verknüpfung“ der entsprechenden „Vernunftideen“ in den Vordergrund, die sich letztendlich zu einer als „Zweckverbindung“ ausgewiesenen „Zusammenstimmung“ verdichtet und dergestalt erst die „teleologia rationis humanae“ zum Abschluss bringt. Zugleich zeigt sich jedoch genauer besehen eine teleologische Stufung der besonderen Art, die sich für die nachfolgenden Überlegungen als höchst bedeutsam erweisen soll: Die apriorische Idee des „Endzwecks der reinen praktischen Vernunft“ verweist auf eine „Zweckverbindung“ und „Zusammenstimmung“ der „Ideen des Übersinnlichen“ als ein System der der Vernunft „abgenötigten Voraussetzungen“ (VIII, 137), ohne die jener „Endzweck der praktischen Vernunft“ nicht als möglich gedacht werden kann und in denen Vernunft sich selbst erhält.7 7
Eine (vielleicht lediglich aus der Besonderheit dieser späten Preisschrift erklärbare) Abweichung bzw. Ungenauigkeit zeigt sich vermutlich auch darin, dass einerseits neben „Gott“ und „Unsterblichkeit“ das „von der Sittlichkeit selbst diktierte Vertrauen zum Gelingen dieser Absicht“ als Bedingung der Möglichkeit des „höchste[n] in der Welt zu befördernden Gut[s]“ angeführt wird (XX, 300), während an einer späteren Stelle der Preisschrift dieser „Endzweck“ selbst (neben „Gott“ und „Unsterblichkeit der Seele“) als ein integriertes Moment innerhalb der „Organisation der reinen praktischen Vernunft“ (XX, 310)) fungiert. In der Preisschrift wird übrigens nicht das „höchste in der Welt mögliche, und, so viel an uns ist, als Endzweck zu befördernde physische Gut“ (im Unterschied zum § 91 der dritten Kritik) als „Glaubenssache“ geltend gemacht, sondern lediglich die darauf abzielenden Bedingungen. Einschlägige Unschärfen, die dann auch die genaue Bestimmung des Status der Hoffnung und des Glaubens betreffen, in diesen späten Texten sind nicht zu übersehen.
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Es ist dieser „Endzweck der praktischen Vernunft“, der erst auf das ganze Gefüge der „Ideen des Übersinnlichen“ (gleichsam als „ratio essendi“ desselben) verweist – d. i. auf jenes „System der Voraussetzungen“, das diese „von uns selbst gemachten Ideen“ dergestalt zu einem kreisförmig gedachten „systematischen Ganzen“ „zweckmäßig“ zusammenschließt. Ist es doch die in der Idee des „höchsten Gutes“ selbst gedachte „Zweckmäßigkeit“, nämlich die „harmonisch zusammenstimmende“ Einheit von „Moralität und Glückseligkeit“ als der „moralisch notwendige Endzweck unsrer reinen Vernunft“ (vgl. XX, 299), die ausdrücklich als in dieser nun selbst als inneres Gefüge gefassten „Zweckverbindung“ der Ideen des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ fundiert ausgewiesen werden soll.8 In Einbeziehung dieser erweiterten Motivkonstellationen der späten Preisschrift wird somit, ein wenig genauer betrachtet, in dieser Idee der „moralischen Teleologie“ eine bemerkenswerte Stufung nachvollziehbar: Zunächst geht auch die in der späten Preisschrift bestimmende Begründungsfigur von der in der Idee des „höchsten Gutes“ gedachten „Zweckmäßigkeit“ aus, d. h. von der „harmonisch zusammenstimmenden“ Einheit von „Moralität und Glückseligkeit“ als dem darin gemäß der Idee der „moralischen Welt“ bestimmten „höchsten Weltbesten“ (V, 451). Dieser ethikotheologisch bestimmende „Endzweck der praktischen Vernunft“ (als Idee des „höchsten Gutes“) wird nunmehr durch jene – als Gefüge der „Ideen des Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ gedachte – „innere Zweckverbindung“ begründet, weshalb hier zunächst beide Ebenen einer „Zweckmäßigkeit“ zu unterscheiden und gleichermaßen aufeinander zu beziehen sind. 2.3. Derart wird jene „Zweckverbindung“ der „Vernunftideen“ (im Sinne einer analog zur Bestimmung des „Naturzwecks“ verstandenen „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“) als eine „Selbsterhaltung der Vernunft“ in der besonderen Hinsicht sichtbar, dass „endliche Vernunft“ in dieser „Zusammenstimmung“ ihrer Ideen sich selbst auch auf eine Weise affirmiert, die über die „Ethikotheologie“ im engeren Sinne noch hinausweist. 8
Ebenso ist freilich daran zu erinnern, dass in diese „Zweckverbindung“ auch die „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, eingebunden sind, sofern das „Übersinnliche in uns“ ohne diesen es erst „erfüllenden“ Anspruch nicht zu denken ist und folglich auch diese „Zweckverbindung“ in besonderer Weise bestimmt.
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In dieser Zusammenstimmung der Ideen des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ ist somit eine Affirmation mitzudenken, der zufolge die „sich selbst erhaltende Vernunft“ gleichsam sich selbst in dieser „Zusammenstimmung“ bejaht. In Aufnahme der schon in der ersten Kritik leitenden These Kants: „Vollständige zweckmäßige Einheit ist Vollkommenheit (schlechthin betrachtet)“ (III, 456), erscheint so auch diese „Zweckverbindung“ der „Vernunftideen“ des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ in einem besonderen Licht, weil demzufolge darin die Vernunft nicht nur sich „selbst erhält“, sondern auch ihre systematische Vervollkommnung (als „vollständige zweckmäßige Einheit“) erfährt. So bestätigt sich: In dieser letzten Phase des „dritten Stadiums der Metaphysik“ werden diese „in theoretischer Hinsicht transzendente[n] Ideen“ des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ gemäß der Idee der „moralischen Teleologie“ in ihrem unauflöslichen Zueinander begreifbar und machen dieserart jene „Zweckverbindung“ der „Vernunftideen“ sichtbar, die sie als ein in sich differenziertes „teleologisches Ganzes“ erweist, das nun als „gewisse Organisation der reinen praktischen Vernunft“ (XX, 310) ausgewiesen wird, wodurch allein die „Selbsterhaltung der Vernunft“ gewährleistet ist.9 So bestätigt sich, wie bzw. weshalb die Idee einer „moralischen Teleologie“ in diesem späten Hinweis auf diese „gewisse Organisation der reinen praktischen Vernunft“ (XX, 310) in der Tat eine besondere Akzentuierung erfährt. Dies geschieht nicht zuletzt in der besonderen Hinsicht, dass darin die „Zusammenstimmung“ jener miteinander verbundenen Ideen des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ zu einer solchen „Zweckverbindung“ noch einmal grundsätzlicher gedacht ist, die demgemäß auch den „Weltbegriff der Philosophie“ als das System der „wesentlichen und höchsten Zwecke“ berührt. Derart vollzieht die Vernunft, auf vorgängig gesichertem Boden, innerhalb des „praktisch-dogmatischen Überschritts 9
Auch hier ist in diesem Sinne noch einmal auf jenen analogen Sachverhalt zu achten, dass Kant die Idee einer „moralischen Teleologie“ und deren Gegenstand, den „Endzweck aller Dinge“, ausdrücklich „nach der Analogie mit der physischen Teleologie, welche letztere uns die Natur wahrnehmen läßt“ (XX, 307), versteht. Ob in dieser „Zweckverbindung“ der „Vernunftideen“ möglicherweise eine indirekte Anknüpfung an stoische Motive (bes. zu Senecas Bestimmung der Vernunft als „Geist Gottes in uns“) sichtbar wird, ist hier nicht zu verfolgen.
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zum Übersinnlichen“ gewissermaßen den letzten Schritt, wobei freilich erst mit solchem „praktisch-dogmatischen Überschritt“ die „Selbsterhaltung der Vernunft“ vollends gewährleistet ist. Ebenso erweist sich im Ausgang von der späten Preisschrift dies: „Reine praktische Vernunft“ führt nicht nur auf jene „Ideen“, sondern schließt diese auch im Sinne jenes „gefügten Gefüges“ notwendig zusammen, worin ebenso ein ganz besonderer Aspekt der „Endlichkeit der Vernunft“ offenbar wird und in eigentümlicher Weise deren Entwurfs- und Nötigungs-Charakter vereint wird. Denn auch und erst recht diese „Zweckverbindung“ der praktischen Vernunftideen soll dergestalt als nicht „willkürlich erdichtet, sondern [als] durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben“ (IV, 207) ausgewiesen werden. Es ist vornehmlich ihre Verankerung in dem „archimedischen Punkt“ der „im moralischen Gesetz sich offenbarenden Freiheit“, die diese in der „moralisch konsequenten Denkungsart“ verwurzelte „Zweckverbindung“ vor dem Verdacht bewahrt, dass die darin vereinten „Voraussetzungen in notwendig praktischer Absicht“ sich bloß lebensdienlichen „Erdichtungen“ im Dienste der „Selbstbehauptung“ verdanken bzw. sich darin auch schon erschöpfen. 2.4. Die in bzw. durch diese „Zweckverbindung“ bzw. die „Zusammenstimmung“ der „Ideen des Übersinnlichen“ allein gewährleistete „Selbsterhaltung der Vernunft“ und die ihr immanente „Verfassung“ legen so gleichermaßen die Erinnerung daran nahe, dass der frühe Kant diese „Selbsterhaltung der Vernunft“ als „Fundament des Vernunftglaubens“10 geltend gemacht hat; ihre spätere systematische Entfaltung am teleologischen Leitfaden der Ethikotheologie ist deshalb stets auch als kritische Abwehr einer psychologisierend-genetischen Religionskritik zu buchstabieren und führt nunmehr über diese erweiterte „moralische Teleologie“ auf die Frage nach deren „zureichendem Grund“, d. h. auf die „ratio essendi“ dieser „teleologischen Verfassung der menschlichen Vernunft“ (als eine Voraussetzung ihrer selbst), worin diese sich selbst „erhält“. Kants frühe Bestimmung des „Fundaments des Vernunftglaubens“ als „Selbsterhaltung der Vernunft“ gewinnt so im Kontext dieser späten Überlegungen der Preisschrift wohl einen besonderen Stellenwert, der zuletzt auch noch in dem späten „Credo
Refl. 2446, XVI, 371.
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in den drei Artikeln des Bekenntnisses der reinen praktischen Vernunft“ (XX, 298) zum Ausdruck kommt. Es wird sich zeigen: Dass erst in dem angezeigten Zusammenschluss jener „Vernunftideen“ die „Selbsterhaltung der Vernunft“ sich realisiert, kann in der Folge den ethikotheologisch-teleologischen Status der Gottes idee nicht unberührt lassen. Wenn sich in diesem zweckmäßigen Gefüge der zusammenstimmenden Vernunftideen über die einzelnen Momente der Idee des „Endzwecks“ der Sinnhorizont des endlichen Vernunftwesens expliziert, so wird auch die Frage nach dem Sinngrund dieses in jenem „gefügten Gefüge“ sich entfaltenden Sinnhorizontes unabweislich. Jene Mahnung Kants, „den Begriff von einer Gottheit“ nicht leichtfertig zu verschwenden, fände damit noch eine besondere Zuschärfung. Es ist nicht zu übersehen, dass jene „Zusammenstimmung der Ideen“ gegenüber der als möglich erwogenen „Verknüpfung“ der „Vernunftideen Gott, Freiheit und Unsterblichkeit […] unter einander zu einer Religion“ eine nicht unwesentliche Vertiefung darstellt. Dass jene „Verknüpfung“ sich also zu einer „Zweckverbindung“ (und „Zusammenstimmung“) der „Ideen des Übersinnlichen“ gefestigt hat und auf diesem Fundament nunmehr das ethikotheologische Grundgerüst der Vernunftreligion errichtet wird, hat nun auch darin eine bemerkenswerte Entsprechung, dass jene ethikotheologisch verankerte Bestimmung der „fides“ als „Vertrauen auf die Verheißung des moralischen Gesetzes; aber nicht als eine solche, die in demselben enthalten ist, sondern die ich hineinlege, und zwar aus moralisch hinreichendem Grunde“ (V, 471 Anm.), sich zu dem „von der Sittlichkeit diktierten Vertrauen zur Gelingung dieser Absicht“ (XX, 300), d. i. der Erreichung des „Endzwecks der praktischen Vernunft“, verschärft. Der nunmehr maßgebende besondere Aspekt einer „moralischen Teleologie“ und ihre in der späten Preisschrift zutage tretende Verfestigung wären demnach zunächst darin zu sehen – und darauf weist wohl jenes „von der Sittlichkeit diktierte Vertrauen“ hin –, dass darin ein „Sein-Sollendes“ von besonderer Art erst zur Geltung kommt. Indes, noch ein anderes spätes Motiv ist in diese Überlegungen miteinzu beziehen und im Ausgang von jener „Zweckverbindung“ – und zugleich für diese – fruchtbar zu machen.
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3. Das „Übersinnliche in uns“ als „Reflex“ des „Übersinnlichen außer uns“ – und seine Erweiterung auf die ganze „Zweckverbindung der Vernunftideen“ 3.1. In seinem späten Aufsatz Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie hat Kant in seiner kritischen Auseinandersetzung mit den vermessenen philosophisch-theologischen Ansprüchen zeitgenössischer neuplatonisierender Tendenzen in kritischer Anlehnung an das platonische „Sonnengleichnis“ geltend gemacht: „Zwar in die Sonne (das Übersinnliche) hinein sehen, ohne zu erblinden, ist nicht möglich; aber sie in der Reflexe (der die Seele moralisch erleuchtenden Vernunft), und selbst in praktischer Absicht hinreichend, zu sehen, wie der ältere Plato tat, ist ganz thunlich“ (VIII, 399). Diese „die Seele moralisch erleuchtende Vernunft“ als „Reflexe“ des „Übersinnlichen außer uns“ ist nun nichts anderes als jene unbegreifliche Faktizität der „bedingten Unbedingtheit“ in Gestalt des „moralischen Gesetzes“, dessen „Reflex“-Charakter das Denken im Sinne jener kantischen Variation des platonischen Sonnengleichnisses auf seinen „für uns unerforschlichen Grund“ verweist – ein Motiv, das freilich eine besondere Vertiefung erlaubt, ja diese sogar unumgänglich macht. Wenn jenes „Übersinnliche in uns“ jener Zweckverbindung der Vernunft ideen und ihrer „Zusammenstimmung“ als einem gefügten Gefüge zugrunde liegt, so spricht nun freilich vieles dafür, im Ausgang von diesem archimedischen Punkt des „Übersinnlichen in uns“ diese „Reflexe“ auf diese ganze „Zweckverbindung“ überhaupt auszudehnen, d. h. diese ganze „gewisse Organisation der reinen praktischen Vernunft“ (XX, 310) selbst als solche „Reflexe“ zu begreifen.11 Jene ganze „Zusammenstimmung“ der „Ideen des Übersinnlichen“ selbst wäre sonach als jene – im Bewusstsein des moralischen Gesetzes verankerte – „Reflexe“ anzusehen, die so (im Diesbezüglich wäre wohl vor allem von jener Anmerkung der Religionsschrift über die unbegreifliche Wirklichkeit des „moralisch schlechthin gebietenden Gesetzes“ auszugehen: „Wäre dieses Gesetz nicht in uns gegeben, wir würden es, als ein solches, durch keine Vernunft herausklügeln, oder der Willkür anschwatzen: und doch ist dieses Gesetz das einzige, was uns der Unabhängigkeit unsrer Willkür von der Bestimmung durch alle andern Triebfedern (unsrer Freiheit) und hiemit zugleich der Zurechnungsfähigkeit aller Handlungen bewußt macht.“ (VI, 26)
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Sinne jener zuvor benannten kritischen Analogie-Figur) „verweisend“ auf ihren Grund und „Abgrund“ hin notwendig zu denken gibt. Die Folge daraus wäre also dies, dass auch jene „Unbegreiflichkeit“ der Wirklichkeit der Freiheit sich auf das ganze Vernunft-Gefüge überträgt – sodass zwar die Vernunft sich in diesen Ideen selber „schafft“ (s. u. Anm. 17) und gleichermaßen in ihrer Faktizität, aber auch in ihrer inneren Verfassung sich selbst in solcher Hinsicht entzogen und insofern auch „unbegreiflich“ bleibt, d. h. sich als „unbegreiflich“ auch begreift. Wenn in der Freiheit als dem „Übersinnlichen in uns“ jenes Gefüge der Vernunftideen verankert ist, dann wäre es doch lediglich konsequent, auch die Frage nach dem „unerforschlichen Grund“ sodann auf das ganze Gefüge dieser „Vernunftideen“ auszudehnen. Als „Geheimnis“ „viel zu denken“ gäbe somit nicht allein der „unerforschliche Grund“ der Freiheit (VI, 138), sondern derjenige der in dieser Einheit des „Übersinnlichen in uns“ begründeten „Zweckverbindung“ der „Vernunftideen“ überhaupt. Es ist das ganze, im archimedischen Punkt der Freiheit verankerte Gefüge der „Vernunftideen“, das in seiner internen Verfassung über sich selbst hinaus-, besser: in ihren „unerforschlichen“ Grund zurückverweist. 3.2. Vor diesem Hintergrund rückt nun auch Kants späte Kennzeichnung der Weltstellung des Menschen als „Copula von Welt und Gott“ (XXI, 37; 27) in ein besonderes Licht; wäre doch diese „copula“ selbst als die – in jenem „Übersinnlichen in uns“ zwar verankerte – „Zweckverbindung der Ideen des Übersinnlichen“ als Gefüge dieser „Vernunftideen“ zu begreifen. Darin vermag die so ausgezeichnete Weltstellung des Menschen als „Copula von Endlichem und Unendlichem“ sich in ihren differenzierten Bezügen zu entfalten und gewinnt so noch eine besondere Präzisierung. Und erst recht wäre natürlich Kants später Rekurs auf „Gott, die Welt, und (de[n] Mensch[en]) das denkende Wesen in der Welt, welches sie verknüpft“ (XXI, 32),12 in dieser „teleologisch“ zugeschärften Weise zu Ob die in dem voranstehend angezeigten „Ausgang“ resultierenden Problemlinien sodann auch auf die im Opus postumum (in verschiedenen Varianten) vorgenommene Kennzeichnung der menschlichen Vernunft als system-bildende „Mitte“ („medius terminus“) von „Gott und Welt“ führen, sei hier nur als Frage erwähnt; dies ist hier ebenso wenig zu verfolgen wie die für eine religionsphilosophischtheologische Perspektive unübersehbaren Schwierigkeiten und die weitreichenden Konsequenzen, die in Kants Opus postumum begegnen.
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verstehen, die so jenen genannten Ansprüchen einer „moralischen Teleologie“ und somit einer ihr gemäß differenzierten Idee des „Endzwecks“ genügt. Bedeutsam – vornehmlich im Blick auf diese Bestimmung des Menschen als „copula“ – bleibt dabei insbesonders dies, dass doch allein diese „Zweckverbindung“ mit „der der praktischen Bestimmung des Menschen weislich angemessenen Proportion seiner Erkenntnisvermögen“ (V, 146 ff.) „zusammenstimmt“13; „menschliche Weisheit“14 verdankt sich solcher „Zusammenstimmung“ der Vernunftideen, zumal letztere die menschliche „Existenz“ geradezu konstituiert und so auch Kants wiederholtem Hinweis auf die Lebensform jenes „Rechtschaffenen“ zugrunde liegt, in dem der „zweckmäßige Gebrauch der Vernunft“ (V, 141) gewissermaßen sichtbare Gestalt gewonnen hat. Es hat sich gezeigt: Es sind die in dieser „Zusammenstimmung“ der „Vernunftideen“ sich realisierende immanente Verfassung der menschli chen Vernunft und die darin sich manifestierende (weil allein der „ganzen Bestimmung“ des Menschen gemäße) „Weisheit“, die, gemäß dem gesuch ten „Endzweck der Metaphysik“, in solcher „Zweckmäßigkeit“ auf die „Weisheit“ eines „moralischen Welturhebers“ als „Grund“ dieser „Zweck verbindung“ der „praktischen Vernunftideen“ (als „vollständige zweckmäßige Einheit“, d. h. „Vollkommenheit“ derselben: IV, 599) führen. In diesem Kontext gewinnt erst recht die sehr späte Bezugnahme Kants auf „Gott, die Welt, und de[n] Geist des Menschen als das, was […] erstere verbindet“ (XXI, 23), eine besondere Bedeutung und einen bemerkenswert präzisen Sinn, der eine religionskritische Abspannung dieser späten Bestimmung geradewegs verbieten muss. Indes, im Ausgang von jener „Zweckverbindung der Vernunftideen“ und der darin integrierten „Weisheit“ stellen sich weitere unabweisliche Fragen. Hier sei auf Kants frühe Bemerkung hingewiesen: „Dieser Glaube ist daher auch nicht Wissen, und, Heil uns! Daß er es nicht ist; denn eben darin erscheinet die göttliche Weisheit, daß wir nicht wissen, sondern glauben sollten, daß ein Gott sei“ (XXVIII, 1083). „Wenn es moglich wäre zu wissen, daß ein Gott sey, bliebe denn noch moralitaet im Menschen“? (Refl. 6099, XVIII, 451) 14 Sie bestimmte Kant als, „theoretisch betrachtet, die Erkenntnis des höchsten Guts und praktisch, [als] die Angemessenheit des Willens zum höchsten Gut“ (V, 130 f.). 13
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4. Die innere „Zweckverbindung“ der „Vernunftideen“ und die Frage nach ihrem Ermöglichungsgrund: Eine „noo-theologische“ Ergänzung der „Ethikotheologie“? 4.1. Wenn die unauflösliche, d. h. aber auch: in ihrer inneren Zuordnung unumkehrbare Verknüpfung der Vernunftideen des „Übersinnlichen“ solcherart eine teleologische Verfassung ans Licht bringt, die ihrerseits die Rückfrage nach dem „unerforschlichen Grund“ derselben verlangt, so ist offensichtlich eine Konsequenz daraus doch dies: Ist die Ethikotheologie „der Versuch, aus dem moralischen Zwecke vernünftiger Wesen in der Natur […] auf jene Ursache und ihre Eigenschaften zu schließen“ (V, 436), so führt die angezeigte – wohl am ehesten als „noo-theologisch“ zu bezeichnende15 – Begründungsfigur nunmehr darauf, aus dieser „Zweckverbindung“ (und der ihr eingeschriebenen „Weisheit“) auf deren „Ursache und ihre Eigenschaften zu schließen“; sie führt auf die symbolische Bestimmung der „Idee von Gott“ als „weiser Welturheber“, ohne in dieser kritischen Analogie-Konzeption jedoch den grenzbegrifflichen Status des „Gegenstands in der Idee“ (im Unterschied zum „Gegenstand schlechthin“, d. i. „in der Realität“, III, 457 f.) zu unterlaufen. Die in dieser Begründungsfigur zutage tretende „transzendentale Zweckmäßigkeit“ führt nun eine „transzendentale Steigerung“ von besonderer Art vor Augen. Ihr zufolge bleibt auch die „objektive theoretische Realität“ dieser „Zweckverbindung“ – und der ihr eingeschriebene bzw. durch sie erst ermöglichte „zweckmäßige Vernunftgebrauch“ (vgl. V, 141) – selbst auf deren „ratio essendi“ zu beziehen. Verwies also das erhoffte „höchste Gut“ als „Endzweck der reinen praktischen Vernunft“ auf das in jener „Zweckverbindung“ der Vernunftideen gedachte „System der Postulate“ des „Vernunftglaubens“, so führt die darin zutage tretende „Zweckmäßigkeit der besonderen Art“ – entsprechend der angezeigten gestuften „teleo Als „noo-theologisch“ wäre – analog zu Kants Kennzeichnung der „Physikotheologie“ und der „Ethikotheologie“ (s. o. Anm. 1) – also der „Versuch“ zu bezeichnen, aus der durch die Zweckverbindung der „Vernunftideen“ konstituierten inneren Verfassung der Vernunft „auf jene Ursache und ihre Eigenschaften zu schließen“ – wobei bezüglich dieser „Vernunftform“ freilich Kants kritische Argumentation genau zu beachten bleibt (s. dazu Kants aufschlussreiche Argumentation in den §§ 58 u. 59 der Prolegomena).
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logischen Struktur“ – auf die unabweisliche Frage nach der damit wiederum allein zusammenstimmenden „ratio essendi“ derselben, die sich dieser kritischen Vernunftperspektive verdankt. Obgleich diese „Zweckverbindung“ der Vernunftideen als Ermöglichungsgrund des „höchsten Guts“ als des „Endzwecks der praktischen Vernunft“ gedacht werden muss, so führt diese reale Einheit und „Zweckverbindung der Vernunftideen“ nunmehr selbst – im Sinne einer gestuften Weiterführung der Idee einer „transzendentalen Zweckmäßigkeit“ – hinsichtlich ihres kontingenten „Dass“ und ihres gefügten „Wie“ unumgänglich auf die Frage nach ihrem Ermöglichungsgrund. In einer Weiterführung und besonderen Variante der Idee der „transzendentalen Zweckmäßigkeit“ hat sich erwiesen: Nicht allein die „moralischen Zwecke vernünftiger Wesen in der Natur“ wären nunmehr der unaufgebbare „terminus a quo“ der Bestimmung der Gottesfrage, vielmehr diese innere „teleologia rationis humanae“ selbst, die ebenfalls jedwede diesbezügliche Orientierung an einer bloß äußeren „Zweckmäßigkeit“ (der Nützlichkeit, Zuträglichkeit o. Ä.) um der „Selbsterhaltung der Vernunft“ willen verbieten muss. Kants Hinweis, dass wir „in uns selbst […] auch eine moralische Teleologie“ finden (V, 447), wäre deshalb in diesem gestuften Sinne zu ergänzen. Die „Bedingungen der Möglichkeit“ des „praktischen Endzwecks der Vernunft“ stellen somit ein „System der Postulate“ – Kant sprach auch von einem „reinen Vernunftsystem der Religion“ (VI, 12) – dar. Infolge dieser gestuften Begründung verlangen also nicht nur jener „Endzweck der praktischen Vernunft“ und der ihn ermöglichende „Endzweck der Schöpfung“ nach einer Letztbegründung. Vielmehr sind es die als Ermöglichungsgrund beider gedachte – als solche gleichwohl aus sich unbegreifliche – „Zweckverbindung der Ideen“ und die darin verankerte „Weisheit“, die auf einen dieser „Zusammenstimmung“ der „Vernunftideen“ selbst noch vorausliegenden und unverfügbar-unerforschlichen Grund derselben verweisen: Ein unausweichlicher „wahrer Abgrund für die menschliche Vernunft“ (III, 409), der dennoch ebenfalls „viel zu denken gibt“. Begründet ist der Rekurs auf diesen neuerlichen – grenzbegrifflich thematisierten – „Abgrund“ eben darin, dass sowohl in der Vernunftidee des „Endzwecks der reinen praktischen Vernunft“ als auch in dem ihn erst ermöglichenden Gefüge jener „selbstgemachten Vernunft ideen“ die Vernunft in der „Zweckverbindung“ der Ideen des „Übersinn-
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lichen in uns, über uns und nach uns“ sich selbst zwar notwendig „realisiert“ („schafft“ – und doch nicht „stiftet“)16 und „erhält“; gleichwohl vermag sie sich „dergestalt“ nicht aus sich selbst zu begreifen, d. h. sie bleibt sich selbst in solcher Nötigung in eigentümlicher Weise entzogen und wird so gewissermaßen über sich „hinaus“-, besser wohl: „hinter sich zurückgezogen“. Die gebotene Rücksicht darauf, dass in dieser „Zweckverbindung der Vernunftideen“ allein auch der „zweckmäßige Gebrauch der Vernunft“ verankert und darin wiederum „menschliche Weisheit“ begründet ist, verleiht dieser (in jener gestuften „transzendentalen Zweckmäßigkeit“ zutage tretenden) „transzendentalen Steigerung“ noch einen bedeutsamen Akzent: Denn nicht zuletzt darin, dass der Mensch als „vernünftiges [aber] endliches Wesen“ (allein aufgrund der „weislich angemessenen Proportion seiner Erkenntnisvermögen“, s. o. 3.2.) in jenes „System der Zwecke passe“, tritt eine Affinität zutage, die auch die Frage nach dem „zureichenden Grund“ dieser menschlichen Weisheit – damit aber des hierfür konstitutiven „Nicht-Wissens“!17 – unumgänglich macht. Weder die in jener „Zusammenstimmung“ der „Vernunftideen“ und in der „weislichen Proportion der menschlichen Erkenntnisvermögen“ sich spiegelnde teleo logische „Grundverfassung der Vernunft“ und deren „Interesse an sich „Transc.Phil. ist […] ein System […] von subjectiven Ideen welche die Vernunft selbst schafft […] apodiktisch indem sie sich selbst schafft.“ (XXI, 93) 17 Hier ist an jenes Motiv anzuknüpfen, das Kant im Kontext seines Rekurses auf die „ganze Bestimmung des Menschen“ ausdrücklich betonte: „Also möchte es auch hier wohl damit seine Richtigkeit haben, was uns das Studium der Natur und des Menschen sonst hinreichend lehrt, daß die unerforschliche Weisheit, durch die wir existieren, nicht minder verehrungswürdig ist, in dem, was sie uns versagte, als in dem, was sie uns zu teil werden ließ.“ (V, 148) Dieser Passus „Von der der praktischen Bestimmung des Menschen weislich angemessenen Proportion seiner Erkenntnisvermögen“, in dem die im „System der Postulate“ sich widerspiegelnde „Weisheit“ anklingt, enthält einen Wink auf dieses „noo-theologische“ Motiv. Darin fände das mit dem „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“ konvergierende Motiv, dem zufolge „die letzte Absicht der weislich uns versorgenden Natur, bei der Einrichtung [!] unserer Vernunft, eigentlich nur aufs Moralische gestellet“ ist (III, B 520), eine besondere Bestätigung. Dieser in dem Verweis auf die „Einrichtung unserer Vernunft“ implizierte „teleologische“ Aspekt eröffnet gewissermaßen jene späte „noo-theologische“ Perspektive. 16
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selbst“ noch ihr daran geknüpfter Geltungsanspruch („quid juris?“) sind aus sich selbst zu begründen, d. h. sie bleiben in ihrer „Wirklichkeit“ „unbegreiflich“.18 Also auch die in dieser „Zusammenstimmung“ sich manifestierende „Weisheit“ wäre als „Reflexe des Übersinnlichen außer uns“ (als eines „weisen Welturhebers“) anzusehen, zumal so auch erst der von Kant jenem „Rechtschaffenen“ (gemäß seiner „praktischen Bestimmung“) zugeschriebene Wille seine letztbegründende Einlösung finden könnte, „daß eine Welt überhaupt existiert, weil das moralische Gesetz will, daß das höchste durch uns mögliche Gut bewirkt werde“ (VI, 5). Dies sollte den Zusammenhang zwischen der menschlichen Weisheit und der Idee des „weisen Welturhebers“ im Sinne der von Kant wiederholt geltend gemachten „Zusammenstimmung“ gemäß seiner kritischen AnalogieKonzeption noch vertiefen. Derart gewinnt die in der Preisschrift maßgebende Idee der „Zweckverbindung“ der „Ideen des Übersinnlichen“ in systematischer Hinsicht einen durchaus bedeutsamen Stellenwert. Die in ihrem „Dass“ selbst „unbegreifliche Wirklichkeit“ dieses gefügten Gefüges der „Vernunftideen“ und die darin zutage tretende „Zweckverbindung“ gemäß der „moralischen Teleo logie“ (und der in ihr sich entfaltenden „teleologia rationis humanae“), die in dem den „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ eröffnenden „dritten Stadium“ der Metaphysik gewissermaßen zu sich kommt, wäre als das Fundament einer selbst zwar „ethikotheologisch“ begründeten, gleichwohl „noo-theologisch“ verfassten Konzeption zu verstehen, die, im Sinne jenes späten kantischen „Analogie“-Motivs (VIII, 399; s. u. 5.1.), die vernunftkritisch errichteten Haltesignale keinesfalls umgehen will. 4.2. Die diese moralische „Teleologie“ ergänzende – nicht: ersetzende – „nootheologische“ Perspektive wäre demnach in analoger Weise so zu bestimmen, dass in der sich in dieser Vernunftverfassung widerspiegelnden „Zweckverbindung“ (der sie auszeichnenden „Zusammenstimmung“) Eine Erinnerung an Schellings Frage legt sich in diesem Kontext nahe: „Denn […] es bleibt immer übrig zu fragen: warum ist denn Vernunft, warum ist nicht Unvernunft? Es ist freilich auf den ersten Blick bequem, gleich anfangs die Vernunft als allgemeine Substanz, als das notwendig Seiende zu setzen. Aber vielmehr ist die Existenz der Vernunft selbst nur etwas Bedingtes, Positives.“ (Schelling 1861: 252)
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der Versuch begründet wäre, „auf jene Ursache und ihre Eigenschaften zu schließen“. Auch wenn sich für einen derartigen, aus der Steigerung der „transzendentalen Zweckmäßigkeit“ hervorgehenden „noo-theologischen“ Versuch bei Kant zwar keine direkten Anhaltspunkte finden, so sind doch die sachlich naheliegenden diesbezüglichen Anknüpfungspunkte nicht zu übersehen, die es erlauben, jenes Vorhaben eines „praktisch-dogmatischen Überschritts zum Übersinnlichen“ noch weiterzuführen. Der damit verbundene kritische Anspruch bewahrt einerseits davor, unversehens in das Fahrwasser einer „dogmatistischen Metaphysik“ zu geraten; andererseits könnte das als „Theologie“ bezeichnete „dritte Stadium der Metaphysik“ (XX, 293 ff.) wohl erst im Ausblick auf diese angezeigten weiterführenden Motive seinen Abschluss finden. Demgemäß liegt es in solchem Ausgang durchaus nahe, diesen im Sinne einer kritischen Analogie geltend gemachten „Grund“ jener „Zweckverbindung der Vernunftideen“ sodann auf jene „symbolische“ Idee eines „einigen Gott[es], als den Urquell alles Guten in der Welt, als seinen Endzweck“ (XX, 298) zu beziehen – näherhin in der zweifachen Hinsicht, dass darin dieser „Urquell“ als zureichender Grund des „Dass“ und des „Was“ der in dieser „Zweckverbindung“ zutage tretenden Verfassung zu bestimmen wäre. Diese Absicht, nämlich nunmehr „aus der in ihrer Wirklichkeit unbegreiflichen teleologischen Tiefenstruktur der menschlichen Vernunft“ auf jene „höchste Ursache und ihre Eigenschaften zu schließen“ (V, 436), hätte so alle anderen „ontotheologischen“ und „moraltheologischen“ Momente der „theologischen Idee“ in sich aufgehoben; sie lenkt die daraus resultierenden „Abschlussgedanken“ auf die Einheit von „Schul“- und „Weltbegriff der Philosophie“ und somit auf die zu denkende Verbindung des in der Philosophie unentbehrlichen „transzendentalen Begriff[s] von Gott, als dem allerrealsten Wesen“ (VIII, 399) und der Idee des „Ganzen aller Zwecke“ (VIII, 279). Daraus folgt dies: Die Idee der „moralischen Teleologie“ führt der Preisschrift zufolge nicht nur – über die zunächst maßgebende „negative Theologie“ hinaus – auf jenen „theoretischen Begriff von der Quelle“, woraus der „Endzweck der reinen praktischen Vernunft“ „entspringen kann“ (XX, 294) – d. i. auf die postulatorisch verankerte Idee eines „weisen Welturhebers“ bzw. eines „machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen“ (VI, 6). In diesem modifizierten Sinne wäre sodann auch das – zwar nicht aus beanspruchter „Einsicht“, aber doch in einem „Vernunft-
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bedürfnis“ begründete – Postulat des „Daseins Gottes“ von daher zu bestimmen bzw. zu rechtfertigen als ein „theoretischer, als solcher aber nicht erweislicher Satz“, sofern er mit dieser unauflöslichen „Zweckverbindung“ der „Vernunftideen“ unzertrennlich verbunden ist. Demzufolge spricht einiges dafür, dass dergestalt noch eine letzte Steigerung dieser gestuften Idee einer „Teleologie“ bzw. der „transzendentalen Zweckmäßigkeit“ ins Blickfeld rückt: Wurde die „Physikotheologie“ als der „Versuch der Vernunft, aus den Zwecken der Natur […] auf die oberste Ursache der Natur und ihre Eigenschaften zu schließen“, aus prinzipiellen Gründen durch jenen ethikotheologischen Ausgang von dem „moralischen Zwecke vernünftiger Wesen in der Natur“ (V, 436) nicht nur ergänzt, sondern ersetzt (s. o. 1.2.), so stellt die in jenem archimedischen Punkt der Freiheit verankerte „Zweckverbindung“ jener „Ideen des Übersinnlichen“ – die ihrerseits den „Endzweck der reinen praktischen Vernunft“ erst als denkbar ausweisen soll – nun selbst die Basis für die Vermittlung und die Bestimmung des „Begriffs der Gottheit“ (als „ratio essendi“ jener „Zweckverbindung“ und der darin gründenden „Weisheit“) dar, der nunmehr gemäß dieser besonderen und abschließenden „transzendentalen Steigerung“ zu bestimmen wäre. Die Bezugnahme auf die „Angemessenheit der obersten Weltursache zu einem Ganzen aller Zwecke als Wirkung“ (VIII, 183) kann diese Rücksicht auf diese vernunftförmige „Zweckverbindung“ nicht ausgeblendet lassen, obgleich sie eine besondere Behutsamkeit für die darin unumgängliche Brechung erfordert.
5. Die unabweisliche Frage nach dem „Grund dieser Vernunftform“: Ein „nootheologisch“ zugeschärftes Motiv der „absoluten Transzendenz“ 5.1. Das in Kants „Grenzbestimmung der reinen Vernunft“ (§§ 57, 58 der Prolegomena) und in der daran geknüpften Analogie-Konzeption besonders betonte Motiv der „absoluten Transzendenz“ verlangt indes auch in dieser modifizierten Gestalt die genaue Rücksicht darauf: Das in jener „Zweckverbindung“ begründete bzw. sich „realisierende“ Verhältnis wäre in entsprechender Weise so zu denken, dass darin das Verhältnis dieses
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„Urwesens“ zur Welt und somit auch zu der darin diese Vernunftverfassung widerspiegelnden „Zweckmäßigkeit“ gedacht sein soll – sodass auch hier dieses „höchste Wesen“ (einer früheren Wendung Kants zufolge) „also hierdurch zwar nicht nach dem, was es an sich selbst ist, aber doch nach dem, was es für mich ist, nämlich in Ansehung der Welt, davon ich ein Teil bin“, zu erkennen sei (IV, 357). Auch wenn diese durch die zweckmäßige Verknüpfung der Vernunftideen selbst bestimmte interne „Verfassung der Vernunft“ und ihre „Selbsterhaltung“ als „vollständige zweckmäßige Einheit“ über sich hinaus auf ihren „Grund“ verweist, so bleibt es freilich auch in einer solchen „nootheologischen“ Erweiterung dabei: „Was dieser Urgrund an sich selbst sei, hat dadurch nicht gedacht werden sollen […]“ (III, 458) – was freilich auch für die kritische Kennzeichnung Gottes als „Grund aller Realität“ zu bedenken bleibt. Diese allein gerechtfertigte „Erkenntnis nach der Analogie“ müsse es demzufolge auch verbieten, Gott selbst „die Eigenschaft der Vernunft“ „anzukleben“ (wie Kant bemerkenswerterweise betont: III, 358); was gemäß „unseren schwachen Begriffen“ und nach Maßgabe einer kritischen „Analogie“ allein erlaubt (dann aber auch unumgänglich) sei, ist hingegen dies, entsprechend dieser „Analogie“ im Ausgang von der „Vernunftform, […] die in der Welt allenthalben angetroffen wird“ (IV, 359), Gott als den „Grund dieser Vernunftform“ (ebd.) zu bestimmen – d. h. aber: „daß wir uns die Welt so denken, als ob sie von einer höchsten Vernunft ihrem Dasein und inneren Bestimmung nach abstamme“, ohne dass dabei diesem zu denkenden „Grund dieser Vernunftform“ selbst „Vernunft beigelegt“ wird: Auch „Grund dieser Vernunftform“ wäre jenes „Urwesen“ also gerade „nicht an und für sich selbst“, sondern nur in diesem gedachten „Verhältnis zur Welt“ und deren „Vernunftform“ – genauer: von diesem „Verhältnis“ her: „Dadurch wird nun verhütet, daß wir uns der Eigenschaft der Vernunft nicht bedienen, um Gott, sondern um die Welt vermittelst derselben so zu denken, als es notwendig ist, um den größtmöglichen Vernunftgebrauch in Ansehung dieser nach einem Prinzip zu haben.“ (IV, 359)19 19
Auf diese Weise wäre also bei Kant ein Anschluss an ein zentrales neuplatonisches Motiv zu finden: „Auch Grund und Ursprung ist das Absolute nicht an und für sich selbst, sondern nur für das entsprungene Andere und von diesem her: ‚Denn auch, wenn wir das Eine den Grund […] nennen, bedeutet das nicht, etwas Ihm, sondern etwas uns Zukommendes aussagen: dass wir nämlich etwas von Jenem her haben, während Es selbst in sich bleibt‘ […]. Die Ursprünglich-
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5.2. Entsprechend wäre diese hier verfolgte Begründungsfigur zu modifizieren: Ist jene in der „Welt allenthalben angetroffene Vernunftform“ nunmehr im Sinne jener „Zweckverbindung der Vernunftideen“ und der darin sich offenbarenden „Weisheit“ (der „weislichen Zusammenstimmung“ mit der „ganzen Bestimmung des Menschen“) zu verstehen, so ist dies in analoger Weise allein anzusehen, „als ob“ sie in der „Weisheit“ des „moralischen Welturhebers“ letztbegründet, d. h. gleichsam als „Reflex“ derselben zu begreifen wäre. Dies eröffnet den – im Sinne jenes AnalogieMotivs kritisch „gebrochenen“ – grenzbegrifflichen Gedanken eines SinnGrundes jener „Zusammenstimmung“, der indes auch nur „relativ“ dazu als ein solcher zu bestimmen wäre und in jener Idee eines „moralischen Welturhebers“ schon eine „symbolische Darstellung“ gefunden hätte. Erst über eine solche aus der „Grenzbestimmung der reinen Vernunft“ resultierende „Erkenntnis nach der Analogie“ wäre sonach auch der „Endzweck der Metaphysik“ zu „realisieren“. Gemäß jener kritischen Analogie-Konzeption müsste die „theologische Idee“ (als „Grund aller Realität“, VIII, 399) also auch als „Grund“ dieser „teleologia rationis humanae“ und der darin verankerten „Weisheit“ gedacht werden. Das nunmehr in jener „Zweckverbindung“ der „Ideen des Übersinnlichen“ gedachte Verhältnis zum „Übersinnlichen“ wäre als solche „Vernunftform“ mithin selbst in dem „höchsten Wesen“ begründet – freilich wiederum in der behutsamen, analogie-bedachten Weise, dass dieses (nach dem, „was es an sich selbst sei“, für uns „sogar undenkbare“) „höchste Wesen“ doch lediglich „den Grund dieser Vernunftform“ keit des Absoluten ist nicht seine Beziehung zur entsprungenen Wirklichkeit, sondern deren Beziehung zum Absoluten, der keine Beziehung von Seiten des Absoluten selber entspricht. In diesem Sinne ist das Eine ‚Ursprung […] und doch auf andere Weise wieder nicht Ursprung […], denn man darf Jenen überhaupt nicht als zu irgendetwas in Beziehung stehend ansprechen‘ […] Es ist das ‚Vorursprüngliche‘ […], wie Plotin mit gewollt paradoxer Wendung sagt. In genau dem gleichen Sinne hatte schon Platon dem Einen selbst in seiner Absolutheit die Verhältnisbestimmung als Prinzip oder Ursprung abgesprochen […].“ (Halfwassen 2007: 176) Dieses vornehmlich im Blick auf Platon und Plotin formulierte Motiv gilt in der Folge auch für Kants Bestimmung des „Urwesens“ als „Grund aller Realität“ – von dem infolgedessen selbst noch jener „Ungrund“ unterschieden wäre, der so die Vernunft vor ihren eigenen „Grund“ und „Abgrund“ führt.
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enthält, die sich in jener „Zweckverbindung“ der Vernunftideen – und in der diese fundierenden „Autonomie“! – manifestiert, d. h. ohne selbst mit dem „Grund dieser Vernunftform“ einfachhin identisch zu sein, der aber doch „in ihm“ ist. Demnach bliebe mit Kant dies geltend zu machen: Die „mit sich einstimmige Vernunft“ sieht sich erst recht durch die in solcher „Zweckverbindung der Ideen des Übersinnlichen“ gedachten „Realitäten“ auf jene von Kant grenzbegrifflich angezeigte Idee eines „Grundes aller Realität“ verwiesen, der einerseits vor allem unkritischen „Anthropomorphismus“ bewahrt – andererseits freilich auch davor, dass überhaupt „alles Denken ausgehe“; die späte Vorstellung „eine[s] einigen Gott[es], als de[s] Urquell[s] alles Guten in der Welt, als sein Endzweck“ (XX, 298) wäre demgemäß auch schon als eine „symbolische Darstellung“ von – und für – uns zu verstehen. Von diesem grenzbegrifflich gedachten „Grund aller Realitäten“ her wäre jene gefügte „Zweckverbindung“ und die darin verankerte „Weisheit“ als „Reflex“ des „Übersinnlichen außer uns“ als fundiert zu denken. 5.3. Gleichwohl legt sich im Blick auf ein sehr bemerkenswertes spätes Motiv eine nochmalige Zuschärfung nahe: In jener schon erwähnten Auseinandersetzung mit zeitgenössischen „neuplatonisierenden“ Ansprüchen einer philosophischen Theologie zeigt sich nämlich eine stillschweigend vollzogene denkwürdige Neuakzentuierung: Der transzendentale Begriff von Gott, als dem allerrealsten Wesen, kann in der Philosophie nicht umgangen werden, so abstract er auch ist; denn er gehört zum Verbande und zugleich zur Läuterung [!] aller concreten, die nachher in die angewandte Theologie und Religionslehre hineinkommen mögen. Nun fragt sich: soll ich mir Gott als Inbegriff […] aller Realitäten, oder als obersten Grund derselben denken? Thue ich das erstere, so muß ich von diesem Stoff, woraus ich das höchste Wesen zusammensetze, Beispiele anführen, damit der Begriff derselben nicht gar leer und ohne Bedeutung sei. (VIII, 399 Anm.)
(Genau dies sei jedoch, wie Kant am Beispiel von „Verstand“ und „Wille“ verdeutlicht, nicht möglich.) Sodann heißt es aber weiter: Mache ich mir aber vom ens realissimum den Begriff als Grund aller Realität, so sage ich: Gott ist das Wesen, welches den Grund alles dessen in der
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20 Welt enthält[ ], wozu wir Menschen einen Verstand anzunehmen nöthig haben 21 (z. B. alles Zweckmäßigen in derselben);[ ] er ist das Wesen, von welchem das Dasein aller Weltwesen seinen Ursprung hat, nicht aus der Nothwendigkeit seiner Natur […], sondern nach einem Verhältnisse, wozu wir Menschen einen freien Willen [bzw. Vernunft] annehmen müssen, um uns die Möglichkeit desselben verständlich zu machen. Hier kann uns nun, was die Natur des höchsten Wesens (objectiv) sei, ganz unerforschlich und ganz außer der Sphäre aller uns möglichen theoretischen Erkenntniß gesetzt sein, und doch (subjectiv) diesen Begriffen Realität in praktischer Rücksicht (auf den Lebenswandel) übrig bleiben; in Beziehung auf welche auch allein eine Analogie des göttlichen Verstandes und Willens mit dem des Menschen und dessen praktischer Vernunft angenommen werden kann, ungeachtet theoretisch betrachtet dazwischen gar keine Analogie Statt findet. Aus dem moralischen Gesetz, welches uns unsere eigene Vernunft mit Autorität vorschreibt, nicht aus der Theorie der Natur der Dinge an sich selbst, geht nun der Begriff von Gott hervor, welchen uns selbst zu machen die praktische reine Vernunft nöthigt. (Ebd.)22
Über die schon in der ersten Kritik vollzogene Unterscheidung von „Inbegriff und Grund“ hinaus bleibt also auch noch darauf zu achten, dass genauer besehen von der Bestimmung des „Grundes aller Realitäten“ noch diejenige unterschieden ist, der zufolge „Gott […] den Grund alles dessen […] enthält“. 21 Auch ein sehr bemerkenswerter Passus aus einer späten Vorlesung Kants über „Rationaltheologie“ darf ganz im Sinne jener Frage nach dem „Grund“ als transzendentem „Urquell“ jener „Zweckverbindung“ der „Ideen des Übersinnlichen“ (in ihrer „relationalen Einheit“) gelesen werden: „Gott hat alle Realitäten in sich, mithin auch Vernunft, also ist das ens realissimum auch eine intelligentia, aber dies folgt nicht. Gott kann realissimum als Grund sein und kann Grund von der Vernunft der Weltwesen sein, ohne selbst Vernunft zu haben“ (XXVIII, 780). Vgl. zu dem „großen Unterschied, ob man das ens realissimum in Ansehung aller Realität als ihr Subject oder als Grund ansehe“, auch Refl. 6263 (XVIII, 536). 22 In einer Randanmerkung zur Preisschrift wies Kant darauf hin: „Das Urwesen, als das höchste Wesen (realissimum), kann entweder als ein solches gedacht werden, daß es alle Realität als Bestimmung in sich enthalte. – Dies ist für uns nicht wirklich, denn wir kennen nicht alle Realität rein, wenigstens können wir nicht einsehen, daß sie bei ihrer großen Verschiedenheit allein in einem Wesen angetroffen werden könne. Wir werden also annehmen, daß es ens realissimum als Grund sei, und dadurch kann es als Wesen, was uns gänzlich, nach dem, was es enthält, unerkennbar ist, vorgestellt werden.“ (XX, 330) 20
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Entsprechend der in der voranstehend skizzierten Begründungsfigur maßgebenden „Zweckverbindung“ bzw. der in ihr gründenden „Weisheit“ müsste es nun wohl heißen (wie der späte Kant selbst in kritischer Bezugnahme auf die Begründungsfigur der „Analogie“ ausdrücklich geltend gemacht hat), dass so das Denken auf die Idee eines „Wesens“ verwiesen wird, welches „den Grund alles dessen in der Welt enthält, wozu wir Menschen ‚Organisation der reinen praktischen Vernunft‘ und ‚Weisheit‘ anzunehmen nötig haben“. Erneut bleibt dabei daran zu erinnern, dass uns dabei dasjenige, „was die Natur des höchsten Wesens (objektiv) sei, ganz unerforschlich und ganz außer der Sphäre aller uns möglichen Erkenntnis gesetzt sein“ kann (XX, 399 Anm.). Eben als dessen – das „religiöse Verhältnis“ erst fundierende – „symbolische Darstellung“ wäre sonach, in einem notwendigen weiteren Schritt, jene Kennzeichnung desselben als „Urquell alles Guten in der Welt, als sein Endzweck“ (XX, 298) bzw. als „weiser Welturheber“ anzusehen bzw. als eine solche auch erst zu legitimieren. Zu unterscheiden und gleichermaßen zu verknüpfen wäre zuletzt also dies: In jenem gefügten Gefüge der Vernunftideen und ihrer inneren „Organisation“ „realisiert“ und „erhält“ menschliche Vernunft sich selbst und erfährt sich darin, wie gezeigt, reflexiv als solche, die gerade in solcher „Selbsterhaltung“ nicht über sich selbst verfügt – ohne dass diese Erfahrung des Nicht-Verfügens etwa als Verfügtheit, „Fügung“ und die Frage nach ihrem „Grund“ indes einfachhin ins Affirmative gewendet werden dürfen, was eine kritisch bleibende „negative Theologie“ nach wie vor verbieten muss. Gleichwohl bleibt einer kritischen „Analogie“-Konzeption zufolge zu bedenken: Beide genannten Aspekte – d. h. die im und als Gefüge sich vollziehende „Selbsterhaltung der Vernunft“ und das darin zugleich innegewordene Nicht-Verfügen über sich selbst – sind verankert in dieser späten kantischen Bestimmung Gottes als jenes „Wesen“, das (allerdings „nicht aus der Notwendigkeit seiner Natur [per emanationem]“) „den Grund aller Realität“ enthält, von diesem „Grund“ jedoch selbst noch einmal unterschieden bleibt.23 Demgemäß wäre jene „theologische Idee“ Lediglich als ein klärungsbedürftiges Problem sei auch benannt, dass die Vermittlung jenes absolut „grenzbegrifflich“ gedachten „Gegenstands in der Realität“ mit Kants Bezugnahme auf Gott als das „Wesen“, „das den Grund aller Realitäten“ enthält, sodann wohl auch im Ausblick auf jene schwierigen – und auch widersprüchlichen – Bestimmungen im Opus postumum (zum „System der Ideen“) erfolgen müsste.
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als jenes „Wesen“ zu denken, das den „Grund“ des in dieser „Zweckverbindung“ sich manifestierenden „Zusammenstimmens“ jener Ideen enthält; wohlgemerkt, dieser „Zweckverbindung“ ist die Gottesidee eben selbst zugehörig – ein „Zusammenstimmen“, in dem menschliche Vernunft sich selbst erhält und auf eine andere „teleologische“ Begründung bzw. ein „transzendentales Substratum“ verweist, wovon nunmehr möglicherweise zu sagen wäre, dass erst dies die „teleologia rationis humanae“ „schließt und krönet“ (III, 426). Kant hat diese Konsequenzen in seinen Entwürfen zur späten Preisschrift selbst nicht (mehr) gezogen, obgleich sich diesbezüglich vermutlich im Opus postumum sachliche Anknüpfungspunkte finden (und einige der angeführten Passagen vermutlich doch in diese Richtung weisen; s. o. bes. 3.2.). Letztere hätten es wohl auch unumgänglich gemacht, seine darin vorgenommene Charakterisierung der „Theologie“ (als des „dritten Stadiums“ der „Fortschritte der Metaphysik in der neueren Zeit“: III, 281; 293; 300) bzw. der „theologischen Idee“ in inhaltlicher Hinsicht entsprechend zu modifizieren. Dessen ungeachtet verdient die an seine Ethikotheologie anschließende Idee der „Zweckverbindung der Vernunftideen“, die von der differenzierten Idee einer „teleologia rationis humanae“ ihren Ausgang nimmt, und die darauf gestützte „noo-theologische“ Begründungsfigur in systematischer Hinsicht besonderes Interesse. Nicht zuletzt mit Blick auf die – das Problem der „absoluten Transzendenz“ umkreisenden – unübersehbaren neuplatonisierenden Bezüge in der Spätphilosophie Fichtes und Schellings wäre es von besonderem Interesse, damit die voranstehend in der Spur Kants angezeigten „nootheologischen“ Motive in systematischer Hinsicht und gleichermaßen in kritischer Absicht zu konfrontieren.
Literatur Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1971), „Frühe Schriften“, in: G. W. F. Hegel. Werke in zwanzig Bänden. Theorie-Werkausgabe. Bd. 1. (Hg.) Moldenhauer, Eva / Michel, Karl Markus, Frankfurt/M. Halfwassen, Jens (2007), „Der absolute Ursprung bei Plotin, in: Anfang und Ursprung. Die Frage nach dem Ersten in Philosophie und Kulturwissenschaft. (Hg.) Angehrn, Emil, Berlin/New York, 165–186.
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1861), „Darstellung des Philosophischen Empirismus (Aus dem handschriftlichen Nachlass)“, in: Schellings Sämtliche Werke. 1833–1850. Bd. 10. (Hg.) Schelling, Karl Friedrich August, Stuttgart/Augsburg, 225–286.
Religion als Pflicht des Menschen gegen sich selbst Friedo Ricken
„Religion zu haben“, so schreibt Kant in der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten, „ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst“ (VI, 444). Aufgabe meines Beitrags ist es, diese Behauptung in den größeren Zusammenhang von Kants praktischer Philosophie einzuordnen. Für Kants Begriff der praktischen Vernunft, so meine These, ist ein Transzendenzbezug konstitutiv. Entsprechend dem Aufbau der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten gehe ich aus von der „gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis“, um den in ihr implizierten Transzendenzbezug zu entfalten. Ich verstehe dabei den Terminus Gemeinsinn zunächst in der Bedeutung, welche die Kritik der Urteilskraft folgendermaßen umschreibt: Der gemeine Menschenverstand, den man, als bloß gesunden (noch nicht kultivieren) Verstand, für das Geringste ansieht, dessen man nur immer sich von dem, welcher auf den Namen eines Menschen Anspruch macht, gewärtigen kann, hat daher auch die kränkende Ehre, mit dem Namen des Gemeinsinnes (sensus communis) belegt zu werden; und zwar so, daß man unter dem Worte gemein […] so viel als das vulgare, was man allenthalben antrifft, versteht, welches zu besitzen schlechterdings kein Verdienst oder Vorzug ist. (V, 293)
Diesem Gemeinsinn gegenüber den subtilen Spekulationen der Schulen wieder die ihm gebührende Geltung zu verschaffen, ist nach der Vorrede zur zweiten Auflage das Anliegen der Kritik der reinen Vernunft. Bei dem Verlust, den spekulative Vernunft an ihrem bisher eingebildeten Besitze erleiden muß, bleibt dennoch alles mit der allgemeinen menschlichen Angelegenheit, und dem Nutzen, den die Welt bisher aus den Lehren der reinen Vernunft zog, in demselben vorteilhaften Zustande, als es jemalen war, und der Verlust trifft nur das Monopol der Schulen, keineswegs aber das Interesse der Menschen […].
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[Es] bleibt ja nicht allein dieser Besitz ungestört, sondern er gewinnt vielmehr dadurch noch an Ansehn, daß die Schulen nunmehr belehrt werden, sich keine höhere und ausgebreitetere Einsicht in einem Punkte anzumaßen, der die allgemeine menschliche Angelegenheit betrifft, als diejenige ist, zu der die große (für uns achtungswürdigste) Menge auch ebenso leicht gelangen kann, und sich also auf die Kultur dieser allgemein faßlichen und in moralischer Absicht hinreichenden Beweisgründe allein einzuschränken. (III B, xxxi–xxxiii)
1. Moralischer und physikotheologischer Gottesbeweis Ein solcher allgemein fasslicher Beweisgrund, der „vor der frühesten Aufkeimung des menschlichen Vernunftvermögens schon in demselben gelegen hat“ und der mit der fortgehenden Kultur der Vernunft durch die Schulen lediglich immer mehr entwickelt wird, so führt die dritte Kritik (V 458 f.) aus, ist der moralische Beweis des Daseins Gottes. Was vor der Entwicklung der Vernunft schon im Menschen gelegen hat, ist die Empörung über einen empfundenen Widerspruch, die offensichtliche Unvereinbarkeit des Weltlaufs mit der inneren „Zweckbestimmung ihres Gemüts“. „Sobald die Menschen über Recht und Unrecht zu reflektieren anfingen […], mußte sich das Urteil unvermeidlich einfinden: daß es im Ausgange nimmermehr einerlei sein könne, ob ein Mensch sich redlich oder falsch, billig oder gewalttätig verhalten habe.“ (Ebd.) Das Gerechtigkeitsempfinden fordert spontan eine Entsprechung zwischen Tun und Ergehen. Kant spricht von einer, obgleich dunklen, „Vorstellung von Etwas“, dem die Menschen „nachzustreben sich verbunden fühlten“ (ebd.). Die Menschen wissen, dass sie gerecht handeln sollen, und sie hoffen, dass auch ihnen Gerechtigkeit widerfährt. Der Weltlauf, in dem, wenigstens sichtbar, für die Tugend kein Glück und für das Verbrechen keine Strafe angetroffen wird, widerspricht dieser inneren Zweckbestimmung des Gemüts. Die Vernunft kann sich mit dem Widerspruch zwischen einem als Pflicht aufgegebenen Endzweck im Menschen und einer Natur ohne allen Endzweck außer ihm nicht abfinden, und sie kann Natur und Sittengesetz nur dadurch vereinigen, dass sie „eine nach moralischen Gesetzen die Welt beherrschende oberste Ursache“ denkt. Kant betont die Differenz zwischen praktischer und spekulativer Vernunft. Der gemeine, unkultivierte Menschenverstand, die „unausgebauteste Vernunft, sofern sie sich als praktisch betrachtet“,
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erfasst „jenes moralische Verhältniß in der Weltregierung“; es blieb in der Entwicklung des moralischen Beweises durch die Schulen „immer dasselbe“. Dagegen kann die spekulative mit der praktischen Vernunft „nicht gleichen Schritt halten“; sie konnte über „die innere Beschaffenheit jener Weltursache […] manchen Unsinn ausbrüten“ (ebd.). Unter den Gottesbeweisen ist nach dem Urteil der ersten Kritik der physikotheologische „der älteste, klärste und der gemeinen Menschenvernunft am meisten angemessene“ (III B, 651); die dritte Kritik (V, 477 f.) fragt, wodurch er „so gewaltigen Einfluß auf das Gemüt“ gewinnt. „Es sind nicht die physischen Zwecke, die alle auf einen unergründlichen Verstand in der Weltursache hindeuten; denn diese sind unzureichend, weil sie das Bedürfnis der fragenden Vernunft nicht befriedigen. Denn wozu sind (fragt diese) alle jene künstliche Naturdinge; wozu der Mensch selbst, bei dem wir als dem letzten für uns denkbaren Zwecke der Natur stehen bleiben müssen; wozu ist diese gesamte Natur da […]?“. Der gemeine Menschenverstand fragt nach dem letzten Zweck des Menschen und der gesamten Natur. Die Antwort, die Welt und der Mensch seien zum Genießen oder zum Bewundern geschaffen, kann die Vernunft nicht befriedigen, „denn diese setzt einen persönlichen Werth, den der Mensch sich allein geben kann, als Bedingung, unter welcher er allein und sein Dasein Endzweck sein kann, voraus“ (V, 477). Die Überzeugungskraft des physikotheologischen Beweises beruht darauf, dass sich in den Schluss „unvermerkt der jedem Menschen beiwohnende und ihn so innigst bewegende moralische Beweisgrund“ (ebd.) mit einmischt; man legt einem Wesen, dessen Kunst sich in den Zwecken der Natur zeigt, auch eine Endabsicht bei. Nur der moralische Beweisgrund bringt die Überzeugung von der Existenz eines Wesens hervor, das einen Endzweck verfolgt, „und auch diese nur in moralischer Rücksicht, wozu jedermann seine Beistimmung innigst fühlt“ (ebd.). Der moralische Beweisgrund bringt diese Überzeugung hervor, insofern sie notwendig ist, um moralisches Handeln für sinnvoll zu halten. Damit geht er nicht über die Einsicht der gemeinen menschlichen Vernunft hinaus; jedermann fühlt, dass moralisches Handeln nur dann sinnvoll ist, wenn man die Existenz einer obersten Ursache annimmt, deren Endzweck der Mensch unter moralischen Gesetzen ist. Der physikotheologische Beweis hat das Verdienst, den Menschen nach Zwecken und nach der Ursache der Zweckmäßigkeit in der Natur fragen zu lassen und ihn so „des moralischen Beweises empfänglicher zu machen“ (V, 478). Die Frage nach
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Zwecken scheint dann zur Frage nach einem letzten Zweck zu führen; „die moralische Beziehung auf Zwecke und die Idee eines eben solchen Gesetzgebers und Welturhebers“ scheint sich so aus dem physikotheologischen Beweis „von selbst zu entwickeln“. Das ist ein Fehlschluss; es handelt sich, so betont Kant, um zwei verschiedene Beweise; der physikotheologische Beweis wird durch das moralische Argument, das eine reine Zugabe ist, ergänzt. Dennoch könne man es „in dem gewöhnlichen Vortrage“ auch fernerhin dabei belassen. „Denn dem gemeinen und gesunden Verstande wird es gemeiniglich schwer, die verschiedenen Prinzipien, die er vermischt, und aus deren einem er wirklich allein und richtig folgert, wenn die Absonderung viel Nachdenken bedarf, als ungleichartig von einander zu scheiden.“ (Ebd.)
2. Das Reich der Zwecke Die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten handelt vom Gemeinsinn in einer zweifachen Bedeutung. Sie betont die Bedeutung der „gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis“ (IV, 392), und sie fordert in der Formel vom Reich der Zwecke ein Handeln, das sich das gemeinsame Gut zum Ziel setzt. Hat der Gemeinsinn in dieser zweifachen Bedeutung eine Beziehung zur Transzendenz? Der Erste Abschnitt der Grundlegung trägt die Überschrift „Von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis zur philosophischen“. Es geht darum, „in der moralischen Erkenntnis der gemeinen Menschenvernunft bis zu deren Prinzip“ zu gelangen (IV, 403). Dabei lehrt man die gemeine Menschenvernunft nicht „im mindesten etwas Neues“; man macht „sie nur, wie Sokrates tat, auf ihr eigenes Prinzip aufmerksam“ (IV, 404). Im Unterschied zur theoretischen Vernunft ist bei der praktischen Vernunft eine Kritik der reinen Vernunft „nicht von so äußerster Notwendigkeit […], weil die menschliche Vernunft im Moralischen selbst beim gemeinsten Verstande leicht zu großer Richtigkeit und Ausführlichkeit gebracht werden kann, da sie hingegen im theoretischen, aber reinen Gebrauch ganz und gar dialektisch ist“ (IV, 391). Die „Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität“ (IV, 392) ist die Grundlegung einer Metaphysik, d. h. einer reinen Philosophie aus Prinzipien a priori. Alle sittlichen Begriffe haben „völlig a priori in der Vernunft ihren Sitz und Ursprung […] und
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dieses zwar in der gemeinsten Menschenvernunft eben sowohl, als in der im höchsten Maß spekulativen“; sie können „von keinem empirischen und darum bloß zufälligen Erkenntnisse abstrahiert werden“; „in dieser Reinigkeit ihres Ursprungs“ liegt „ihre Würde […], uns zu obersten praktischen Prinzipien zu dienen“ (IV, 411). Aufgabe der praktischen Philosophie ist es zu klären, wo im praktischen Vernunftvermögen das mit der sokratischen Methode gefundene Prinzip der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis seinen Ursprung hat und dieses Prinzip durch die Unterscheidung von Maximen, die auf einem Bedürfnis oder einer Neigung beruhen, richtig zu bestimmen (vgl. IV, 405; 412). Wie das im Zweiten Abschnitt der Grundlegung ausgeführt wird, kann und braucht hier nicht im Einzelnen verfolgt zu werden. Die Argumentation führt schließlich vom Begriff der Autonomie eines jeden vernünftigen Wesens „auf einen ihm anhängenden sehr fruchtbaren Begriff, nämlich den eines Reichs der Zwecke“. Dieses Reich ist „ein Ganzes aller Zwecke“ (IV, 433); in ihm wird jedes vernünftige Wesen als Zweck an sich selbst geachtet, und in ihm werden alle Zwecke, die ein vernünftiges Wesen sich setzt, erfüllt. Dieses Ganze aller Zwecke ist dadurch möglich, dass jedes vernünftige Wesen niemals bloß als Mittel, sondern immer zugleich als Zweck an sich selbst behandelt wird und dass die subjektiven Zwecke, die das einzelne vernünftige Wesen sich setzt, durch Gesetze auf ihre allgemeine Gültigkeit hin geprüft werden, d. h. dass geprüft wird, ob es sich um erlaubte oder gebotene Zwecke handelt. Kants Ausführungen über das Reich der Zwecke lassen zwei Fragen offen. (a) Das Reich der Zwecke ist „nur ein Ideal“ (IV, 433), eine „praktische Idee“ (IV, 436), ein mundus intelligibilis (IV, 438). Wie verhält diese Idee sich zum Prinzip der gemeinen Menschenvernunft? Lässt sie sich, was die Grundlegung nahelegt, aus diesem Prinzip deduzieren? Wo ist ihr Ort und welches ist ihre Funktion im praktischen Vernunftvermögen, das deutlich darzustellen Aufgabe des Zweiten Abschnitts der Grundlegung ist? Das Reich der Zwecke, so wird die Funktion beschrieben, „ist eine praktische Idee, um das, was nicht da ist, aber durch unser Thun und Lassen wirklich werden kann, und zwar eben dieser Idee gemäß, zustande zu bringen“ (IV, 436 Anm.). (b) Zum Reich der Zwecke gehört ein vernünftiges Wesen entweder als „Glied“ oder als „Oberhaupt“ (IV, 433). Das ergibt sich daraus, dass das Reich der Zwecke alle vernünftigen Wesen umfasst und dass bei den vernünftigen Wesen zu unterscheiden ist zwischen solchen mit einem
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unvollkommenen Willen und einem Wesen mit einem heiligen Willen. Aber soll die Bezeichnung „Oberhaupt“ darüber hinaus eine besondere Funktion im Reich der Zwecke zum Ausdruck bringen? Der Abschnitt „Vom Ideal des höchsten Guts, als einem Bestimmungsgrunde des letzten Zwecks der reinen Vernunft“ (III B, 832–847) in der Methodenlehre der ersten Kritik gibt eine erste Antwort. Die reinen moralischen Gesetze, die das sittliche Urteil eines jeden Menschen bezeugt, führen zur Idee eines Reichs der Zwecke. Es ist für die Vernunft „in ihrem theoretischen Gebrauch“ notwendig anzunehmen, dass „das System der Sittlichkeit mit dem der Glückseligkeit unzertrennlich, aber nur in der Idee der reinen Vernunft verbunden sei“. In einer „intelligibelen Welt“, in deren Begriff wir von allen Hindernissen der Moralität abstrahieren, lässt sich ein solches System der mit der Sittlichkeit verbundenen Glückseligkeit denken, weil die durch sittliche Gesetze bestimmte Freiheit selbst die Ursache der allgemeinen Glückseligkeit, „die vernünftigen Wesen also selbst, unter der Leitung solcher Prinzipien, Urheber ihrer eigenen und zugleich anderer dauerhafter Wohlfahrt sein würden“. Das Sittengesetz, das jeder befolgen soll, hat also das Reich der Zwecke zum Ziel. Aber dieses System der sich selbst lohnenden Moralität beruht auf der Voraussetzung, dass jeder auch tut, was er soll. Da aber das moralische Gesetz für jeden einzelnen auch dann gilt, wenn andere sich nicht entsprechend dem Gesetz verhalten, so ist weder aus der Natur der Dinge der Welt, noch der Kausalität der Handlungen selbst und ihrem Verhältnisse zur Sittlichkeit bestimmt, wie sich ihre Folgen zur Glückseligkeit verhalten werden, und die angeführte notwendige Verknüpfung der Hoffnung, glücklich zu sein, mit dem unablässigen Bestreben, sich der Glückseligkeit würdig zu machen, kann durch die Vernunft nicht erkannt werden, wenn man bloß Natur zum Grunde legt, sondern darf nur gehofft werden, wenn eine höchste Vernunft, die nach moralischen Gesetzen gebietet, zugleich als Ursache der Natur zum Grunde gelegt wird. (III B, 837 f.)
Das Ziel des Sittengesetzes ist die Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit. Es würde erreicht in einer Welt, in der jeder das Sittengesetz befolgt, aber diese Welt ist nur eine Idee. Die Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit kann deshalb nur bewirkt werden von einer Intelligenz, „in welcher der moralisch vollkommenste Wille […] die Ursache aller Glückseligkeit in der Welt ist, so fern sie mit der Sittlichkeit (also der Würdigkeit, glücklich zu sein) in genauem Verhältnis steht“. Kant bezeichnet auch diese Welt
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als „intelligibele, d. i. moralische Welt“ (III B, 838 f.). Er verweist auf Leibniz’ Begriff des Reichs der Gnaden: der Welt, „sofern man auf die vernünftigen Wesen und ihren Zusammenhang nach moralischen Gesetzen und der Regierung des höchsten Guts Acht hat“ (III B, 840). Wesentlich für Kants Begriff der intelligiblen Welt ist die in ihr gegebene notwendige Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit. Sie ist, wie der Begriff des Reichs der Zwecke zeigt, das Ziel des Sittengesetzes und als solches eine notwendige Idee der praktischen Vernunft. Die praktische Vernunft fordert, dass die Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit möglich ist, andernfalls wäre das Sittengesetz eine sinnlose Forderung. Wir müssen uns „notwendiger Weise durch die Vernunft, als zu einer solchen [sc. intelligiblen] Welt gehörig vorstellen“ (III B, 839). Sich „im Reiche der Gnaden zu sehen, wo alle Glückseligkeit auf uns wartet, außer so fern wir unseren Anteil an derselben durch die Unwürdigkeit, glücklich zu sein, nicht selbst einschränken, ist eine praktisch notwendige Idee der Vernunft“ (III B, 840). Wir müssen uns „nach den Vorschriften der reinen aber praktischen Vernunft“ in die intelligible Welt versetzen, in der die der Sittlichkeit entsprechende Glückseligkeit das höchste Gut ausmacht (III B, 842). Die Ideen der Sittlichkeit müssen „den ganzen Zweck, der einem jeden vernünftigen Wesen natürlich und durch eben dieselbe reine Vernunft a priori bestimmt und notwendig ist, erfüllen“ (III B, 841 Hervorh. F. R.). Wer der Glückseligkeit würdig ist, muss hoffen können, „ihrer teilhaftig zu werden. Selbst die von aller Privatabsicht freie Vernunft, wenn sie, ohne dabei ein eigenes Interesse in Betracht zu ziehen, sich in die Stelle eines Wesens setzte, das alle Glückseligkeit andern auszuteilen hätte, kann nicht anders urteilen; denn in der praktischen Idee sind beide Stücke wesentlich verbunden.“ (III B, 841)
3. Der praktische Glaube Die dritte Kritik entfaltet diese Zusammenhänge mit Hilfe des Begriffs des praktischen Glaubens. Glaube ist „der beharrliche Grundsatz des Gemüts, das, was zur Möglichkeit des höchsten moralischen Endzwecks vorauszusetzen ist, wegen der Verbindlichkeit zu demselben als wahr anzunehmen, obzwar die Möglichkeit desselben, aber eben so wohl auch die Unmöglichkeit von uns nicht eingesehen werden kann“ (V, 471 f.). Wie verhalten sich moralisches Gesetz und praktischer Glaube?
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(a) Die Vernunft berechtigt zum Glauben. Das moralische Gesetz, die praktische Vernunft, schreibt den höchsten moralischen Endzweck vor; wenn die Vernunft den Endzweck vorschreibt, dann muss die Vernunft versprechen, dass der Endzweck erreichbar ist, und sie muss folglich dazu berechtigen anzunehmen, dass die dafür erforderlichen Bedingungen der Möglichkeit gegeben sind. „Denn ein Endzweck kann durch kein Gesetz der Vernunft geboten sein, ohne daß diese zugleich die Erreichbarkeit desselben, wenn auch ungewiß, verspreche und hiemit auch das Fürwahrhalten der einzigen Bedingungen berechtige, unter denen unsere Vernunft sich diese allein denken kann.“ (V, 471) (b) Die Vernunft gebietet den Glauben. Die praktische Vernunft kann nur tätig werden, wenn sie annimmt, dass ihr höchstes Objekt, „das höchste durch Freiheit zu bewirkende Gut in der Welt“, möglich ist. Die objektive Realität dieses Begriffs kann für den theoretischen Vernunftgebrauch nicht bewiesen werden. Aber der „Gebrauch“ dieses Begriffs ist „zur bestmöglichen Bewirkung jenes Zwecks doch durch die praktische reine Vernunft geboten“ und muss mithin „als möglich angenommen werden“ (V, 469). Der Glaube ist geboten, weil der moralische Gebrauch unserer Vernunft ohne ihn nicht möglich ist; er ist „Annahme in praktischer und dazu gebotener Beziehung für den moralischen Gebrauch unserer Vernunft“ (V, 470). Er ist die „moralische Denkungsart der Vernunft im Fürwahrhalten desjenigen, was für das theoretische Erkenntnis unzugänglich ist“ (V, 471); ein dogmatischer Unglaube, der den Vernunftideen deshalb, weil es ihnen an theoretischer Begründung ihrer Realität fehlt, alle Gültigkeit abspricht, kann „mit einer in der Denkungsart herrschenden sittlichen Maxime nicht zusammen bestehen (denn einem Zwecke, der für nichts als Hirngespinst erkannt wird, nachzugehen, kann die Vernunft nicht gebieten)“ (V, 472).
4. Religionspflicht Durch den Begriff seines Endzwecks, des höchsten Guts, führt das moralische Gesetz zur Religion, der „Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote“ (KpV, V, 129), nicht als willkürlicher Verordnungen eines fremden Willens, sondern als wesentlicher Gesetze eines jeden freien Willens für sich selbst. Diese Gesetze müssen als Gebote des höchsten Willens angesehen werden, weil wir nur von einem moralisch vollkommenen
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und zugleich allmächtigen Willen das höchste Gut erhoffen können. Das moralische Gesetz macht es uns zur Pflicht, dass wir uns das höchste Gut zum Ziel unseres Handelns machen. Die Pflichten als göttliche Gebote zu betrachten bedeutet, sie in dem Bewusstsein zu erfüllen, damit dem Willen des heiligen und allmächtigen Gesetzgebers zu gehorchen und durch die Übereinstimmung mit diesem Willen zum höchsten Gut zu gelangen. Die Religionsschrift zitiert diese Definition mit einer Qualifikation. „Religion ist (subjektiv betrachtet) das Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote“ (VI, 153 Hervorh. F. R.). Es geht also nicht um Religion als Lehre oder Institution, sondern als propositionale Einstellung. Religion als propositionale Einstellung verbindet das Bewusstsein des moralischen Gesetzes mit der Hoffnung auf die Verwirklichung von dessen Ziel, des höchsten Guts. Kant betont, diese Definition solle der irrigen Vorstellung vorbeugen, Religion sei „ein Inbegriff besonderer, auf Gott unmittelbar bezogener Pflichten […] Es gibt keine besonderen Pflichten gegen Gott in einer allgemeinen Religion; denn Gott kann von uns nichts empfangen; wir können auf ihn und für ihn nicht wirken“ (VI, 154). Die Moral, so unterscheidet die Vorrede zur ersten Auflage der Religionsschrift, sofern sie auf dem Begriff des Menschen als eines autonomen Wesens gründet, bedarf weder der Idee eines Wesens über ihm, um die Pflicht zu erkennen, noch bedarf sie einer anderen Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten. Dennoch, so die These, führt Moral „unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll“ (VI, 6). Die Moral braucht keine Zweckvorstellung, welche der Willensbestimmung vorhergeht; dennoch hat sie eine notwendige Beziehung auf den Zweck, zwar nicht als den Grund, aber doch als die Folgen der Maximen. „Denn ohne alle Zweckbeziehung kann gar keine Willensbestimmung im Menschen im Menschen stattfinden“ (VI, 4). Die Willensbestimmung kann nicht ohne Wirkung sein. Die Willkür braucht, um sich bestimmen zu können, eine Vorstellung von der Wirkung ihrer Bestimmung durch das Gesetz. Denn andernfalls wüsste sie zwar wie, aber nicht wohin sie zu wirken hat, und sie könnte sich infolge dieses Mangels nicht bestimmen. Die Moral bedarf zum Rechthandeln keines Zwecks, sondern Gesetz ist ihr genug.
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Aber aus der Moral geht doch ein Zweck hervor; denn es kann der Vernunft doch unmöglich gleichgültig sein, wie die Beantwortung der Frage ausfallen möge: was dann aus diesem unserem Rechthandeln herauskomme, und worauf wir, gesetzt auch, wir hätten dies nicht völlig in unserer Gewalt, doch als auf einen Zweck unser Thun und Lassen richten könnten, um damit wenigstens zusammen zu stimmen. (VI, 4)
Dieser Zweck ist zwar nur die Idee von einem Objekt, „aber diese Idee ist (praktisch betrachtet) doch nicht leer: weil sie unserem natürlichen Bedürfnisse, zu allem unserem Tun und Lassen im Ganzen genommen irgendeinen Endzweck, der von der Vernunft gerechtfertigt werden kann, zu denken, abhilft, welches sonst ein Hindernis der moralischen Entschließung sein würde“ (VI, 5). Dieses natürliche Bedürfnis ist eine der „unvermeidlichen Einschränkungen des Menschen und seines […] praktischen Vernunftvermögens“ (VI, 7). Der Mensch fragt bei allen seinen Handlungen nach dem Erfolg, um in diesem etwas zu finden, das ihm als Zweck dienen und die Reinheit seiner Absicht beweisen könnte; der Erfolg ist „in der Ausübung (nexu effectivo) zwar das letzte, in der Vorstellung aber und der Absicht (nexu finali) das erste“ (VI, 7). Der Erfolg, die Wirkungen der Moralität, muss in der Erfahrung gegeben sein; sie verschafft „dem Begriff der Sittlichkeit als Kausalität in der Welt objektive, wenngleich nur praktische Realität“ (VI, 7). Um diesem Bedürfnis zu entsprechen, nimmt das moralische Gesetz den moralischen Endzweck unter seine Bestimmungsgründe auf. Der Satz „mache das höchste in der Welt mögliche Gut zu deinem Endzweck! ist ein synthetischer Satz a priori, der durch das moralische Gesetz selber eingeführt wird, und wodurch gleichwohl die praktische Vernunft sich über das letztere erweitert“ (VI, 7). Das ist dadurch möglich, dass das moralische Gesetz auf die Natureigenschaft des Menschen bezogen wird, sich zu allen Handlungen außer dem Gesetz noch einen Zweck denken zu müssen. Das Bedürfnis des Menschen, „zu seinen Pflichten sich noch einen Endzweck, als den Erfolg derselben, zu denken“ ist in ihm „moralisch gewirkt“ (VI, 6). Die Idee des höchsten Guts „geht aus der Moral hervor und ist nicht die Grundlage derselben; ein Zweck, welchen sich zu machen, schon sittliche Grundsätze voraussetzt“ (VI, 5). Die Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote wird von Kant nicht nur als Religion, sondern auch als „Religionspflicht“ bezeichnet. „Aber“, so betont er, „dieses ist nicht das Bewußtsein einer Pflicht
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gegen Gott“ (VI, 443). Der Mensch hat nur Pflichten gegen den Menschen, „denn seine Pflicht gegen irgend ein Subjekt ist die moralische Nötigung durch dieses seinen Willen“. Das nötigende (verpflichtende) Subjekt muss eine Person sein, die als Gegenstand der Erfahrung gegeben ist: „weil der Mensch auf den Zweck ihres Willens hinwirken soll, welches nur in dem Verhältnisse zweier existierender Wesen zu einander geschehen kann“ (VI, 442). Nun kennen wir aber in unserer Erfahrung kein anderes Wesen, das der (aktiven oder passiven) Verpflichtung fähig wäre, als nur den Menschen. Also kann der Mensch gegen kein anderes Wesen als gegen den Menschen Pflichten haben; dennoch stellt er sich vor, solche zu haben. Zu diesem Irrtum wird er dadurch verleitet, „daß er seine Pflicht in Ansehung anderer Wesen“ mit der „Pflicht gegen diese Wesen verwechselt“ (VI, 442). Die Religionspflicht ist eine Pflicht in Ansehung der Idee von Gott, aber nicht eine Pflicht gegen Gott, denn diese Idee geht ganz aus unserer Vernunft hervor. Vielmehr ist es „Pflicht des Menschen gegen sich selbst, diese unumgänglich der Vernunft sich darbietende Idee auf das moralische Gesetz in uns, wo sie von der größten sittlichen Fruchtbarkeit ist, anzuwenden. In diesem (praktischen) Sinn kann es also so lauten: Religion zu haben ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst“ (VI, 444). Es ist die Pflicht „zur Stärkung der moralischen Triebfeder in unserer eigenen gesetzgebenden Vernunft“ (VI, 487).
5. Das höchste durch Freiheit mögliche Gut in der Welt Der Begriff des höchsten Gutes wird von Kant in einem zweifachen Sinn gebraucht. Das höchste Gut ist einmal, wie das Reich der Zwecke, eine praktische Idee, die wir durch unser Handeln in dieser Welt verwirklichen sollen. Es ist zum anderen das vollendete Gut, das wir erhoffen dürfen, wenn wir uns durch die Befolgung des Sittengesetzes seiner würdig gemacht, d. h. wenn wir nach Kräften die Idee des höchsten Gutes in dieser Welt verwirklicht haben. Beides ergibt sich aus dem Sittengesetz; es „gebietet, das höchste mögliche Gut in einer Welt mir zum letzten Gegenstande alles Verhaltens zu machen“ (V, 129), und ohne die Beziehung auf das vollendete Gut als den Endzweck „kann gar keine Willensbestimmung im Menschen stattfinden“ (VI, 4).
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Das moralische Gesetz schreibt uns a priori einen Endzweck vor, und das ist „das höchste durch Freiheit mögliche Gut in der Welt“ (V, 450). Das eine Erfordernis dieses Endzwecks ist ein mit der Natur des Menschen als endlichen Wesens gegebener „unwiderstehlicher Zweck, den die Vernunft nur dem moralischen Gesetze als unverletzlicher Bedingung unterworfen, oder auch nach demselben allgemein gemacht wissen will“ (V, 451). Das “höchste in der Welt mögliche und, so viel an uns ist, als Endzweck zu befördernde physische Gut ist Glückseligkeit: unter der objektiven Bedingung der Einstimmung des Menschen mit dem Gesetze der Sittlichkeit, als der Würdigkeit glücklich zu sein“ (V, 450). „Wir sind a priori durch die Vernunft bestimmt, das Weltbeste, welches in der Verbindung des größten Wohls der vernünftigen Weltwesen mit der höchsten Bedingung des Guten an denselben, d. i. der allgemeinen Glückseligkeit mit der gesetzmäßigsten Sittlichkeit, besteht, nach Kräften zu befördern.“ (V, 453) Das moralische Gesetz gebietet uns, diesen Endzweck so viel in unserem Vermögen ist zu befördern; der Erfolg, „den diese Bemühung hat, mag sein, welcher er wolle. Die Erfüllung der Pflicht besteht in der Form des ernstlichen Willens, nicht in den Mittelursachen des Gelingens“ (V, 451). Das vollendete Gut beschreibt Kant im Anschluss an die christliche Lehre vom Reich Gottes als eine Welt, in der „Natur und Sitten in eine jeder von beiden für sich selbst fremde Harmonie durch einen heiligen Urheber kommen, der das abgeleitete höchste Gut möglich macht. Die Heiligkeit der Sitten wird ihnen in diesem Leben schon zur Richtschnur angewiesen, das dieser proportionale Wohl aber, die Seligkeit, nur als in einer Ewigkeit erreichbar vorgestellt“, weil sie in dieser Welt gar nicht erreicht werden kann „und daher lediglich zum Gegenstand der Hoffnung gemacht wird“ (V, 128). Nach der Religionsschrift ist „die Idee eines höchsten Gutes in der Welt“ die Idee von einem Objekt, welches die formale Bedingung aller Zwecke, die wir haben sollen (die Pflicht), und zugleich alles damit zusammenstimmende Bedingte aller derjenigen Zwecke, die wir haben (die jener ihrer Beobachtung angemeßne Glückseligkeit), zusammen vereinigt in sich enthält […], zu dessen Möglichkeit wir ein höheres, moralisches, heiligstes und allvermögendes Wesen annehmen müssen, das allein beide Elemente desselben vereinigen kann. (VI, 5)
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Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem höchsten Gut als der Idee, die wir in dieser Welt nach Kräften verwirklichen sollen, und dem höchsten Gut als dem vollendeten Gut, das wir nur erhoffen dürfen? Es ist Pflicht für uns, so argumentiert die zweite Kritik (V, 125), „das höchste Gut zu befördern, mithin nicht allein Befugnis, sondern auch mit der Pflicht als Bedürfnis verbundene Notwendigkeit, die Möglichkeit dieses höchsten Gutes vorauszusetzen“, und diese Möglichkeit ist nur gegeben, wenn Gott existiert. Was ist hier unter dem höchsten Gut zu verstehen, dessen Möglichkeit vorauszusetzen eine mit der Pflicht verbundene Notwendigkeit ist? Es kann sich um die Möglichkeit des höchsten Gutes handeln, das zu befördern meine Pflicht ist, d. h. des höchsten Gutes in dieser Welt. Bei dieser Interpretation haben wir es mit einer geschichtsphilosophischen These zu tun. Der Einsatz für eine gerechte Welt erfordert den Glauben an Gott, der die Geschichte einmal zu diesem Ziel führen wird. Es kann sich zweitens um die Möglichkeit des höchsten Gutes handeln, das nur in einer anderen Welt, in der Ewigkeit, erhofft werden darf. Diese Interpretation wird durch den Kontext der Dialektik der zweiten Kritik nahe gelegt. Dann aber haben wir es mit zwei verschiedenen Begriffen des höchsten Guts zu tun. Das Argument zeigt nur, dass für ein sinnvolles Handeln die Möglichkeit des zu erreichenden Zieles vorausgesetzt werden muss; das aber ist das höchste Gut in dieser Welt und nicht das erhoffte höchste Gut im Jenseits. Die dritte Kritik argumentiert: Es ist nicht notwendig, das Dasein Gottes anzunehmen, um die Gültigkeit des moralischen Gesetzes anzuerkennen. „Nein! Nur die Beabsichtigung des durch die Befolgung des letztern zu bewirkenden Endzwecks in der Welt (einer mit der Befolgung moralischer Gesetze harmonisch zusammentreffenden Glückseligkeit vernünftiger Wesen, als des höchsten Weltbesten) müsste alsdann aufgegeben werden.“ (V 451) Kant bringt den Fall des rechtschaffenen Mannes, der uneigennützig nur den Zweck verfolgt, den das moralische Gesetz ihm vorschreibt, der aber überzeugt ist, es sei kein Gott und auch kein zukünftiges Leben. Die Möglichkeiten dieses Wohlgesinnten, das höchste Gut in der Welt zu verwirklichen, wie es das moralische Gesetz vorschreibt, sind begrenzt. Von der Natur kann er allenfalls eine zufällige, niemals aber eine gesetzmäßige „Zusammenstimmung zu dem Zwecke erwarten, welchen zu bewirken er sich doch verbunden und angetrieben fühlt“ (V, 452). Auch wenn er selbst redlich und wohlwollend ist, wird es immer Betrug, Gewalttätigkeit
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und Neid geben, und die Rechtschaffenen, die er außer sich noch antrifft, werden „unangesehen aller ihrer Würdigkeit glücklich zu sein“ (V, 452) wie die Tiere von der Natur den Übeln des Mangels, der Krankheit und des vorzeitigen Todes unterworfen sein. Das moralische Gesetz schreibt dem Wohlgesinnten vor, das höchste Gut in dieser Welt zu verwirklichen, und der Wohlgesinnte sieht, dass dieses Ideal in dieser Welt nicht verwirklicht werden kann. Damit steht er vor folgender Alternative: (a) Er kommt zu der Überzeugung, dass das Sittengesetz ein nichtiges Ideal vorschreibt; dadurch wird seine Achtung vor dem Sittengesetz geschwächt. (b) Er hält an der Verbindlichkeit des vom Sittengesetz vorgeschriebenen Zwecks fest und nimmt an, dass dieser Zweck erst in einer anderen Welt verwirklicht werden kann; das kann er nur, wenn er „das Dasein eines moralischen Welturhebers“ (V, 453) annimmt. Dieser „alleinige unumschränkte Gesetzgeber“ muss so vorgestellt werden, dass er den Wert der vernünftigen Wesen nur nach ihrem uneigennützigen, bloß aus jener Idee [sc. des Reichs der Zwecke] ihnen selbst vorgeschriebenen Verhalten beurtheilte. Das Wesen der Dinge ändert sich durch ihre äußeren Verhältnisse nicht, und was, ohne an das letztere zu denken, den absoluten Wert des Menschen allein ausmacht, darnach muss er auch, von wem es auch sei, selbst vom höchsten Wesen, beurtheilt werden. (GMS, IV, 439)
Der Wohlgesinnte braucht also den Zweck, den das moralische Gesetz ihm vorschreibt, nicht aufzugeben. Er erhält seinen Wert durch den Zweck, den er in dieser Welt verfolgt, wie immer es mit dem Erfolg in dieser Welt, der nicht in seine Hand gegeben ist, aussehen mag, und er ist überzeugt, dass ein moralischer Welturheber existiert, der ihn nach seinem Wert beurteilt. Der Gemeinsinn, der Einsatz für das größte in dieser Welt mögliche Gut, braucht um nicht zu resignieren den philosophischen Glauben an ein trans zendentes moralisches und allvermögendes Wesen.
Kants Analyse der Sünde – das radikale Böse und sein Transzendenzbezug Thomas Rentsch
Um das Verhältnis von Transzendenz, Praxis und Politik bei Kant systematisch zu verdeutlichen, ist auch die Bedeutung der Reflexion der traditionellen Rede von der Sünde bei ihm wichtig. Die Lehre vom radikalen Bösen in der menschlichen Natur steht in Kants Werk bei näherer Betrachtung sogar im Zentrum seiner Analysen zur menschlichen Praxis.1
1. Sünde und Freiheit in Kants Reflexion Die Moral ist in ihrer Geltung unableitbar und eigenständig. Dennoch, und das macht Kants Ansatz so aufschlussreich, geht der Mensch nicht in Moralität auf. Seine Angewiesenheit auf ein sinnvolles Verständnis des ganzen Lebens überschreitet deren Geltungsbereich. Die Idee Gottes ist nach Kant verbunden mit der „Idee eines höchsten Guts in der Welt, zu dessen Möglichkeit wir ein höheres, moralisches, heiligstes und allvermögendes Wesen annehmen müssen“ – ein Wesen, das Moral und Glück „vereinigen kann“(vgl. VI, 5). Kant geht in seiner Grenzreflexion noch weiter. Würde ein moralisches Freiheitswesen das Moralgesetz erkannt haben, aber gleichsam noch „weltlos“ sein, so „würde [es] auch wollen, dass eine Welt überhaupt existiere“ (VI, 5), und zwar auch um den Preis der Einbuße der Glückseligkeit und der Gefahr des Scheiterns. Wir können diese kritische Grenzreflexion Kants gleichsam als dialektische Umkehrung der Pascalschen Wette lesen. Während Pascal auf den allmächtigen Gott setzt und diese Wette in ihrer funktionalen Rationalität erläutert, 1
Hinweise auf Gegenwartsbezüge entwickle ich in meinem Aufsatz Die Rede von der Sünde (Rentsch 2011).
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fingiert Kant ein weltloses moralisches Vernunftwesen, das in der Konsequenz der moralischen Geltung auch die Schöpfung im Interesse an der Existenz einer Welt vollzieht, in der Moral – das Gute – allein wirklich werden kann. Es geht Kant keineswegs um eine theologische Begründung der Moral. Es lässt sich zeigen: Indem Kant angesichts der Autonomie der Moral seine theologische Reflexion bei ihr ansetzt, verortet er die Gottesfrage im Zentrum der Frage des Menschen nach sich selbst. Genauer verortet er sie bei der Reflexion auf die transpragmatischen und insbesondere trans ethischen Sinnbedingungen aller unserer Praxis: „Moral also führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in dessen Willen derjenige Endzweck [der Weltschöpfung] ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll“ (VI, 6). Hier wird die schöpfungstheologische Dimension in Kants Ansatz sichtbar. Ebenso, wie die sinnkriteriale Reflexion der Gottesfrage Kants zur schöpfungstheologischen Dimension führt, so führt sie ihn auch zur interexistentiell-praktisch gedachten eschatologischen Erfüllungsperspektive. Denn nur so lässt sich seine Rede vom „höchste[n] in der Welt mögliche[n] Gut“ verstehen, welches „jedermann sich […] zum Endzwecke machen sollte“ (VI, 7, FN). Wir können dies so reformulieren: In der Grammatik unserer praktischen Orientierungssprache und unserer Sinnentwürfe – ohne die wir uns selbst nicht angemessen verstehen können – ist ein Vorgriff auf Gelin gen eingearbeitet. Wenn wir handeln, wenn wir überhaupt etwas anstreben, dann antizipieren und unterstellen wir notwendig dessen Sinn und auch das Gelingen dieses Handelns und Strebens. Alle zum Kernbereich humaner Praxis gehörenden Sinnentwürfe: Freundschaft, wechselseitige Hilfe, Uneigennützigkeit, Aufrichtigkeit, Formen des Teilens und des Abgebens, der offenen Aussprache, aber ebenso bereits der Anspruch, gute Arbeit zu leisten, einen guten Unterricht zu machen, gut zu kochen, gut zu beraten, gut zu heilen – all diese Sinnentwürfe sind, recht verstanden, auf Erfüllung ausgerichtet – bereits bevor sie konkret begonnen werden. Diese immanent-eschatologische Erfüllungsperspektive ist handlungssinnkonstitutiv, weiter gedacht: lebenssinnkonstitutiv. Kant spricht an dieser Stelle von der erhofften Koinzidenz von Moral und Glück (Glückseligkeit). In dieser Dimension – ebenso wie in der der Schöpfung, der Existenz der Welt überhaupt – verortet er den Sinn der Rede von Gott.
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Dass es Kant gerade um die Verortung eines wahrhaftigen Gottesverhältnisses im Kontext der transpragmatischen und transethischen, transfunktionalen Sinnbedingungen der gemeinsamen humanen Existenz geht, zeigt sich in seiner Analyse des „radikalen Bösen in der menschlichen Natur“. Kants Vernunftkritik ist gerade aufgrund ihres Realismus und ihrer illusionslosen anthropologischen Prämissen allen rationalistischen, idealistischen und in diesem Sinne moralistischen Ansätzen überlegen. Er arbeitet nicht nur auf existentiell-realistische Weise gegen den antiken Eudämonismus die grundlegende Differenz von Moral und Glück heraus, er analysiert in der Religions schrift die strukturelle Fragilität, Ambivalenz und Fehlbarkeit auch der besten menschlichen Absichten: die „Schwäche“, die „Gebrechlichkeit“ des menschlichen „Herzens“ (als des Zentrums der menschlichen Person) und dessen „Hang“ zur Pervertierung des Guten in das Böse (VI, 29). Ich halte diese Analysen für zutreffend, zumal sie keine dogmatische Sündenontologie übernehmen, sondern für sich genommen die Konstitution eines endlichen, freien, moralischen und eben fragilen, schwachen, fehlbaren Wesens aufweisen. Geschichte, Praxis, Lebenserfahrung und aller Alltag zeigen uns, dass die von Kant analysierten Pervertierungen für die menschliche Wirklichkeit auch dann prägend sind, wenn wir es nicht mit offen verbrecherischen Handlungen zu tun haben, sondern mit ‚ganz normalem‘ Verhalten und mit sinnvoller Praxis. Auch das gute Handeln kann ich aus Eitelkeit, aus Eigennutz tun, „und der Mensch ist bei lauter guten Handlungen dennoch böse“ (VI, 31). Ebenso antizipiert Kant Befunde der Psychoanalyse, aber auch unserer alltäglichen Erfahrung, wenn er bemerkt, „es sei in dem Unglück unsrer besten Freunde etwas, das uns nicht ganz mißfällt“ (VI, 33). Die gesamte Perversionsanalyse der Moralität, die Kant hier leistet, bezeugt, dass und wie er die Dimension eines authentischen Gottesverständnisses bei den transpragmatischen und transmoralischen Sinnbedingungen eines gesamten, praktischen, selbstbewussten menschlichen Lebensverständnisses ansetzt. Sie lässt sich wie folgt reformulieren: Wir sind selbst mit unseren besten Intentionen und Sinnentwürfen von definitivem Scheitern bedroht, faktisch und praktisch, und vor allem auch in der Perspektive der Selbstreflexivität. Es ist die erkenntniskritische Stärke Kants, das solchermaßen aufgewiesene Böse weder naturalistisch zu ontifizieren – dies käme in der Konsequenz einer bloßen Animalisierung des Menschen gleich, noch es gänzlich
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mit dem bewussten Willen gleichzusetzen. Der reine böse Wille würde den Menschen schlechthin zu einem Teufel machen. Vielmehr besteht die für ein tiefergehendes Religions- und Gottesverständnis wesentliche Einsicht darin, dass die freie und reflexive moralische Lebenspraxis von einer tief greifenden, strukturellen, konstitutiven Ambivalenz geprägt ist, so dass wir der Authentizität unserer Orientierungen nie ganz gewiss sein können. Anders formuliert: Wir können unser Inneres, unser „Herz“ nicht gänzlich durchschauen – wir sind uns nicht „durchsichtig“. Die Transparenz unserer inneren Natur wie auch der mit ihr verwobenen moralischen, personalen Identität ist erkenntniskritisch begrenzt: endlich, fragil, ambivalent, materiell bedingt und partial verdeckt. Subtil unterscheidet Kant Stufen solcher Verdecktheit bis hin zur bewussten Pervertierung. Seine durchgeführten Analysen zur Unredlichkeit, zur Selbstgerechtigkeit und zur Nichtswürdigkeit zeigen negativ-anthropologisch und tiefenhermeneutisch eine radikale Problematik an der Basis und an den Grenzen aller Moralität und aller authentischen menschlichen Selbstverständnisse auf. Genau an dieser Stelle erläutert Kant, worin ein wahrhaftiger Transzen denzbezug in diesem Kontext radikaler Fragilität und Ambivalenz besteht, und zwar gerade so, dass dieser Transzendenzbezug nicht auf die Rolle einer bloß funktional dem Bedürfnis nach Bewältigung der besagten existentiellpraktischen Problematik entsprechenden Instanz eingeschränkt werden kann. Vielmehr zeigt seine Konstitutions- und Geltungsanalyse – vorgreifend mit Wittgenstein formuliert – den grammatischen Ort einer Hoffnungslogik, die zu den existenztragenden Sinnbedingungen humaner Praxis gehört. Kant führt erkenntniskritisch aus, warum der „Vernunftursprung“ des MoralischBösen, der die nicht „zeitlich“ zu denkende Freiheit voraussetzt, nicht weiter erklärbar, aus natürlichen Anlagen nicht ableitbar, mithin kein empirisches Phänomen ist: „Diese Unbegreiflichkeit […] drückt die Schrift […] dadurch aus, daß sie das Böse zwar im Weltanfange, doch noch nicht im Menschen, sondern in einem Geiste von ursprünglich erhabnerer Bestimmung voranschickt.“ (VI, 43 f.) Die Grenzen der Moralität zeigen sich in dieser von Kant herausgearbeiteten, tiefgreifenden Ambivalenz des menschlichen Selbstverständnisses und in der mit der Freiheit auf nicht weiter begreifliche Weise verbundenen Möglichkeit und Wirklichkeit des Bösen. Zu den transpragmatischen und transethischen Bedingungen eines vernünftigen (moralisch-praktischen) menschlichen Selbstverständnisses gehört nun Kant zufolge gerade angesichts der dauernden Fragilität, Ambi-
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valenz und der Radikalität des Bösen eine fundamentale, einsichtsbezogene Änderung dieses Verständnisses. Zum Menschen und seinen authentischen Lebensmöglichkeiten gehört, dass er zu tiefgreifendem Wandel der Sicht fähig ist. Ein solcher existentieller Perspektivenwechsel gehört zu einem geklärten Gottesverständnis. Kant weist in diesem Kontext „allmählige Reformen“ des Verhaltens im Sinne einer aristotelischen gewohnheitsmäßigen Einübung des Sittlichen zurück. Es geht um eine „Herzensänderung“ angesichts der dauerhaften Fehlbarkeit, die Grenze und auf unbegreifliche, mit der Freiheit verbundene Weise Grund der Moralität ist: Daß aber jemand nicht bloß ein gesetzlich, sondern ein moralisch guter (Gott wohlgefälliger) Mensch, d. i. tugendhaft nach dem intelligiblen Charakter (virtus Noumenon), werde, […] das kann nicht durch allmählige Reform, so lange die Grundlage der Maximen unlauter bleibt, sondern muß durch eine Revoluti on in der Gesinnung im Menschen (einen Übergang zur Maxime der Heiligkeit derselben) bewirkt werden; und er kann ein neuer Mensch nur durch eine Art von Wiedergeburt gleich als durch eine neue Schöpfung (Ev. Joh, III, 5; verglichen mit 1. Mose I, 2) und Änderung des Herzens werden. (VI, 47)
Auch hier wieder entwickelt Kant an den Grenzen der menschlichen Lebenswirklichkeit und der menschlichen Möglichkeiten die Dimension eines Gottesverständnisses, das im Kern schöpfungstheologisch ist. Um ein authentisches humanes Selbstverständnis zu gewinnen, ist eine grundsätzliche „Umwandlung der Denkungsart“ nötig, die kreative, innovative „Gründung eines Charakters“. Kant radikalisiert nun neben der Dimension der Neuschöpfung die in diesem Kontext sinnkonstitutive Hoffnungsper spektive. Wir können uns den Übergang und den Eintritt in ein authentisches Selbstverständnis angesichts unserer Fehlbarkeit, Bedingtheit und Ambiva lenz nicht selbst empirisch vorstellen und absichern. Wir können von diesem guten Selbstverständnis weder ein ‚unmittelbares Bewusstsein‘ haben, noch können wir es durch einzelne Taten beweisen – alle diese pragmatischen Verfügbarkeitsvorstellungen erweisen sich negativ-anthropologisch und erkenntniskritisch als noch zu vordergründig bzw. illusionär: „Weil die Tiefe des Herzens (der subjective erste Grund seiner Maximen) ihm [sc. dem Menschen, Th. R.] selbst unerforschlich ist.“ (VI, 51) Mit diesen negativ-anthropologischen Analysen nimmt Kant tiefenhermeneutische und psychoanalytische Befunde des 20. Jahrhunderts vorweg. Aber er verbindet sie mit der Perspektive eines authentischen Lebensverständnisses und mit
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einer fundamental religiösen Orientierung. Angesichts seiner Fragilität muss der Mensch ‚hoffen können‘, dennoch eine sinnvolle und gelingende Praxis zu vollbringen. Ein vernünftiges Verständnis der Orientierung an Gott in einem auf Hoffnung gründenden Lebensentwurf bedarf der entschiedenen und entschlossenen existentiellen Aneignung der Hoffnungsperspektive. Diese Aneignung, dieser ‚Sprung‘ lässt sich empirisch nicht beobachten oder von außen feststellen, sondern er muss selbst vollzogen werden. Und weder „Schwärmerei“, noch „Aberglaube“, weder Erleuchtungsphantasien („Illuminatism“) noch magische Ersatzhandlungen („Thaumaturgie“) können diese bewusste Lebensentscheidung ersetzen (vgl. VI, 53). Den systematischen Konnex von Negativität und Selbsterkenntnis akzentuierend, kann Kant dialektisch pointiert formulieren, „das erste wahre Gute, was der Mensch thun kann“, ist, „vom Bösen auszugehen, welches nicht in den Neigungen, sondern in der verkehrten Maxime und also in der Freiheit selbst zu suchen ist“. (VI, 58, FN, hervorgehoben von Th. R.) Auf dieser Grundlage interpretiert Kant die christliche Botschaft von der Menschwerdung Gottes als der „personificirte[n] Idee des guten Princips“; der Gott gefällige Mensch ist sofern kein erschaffenes Ding, sondern sein eingeborner Sohn, ‚das Wort (das Werde!), durch welches alle andre Dinge sind, und ohne das nichts existirt, was gemacht ist‘ (denn um seinet-, d. i. des vernünftigen Wesens in der Welt, Willen, so wie es seiner moralischen Bestimmung nach gedacht werden kann, ist alles gemacht). – ‚Er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit.‘ – ‚In ihm hat Gott die Welt geliebt‘, und nur in ihm und durch Annehmung seiner Gesinnungen können wir hoffen, ‚Kinder Gottes zu werden’. (VI, 60 f.)
Es erfolgt bei Kant im Ansatz eine transzendental-praktische Reformulierung des Sinns der Botschaft von der Menschwerdung Gottes, der „Ernied rigung des Sohnes Gottes“ (VI, 61) und des Sinns der in diesem Zusammenhang fundamental dualistischen (gnostischen) Unterscheidungen von „Himmel“ und „Hölle“, Gut und Böse, Licht und Finsternis (VI, 60, FN). „Im praktischen Glauben an diesen Sohn Gottes […] kann nun der Mensch hoffen, Gott wohlgefällig (dadurch auch selig) zu werden.“ (VI, 62) Die anthropologische Dimension der Theologie und der Gottesperspektive, wie sie in Kants Deutung der Christologie zum Ausdruck kommt, ist somit kein zufälliges historisches Phänomen der Religionsgeschichte; angesichts der existentiell-praktischen Verortung des Gottesverständnisses
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lässt sich diese anthropologische Dimension vielmehr als konstitutiv für dessen Sinn explizieren. Bisher ist klar, dass Kant ein authentisches Gottesverständnis an den Grenzen eines unbedingten moralischen Selbstverständnisses und an der konstitutiven Begrenztheit der menschlichen Selbsterkenntnis (‚Unerforschlichkeit‘) verortet. Weil diese negativ-kritischen, transzendentalanthropologischen Grenzanalysen für ihn leitend sind, lässt sich Kants Theologie auch keineswegs als rationalistisch oder als funktionales Anhängsel der Moralphilosophie einordnen. Dazu hilfreich und wesentlich ist ein von Kant selbst herausgearbeitetes Konstituens. Es geht beim authentischen religiösen Selbstverständnis und Gottesverhältnis um Verständnis und Ausrichtung des ganzen Lebens: Denn das […] Princip der Gesinnung, wornach sein Leben beurtheilt werden muß, ist (als etwas Übersinnliches) nicht von der Art, daß sein Dasein in Zeitabschnitte theilbar, sondern nur als absolute Einheit gedacht werden kann, und da wir auf die Gesinnung nur aus den Handlungen (als Erscheinungen derselben) schließen können, so wird das Leben zum Behuf dieser Schätzung nur als Zeiteinheit, d. i. als ein Ganzes, in Betrachtung kommen. (VI, 70, FN)
Die Analysen Kants zur Gottesfrage verbinden somit Negativität, Praxis und Freiheit mit der anthropologischen Grundfrage nach einem authentischen existentiellen Selbstverständnis, einem Verständnis des ganzen Lebens, des Lebens im Ganzen angesichts dessen unverfügbarer Sinnbedingungen. Eine weitere, nicht preiszugebende Einsicht der Kantschen Analyse besteht in der prozessualen, dynamischen und kreativen Charakterisierung der Ausbildung des authentischen Selbstverständnisses. „Die Sinnesänderung ist nämlich ein Ausgang vom Bösen und ein Eintritt ins Gute, das Ablegen des alten und das Anziehen des neuen Menschen“, aber in dieser Wandlung „sind nicht zwei durch eine Zwischenzeit getrennte moralische Actus enthalten, sondern sie ist nur ein einiger, weil die Verlassung des Bösen nur durch die gute Gesinnung, welche den Eingang ins Gute bewirkt, möglich ist, und so umgekehrt“ (VI, 74, hervorgehoben von Th. R.; vgl. Röm. 7 und 8). Anders gesagt: Einerseits ist der Schritt (bzw. Sprung) in ein – in einem anspruchsvollen Sinne – existentiell-praktisches, moralisch authentisches Lebensverständnis mit grundlegenden Erfahrungen und Einsichten verbunden, die einmal und definitiv wirken und prägen (sonst hätte noch keine Einsicht stattgefunden). Andererseits
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ist gerade so die existentielle Aneignung und Praktizierung der Konsequenzen dieser Einsicht ein lebenslanger Prozess mit vielen Aspekten und Facetten. Gerade wenn wir in kritischer Selbsterkenntnis ein auf Hoffnung gegründetes Selbstverständnis im Kantschen Sinne gewonnen haben, sind wir allererst in der Lage, uns auch selbst (wiederum fehlbar) praktisch zu beurteilen und z. B. Verfehlungen einzusehen und zu ihnen bewusst zu stehen. Ein „Gott wohlgefälliger Mensch zu sein“, ist „bei uns im Erdenleben (vielleicht auch in allen künftigen Zeiten und allen Welten) immer nur im bloßen Werden“ (VI, 75). In negativ-kritischer Absicht weist Kant die Möglichkeit und Tendenz einer Funktionalisierung der Gnade Gottes zur eigenen Selbstrechtfertigung ab: „Opium fürs Gewissen zu geben, ist Verschuldigung an ihm [sich] selbst“ (VI, 78, FN). Kants Zugriff gestattet eine existentiell-praktische Interpretation der Botschaft des Neuen Testaments und seiner Christologie. Die Rede von praktischen (moralischen) Ideen hat in dieser Rekonstruktion mithin gerade keinen ‚idealistischen‘ Status. Es handelt sich nicht um bloße Worte oder Begriffe, mit denen wir uns prädikativ, unbeteiligt und von einer Beobachterposition aus auf vorhandene empirische Gegebenheiten beziehen. Ein verdinglichtes und objektivistisches Verständnis von Ideen verkennt, dass diese auf praktische, existentielle Lebensformen nur hinwei sen, ihr Leben also in konkreten Lebenssituationen und nur dort haben. Kant interpretiert das Johannes-Evangelium: Da das gute Prinzip in einem wirklichen Menschen als einem Beispiel für alle andere erschien‚ ‚so kam er in sein Eigenthum, und die Seinen nahmen ihn nicht auf, denen aber, die ihn aufnahmen, hat er Macht gegeben, Gottes Kinder zu heißen, die an seinen Namen glauben‘; d. i. durch das Beispiel desselben (in der moralischen Idee) eröffnet er die Pforte der Freiheit für jedermann, die eben so wie er Allem dem absterben wollen, was sie zum Nachtheil der Sittlichkeit an das Erdenleben gefesselt hält. (VI, 82)
Der Geltungssinn der ‚Idee‘ ist die existentiell-praktische Freiheitseröff nung. Kant zufolge muss authentischer, unentfremdeter, ‚seligmachender‘ Glaube praktisch, und das heißt vor allem „ein freier […] Glaube“ sein. Die Menschwerdung Gottes eröffnet in Kants Sicht die existentiell-praktische Dimension wahrer, authentischer Freiheit. Und diese Dimension impliziert in der Konsequenz eine universale, weltgeschichtliche Hoffnungsperspektive auf wahre Freiheit für alle Menschen.
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Es ist daher nur konsequent, wenn Kant gegen faktische religiöse Fehlentwicklungen, gegen Aberglaube und Unmündigkeit eine „alle Menschen auf immer vereinigende[] Kirche“ denkt, „die die sichtbare Vorstellung […] eines unsichtbaren Reiches Gottes auf Erden ausmacht“. (VI, 131) „‚Wenn kommt nun also das Reich Gottes?‘ – ‚Das Reich Gottes kommt nicht in sichtbarer Gestalt. Man wird auch nicht sagen: siehe, hier oder da ist es. Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch!‘ (Luc. 17, 21 bis 22).“ (VI, 136) Es sei festgehalten: Gerade die existentiell-praktische Interpretation dieser Rede vom Reich Gottes führt Kant weiter zu einer weltgeschichtlichen Hoffnungsperspektive der Befreiung der Menschen. Diese Perspektive wird durch die Rede von Gott notwendig eröffnet, ist in ihr geltungslogisch impliziert. Sie wird in ihrer eigentlichen Stärke als radikale Sinngrenzreflexion und Sinngrundreflexion auf die transpragma tischen und transethischen, mithin transzendenten Bedingungen humanen Lebens verstanden. Die Rede von Gott hat in genau diesem Kontext ihren sinnvollen Sitz und Gebrauch. Dass dieser Zugriff berechtigt ist, zeigt sich auch in Kants Thematisierung des Geheimnisbegriffs. Während er eine (bis heute) verbreitete Vorstellung von religiösen Geheimnissen, die mit vagen Intuitionen und diffusen Gefühlen verbunden ist, als irrational zurückweist, kann er sinnkriterial ebenso authentische Geheimnisse aufweisen. Der Ansatz Kants ist hier insofern wegweisend, als der Zugang zum eigentlichen Geheimnis die alltägliche lebensweltliche Praxis ist: So ist die Freiheit, eine Eigenschaft, die dem Menschen aus der Bestimmbarkeit seiner Willkür durch das unbedingte moralische Gesetz kund wird, kein Geheimniß, weil ihr Erkenntniß jedermann mitgetheilt werden kann; der uns unerforschliche Grund dieser Eigenschaft aber ist ein Geheimniß, weil er uns zur Erkenntniß nicht gegeben ist. Aber eben diese Freiheit ist auch allein dasjenige, was, wenn sie auf das letzte Object der praktischen Vernunft, die Realisierung der Idee des moralischen Endzwecks, angewandt wird, uns unvermeidlich auf heilige Geheimnisse führt. (VI, 138, hervorgehoben von Th. R.)
In der Linie Kants können wir demnach irrationale Schein- bzw. Pseudogeheimnisse von wirklichen, transrationalen, absoluten Geheimnissen unterscheiden, die sich als unerklärlich, unableitbar und unerforschlich im Wesentlichen negativ charakterisieren lassen. Sich zu absoluten, transratio nalen Geheimnissen noch sinnvoll zu verhalten, das lässt sich als authentischer Geltungssinn meditativer, kultischer, ritueller, sakramentaler Praxis
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erweisen – auch über Kant hinaus. Der praktische Transzendenzbezug ist sinnkonstitutiv. Kant verbindet sein praktisches Gottesverständnis mit einem negativen Geheimnisbegriff. Wenn der Mensch im Entwurf seines authentischen Lebens- und Weltverständnisses in die Hoffnungsperspektive eintritt, so „eröffnet sich vor ihm der Abgrund eines Geheimnisses von dem, was Gott hiebei thue“. (VI, 139). Hier gilt erkenntniskritisch, dass wir Gott nicht „an sich“ erkennen können, sondern nur in seiner Bedeutung für unser existentiell-praktisches Selbstverständnis. Eine konstitutive Sinnbedingung unseres authentischen Lebens ist die Unbedingtheit (und Unableitbarkeit) von (insbesondere praktischen) Geltungsansprüchen. Ohne sie gäbe es kein Gewissen, keine Verantwortung, keine ernsthaften und tragfähigen interexistentiellen Verhältnisse, ebenso kein authentisches (wahrhaftiges) Selbstverständnis. Auf der Linie seiner praktischen Rekonstruktion würdigt Kant die radikalisierte Ethik Jesu und setzt sie, wie dieser selbst, kirchen- und kultkritisch eine: „Die enge Pforte und der schmale Weg, der zum Leben führt, ist der des guten Lebenswandels; die weite Pforte und der breite Weg, den viele wandeln, ist die Kirche.“ (VI, 160, FN) Kant übernimmt die radikalisierte Liebesbotschaft Jesu und richtet sie gegen den „Eigennutz“, den „Gott dieser Welt“. Der Vernunftglaube ist jedermann zugänglich: Von dem Bösen, was im menschlichen Herzen liegt, und von dem Niemand frei ist, von der Unmöglichkeit, durch seinen Lebenswandel sich jemals vor Gott für gerechtfertigt zu halten, und gleichwohl der Nothwendigkeit einer solchen vor ihm gültigen Gerechtigkeit, von der Untauglichkeit des Ersatzmittels für die ermangelnde Rechtschaffenheit durch kirchliche Observanzen und fromme Frohndienste und dagegen der unerlaßlichen Verbindlichkeit, ein neuer Mensch zu werden, kann sich ein jeder durch seine Vernunft überzeugen, und es gehört zur Religion, sich davon zu überzeugen. (VI, 163)
Das innere, existentielle Selbstverständnis und die „Authenticität“ der praktischen Aneignung der Einsichten der Vernunftreligion gehen nach Kant allen statuarischen, doktrinalen, historischen und offenbarungsbezogenen Religionsformen voraus. Systematisch für unsere Gegenwart wieder besonders relevant ist in diesem Kontext seine Kritik des Religionswahns. Eine Usurpation und Funktionalisierung des Gottesglaubens im Sinne eines totalitären Fundamentalismus, im Sinne eines subjektiven Anspruchs und eines
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Mittels zum Zweck wird „ein praktischer Wahn“ (VI, 168 ff.). Die negativkritische Theologie einer absoluten Transzendenz steht gegen solche irratio nalen Phantasien, die sich gewalttätig auswirken und gegen den „Anthropomorphism“, „denn da machen wir uns einen Gott“. (VI, 168) Der Ort des Übersinnlichen ist unsere authentische Lebenspraxis und unser freiheitliches Selbstverständnis, und wir können diese existentielle Dimension der Transzendenz nicht vergegenständlichen und instrumentalisieren. Im Zentrum von Kants Vernunfttheologie steht der Grundsatz, dass Gott den Menschen zur Freiheit geschaffen hat, und dass somit Religion selbst als existentielle Praxis der Freiheit verstanden werden muss, die allein zur Moral und zur Liebe befähigt.
2. Unbedingter Sinn trotz Fehlbarkeit und Schuld Der gesamte kritische Ansatz Kants ist darauf gerichtet, Religion und Gottes glauben nicht als funktional, instrumentell, nicht als Substitut, Surrogat und Ersatzhandlung für authentische Praxis zu verstehen. Das unbedingte praktische Freiheitsverständnis begründet auch das Gottesverhältnis. Kants Rekonstruktion geht nicht auf in einem vordergründigen moralistischen, rationalistischen Standardmodell. Vielmehr fragt er zurück nach den trans pragmatischen Sinnbedingungen aller unserer Praxis. Wir können diese Ebene der Sinnkonstitution über seine Analysen hinaus existential- und sprachanalytisch präzisieren und kritisch-hermeneutisch wie auch kulturphilosophisch weiter entwickeln, ohne hinter seine kritischen Einsichten zurückzufallen. Wir sind als endliche, leid-, schuld- und todbedrohte Wesen auf Sinn angelegt. Dies zeigt sich in aller menschlichen Praxis, somit auch in all ihren uns bekannten früheren Formen. Natürliche Katastrophen wie auch katastrophale moralische Übel prägen Geschichte und Gegenwart. In gebrochener, fragiler, durch Scheitern bedrohter Form sind uns Perspektiven der Vernunft, der Freiheit und des Guten eröffnet. In ihnen zeigt sich der – in Wahrheit unerklärliche – Sinn des Seins und unserer Existenz und ist uns real zugänglich. Dass dies für uns konkret nur in endlicher Form geschieht und geschehen kann, dass die Formen des Verlustes und des Scheiterns uns konkret drohen, gehört unlöslich zu unserer leiblichen Natur und zu unserer Freiheitsgeschichte.
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Eine eigenmächtige ‚Indienstnahme‘ Gottes ist mit einem verfehlten Transzendenzverständnis verbunden. Es ist vielmehr umgekehrt: Weil ich unbedingten, mir unverfügbaren Sinn bereits erfahre, Sein des Sinns, der mich ermöglicht, darum darf und kann ich auch hoffen, angesichts der vielen Formen des Übels, des Bösen und der eigenen Fehlbarkeit, absolut und definitiv betrachtet, zu bestehen. Ich muss aber begreifen, dass diese transzendierende Hoffnung selbst Geschenkcharakter hat. Wir wissen, dass in den konkreten Leidsituationen billiger Trost unredlich ist. Die Formen der Solidarität, die uns möglich sind, eröffnen uns – wiederum endliche und begrenzte, aber gleichwohl unbedingte und unbedingt gebotene – Handlungsperspektiven. Eine ‚Rechtfertigung Gottes‘ im Sinn einer theoretischen Demonstration, die ‚beweist‘, alles Geschehen sei letztlich gut bzw. zu etwas gut, versucht, sich selbst missverstehende, szientistische Metaphysik zu betreiben. Nur eine vernunftkritische, selbstkritische Sinngrenzanalyse kann den Zusammenhang von Transzendenz und Sinn angemessen einsichtig machen. Dann wird erkennbar: Die ursprüngliche (unerklärliche) Eröffnung von Sinn in der – selbst unerklärlichen – Wirklichkeit der Freiheit in der humanen Welt ermöglicht Leiderfahrung sowie alle Formen des moralischen Bösen. Die Wirklichkeit von Leiden und Schuld lässt sich nicht nur nicht ‚erklären‘ oder gar ‚wegerklären‘ oder auch beschwichtigend schönreden. Es lässt sich erkennen: Wir leben letztlich von ungeschuldetem, unverfügbarem Sinn. Die einzigartige, prozesshafte Existenz des Kosmos, des Universums unter Einschluss der Existenz des Lebens der Menschheit und jedes einzelnen Individuums wird sich in uns selbst bewusst. Dieses einzigartige Wunder wird nicht geringer durch Leiden und Schuld. Nur eine oberflächliche Sicht kann das Böse ‚relativieren‘ und so verharmlosen. Aber eine düstere Sicht der Welt im Sinne eines tragischen Pessimismus – so nahe sie aus verständlichen Gründen vielen Philosophen lag und liegt – ist der Vernunft und der unbedingten Sinndimension humanen Lebens unangemessen. Sie ist theoretisch unbegründbar, praktisch und existentiell irreführend und falsch. Wenn wir die abgründige Fehlbarkeit der Menschen und ihrer Leidensgeschichte – die niemand leugnen kann und darf – bewusst wahrnehmen, ist der Schritt zu Mitleid und Solidarität, wenn auch noch so schwach, schon vollzogen, und mithin eine – bereits implizite – Antizipation von Hilfe, Leidensminderung und auch des Lernens aus Verfehlung. Die urgeschichtliche Abkunft der menschlichen
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Natur begleitet uns weiter. Die abgründige Boshaftigkeit ist tief in uns angelegt, was immer wir tun und sagen, welche oberflächlichen Selbstbilder wir auch von uns entwerfen. Diese Tiefendimension wird in der Leidensanalyse des Buddhismus und bei Schopenhauer sowie in der christlichen Tradition und bei Kant – lange vor Freud – zu Recht ins Zentrum gerückt und ausgelotet. Noch die formal-strukturelle Analyse des jeweiligen ‚Verfallens‘ in Heideggers Sein und Zeit zeigt etwas von der bei allen menschlichen Vollzügen unumgänglichen Vergegenständlichung in zeitlicher Endlichkeit, der wir eben nicht verhaftet bleiben dürfen, wenn wir zu unseren eigentlichen Möglichkeiten des guten Lebens finden und frei werden wollen. In der Bibel und in der Dichtung, vor allem in der Tragödie wird durch Erzählungen und Dramatisierungen vergegenwärtigt, was wir auch philosophisch begreifen müssen: die zeitlich-endliche Augenblicklichkeit unseres Handelns (es ist immer ‚jetzt‘!), die unauslotbare Entzogenheit des eigenen Inneren bei aller Selbstmächtigkeit, die leibliche und seelische Fragilität und Verletzlichkeit des Menschen, die alle Menschen einende Kreatürlichkeit. Die lebendige personale Existenz eines Menschen bildet sich im Medium der Irreversibilität und Unabsehbarkeit seines Handelns. Sinnkonstitutiv für personales Handeln ist gerade, dass es in seinem potentiellen Charakter keine Sicherheit und Konstanz bietet. Es ist theoretisch unmöglich, sich handelnd auf die Handlungen Anderer zu verlassen – ohne praktisches Vertrauen aber gibt es schlechterdings keine humane Welt. Ein jeder, der handelt, läuft faktisch notwendig Gefahr, zu scheitern oder Unrecht zu begehen. Das Ergebnis können wir erst im Nachhinein wissen. Hannah Arendt hat besonders deutlich herausgearbeitet, dass deshalb unsere ganze humane Handlungswelt im Kern auf Versprechen und Vergeben beruht. Es gilt daher für die Konstitution der Moralität: Unsere Fähigkeit, wechselseitig zu vergeben, ermöglicht und eröffnet allererst unsere praktische Freiheit und das menschliche Zusammenleben. Hannah Arendt weist in ihrem Hauptwerk Vita activa darauf hin, dass das Vergeben kaum je theoretisch untersucht wurde und nur in den Lehren Jesu eine zentrale Rolle einnimmt (vgl. Arendt 1981: 231–238). Betrachten wir die katastrophischen Ereignisse der Weltgeschichte (nicht nur des 20. Jahrhunderts), so könnten wir auch zu der Einsicht gelangen, dass das böse Tun über kurz oder lang an sich selbst zugrunde geht. Dass es indirekt auch Gutes bewirkt (im Sinne von Hegels ‚Macht der Nega-
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tivität‘ und ‚List der Vernunft‘), stimmt zwar, sollte aber nicht wie ein Funktionsmechanismus angesehen werden. Die Erfahrungen, die mit Leid und Schuld verbunden sind, sind für uns unverzichtbar, gerade weil das Schreckliche und Fürchterliche weder verkleinert noch relativiert werden kann und darf. Je größer unsere Erkenntnis und Einsicht in die Natur des Bösen wird, desto unumstößlicher und gewisser wird für uns die Einsicht in den unbedingten, absoluten Wert des Guten werden können. Kant spricht in Bezug auf die Hiob-Geschichte der Bibel von einer ‚authentischen Theodizee‘, gerade weil der leidende Hiob alle gut gemeinten, aber oberflächlich bleibenden ‚Erklärungen‘ seiner Freunde zurückweist (Über das Mißlin gen aller philosophischen Versuche in der Theodicee, VIII, 255–271). Da Gutes und unbedingter Sinn uns in ihrer irreduziblen, lebenstragenden und auch gewissmachenden, bergenden Bedeutung vernünftig zugänglich und erschlossen sind – ebenso wie Freiheit und Wahrheit – ist das Böse bereits als nur scheinhaft mächtig durchschaubar, so zerstörerisch-machtvoll es sich auch in der Wirklichkeit der Welt aufspreizt. Es ist somit im Ansatz bereits überwunden und weiter zu überwinden. Es wäre somit auch eine spekulativ-irreführende und illusionäre Vorstellung von der Allmacht Gottes, als bestünde sie in einem kausalistisch objektivierbaren ‚Eingreifen‘ in konkrete einzelne Geschehnisse und Handlungszusammenhänge. Absolute Transzendenz in ihrer Totalität besagt, dass alles Gottes Sein ausmacht, unter Einschluss unserer Freiheits- und Vernunftgeschichte. Die Allmacht Gottes zeigt sich indirekt gerade im Scheitern des Guten und der Liebe, die dennoch ihren unbedingten, absoluten Wert behalten. Das gilt auch für die weltgeschichtliche Perspektive. Eine Gottesvorstellung, die einen ‚Determinismus zum Guten‘ denkt, würde die humane Welt zerstören. Bezüglich künftiger Entwicklungen ist unser Handeln unüberbietbar auf Hoffnung gestellt. Die Garantielosigkeit des Gelingens betrifft nämlich gemäß klarer Analyse alle unsere Handlungen – in jedem Augenblick. Auf karge, aber tragfähige Weise haben Kant und Wittgenstein diese Gedanken formuliert. Kant sagt in seinen Vorlesungen zur Religionslehre: Die Entsagung (Resignation) in Ansehung des göttlichen Willens ist unsere Pflicht. Wir entsagen unserem Willen, und überlassen etwas einem anderen, der es besser versteht und es mit uns gut meint. Folglich haben wir Ursache, Gott alles zu übergeben, und den göttlichen Willen schalten zu lassen; das heißt aber nicht: Wir sollen nichts tun und Gott alles tun lassen, sondern wir sollten das, was nicht in unserer Gewalt steht, Gott abgeben, und das unsrige, was in
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unserer Gewalt steht, tun. Und dies ist die Ergebung in den göttlichen Willen. (XXVII.I, 320).
Der frühe Wittgenstein schreibt, dass Gott das ist, dass und wie alles geschieht und das, was wir tun sollen – dies zusammengenommen. Zu Drury bemerkt er: „We are not here in order to have a good time.“ (Drury 1984: 88) Dass die Sinngrenzanalyse auch bei dieser Thematik wieder zur Sinngrundanalyse führt, kann noch mit einem Argument von Christian Illies verdeutlicht werden. Er legt dar, dass die Erkenntnisgrenze im Blick auf das Gute des Bösen, die Unversöhnlichkeit des Bösen mit seiner Vorstellung als notwendiges Mittel zum Guten selbst etwas Positives ist. Denn von uns muss das Böse stets als ein absolut zu Vermeidendes erkannt werden. Es wäre nicht gut für uns, wenn wir – aus einer übergeordneten Perspektive – wüssten, wozu das Böse (letztlich) doch gut sein mag. Das Nichtwissen ist auch hier lebensermöglichend und lebenstragend. Deswegen ist es auch Mephisto, eine diabolische Gestalt, die sagen kann, er sei ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft. (Vgl. Illies 2000: 410–428)
Fazit: Religion als Tiefenaufklärung Erstens: Angesichts Kants kritischer Grenzreflexion lässt sich zeigen, dass Böses und Sünde zu den notwendigen transethischen Möglichkeits- und mithin Sinnbedingungen aller unserer Freiheitspraxis gehören. Ambivalenz, Fragilität, kurz Negativität gehören ebenso sinnkonstitutiv zu diesen Bedingungen wie Glaube, Liebe und Hoffnung. Diese Aspekte müssen bei aller Unbedingtheit auch gradualistisch verstanden werden. Daher muss einerseits ein tiefgreifender, grundlegender definitiver Wandel des Selbstverständnisses erfolgen, der zum praktischen Glauben führt: ein neuer Mensch werden – entsprechend der creatio ex nihilo. Andererseits ist – taoistisch formuliert – der Weg das Ziel. Das heißt: Das Leben als Ganzes muss immer wieder neu werden (creatio continua; Bezug auf Röm. 7; 8). So wird die Freiheitsdimension in der Perspektive des Reiches Gottes „inwendig in euch“ (Lk. 17, 21 f.) trotz aller Fehlbarkeit existentiell wie auch weltgeschichtlich eröffnet und erschlossen.
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Zweitens: Wenn die Analyse Kants (in unserer Interpretation) zutrifft, dann ermöglicht unbedingter Sinn (religiös gesagt: Gott) trotz, ja gerade angesichts von Fehlbarkeit und Schuld in Wahrheit all unsere Praxis. Deswegen sind Versprechen, Vertrauen, Verzeihen und Vergeben an den Grenzen unseres Handelns wesentlicher, transzendenter Grund (Ermöglichungsgrund) dieses Handelns. Und ohne das Bewusstsein des stets möglichen praktischen Scheiterns, der Fehlbarkeit, also des Bösen und der Sünde ist Selbsterkenntnis hinsichtlich einer wesentlichen Tiefendimension unserer Existenz nicht möglich. Die religiöse Bewusstmachung des Bösen und der Sünde lässt sich so als existentielle Aufklärung begreifen. Das betrifft einen wesentlichen Kern der Botschaft Jesu und des Apostels Paulus. Genauerhin lässt sich aus der philosophischen Sicht Kants Religion, in unserem Kontext: die christliche Rede von der Sünde und Gnade in ihren authentischen, irreduziblen und sowohl säkularisierungsermöglichenden wie säkularisierungsresistenten Kerngehalten als eine radikale Form von Aufklärung, in meiner Terminologie: als Tiefenaufklärung über die unverfügbaren Sinnbedingungen des menschlichen Welt- und Selbstverhältnisses hermeneutisch verstehen und existentiell begreifen.
Literatur Arendt, Hannah (1981), Vita activa oder vom tätigen Leben, München. Illies, Christian (2000), ,,Theodizee der Theodizeelosigkeit. Erwiderung auf einen vermeintlichen Einwand gegen jede Verteidigung des Welturhebers angesichts des Bösen in der Welt“, in: Philosophisches Jahrbuch 107.2, 410–428. Drury, Maurice O’Connor (1984), „Some Notes on Conversations with Wittgenstein“, in: Ludwig Wittgenstein. Personal Recollections. (Hg.) Rhees, Rush, Oxford, 88. Rentsch, Thomas (2011), „Die Rede von der Sünde – Sinnpotentiale eines religiösen Zentralbegriffs aus philosophischer Sicht“, in: ders.: Transzendenz und Negativi tät. Religionsphilosophische und ästhetische Studien, Berlin/New York, 36–57.
Kants Religionsphilosophie im Opus postumum1 Reiner Wimmer
1. Der Übergang zur Vollendung der Transzendentalphilosophie Kants religionsphilosophische Erörterungen endeten nicht mit seinen einschlägigen Publikationen der 1790er Jahre: mit der Theodizee- (1791) und der Religionsschrift (1793), dem Essay Das Ende aller Dinge (1794) und dem ersten Abschnitt des Streits der Fakultäten (1798). Vielmehr setzt Kant seine Beschäftigung mit der religionsphilosophischen Thematik in den letzten Lebensjahren fort. Seine diesbezüglichen Aufzeichnungen sind uns in einem Fragment gebliebenen Nachlasswerk, dem sogenannten ‚Opus postumum‘, überliefert, und zwar in folgender zeitlicher Abfolge.2 Erste vereinzelte religionsphilosophische Bemerkungen finden sich in den Manuskripten der Konvolute X und XI aus der Zeit zwischen August 1799 und April 1800. Häufiger werden sie in den Papieren des VII. Konvoluts, vor allem im V. Dieser Beitrag stellt die erheblich gekürzte Fassung der 9. Abhandlung meiner Religionsphilosophischen Studien dar (Wimmer 2005a, 195–228), die ihrerseits eine revidierte und im Anmerkungsteil erweiterte Fassung des dritten Teils meiner Habilitationsschrift über Kants kritische Religionsphilosophie darstellt (Wimmer 1990, 219–270). – Die Zitate aus Kants Opus postumum sind der leichteren Lesbarkeit halber ohne Sinnveränderung vorsichtig moderner Schreibweise angepasst. Kursiv- und Fettdruck innerhalb der Zitate sind der Akademie-Ausgabe (AA) von Kants Schriften entlehnt. 2 Vgl. die Übersicht am Schluss von Bd. XXII der AA. – Zur Überlieferungs- und Beurteilungsgeschichte des Opus postumum vgl. Adickes 1920 sowie Lehmann 1938; außerdem Lehmann 1935 und 1963. 1
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Bogen, von April bis Dezember 1800.3 bis sie schließlich den Hauptstoff von Kants letzten philosophischen Bemühungen in der Zeit von Dezember 1800 bis Februar 1803 ausmachen (bis zum Ende seiner Arbeitsfähigkeit; Kant stirbt am 12. Februar 1804). Diese Notizen finden sich in Konvolut I. Dieses Konvolut ist in Band XXI, S. 1–158, der Akademie-Ausgabe der Schriften Kants ediert, die übrigen genannten Konvolute in Band XXII (Konvolut VII: S. 1–131, Konvolut X: S. 277–421, Konvolut XI: S. 423–539). Der – besonders gegen Ende hin – fragmentarische, ja zum Teil verworrene Charakter der religionsphilosophischen Überlegungen Kants gestattet weder eine stringente genetische oder systematische Rekonstruktion und Interpretation noch eine abschließende Beurteilung. Trotzdem ist ihre grundsätzliche Bedeutung nicht zu leugnen, die im Zusammenhang mit dem Kant seit der ersten Kritik vorschwebenden Abschluss seiner Transzendentalphilosophie in einem die theoretische und die praktische Vernunft umfassenden System der Metaphysik der Natur und der Freiheit zu sehen ist.4 Während die im Opus postumum niedergelegten frühen Aufzeichnungen (ca. 1796–1800) lediglich eine von Kant in seinem „System der kritischen Philosophie“ aufgedeckte „Lücke“ zu schließen suchen, die den „Übergang“5 von der Metaphysik der Natur bzw. den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft (1786) und der Kritik der (teleologischen) Urteilskraft (1790) zur Physik sowie die mit der reflektierenden Urteilskraft verknüpfte Thematik der theoretischen (technisch-praktischen) „Selbstsetzung“ des Menschen betrifft, beschäftigen sich die späten, im Konvolut VII, V. Bogen, und im Konvolut I versammelten Notizen in Anknüpfung an das Thema der moralisch-praktischen „Selbstsetzung“ des Menschen – d. h. seiner moralischen Selbstkonstitution – mit einem anders gearteten „Übergang“, nämlich dem „Übergang zur Vollendung“6 der Transzendentalphilosophie in ihrem „höchsten Standpunkt“7. Dies die Datierung von Adickes 1920: 149 im Unterschied zu der von Reicke. Lehmann schließt sich Adickes an (AA XXII, 817 [zu AA XXII, 76, Anm. zu Z. 2]), der die Abfassung wenigstens eines Teils der Manuskripte dieses Konvoluts auf die Zeit vor dem 22.2.1800 verlegt. 4 Belege bei Wimmer 2005a, Anm. 5. 5 Belege ebd., Anm. 6. 6 Belege ebd., Anm. 7. 7 Belege ebd., Anm. 8. – Zum genetisch-systematischen Aufbau des Opus postumum vgl. Adickes 1920, 36–154 sowie Lehmann 1937, 1938, 1961 und 1963. 3
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Worin ist dieser „höchste Standpunkt der Transzendentalphilosophie“ zu suchen? Er besteht darin, den Menschen als den Vollzug der Einheit von Natur und Freiheit zu denken und zu begreifen. Das drückt sich in Kants Nachlasswerk unter anderem so aus, dass der Mensch sich als Idee, näherhin als dritte, verknüpfende Idee – als sogenannte „copula“ (XXI, 27, Z. 10–12; 37, Z. 2) – der Ideen von Welt und Gott ansehen muss. Zahllos sind Kants Bemühungen, sich das systematische Verhältnis dieser drei Ideen zueinander schematisch zu vergegenwärtigen. Beispielhaft seien drei Stellen angeführt: Drei Prinzipien: Gott, die Welt und der Begriff des sie vereinigenden Subjekts, welches in diese Begriffe synthetische Einheit bringt (a priori), indem die Vernunft jene transzendentale Einheit selbst macht. […] – Gott, die Welt, und Ich, Gott, die Welt, und der Geist des Menschen als das, was die erstere verbindet: die moralisch-praktische Vernunft mit ihrem kategorischen Imperativ. […] – Der Transzendentalphilosophie höchster Standpunkt ist, was Gott und die Welt unter Einem Prinzip synthetisch vereinigt (XXI, 23, Z. 1–8; 17 f.). Der höchste Standpunkt der Transzendentalphilosophie im System der Ideen Gott die Welt und der seiner Pflicht angemessene Mensch in der Welt (XXI, 54. Z. 2–8).
Transzendentalphilosophie ist das subjektive Prinzip sich selbst zu einem System konstituierenden Ideen von Objekten der reinen Vernunft und ihrer Autonomie nach den Begriffen: ens summum, summa intelligentia, summum bonum – Welt, Menschenpflicht und Gott. – Sie ist das Prinzip der durchgängigen Bestimmung der Vernunft zur theoretisch-spekulativen und zugleich moralisch-praktischen Vernunft in Begründung der Einheit des unbedingten Ganzen als des All (universum) der Dinge in ihrer synthetischen Einheit nach Begriffen a priori der Elemente derselben: Gott, die Welt und der dem Pflichtgesetz unterworfene Mensch in der Welt. (XXI, 79, Z. 25–80, Z. 4)
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In Kants klassischer Systematik gehört der Mensch, als „Idee“ (XXI, 48, Z. 30–49, Z. 2; 84, Z. 27 f.; vgl. 94, Z. 15–23) betrachtet, dem noumenalen Bereich an, insofern er das transzendentale Einheitsprinzip (der Ideen) von Gott und Welt darstellt, weil er Vernunft- und Freiheitswesen ist. Seine Vernunft wirkt nach zwei Seiten: Als moralisch-praktische Vernunft ist sie absoluter Gesetzgeber und Richter und verweist auf (die Idee von) Gott; als technisch-praktische Vernunft ist sie die Verknüpfung von Moralität und Welt (vgl. XXII, 64, Z. 17–20). Entsprechend wirkt auch der Wille (von Kant gewöhnlich ‚Willkür‘ genannt): Als sittliches Entscheidungsvermögen, dem moralische Freiheit eignet, macht der Mensch sich selbst in einem absoluten Entscheidungsakt zu einem unbedingt guten oder zu einem unbedingt bösen Wesen und entspricht bzw. widerspricht so (der Idee von) Gott als vollkommenem Wesen; mit dem Handlungsvermögen besitzt der Mensch die Fähigkeit, nach eigenem Belieben und Gutdünken in den Lauf der Dinge einzugreifen, eine Reihe von Ereignissen in der Welt allererst in Gang zu setzen bzw. Ereignisabläufe und ihre Folgen zu unterdrücken, anzuhalten oder umzulenken, um sie seinen moralischen oder unmoralischen Grundsätzen, von Kant ‚Maximen‘ genannt, wenigstens ein Stück weit zu unterwerfen. In diesen beiden Grundvollzügen des Entscheidens und Handelns vollzieht sich nach Kant der Mensch als Synthese der transzendentalen Ideen von Gott und Welt. Kant sucht diese Synthese – vielleicht unter dem Einfluss der frühen Idealisten Fichte und Schelling, deren Namen im Opus postumum erwähnt werden – als Selbstsetzung zu begreifen.8 Damit ist ein bemerkenswerter Vorgang angesprochen: Der Mensch setzt sich selbst, indem er Anderes, ihm Fremdes aus sich heraus und sich gegenüber stellt, um sich in notwendigem Bezug darauf zu vollziehen und begreifen zu können. Aber ist es nicht das Eigene, das der Mensch sich so gegenüberstellt? Und wird Fremdes nicht in Selbstvollzug und Selbstbegriff wieder zum Eigenen? Der Verdacht erhebt sich, dass die von Kant behauptete apriorische Notwendigkeit einer transzendentalen Setzung der Ideen Gottes und der Welt, zumindest was die Gottesidee betrifft, nur dem Scheine nach besteht, sich einem Rest von (schlechter) Metaphysik verdankt. Ist demgegenüber nicht eine transzendentale Anthropologie denkbar, in der die Zwei-Einheit von menschlicher 8
Zur Genese der Lehre von der Selbstsetzung vgl. Adickes 1920: 604–696, zu ihrer Interpretation vgl. Mathieu 1989: 162–188.
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Natur und Freiheit, von technisch-praktischer und moralisch-praktischer Vernunft als Ganzheit eines Lebensvollzugs in moralischer Orientierung ohne Ausgriff auf die Idee von Gott erschöpfend verstanden wird? Mit Kants Systematik gesprochen, handelt es sich, kurz gesagt, um die Frage, ob die Idee Gottes oder die Idee des Menschen die Bedingung der Möglichkeit der Einheit von Natur und Freiheit, von Welt und Geist, von Rezeptivität und Spontaneität, von Sinnlichkeit und Sittlichkeit darstellt. Besteht der höchste Standpunkt der Transzendentalphilosophie in einer transzendentalen Theologie oder in einer transzendentalen Anthropologie? Ist Gott die Bedingung dafür, dass der Mensch die Einheit von Natur und Freiheit ist und sich dementsprechend begreifen kann, oder ist der Mensch im Vollzug seiner Selbstkonstitution als Welt- und Geistwesen die Bedingung dafür, den Begriff Gottes denken zu können, und zwar als das aller Grenzen ledige, unendlich vollkommene Wesen? Im ersteren Falle scheint die transzendentale Theologie die transzendentale Anthropologie innerhalb einer transzendentalen Philosophie zu fundieren, im letzteren Falle wäre das Fundierungsverhältnis umgekehrt, ja würde, wie angedeutet, auf eine Reduktion der Theologie auf Anthropologie hinauslaufen. So scheint sich einerseits der Mensch nicht ohne Gott begreifen zu können – andererseits scheint der Gottesbegriff zum Selbstverständnis des Menschen nichts Entscheidendes beizutragen; er könnte als lediglich vorübergehend notwendige, sich ideen- und kulturgeschichtlichen Bedingungen verdankende, im Prinzip aber vermeidbare Personifizierung und Vergegenständlichung gewisser Aspekte der Selbstauffassung des Menschen – vor allem seiner moralischen Anlage und des ihr entsprechenden Ideals eines moralisch vollkommenen Wesens (Gott als vollkommen gutes Wesen, das außerdem moralischer Gesetzgeber und Richter ist) – zu verstehen sein. Die Selbstaufklärung des Menschen über den wahren Status und die wahre Natur des von ihm gebildeten Gottesbegriffs würde diesen Begriff des Scheins der Unabdingbarkeit für das menschliche Selbstverständnis entkleiden und seine Entbehrlichkeit z. B. mit der Begründung aufweisen, dass er zur Verbindlichkeit des Moralgesetzes nichts beitrage. Kant ist ja von dem Absolutheitscharakter der moralischen Verpflichtung zutiefst überzeugt, einer Verpflichtung, die sich durch nichts, auch nicht den Glauben an einen göttlichen Gesetzgeber, steigern lässt, weil nicht die Göttlichkeit ihres Ergangenseins ihre Unbedingtheit, sondern ihre Unbedingtheit ihre Göttlichkeit begründet. Aber dies schließt nicht aus – wie Kant
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es in der Religionsschrift und im Opus postumum und andernorts häufig tut –, moralische Forderungen als göttliche Gebote anzusehen9. Nur ändert dieses Ansehen nichts an der Art, mit der sie verpflichten. Spricht man in diesem Zusammenhang, wie ich es gerade getan habe, von der ‚Anthropologisierung‘ der Idee von Gott, so ist auf folgende Unterscheidung zu achten: Zum einen geht es um jene Anthropologisierung, die dem transzendentalphilosophischen Verfahren selbst eigen ist im Gegenzug zu einer realistisch-metaphysischen Auffassung der Gottesidee; zum anderen kann es sich um ihre Anthropologisierung im Sinne ihrer Zurücknahme und Ersetzung durch rein anthropologische Äquivalente handeln (um das, was ich als ‚Reduktion der Theologie auf Anthropologie‘ ansprach). Man könnte diese Problematik mit Hilfe von Kants Terminologie aus seinem Nachlasswerk auch so formulieren: Ist die transzendentale Anthropologie im Rahmen der Transzendentalphilosophie ihrerseits in einer transzendentalen Theologie zu begründen oder bedarf es einer solchen Begründung nicht, weil die Transzendentalphilosophie mit der transzendentalen Anthropologie zusammenfällt, die angebliche Notwendigkeit einer trans zendentalen Theologie also gar nicht besteht? Die genannte Zweideutigkeit scheint sich also schon im Unternehmen der Transzendentalphilosophie selbst zu finden, und Kants nach meinem Dafürhalten mehr oder weniger erfolglose Bemühungen um die Etablierung einer transzendentalen Theologie scheint jenen Kritikern des Idealismus wie Bruno Bauer und David Friedrich Strauß, wie Feuerbach, Marx und Nietzsche – unbeschadet der Verschiedenheit ihrer Ansätze – Recht zu geben, die die Rede von Gott als bloße Selbstprojektion der menschlichen Vernunftnatur, als ihre Selbstobjektivation oder Selbstvergegenständlichung auffassen und einer Anthropologisierung des Gottesgedankens im Sinne seiner Eliminierung das Wort reden. Kants Ringen mit diesem Problem führt, soweit ich sehe, zu keinem eindeutigen Ergebnis. Das möchte ich anhand einer Analyse der Texte in der zeitlichen Folge ihrer Abfassung zeigen. Entgegen früheren Äußerungen bin ich nun nicht mehr der Meinung, Kant habe am Ende seines Lebens über die angedeutete Alternative hinausgeblickt, wenn er vereinzelt Wendungen benutzt, die an das Argument Anselms von Canterbury für das Dasein Gottes erinnern (in der cartesischen Fassung von Kant als ‚ontologischer Gottesbeweis‘ bezeichnet, den er in dieser Form in 9
Belege bei Wimmer 2005a, Anm. 15.
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der Transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft zu Recht kritisiert). Aufgrund einer erneuten Analyse der Texte bin ich vielmehr zu der Ansicht gelangt, dass Kant rechtens der Überzeugung sein konnte, mit derartigen Formulierungen seiner bleibenden transzendentalphilosophischen Orientierung einen durchaus angemessenen Ausdruck zu geben. Allerdings behebt diese Orientierung von sich aus noch nicht die aufgezeigte religionsphilosophische Zweideutigkeit, weil es Kant – abgesehen von seinem klassischen Begründungsversuch, den er mit seiner Postulatenlehre unternimmt – nicht gelingt, die behauptete Notwendigkeit einer transzendentalen Theologie in praktisch-moralischer Hinsicht einsichtig zu machen. Auf einem anderen Blatt steht die Möglichkeit, den genuin und noch nicht cartesianisch depravierten anselmischen Faden aufzunehmen und über Kant hinaus – etwa im Anschluss an das Gottes- und Religionsverständnis in der Spätphilosophie Wittgensteins – systematisch fruchtbar zu machen.10 Aber das ist hier und jetzt nicht mein Thema, sondern die Art, wie Kant selbst in seinen letzten Lebensjahren den Gottesbegriff fasst und welchen Status er ihm verleiht. Und dazu müssen wir uns einzelnen Stellen zuwenden, wobei allerdings hier, aus Zeit- und Raumgründen, nur einige, und zwar die markantesten, zur Sprache kommen können. Dabei soll uns die vorhin entwickelte Frage leiten, ob der höchste Standpunkt der Transzendentalphilosophie nach Kant in der transzendentaltheologischen Fundierung der Anthropologie oder in der anthropologischen Eliminierung des Gottesbegriffs besteht.
2. Der höchste Standpunkt der Transzendentalphilosophie: transzendentaltheologische Fundierung der Anthropologie oder anthropologische Eliminierung des Gottesbegriffs? Für die Beantwortung dieser Frage ist zunächst auf die religionsphilosophisch gewichtigsten Äußerungen Kants auf dem V. Bogen des VII. Konvoluts einzugehen. Ein solcher Versuch liegt mit Wimmer 2005b vor.
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Die folgende Passage spricht von einem ‚Erweis‘ der transzendentalphilosophischen und moralisch-praktischen Notwendigkeit des Begriffs von Gott: Alle Gebote, die den Menschen durch den kategorischen Imperativ verbinden und reine praktische Gesetze zur absoluten Pflicht (unerbittlicher innerer Obliegenheit) machen, die von keiner Rücksicht auf innere oder äußere Vorteile abhängen, sind heilige Pflichten, d. i. sie sind als Gebote eines von der Natur unabhängigen unbedingt gebietenden Wesens anzusehen. – Nun enthält die Idee von einem nach moralisch-praktischen Gesetzen gebietenden Wesen das Ideal einer Person, die zugleich Beziehung auf die Natur als Sinnengegenstand alle Gewalt hat; einen Ausspruch des kategorischen Imperativs aller Pflichtgebote nach dem Prinzip der reinen Vernunft, folglich nicht aus empirischen Triebfedern der Weltbestimmung. – Nun sind aber nur zwei aktive Prinzipien denkbar, welche als Ursachen dieser Erscheinungen gedacht werden können: Gott und die Welt. Also ist die Idee der moralisch-praktischen Vernunft im kategorischen Imperativ das Ideal von Gott. – Es ist also zwar nicht das Dasein Gottes als einer besonders existierenden Substanz, aber doch die Beziehung auf einen solchen Begriff als zur Transzendentalphilosophie gehörend hierdurch hinreichend (in praktischer Rücksicht) erwiesen (XXII, 54, Z. 9–55, Z. 1).
Den entscheidenden Schritt in diesem ‚Erweis‘ markiert der Satz: „Nun sind aber nur zwei aktive Prinzipien denkbar, welche als Ursachen dieser Erscheinungen gedacht werden können: Gott und die Welt“. Da die Welt als Ursache nicht in Frage kommt – was Kant nach dem zuvor über die Naturunabhängigkeit und -überlegenheit des kategorischen Imperativs Gesagten stillschweigend voraussetzen kann –, bleibt angeblich nur noch Gott. Aber gibt es nicht die von Kant anderenorts ausdrücklich ventilierte Möglichkeit, dass die moralisch-praktische Vernunft selbst der Urheber des Gottesbegriffs ist, in dem sie ihr eigenes Wesen sich gegenüberstellt, um sich selbst zu begreifen? Der Hypothese der Selbstobjektivierung scheint allerdings entgegenzustehen, dass im Gottesbegriff ein Wesen gedacht wird, das in Bezug auf die Natur „alle Gewalt hat“; denn sowohl das Erkenntnisals auch das Handlungsvermögen des Menschen ist begrenzt. Das Wort ‚Gewalt‘ hat dem üblichen Sprachgebrauch nach, den Kant an dieser Stelle aufnimmt, eine doppelte, nämlich einerseits physische, andererseits rechtliche und moralische Bedeutung. Allgewalt im physischen Sinne kommt nur Gott zu und gehört zum Begriff von ihm; Allgewalt im vernunftrechtlichen und moralischen Sinne kommt dagegen nicht nur Gott, sondern auch dem
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Menschen zu, jedenfalls soweit ihm auf diesen Gebieten mit Kant gesetzgeberische und richterliche Autonomie zuzusprechen ist. Die aus dieser begrifflichen Situation zu ziehenden Konsequenzen liegen auf der Hand: Während der Gottesbegriff in der letztgenannten Hinsicht – zumindest im Hinblick auf das Selbstverständnis des Menschen als vernunftrechtlichen und -moralischen Gesetzgebers und Richters – überflüssig ist, kann ihm in der erstgenannten Hinsicht eine unabdingbare Bedeutung zukommen, etwa als Garant einer moralischen Welt oder wenn man mit der Möglichkeit einer moralischen Metanoia vom Bösen zum Guten im Menschen rechnet und sie widerspruchsfrei zu denken versucht.11 Lediglich durch einen kurzen fragmentarischen späteren Zusatz (s. Apparat zu XXII, 55, Z. 5) vom gerade analysierten Text abgehoben beginnt ein Abschnitt (55, Z. 6–14), der u. a. sagt, dass Gott – nicht: der Begriff Gottes! – als „ein transzendentales Ideal […] aus der Transzendentalphilosophie als einem synthetischen Satz a priori aus reinem Begriffe […] hervorgeht“, und hinzufügt: „Dass ein solches Wesen existiere, kann nicht geleugnet werden; aber [es kann] nicht behauptet werden, dass es außer dem vernünftig denkenden Menschen [= außerhalb seiner] existiere. In ihm (dem moralisch nach Pflichtgeboten unserer selbst denkenden Menschen) leben (sentimus), weben (agimus) und sind wir (existimus)“ (vgl. Apg. 17,28). Interpretiert man diese Äußerungen konsequent anthropologisch, so erweisen sie sich als trivial: Gott ‚existiert‘, und zwar als bloße Selbstobjektivation der moralischen Vernunft; und insofern existiert er nicht außerhalb des vernünftig denkenden Menschen. Und wenn die Vernunft diese Vergegenständlichung und Verdoppelung ihrer selbst zurücknimmt, so könnte man sagen, dass sie diesen begrifflichen Gott gleichsam ‚vernichtet‘. Der letzte Satz des Zitats spricht es dann in diesem Sinne noch einmal unüberbietbar klar aus, dass Gott (bzw. der Begriff oder die Idee von ihm) nichts anderes als die moralisch-praktische Vernunft (bzw. der Begriff oder die Idee von ihr oder ihr Ideal) sei, der (bzw. dem) wir uns verpflichtet wissen. Wenige Zeilen später kehrt die Aussage wieder, dass Gott nicht wirklich ein vom Menschen geschiedenes Wesen sei, sondern als moralischer Gebieter und Richter nur wie „eine besondere Substanz“ erscheine. Auf derselben Seite heißt es dann noch einmal in gleichem Sinne: „Der kategorische Imperativ setzt nicht eine höchst gebietende Substanz voraus, die Dazu Wimmer 1990: 150–167 und 2004: 186–194 bzw. 2005c: 242–251.
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außer mir ist, sondern in meiner Vernunft liegt“ (XXII, 56, Z. 14 f.). Auf der nächsten Seite notiert Kant: Was Gott an sich für ein Wesen sei, erreicht die menschliche Vernunft nicht: Nur das Verhältnis (das moralische) bezeichnet ihn, so daß seine Natur für uns unerforschlich und allvollkommen ist (Ens summum, summa intelligentia, summum bonum), lauter moralische [Prädikate], die aber seine Natur unerreichbar lassen. […] Also ist das Erkenntnis dieses Wesens nicht für das theoretische, sondern nur fürs Praktische erweiternd. Er ist unerforschlich (imper scrutabilis) (XXII, 57, Z. 26–58, Z. 12).
Daher ist es auch nicht möglich, Gott als Offenbarer der moralischen Pflichten als göttlicher Gebote zu erkennen, „als ob man ein solches Gebot oder Verbot wirklich erhalten hätte“ (XXII, 58, Z. 8 f.).12 Demnach kommen die in traditioneller griechischer Metaphysik Gott zugeschriebenen Eigenschaften ihm nicht an sich zu, sondern drücken das moralische Lebens- und Gottesverständnis eines sich moralisch verpflichtenden Menschen aus. Auf diese Auffassung nimmt Kant, mehr oder weniger ausführlich, häufig Bezug.13 Das ‚Ansichsein‘ oder die ‚Natur‘ oder das ‚Wesen‘ Gottes (und damit der Begriff Gottes als solcher) ist für Kant ein Grenzbegriff, von dem konsequenterweise nicht einmal gesagt werden kann, dass er objektive Realität besitze. Aber die zitierte Stelle (XXII, 57, Z. 26 – 58, Z. 12) redet in einem anderen Ton als die zuvor analysierten Äußerungen Kants, nämlich in dem seiner Vernunftkritiken, wo der theologischen Sprache eine objektiv gemeinte Bedeutung unterstellt wird, dieser Anspruch jedoch als nachweislich uneinlösbar zurückgewiesen wird. Insofern argumentiert er hier noch von einer Ebene aus, die er sonst in seinem Nachlasswerk längst entweder zugunsten einer Anthropologisierung theologischer Aussagen oder zugunsten einer transzendentaltheologischen Orientierung verlassen hat. Das angeschlagene Thema der Apriorität der Gotteserkenntnis, nämlich aus Begriffen, in denen sich das moralische Selbstverständnis des Menschen fasst, wird von Kant in einer Reihe von Überlegungen abgewandelt. Bemerkenswert ist hier vor allem Kants Stellungnahme gegen eine Position, wie sie am präzisesten von Blaise Pascal im sogenannten Zur Unmöglichkeit, das Ergangensein einer göttlichen Selbstoffenbarung zu erkennen, vgl. Opus postumum XXII, 64, Z. 21–29; XXI, 21, Z. 5–7; 74, Z. 11–13; 92, Z. 15 f.; 142, Z. 9 f. und 346, Z. 29–33. 13 Belege bei Wimmer 2005a, Anm. 36. 12
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‚Argument der Wette‘ ausgearbeitet wurde,14 in dem der Glaube an Gott allem Anschein nach aufgrund eines Kosten-Nutzen-Kalküls gerechtfertigt erscheint: Die Frage: ist ein Gott, ist, durch den Eigennutz der Schmeichelei laut ausgesprochen, bald beantwortet. Denn ist ein Gott, so hab ichs getroffen; ist keiner, so habe ich nichts verloren, nichts gewonnen außer im Gewissen, etwas, wovon ich gestehen muß, ich wisse es nicht, doch als ob ich es wisse – Gott als Herzenskündiger (XXII, 64, Z. 12–16).
Der schwer verständliche zweite Teil des letzten Satzes (ab „außer im Gewissen“) scheint anzudeuten, dass besagte Nutzenerwägung (neben ihrer offenbaren moralischen, ja sogar begrifflich-grammatischen Unangemessenheit) dem Faktum des Gewissens widerspricht, das zwar kein Wissen (durch Erkenntnis) vermittelt, aber den Begriff von Gott als moralischem Richter enthält. – Außerdem nimmt Kant gegen die Möglichkeit (der Erkennbarkeit) einer (vermeintlichen) Offenbarung des moralischen Willens Gottes Stellung (XXII, 64, Z. 21–29), womit er frühere Einsichten wiederholt. – Schließlich bringt er noch einmal mit Nachdruck die metaphysische Realität und Unbedingtheit des Moralprinzips zur Geltung mit den Worten: „Es ist im Geiste des Menschen (nicht der Seele) ein Prinzip der Pflicht als kategorischer Imperativ, welches, schlechthin gebietend, das höchste gebietende ist […]“ (XXII, 65, Z. 8 ff.). Auch im I. Konvolut machen Kants Antwortversuche auf die Frage nach Gottes Dasein einen zwiespältigen Eindruck. Dass Kant selbst diese Frage auch mit der Einnahme der transzendentalphilosophischen Position offenbar nicht für erledigt ansieht, zeigen Äußerungen, wonach im Unterschied zu den Eigenschaften Gottes, die „analytisch in der von uns selbst geschaffenen Idee des höchsten Wesens enthalten“ seien, sich die Frage nach seiner Existenz trotz der Einsicht in die anthropogene Herkunft der Gottesidee dennoch stelle: „Aber die Aufgabe der Transzendentalphilosophie bleibt noch immer unaufgelöst: Ist ein Gott?“ (XXI, 17, Z. 8–10; vgl. 53, Z. 1 f.). Diese Frage allerdings außerhalb des transzendentalphilosophischen Standpunkts zu stellen, lehnt Kant getreu seinem kritischen Ansatz ab (vgl. XXI, 27, Z. 21 f.; 72, Z. 16 f.; 74, Z. 5 f.; 75, Z. 26–29). Die Nachweise des Orts dieses Arguments in den verschiedenen Textausgaben von Pascals Pensées finden sich bei Wimmer 2005a, Anm. 37. Zur möglichen Pascal-Kenntnis Kants vgl. Winter 1977: 363, Anm. 148.
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Aber es gibt auch Bemerkungen, die darauf hindeuten, dass er auch innerhalb der transzendentalphilosophischen Betrachtungsweise keinen Raum mehr für die Existenzfrage sieht: „Gott ist der Begriff von einem persönlichen Wesen. Ob ein solches existiere, wird in der Transzendentalphilosophie nicht gefragt“ (XXI, 45, Z. 26 f.; vgl. 78, Z. 17–19). Auf den ersten beiden Bögen des I. Konvoluts finden sich Texte, die noch in anderer Hinsicht als einander widersprechend aufgefasst werden können, wenn Gott z. B. Substanzialität sowohl zugesprochen (XXI, 13, Z. 2 f.; 15, Z. 26 f.; 22, Z. 10) als auch abgesprochen wird (XXI, 17, Z. 14 f.; 21, Z. 15 f.; 22, Z. 28 f.; 23, Z. 13 f.), womit er wohl das eine Mal als von der moralisch-praktischen Vernunft verschieden, das andere Mal aber als mit ihr identisch aufgefasst wird. Letzterem entsprechend betont Kant dann ausdrücklich, dass Gott (und Welt) Vernunftideen seien und deshalb nicht als „Substanzen außer meinen Gedanken“ angesehen werden dürften, sondern nur durch „das Denken“ bestünden, „wodurch wir uns die Gegenstände selbst durch synthetische Erkenntnisse a priori aus Begriffen selbst machen und der gedachten Gegenstände subjektiv Selbstschöpfer sind“ (XXI, 21, Z. 25–32). Unter den wegen ihrer Knappheit oftmals enigmatischen Notizen des I. Bogens findet sich eine, die ein anselmisches Flair umgibt. Sie lautet: „Die bloße Idee von ihm [= Gott] ist zugleich Beweis seiner Existenz“ (XXI, 14, Z. 6 f.). Trägt die nähere Umgebung dieses Satzes etwas zu seinem Verständnis bei? Die Manuskriptseite, auf die er notiert ist, beginnt mit einer Reflexion über die Bedeutung des Gottesbegriffs in der Transzendentalphilosophie: „Unter dem Begriffe von Gott denkt sich die Transzendentalphilosophie eine Substanz von der größten Existenz“ (XXI, 13, Z. 2 f.). Es verwundert, Kant hier in transzendentalphilosophischer Absicht von Gott als einer „Substanz von der größten Existenz“ reden zu sehen und diese traditioneller Metaphysik verpflichtete Rede auch nicht umzudeuten in Richtung auf ein moralisches Verständnis des Gottesbegriffs, wodurch sie als metaphorische Rede identifiziert wäre. Der unmittelbar folgende Absatz, beginnend mit „Beide [nämlich (die Begriffe von) Gott und Welt] werden als ein Höchstes gedacht nach dem transzendentalen Idealismus“ (XXI, 13, Z. 11 f.), ändert an dieser Orientierung nichts. Erst im dritten Abschnitt wird, unverbunden mit dem Vorausgehenden, das moralische Sein des Menschen reflektiert: „Es existiert ein kategorischer Imperativ im Gemüte (mens) jedes Menschen“. Der Abschnitt
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schließt mit den Worten: „Nicht die technisch-praktische, sondern die moralisch-praktische Vernunft spricht los und verdammt“ – soll heißen: Nicht Klugheit und Geschicklichkeit in der Planung und Verwirklichung von selbst gesetzten Zielen sind die wesentlichen Maßstäbe für die Selbstbeurteilung des Menschen, sondern die gegenüber partikularen Zwecksetzungen unbedingten moralischen Maßstäbe (XXI, 13, Z. 21–28). Darauf folgt eine wieder anders geartete, unser Thema nicht berührende, jedoch bemerkenswerte Notiz – bemerkenswert deshalb, weil sie Kants nüchterne Weltsicht, wie sie auch aus manchen seiner empirisch-anthropologischen und geschichtsphilosophischen Betrachtungen hervorscheint, spiegelt: Die Natur verfährt mit dem Menschen despotisch. Menschen zerstören einander wie Wölfe; Pflanzen und Tiere überwachsen und ersticken einander. Die Natur achtet nicht der Pflege und Vorsorge, die sie bedürfen. Kriege zerstören, was lange Kunsthandlungen errichtet und gepflegt haben (XXI, 13, Z. 29–14, Z. 2).
Dann folgt jener Abschnitt, in dem sich die uns beschäftigende Aussage findet. Er besteht aus drei Sätzen, die voneinander durch einen Strich getrennt sind: Ein Wesen, das ursprünglich für Natur und Freiheit allgemein gesetzgebend ist, ist Gott. – Nicht allein das höchste Wesen, sondern auch der höchste Verstand, [das höchste] Gut (der Heiligkeit nach). Ens summum, summa intelligentia, summum bonum. – Die bloße Idee von ihm ist zugleich Beweis seiner Existenz (XXI,14, Z. 3–7).
Nach diesen sich auf den Gottesbegriff beziehenden Bemerkungen folgt schließlich ein Absatz, der im Unterschied zu den ersten beiden die Kants transzendentalem Idealismus eigene Thematik der Selbstkonstitution des transzendentalen Subjekts anspricht: Unter allen Eigenschaften, die einem denkenden Wesen zukommen, ist die erste die, seiner selbst als einer Person bewusst zu sein, nach welcher das Subjekt nach dem transzendentalen Idealismus sich selbst a priori zum Objekte konstituiert, nicht als in der Erscheinung gegeben im Übergang von metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik, sondern als Wesen, das seiner selbst Begründer und Urheber ist nach der Qualität der Persönlichkeit. Das ich bin. – Ich als Mensch bin mir Sinnenobjekt im Raum und der Zeit und
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zugleich Verstandesobjekt – Bin eine Person: folglich ein moralisches Wesen, das Rechte hat (XXI, 14, Z. 8–16).
Offenbar trägt nur der engere Kontext, wenn auch eher indirekt, etwas zur Interpretation der Aussage Kants bei, die bloße Idee von Gott sei zugleich Beweis seiner Existenz. Unmittelbar vorher wird Gott als „ursprünglich für Natur und Freiheit allgemein gesetzgebend“ verstanden und anschließend die Selbstsetzungsthematik behandelt. Diese Thematik ist nun aber zur Gesetzgebungsthematik in ein Verhältnis zu bringen. Die klassische Antwort Kants würde lauten, dass die Konstitution der Freiheit des Subjekts gerade im Akt der Selbstgesetzgebung geschieht: Freiheit ist Autonomie; die Gesetze der Vernunft sind Freiheitsgesetze, nämlich Gesetze aus Freiheit für Freiheit – aus der Freiheit der Vernunft für die Freiheit des Willens bzw. der Willkür. Wie kann dann aber doch zugleich die Rede davon sein, dass Gott ursprünglicher Gesetzgeber für (Natur und) Freiheit ist? Besteht hier nicht ein unüberbrückbarer Widerspruch? Lässt er sich nicht allein dadurch ausräumen, dass man die eine Seite des Widerspruchs irrealisiert, entweder die Autonomie des Menschen preisgibt oder Gott anthropologisiert? In letzterem Falle wäre aber nicht mehr statthaft, in realistischer Sprechweise von der ‚Ursprünglichkeit‘ der göttlichen Gesetzgebung zu reden, und die Behauptung, die bloße Idee von Gott beweise seine Existenz, würde sich als Taschenspielertrick entpuppen, der an Banalität noch gewönne, sollte Kant die Betonung auf ‚von Gott‘ gelegt haben und lediglich darauf hätte hinweisen wollen, dass diese Ausdrucksweise oberflächengrammatisch Gott als existierend vorstellt15. Stellt das ‚anselmische‘ Verständnis des fraglichen Satzes eine Deutungsalternative dar? Joachim Kopper schreibt in einer Arbeit über Kants Gotteslehre: Hier ist es nun ausgesprochen, dass in der Idee Gottes das Sein Gottes liege. In der Idee von Gott ist Gott selbst in der Notwendigkeit seines Seins gegenwärtig. Das Denken Gottes ist Gegenwärtighaben des absoluten Bestehens. Das war es, was der ontologische Beweis, der vom Begriff des allerrealsten Wesens ausgeht, nicht leisten konnte. Dieser Begriff konnte sich, weil er von der Erscheinungsordnung her gebildet war, nur im zufälligen Sein der Erscheinungsordnung erfüllen, er vermochte nicht, auf Gottes notwendiges Sein zu weisen. Zu Kants diesbezüglicher Ansicht vgl. Opus postumum XXI, 152, Z. 26 f. und 153, Z. 9 f.
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Aber das Ideal, das hinter dem theoretischen Beweis steht, ist nun durchsichtig geworden, weil das Denken ganz in das eingekehrt ist, was die reine Vernunft für sich selbst sagt. Das Denken, das sich nicht mehr von den Dingen her auslegt, weiß um sein Herkommen aus der Gegenwart von Gottes Sein. Und so gewinnt Kant in diesem Wissen um die Gegenwart Gottes, die im Denken selbst geschieht, den ontologischen Beweis, so wie er seinem Anliegen nach seit Anselm gemeint war, zurück (Kopper 1955/1956: 59 f.).
Von Anselm gemeint war 1., dass sowohl der Gottgläubige als auch der Gottleugner dasselbe Verständnis des Gottesbegriffs haben müssen – Gott ist der, der nicht nicht existieren kann und dessen Eigenschaften nicht die Eigenschaften von Wesen sein können, die sehr wohl auch nicht existieren können –, soll von ‚Behauptung‘ und ‚Bestreitung desselben‘ sinnvoll die Rede sein, dass aber 2. der Gottleugner dieses gemeinsame Verständnis genau in dem Augenblick aufkündigt, wo er dem Gottgläubigen widerspricht, sodass er durch den Akt seines Widersprechens eine notwendige Bedingung dieses Widerspruchs außer Kraft setzt, die innere Widersprüchlichkeit dieses Akts jedoch 3. nicht sieht und deshalb ‚insipiens‘ genannt zu werden verdient. Stützen nun aber die von Kopper herangezogenen Stellen seine Deutung? Ich kann die drei anderen Stellen, die er aus dem Opus postumum anführt (XXI, 92, Z. 3–9; 140, Z. 7–12 und 151, Z. 11–15), hier nicht mehr im Einzelnen analysieren. Ich meine aber, dass eine Deutung am Nächsten liegt, die sich – zumindest zunächst – in Kants transzendentalphilosophischem Rahmen bewegt, aber über ihn hinausdrängt im Sinne einer neowittgensteinianischen Transformation von Kants transzendentalphilosophischem Verfahren. Abschließend sei lediglich noch auf eine kleine Notiz Kants hingewiesen, die sich auf Seite 4 des XI. Bogens des I. Konvoluts findet. Sie lautet: „Gott ist nicht ein außer mir bestehendes Ding, sondern mein eigener Gedanke. Es ist ungereimt zu fragen, ob ein Gott sei. Ein verbum personale ist zur Grammatik gehörig“ (XXI, 153, Z. 11–13). Auch diesem Text fehlt eine Umgebung, die sein Verständnis erleichtern könnte. Dass Gott (und seine Existenz) ‚mein eigener Gedanke‘ sei, kann man anderen Stellen im Nachlasswerk gemäß so verstehen, dass der Mensch aufgrund seiner moralischen Vernunft Gott entweder (a) als Garanten der Realisierung des höchsten Guts (Postulatenlehre) oder (b) in vergegenständlichender personaler bzw. ideeller Verdoppelung der eigenen moralischen Anlage als moralischen Gesetzgeber und Richter bzw. als Ideal moralischer Vollkommen-
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heit denkt. Im Fall (a) wird Gottes Existenz in einer praktisch-moralisch gewendeten Transzendentaltheologie eigens dargetan, im Fall (b) wird die in der Vergegenständlichung und Verdoppelung möglicherweise angelegte Vorstellung von der vom Menschen unabhängigen Existenz Gottes durch deren Aufhebung gerade zurückgenommen. Demnach wäre es ungereimt zu fragen, ob ein Gott sei, weil die Rede von moralischer Vernunft als einem ‚Gesetzgeber‘ und ‚Richter‘ lediglich eine façon de parler, ein „verbum personale“ ist, das sich der Oberflächen-„Grammatik“ unserer Sprache – der menschlichen Neigung zu personaler Konkretisierung – verdankt. Die sich im Umkreis der Argumentation Anselms bewegende transzendentaltheologische Deutungsalternative wird zwar von Kant auch an dieser Stelle weder entwickelt noch gar begründet. Aber sie ist zulässig, ja unabweisbar, falls es erlaubt ist, das Wort ‚Grammatik‘ in Kants Text mit Wittgensteins Verständnis einer logisch-begrifflichen Tiefen-Grammatik zu verknüpfen, wonach das Wesen von etwas – in diesem Fall: wer oder was Gott ist – sich in der Grammatik einer bestimmten religiösen Lebensform gleichsam ‚ausgesprochen‘ findet und diese Grammatik in der Religionsphilosophie oder in einer entsprechenden Theologie reflektiert und analysiert werden kann16. Auch in dieser transzendentaltheologischen Sicht wäre es „ungereimt zu fragen, ob ein Gott sei“. Aber die Ungereimtheit dieser Frage bestünde nicht darin, dass man den Projektionscharakter der Vorstellung von Gott durchschaut hätte, sondern darin, dass man die Lebensformoder Existenzbezogenheit des Begriffs von bzw. des Denkens an Gott, der insofern immer „mein eigener Gedanke“ sein muss, erkennt. Insofern lässt sich Anselms Rede von der Notwendigkeit des Daseins Gottes nicht bestreiten. Aber diese Notwendigkeit ist ersichtlich nur innerhalb monotheistischer religiöser Lebensformen absolut. Es lässt sich aus lebensform unabhängiger logisch-begrifflicher Analyse lediglich sagen: Falls Gott existiert, existiert er notwendig (ontologisch notwendig). Insofern ist die legitime Behauptung seiner Existenz stets relativ – oder besser: relational –, nämlich bezogen auf die entsprechende Glaubens- und Lebensform. Außerhalb ihrer ist natürlich eine solche Existenzbehauptung illegitim, weil uneinlösbar, und diese Uneinlösbarkeit kann aufgezeigt werden. Dass Kant solche ‚anselmischen‘ Formulierungen überhaupt wagt, verdankt sich m. E. aber nicht nur seiner Auseinandersetzung mit Spinoza und Dazu ausführlich Wimmer 2005b: 159–175.
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seinen spinozistischen Zeitgenossen, sondern vor allem seinem Bestreben, seine Transzendentalphilosophie durch eine transzendental-anthropologische Theologie zu vollenden. Allerdings ließen ihn seine schwindenden physischen und geistigen Kräfte kaum über Andeutungen und erste Ansätze zur Ausführung dieses Programms hinausgelangen.
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Ders. (2005b), „Anselms Proslogion als performativ-illokutionärer und als kognitivpropositionaler Text und die zweifache Aufgabe der Theologie“, in: ders. (2005), Religionsphilosophische Studien, Freiburg i. Ue./Freiburg i. B., 151–178. Ders. (2005c), „Kann Religion vernünftig sein? Zur Metakritik an Kants kritischer Religionsphilosophie“, in: ders. (2005), Religionsphilosophische Studien, Freiburg i. Ue./Freiburg i. B., 229–251. Winter, Alois (1977), „Gebet und Gottesdienst bei Kant: Nicht ‚Gunsterwerbung‘, sondern ‚Form aller Handlung‘“, in: Theologie und Philosophie 52, 341–377.
Praktiken der Sinngebung Immanenz der Transzendenz bei Kant1 Nele Schneidereit
Gibt es einen Gott? Ist der menschliche Wille frei? Ist die Seele unsterblich? Viele Menschen würden die philosophische Praxis, offenkundig unlösbare Fragen wie diese wieder und wieder zu stellen, insgesamt als Krise und vielleicht auch als ein wenig verrückt beschreiben. Gleichwohl würde vielleicht jeder zugeben, dass er oder sie sich mit einer oder mehrerer dieser Fragen schon beschäftigt hat, ohne zu einer Lösung zu kommen. Offenbar gibt es unlösbare Probleme, die unser Leben begleiten, ja unsere Praxis durchziehen, ohne dass diese Praxis merklich durch den problematischen Charakter dieser Fragen geprägt wäre. Kant hat die Notwendigkeit bestimmter unlösbarer Probleme am Grund unseres Denkens gesehen und sie in ganz neuartiger Weise in seiner kritischen Philosophie verständlich zu machen gewusst, indem er den Wissensanspruch der traditionellen Metaphysik praktisch wendete. Insbesondere in der zweiten Kritik betont Kant die Objektivität spekulativ problematischer Begriffe in praktischer Hinsicht; Transzendenz ist unserer moralischen Praxis immanent. Ich möchte auf den folgenden Seiten zeigen, wie Kant zunächst jeden Anspruch auf Wissen über das Transzendente (das Spekulative, ‚Über-alleErfahrung-Hinausgehende‘) fahren lässt, das Transzendente also wirklich in seinem transzendenten Wesen aufzeigt, statt es zu verdinglichen oder zu anthropomorphisieren. Dann lässt sich aber auch zeigen, dass Kant die Notwendigkeit metaphysischer Fragen und Antworten sowohl methodisch für die kritische Philosophie als auch für unsere alltägliche (insbesondere moralische) Praxis bewusst war, dass also „was für die speculative 1
Für kritische Anmerkungen danke ich Constanze Demuth, Sebastian Böhm und Martin Sticker.
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[Vernunft] transcendent war, in der praktischen immanent“ (V, 133) ist.2 Die praktische Wendung einer vernunftimmanent notwendigen Metaphysik unter Bedingungen kritischen Philosophierens hat zur Folge, dass wir es bei metaphysischen Ideen immer mit zeitgebundenen Vergegenwärtigungsformen in Bildern, Geschichten oder Theorien zu tun haben, die den für sich genommen unbestimmbaren Ideen Sinn und Bedeutung geben. Obwohl die praktische Transformation der Metaphysik für sich genommen ausreichend Diskussionsbedarf bietet, konzentriere ich mich im Folgenden auf die Vergegenwärtigungsweisen notwendiger spekulativer Ideen und Schlüsse, d. h. auf deren historisch-prozessualen Charakter. Von dieser praktisch-immanentistischen Seite betrachtet, ist Kants kritische Philosophie insgesamt eine Philosophie für die Welt, während seine Philosophie für die Schule lediglich den der allgemeinen Vernunft zugehörigen Gegenstand aus den Mühlen der Demonstration aus reinen Begriffen befreit.3 Das heißt nicht, dass die kritischen Schriften für jeden verständlich sein sollten, sondern dass es in ihnen über den Aufweis einer Methode für die (metaphysischen) Wissenschaften hinaus auch um die Dignität der allgemeinen menschlichen (gemeinen) Vernunft überhaupt geht, die sich in alltäglichen und zeitgebundenen Intuitionen der grundsätzlichen Orientierung in der Marcus Willaschek differenziert ähnliche Schritte, die er „necessity of metaphysics“, „necessity of metaphysical illusion“ und „practical transformation of metaphysics“ nennt (Willaschek 2008: 285, vgl. auch die Anlage des Bandes von Grier 2001, die allerdings unter ‚praktisch‘ eher die wissenschaftstheoretischen Überlegungen am Ende der ersten Kritik versteht). Der Dreiklang dieser Thesen „together make up a revolutionary conception of metaphysics whose philosophical import has still not been fully explored“ (Willaschek 2008: 286). Unter practical transformation versteht Willaschek in erster Linie die Beglaubigung spekulativer Sätze in praktischer Hinsicht, die Kant in der Dialektik der zweiten Kritik darlegt. Willaschek weist darauf hin, dass es hier auf die Art des Argumentes und weniger auf den speziellen (kontingenten) Inhalt der Postulatenlehre (Unsterblichkeit, Freiheit, Dasein Gottes) ankommt, was ich hier durch die Betonung der Immanenz der Postulate in unserer Praxis verdeutlichen möchte. Vgl. dazu auch Willaschek 2009. 3 Friedrich Kaulbach hat in seinem einflussreichen Artikel Weltorientierung, Weltkenntnis und pragmatische Vernunft bei Kant von 1966 bereits den eminenten Status der Philosophie für die Welt bei Kant deutlich gemacht, ihn allerdings auf die pragmatische Vernunft beschränkt. In gewissem Sinne meine ich, dass insgesamt von einer Lebens- und Weltorientierung bei Kant gesprochen werden kann. 2
Praktiken der Sinngebung
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menschlichen Welt zeigt, die sich auf moralische Prinzipien und spekulative Sätze zurückführen lassen, über deren Gültigkeit sich theoretischbegründend nichts mehr sagen lässt.4
1. Kritik der Metaphysik und deren praktische Transformation Kants kritische Philosophie entzieht die klassischen metaphysischen Fragen nach dem Dasein Gottes, der Unsterblichkeit der Seele und der Freiheit des Willens dem Bereich möglichen Wissens. Wissen ist für uns nur durch Bezug auf Erfahrung möglich, alle Spekulation, die über die Grenzen möglicher Erfahrung hinausgeht, ist eben nichts als Spekulation, aber niemals Wissen. Die Vernunft sieht nur das ein, „was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt“ und sie muss daher „mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen […], auf ihre Fragen zu antworten“ (III B, xiii). Wissen ohne alle Erfahrung (a priori) kann allein von den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt gewonnen werden. Man kann in bestimmter Hinsicht davon sprechen, dass die kritische Philosophie das Transzendente erstmals wirklich als solches behandelt: Es wird dem rationalistischen Zugriff durch Demonstration aber auch dem skeptischen durch Negation entzogen. Die Zertrümmerung der herkömmlichen Metaphysik setzt Kant besonders im zweiten Teil der Kritik der reinen Vernunft („Transzendentale Dialektik“) ins Werk. Keiner der traditionellen Beweise von der Unsterblichkeit der Seele, der Freiheit des Willens und dem Dasein Gottes hält dort dem Blick des kritischen Philosophen stand, sondern er weist die Verwicklung dieser Beweise in Paralogismen, 4
In diesem Sinne versteht Paul Guyer Kant so, dass Philosophie immer nur die Explikation der im common sense impliziten Präsuppositionen sein kann und dass sie daher in ihren Ergebnissen diesen Implikaten auch nicht widersprechen darf (vgl. Guyer 2003). So ist auch Reiner Wimmer der Ansicht, dass mit dem „Übergang von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis zur philosophischen“ in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten „nicht ein Verlassen oder Hintersich-lassen der Ebene der sog. ‚gemeinen‘ Vernunft, sondern lediglich ihre philosophische Explikation“ gemeint sei (vgl. Wimmer 2004: 354).
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Antinomien und bloßen Idealismus nach. Die Fragen nach Gott, Seele und Welt sind im Rahmen des uns möglichen Wissens nicht entscheidbar, sie übersteigen (transzendieren) die Grenzen des uns möglichen Wissens. Insofern eingangs die Ubiquität nicht durch Erfahrung entscheidbarer Fragen erwähnt wurde, würde aus dieser Kritik, aus diesem Grenzaufweis vielleicht ein Gefühl der Orientierungslosigkeit entstehen. Würde, nicht aber sollte, denn der destruktive Gang ist zwar gegen die Fehlschlüsse und den Dogmatismus der Schulphilosophie, nicht aber gegen unsere Überzeugungen überhaupt gerichtet. Anders als häufig behauptet, klammert Kant die großen metaphysischen Fragen nämlich keineswegs aus seiner Philosophie aus, sondern hegt sie methodisch ein bzw. zeigt ihre praxisregulierende (orientierende) Funktion auf. Seine Kritik der reinen Vernunft ist in spekulativer Hinsicht kein „System der Wissenschaft“, sondern als ein „Traktat von der Methode“ zu verstehen, wie mit metaphysischen Ansprüchen in den Grenzen der reinen Vernunft umzugehen ist (III B xxii).5 Inwiefern sollte aber die Metaphysik selbst nicht bloß eine historische Verirrung, sondern unvermeidbares Element menschlicher Vernunft sein? Wäre es nicht einfacher, auf theoretisch unbestimmbare Ideen einfach zu verzichten? Kant begründet das empirische Faktum der Ideen der reinen Vernunft aus der ihr eigenen Tätigkeit bzw. dem ihr eigenen Bedürfnis zu Gründen vorzudringen und nach Zwecken zu urteilen. Die allersten Zeilen der Kritik der reinen Vernunft in der Auflage von 1781 lauten: Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft. (IV A, vii)
Kant spricht von einem Bedürfnis der Vernunft, sich über die Grenzen der Erfahrung hinaus zu erweitern, durch das Metaphysik immer bestehen bleiben wird: […] die menschliche Vernunft geht unaufhaltsam […] durch eigenes Bedürfnis getrieben bis zu solchen Fragen fort, die durch keinen Erfahrungsgebrauch der Vernunft und daher entlehnte Prinzipien beantwortet werden können, und so ist 5
Kant „macht aus der Metaphysik als Naturanlage eine Metaphysik als Wissenschaft“, so gleichwohl nicht unrichtig Kaulbach 1966: 60.
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wirklich in allen Menschen, so bald Vernunft sich in ihnen bis zur Spekulation erweitert, irgendeine Metaphysik zu aller Zeit gewesen und wird auch immer darin bleiben. (III B 75)
Es liegt in der Natur der menschlichen Vernunft, im Laufe der Zeit von Erfahrungen zu ihren (unbedingten) Bedingungen6 aufsteigen zu wollen und dann zu merken, dass ihr der Weg zur Beantwortung ihrer Fragen verschlossen ist. Dabei nimmt sie nun Zuflucht zu unverdächtig scheinenden, allgemein verbreiteten Grundsätzen, die sie aber „in Dunkelheit und Widersprüche“ verwickeln und schließlich in „endlose[] Streitigkeiten“ führen, die nun metaphysische Wissenschaften heißen (IV A, vii). Wie Kant in der Einleitung zur „Transzendentalen Dialektik“ in der Kritik der reinen Vernunft zeigt, handelt es sich um eine zweistufige Entstehung metaphysischen Irrtums; der transzendentale Schein besteht darin, dem Gebrauch der Vernunft innewohnende Grundregeln und Maximen für objektive Bestimmungen der Dinge selbst zu halten. Aus diesem trans zendentalen Schein entspringen mit Notwendigkeit Ideen, denen kein mögliches Objekt der Erfahrung korrespondiert (IV A, 339/ III B, 397). Wiederum schließt nun die Vernunft mit Notwendigkeit aus diesen Ideen. Die dialektischen Vernunftschlüsse unterscheidet Kant in Paralogismen, Antinomien und das Ideal der reinen Vernunft, die der traditionellen Unterteilung der Metaphysik in Psychologie, Kosmologie und Theologie bzw. den Ideen von der Unsterblichkeit der Seele, der Freiheit des Willens bzw. der Ordnung der Natur sowie des Daseins Gottes entsprechen.7 Willaschek konzentriert sich in seinem Artikel über Kant on the Necessity of Metaphysics auf die Herleitung der Metaphysik aus dem „‚conditioned-unconditioned‘principle“, das allem Vernunftgebrauch zugrundeliege. Es führe in Kants Darstellung aber zu einer Vermengung von Epistemologie (allgemeinster Satz) und Ontologie (erste Ursache), die unbefriedigend sei und erst in der Postulatenlehre einer wirklichen Auflösung zugeführt werde. (Vgl. Willaschek 2008: 301) 7 Michelle Grier hat auf diese Unterscheidung zwischen dem transzendentalen Schein und Denkfehlern, die bloß aus fehlerhaftem Kategoriengebrauch entstehen, hingewiesen. Dadurch entstehe nicht das Problem, dass Kants Dialektik inkonsistent sei, da sie einerseits auf die Notwendigkeit der Kritik und zugleich auf die Notwendigkeit transzendentalen Scheins abzielt. Der transzendentale Schein sei zwar notwendig, nicht aber „the fallacies or judgmental errors inherent in the metaphysical arguments“ (Grier 2001: 10). 6
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Die unbeantwortbaren Fragen nach dem Dasein Gottes, der Unsterblichkeit der Seele und der Freiheit des Willens sind der menschlichen Vernunft also natürlich, wir stellen sie uns unwillkürlich.8 Kant setzt diese Fragen nun gerade dadurch in ihr Recht, dass er sie als reine Vernunftfragen behandelt, die durch vermeintliche Erkenntnis aus Erfahrung bzw. in Analogie zur Verstandeserkenntnis gerade missverstanden würden. Wenn wir nach dem Dasein Gottes fragen und meinen, es durch Erfahrung beweisen zu können, dann muss es ein sehr kleiner Gott sein, der den Gesetzen der Erscheinungswelt unterliegt. Unsere Idee von Gott z. B. als erster Ursache bzw. Grund allen Seins ist indes von ganz anderer Art, die nicht sinnlich erfahrbar ist, da es sich um eine reine Vernunftidee handelt. Der reine Vernunftgebrauch wird aber durch die Kritik der herkömmlichen Metaphysik in seinem positiven Nutzen für den „schlechterdings notwendigen praktischen Gebrauch der reinen Vernunft (den moralischen)“ allererst sichtbar (III B, xxv), so argumentiert Kant in der B-Auflage von 1787 gegen seine Kritiker, die ihm vorgeworfen hatten, die Kritik richte ein rein negatives Zerstörungswerk an. Kant bemüht sich um Klärung des ganz lebenspraktischen und mit Blick auf unsere Praxis gerade nicht negativen, sondern konstruktiven Charakters der kritischen Philosophie: Bei dieser wichtigen Veränderung im Felde der Wissenschaften, und dem Verluste, den spekulative Vernunft an ihrem bisher eingebildeten Besitze erleiden muß, bleibt dennoch alles mit der allgemeinen menschlichen Angelegenheit, und dem Nutzen, den die Welt bisher aus den Lehren der reinen Vernunft zog, in demselben vorteilhaften Zustande, als es jemalen war, und der Verlust trifft nur das Monopol der Schulen, keineswegs aber das Interesse der Menschen. (III B, xxxi f.)
Das Interesse der Menschen muss in diesem Zusammenhang die Möglichkeit eines sinnvollen Umgangs mit notwendigen, aber unlösbaren Fragen in ihrer Praxis sein. Auf verschiedenen Stufen der Reflexion und Komplexität zeigt Kant nun, inwiefern wir nicht nur mit diesen Fragen der reinen Vernunft richtig umgehen können, sondern es zu großen Stücken immer schon tun. Referenzpunkte sind hier die Momente in Kants Philosophie, an 8
Die Begründung dieses unwillkürlichen Fortgangs legt Kant in der Einleitung zur „Transzendentalen Dialektik“ der Kritik der reinen Vernunft als Bedürfnis und Gewohnheit dar (IV A, 303/ 359, vgl. auch IV A, 307 f./ III B, 364). Vgl. dazu Willaschek 2008 und ausführlicher Grier 2001.
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denen er von der Immanenz der Transzendenz spricht, vom Umgang also mit unabweisbaren Fragen der reinen Vernunft bzw. aus ihr resultierenden Ideen in der Praxis bzw. in praktischer Hinsicht. Solche Momente sind die Postulatenlehre in der Kritik der praktischen Vernunft, wo Kant zeigt, dass unbedingt geltenden praktischen Gesetzen theoretische, nicht erweisliche Sätze als Postulate anhängen,9 oder der Aufweis der Immanenz des kategorischen Imperativs in unserer sittlichen Praxis zu Beginn der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, oder auch der Versuch einer Rückführung der Glaubenssätze der Offenbarungsreligion auf reine Vernunftbegriffe, der dann gar die Notwendigkeit der historischen Religion für die Entfaltung der Vernunftreligion belegt, in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Ein Paradestück dieser Weltzugewandtheit seiner Philosophie legt Kant mit der populär gehaltenen Schrift Was heißt: Sich im Denken orientiren? vor, die im Jahre 1786 in der Berlinischen Monatsschrift erstmals erschien. Im Folgenden möchte ich an den beiden zuletzt genannten Texten exemplarisch zeigen, wie Kant sich den vergegenwärtigenden Umgang mit den aus einem natürlichen Bedürfnis der Vernunft notwendig entstehenden Fragen nach Transzendenz und deren orientierende Funktion in Theorie und Praxis vorstellt.
2. Immanenz der Transzendenz: Sich-Orientieren durch Praktiken der Sinngebung Der Umgang mit dem metaphysischen Bedürfnis der Vernunft lässt sich in seinem Wert der Orientierung aufweisen, der durch die konkreten Sinngestalten der Vernunftideen in Zeichen, Bildern, Theorien und Geschichten erfüllt ist. Die theoretisch problematischen Ideen erhalten ihre Bedeutung in praktischer Hinsicht, das Transzendente ist in unserem konkreten und oft unproblematischen Umgang mit ihm immanent. Ich werde im Folgenden Unter einem Postulat der reinen praktischen Vernunft versteht Kant „einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz […], so fern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetz unzertrennlich anhängt“ (V, 122). Wir wissen durch ein Postulat rein gar nichts, dennoch gilt es in unserer moralischen Praxis, ist also in praktischer Hinsicht objektiv. Vgl. zur Postulatenlehre den Artikel von Burkhard Nonnenmacher in diesem Band.
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nicht auf die Zulässigkeit der praktischen Transformation der Metaphysik selbst eingehen,10 sondern mich auf den theoretisch und praktisch orientierenden Charakter der spekulativen Ideen konzentrieren. Darüber hinaus geht es mir um den notwendigen Bildcharakter dieser Orientierung. Dieser letzte Punkt wird der epistemischen Entzogenheit von Transzendenz die Dimension praktischer Entzogenheit hinzufügen, denn die Weisen, in denen wir mit unserem metaphysischen Bedürfnis umgehen, sind unserer individuellen Gestaltung entzogen, indem sie in eine uns vorhergehende geschichtliche Welt sinnhaft eingelassen sind. Es lässt sich nicht einfach irgendeine Form der veranschaulichenden Vergegenwärtigung von Transzendenz konstruieren
2.1 Orientierung durch reine Vernunftideen Gemessen daran, dass er gar nicht einmal so häufig bei Kant vorkommt, hat der Orientierungsbegriff in der neueren Kantforschung eine beachtliche Karriere gemacht.11 U. a. Friedrich Kaulbach, Josef Simon und Werner Stegmaier haben sich um eine Kant-Lesart bemüht, die neben dem Alleszermalmer und Rigoristen den Verteidiger der pragmatischen Vernunft, den Philosophen des alltäglichen Lebens neben dem der Kritik hervortreten lassen. In diesen Lektüren wird betont, dass Kant mit aller Deutlichkeit bewusst war, dass wir uns in der Welt und im Denken orientieren müssen und das heißt, dass all unsere praktischen und theoretischen Entwürfe an unseren jeweiligen Standort rückgebunden bleiben. Mit Blick auf das Vorangegangene mag ein weiterer Blick auf die kleine Schrift über das Sich-Orientieren die Plausibilität dieser Ansätze verdeutlichen. Kant greift mit dieser Schrift in den sogenannten Pantheismusstreit ein, der sich zwischen Mendelssohn und Jacobi um Vernunft und Glauben in Fragen der Theologie entzündet hatte. Gegen Jacobis Irrationalismus bezieht Kant zunächst für Mendelssohn Position, indem er ihm zustimmt, es müsse die gemeine Vernunft sich durch ein ihr eigenes Leitungsmittel zu orientieren wissen, das Mendelssohn „bald den Gemeinsinn (Morgenstunden), bald die gesunde Vernunft, bald den schlichten Menschenverstand (an Lessings Freunde)“ nenne (VIII, 32). Kant will nun in seiner kurzen Schrift zeigen, Vgl. dazu die bereits angeführten Arbeiten von Grier und Willaschek. So hat ihn Werner Stegmaier zur Leitidee seiner Kant-Lektüre (und darüber hinaus zum Schlüsselbegriff seiner eigenen Systematik) erhoben. Vgl. Stegmaier 2008; knapper vgl. ders. 2007.
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wie dieses Sich-Orientieren vorzustellen sei. Dabei entfaltet er seine ganz eigene Position auch in Absetzung von Mendelssohn, der die Existenz Gottes aus der Notwendigkeit des Begriffs demonstrieren wollte. Kant greift in der populär gehaltenen kurzen Schrift wesentliche Argumente aus der „Trans zendentalen Dialektik“ der Kritik der reinen Vernunft wieder auf. Es gibt etwas in der gemeinen Vernunft, was den spekulativen Gebrauch der Vernunft orientieren kann, so die Mendelssohn-Kantsche These. Was heißt das? Kant geht diese Frage hier von der Metapher der Orientierung her an. In der Kritik der reinen Vernunft hatte er bereits von einem „unentbehrliche[n] Richtmaß der Vernunft“ (IV A, 569/III B, 597) gesprochen, zu dem die rechtverstandenen transzendenten Ideen uns dienen. Es ist vermutlich der populäre Kontext, der Kant hier auf die griffigere Vorstellung der Orientierung im Raum zurückgreifen lässt. Gleich zu Beginn der Schrift bemerkt Kant, dass uns Anschaulichkeit bei der Erkenntnis der Regeln des Denkens sehr helfen kann. Der Begriff des Sich-Orientierens nun hilft zu verstehen, wie sich die gesunde Vernunft bei der vermeintlichen Erkenntnis übersinnlicher (transzendenter) Gegenstände helfe. Bei Gegenständen also, von denen Erfahrungserkenntnis prinzipiell nicht möglich ist, denen wir aber dennoch „bildliche Vorstellungen“ anhängen (VIII, 133), so dass wir vermeintlich Erkenntnis aus Erfahrungsbezug der abstrakten Begriffe gewinnen können. Erkenntnis über die Erfahrung hinaus ist zwar nicht möglich, gleichwohl hatte Kant im Abschnitt „Kanon der reinen Vernunft“ in der Kritik der reinen Vernunft auch gezeigt, welchen Gebrauch die Vernunft dennoch von den transzendenten Ideen machen darf, die sie unweigerlich in sich findet. Dies ist in praktischer Hinsicht postulierender und in theoretischer Hinsicht regulativer Gebrauch – die Metapher der Orientierung wird in der Kritik der reinen Vernunft bereits durch den Begriff der Regulierung, des Regelgebens vorgebildet. Kant zeigt, wie der alltags- und erfahrungsweltlich vollkommen verständliche Begriff der Orientierung im Raum uns per Analogie darauf schließen lässt, wie wir uns im Raum des reinen Denkens durch rechtverstandene transzendente Ideen zurechtfinden. Es sind unmittelbare Gewissheiten, die wir nicht weiter begründen, sondern nur von Widersprüchen befreien können, die uns in der Erfahrungswelt und im Denken leiten. Der Orientierungsbegriff verweist auf eine räumliche Situation, in der wir uns zurecht finden müssen. Geographisch orientiere ich mich durch subjektive Gewissheiten wie „das Gefühl eines Unterschiedes an meinem
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eigenen Subject, nämlich der rechten und linken Hand“ (VIII, 134). Ich muss nicht begründen können und auch gar nicht explizit wissen, dass dies meine linke Hand ist, sondern dieser Körpersinn gehört unmittelbar zu meiner Situation. Dieser „subjective[] Unterscheidungsgrund“ (VIII, 135) ist es, durch den wir uns in einer Objektwelt zurechtfinden. Das gelte auch dann, wenn wir diese Objektwelt im Dunkeln nicht wahrnehmen können, uns aber in ihr auskennen. Analog orientieren wir uns auch im logischen Raum durch ein Gefühl, das den subjektiven Unterscheidungsgrund dort gibt, wo es kein Objekt der Anschauung geben kann. Wie das Leitungsmittel im äußeren Raum der Körpersinn ist, so ist es im logischen Raum das der Vernunft innewohnende Bedürfnis auch da zu urteilen, wo es kein Objekt der Anschauung und so kein objektives Wissen geben kann. Da also, wo wir gar nicht urteilen dürften, es aber dennoch tun, da finden wir uns durch unser Bedürfnis zu urteilen zurecht, indem wir das voraussetzen, was wir für ein Erfahrungsurteil voraussetzen müssen, ohne seine Existenz beweisen zu können. Es lässt sich also aus diesem Bedürfnis keinesfalls die Existenz des begriffenen Gegenstandes ableiten, doch sei es „das Recht des Bedürfnisses der Vernunft“, das „vorauszusetzen und anzunehmen, was sie durch objective Gründe zu wissen sich nicht anmaßen darf“, wenn sie sich dadurch in dem „für uns mit dicker Nacht erfüllten Raume des Übersinnlichen“ orientieren könne (VIII, 137). Im logischen Raum des reinen Denkens ist es nun der Begriff eines ersten Urwesens bzw. einer obersten Intelligenz, durch den wir uns das Dass des Daseins und der Ordnung des Daseins erklären und uns so in der Welt orientieren können. Die eingeschränkte Erfahrungswelt führt uns auf den Begriff eines Uneingeschränkten und so auf die notwendige Idee einer letzten Ursache bzw. eines Grundes. Dem Begriff einer zweckmäßig organisierten Welt hängt als notwendige Idee die Vorstellung eines verständigen Urhebers, einer obersten Intelligenz an. Es handelt sich um ‚Ideale der reinen Vernunft‘, um individualisierte, ‚bildliche Vorstellungen‘, die durch das Bedürfnis der Vernunft da zu urteilen, wo sie nicht urteilen dürfte, gewirkt sind.12 Auch wenn Kant in der ersten Kritik eindringlich Der Abschnitt „Von dem transzendentalen Ideal“ in der „Transzendentalen Dialektik“ (zum regelgebenden Bildcharakter vgl. insbes. IV A, 569 f./III B, 597 f.) wird in seinem Status für Kants Umgang mit der Ontotheologie unterschiedlich bewertet. Auf den konstruktiven Gehalt der Totalitätsidee des Prototypon-Kapitels weist Ulrich Barth eindringlich hin und berichtigt damit die Auffassung, Kant
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darauf hinweist, dass ein Ideal nicht mit einem Beispiel in der Erscheinung realisiert werden kann (IV A, 579/ III B, 598), haben diese bildlichen Vorstellungen paradigmatischen Charakter, der ganz notwendig ist, denn wie anders – fragt Kant – „wollten wir auch unseren Begriffen Sinn und Bedeutung verschaffen, wenn ihnen nicht irgendeine Anschauung (welche zuletzt immer ein Beispiel aus irgend einer möglichen Erfahrung sein muss) unterlegt würde?“ (VIII, 133). Die Vorstellung eines verständigen Urhebers ist eine hermeneutische Leistung, durch die wir uns bei allem Mangel an möglicher Einsicht doch in einer irgendwie geordneten Welt zurechtfinden können. (Ich komme auf den Bildcharakter und seine Bedingungen unten noch einmal zurück.) Da wir die Existenz eines verständigen Urhebers nicht aus Erfahrung demonstrieren können, handelt es sich bei unserer Idee von einem seienden höchsten Wesen nicht um Wissen und auch nicht um Meinen, das in Wissen überführt werden könnte, sondern um subjektiv zureichendes Fürwahrhalten, das Kant ‚Vernunftglaube‘ nennt.13 Der vernünftige Glaube an Gott als letzten Grund ist da notwendig, wo wir in theoretischer Absicht urteilen wollen und wo wir in praktischer Absicht urteilen müssen. In praktischer Absicht müssen wir, so Kant die Idee des höchsten Gutes der Sittlichkeit und der ihr proportional zugeteilten Glückseligkeit denken. Dieses höchste Gut ließe sich jedoch nur durch die Vorstellung einer obersten Intelligenz so auffassen, dass es nicht ein bloßes Ideal sei, sondern objektive Realität habe. Nur so ließe sich die ganze Idee von Moralität aufrecht erhalten. Differenzierend ist zu sagen, dass von Vernunftglauben überhaupt nur in praktischer Absicht gesprochen werden kann, denn das a priori einzig schlechthin Gültige ist für die menschliche Vernunft das moralische Gesetz. Wenn es nun stimmt, dass durch (nicht: zu) dessen Befolgung Gott angenommen werden muss, dann darf seine Existenz postuliert werden.14 Hingegen kann die Idee eines höchsten Wesens – so jedenfalls in der Kritik habe in dem Abschnitt allein die destruktive Absicht verfolgt, die Unmöglichkeit jedes Gottesbeweises aus reiner Vernunft zu belegen (vgl. Barth 2005). 13 Zu diesem Begriff vgl. den zwischen den Positionen Glauben und Vernunft vermittelnden Artikel von Hutter 2004. 14 Klaus Düsing weist darauf hin, dass die Verbindung der Lehre des höchsten Gutes mit der Postulatenlehre nicht überzeugend sei und dass möglicherweise auch regulativer (im Gegensatz zum postulierenden) Gebrauch der Idee des höchsten Gutes für das sittliche Handeln nach Zwecken ausreichend wäre (vgl. Düsing 1971: 41).
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der reinen Vernunft – als Idee bloß regulativ das Schema also eine Maxime des Denkens geben, das für die systematische Einheit der Verstandeserkenntnis15 notwendig ist: – In theoretischer Absicht muss die Vernunft ein höchstes Wesen annehmen, um die Einheit der Verstandeserkenntnis erreichen zu können (= Unvermeidlichkeit der spekulativen Idee des Daseins Gottes aus dem Bedürfnis der Vernunft selbst). Sie gibt sich selbst die Regel der Erkenntnis aus Erfahrung, indem sie sich ein Schema gibt, das ihr erlaubt, die erfahrbare Welt als nach Zwecken geordnet wahrzunehmen. Diese Regeln des Denkens sind nach der Analogie der Erfahrung, also der Verstandeserkenntnis gebildet, obwohl sie eine trans zendente Idee betreffen. Solange die Vernunft sich nicht dazu versteigt, die Existenz eines höchsten Wesens zu behaupten (= Schlussfehler, Irrtum der traditionellen Metaphysik), kann sie ihren empirischen Vernunftgebrauch durch dessen Idee als Regulativ orientieren (= praktische Transformation der Metaphysik in theoretischer Absicht). – In praktischer Hinsicht müssen wir eine oberste Intelligenz annehmen, damit Sittlichkeit nicht insgesamt als ein bloßes Ideal aufgefasst werde. Denn die unbedingte Geltung des Sittengesetzes hat zur Folge die mögliche Realität des höchsten Gutes, also der Zusammenstimmung von Sittlichkeit und Glückseligkeit, die wir die Pflicht haben anzustreben, die aber allein durch ein höchstes Wesen garantiert werden kann. Weil wir sittlich handeln sollen und können, aber weil wir eben auch sinnliche, nach Glückseligkeit strebende Wesen sind, müssen wir die Existenz einer obersten Intelligenz postulieren. Hier dürfen wir nun – anders als in theoretischer Hinsicht – auch das Dasein eines höchsten Wesens behaupten.
Das Postulat des Daseins Gottes in praktischer Hinsicht und die regulative transzendente Idee Gottes in theoretischer Hinsicht nennt Kant in der „Transzendentalen Methodenlehre“ der Kritik der reinen Venunft moralischen und doktrinalen Glauben (IV A, 825 f./III B, 853 f.), die das Einzige seien, was reine Vernunft „über die Grenzen der Erfahrung“ hinaus zuwege bringe. Auf den Einwurf, zu diesen zwei Glaubensartikeln habe es doch nun auch der „gemeine Verstand“ bringen können, äußert sich Kant wie folgt: „Aber verlangt ihr denn, daß ein Erkenntnis, welches alle Menschen angeht, den gemeinen Verstand übersteigen, und euch nur von Philosophen entdeckt werden solle? Eben das, was ihr tadelt, ist die beste Zur systematischen Einheit vgl. Pickering 2011.
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Bestätigung von der Richtigkeit der bisherigen Behauptungen […]“. Und er schließt damit, dass „die höchste Philosophie in Ansehung der wesentlichen Zwecke der menschlichen Natur es nicht weiter bringen könne, als die Leitung, welche sie auch dem gemeinsten Verstande hat angedeihen lassen“ (KrV A 831/B 859). Die gemeine Vernunft, das allen Menschen gleichermaßen gegebene Vernunftvermögen, bildet also notwendig transzendente Ideen aus, die es in praktischer und theoretischer Hinsicht leiten können. Die allen Menschen gemeinsame Vernunft orientiert sich selbst durch transzendente Ideen von einem höchsten Wesen. Dazu ist sie berechtigt durch das Bedürfnis bzw. die Notwendigkeit da zu urteilen, wo sie nicht urteilen kann, weil ihr kein Gegenstand in der Erfahrung gegeben ist. Dieses Bedürfnis sei der gemeinen Menschenvernunft jederzeit „vor Augen“, so dass der Mensch „seinen Weg, so wohl in theoretischer als praktischer Absicht, dem ganzen Zwecke seiner Bestimmung völlig angemessen vorzeichnen kann“ (VIII, 142). Kant selbst spricht Mendelssohn und Jacobi in seinem abschließenden Appell, der Vernunft den unbedingten Vorrang vor gefühligen und schwärmerischen Positionen zu geben als „wir gemeine Menschen“ an (VIII, 145). Dieses Leitungsmittel des Bedürfnisses und ihm anhängender transzendenter Ideen ist jedem Menschen als vernünftigem Wesen in ganz gleicher Weise gegeben. Gesund ist diese Vernunft dann, wenn sie nicht versucht, über die Erfahrung hinausgehende Erkenntnis zu behaupten.
2.2 Notwendigkeit der geteilten Bildlichkeit Die transzendenzbezogenen spekulativen Fragen entstehen nicht nur unwillkürlich, wir beantworten sie ebenso unwillkürlich, d. h. in unserer Denk- und Lebenspraxis sind diese vernunftimmanenten Fragen im Modus kulturell überkommener Bilder und Geschichten immer schon beantwortet (und insofern auch unserer gestaltenden Verfügung entzogen). Die Orientierung an bestehenden Bildern, Erzählungen, Theorien, Institutionen, durch die uns Vernunftideen erschlossen und unserer Praxis immanent sind,16 Für eine weitere Ausarbeitung wäre eine Differenzierung nach (Ur-)Bildern, Idealen, Symbolen und Beispielen bei Kant sinnvoll. Zudem muss unterschieden werden zwischen den unterschiedlichen Funktionen, die ihnen erstens in unbegreiflichen Zusammenhängen (wie dem Dass der Welt überhaupt oder dem Ursprung des Bösen aus der Anlage zum Guten) und zweitens bei den kontingenten
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kann als Immanenz der Transzendenz, als Enttranszendiertheit in unserer sinngebenden Praxis verstanden werden.17 Diese Vergegenwärtigungsweisen des Transzendenten möchte ich als Praxis der Sinngebung bezeichnen, in der sich eine komplexe Struktur von Notwendigkeit und historischer Kontingenz zeigt; Transzendenz vergegenwärtigen wir uns notwendigerweise irgendwie, dieses Irgendwie ist im Prinzip nicht notwendig so und so, da die Konkretion aber als Sinngebung unseres Transzendenzverständnisses in einer historisch entwickelten sozialen Welt ist, können wir sie aber auch nicht frei gestalten, sondern sie begegnet uns bereits vorgeformt durch bestehende (z. B. religiöse) Praktiken der Sinngebung. Zu Beginn von Was heißt: Sich im Denken orientieren? heißt es – ich hatte es schon erwähnt, möchte die Stelle aber noch einmal nennen: Dass auch unseren abstraktesten Begriffen immer „bildliche Vorstellungen“ anhängen, die diese Begriffe „zum Erfahrungsgebrauche tauglich“ machen: „Denn wie wollten wir auch unseren Begriffen Sinn und Bedeutung verschaffen, wenn ihnen nicht irgendeine Anschauung (welche zuletzt immer ein Beispiel aus irgend einer möglichen Erfahrung sein muß) untergelegt würde?“ (VI, 267). Abstrahieren wir dann wieder von der Sinnlichkeit, so bleibt doch der Umfang des reinen Verstandesbegriffes um eine „Regel des Denkens überhaupt“ (ebd.) erweitert, nämlich die unserer Angewiesenheit auf Anschaulichkeit. Hier spielt nun die kulturell entwickelte Bildwelt eine Rolle bei der Entfaltung der bildlichen Vorstellungen, die den höchsten Begriffen der Vernunft anhängen. Dass der verständige Urheber als personaler Gott vorgestellt wird, ist zwar konsistent mit dem Vernunftbegriff, daraus geht aber noch kein Beweis der Existenz genau dieses Gottes hervor.18 Die historisch entstandene gemeinsame Bildwelt Fehlschlüssen der spekulativen Vernunft aus sich selbst (Paralogismen, Antinomien und Ideal der reinen Vernunft in der Kritik der reinen Vernunft) zukommen. Im vorliegenden Zusammenhang ging es aber in erster Linie um unseren grundsätzlichen Umgang mit Transzendenz, daher habe ich diese Differenzierungen hier außen vor gelassen. 17 In diesem Sinne kann auch von ‚Orientiertheit‘ gesprochen werden, wodurch erklärt wird, weshalb Kant von einer Orientierungssicherheit ausgeht, worauf Stegmaier mit Recht verweist (vgl. Stegmaier 2008: 83). 18 Die Selbstauslegung der Vernunft in Gottesvorstellungen verlagert die Rede von Gott bei Kant in den Begriff der Religion: „Der Sinn des Ausdrucks ‚Gott‘ erschließt sich allein in Form der Reflexion über das menschliche Gottesverhältnis,
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ist gleichwohl unverzichtbar, um unsere notwendigen Vernunftbegriffe mit Sinn und Bedeutung zu füllen. Dabei können die Geschichten, Beispiele und Bilder mehr oder weniger passend sein, wie Kant in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft zeigt. Sicherlich ist es kein Zufall, dass Kant in der Schrift, die nach der Kritik der Urteilskraft verfasst ist, besonders auf die Bildlichkeit unseres Umgangs mit Vernunftbegriffen abhebt. Er setzt in der Vorrede zur zweiten Auflage der Religionsschrift selbst mit einem Sprachbild ein, das sein Vorhaben der Vereinbarung der Gehalte eines historischen Offenbarungsglaubens mit den Sätzen einer Vernunftreligion erläutern soll. Offenbarungsglaube und Vernunftreligion haben das Verhältnis zweier konzentrischer Kreise zueinander, weshalb nicht alle, aber viele wesentliche Sätze der historischen Religion zu einem System der Vernunftreligion führen, wenn man sie mit moralischen Begriffen vergleicht. Gelingt der Vergleich, so könne von einer Einigkeit von Vernunft und Schrift gesprochen werden, die zur praktischen Folge habe, dass die Befolgung des moralischen Gesetzes mit der Befolgung der Statuten des historischen Glaubens übereinkomme. In vier Stücken versucht Kant nun in einem hermeneutischen Durchgang den moralischen, vernünftigen Sinn einiger Stücke der Bibel aufzudecken. Philosophische und biblische Theologie behalten dabei jeweils ihr angestammtes Recht in den ihr eigenen Bereichen; innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft nutzt die Philosophie „zur Bestätigung und Erläuterung ihrer Sätze die Geschichte, Sprachen, Bücher aller Völker, selbst die Bibel“ (VI, 9). In der Religionsschrift geht Kant zwei Wege; er erläutert die Sätze der Vernunftreligion mit denen der Bibelreligion, aber er schließt auch den Vernunftsinn von Bibelgeschichten philosophisch auf. Ein Beispiel für das erste Verfahren der Erläuterung philosophisch-komplexer Argumente mit Bibelgeschichten ist die Auseinandersetzung mit dem Begriff des Bösen, den Kant im Ersten Stück als Vernunftbegriff entfaltet und diesen dann mit der Erzählung vom Ursprung des Bösen in Einklag zu bringen sucht. Ein Beispiel für das Verfahren der Explikation des vernünftigen Sinns von der Gottesgedanke ist nicht ablösbar von derjenigen epistemischen Instanz, die ihn erzeugt. Für Kant liegt diese Beziehung vor im Sachverhalt der moralischen Religion. Dieser Religionsbegriff ist darum das begriffliche Deduktionsprinzip einer sachhaltigen Gotteslehre.“ (Barth 2005: 259) Religion bestimmt Ulrich Barth bei Kant weiterhin als „allgemein menschliche Selbstdeutungskultur“ (ebd.: 261).
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Bibelgeschichten ist der Umgang mit der Person Jesu Christi im Zweiten Stück. Auf beide werde ich nun exemplarisch eingehen.
Ursprung des Bösen in der menschlichen Natur Im gesamten Ersten Stück geht es um die Frage, ob der Mensch von Natur gut oder böse sei. Kant argumentiert, dass im Menschen eine ursprüngliche Anlage zum Guten, gleichwohl aber ein zwar unvermeidlicher, aber doch erworbener radikaler Hang zum Bösen sei. Der Hang als „subjektive[r] Grund der Möglichkeit einer Abweichung der Maximen vom moralischen Gesetz“, das sich ursprünglich in uns findet, ist „der Menschheit überhaupt zufällig“ (VI, 28 f.). Der Hang zum Bösen besteht nun in der bewussten Aufnahme der (gelegentlichen) Abweichung vom moralischen Gesetz in die Maxime unseres Willens. Es ist also weder die Sinnlichkeit, die zu bösen Handlungen führt, noch handelt der Mensch böse um der Boshaftigkeit willen, sondern er ist einfach nicht stark genug für die strikte Befolgung seiner moralischen Grundsätze. Den Hang zum Bösen haben, heißt übersetzt in die Sprache der reinen praktischen Vernunft, das moralische Gesetz nur unter der Bedingung der Befriedigung der Selbstliebe befolgen zu wollen, was zumeist mit einem guten Willen zusammen besteht (vgl. VI, 37). Nun fragt Kant nach dem Ursprung dieses Bösen in der menschlichen Natur. Da es um das moralisch Böse geht, dessen Voraussetzung gerade die Freiheit vom Naturmechanismus von Ursache-Wirkungsketten ist, kommt dieser Ursprung nicht unter dem Gesichtspunkt der Zeit (= Ursache), sondern der Vernunft (= Grund) in Betracht. Der Hang des Menschen zum Bösen kann nämlich keine böse Handlung rechtfertigen, so dass jede Abweichung vom moralischen Gesetz in der Maxime unseres Willens einzeln betrachtet ein Herausfallen aus dem Stande der Unschuld ist. Kants Überlegungen zu Art und Ursprung des Bösen in der Natur des Menschen sind offenkundig von hoher Komplexität.19 Er springt am Ende seines Durchgangs aus der Vernunftbegrifflichkeit heraus und zeigt, dass seine Begriffe von gut, böse und Schuld zwar nicht mit dem Begriff der Erbsünde (vgl. VI, 40), aber doch mit der Geschichte des Sündenfalls sehr Der vorliegende Zusammenhang verbietet eine genauere Darstellung, weiterführend zur menschlichen Gattungsnatur zwischen guter Anlage und Hang zum Bösen vgl. Horn 2011.
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gut zusammenpassen und durch diese erläutert werden. Die Bibel mache den Ursprung des Bösen als einen Anfang in der Zeit „in einer Geschichte vorstellig […]. Nach ihr fängt das Böse nicht von einem zum Grunde liegenden Hange zu demselben an, weil sonst der Anfang derselben nicht aus der Freiheit entspringen würde“ (VI, 41), sondern das Böse fängt mit der bösen Handlung (die Sünde der Übertretung des Gebots durch Verführung) an; vor dieser Handlung ist der erste Mensch unschuldig – aber eben frei zur Abweichung. Weil eine Schwäche unserer Natur uns aber immer nach Zeitursachen statt nach Vernunftursprüngen fragen lässt, mache die Bibel uns die Sache als Geschichte in der Zeit vorstellig. Das Narrativ des Sündenfalls ist dabei jedoch komplex genug, um laut Kant mit den Vernunftbegriffen von der ursprünglichen Anlage zum Guten und einem kontingenten und zugleich notwendigen Hang zum Bösen in Einklang gebracht zu werden. Kant ist der Ansicht, dass diese narrative Veranschaulichung in der Geschichte des Sündenfalls (Einfluss eines verführerischen (bösen) Geistes) uns hilft, mit der Unbegreiflichkeit der Tatsache umzugehen, dass die Anlage zum Guten in uns zugleich der Ursprung des Bösen sein soll. Zudem erlaube diese Geschichte, den Menschen als nicht von Grund auf verdorben und verloren zu sehen, ihn also nicht dem moralischen Nihilismus preis zu geben.
Beispiel des Leben Jesu Die ursprüngliche Anlage zum Guten muss aber zunächst entdeckt werden, was Kant als die „Revolution in der Gesinnung“ (VI, 47) bezeichnet, die (angeborene) gelegentliche Abweichung vom moralischen Gesetz nicht mehr in meine Maxime aufzunehmen. Ist dies aber geschehen, so bedarf es der Kultivierung dieser für uns allein nicht durchzuhaltenden Revolution. In der „Methodenlehre“ der zweiten Kritik, besonders aber auch in der Metaphysik der Sitten betont Kant die Notwendigkeit dieser Kultivierung durch Beispiele, die wir nicht als Muster zur Nachahmung, sondern zur Veranschaulichung des sittlich Gebotenen brauchen.20 Kant äußert Unver Zur Rolle von Beispielen in Kants (Moral-)Philosophie vgl. Munzel 2002, S. 213 ff. und Louden 2009. Beide weisen darauf hin, dass Kant Beispiele nie als Muster, sondern immer nur als Beweis sowie zur Ermutigung anbringt. Ein Muster darf nicht vorgegeben werden, da Charakter als Realisierung der intelligiblen Natur gerade dann entsteht, wenn die eigene autonome Urteilsfähigkeit entwickelt
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ständnis darüber, dass die Pädagogen „nachdem sie einen bloß moralischen Katechism zum Grunde legten, […] nicht die Biographien alter und neuer Zeiten in der Absicht durchsuchten, um Belege zu den vorgelegten Pflichten bei der Hand zu haben“ (V, 154). Durch Vergleichung von Fällen könne die Urteilskraft geschärft und das rechte Urteil zur Gewohnheit werden, wodurch wiederum eine gute Grundlage für den weiteren Lebenswandel geschaffen sei (vgl. VI, 154 f.). Dabei geht es Kant gerade nicht um Exempel supererogatorischen Handelns, da diese die Lernenden davon abhalten, das Moralische als Normalität verstehen und empfinden zu lernen. Da wir nicht nur intelligible, sondern auch Sinnenwesen sind, ist gerade die Schwierigkeit des moralischen Urteilens und Handelns neben der überzeitlichen Gültigkeit des moralischen Gesetzes in den Beispielen zu betonen. Gleichwohl versteht Kant das Leben Jesu in der Religionsschrift als wichtige Veranschaulichung eben dieses Kampfes um das moralische Urteilen und Handeln im menschlichen Daseins. Das Leben Jesu ist ein Exempel, insofern es als Schauplatz des Kampfes zwischen der guten und bösen Macht zu verstehen ist, durch den auch unsere eigene Zerrissenheit zwischen Anlage des Guten und Hang zum Bösen versinnbildlicht wird.21 Selbst der Tod dieser vollkommen guten und freien Person sei ein Beispiel für die mögliche Herrschaft des Guten im Menschen überhaupt, da es zeige, dass auf irdische Belohnungen durch gute Handlungen nicht zu hoffen sei, dass der Mensch aber nicht nur dieser Sinnenwelt, sondern auch dem Reich der Prinzipien zugehöre, in dem echte Freiheit möglich sei. Unter moralischen Gesichtspunkten ist das Böse zwar nicht besiegt, aber doch gebrochen. Man sieht leicht, daß, wenn man diese lebhafte, und wahrscheinlich für ihre Zeit auch einzige populäre Vorstellungsart von ihrer mystischen Hülle entkleidet, sie (ihr Geist und Vernunftsinn) für alle Welt, zu aller Zeit praktisch gültig und verbindlich gewesen, weil sie jedem Menschen nahe genug liegt, um hierüber seine Pflicht zu erkennen. Dieser Sinn besteht darin, daß es schlechund praktiziert wird. Louden diskutiert mehrere Aspekte der Ambiguität des Beispielgebrauchs speziell in der Kantischen Moralphilosophie, die vornehmlich auf dem Unterschied eines logischen und anthropologisch-psychologischen Blickwinkels auf die Begründung und Anwendung des moralischen Gesetzes beruhen (vgl. Louden 2009, S. 74). 21 Vgl. dazu Chignell 2011.
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terdings kein Heil für die Menschen gebe, als in innigster Aufnehmung ächter sittlicher Grundsätze in ihre Gesinnung. (VI, 83)
Das Leben Jesu ist dabei ausschließlich ein Beispiel für das Ringen des Guten und Bösen in uns und kein Muster zur Nachahmung, denn er hat einen vollkommen guten (heiligen) Willen, wonach wir immer nur streben und auch nie wissen können, wann unser Wille wahrhaft gut gewesen ist. Es ist also nur die Idee eines Verhaltens nach den Regeln der Sittlichkeit, die im Beispiel Jesu versinnbildlicht sein kann. 22 Es ist der Schwierigkeit der vernunftreligiösen Begriffe einerseits, andererseits der Schwierigkeit der Aufgabe, wahrhaft moralisch zu werden, geschuldet, dass wir für ihr Verständnis und auch zur Motivation der Geschichten und der Beispiele bedürfen. Es ist „eine Beschränktheit der menschlichen Vernunft“, dass wir „um uns übersinnliche Beschaffenheiten faßlich zu machen, immer einer gewissen Analogie mit Naturwesen“ bedürfen (VI, 63 f. Anm.)). Kant nennt dies einen „Schematism der Analogie (zur Erläuterung)“, der der Vernunft notwendig sei. Solange dieser Schematismus der Analogie nicht zu einer Objektbestimmung hypostasiert werde, also vermeintlich der Erkenntniserweiterung über die Schranken der Erfahrung hinaus diene, geschehe kein Schaden damit. Der Schematismus der Analogie diene rein zur Veranschaulichung innerhalb der Grenzen möglicher Erkenntnis. Die Prinzipien unserer Erkenntnis in diesem Bereich sind niemals konstitutiver, sondern stets regulativer Natur (VI, 96 f. Anm.). Die menschliche Vernunft, insbesondere die praktische, aber auch die theoretische, bedarf der Anschaulichkeit durch Erzählungen, Bilder und Beispiele, die ihr als Vehikel dienen – spekulative Begriffe, transzendente Ideen müssen also gewissermaßen sinnlich werden bzw. sind uns nie anders als versinnbildlicht (idealisiert) gegeben.23 Der Sinn der historischen Überlieferung hingegen (in der Religionsschrift sind das die Zu den Bildgehalten der Lehre Jesu und Kants Versuch einer Umstellung „von der Religion Christi (wo Christus das Objekt der ‚gottesdienstlichen‘ Religion ist) zurück zur ‚praktischen Religionslehre‘“ im Sinne einer vernunftbasierten moralischen Religion vgl. Sala 1992: 143. 23 Hans Blumenberg hat mit seinem Begriff der „absoluten Metapher“ einen ganz ähnlichen Sachverhalt ausgedrückt. Er versteht darunter eine „Übertragung der Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz anderen Begriff, dem vielleicht nie eine Anschauung direkt korrespondieren kann“ (Blumenberg 1999: 12). 22
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heilige Schrift, aber auch die Institution der Kirche) muss für jede Zeit neu auf die ihr immanenten Vernunftbegriffe hin transparent gemacht werden. Es bedarf also der Veranschaulichung von Transzendenz für die (vernünftige) Praxis, zugleich aber bedarf es immer wieder der hermeneutischen Anstrengung, den vernünftigen Sinn der überlieferten ‚Vehikel‘ zu verstehen. Insofern wir spekulativer (über alle Erfahrung hinausgehender) Ideen der Bildlichkeit bedürfen, ist die Aufklärung über den vernünftigen Sinn der Überlieferung als Übersetzung in eine andere, der Zeit angemessenere Bildlichkeit zu verstehen.24 * * * Den Bogen zum Anfang zurückschlagend lässt sich mit Kant verstehen, dass wir einerseits transzendente Ideen von Gott, Freiheit, Seele etc. unwillkürlich ausbilden, über deren Realität wir nichts wissen können. Diese Ideen sind Teil unserer vernünftigen Natur. Wir wertschätzen diese Ideen überhaupt erst als solche, wenn wir sie in ihrer Transzendenz, also ihrer epistemischen Unzugänglichkeit anerkennen – Kant nimmt daher der traditionellen Metaphysik (Schulphilosophie) den Gegenstand weg, indem er auf die Grenzen menschlicher Erfahrung hinweist. Zugleich zeigt er uns aber an, in welch fundamentaler Weise unsere vernünftige Praxis von diesen Ideen durchzogen ist. Wir orientieren uns an ihnen in vergegenwärtigenden Praktiken der Sinngebung. Diese Orientierung erfolgt nun stets in einer bestimmten historischen, sozialen, individuellen Situation, in der spekulative Begriffe immer schon so und so eingelassen sind. Das heißt zum Beispiel, dass es der Vernunft immanent ist, sich einen Schöpfer oder eine erste Ursache zu denken. Obwohl epistemisch entzogen, sind spekulative Ideen in ihrer orientierenden (regulativen und postulierenden) Funktion zum Erhalt von Wissenschaft und Sittlichkeit notwendig und so zulässig. Wie diese Vernunftidee uns erscheint, ist von den Geschichten und Bildern unserer Lebenswelt vorbestimmt, die den Vernunftideen stets einen gemeinsamen Sinn geben. Diese Vergegenwärtigung dient einesteils der alltäglichen Orientierung schon der gemeinen Menschenvernunft, zudem Aufklärung hat natürlich immer zunächst den Sinn, die Vernunft in ihre Schranken der Erkenntnis aus Erfahrung zu verweisen, hat aber eben neben dieser einschränkenden auch eine praktische Funktion, indem sie sich mit den ganz notwendigen Sinngestalten unseres jeweiligen Standpunktes auseinandersetzt.
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aber auch der Einführung und Kultivierung der moralischen Urteilskraft. Transzendenz ist durch diese sinngebende Vergegenwärtigung in doppelten Sinne unverfügbar: Einerseits ist sie unserer Erkenntnis entzogen, andererseits verfügen wir praktisch über transzendente Ideen, deren anschaulicher Charakter (narrativer, bildlicher Sinn), nicht von solipsistischen Einzelwesen konstruiert wird, sondern der in einer gemeinsamen Welt (meist) ohne unser willentliches Zutun entsteht.25
Literatur Barth, Ulrich (2005), „Gott als Grenzbegriff“, in: ders.: Gott als Projekt der Vernunft, Tübingen, 235–262. Blumenberg, Hans (21999), Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt/M. Chignell, Andrew (2011), „The Devil, the Virgin, and the Envoy. Symbols of Moral Struggle in Religion, Part Two, Section Two“, in: Immanuel Kant. Die Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft. (Hg.) Höffe, Otfried, Berlin (Klassiker Auslegen 41), 111–130. Düsing, Klaus (1971), „Das Problem des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie“, in: Kant-Studien 62, 5–42. Grier, Michelle (2001), Kant’s Doctrine of Transcendental Illusion, Cambridge. Guyer, Paul (2003): „Kant on Common Sense and Scepticism“, in: Kantian Review 7, 1–37. Horn, Christoph (2011), „Die menschliche Gattungsnatur: Anlagen zum Guten und Hang zum Bösen“, in: Immanuel Kant. Die Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft. (Hg.) Höffe, Otfried, Berlin (Klassiker Auslegen 41), 43–70. Hutter, Axel (2004), „Vernunftglaube. Kants Votum um Vernunft und Glauben“, in: Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung. (Hg.) Jaeschke, Walter / Sandkaulen, Birgit, Hamburg, 241–256. Kaulbach, Friedrich (1966), „Weltorientierung, Weltkenntnis und pragmatische Vernunft bei Kant“, in: Kritik und Metaphysik. Studien. Heinz Heimsoeth zum 80. Geburtstag. (Hg.) ders., Berlin, 60–75. Louden, Robert (2009), „Making the Law Visible: The Role of Examples in Kant’s Ethics“, in: Kant’s Groundwork of the Metaphysics of Morals. A Critical Guide. (Hg.) Timmermann, Jens, Cambridge, 63–82.
Unsere ganz eigene Vernunft ist uns aufgrund unserer Standortgebundenheit also immer auch fremd und entzogen. Vgl. dazu paradigmatisch die Kant-Lektüre von Simon 2003.
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Munzel, Felicitas (2002), „‚Doctrine of Method‘ and ‚Closing‘“, in: Kant. Kritik der praktischen Vernunft. (Hg.) Höffe, Otfried, Berlin 2002 (Klassiker Auslegen 26), 203–217. Pickering, Mark (2011), „The Idea of Systematic Unity of Nature as a Transcendental Illusion“, in: Kantian Review 3, 429–448. Sala, Giovanni B. (1992), „Die Lehre von Jesus Christus in Kants Religionsschrift“, in: Kant über Religion. (Hg.) Ricken, Friedo / Marty, François, Stuttgart u. a., 143–155. Simon, Josef (2003), Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, Berlin/New York. Stegmaier, Werner (2007), „Das Problem des Sich-Orientierens nach Kant“, in: Was ist und was sein soll. Natur und Freiheit bei Immanuel Kant. (Hg.) Kern, Udo, Berlin/New York, 207–221. Stegmaier, Werner (2008), Philosophie der Orientierung, Berlin/New York. Willaschek, Marcus (2008), „Kant on the Necessity of Metaphysics“, in: Recht und Frieden in der Philosophie Kants. Akten des X. Internationalen Kant-Kongresses. Bd. 1. (Hg.) Rohden, Valerio u. a., Berlin/New York, 285–307. Willaschek, Marcus (2009), „Rationale Postulate. Über Kants These vom Primat der reinen praktischen Vernunft“, in: Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung. (Hg.) Klemme, Heiner, Berlin 2009, 251–268. Wimmer, Reiner (2004), „Kants praktisch-moralische Anthropologie“, in: Kants Metaphysik und Religionsphilosophie. (Hg.) Fischer, Norbert, Hamburg, 347–390.
Hinweise zu den Autoren
Angeli, Oliviero, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte der TU Dresden. Jüngste Publikationen: „Von der Gründung zur Begründung. Über die Rolle der Imagination im globalen Konstitutionalismus“, in: Demokratie und Transzendenz. Die Begründung politischer Ordnungen. (Hg.) Vorländer, Hans. Bielefeld (i. E.); „Das Recht auf Einwanderung und das Recht auf Ausschluss“, in: Zeitschrift für Politische Theorie 2.2 (2011), 171–184. Binkelmann, Christoph, Dr. phil., wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für theoretische Philosophie (Prof. Dr. Marion Heinz) der Universität Siegen. Wichtigste Publikationen: Theorie der praktischen Freiheit. Fichte – Hegel, Berlin/New York 2007; „Das Mehr in mir. Die Willkür in der Identitätsbildung nach Fichte“, in: Fichte-Studien 40 (2012), 235–254. Kohler, Georg, Dr., emeritierter Professor für Philosophie, mit besonderer Berücksichtigung der Politischen Philosophie an der Universität Zürich sowie Leiter des Teilprojektes „Die Kontingenz des Unverfügbaren – Die ‚Willensnation Schweiz‘“ am Sonderforschungsbereich 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“. Jüngste Publikationen: „Zauberbeeren und die Volksherrschaft. Zur Kritik und Apologie der Demokratie“, in: Studia Philosophica. Jahrbuch der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft 71 (2012), 43–60; „Sokrates’ Stachel. Oder: Warum wir in Rationalität verstrickt sind“, in: Psychische Regulierung, kollektive Praxis und der Raum der Gründe. Ein Problemaufriss. (Hg.) Boothe, Brigitte/Cremonini, Andreas/Kohler, Georg. Würzburg 2012, 163–193.
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Hinweise zu den Autoren
Langthaler, Rudolf, Dr. phil., Professor für Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Jüngste Publikatio nen: Zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz. Geschichte, Ethik und Religion im Ausgang von Kant, Berlin 2013; „Moralische Selbsterkenntnis“ – die Idee des „völligen Bewußtseins seiner selbst“ – der „Herzenskündiger“: Aspekte des Themas „Endlichkeit und Transzendenz“ in Kants Religionsphilosophie, in: Endlichkeit und Trans zendenz. Perspektiven einer Grundbeziehung. (Hg.) Sirovátka, Jakub, Hamburg 2012, 95–118. Nonnenmacher, Burkhard, Dr. phil., Akademischer Rat, wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Systematische Theologie III der Evangelischtheologischen Fakultät der Universität Tübingen. Publikationen: Hegels Philosophie des Absoluten. Eine Untersuchung zu Hegels „Wissenschaft der Logik“ und reifem System, Tübingen 2013; „Der Begriff sogenannter Gnadenmittel unter der Idee eines reinen Religionsglaubens“, in: Immanuel Kant. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. (Hg.) Höffe, Otfried, Berlin 2010 (Klassiker Auslegen Bd. 41), 211–229. Rentsch, Thomas, Dr. phil., Professor für Ethik/Philosophie am Institut für Philosophie an der Technischen Universität Dresden und Leiter des Teilprojektes P „Transzendenz und Gemeinsinn in Geschichte und Gegenwart der Philosophie“ am SFB 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“. Jüngere Publikationen: Gott, Berlin/New York 2005; Transzendenz und Negativität. Religionsphilosophische und ästhetische Studien, Berlin/New York 2011. Ricken, Friedo, Dr., emeritierter Professor für Ethik und Geschichte der Philosophie an der Hochschule für Philosophie München; Gastprofessor an der Universität Salzburg. Jüngere Publikationen: Warum moralisch sein? Stuttgart 2010; Ethik des Glaubens, Stuttgart 2013. Rudolph, Enno, Dr. theol., emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Luzern. Jüngste Publikationen: Machtwechsel der Bilder. Bild und Bildverstehen im Wandel. Zürich 2012 (Hg.); Theophrast: Metaphysik. Einleitung, Text, Übersetzung und Kommentar (en. coll.), Hamburg 2012.
Hinweise zu den Autoren
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Schneidereit, Nele, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt P „Transzendenz und Gemeinsinn in Geschichte und Gegenwart der Philosophie“ am SFB 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ an der TU Dresden. Publikationen: Die Dialektik von Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe einer kritischen Sozialphilosophie, Berlin 2010; „Einheit der Vernunft und subjektivische Notwendigkeit. Tetens’ Version einer Common Sense-Philosophie“, in: Johann Nicolas Tetens. (Hg.) Stiening, Gideon/Thiel, Udo, Berlin 2013 (i. E.). Vorländer, Hans, Dr. phil, Professor für Politikwissenschaft, Inhaber des Lehrstuhls für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Dresden, Sprecher des Sonderforschungsbereichs 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ sowie Leiter des Teilprojektes H „Demokratische Ordnung zwischen Transzendenz und Gemeinsinn“ an diesem Sonderforschungsbereich, außerdem Direktor des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung (zvd) in Dresden. Wichtige Publikationen: Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen, Berlin 2013; Demokratie. Geschichte, Formen, Theorien, München 22010. Wimmer, Reiner, Dr. phil., Prof. i. R., Professor für Praktische Philosophie/Ethik an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Jüngste Publikationen: „Kontingenz und Endlichkeit. Philosophische Haupt- und theologische Nebenbemerkungen“, in: Entgrenzungen des Menschseins? Eine christliche Antwort auf die Perfektionierung des Menschen. (Hg.) Fürst, Gebhard/Mieth, Dietmar, Paderborn u. a. 2012, 115–130; „Das Verhältnis von Religion und Moral bei Kant“, in: Zur Bedeutung der Philosophie für die Theologische Ethik. (Hg.) Schuster, Josef, Freiburg i.Ue./Freiburg i. B. 2010, 111–128.
Personenregister
Anderson, Benedict 14, 41, 53 Arendt, Hannah 23 f., 38, 161 Aristoteles 60, 62, 64 Assmann, Aleida 47 Barth, Ulrich 192, 197 Bauer, Bruno 170 Bertram, Christopher 47 Blumenberg, Hans 201 Bubner, Rüdiger 36 f. Cicero 60–64 Düsing, Klaus 193 Feuerbach, Ludwig 170 Fichte, Johann Gottlieb 132, 168 Freud, Sigmund 77 f., 161 Friese, Heidrun 47 Früchtl, Josef 28 Gadamer, Hans Georg 23 f. Gellner, Ernest 47 Graf, Friedrich Wilhelm 47 Grier, Michelle 187 Guyer, Paul 185
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 15, 24, 33, 66, 70–72, 80, 112, 161 Heidegger, Martin 161 Herder, Johann Gottfried 46 Hobbes, Thomas 14, 46, 48, 59, 65–67, 72 Höffe, Otfried 48 Hume, David 27, 83 Hutcheson, Francis 27 Jacobi, Friedrich Heinrich 190, 195 Kaulbach, Friedrich 184, 190 Kopper, Joachim 178 f. Kroner, Richard 103 f. La Rochefoucauld, François de 37 Lessing, Gotthold Ephraim 190 Louden, Robert 199 Machiavelli 60, 64 MacIntyre, Alasdair 60 Marx, Karl 15, 170 Mendelssohn, Moses 10, 190 f., 195 Menke, Christoph 27, 38 Munzel, Felicitas 199 Nietzsche, Friedrich 170
Personenregister Pascal, Blaise 149, 174 f. Pinzani, Alessandro 57 Platon 62–64, 118, 127 f. Plessner, Helmuth 24, 25, 33 f., 35 Popper, Karl Raimund 62 Radbruch, Gustav 35 Rawls, John 30, 60 Robespierre, Maximilien de 62 Rousseau, Jean-Jacques 14, 30, 39, 42, 59–66 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 124, 132, 168 Schopenhauer, Arthur 32, 161 Seneca 115
209 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper 27 Simmel, Georg 50 f. Simon, Josef 190 Smith, Adam 15, 83 Sokrates 77, 138 Spinoza 94, 180 Stegmaier, Werner 190, 196 Strauß, David Friedrich 170 Waldron, Jeremy 46 Willaschek, Marcus 184, 187 Williams, Bernhard 51 Wils, Jean-Pierre 30 Wimmer, Reiner 18 f., 185 Winter, Alois 9 Wittgenstein, Ludwig 152, 162 f., 171, 179 f.